Politischer Islam – ein schwieriger Begriff

Politischer Islam – ein schwieriger Begriff

von Bentje Woitschach

Der »Islamische Staat«, Ajatollah Khomeini, die ägyptische Muslimbruderschaft, der säkulare iranische Reformer Abdulkarim Soroush – all diese unterschiedlichen Personen und Gruppierungen fallen unter den Begriff »politischer Islam«. Er subsumiert sowohl liberale Denker ohne jegliche autoritäre Tendenzen als auch Bewegungen, die auf brutalste Weise ihre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft durchsetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass der politische Islam oft synonym mit anderen diffusen Begriffen, wie »Islamismus« oder »Fundamentalismus«, verwendet wird. Gemeinsam ist den zwei Letzteren, dass die Rückbesinnung auf religiöse Wurzeln im Zentrum steht. Solche Tendenzen gab und gibt es in jeder Religion.

Der Salafismus ist wohl die bekannteste Strömung im Islam, die eine solche Rückbesinnung anstrebt. Salafisten vertreten die Ansicht, dass der Islam im Laufe der Geschichte durch kulturelle Neuerungen und Neuinterpretationen negativ beeinflusst wurde. Sie fordern eine Rückbesinnung auf die Werte und Lebensweisen zu Zeiten des Propheten Muhammed und der auf ihn folgenden vier Kalifen. Viele Anhänger des Salafismus verfolgen ihre Ziele »unpolitisch«, Abd al-Hakeem Carney nennt sie eine „ruhige Religionsgemeinschaft“, die peinlich genau auf die Einhaltung religiöser Praktiken achtet, aber den Staat selbst nicht verändern will. Politisch werden diese Strömungen dann, wenn sie Gesellschaften und Gesetze nach religiösen Grundsätzen gestalten wollen. Ob dies – wie in Tunesien – lediglich bedeutet, dass der Islam zur Staatsreligion erklärt wird, ob islamische Werte Eingang finden in demokratische Verfassungen oder ob Gesetze, politische Herrschaft oder im Extremfall sogar Gewalt durch den Islam legitimiert werden, ist bei den verschiedenen Gruppierungen, die unter den Begriff »politischer Islam« fallen, völlig unterschiedlich.

Es liegt nahe, den Begriff »politischer Islam« aufgrund der angesprochenen analytischen Ungenauigkeit zu verwerfen. Auch in der W&F-Redaktion gab es intensive Diskussionen darüber, ob man an dem Begriff festhalten solle, ihn überhaupt als Hefttitel verwenden dürfe. Selbst wenn man ihn differenziert betrachtet, so läuft man Gefahr, allein durch seine Verwendung vorhandene Stereotype zu bestätigen. Wir sind uns als Redaktion dieser Gradwanderung bewusst. Dennoch erschien uns kein anderer Begriff geeignet, das Thema des Heftes angemessen zu fassen. Nicht zuletzt die Artikel zeigen, dass eine einheitliche Sichtweise des Begriffes politischer Islam schwierig ist.

Unsere Absicht war es, in diesem Heft Herkunft und unterschiedliche Erscheinungsformen des politischen Islam zu beleuchten und damit der begrifflichen Weite zumindest annähernd gerecht zu werden. So beschreibt Adrian Paukstat in seinem Artikel die Denkrichtung der Salafiyya als ideengeschichtliche Grundlage des politischen Islam, entstanden sowohl als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus als auch aus einem Modernisierungsbestreben im theologischen wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich. Ob und inwieweit sich der politische Islam als Staatsideologie niederschlägt, wird anhand zweier Fallstudien zu Iran und Indonesien angesprochen. Stephan Rosiny erläutert die Rolle moderater Islamisten im Arabischen Frühling und kommt zu dem Schluss, dass die anfänglichen Wahlerfolge auf die Attraktivität ihrer islamisch geprägten Identitätsangebote und klaren Gesellschaftsvisionen zurückzuführen seien. Einen weiteren wichtigen Akteur im Spektrum des politischen Islam beleuchten Dietrich Jung und Klaus Schlichte. Sie analysieren in ihrem Beitrag die Organisationsstruktur des Islamischen Staates und erläutern seine hierarchisierte Organisation, die sich weniger im globalen als vielmehr im lokalen Kontext zeige. Warum der politische Islam eine Anziehungskraft auf Jugendliche ausübt, diskutiert Götz Nordbruch in seinem Beitrag. Als mögliche Gründe führt der Autor insbesondere die Instrumentalisierung von Diskriminierungserfahrungen und die Bereitstellung klarer Gesellschaftsvisionen an. Elhakam Sukhni rückt in seinem Beitrag den Islam als Religion ins Zentrum und erläutert unter Verweis auf Originaltexte das Verhältnis des Islam zu Krieg und Frieden. Dabei beleuchtet er auch den Begriff des »Dschihad«, der häufig als »Heiliger Krieg« übersetzt wird, aber wörtlich »Anstrengung« bzw. »Eifer« bedeutet. Gemeint ist damit das Bemühen des Einzelnen gegen Versuchungen des Alltags, gegen die eigenen Triebe und Laster, um schließlich das Wohlgefallen Gottes zu erlangen.

Dieses Heft ist ein Versuch, sich mit Ereignissen, Akteuren und Themenbereichen auseinanderzusetzen, die unter dem Begriff »politischer Islam« zusammengefasst werden. Dabei sollte die angesprochene sprachliche und inhaltliche Differenzierung stets präsent sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Wissenschaft in naher Zukunft Instrumente und Begrifflichkeiten bereitstellt, die eine verantwortungsvolle Analyse ermöglichen und zugleich gefährlichen Vereinnahmungen entgegentreten.

Ihre
Bentje Woitschach

Politischer Islam


Politischer Islam

Eine Geschichte der Radikalisierung

von Adrian Paukstat

In den letzten Jahren ist das Interesse der Öffentlichkeit am Thema Islam gestiegen, und die Medien greifen das Thema intensiver auf. Allerdings wird in dieser Auseinandersetzung häufig nicht oder nicht ausreichend zwischen den theologischen und den politischen Aspekten des Islam unterschieden. Islam wird kurzerhand in einen Topf gepackt mit Islamismus oder sogar mit Terrorismus, Muslime werden pauschal als (gewaltbereite) Islamisten abgewertet. Adrian Paukstat beschreibt in seinem Artikel die Denkrichtung der Salafiyya als ideengeschichtliche Grundlage des politischen Islam, entstanden sowohl als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus als auch aus einem Modernisierungsbestreben im theologischen wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich.

Die Wurzeln des sunnitischen politischen Islam sind untrennbar mit dem ideologischen Rückbezug des eigenen Handelns auf die »frommen Altvorderen« (al-Salaf al-Salih) verbunden, dem auch der Begriff »Salafismus« seinen Namen schuldet. Bereits im 13. Jahrhundert formulierte der Anhänger der besonders konservativen hanbalitischen Rechtsschule, Ibn Taimiyya, die Konzeption einer notwendigen Rückbesinnung auf die von allen schädlichen menschlichen (Um-) Interpretationen bereinigte Tradition der ersten vier rechtgeleiteten Kalifen, deren Herrschaft mit dem sunnitisch-schiitischen Schisma und dem Aufstieg der Umayyaden-Dynastie endete.

Mit der im frühen 19. Jahrhundert beginnenden territorialen Expansion des saudischen Herrscherhauses erlangten die islamischen Rechtsauslegungen dieser Traditionslinie in einem signifikanten Teil der damaligen islamischen Welt politische und religiöse Wirkmächtigkeit. Die Verbindung von rigidem Islamverständnis und politischer Herrschaft resultierte aus dem im 18. Jahrhundert geschmiedeten Bündnis zwischen Muhammad ibn Saud und Muhammad Abd al-Wahhab. Von dem Nachnamen des Letzteren leitet sich die Bezeichnung »Wahhabismus« für die saudische Staatsdoktrin ab.

Von der Wahhabiyya und Salafiyya zum (Neo-) Salafismus

Kennzeichnend für Abd al-Wahhabs Lehre sind mehrere Elemente, die auch heute noch (in mal mehr, mal weniger radikaler Form) zu den ideologischen Grundpfeilern des sunnitischen politischen Islam zählen. Da ist zum einen die äußerst strenge Auslegung des »Tauhid«, der Lehre von der Einheit Gottes, gemäß der bereits die Verehrung von Heiligen, Gräbern oder bestimmten Gelehrten als Abkehr vom strengen Monotheismus und damit als »Schirk« (in etwa »Beigesellung«) gilt.

Zentral ist außerdem der Begriff des »Bida« (Neuerung). Das Wort Gottes gilt im Wahhabiyya-Islam als vollkommen. Die tradierten islamrechtlichen Lehrschulen und deren Nachahmung bzw. Befolgung (Taqlid) gelten als unstatthafte Veränderungen der reinen Lehre. Dem wird im Wahhabismus der »Idschtihad«, die eigenen Lektüre von Koran und Sunna (den in den Hadith gesammelten Aussprüchen und Handlungen Muhammeds), gegenüber gestellt. Der fromme Muslim soll sich an der originären Offenbarung ausrichten; der Weg dorthin führt über die eigenen Exegese und somit über die Verwendung des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen (in diesem Falle der tradierten Rechtsschulen) (Commins 2009).

Bei den so genannten Reformern oder Modernisten, wie Dschamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Raschid Rida, entfalteten sich rationalistische Elemente dieser Theorie. Das Denken dieser als Salafiyya bezeichneten Tradition entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem westlichen Kolonialismus und der Frage nach der Ursache für die Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber dem Westen. Das Denken der Reformer war einerseits geprägt von antikolonialistischen und panislamischen Topoi, die bis heute sinnstiftend sind für den politischen Islam, vor allem für dessen radikal-dschihadistische Ausprägungen. Andererseits resultierte es aus dem expliziten Drang nach Modernisierung und Erneuerung der arabischen Welt, sowohl im theologischen wie im sozio-ökonomischen Sinne. Dieser Modernisierungsanspruch ist stets mit dem Bezug auf die »frommen Altvorderen« verknüpft: Die Errungenschaften der Modernisierung werden rückprojiziert auf gesellschaftliche Verhältnisse, die in der Vergangenheit geherrscht hätten und deren Verfall mit dem Abfall vom ursprünglichen Islam zu erklären sei (Seidensticker 2015).

Der Übergang von den islamischen Modernisten zum heutigen (Neo-) Salafismus ist durch eine radikale Auflösung dieser Ambivalenz von Modernisierungsgedanken und religiöser Tradition gekennzeichnet. Verstanden al-Afghani, Abduh und Rida die Ablehnung des »Taqlid« noch als implizit rationalistisches Projekt, nämlich als Zurückweisung tradierter Lehrauffassungen zugunsten der eigenen Lektüre der Quellen, wandelt sich diese Position nun zur Ablehnung von Interpretation schlechthin. Nicht mehr nur die tradierten Rechtsauffassungen sollen zurückgewiesen werden, sondern jede »menschengemachte« Deutung.

Im öffentlichen Diskurs des Westens wird unter »Salafismus« inzwischen meist eine gewaltbereite, explizit auf politische Herrschaft ausgerichtete und (neo-) fundamentalistische1 Strömung des sunnitischen Islam subsumiert. Diese Begriffsverwendung ist problematisch. Zum einen ist der Bezug auf die »frommen Altvorderen« unterschiedlichen, zum Teil äußerst heterogenen Strömungen des sunnitischen Islam gemein; zum anderen befürworten keineswegs alle Strömungen, die tatsächlich als neofundamentalistisch eingestuft werden können, den Einsatz von Gewalt. Die als »Salafiyya« bzw. »Salafi« bezeichneten Bewegungen reichen somit von solchen, die in der Tradition des islamischen Modernismus stehen, bis zu solchen, die der wahhabitischen Lehre folgen.

Der gegenwärtige Salafismus steht zwar hinsichtlich seiner antiimperialistischen und panislamischen Grundausrichtung weiterhin in der Tradition der Salafiyya, negiert jedoch deren rationalistische Elemente bzw. deutet diese um. Überdies spitzen die neosalafistischen Bewegungen die Doktrin der Wahhabiyya extrem zu und sind daher nicht mit Letzterer gleichzusetzen. Etlichen dschihadistischen Strömungen, wie al-Qaida oder dem IS, gilt selbst das saudische Herrscherhaus als Feind.2 Die Radikalisierung betrifft zwei Aspekte der wahhabitischen Doktrin. Erstens gilt die Zurückweisung des Taqlid explizit auch für die vier großen islamischen Rechtsschulen, d.h. es wird der Bruch mit der hanbalitischen Rechtsschule vollzogen, deren Entscheidungspraxis der Wahhabismus anerkennt. Zweitens verfügt der Salafismus anders als der Wahhabismus nicht über eine Legitimations- und Staatsideologie, es fehlt ihm somit ein staatstragendes Element (Seidensticker 2015).

Der Islam als politische Theorie

Zwar gab es bereits im 19. Jahrhundert Denker, die islamische Theologie, Politik und Staatlichkeit im modernen Sinne zusammendachten, doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstand mit der ägyptischen Muslimbruderschaft eine erste genuin politische Bewegung mit islamischem Charakter. Als ideologischer Vordenker der Muslimbruderschaft gilt Sayyid Qutb; vor allem sein Werk »Zeichen auf dem Weg« hatte enormen Einfluss auf die Entwicklung des politischen Islam, weit über den unmittelbaren Wirkungskreis der Organisation hinaus.

Im Zentrum der Theorie Qutbs steht »Dschahiliyya«, die sich ursprünglich auf die vorislamische Zeit der »Unwissenheit« bezog. Qutb verwendet den Begriff unter Bezug auf Ibn Taimiyya jedoch in einem aktualisierten Sinne: »Dschahiliyya« ist demnach nicht eine abgeschlossene historische Epoche, sondern herrscht überall dort, wo eine Gesellschaft von den Geboten Gottes abweicht, insbesondere dann, wenn sie gegen »Hakimiyya«, das Prinzip der (Allein-) Herrschaft Gottes, verstößt.

Hier zeigt sich ein zentrales ideologisches Topos des politischen Islam, das in nahezu all dessen Spielarten und Bewegungen rezipiert wurde: die radikale Ablehnung all jener politischer Herrschaftsformen, die als Souveränität des Menschen über den Menschen verstanden werden. So zielt die Kritik des politischen Islam an westlicher Demokratie nicht so sehr auf das demokratische Prinzip an sich ab, sondern vielmehr auf das Prinzip der Volkssouveränität. Als größtes Sakrileg gilt nicht die Herrschaft mittels Demokratie, sondern die Herrschaft des Menschen anstelle der Herrschaft Gottes (Damir-Geilsdorf 2003).

Auch »Dschihad« und »Takfir« gehören zu jenen Begriffen, die maßgeblich durch Qutb popularisiert wurden. In der islamischen Theologie gibt es mehrere Auslegungen des Dschihad-Begriffes, deren Unterschiede sich in der Regel an drei Kernfragen orientieren. Erstens: Ist mit »Dschihad» (in etwa »Anstrengung«) eher individuelle Selbstdisziplin und Selbstüberwindung, also der Kampf gegen sich selbst, oder Kampf in einem militärischen Sinne gemeint? Zweitens: Ist der militärische Dschihad rein defensiv oder auch im Sinne einer offensiven Expansion zu verstehen? Drittens: Besteht eine individuelle Pflicht zum Dschihad? (Heine 2003) Der so genannte »Islamische Staat« steht in diesem Sinne für eine rein militärische, expansive und stark auf die individuelle Pflicht fokussierte Auslegung des »Dschihad«.

»Takfir« steht für die Exkommunikation von Muslimen durch andere Muslime. Auch bei diesem Begriff besteht eine lange Tradition mal engerer, mal weiterer historischer Auslegungen dessen, was für einen Muslim einen Abfall vom Glauben und damit das todeswürdige Verbrechen der Apostasie konstituiert. Während sich z.B. die vier großen islamischen Rechtsschulen wechselseitig ebenso anerkennen wie die meisten Strömungen des sunnitischen bzw. schiitischen Islam, gelten für die (neo-) salafistischen Strömungen Schiiten als Apostaten. Der IS dehnt das Takfir gar auf alle aus, die nicht seiner spezifischen Lesart des sunnitischen Islam folgen (wozu die Anerkennung Abu Bakr Al-Baghdadis als Kalif gehört).

Einer der Begründer des ägyptischen »Islamischen Dschihad«, einer radikalen Splittergruppe der Muslimbruderschaft, war Aiman az-Zawahiri, der später als Chefideologe von al-Qaida das Gedankengut Qutbs popularisieren sollte. Auch die »Hamas« entstand ursprünglich aus einem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft, nahm aber erst zu Beginn der ersten Intifada den bewaffneten Kampf auf. Die »Hamas« (Al-Harakat al-muqawama al-islamiyya – Bewegung des Islamischen Widerstandes) sowie die libanesische Schiiten-Miliz »Hizbullah« (Partei Gottes) setzten als erste Bewegungen des politischen Islam das Selbstmordattentat als Mittel des militärisch-politischen Kampfes ein. Die ersten Anschläge dieser Art wurden zu Beginn der 1980er Jahre mutmaßlich von schiitischen Milizen im Libanon durchgeführt. Im Jahre 1993, gegen Ende der ersten Intifada, fand der erste palästinensische Selbstmordanschlag statt.

Islamische Revolution und revolutionäres Schiitentum

Eine besondere Stellung nimmt die schiitische Variante des politischen Islam ein, die in der islamischen Republik Iran offizielle Staatsideologie ist. Die Schia (vom arabischen »Schiat Ali« – Partei Alis) bildete sich Mitte des siebten Jahrhunderts heraus. Dabei ging es um die Frage, wem nach Muhammeds Tod die Position des Kalifen zukomme. Die Schiiten ergriffen Partei für Ali, den Schwiegersohn Muhammeds. Die Niederlage der Schiiten in diesem gewaltförmig ausgetragenen Konflikt trug zur Herausbildung eines signifikanten Distinktionsmerkmals der Schia bei: Der Verwandtschaftslinie Alis folgend wurden fortan dessen Nachkommen als Imame verehrt. Die unterschiedlichen Strömungen der Schia unterscheiden sich u.a. darin, wie viele Imame sie als Nachfolger Muhammeds anerkennen (sieben oder zwölf). Die größte Strömung ist die Zwölfer-Schia, der u.a. Ajatollah Khomeini, der Führer der Islamischen Revolution von 1979, und die Vertreter der libanesischen Hisbollah angehören.

In den meisten Phasen ihrer Geschichte waren Schiiten eine bedrohte und verfolgte Minderheit. Dies schlägt sich bis heute in zentralen theologischen Aspekten, beispielsweise dem besonders ausgeprägten Märtyrerkult, nieder. Das Selbstverständnis als Religion der Underdogs ist auch tragendes Element der klerikal-politischen Ideologie Ajatollah Khomeinis. Dieser interpretierte den Islam zu einer Art Befreiungstheologie des »Mostazafin«, der Unterdrückten, um und integrierte so zentrale Elemente antikolonialistischer »third ­worldism«-Ideologien in das Konzept eines sozialrevolutionären und antikolonialen Islam. Nach Khomeinis Rückkehr aus dem Exil gelang es den gut organisierten Kräften des politischen Schiitentums im Iran schnell, die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung zu erlangen und kurz darauf die Islamische Republik auszurufen.

Khomeinis Konzept der Herrschaft der Schriftgelehrten (Welayat-e Faghih) konstituiert seither die theokratische Legitimationsideologie der islamischen Republik Iran. Die Zwölfer-Schia vertritt den Glauben an die Erlösung der Welt durch die Rückkehr des Mahdi, des in die Entrückung verschwundenen zwölften Imam. Bis dahin sollen die Ulama, die Schriftgelehrten, welche als besonders gebildete Theologen als Einzige Einsicht in den Plan Gottes haben, die Leitung der Politik übernehmen. Der zentrale theologische Unterschied zu den eher qietistischen Auslegungen des schiitischen Islam, wie ihn der Großteil der schiitischen Ulama verfolgt, liegt gemäß Khomeinis Konzept in dem Gedanken, die Wiederkunft des Mahdi könne durch menschliches bzw. politisch-revolutionäres Handeln eingeleitet bzw. beschleunigt werden.

Des Weiteren gelten im Denken Khomeinis Nationen als vom Imperialismus geschaffene Kunstprodukte. Sie haben keinerlei Daseinsberechtigung und dienen nur dazu, die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, zu spalten (Khomeini 2002, S. 29f.). Dieser ideologische Topos des politischen Islam findet sich gleichermaßen in dessen sunnitischen Strömungen. Auch dafür ist der »Islamische Staat« ein aktuelles Beispiel, denn er stellt sein militärisches Expansionsprojekt explizit unter das Banner der Zerschlagung nationalstaatlicher Grenzen in der islamischen Welt.

Von al-Qaida zum IS

Die Entstehung von al-Qaida (die Basis) datiert auf den Beginn der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979. Auf Initiative des saudi-arabischen Staatsbürgers Osama bin Laden wurde zu jener Zeit im pakistanischen Peschawar ein Büro eingerichtet, in dem sich Freiwillige aus der gesamten arabischen Welt melden konnten, um den Kampf gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Diese »afghanischen Araber« bildeten den organisatorischen Kern dessen, was später al-Qaida bilden sollte. Die ursprünglich vom US-Geheimdienst CIA finanzierten Kämpfer begannen bereits Anfang der 1990er Jahre, sich gegen ihre einstigen Gönner zu wenden. Grund dafür war die Entscheidung des saudischen Herrscherhauses, den USA die Einrichtung von Militärbasen in Saudi-Arabien zu genehmigen. Al-Qaida galt die Präsenz westlicher Soldaten im historischen Kernland des Islam als besonders perfider Frevel.

In den Jahren darauf mehrten sich sowohl Anschläge gegen US-amerikanische Militäreinrichtungen und solche ihrer Verbündeter als auch gegen Zivilisten, beispielsweise beim Attentat von Luxor 1997 mit mehreren Dutzend Toten. Die Führung von al-Qaida konnte dabei stets aus »sicheren Häfen« operieren, zunächst aus dem islamistisch regierten Sudan unter Umar al-Baschir, später aus dem von den Taliban beherrschten Afghanistan. Seit dem Sturz der Taliban durch die von den USA geführte Militärintervention im Jahr 2001 ist al-Qaida zu einer klandestinen und dezentralen Organisationsweise gezwungen. Eine zentrale Streitfrage der zwar noch jungen, aber umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema al-Qaida dreht sich darum, ob al-Qaida und ihre jeweiligen regionalen Ableger (im Maghreb, Jemen, Irak, aber auch die deutsche »Sauerlandzelle«) Teile einer hierarchisch geführten Organisation sind.3

Unter Führung des Jordaniers Abu Musab az-Zarqawi formierte sich nach der US-Invasion im Irak 2003 mit »al-Qaida im Irak« der wahrscheinlich schlagkräftigste regionale Ableger der Organisation. Ihr operationales Ziel bestand vor allem darin, mittels gezielter Anschläge gegen die schiitische Infrastruktur sowie gegen schiitische Zivilisten und US-Soldaten den Widerstand gegen die US-Besatzung voranzutreiben sowie einen Bürgerkrieg im Irak auszulösen (Wichmann 2014, S. 272f.). Kernpunkt dieser Konzeption war eine „Eskalationsstrategie, die auf ein durch Chaos erzeugtes Machtvakuum spekuliert (Wichmann 2014, S.  253). Die Versäumnisse und Inkompetenzen der US-amerikanischen Militärverwaltung des Irak trugen in dieser Situation dazu bei, die Gesellschaft zu spalten. Zentrale Entscheidungen der Militärverwaltung unter General Bremer, wie die radikale und überhastete »Ent-Bathifizierung« des irakischen Beamten- und Militärapparates, die unzureichende Bereitstellung militärischer Kräfte zum Erhalt der öffentlichen Ordnung sowie die von Anfang an betriebene Ethnisierung des politischen Systems (Hiltermann 2006) wurden zu Ausgangspunkten für das Chaos im Nachkriegsirak.

In den folgenden Jahren konnte sich »al-Qaida im Irak« in den sunnitischen Stammesgebieten im Westen des Landes eine solide Operationsbasis verschaffen, die erst durch das als »Anbar Awakening« bezeichnete Aufbrechen des Bündnisses der sunnitischen Stämme mit al-Qaida verloren ging, wodurch die Organisation massiv an Schlagkraft einbüßte. In dieser angespannten Lage bot der beginnende syrische Bürgerkrieg einen viel versprechenden Ausweg. Mit der Verlagerung der Organisation, die sich mittlerweile »Islamischer Staat im Irak und der Levante« nannte, nach Syrien ging ein zentraler Herrschaftskonflikt zwischen dem IS und dessen Ableger al-Nusra-Front (Unterstützungsfront für das syrische Volk) einher, der letztlich zur Abspaltung des IS von al-Qaida führte (Al-Tamimi 2013, S. 19ff.). Seither stehen sich beide Organisationen feindlich gegenüber.

Quo vadis?

Die gegenwärtige Entwicklung des politischen Islam scheint von zwei wesentlichen Ereignissen geprägt: zum einen vom Aufstieg des »Islamischen Staates« und der damit einhergehenden Diskussion über die Attraktivität von dessen Ideologie für Muslime in Europa, zum anderen von der Entstehung demokratisch legitimierter, von islamistischen Parteien geführter Regierungen in Ägypten und Tunesien im Zuge des Arabischen Frühlings. Im Falle Ägyptens wurde die Herrschaft der Muslimbruderschaft allerdings durch den militärischen Putsch General as-Sisis nach kurzer Zeit wieder beendet. Seitdem wird Ägypten von einem sich zunehmend autoritärer gebärdenden Militärregime beherrscht. In Tunesien erlangte in den ersten freien Wahlen die Ennahda-Partei (Harakat an-Nahda, Wiedergeburt) die Macht. Ähnlich wie im Falle der Muslimbrüder in Ägypten trug hier vor allem der organisatorische und infrastrukturelle Vorsprung der Kräfte des politischen Islam maßgeblich zu ihrem Wahlsieg bei.

Die Ennahda in Tunesien und der IS stehen stellvertretend für die Komplexität und Bandbreite des Labels »politischer Islam«. Während unter der Herrschaft der tunesischen Islamisten ein signifikanter Mäßigungsprozess innerhalb der Ennahda-Partei einsetzte, der sich auch in einer überraschend liberalen Verfassung niederschlug, errichtete der IS in Teilen Syriens und des Irak eine ultra-fundamentalistische Schreckensherrschaft, deren Auswirkungen bis in die europäischen Metropolen zu spüren sind.

Es bleibt abzuwarten, ob der politische Islam langfristig den Weg des revolutionären Terrors oder den der parlamentarischen Inklusion einschlagen wird – oder ob die ihm inhärente politische Heterogenität langfristig erhalten bleibt.

Anmerkungen

1) Zum Begriff des Neofundamentalismus vgl. Roy 2006.

2) Vgl. hierzu vor allem Osama bin Ladens Kriegserklärung an das saudische Herrscherhaus; in: Kepel/Milelli 2006.

3) Eine Überblicksdarstellung der Diskussion findet sich bei Hellmich 2001, S. 30-37.

Literatur

al-Tamimi, A.J. (2013): The Islamic State of Iraq and Al-Sham. Middle East Review of Inter­national Affairs 17:3, S. 19-44.

Commins, D. (2009): The Wahhabi Mission and Saudi Arabia. London: I.B. Tauris.

Damir-Geilsdorf, S. (2003): Herrschaft und Gesellschaft – Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption. Würzburg: Ergon.

Gulmohamad, Z.K. (2014): The Rise and Fall of the Islamic State of Iraq and Al-Sham (Levant) ISIS. Global Security Studies 5(2), S. 1-11.

Heine, P. (2003): Islam zur Einführung. Hamburg: Junius.

Hellmich, C. (2012): Al-Qaida – Vom globalen Netzwerk zum Franchise Terrorismus. Darmstadt: Primus.

Hiltermann, J. (2006): Iraq and the New Sectarianism in the Middle East. Synopsis of a presentation at the Massachusetts Institute of Technol­ogy, 12.11.2006. International Crisis Group.

Kepel, G.; Milelli, J.-P. (2006): Al-Qaida: Texte des Terrors. München: Piper.

Khomeini, R.M. (2002): Islamic Government – Governance of the Jurist. Teheran: The Institute for Compilation and Publication of Imam Khomeini’s Works.

Seidensticker, T. (2015): Islamismus – Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C.H. Beck.

Roy, O. (2006): Der islamische Weg nach Westen – Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.

Wichmann, P. (2014): Al Qaida und der globale Djihad. Wiesbaden: Springer VS.

Adrian Paukstat studiert sozialwissenschaftliche Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Zuvor schloss er ein Studium der Geschichte und Anglistik sowie ein Sprachenstudium des Hebräischen in Augsburg und Jerusalem ab. Er beschäftigt sich primär mit Internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Naher Osten und politischer Theorie.

Zum Krieg – im Krieg – gegen den Krieg

Zum Krieg – im Krieg – gegen den Krieg

von Jürgen Nieth

»1914 – Die Avantgarden im Kampf«. Unter diesem Titel befasst sich eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn mit der modernen Kunst vor dem und im Ersten Weltkrieg. Sie präsentiert vom 8. November 2013 bis zum 23. Februar 2014 über 300 herausragende Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen sowie dokumentarische Fotografien von 60 der wichtigsten Künstler und Künstlerinnen Europas. Unter ihnen viele, die vor dem Krieg international einen engen Austausch miteinander gepflegt hatten und ihre Werke in vielen Ländern Europas ausstellten. KünstlerInnen, die sich in Vereinigungen zusammengeschlossen hatten, wie der »Blaue Reiter«, die von vornherein international angelegt waren, und die häufig über die Landesgrenzen hinweg eng befreundet waren. 1914 standen sie sich dann »im Feld« oder mit ihrem Wirken in der Etappe gegenüber.

Viele Künstler warnten in der Vorkriegszeit vor den Gräueln des Krieges, z. B. der Österreicher Alfred Kubin mit seinen Werken »Der Krieg« und »Nach der Schlacht«; andere Künstler entzogen sich dem Krieg und arbeiteten gegen ihn, wie Frans Masereel.

Doch viele andere beflügelten mit ihren Werken den »Patriotismus«, so Lovis Corinth, der sich selbst 1914 kriegsbereit im Harnisch portraitierte. KünstlerInnen wie Ernst Barlach, Käthe Kollwitz und Max Liebermann fertigten in Deutschland Lithografien für die Künstlerflugblätter »Kriegszeit«. Auf russischer Seite veröffentlichte Kasimir Malewitsch eine Reihe von Propagandablättern. In Italien oder Frankreich finden wir ähnliche Entwicklungen.

Und es gab jene, die »verschont« blieben, wie Pablo Picasso, der als Spanier, oder Henri Matisse, der aus gesundheitlichen Gründen nicht eingezogen wurde. Einige waren auch zu alt, wie Emil Nolde. Doch sie waren die Ausnahme. Die Mehrheit der Künstler zog mit unterschiedlichen Motiven aber freiwillig in den Krieg:

  • mit Begeisterung, wie z. B. Franz Marc, der im Krieg ein „selbstgewolltes Opfer“ sah (S.24);
  • aus Sorge, sonst als Drückeberger bezeichnet zu werden, wie Oskar Kokoschka, der befürchtete, es wird „eine ewige Schande sein […], zu Hause gesessen zu haben“ (S.25);
  • manche auch, um den Krieg zu erleben, ohne selbst zu kämpfen, wie Max Beckmann, der als freiwilliger Krankenpfleger in einem Lazarett arbeitete.

70 Millionen Soldaten nahmen am Ersten Weltkrieg teil, mehr als jeder Achte kam dabei um. Rund fünf Millionen Tote wurden nicht einmal identifiziert (ihnen ist ein gesonderter Ausstellungsteil gewidmet, »Vermisste Söhne – der Krieg als Akt der Auslöschung«).

Doch die barbarischen Gemetzel hinterließen ihre Spuren, die existenziellen Seinserfahrungen stießen ein neues Bewusstsein an. Viele der nach 1914 entstandenen Gemälde und Zeichnungen der Kriegsfreiwilligen und -unterstützer müssen heute als Ablehnung der Gewalt, als Antikriegsposition gesehen werden. Deutlich wird das u.a. bei Oskar Kokoschka, der vom Kriegsfreiwilligen zum Pazifisten wurde. Noch 1916 wurde er als »Kriegsmaler« der militärischen Propagandazentrale Österreich-Ungarns zugeordnet, ein Jahr später zeichnet er seine »Kriegsmappe«, die wahrscheinlich aufgrund der kompromisslosen Anklage gegen den Krieg damals nicht veröffentlicht wurde.

Der älteste Sohn von Käthe Kollwitz starb in der frühen Kriegsphase. Es hat die Künstlerin, deren Arbeiten ich immer als einheitliches Werk gegen Elend und Gewalt gesehen habe, bis zum Ende ihres Lebens nicht losgelassen, dass sie zusammen mit ihrem Mann die freiwillige Kriegsmeldung ihres Sohnes befürwortet hatte.

Einigen blieb nicht die Zeit für eine Korrektur ihrer Position: August Macke fiel schon am 26.9.1914 in Frankreich, und Franz Marc starb am 04.3.1916 bei Verdun.

Durch die extremen Erfahrungen des Krieges wandten sich viele Künstler aber nicht nur neuen Themen zu, sie veränderten auch ihre bildnerischen Verfahren. Kriegsgegner emigrierten in die neutrale Schweiz und gründeten 1916 »Dada« als internationale Protestbewegung. Sie forderten eine sich von allem Alten befreiende Kultur. Andere setzten gegen Ende des Krieges immer stärker auf Abstraktion.

Die großzügige und eindrucksvolle Präsentation der Ausstellung wirft einen politischen Blick auf das Wirken der Künstlerinnen und Künstler vor dem und im Ersten Weltkrieg und dokumentiert die damit verbundenen kunstgeschichtlichen Entwicklungen. Sie enthält viele Werke, die man nur selten zu sehen bekommt. Vor allem aber lohnt ein Besuch, weil diese Ausstellung Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse erkennen lässt.

Unbeantwortet bleiben muss die Frage, warum sich so viele Künstler 1914 für den nationalistischen Wahnsinn begeistern ließen, obwohl sie vorher die Chance hatten, Völker verbindende Erfahrungen zu sammeln.

Anmerkung

Die Seitenzahlen beziehen sich auf den Ausstellungskatalog »1914 – Die Avantgarden im Krieg«, hrsg. von der Bundeskunsthalle Bonn, Buchhandelsausgabe erschienen bei Snoeck, 352 S.

Jürgen Nieth ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden.

Nach der Wehrpflicht

Nach der Wehrpflicht

Herausforderungen der kirchlichen Friedensarbeit

Christian Griebenow

Die mit der Betreuung von Kriegsdienstverweigerern/innen bisher betrauten Organisationen machen sich im Zuge des Wegfalls der Wehrpflicht Gedanken, wie die Bedingungen für die Kriegsdienstverweigerung juristisch, politisch und sozial erhalten werden und wie Frauen und Männer auch in Zukunft eine freie Gewissenentscheidung zum Kriegsdienst treffen können. Sie wollen dafür sorgen, dass die Option der Kriegsdienstverweigerung auch weiterhin in der Gesellschaft und in den Kirchen präsent bleibt.

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht stellt sich die Frage nach der zukünftigen Bedeutung und Wahrnehmung der Kriegsdienstverweigerung (KDV) in der Gesellschaft und in den Kirchen. Den Kriegsdienst zu verweigern muss eine individuelle Handlungsoption bleiben. Betroffen sind Personen, die beispielsweise als Soldat/innen durch konkrete Kriegserfahrungen oder Erlebnisse in kriegsähnlichen Situationen zu einer Veränderung ihrer individuellen Gewissensentscheidung kommen und den Kriegsdienst deshalb »nachträglich« verweigern wollen. Durch die Aussetzung der Wehrpflicht wird es ab 2012 statt wie bisher etwa 100.000 KDV-Verfahren vermutlich nur noch einige hundert Vorgänge jährlich geben. Unklar ist auch, ob und wie junge Frauen und Männer ohne ein so genanntes Rechtsschutzbedürfnis einen KDV-Antrag stellen können, denn ein Rechtschutzbedürfnis besteht nur dann, wenn man mittels der Wehrpflicht zum Militärdienst gezwungen wird oder wenn man auf Grund einer Gewissensentscheidung als Zeit- oder Berufssoldat den Militärdienst verweigern möchte. Nach heutiger Sachlage kann man einen KDV-Antrag nur dann stellen, wenn eine Musterung bereits erfolgt ist.

Bislang war der Kriegsdienstverweigerung durch die Wehrpflicht und in Folge dessen durch den Zivildienst eine breite öffentliche Wahrnehmung sicher. Auch deswegen gibt es in Deutschland im internationalen Vergleich eines der transparentesten und zuverlässigsten Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer. Obwohl auch in diesem das Gewissen staatlich und formal geprüft wird und nicht allein die Berufung auf das Grundrecht für eine Anerkennung ausreicht, ist das Verfahren allgemein anerkannt und obliegt im Gegensatz zur Praxis in anderen Ländern einer zivilen Behörde. Der Vorgang ist eingespielt und für die Betroffenen kalkulierbar.

Aufgaben der kirchlichen Beratung unter veränderten Bedingungen

Der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschland (EKD) erklärte am 7. Dezember 1951: „Alle Menschen, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern, müssen geschützt werden und dürfen des Schutzes und der Fürsprache der Kirche gewiss sein.“ Die kirchliche Verpflichtung, junge Menschen in ihren Gewissensentscheidungen zu begleiten, bleibt auch nach dem Wegfall der Wehrpflicht bestehen. Dabei können sich die Betroffenen nicht nur auf die in Artikel 4,3 GG geregelte Kriegsdienstverweigerung, sondern explizit auch auf die in Artikel 4,1 GG geregelte grundsätzliche Freiheit des Gewissens beziehen. Zu dieser Freiheit müssen Menschen bereits in jungem Alter, d.h. im Schulalter, befähigt werden. Dies ist auch eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure.

Zurzeit sind im gesamten Bundesgebiet einige hundert zumeist ehrenamtliche Beauftragte für Friedens- und KDV-Arbeit in den evangelischen Landes- und Freikirchen aktiv. Sie werden auch in Zukunft als Berater/innen in Fragen der KDV zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden sie die zentrale Aufgabe der Friedensbildung und die Friedens- und Versöhnungsarbeit insgesamt noch stärker in den Blick nehmen. Der Leitgedanke der evangelischen Friedensarbeit ist dabei das Friedenszeugnis Christi.

Unabhängig von der Aussetzung der Wehrpflicht wurde die Friedensarbeit in der EKD schon vor einiger Zeit neu strukturiert. Ausgangspunkt hierfür waren die Beratungs- und Entscheidungsprozesse im Zuge der Verabschiedung der Friedensdenkschrift der EKD im Jahr 2007. Die bestehende landes- und freikirchliche Friedens- und KDV-Arbeit, welche in der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) organisiert ist, wird seit 2009 durch die einmal im Jahr tagende Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD ergänzt, in der ein breiteres Spektrum der evangelischen Friedensarbeit vertreten ist. Mit dem Friedensbeauftragten des Rates, Renke Brahms, hat die Evangelische Kirche das Amt eines Sprechers geschaffen, der den kirchlichen Beitrag zu Fragen des Friedens und des Krieges nachhaltig in gesellschaftliche und politische Debatten einbringen kann und der auch innerkirchlich Gewicht hat. Die gemeinsame Geschäftsstelle der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) und der EAK in Bonn unterstützt und begleitet die Arbeit des Friedensbeauftragten und organisiert und gestaltet die Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD.

Das bestehende Netz der aktiven Berater für KVD und der Friedensbeauftragten, zusammengeführt in der EAK, wird auch in den kommenden Jahren in der Beratung bei Gewissensentscheidungen und in der Friedensbildung aktiv sein. Die Strukturen in den einzelnen Landeskirchen sind allerdings sehr verschieden und so auch die Aktivitäten der jeweiligen Beauftragten und Berater. Ein Ziel für die Arbeit der EAK nach Aussetzung der Wehrpflicht ist es, die frei werdenden Kapazitäten dieser Beauftragten noch stärker in die Friedensbildung in der Schule und die Gewissensbildung einzubringen. Diesbezüglich sind die 16- bis 19-Jährigen die vorrangigen Adressaten der Arbeit der EAK, da Jugendliche nun nicht mehr automatisch mit der Gewissensfrage nach Krieg und Frieden konfrontiert werden. AGDF und EAK haben deshalb das Projekt »Friedensbildung, Bundeswehr & Schule« initiiert. Koordination und Projektleitung liegen bei der gemeinsamen Geschäftsstelle, d.h. hier sind die zentralen Funktionen wie Materialpool, Informationsstelle und bundesweite Öffentlichkeitsarbeit angesiedelt. Neben einer Materialiensammlung wird auch die Dokumentation der wichtigsten politischen Entscheidungen im Themenbereich Friedensbildung, Bundeswehr und Schule geleistet. Ein Newsletter informiert über aktuelle, Entwicklungen, die über das kirchliche Umfeld hinausgehen. Für die Schulen dient Friedensbildung im Sinne dieses Projektes auch der notwendigen politischen Ausgewogenheit gegenüber dem Besuch von Jugendoffizieren und ausdrücklich auch als Alternative hierzu. Die Herausforderung wird einerseits darin bestehen, pädagogische Ansätze und Materialien zu entwickeln, die die Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung verdeutlichen, und andererseits, die praktischen Ansätze, wie z.B. die Friedensdienste, durch Personen erfahrbar und erlebbar machen.

Im Bereich der Friedensbildung muss verstärkt über die Möglichkeiten der Gewaltfreiheit und des konstruktiven, zivilen/gewaltfreien Umgangs mit gesellschaftlichen und internationalen Konflikten informiert werden. Angeregt wird dadurch auch die kritische Reflektion militärischer Einsätze in Konflikten und Krisen im Allgemeinen. Zugleich soll aber auch über die Probleme des freiwilligen Wehrdienstes und die Chancen von Friedens- und Freiwilligendiensten informiert werden. Der »Vorrang für Zivil« ist dabei als Alternative zum militärischen Handeln das Hauptaugenmerk der kirchlichen Friedensorganisationen.

Auch die »alte« KDV-Beratung bleibt eine Aufgabe

Die KDV-Verfahren von Berufssoldat/innen werden auch weiterhin von Berater/innen und Seelsorger/innen begleitet, und die Kontakte zu den entsprechenden Fachanwälten werden auch künftig durch sie vermittelt. Das schließt die Beratung in Fragen des freiwilligen Wehrdienstes und der zivilen Alternativen in den Freiwilligen- und Friedensdiensten ein.

Als Teil der evangelischen Friedensarbeit wird die EAK sich in die grundsätzlichen Debatten der Friedenspolitik, Friedensethik und Friedenstheologie einmischen und dem pazifistischen Denken in den Evangelischen Kirchen Raum und Stimme geben. Sie steht dabei auch in einem kritischen Austausch mit der Seelsorge in der Bundeswehr. Viele Seelsorger/innen der Soldatenseelsorge nutzen bei der Beratung auch die Angebote und die vielfältigen Kontakte zu den Mitgliedern der EAK, um den Soldat/innen mit Gewissensentscheidungen einen unabhängigen Beistand zu ermöglichen.

Wie sich die KDV-Beratung zukünftig gestalten wird, ist jedoch offen. Das wird wohl auch davon beeinflusst sein, wie sich das Thema Kriegsdienstverweigerung weiterhin in der Gesamtgesellschaft verankern lässt und somit als eine Gewissenentscheidung nicht nur vom Staat, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern (innerhalb und außerhalb des Militärs) akzeptiert wird.

Christian Griebenow ist seit 2010 Geschäftsführer der EAK in Bonn.

Kultur als Waffensystem

Kultur als Waffensystem

von Rochelle Davis

Im Rahmen des vierten »Kulturgipfels« des US Army Training and Doctrine Command (TRADOC) im April 2010 schlug Generalmajor David Hogg, Leiter der Adviser Forces in Afghanistan, vor, dass das US-Militär „Kultur als Waffensystem“ denken solle.1 Hogg verwies darauf, dass das Militär die Kultur der Länder, in denen es im Einsatz sei, verstehen müsse und dass es lernen müsse, neben konventionelleren Waffensystemen auch dieses Wissen im Kampf gegen die Feinde einzusetzen. Diese konzeptionelle und vielleicht buchstäbliche »Umwandlung von Kultur zur Waffe« setzt eine Entwicklung fort, die mit den Einmärschen der USA in Afghanistan und dem Irak begann.2 Auf allerhöchster Kommandoebene von General David Petraeus unterstützt, entstand die Idee von Kultur als Waffensystem aus dem »weicheren Ansatz«, den die US-Armee nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Bezug auf die US-amerikanischer Kriege nach 9/11 verfolgte.3

Der Ansatz von »Kultur als Waffensystem« wurde wohl am klarsten artikuliert im »Counterinsurgency Field Manual« vom Dezember 2006, das General Petraeus verantwortete. In diesem Handbuch greift die eigentümlich militärische Anwendung von Kultur auf kulturanthropologische Definitionen von Kultur als Verhaltensweisen, Überzeugungen, Bräuche und Werte zurück, wie sie in einer Gruppe von Menschen gelernt und geteilt werden.4 Die Umwandlung von Kultur zur Waffe postuliert, dass Kultur ein zentraler Bestandteil militärischer Aufklärung sein kann, um andere zu beeinflussen, deren Schwachstellen anzugreifen und – etwas freundlicher – die anderen, denen das Militär helfen möchte, zu verstehen. Während Wissenschaftler und Militäranalytiker auf den Stellenwert von »Kultur« im Vietnam-Krieg hingewiesen haben,5, sind die aktuellen Kriege die ersten, in denen so deutlich auf die Bedeutung von Kultur verwiesen wird. Generalmajor John Custer, Kommandeur des »Intelligence Center of Excellence« der Armee, beschreibt diese Veränderung als „tektonische Verschiebung für Militäroperationen“.6

Kultur ist diesem Verständnis nach wie irgendeine andere Waffe im Arsenal der mächtigsten Militärmacht der Welt zu verstehen. Die Verschiebung zur »Umwandlung von Kultur zur Waffe« ermöglicht es dem Militär, Kultur als global zu konzipieren, als Kategorie, die nicht spezifisch auf einen Kriegsschauplatz oder auf einen Feind bezogen wird. Neue Militärinstitutionen produzieren Materialien für Kulturtrainings, für Sprachunterricht und zum Nachdenken über die Frage, was unter dem Begriff »Kultur« zu verstehen ist. Das im November 2005 ins Leben gerufene »Culture Center« von TRADOC ist Teil des »Intelligence Center of Excellence« in Fort Huachuca in Arizona. Das »Center for Advanced Operational Culture Learning« des Marinekorps, ebenfalls im Jahr 2005 gegründet, befasst sich vor allem mit dem Einsatz der Marines in Afghanistan. 2006 hat die Luftwaffe ein »Culture and Language Center« an der Air Force University eingerichtet, während die Marine 2007 das »Center for Language, Regional Expertise and Culture« schuf.

Zwar heuert jedes dieser Zentren ExpertInnen an und stellt Wissen bereit, TRADOC hat aber eine Vorreiterposition, weil es ein Kerncurriculum geschaffen hat, in dem es neben Themen wie gesellschaftliche Organisation, politische Struktur, interkulturelle Kommunikation, vertrauensbildende Maßnahmen, interkulturelles Verhandeln, Extremismus und die Arbeit mit Übersetzern auch um die grundlegende Frage geht, was überhaupt Kultur ist. Diese Lerneinheiten, die allen Angehörigen des US-Militärs zugänglich sind, basieren auf dem, was die Armee als die „vier grundlegenden Bestandteile von Kultur“ definiert hat: „Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen und Normen“.7 Bereits seit 2010 stehen Lernpakete für viele der Länder zur Verfügung, für die das »Central Command« und das neu eingerichtete »Africa Command« zuständig sind – vom Mittleren Osten und Südasien bis zum Horn von Afrika, Nordafrika und der Sahel-Zone. Diese besonderen Kulturtrainings werden dem Militärpersonal je nach Rang, besonderem Verwendungsprofil und Einsatzort angeboten. Seit 2009 hat das TRADOC-Kulturzentrum so genannte »Smart Books« zu Afghanistan, Pakistan und dem Jemen sowie »Smart Cards« für Afghanistan und das Horn von Afrika produziert; weitere zur Demokratischen Republik Kongo, den Philippinen, dem Iran, Saudi-Arabien, Syrien, Somalia, Korea und China befinden sich in Vorbereitung.

»Smart Cards«

Als die USA 2001 in Afghanistan und 2003 im Irak einmarschierten, hatte der Begriff »Kultur« keinen Platz im Vokabular des Krieges. Die USA hatten nach der irakischen Besetzung Kuwaits 1990 große Militärbasen in Saudi-Arabien, Qatar und später auch Kuwait eingerichtet. Veteranen des folgenden Golfkrieges erinnern sich, dass bestimmte Einheiten Informations- und Schulungsmaterial über arabische und muslimische Gesellschaften entwickelten, darunter ein kleines Info-Heft bzw. eine »Smart Card«. Dieses Angebot blieb allerdings vorübergehend. Es gab keine systematische Kulturschulung in der Armee oder im Marinekorps mit dem Ziel, diese auf den Einsatz im Mittleren Osten oder in Zentralasien in der Ära nach 9/11 vorzubereiten. Wie die USA es versäumten, sich ernsthaft auf die Situation vorzubereiten, die mit dem Sturz Saddam Hussein entstehen würde, so unterließ es auch das Militär unter der Führung von Rumsfeld, sich auf die eigene Rolle bei einer langjährigen Besatzung und beim Wiederaufbau des Landes vorzubereiten.

Die Koalitions-Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority; CPA) unter Leitung von L. Paul Bremer sagte im Jahr 2003 die Regionalwahlen im Irak ab, löste die irakische Armee auf und entließ die Anhänger der Baath-Partei aus der Regierung. Der Wiederaufbau des Iraks wurde an US-SoldatInnen, private Militärfirmen und Zivilangestellte übertragen. Obwohl die US-Amerikaner den Staat abgewickelt hatten, machten viele für die Fehler der CPA die irakische »Kultur« verantwortlich. Solche Erfahrungen – sowie ähnliche in Afghanistan – lieferten einen starken Impuls für das, was das US-Militär als kulturellen Imperativ wahrnahm, wodurch die militärische Kultur dazu überging, die Kultur anderer zu berücksichtigen. Im Jahr 2006 rief die Armee das »Human Terrain System« ins Leben, in dessen Rahmen SozialwissenschaftlerInnen in neun Wochen in Sprache, Kultur, Politik und Geografie des Irak und Afghanistans geschult und dann zu ihrer Tätigkeit in Kampfeinheiten entsandt wurden, um dort kulturrelevantes Wissen für die täglichen Interaktionen und die Informationssammlung bereitzustellen.

Dieses frühe Material, das die irakische Kultur beschrieb, basierte auf Studien zum »Nationalcharakter«, wie sie in der Kulturforschung und Kulturanthropologie der 1940er und 1950er Jahre typisch waren. AnthropologInnen haben diesen Ansatz, der die Vorstellung uniformer Eigenschaften von Bevölkerungen und Kulturen ähnlich einem Set von Persönlichkeitseigenschaften transportierte, längst überwunden, weil sie festgestellt haben, dass damit kultureller Wandel nicht angemessen zu erfassen ist und viele Ungenauigkeiten vorkamen. Die Übernahme von Studien zum »Nationalcharakter« durch das US-Militär ermöglichte eine einfache Vorstellung dessen, was einen »Iraker« und »Araber« ausmachte. In diesem Paradigma ist Irakisch-Sein zeitlos und einheitlich bestimmt durch Religion und Familie. Es ist jedoch nie Ergebnis historischer oder politischer Kräfte oder von Regierungspolitik. Stattdessen präsentieren die Materialien alle IrakerInnen als im Kern gleich, womit 27 Millionen Menschen ganz unterschiedlicher Bildungshintergründe, Siedlungskonstellationen, Generationen, Ethnizitäten, Religionen und ökonomischer Einkommensniveaus in einen Topf geworfen werden. Solche Grundmuster des »Nationalcharakters« geben zudem vor, dass sich alle IrakerInnen gemäß den inhärenten Charakteristika ihrer nationalen Gruppe verhalten. Die Konzeptualisierung von Kultur als »Nationalcharakter« basiert auf zwei wichtigen Annahmen: erstens, dass SoldatInnen »Kultur« anhand einer Liste von Charaktermerkmalen lernen können, und zweitens, dass IrakerInnen sich tatsächlich so verhalten. Das erste ist eine pädagogische Angelegenheit, das zweite eine von Genauigkeit.

Die Smart Card »Irakische Kultur« ist die einschlägigste visuelle Verkörperung des Verständnisses von Kultur als »Nationalcharakter«. Die Smart Card ist ein 16 Tafeln umfassendes laminiertes Faltblatt, das von der Armee, den Marines und Militärfirmen wie Kwikpoint und SAIC zusammengestellt wurde und in die Uniformtaschen von SoldatInnen im Einsatz passt. Erstmals 2003 produziert, wurde es seither immer wieder neu formatiert und gedruckt und hat 2006 eine Auflage von über 1,8 Millionen erreicht. Nach Angaben von Paul Nuti, der mit den Erfindern der Smart Card ein Interview führte, handelt es sich dabei nicht nur um „Kultur auf einen Blick“, sondern um „ein Nebenprodukt einer Länderstudie, einer strengen multidisziplinären Analyse des kulturellen Kontextes desjenigen Landes, für das die Smart Card angefordert worden ist.“ 8

Die Smart Card bietet grundlegende Angaben, die US-SoldatInnen ohne jedes Vorwissen über den Irak oder den Mittleren Osten nützlich finden mögen. Die fünf Säulen des Islam sind prägnant und im wesentlichen korrekt aufgeführt. Zusammenstellungen, was im Rahmen religiöser Feiern zu erwarten ist, über die Kulturgeschichte und »islamische« Begriffe sind nützlich. Von zweifelhafter Qualität sind die Darstellungen zu Kleidung und Gestik, zu kulturellen Gruppen und Gebräuchen.

Der Abschnitt zu Kleidung und Gestik enthält Bilder von drei Männern, die Kopfbedeckungen in weiß, schwarz und weiß sowie in rot und weiß tragen. Die Smart Card gibt die Auskunft, die weiße Kopfbedeckung signalisiere, dass der Mann „den Hadsch oder die Pilgerreise nach Mekka nicht gemacht hat. Die schwarz-weiße verweist auf ein Land mit Präsidialherrschaft (z.B. Libyen oder Ägypten) und auf einen bereits durchgeführten Hadsch. Und der Rot-karierte ist aus einem monarchisch regierten Land (z.B. Saudi-Arabien oder Jordanien) und hat den Hadsch bereits absolviert“. Erstens gibt es keinen Marker, der jene kennzeichnet, die die Pilgerreise nach Mekka unternommen haben. Zweitens ist nicht klar, warum die Smart Card für die irakische Kultur die anderen Länder überhaupt erwähnt. Drittens unterstellt eine Sicht, die die Kleidung von Arabern mit der Art der politischen Herrschaft, unter der sie leben, verbindet, dass es keine individuelle Wahlmöglichkeit bei der Kleidung gibt; im Gegenteil sieht es so aus als seien sie dem Diktat ihrer »Nationalkultur« ausgeliefert, dem sie gehorsam Folge leisten. Tatsächlich wird in Irak – wie überall – über die Kleidung nach Aspekten wie Jahreszeiten, Modetrends, verfügbarem Einkommen und individuellem Geschmack entschieden.

Es ist nicht so, dass die Kopfbedeckung arabischer Männer ohne Bedeutung ist; allerdings hat die Smart Card zur irakischen Kultur die Bedeutungen nicht richtig erfasst. In den meisten Fällen ist eine Kopfbedeckung auf dem Kopf eines Mannes nur eine Kopfbedeckung auf dem Kopf eines Mannes wie die Baseballkappe nur eine Baseballkappe ist. Wenn der Bedeckung größere Bedeutung zukommt, so ist diese zeit- und ortspezifisch.

Ein anderer Abschnitt, überschrieben »Bedeutung islamischer Fahnen«, zeigt Abbildungen von vier Flaggen mit Worten darauf – grün (Islam), rot (Opfer), weiß (Reinheit) und schwarz (Märtyrertum). Der dazu gehörige Text lautet: „Muslime hängen häufig farbige Flaggen auf, wenn sie Feiertage befolgen oder um ein Datum von persönlicher Bedeutung zu signalisieren. Jede Farbe hat eine spezifische Bedeutung: Grün ist die Farbe des Islam und hat besonders große Bedeutung für die Schiiten.“ Neben der Tatsache, dass IrakerInnen Fahnen aus ganz unterschiedlichen Gründen zeigen, etwa um zu demonstrieren, dass ein Familienmitglied auf dem Hadsch ist oder dass sie ein bestimmtes Sportteam unterstützen, warum sollte die Farbe grün besonders für Schiiten bedeutsam sein? Bedeutet das, dass alle schiitischen Muslime frommer sind als die Sunniten? Und warum ist es wichtig zu wissen, dass weiß Reinheit symbolisiert? Offensichtlich wird diese Information SoldatInnen zur Verfügung gestellt, damit sie wissen, dass Flaggen Bedeutungen haben jenseits der Signalübermittlung zwischen Aufständischen.

Sinn und Sensibilität

Es überrascht wenig, dass die fünfzig SoldatInnen und Marines, die für diesen Beitrag befragt wurden, angaben, dass ihr offizielles Kulturtraining „nicht brauchbar“ sei, weil »Kultur« als festgelegte Reaktion oder Verhaltensweise beschrieben wurde, häufig als Liste von dem, was getan werden soll, und dem, was nicht getan werden darf.9 Von den 33 SoldatInnen, die entweder bei der Armee oder den Marines offiziell an Kulturschulung teilnahmen, bewerteten nur fünf den Unterricht als nützlich. Ein 35-jähriger Kommandeur einer Infanteriekompanie beschrieb sein Kulturtraining wie folgt: „Ich finde, dass die Dinge, die sie sagten, wichtig sind. Aber es gab viel, was man selbst herausfinden musste. Aber die Sachen, die uns erzählt wurden, waren auf ihre Art auch sehr nützlich. Ich finde es ist wichtig, Deine Fußsohle nicht einem Iraker zu zeigen. Das kann sie recht ungemütlich werden lassen.“ Dieser Hauptmann sah einen Vorteil solchen Kulturtrainings darin, dass es dem US-Militär helfen würde, Kränkungen von IrakerInnen zu vermeiden. Die meisten Armeeangehörigen im Einsatz nutzen inoffizielle Quellen – andere Einheiten und Übersetzer –, um an das zu kommen, was sie „nützliche Information“ nennen.

Ein dauerhaftes Rätsel für US-SoldatInnen war es herauszufinden, ob IrakerInnen »gut« oder »schlecht« waren – wann sie sich schützen mussten oder wann sie ihre kulturelle Sensibilität anwenden sollten. Besondere Regeln und Regularien untersagten zudem bestimmte Formen sozialer Interaktion, so dass die Kontakte zwischen US-SoldatInnen und IrakerInnen noch schwieriger wurden. Ein Oberst der Marines beschrieb die Schwierigkeit, einen General der irakischen Armee, der sich in offizieller Mission im Stützpunkt aufhielt, in den Armeeladen mitzunehmen. Dem General wurde der Zutritt mit dem Hinweis verweigert, dass er Iraker sei.

Die US-SoldatInnen sehen sich der paradoxen Anforderung kultureller Sensibilität während einer militärischen Besatzung konfrontiert. Vermutlich ist das Material aus der Kulturschulung für die Interaktion mit IrakerInnen in Situation vorgesehen, in denen nicht unmittelbar gekämpft wird. Aber obwohl der Oberst der Marines den irakischen General als Kollegen behandelte, stuften ihn die Verhaltensvorschriften des Stützpunktes als einen »potentiellen Feind« ein. Das Wesen der Besatzung bringt es mit sich, dass der Besatzer die Macht hat, die Bewegungsfreiheit der Besetzten einzuschränken und sie von Prozessen der Entscheidungsfindung auszuschließen. In dieser Paradoxie sehen US-Truppen die IrakerInnen sowohl als ihre Feinde als auch als Opfer von Saddam Husseins repressivem Regime an; und die IrakerInnen sehen in den US-SoldatInnen sowohl Befreier als auch Besatzer. Wie, wann und bei wem die US-Truppen ihr kulturelles Wissen anwenden, ist nicht deutlich erkennbar. Das Dilemma wurde noch mehr kompliziert durch die Ereignisse im Gefängnis Abu Ghraib, wo die »kulturelle Relevanz« verschiedener Arten von Folter und Erniedrigung – bezogen beispielsweise auf Geschlechtlichkeit und Hunde – in den Zeugnissen der Täter aufscheinen und in den Photographien enthüllt werden. Kulturspezifisches Wissen ist nicht nur ein weiterer Pfeil im Köcher, nicht einfach ein weiteres »Waffensystem«, das neben anderen ausgewählt werden kann. Das US-Militär kann Kultur nicht in sein Arsenal aufnehmen, ohne Assoziationen zu einer Vergangenheit aufzurufen, in denen von Sensibilität kaum die Rede sein kann.

Entscheiden, wer Iraker ist

Auch wenn die erwähnten Materialien darauf abzielen, die AmerikanerInnen über die IrakerInnen zu informieren, so untergrub die Vorstellung von dem, was als irakische Kultur vorgestellt wurde, die verkündeten Ziele der Invasion. Das »Soldatenhandbuch für den Irak« der First Infantry Division, erstmals 2003 publiziert, erklärt unter anderem, dass die arabische Weltsicht »Wunsch« und »Realität« gegenüberstellt. So werde beispielsweise das irakische „Verlangen nach Modernität durch die Sehnsucht nach Tradition konterkariert (besonders nach islamischer Tradition, da der Islam die einzige Sphäre ist, die von westlicher Identifikation und westlichem Einfluss frei ist). Der Wunsch nach sofortiger Demokratie und Modernisierung ist ein gutes Beispiel dafür, was ein Abendländer als den Widerspruch zwischen Wunsch und Realität ansehen würde.“ Wunschdenken und unrealistische Erwartungen sind allerdings Charakteristika vieler Gemeinwesen; US-AmerikanerInnen weigern sich notorisch, die zur Finanzierung der von ihnen geforderten qualitativ hochwertigen öffentlichen Schulen notwendigen Steuern zu zahlen. Lässt man die Ungenauigkeit dieser Kulturlektion außer Acht, so zeigt sich ihre Widersinnigkeit bezogen auf die Ziele des US-Einsatzes, weil bereits sehr umfänglich vom Weißen Haus die Sichtweise verbreitet wurde, dass mit dem Krieg die Demokratie in den Irak gebracht werde. Tatsächlich waren die US-SoldatInnen, die sich mit dem Handbuch befasst hatten, zu dem Zeitpunkt im Irak, als die IrakerInnen nach erheblicher Verzögerung im Januar 2005 zu den Wahlurnen gingen, um eine 275-köpfige Übergangsversammlung zu wählen. Welche Botschaft übermittelte das Militär nun an die SoldatInnen, von denen es erwartete, dass sie ihr Leben dafür einsetzten, damit IrakerInnen ihre Finger in violette Tinte tunken konnten? Es schien als hätten die Amerikaner die Iraker zwar von Saddam befreit, die IrakerInnen seien aber noch nicht bereit, das Beste daraus zu machen. Eine solche Ambiguität konnte für die Moral der US-Truppen nicht gut sein.

Das militärische Material zur Kulturschulung bestärkte auch das omnipräsente Bild eines konfessionsgebundenen Irak schon bevor Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen auftraten. Ein Feld der Smart Card zur irakischen Kultur aus dem Jahr 2004 zeigt die „kulturellen Gruppen im Irak“ – sunnitische und schiitische Araber, Kurden, Chaldäer, Assyrer und Turkmenen. Wenn eine Soldatin dieses Material sorgfältig liest, dann wird sie das folgende lernen: Araber sehen Kurden als Separatisten an, schauen auf Turkmenen herab und bewerten die Iraner negativ. Es bestehen Spannungen zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern. Kurden sind erkennbar feindlich gegenüber den irakischen Arabern eingestellt und misstrauen den Turkmenen. Es gibt wenige Interaktionen mit den Christen. Assyrer haben Verfolgung durch Kurden und Araber erlitten. Die Chaldäer misstrauen den Absichten der Kurden und Araber, und die Turkmenen fürchten die Kurden. Die einzige positive Beziehung besteht in den friedlichen Verbindungen, die die Chaldäer mit den Turkmenen haben, und darin, dass die Assyrer viel mit den Chaldäern gemeinsam haben.

Früher hatte die Smart Card die IrakerInnen derart porträtiert, dass sie alle einen einheitlichen Nationalcharakter haben, der sich in einigen Spiegelstrichen abbilden ließe. Aber in dieser Version des Bildes der seit über achtzig Jahren bestehenden irakischen Nation scheint es gar keine IrakerInnen mehr zu geben, die eine gemeinsame Basis in nationalem Interesse, Patriotismus oder Heimatliebe finden. Stattdessen scheint es, dass ethnische und/oder religiöse Spannungen alles andere überlagern. Anders formuliert: Den SoldatInnen wird beigebracht, dass der nationale Charakter des Irak hoffnungslos gespalten ist durch ethnische und konfessionelle Urfeindschaften.

Solches Material, das sämtliche SoldatInnen im Irak, die im Land auf Patrouille sind und die Bewegungsfreiheit der Menschen dort einschränken, in die Hände kriegen, bietet keine neutrale Information. Mit dieser Aussage soll keinesfalls die Gewalt entschuldigt werden, die sich die IrakerInnen gegenseitig antun. Es deutet aber vieles darauf hin, dass das US-Schulungsmaterial dazu beigetragen hat, dass sich Spaltungen herauskristallisierten, die vorher rudimentär waren, indem dem gewöhnlichen Soldaten nahe gelegt wurde, den US-Einsatz als Schutz der Schiiten vor den Sunniten zu verstehen, wie es viele getan haben, bevor der Bürgerkrieg eingehegt wurde. Während des Bürgerkrieges legten die Smart Cards den SoldatInnen nahe, interreligiöse Gewalt als etwas dem Irak oder der islamischen Welt Inhärentes und damit außerhalb menschlicher Kontrolle Stehendes zu sehen statt einen Kampf um Macht, Geld und Einfluss im Schatten des Krieges.

Etliche WissenschaftlerInnen schrieben über die konfessionelle Spaltung im Irak nach 2003 und wie die US-Politik diese entweder direkt oder indirekt ermutigt hat. Die Entscheidung Bremers, die Sitze in der Irakischen Übergangsregierung nach einem religiös-ethnischen Proporz zu besetzen, wurde beispielsweise von den IrakerInnen wiederholt, als die Ministerien in der Übergangsregierung von 2004 aufgeteilt wurden. Aber einzelne US-Soldaten, die mit den oberflächlichen Darstellungen der Smart Card ausgestattet wurden, haben auch zu einem Denken in den Kategorien konfessioneller Spaltung beigetragen, zu deren Kontrolle sie formal im Irak waren.

Der kulturelle Imperativ

Entsprechend des neuen militärischen Imperativs, kulturelle Aufmerksamkeit in den US-Streitkräften zu fördern, verfassten zwei für das »Army Research Institute for the Behavioral and Social Sciences« tätige zivile Psychologen, Allison Abbe und Stanley Halpin, den Beitrag »Der kulturelle Imperativ für die Ausbildung von Berufssoldaten und Führungsqualifikation«. In diesem Artikel schlagen sie Ansätze vor, um von – wie sie es formulieren – „kulturellem Wissen“ zu „inter-kultureller Kompetenz“ zu gelangen. Sie kritisieren das gegenwärtige Training über kulturbezogenes Wissen als ineffizient, weil „Regionen spezifische Schulung zwar beschreibende Fakten und Zahlen über eine bestimmte Szenerie zur Verfügung stellt“, aber die „Schwäche dieser Art von Trainings besteht darin, dass seine Wirksamkeit von der Qualität des Inhalts abhängt, welcher gelegentlich aufgrund eines übermäßigen Vertrauens zu Experten, die nicht über jüngste Erfahrungen aus der Region verfügen, ungenau oder inaktuell ist“.10 Wie bereits deutlich geworden sein sollte, enthält das in den ersten fünf Jahren der Besatzung produzierte Material erhebliche inhaltliche Fehler.

Interkulturelle Kompetenz, wie sie von Abbe und Halpin vorgeschlagen wird, hat drei Komponenten: Wissen, Affekt und Fachkenntnis, die „zusammen jene Fähigkeiten ausmachen, um in einer fremden Kultur zu arbeiten. Wissen fängt mit einem Bewusstsein über die eigene Kultur an und schließt das Verständnis von Kultur und kulturellen Unterschieden ein, muss jedoch zu einem zunehmend komplexen Verständnis der Quellen, Ausdrucksformen und Auswirkungen der jeweiligen Kultur übergehen. Affekt umfasst Einstellungen gegenüber fremden Kulturen und die Motivation, über sie zu lernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Fachkenntnis beinhaltet die Fähigkeit, die eigenen Reaktionen in einem interkulturellen Setting zu regulieren sowie die zwischenmenschliche Fertigkeiten und die Flexibilität, sich in die Perspektive einer Person aus einer anderen Kultur hineinzuversetzen.“ 11

Aber selbst wenn die neue Vorstellung des Militärs von Kultur SoldatInnen hervorbringt, die interkulturelle Kompetenz aufweisen, bestehen relevante Aspekte fort. Das Misslingen im Irak und in Afghanistan liegt nicht im Umgang mit der Kultur begründet, sondern an den Einstellungen – individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen, die gestattet und gefördert werden durch Haltungen und Politiken von US-Regierung und -Militär.

Die für diesen Beitrag interviewten IrakerInnen haben Geschichten berichtet, die diesen Aspekt illustrieren. Erstens haben sich die meisten IrakerInnen darüber beschwert, wie sie von den Amerikaner als Zivilisten behandelt wurden – unter dem Gesichtspunkt der Gefahr und des fehlenden Respekts. Die meisten haben direkte Verwandte, die unbeabsichtigt getötet, verletzt oder von US-Truppen beschossen wurden, als sie die Straße hinunterfuhren oder auf ihren Dächern standen. Sie finden, dass einige der SoldatInnen respektvoll auftreten, andere hingegen nicht, und verweisen auf solche Dinge wie Durchsuchungen mit Hunden, das Anfassen von Frauen durch männliche Soldaten und Fälle von Diebstahl. Aber am wichtigsten ist, dass die meisten auf die Frage, ob Kultur im Zusammenhang mit dem Auftreten des US-Militärs im Irak eine Rolle spielt, dies verneinten. Das Ende der Besatzung und allgemeiner Respekt – nicht im kulturellen Sinne, sondern als Respekt für ihr Land und die Fähigkeiten seiner Bevölkerung – wird als zentral angesehen.

Der Aspekt des Respekts ist hinsichtlich der Erfahrung der IrakerInnen mit AmerikanerInnen nach 2003 entscheidend. So sagte ein Feldwebel der Militärpolizei mit Blick auf eine Frage zur Nützlichkeit des Sensibilisierungstrainings: „Ich benötige keine Schulung, um Menschen respektvoll zu behandeln.“ Tatsächlich mag respektvolles Verhalten vor allem eine Frage der persönlichen Integrität und emotionalen Intelligenz sein – Eigenschaften, die viele US-SoldatInnen ohne Zweifel in großer Zahl haben. Aber SoldatInnen sind Ausführende von Politik, und Tatsache ist, dass die Invasion und die Besatzung Iraks nie basierte auf dem Wissen über bzw. dem Respekt vor IrakerInnen und ihren Leistungen. IrakerInnen wurden als Objekte der Befreiung betrachtet und später – um einen Begriff von Timothy Mitchell zu gebrauchen – als »Objekte der Entwicklung«. Diese Einstellung erforderte, dass die IrakerInnen akzeptieren, was ihnen gegeben wird, und Beschwerden nur bei vorgegebenen Foren vorbringen. Vom offiziellen US-Standpunkt aus war Respekt weder angestrebt noch notwendig.

Aufgrund des Inhalts, der für die neuen »Was ist Kultur«-Materialien vorgeschlagen wird, ist anzunehmen, dass US-SoldatInnen Einstellungen gegenüber anderen entwickeln sollen, die auf Anpassungsfähigkeit, Akzeptanz und Verzicht von Wertungen beruhen. Es ist ironisch, dass dieser höchst anthropologisch geprägte Ansatz, wie man sich Kultur nähern kann, nun Teil des Plans des Militärs ist, »Kultur zum Waffensystem« zu machen. Allerdings bleibt abzuwarten, ob ein solcher Einstellungswandel bei den Truppen tatsächlich greift. US-amerikanische Einstellungen gegenüber der Welt außerhalb der USA sind seit langem durchzogen von einem Gefühl des Auserwähltseins und der Überlegenheit – ein Gefühl, das durch das Kümmernis der Attacken vom 11 September verstärkt wurde und seitdem von fast jedem Politiker in der Nähe eines Mikrophons verbreitet wurde. Es scheint als könne der vorgeschlagene Wandel der Einstellungen der US-Truppen gegenüber Kulturen und Menschen, mit denen sie direkt in Berührung sind, in einem sanftmütigen Antlitz einer gewaltsamen imperialen Politik münden, die Invasionen und Besetzungen als gerechtfertigt, zukunftsfähig und ethisch versteht.

Anmerkungen

Der vorliegende Beitrag erschien in einer längeren Fassung zuerst im »Middle East Report« (www.merip.org). Wir danken für die Möglichkeit zum Abdruck.

1) Vgl. Sierra Vista Herald vom 19.04.2010.

2) Vgl. Hugh Gusterson: The US Military’s Quest to Weaponize Culture. In: Bulletin of the Atomic Scientists (June 2008); Keith Brown: ›All They Understand is Force‹: Debating Culture in Operation Iraqi Freedom. In: American Anthropologist 110/4 (2008); Hugh Gusterson (2010): The Cultural Turn in the War on Terror. In: John Kelley & Beatrice Jauregui & Sean T. Mitchell & Jeremy Watson (Hrsg.): Anthropology and Global Counterinsurgency. Chicago: University of Chicago Press.

3) Sheila Miyoshi Jager (2007): On the Uses of Cultural Knowledge. Carlisle, PA: US Army War College Strategic Studies Institute, November 2007, S. V.

4) David Price behauptet, dass ein solches Verwenden von anthropologischen Arbeiten zum Thema Kultur, die bis hin zur Verwendung ganzer Sätze aus einem Who is Who der Kulturanthropologie ohne entsprechende Erwähnung reicht, ein Flickenteppich aus Plagiaten ist. Vgl. Pilfered Scholarship Devastates General Petraeus‘ Counterinsurgency Manual. In: Counterpunch vom 30.10.2007.

5) James Petras: Procuring Academics for Empire: The Pentagon Minerva Research Initiative. In: Dialectical Anthropology 33/1 (2009); Hugh Gusterson: Project Minerva and the Militarization of Anthropology. In: Radical Teacher 86 (2009); Jeffrey Mervis: DOD Funds New Views on Conflict With Its First Minerva Grants. In: Science vom 30.01.2009.

6) Army Culture Education and Training Curriculum 2010, S.3.

7) Army Culture Education and Training Curriculum 2010, S.10.

8) Paul Nuti: Smart Card: Don’t Leave Military Base Without It, in: Anthropology News, Oktober 2006.

9) Rochelle Davis (mit Dahlia Elzein und Dena Takruri): Iraqi Culture and the US Military: Understanding Training, Experiences and Attitudes. In: Anthropology and Global Counterinsurgency (vgl. Fußnote 2).

10) Allison Abbe & Stanley Harpin: The Cultural Imperative for Professional Military Education and Leader Development. In: Parameters 39/4, Winter 2009-2010, S.21-22.

11) Ebd., S.24-25.

Rochelle Davis ist Mitherausgeberin des »Middle East Report« und lehrt als Assistant Professor für Anthropologie am Center for Contemporary Arab Studies an der School of Foreign Service an der Georgetown University. Übersetzt von Fabian Virchow

Religionen und Weltfrieden

Religionen und Weltfrieden

Internationales Symposium zum Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von Religionsgemeinschaften, Osnabrück, 20.-23. Oktober 2010 in Osnabrück

von Janina Sentner

Die friedensfördernden und -stiftenden Potenziale von Religionen und Religionsgemeinschaften finden in den öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten über das Verhältnis von Religion und Gewalt häufig nur eine sehr marginale Beachtung. Es überwiegt die Wahrnehmung von Religion als gewalteskalierendem Faktor. Nur allzu schnell werden Gewaltkonflikte, deren Akteure unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören, in die Kategorie »religiöse Konflikte« eingeordnet. Zu dieser Einseitigkeit trägt nicht zuletzt auch der transnationale Terrorismus dabei, der seine Terrorakte mit religiösen Formeln zu legitimieren sucht.

Das Internationale Symposium »Religionen und Weltfrieden«, das vom 20.-23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfand, richtete den Blick deshalb gezielt auf die Rolle von Religionen bei der Gewaltprävention, der Deeskalation von Gewaltkonflikten und in Friedensprozessen. Mit diesem Perspektivwechsel sollten neue Impulse sowohl für die wissenschaftliche Forschung, insbesondere für die Friedensforschung, als auch für die öffentliche Debatte über Religion und Konflikt gegeben werden. Wenn Religionsgemeinschaften aber, so die Ausgangshypothese des Symposiums, einen konstruktiven Einfluss auf gewaltförmig ausgetragene Konflikte sowie auf die Friedenskonsolidierung und Gewaltprävention nehmen können, dann ergibt sich hieraus nicht nur die Aufgabe, dieser Thematik eine deutlich größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen, sondern auch ein politisches Interesse, dieses Potenzial weiterzuentwickeln und effektiver in Friedensprozesse einzubringen.

Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hat das Symposium gemeinsam mit dem Forschungsverbund Religion und Konflikt1 sowie mit dem Wissenschaftlichen Rat der Osnabrücker Friedensgespräche2 konzipiert und ausgerichtet. Die großzügige Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung machte es möglich, die Tagung hochkarätig zu besetzen und sie für ein breitgefächertes Publikum aus Wissenschaft und Praxis zu öffnen. Hierbei erwies sich die Zweiteilung des Symposiums in einen wissenschaftlichen Kernbereich und in öffentlichkeitswirksame Begleitveranstaltungen als überaus hilfreich, da hierdurch unterschiedliche Zielgruppen für eine Teilnahme gewonnen werden konnten.

Den Eröffnungsvortrag des Symposiums hielt der Theologe Prof. Dr. Hans Küng, der sich als Gründer und Präsident der Stiftung Weltethos seit vielen Jahren für den Dialog und Frieden zwischen den Weltreligionen einsetzt. Er mahnte in seinem Beitrag nachdrücklich an, dass die Religionen eine gemeinsame Vision vom Frieden in der Welt entwickeln müssten. Dass hierin ein großes Potenzial liege, verdeutlichten zahlreiche Beispiele von praktischer Friedensarbeit von Religionsgemeinschaften. Küng appellierte an gemeinsame Verantwortung von Religionsgemeinschaften und Politik, sich für friedliche Lösungen von Konflikten einzusetzen.

Die große Beachtung, die dem Symposium zuteil wurde, spiegelte sich auch in der Videobotschaft von Prinz Hassan bin Talal aus Jordanien wider, die bei der Eröffnungsveranstaltung abgespielt werden konnte. Auch der ehemalige Staatspräsident des Iran, Mohammad Chatami, der seiner Einladung zum Symposium nicht folgen konnte, ließ es sich nicht nehmen, eine Grußbotschaft zu senden. Beide Dokumente sind auf der Internetseite des Symposiums einzusehen.

Der erste Tag des Symposiums stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit den Friedensbotschaften der fünf großen Weltreligionen Buddhismus, Hinduismus, Islam, Christentum und Judentum. Hierbei richteten die Referenten nicht nur den Blick auf die religiösen Quellen von Friedensvorstellungen und Konzepten, sondern auch auf die ambivalenten Einstellungen zu Toleranz und Gewalt. Zu diesen Themenkomplexen referierten renommierte Experten wie Scott Appleby vom Kroc Institute for International Peace Studies, University of Notre Dame, der sich mit dem Christentum auseinandersetzte, sowie Peter Harvey, ein Buddhismusforscher von der University of Sunderland, der in seinem per Videokonferenz eingespielten Vortrag eindrücklich die buddhistischen Friedenskonzepte vorstellte. Der Vortrag von Ayse Kadayifci-Orellana, American University Washington, zu den Friedensvorstellungen im Islam fand auch deshalb große Beachtung, weil sie sich auf ihre praktischen Erfahrungen mit interreligiösem Dialog und religiöser Friedensarbeit stützen konnte. Mit dem Hinduismus, insbesondere seinem Einfluss auf das Denken Mahatma Gandhis, befasste sich Joseph Prabu, California State University. Ben Mollov, Bar Ilan University, referierte über religiös motivierte Friedenskonzeptionen in wichtigen Strömungen in der jüdischen politischen Ideengeschichte.

Am zweiten Tag des Symposiums richteten die Referenten und Referentinnen die Aufmerksamkeit auf den Stand der Forschung zum Friedenspotenzial von Religionsgemeinschaften und diskutierten Erklärungsansätze für das ambivalente Verhältnis zu Frieden und Gewalt. Den einführenden Plenumsvortrag hielt David Little, Harvard Divinity School, der sein Analysemodell zur Untersuchung ethnisch-religiöser Konflikte vorstellte. Hierbei rückte er vor allem die Rolle von religiöser Toleranz und Intoleranz für das Entstehen von Gewaltkonflikten sowie ihre jeweiligen Ursachen ins Zentrum seiner Analyse. Religion könne einerseits Unterdrückung und Intoleranz auslösen, was insbesondere in autoritären Staaten zum Missbrauch von Religion führe. Demokratische Strukturen hingegen förderten den Schutz von Minderheiten, die Wahrung der Religionsfreiheit und eine Verringerung von ethnisch-religiös motivierter Gewalt.

Das friedensfördernde Potenzial der Religionsgemeinschaften wurde auf den folgenden Panels aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Gerhard Robbers hob hervor, dass die Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften der Schlüssel für eine friedliche Koexistenz sei. Der Staat sei der Garant religiöser Freiheit, weshalb seine Aufgabe darin bestehe, den interreligiösen Dialog und Respekt zu fördern. Am Beispiel der zahlreichen Gewaltkonflikte auf dem afrikanischen Kontinent wiesen Mustafa Ali, African Council of Religious Leaders, und Matthias Basedau, GIGA – Institut für Afrika-Studien, darauf hin, dass es auf das Zusammenwirken verschiedener Konfliktfaktoren ankomme, ob Religion Gewalt oder Frieden begünstige. Mangels einschlägiger Forschung fehlten realistische Einschätzungen dazu, wie das friedensfördernde Potenzial von Religionen besser genutzt werden könne. Shanta Premawardhana setzte sich mit der Frage auseinander, unter welchen Bedingungen Religion in Konfliktkonstellationen für politische Zwecke negativ instrumentalisiert wird und wie solchen Entwicklungen entgegengewirkt werden kann. Den Widersprüchen zwischen dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte, ihren friedenspolitischen Grundwerten und religiösen Positionen widmete sich der Beitrag von Javaid Rehman, Brunel University London. Hierbei fokussierte er insbesondere auf die Diskussionen im Islam. Daniel Philpott, University of Notre Dame, hob hervor, dass Religionen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis einen wesentlichen Beitrag zu Versöhnungsprozessen nach Gewaltkonflikten geleistet hätten. Das in den Religionen verwurzelte Prinzip der Versöhnung beeinflusse maßgeblich einschlägige politische Konzeptionen und Handlungsstrategien.

Der dritte Tag des Symposiums hatte seinen Schwerpunkt auf ausgewählten Beispielen der praktischen Friedensförderung in verschiedenen Weltregionen. In seinem einführenden Plenumsvortrag verdeutlichte Jeffrey Haynes, London Metropolitan University, dass Religion eine noch immer starke, teilweise sogar zunehmende Bedeutung für die Identität von Individuen und sozialen Gruppen, insbesondere in den Entwicklungsländern, habe. Insofern habe der Faktor Religion einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung von Gewalt- und Friedensprozessen in der internationalen Politik. In parallel stattfindenden Workshops wurden Erfahrungen aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Irak, Kolumbien, Mozambique und Südafrika in sehr eindrücklicher Weise vorgestellt. Der Generalsekretär von Sant‘ Egidio, Cesare Zucchoni, machte auf die vielseitigen Möglichkeiten informeller Vermittlungsaktivitäten durch Religionsgemeinschaften in akuten Konfliktsituationen oder bei der Beilegung von Konflikten aufmerksam. Positive Erfahrungen hatte seine Organisation insbesondere in Mozambique gesammelt. Der Gründer der buddhistischen Sarvodaya-Bewegung in Sri Lanka, A. T. Ariyaratne, berichtete über sein Fünf-Punkte-Programm zur Konfliktlösung, das auch längerfristige wirtschaftliche, psychologische und spirituelle Auswirkungen von Gewalt berücksichtigt. Susan Hayward, United State Institute for Peace, schilderte in ihrem Beitrag am Beispiel des Irak, wie der interreligiöse Dialog einen Beitrag dazu leisten kann, Gewaltbereitschaft durch den Abbau von religiösen Stereotypen und kulturellen Missverständnissen zu überwinden. Einen anschaulichen Einblick in die psychologisch begleitete Arbeit zur Aufarbeitung von Gewalttraumata und zur Versöhnungsarbeit in Südafrika gab Pumla Gobodo-Madikizela. Der Workshop von Mauricio García Durán aus Kolumbien galt der Rolle von Religionsgemeinschaften in verschiedenen Friedensprogrammen in seinem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land. Hierbei hob er insbesondere die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten und die Frage der Gerechtigkeit hervor. Ivo Markovic berichtete über seine interreligiösen Dialogprojekte auf Gemeindeebene im ehemaligen Jugoslawien, mit denen er den Versöhnungsprozess zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen unterstützt.

Den Schlusspunkt des Symposiums setzte der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, Claus Leggewie, der einen großen Bogen vom internationalen System nach dem Westfälischen Frieden bis zur aktuellen innenpolitischen Debatte über Integration und multikultureller Gesellschaft sowie über die Rolle des Islam spannte. In der jüngeren Zeit sei eine wachsende Politisierung von Religionen im Rahmen sozialer Bewegungen zu beobachten, die sie nicht zuletzt auch durch transnationale Organisationsformen zu einem wichtigen politischen Faktor machten. Infolgedessen habe sich zudem die Wahrnehmung von Religion als Konfliktfaktor geändert, was in neue Bedrohungs- und Konfliktszenarien münde, die die innenpolitischen Integrationsdebatten in den westlichen Staaten stark beeinflussten. Leggewie unterstrich jedoch, dass das friedensfördernde Potenzial noch zu wenig Beachtung finde. In Bezug auf die innergesellschaftlichen Konflikte, insbesondere mit den islamischen Gemeinden, plädierte Leggewie dafür, die Gegensätze nicht auf eine grundsätzliche Ebene zu ziehen, sondern diese in »teilbare« Konflikte zu verwandeln, um sie dann im Dialog – und unter Aufgabe hegemonialer Ansprüche – lösen zu können.

Zum Symposium wird eine 15-minütige Videodokumentation erstellt, die auf der Internetseite3 zur Verfügung stehen wird. Darüber hinaus ist die Veröffentlichung der Beiträge in einem Tagungsband in Vorbereitung.

Anmerkungen

1) Der Forschungsverbund Religion und Konfliktf wird von Dr. Markus Weingardt, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg, koordiniert. Siehe www.religionundkonflikt.de.

2) Siehe www.friedensgespraeche.de.

3) www.religionenundweltfrieden.de.

Janina Sentner

Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume

Die friedensbildende Kraft interaktiver TheaterRäume

Wissensgenerierung, Transformation und politische Öffentlichkeit

von Hannah Reich

Nach einem kriegerischen Konflikt besteht neben der Vergangenheitsbewältigung ein Großteil der Friedensarbeit aus Beziehungsbildung zwischen den ehemals verfeindeten Konfliktparteien. Zunächst bedeutet dies, dass in diesen gespaltenen Gesellschaften konkrete Orte für Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Es heißt aber auch, dass Orte geschaffen werden, die eine Reflexion über die Art und Weise der gesellschaftlichen Mechanismen der Beziehungsbildung zulassen. Es bedarf dieser Gelegenheiten, um das Alltägliche zu unterbrechen und ein Innehalten zu gestatten, welches das »normale« Verhalten zu beobachten erlaubt und dadurch die Frage in den Raum stellt: „Wollen wir so miteinander umgehen?“ So ein Raum kann der sog. »ästhetische Raum« des boalschen interaktiven Theaters sein – wobei dieser Raum nicht so harmlos ist wie er aussieht.

Friedensbildung heißt im Wesentlichen: eine Erweiterung der Handlungsspielräume der Betroffenen. Eine Annahme ist, dass Gewalt dazu führt, dass – genährt durch Angst und Misstrauen – Verhaltensmechanismen gesellschaftlich eingraviert werden, die die Handlungsspielräume stark einschränken. Eine weitere Annahme ist, dass die Mechanismen unbewusst durchaus realisiert werden und eine Bewusstwerdung über diese Mechanismen zu einem anderen Handeln verhelfen kann. Dieser Prozess ist umso nachhaltiger, wenn positive Erfahrungen mit »anderem« Handeln und mit den sog. »Anderen« den neu eingeschlagenen Weg untermauern. Interaktive TheaterRäume bieten genau das: Außerhalb des Alltags, und doch mitten drin, laden sie erstens durch die Trennung zwischen Zuschauern und Akteuren zum Beobachten und Bewusstwerden ein. Zweitens konstituieren sie einen Erlebnis–Ort, der einen kulturellen Ausdruck, starke Emotionen, Sinngebungen und tiefe Erfahrungen erlaubt. Drittens aber, und hier unterscheiden sie sich von reinen Workshop-Prozessen, strecken sie sich durch ihre Darstellung aus in die Öffentlichkeit.

Im Folgenden möchte ich nun erstens erklären, was ich mit interaktivem Theater meine. Danach möchte ich zweitens auf den Prozess der Wissensgenerierung eingehen. Drittens stelle ich das Potential des interaktiven Theaters als Erfahrungsraum vor, und zu guter Letzt gehe ich auf den öffentlichen Raum des interaktiven Theaters ein. Zur Veranschaulichung möchte ich ein Beispiel aus dem Libanon heranziehen. Dort wurde vor drei Jahren von einer libanesischen Nichtregierungsorganisation mit Förderung der Berghof Stiftung interaktives Theater zur Friedenbildung eingesetzt: Mit einer Gruppe Jugendlicher aus den verschiedenen konfessionellen Segmenten der Gesellschaft wurde ein Theaterstück erarbeitet und in unterschiedlichen Regionen des Landes aufgeführt (Bteich/Reich 2009).

Der ästhetische Raum des interaktiven Theaters

Das interaktive Theater, auf das ich mich hier beziehe, ist das »Forumtheater«, eine der bekanntesten Methoden aus dem Arsenal des Theaters der Unterdrückten, entwickelt von Augusto Boal. Das Forumtheater zeichnet sich dadurch aus, dass erstens das Theaterstück im Rahmen eines Workshops aus Geschichten der Teilnehmer entwickelt wird und sich somit auf deren Lebenswirklichkeiten bezieht. Zweitens wird dieses Stück von Laien und nicht von professionellen Schauspielern dargestellt. Das Stück wird dann drittens bis zu seinem Höhepunkt gezeigt, woraufhin das Publikum – das Forum – aufgefordert wird, in die Darstellung zu intervenieren und die Szene zu einem anderen Ende zu bringen. Dieser Aufführungsprozess wird viertens von einer intermediären Figur, dem so genannten Joker, angeleitet.

Ziel des Theaters ist eine Bewusstwerdung von erlebten Unterdrückungsstrukturen und die Erarbeitung von neuen, anderen Handlungsmöglichkeiten, die auf der Bühne erprobt werden können (Boal 2002, 1990). Der Forumtheaterprozess, der auf der Wahrnehmung des eigenen Körpers und der eingenommenen Haltungen basiert und sich im sog. »ästhetischen Raum« vollzieht, ist mit einigen Modifikationen für friedensbildende soziale Veränderungsprozesse anwendbar (Bteich/Reich 2009). Ich spreche von einem Forumtheater»prozess«, da als Forumtheater nicht allein eine interaktive Performance bezeichnet wird, sondern dieser ein wohl strukturierter Gruppenprozess vorausgeht. Das Spezifische im Vergleich mit anderen friedensbildenden Prozessen ist die Arbeit mit dem ästhetischen Raum.

Kollektive Wissensgenerierung

Im Griechischen haben Theater und Theorie dieselben Wurzeln und beginnen beide mit dem Moment des Sehens/Beobachtens (griech. theatron; dt. sehen). Das Theater als Gebäude, seine Räumlichkeit, intensiviert den Prozess des Sehens, da es einen bestimmten Ort für die Zuschauenden und einen für die »Zugeschauten«, die Darstellenden ausweist. Boal macht aber deutlich, dass Theater nicht erst durch die Darstellung in einem Theatergebäude zustande kommt, sondern durch die Struktur. Ein ästhetischer Raum entsteht durch die Trennung der »Schauenden« und »Angeschauten«. Er entfaltet sich durch Aufteilung zwischen der Bühne und dem Auditorium. Es gibt eine Trennlinie, die einen Teil des Raumes von dem Rest abtrennt und diesen Rest dadurch als mit anderen sozialen Gesetzen strukturiert auszeichnet. Diese Trennlinie ermöglicht es, Verhülltes, Verdecktes und Unbewusstes sichtbar zu machen. Im klassischen Theater ist die Trennung durch eine deutliche Grenze (Bühne, Vorhang, bestuhlter Raum) und eine klare Rollenverteilung (Schauspieler vs. Zuschauer) markiert.

Bei Boal wird die Grenze von Auditorium und Bühne bewusst aufgeweicht, um den Übergang von der Rolle des Zuschauers zu der des Darstellers zu erleichtern. Dennoch existiert ein bestimmter Bereich, der betrachtet wird, und einer, von dem aus man betrachtet. Boal benutzt für den so strukturierten Raum den Begriff des »ästhetischen Raums«, da er damit auf das sinnlich Wahrzunehmende, nicht verbal Beschreibbare dieses Kommunikationsraums verweisen möchte. Dieser Raum intensiviert das Beobachten und Sehen. Das verlangt nach einer Präzision der Bilder (images), durch die gesprochen wird.

Die Bilder stellen eine eigene Sprache dar, die nicht in das gesprochene Wort übersetzt werden kann. Die Kommunikation zwischen den »Zu-schau-spielern« (Zuschauer, die dann schauspielern) über das, was gesehen, erlebt und sinnlich erfasst wurde, findet zwischenkörperlich statt. Die Darstellung des Publikums ist wichtig, da es Boal um die körperliche Interaktion und nicht nur um das gesprochene Wort geht. Die Zuschauspieler konstituieren in diesem Prozess die Figuren, die den Prozess der Bewusstwerdung und Wissensgenerierung durch ihre Erfahrung ermöglichen. Der Zuschauer tritt auf die Bühne und erscheint dort als Schauspieler in einer Situation, in der er handelt, agiert, improvisiert. Diese Improvisation erlaubt es, Möglichkeiten zu erfassen, die Auskunft über die gesellschaftliche Realität geben. Das Betrachten dieser Aktion erlaubt Erkenntnisse, die durch die anschließende Diskussion der Handlung auf der Bühne in einen kollektiven Wissensgenerierungsprozess münden.

Im Libanon wurden auf der Bühne Ereignisse dargestellt, in denen die konfessionelle Orientierung der Gesellschaft und der Protagonisten dazu führte, dass erwünschte zwischenmenschliche Beziehungen nicht eingegangen, fortgeführt oder ausgebaut wurden (Bteich/Reich 2009). Auch wenn bekannt ist, dass der Konfessionalismus das Phänomen ist, welches einer nachhaltigen Integration der Gesellschaft und damit auch einer stabilen Friedensbildung im Libanon im Wege steht, so war es den Teilnehmern des Workshops doch nicht bewusst, in welchem Ausmaß er ihr eigenes alltägliches Handeln bestimmte. Die Charaktere auf der Bühne so handeln zu sehen, wie sie selber handelten, gab ihnen das Bewusstsein über ihr eigenes Handeln.

Transformation durch Liminalität

Seit einiger Zeit wird der Bedeutung von Riten für friedensbildende Prozesse Beachtung geschenkt (Schirch 2005). Das Interessante hierbei ist die Schaffung von aus dem Alltag ausgesonderten Orten, in denen sich Transformationen ereignen. Dies geschieht nach Turner durch das Passieren eines so genannten »Schwellenzustandes« (Liminalität) (Turner 1989:95). Theaterarbeit lenkt den Blick auf Schwellenzustände, da Grenzüberschreitungen konstitutive Elemente des theatralen Gestaltens sind (Karl 2005:34, Schechner 1990; Turner 1989). Liminalität kann in ambivalenter Weise Möglichkeiten eröffnen, da sich die Person in einem aus ihrem Alltag heraus gelösten Zustand erlebt und in voller Präsenz verhüllte Facetten ihres eigenen Seins und Werdens erlebt.

Die Liminalität des ästhetischen Raumes entsteht durch die gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei wesensverschiedenen Welten: der Realität (dem Ort, in dem das Theater stattfindet) und dem Bild einer Realität (der dargestellte Ort, das Schloss, das Zugabteil, etc.). In der Intervention agiert der Zuschauspieler als eine Figur innerhalb der kreierten Realität des ästhetischen Raumes. Er erlebt sich in einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zu zwei vollkommen autonomen Sphären: er ist er selber und gleichzeitig die Figur. Er, der als Figur auf die Bühne tritt, stellt nicht seine Persönlichkeit dar, macht aber von dem Reichtum seiner gesamten sozial konstruierten Person Gebrauch. Trotz des Unterschiedes zwischen der Figur und der Person ermöglicht das Betrachten der Handlung der Figur, Unterdrückungssituationen der Person anders zu begreifen (Boal 1990:42). Das Forumtheater ist dabei keine Abbildung der Wirklichkeit oder ein Spiel im Als-Ob-Modus. Vielmehr ist die Realität der im Theater erzeugten Bilder genauso real in ihrem ästhetischen Raum wie gesellschaftliche Realität real ist. Diese Arbeitsweise geht davon aus, dass – obwohl oder gerade weil Bilder und Realität grundsätzlich anders sind – eine künstlerisch dargestellte Situation in Wesentlichem einer real erlebten Situation gleicht bzw. etwas Bestimmtes dieser Realität klarer darstellt.

Alle Zuschauspieler erleben beim Eintreten in den Bühnenbereich diese Liminalität in ihrer Improvisation. Es bleibt für sie jedoch ein einmaliges Ereignis: ein Abend, eine Intervention. Die Teilnehmer-Darsteller hingegen erleben diesen Zustand in intensivierter Weise. Im Workshop experimentieren sie, arbeiten mit Hilfe von Theatertechniken mit den verschiedenen Facetten ihres Selbst. In Körperarbeit versuchen sie, sich ihrer Haltungen bewusst zu werden, um andere annehmen zu können. Sie experimentieren mit ihrer Stimme, um eine andere erklingen zu lassen. Sie erlernen einen neuen Blick, um Anderes erkennen zu können. Sie ergründen verleugnete Facetten ihres Selbst unter dem Deckmantel, andere Rollen zu spielen. In diesem Prozess vermögen sie, Teile ihres fragmentierten Selbst wieder zu finden, die im Strudel von Gewalterfahrungen verloren gingen.

Gleichzeitig sind sie in einen Gruppenprozess eingebettet, kommen mit dem »Anderen« in Berührung. Auch wenn ein gängiger Forumtheaterprozess nicht der Bearbeitung von Konflikten innerhalb der Teilnehmergruppe dient, ist dies selbstredend unter Hinzunahme von Spielen/Techniken aus der Friedensarbeit möglich, so wie es die Libanesen taten (Bteich/Reich 2009). Zuerst war die Gruppe fremd, erschien durch die Anwesenheit der sog. Anderen, mit denen man zum Teil noch nie vorher Kontakt hatte, sogar bedrohlich. Nun wandelte sie sich zu einer Gruppe, die Sicherheit bot und dem Einzelnen den nötigen Rückhalt gab, um die Herausforderungen der Aufführungen zu meistern. Es wurde deutlich, wie in dem Prozess die konfessionellen Identitäten in den Hintergrund rückten und die Identität als »Schauspieler« an Bedeutung gewann: Das Interesse, eine gute Darstellung zu erarbeiten, verband sie. Die Aufregung und Spannung vor jeder Darbietung schuf ein Erlebnis, in dem sich die Teilnehmer als Akteure eines Bildes erlebten, welches zu einem gesellschaftlichen Wandel aufrief. Und wenn am Schluss der Aufführungen jeder in der Gruppe seinen echten Namen und somit seine Konfession preisgab, stellten sie sich als Teil einer gemischten Gruppe dar, in der sie sich zusammengehörig erlebten. Die Darstellung wurde zu einer Darstellung der Zukunftsvision, gleichsam eines Festes, in dem sie sich öffentlich als gemischte Gruppe präsentierten. Allerdings: So berührend diese Momente waren, so fragwürdig waren die Verwischungen der Grenzen zwischen Darsteller und Figur, zwischen Darstellung der Gesellschaft und der eigenen Persönlichkeit. Denn die Stärke des ästhetischen Raumes liegt genau darin, dass die Darsteller nicht sich selbst zeigen.

Das Politik-Machen des ästhetischen Raumes

Trotz der unklaren und vielschichtigen Verwendung sind Öffentlichkeit, öffentlicher Raum und privater Raum wichtige Konzepte, um politische Aktionen außerhalb der offiziellen Politik zu beschreiben, zu interpretieren und zu initiieren. Für die Konstitution einer demokratischen, integrierten Gesellschaft stellt die Existenz einer das Allgemeinwohl im Blick habenden Öffentlichkeit eine Notwendigkeit dar. Bezogen auf klientelistische Gesellschaften möchte ich hier auf eine Idee aus der Diskussion um den öffentlichen Raum eingehen, die erklären kann, warum der ästhetische Raum des interaktiven Theaters solch politische Brisanz hat.

Jean Bethke Elshtain konzeptioniert das Private als das Persönliche und verbindet das Öffentliche direkt mit dem Politischen (Elshtain 1995:169). Das Politische und das Persönliche konzeptioniert sie eng miteinander verwoben, aber strikt von einander getrennt, da eine Gleichsetzung dieser beiden Bereiche den Raum für an der Gemeinschaft interessiertes Handeln eliminiere. Elshtain fordert nicht nur zwei Bereiche, sondern sie erkennt in ihnen einen wesentlichen Unterschied: der politische Bereich ist repräsentierend und steht im Gegensatz zu dem persönlichen, dem identisch seienden Bereich. Damit schafft Elshtain nicht nur eine Trennung, sondern erwartet eine wesentlich andere Formation dieser beiden Bereiche. In einer Politik, die das Bewusstsein zu repräsentieren verloren hat, präsentiert die persönliche Identität das politische Programm. Dies ist in klientelistischen Gesellschaften häufig der Fall. In dem klientelistisch-konfessionell strukturierten System des Libanon existieren kaum öffentliche Räume, in denen das Dargestellte eine Repräsentation und nicht die Präsentation von etwas identisch Seiendem ist.1

Der ästhetische Raum umgeht die Diskussion über die Konstruktion und Oszillation des Ontischen und des Dargestellten ohne eine Essentialisierung beider Kategorien. Das gelingt ihm dadurch, dass er nicht nach unterscheidenden Kriterien fragt. Er schafft ein Faktum mit und durch seine Ausgestaltung, seine Bezeichnung und seine bezeichnende Kraft: Eine deutlich erkennbare Grenze markiert einen Bereich, in dem das Getane, Gesagte und Gehandelte eine Darstellung ist. Die Existenz der Grenze zwischen Bühne und Auditorium, die eine Unterscheidung zwischen Repräsentation und Sein herstellt, schafft einen öffentlichen Raum für die interaktive Diskussion im Sinne Elshtains.

Im Libanon stellten die Forumtheater-Aufführungen Geschichten dar, die von den Teilnehmern erlebt wurden, und zwar mit dem Anspruch, Alltägliches zu repräsentieren. Sie nutzten die Kraft des ästhetischen Raumes, das Seiende zu annullieren, um allgemein gesellschaftlich Relevantes zu repräsentieren. Auf den ersten Blick kreierten sie also ein Feld, durch das eine Repräsentation und damit eine Diskussion möglich wurde, in der das Seiende nicht direkt zur Disposition stand. Der ästhetische Raum bildete zwar eine Abgrenzung zwischen dem Seienden und dem Dargestellten, diese wurde aber in den Aufführungen durch die schwammige Grenze zwischen Person und Rolle ständig von einer Verwischung bedroht.

Normalerweise wurden die Räumlichkeiten, in denen die Aufführungen stattfanden, für Festlichkeiten aller Art genutzt. In ihnen gibt es einen hervorgehobenen Bereich, der von der Festgesellschaft betrachtet wird, und sich nicht prinzipiell von dem Bereich unterscheidet, in dem sich die Festgesellschaft aufhält. Er ist sichtbar, herausgestellt, aber nicht grundsätzlich anders, wie es die Bühne ist, wo mit dem Auftritt die Person zurückgelassen wird und an ihrer Stelle eine neue Rolle im Sichtfeld erscheint. Die Qualität dieser festlichen Räumlichkeit, die keinen ästhetischen Raum kreiert, war in allen Aufführungen präsent und unterstützte die Verwischung der Grenzen zwischen Seiend und Darstellend im elsthainschen Sinne.

Die Gewohnheit der Annahme des Präsentierten als etwas Ontisches im öffentlichen Raum schien so groß zu sein, dass sie selbst in einem ästhetischen Raum, der durch seine scharfe Grenzziehung entsteht, die Grenze unklar und verschwommen werden ließ und damit Gefahr lief, die Diskussionen unmöglich zu machen. Dies zeigt, dass der Versuch, einen solchen Raum aufzuspannen, in dem weder abstrakt noch ontisch gesellschaftliche Realitäten erörtert werden, Bewegungen in das Gesellschaftsgefüge bringt, die subtil und dennoch sehr substantiell sind. Und es erklärt auch, warum bereits die Etablierung eines interaktiven, ästhetischen Raumes politisches Handeln darstellt.

Zusammenfassung

Der ästhetische Raum des Forumtheaters, der auf eine Bewusstwerdung abzielt und sich durch einen wohl strukturierten Prozess konstituiert, erlaubt es, die Friedensbildung als Methode der Wissensgenerierung, als Transformationsraum und als einen Politik-Machenden öffentlichen Raum zu bereichern. Das Potential des ästhetischen Raumes zu sehen bedeutet auch, sich des destruktiven Potentials des interaktiven Theaters in Kriegssituationen bewusst zu sein und nicht jede Form des interaktiven Theaters als friedensbildend zu bezeichnen. Es bedarf ferner der weiteren Forschung in diesem Bereich und der Einbettung von friedensbildenden Theaterprojekten in eine in zyklischer Wiederholung langfristig ausgerichteten Struktur. Bleibt zu hoffen, dass die Kraft des ästhetischen Raumes erkannt wird und in professioneller Anwendung in die friedensbildenden Strukturen Eingang findet.

Literatur

Boal, A. (2000): The Rainbow of Desire. The Boal Method of Theatre and Therapy. London: Routledge.

Bteich, R., Reich, H. (2009): Enacting Places of Change. Interactive Theatre as an Instrument for Postwar Peacebuilding. http://www.sabisa.de/.

Elshtain, J.B. (1995): Women and War. Chicago: University of Chicago Press.

Karl, U. (2005): Zwischen/Räume und Grenzgänge. Einige Überlegungen zu Bildungsprozessen im Medium des Theaterspielens. In: Korrespondenzen, Zeitschrift für Theaterpädagogik 47 (21), S.33-41.

Schechner, R. (1990): Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Hamburg: Reinbek.

Schirch, L. (2005): Ritual and Symbol in Peacebuilding. Bloomfield: Kumarian Press.

Schutzman, M., Cohen-Cruz, J. (Hrsg.) (1994): A Boal Companion. Dialogues on Theatre and Cultural Politics. London/New York: Routledge.

Turner, V. (1989): Vom Ritual zum Theater: Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt: Campus.

Anmerkung

1) Die Medien fungieren in dieser Gesellschaft nicht als eine solche Öffentlichkeit, als ein Organ der Informations- und Meinungsverbreitung. Vielmehr konstituieren sie ein Emblem, ein Aushängeschild der Zugehörigkeit.

Hannah Reich (M.A. Islamic Societies and Cultures; Dipl. Kulturgeografin) arbeitet als assoziierte Wissenschaftlerin am Berghof Forschungszentrum in Berlin.

»David« würgen, »Goliath« hätscheln

»David« würgen, »Goliath« hätscheln

von Günter Knebel

„Mit der in der Bergpredigt Jesu überlieferten Seligpreisung der Friedensstifter, der » pacifici« (Mt 5,9), verbindet sich für alle Christen der Auftrag, nach Kräften den Frieden zu fördern und auszubreiten, gleichviel welche Rolle sie innehaben und an welchem Ort sie sich in Staat und Gesellschaft engagieren. Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt. 5,38) und vorrangig von der Option für die Gewaltfreiheit bestimmt.“ (RN 60, S.42) Dies sind Kernaussagen aus der im Herbst 2007 der Öffentlichkeit vorgestellten Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«. Wie ist es jedoch aktuell um die »vorrangige Option« für die Gewaltfreiheit in der kirchlichen Praxis bestellt? Was drückt sich hiervon in der »Finanzplanung« der EKD aus? Pointiert beantwortet werden diese Fragen in einem Vergleich der kirchlichen Seelsorge für Kriegsdienstverweigerer in Zivil- und Freiwilligendiensten einerseits und der Seelsorge für Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr anderseits.

Etwa 70.000 anerkannte Kriegsdienstverweigerer leisten im Jahresdurchschnitt Zivildienst oder einen freiwilligen Alternativdienst in sozialen Einrichtungen. Die Bandbreite der Beschäftigungsstellen reicht dabei vom Altenheim über die Behindertenwerkstatt, den Pflegedienst im Krankenhaus bis zur Mitarbeit im Natur- und Umweltschutz. Voraussetzung für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ist die persönliche Absage an den Waffendienst. Für die Erfüllung der Dienstpflicht genügt allein die Dienstableistung – je williger und billiger desto lieber aus Sicht des Staates und der Beschäftigungsstellen. Rd. 37% der Zivildienstleistenden (Zivis) ‚outen’ sich freiwillig gegenüber den staatlichen Erfassungsbehörden als »evangelisch«. Einen Rechtsanspruch auf kirchliche Begleitung haben Zivis in ihren jeweiligen Diensten zwar nicht, wohl aber die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis kirchliche Begleitangebote für sogenannte Rüstzeiten oder Werkwochen anzunehmen. In diesen themenbezogenen Seminaren und Workshops besteht Gelegenheit, Zivis aus anderen Einrichtungen zu treffen, mit ihnen über die eigene Befindlichkeit und über mit dem Dienst verbundene (Sinn- )Fragen gemeinsam nachzudenken. Die Information und Motivierung über gewaltfreie Wege zum Frieden gehören in der Regel dazu. Ansprechpartner für solche Begleitangebote sind landeskirchliche Beauftragte für Kriegsdienstverweigerer. Deren Zahl ist seit einiger Zeit nicht mehr mit der Zahl der Gliedkirchen in der EKD identisch, weil kirchliche Zuwendung für diese Zielgruppe in einigen Landeskirchenämtern als nicht mehr erforderlich angesehen wird. Nur noch vier evangelische Kirchen stellen dafür hauptamtliche Arbeitskraft zu Verfügung, während inzwischen 15 der 22 EKD-Gliedkirchen Arbeitskräfte nur noch nebenamtlich oder auf Honorarbasis hierfür beauftragt haben. Kirchliche Informationsarbeit, die im Sinne des eingangs zitierten »Vorrangs der Gewaltfreiheit« offensiv auf zivile Alternativen zum Militärdienst aufmerksam macht und die Gewissensentscheidung der in einem Alternativdienst befindlichen »Verweigerer« positiv verstärkt und aufgreift, findet explizit nur dort statt, wo persönlich engagierte »Beauftragte« Wert darauf legen und versuchen, aus ihrem (Teilzeit-) Auftrag diesbezüglich das Beste zu machen.

12 Euro pro Zivi im Jahr – 150 Euro für Soldaten.

Die Finanzmittel der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK), in der die landeskirchlichen Beauftragten zusammengeschlossen sind, sind im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung des EKD-Haushalts, der 2009 bei 180 Millionen Euro liegt, von rd. 600.000 Euro im Jahr 2005 auf 300.000 Euro im Jahr 2009 abgesenkt worden. Diese Arbeit ist der EKD künftig nur noch 0,16% ihres Haushalts wert. Konkreter ausgedrückt: Für jeden evangelischen Zivi wendete die EKD 2009 nur noch 12 Euro pro Jahr auf. Begründung lt. EKD-Haushaltsplan: „Angesichts des deutlich erleichterten Zugangs zum Zivildienst und seiner allgemeinen gesellschaftlichen Anerkennung hat sich der Beratungs- und Seelsorgebedarf für die von der EAK betreute Zielgruppe deutlich verändert.“ Verändert ja, aber viele Fragen der jungen Erwachsenen bleiben, deren Beantwortung Kirchen Chancen bieten!

Folge dieser Kürzung: Für die o.a. Zivi-Angebote, die im Jahr 2008 über 1.200 Teilnehmer hatten und wofür über 180.000 Euro verwendet werden konnten, schrumpften die Zuschussmittel ab 2009 auf rd. 100.000 Euro zusammen. Unvergleichlich dramatischer noch ist die Situation für die von der EAK herausgegebene Zeitschrift »zivil – für Frieden und Gewaltfreiheit«: Infolge der seit eh und je sehr bescheidenen Personalsituation in der landeskirchlichen Seelsorge für Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende, die zu keiner Zeit personell imstande war, die Zivis in ihren weit verstreuten Einrichtungen aufzusuchen, ist zum Ausgleich dieses Defizits eine »schriftliche Begleitung« etabliert worden: Mit stets positiver Resonanz bei den Betroffenen selbst, insbesondere in kleinen Einsatzstellen, und weit darüber hinaus bei allen, denen daran lag, Impulse für »Frieden und Gewaltfreiheit« in Kirche und Öffentlichkeit zu vermitteln.

Mit der kirchenpolitischen Entscheidung, den EAK-Haushalt um mehr als die Hälfte zu kürzen, war die EAK in jüngster Zeit vor die Situation gestellt worden, entweder über die Einstellung ihrer bundeszentralen Arbeit oder über den Verzicht auf die Herausgabe der Zeitschrift zu entscheiden: Herstellung und Versand der im Jahr 2008 rd. 125.000 Hefte kosten inklusive aller Personalkosten rd. 250.000 Euro pro Jahr – mit rd. 2 Euro pro Heft von 44 – 60 Seiten ein kaum unterbietbarer Gesamtpreis im Spektrum evangelischer Publizistik. Diese Form der Begleitung soll seit dem 5. Juni 2009 – nach dem Willen der Mehrheit des Rates der EKD – bald zu einem Ende geführt werden: Ein »Print-Medium« für Zivis und Freiwillige wird auf Dauer als zu kostenaufwendig angesehen; die Zukunft soll einer Internet-Präsenz gehören, die als moderner und billiger gilt. Obwohl die medienwissenschaftliche Erkenntnis gesichert ist, dass der Weg zur Internet-Präsenz vom Print-Medium aus geht. »Zivil« wird also endgültig als Periodikum eingestellt.

»David« und »Goliath«

Wenn das immer noch junge Engagement für Gewaltfreiheit als eine Art »David« zur Kapitulation gezwungen wird, mag es angebracht sein, einen Blick auf die Strukturen und die finanziellen Zuwendungen des sehr viel älteren »friedensethischen Komplements« zur kirchlichen Seelsorge für Kriegsdienstverweigerer zu werfen. Als eine Art »Goliath« überdauert die Militärseelsorge den Zeitenwandel unbeschadet.

Die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr geht in ihrer mittelfristigen Finanzplanung von derzeit rd. 52.000 – 54.000 ev. Soldatinnen und Soldaten aus, die als Zeit- und Berufssoldaten zu betreuen sind und deren Kirchensteuern sie erhält. Das Aufkommen an Soldatenkirchensteuer liegt derzeit bei 11,6 Mio. Euro, auch für die Zeit nach 2010 werden noch zweistellige Millionenbeträge ausgewiesen. Die Ausgaben für Zwecke der Bundeswehrseelsorge liegen derzeit bei 8,0 Mio. Euro, für die nächsten Jahre mit 7,7 Mio. Euro knapp unter diesem Betrag. Die Differenz zwischen »Aufkommen« und »Nutzung« der Soldatenkirchensteuer für die Evangelische Soldatenseelsorge in Höhe von mehreren Millionen Euro fließt zurück an die Landeskirchen. Kurz: Die Militärseelsorge »bringt« nach dieser Rechnung Geld, andere Seelsorge »kostet«. Wobei hier unstrittig ist, dass die Seelsorge zur Erfüllung ihrer Aufgaben die nötigen Mittel erhält, hier geht es lediglich um das Aufzeigen unterschiedlicher Ressourcen.

Zu den direkten Kirchensteuer-Einnahmen der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr kommen staatliche Zuschüsse. Lt. Bundeshaushaltsplan (Einzelplan 14, Kapitel 06) waren es 2008 28.213.000 Euro, der Betrag wird – soweit bekannt – zwischen der Evangelischen und der Katholischen Seelsorge in der Bundeswehr hälftig geteilt. 24.335.000 Euro sind hiervon Personalausgaben, d.h. wohl für die Finanzierung der Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Bundeswehr, nebst Pfarrhelfern, Fuhrpark u.a.m. Die beiden Kirchenämter für die Bundeswehr sind nachgeordnete Behörden des Bundesministeriums der Verteidigung, deren Stellenpläne tauchen daher in den kirchlichen Haushaltsplänen überhaupt nicht auf. Im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr sind – soweit bekannt – rd. 30 Mitarbeiter/innen beschäftigt. Zusätzlich weist die im Haushaltsplan der EKD ausgewiesene Amtsstelle des Militärbischofs und des Haushalts der evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr (HESB) – 18 Stellen für Mitarbeiter/innen aus, deren Personalkosten werden mit 1,4 Mio. Euro beziffert.

Vorrangige Option Seelsorge an Soldatinnen und Soldaten

Die Zahl der Stellen der Militärgeistlichen, die von den Landeskirchen entsandt werden, liegt derzeit noch über 100, wird sich aber auf 100 verringern (Planung 2011). Auffällig ist ein Blick auf die Liste der entsendenden Gliedkirchen, belegt er doch, dass die Bereitstellung von Seelsorger/ innen für Soldatinnen und Soldaten geradezu umgekehrt proportional zur Bereitstellung von Seelsorger/innen für Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende ist. Für die Rüstzeitenarbeit mit Soldatinnen und Soldaten stehen seit Jahren hinreichend und dauerhaft Mittel in Höhe von rd. 2,5 Millionen Euro zur Verfügung, mit denen rd. 20.000 TeilnehmerInnen/Jahr erreicht werden.

Allein für die Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr stehen pro Jahr rd. 800.000 Euro zur Verfügung, davon im Jahr 2008 für das Magazin JS für junge Soldaten 578.000,— Euro und 155.000 Euro für »Verteilbücher und -schriften«.

Von einer Diskussion, das monatlich erscheinende Magazin JS, das im Jahr 2008 mit einer Auflage von 240.000 Exemplaren kostenlos verteilt werden konnte, künftig nicht mehr als Print-Medium erscheinen zu lassen, sondern zugunsten einer Internet-Präsenz einzustellen, ist bisher nichts bekannt.

Kurz: Für die Seelsorge an ev. Soldatinnen und Soldaten werden pro Jahr und Kopf rd. 150 Euro aufgewendet. Zur Erinnerung: Für die Zivildienstseelsorge sind es 12,-Euro. Die Mittel für Rüstzeiten- und Öffentlichkeitsarbeit der Soldatenseelsorge werden – im Unterschied zur KDV-/ZDL-Seelsorge – nicht bestritten, sondern bereitgestellt.

Schon diese (wenigen) Angaben belegen, dass das gewählte, theologisch (zugegeben) fragwürdige Bild vom »kleinen David« und dem »großen Goliath« seine Berechtigung hat. Dass der (fast) unbewaffnete David mit Gottes Hilfe den hochgerüsteten Goliath überwindet, lehrt die Bibel. Das macht Mut und lässt hoffen; das Verhalten der EKD demgegenüber nicht. Eine Tendenz zum »Vorrang« der gewaltfreien Option ist beim Vergleich der Seelsorgen für Kriegsdienstverweigerer und Soldaten nicht erkennbar, die Entwicklung ist sogar gegenläufig. Damit wird dem Anspruch der EKD-Friedensdenkschrift(en) entgegengehandelt, was Glaubwürdigkeit beschädigt und Hoffnung zerstört. Wie lässt sich »Überwindung von Gewalt« organisieren, wenn der persönliche Gewaltverzicht der Kriegsdienstverweigerer als Zeichen der Friedensbereitschaft von der Kirche nicht positiv aufgenommen, sondern de facto ignoriert, ja seelsorgerlich »abgestraft« wird? In einer Zeit, in der die Gewöhnung an Gewalt, an die vermeintliche Normalität von Rüstung(sexport) und Militär als Infotainment banalisiert werden, wo vermehrt für »Karriere bei der Bundeswehr« geworben und die Informationsarbeit der Bundeswehr an Schulen mit kultusministeriellen Abkommen besiegelt wird, ein wahrlich verheerendes Signal der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kommt es »nur« einer friedensethischen Bankrotterklärung gleich? Oder steckt eine andere Vorstellung von Friedensethik dahinter, die den eigentlichen Vorrang weniger in der Gewaltfreiheit, sondern vielmehr in weltweiter Durchsetzung »rechtserhaltender Gewalt« sieht? Quo vadis EKD?

Günter Knebel ist Geschäftsführer der EAK und seit Januar 2009 einer der beiden Geschäftsführer der neu gebildeten Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD.

Die jungen Islamisten Pakistans

Die jungen Islamisten Pakistans

Die neue Friedensfähigkeit des Neo-Fundamentalismus

von Thomas K. Gugler

Die Zahl politischer Weltdeutungen differenziert sich auch im Spektrum der islamischen fundamentalistischen Akteure fortlaufend weiter aus. Dabei gewinnt eine Interpretation vorpolitischer islamischer Frömmigkeit an Bedeutung, die Gewaltakteuren möglicherweise das Wasser abgräbt.

Tiefgreifende Wandlungsprozesse durch die Beschleunigung des religiösen Wandels in der Moderne, die funktionale Ausdifferenzierung relativ autonomer Kultursphären, die Erosion traditioneller religiöser Selbstdeutungen und das Aufkommen globalitärer Perspektiven haben neue islamische Politikformen hervorgebracht. Die Entstehung transnationaler muslimischer UFO-Netzwerke (Unidentifizierte Fundamentalistische Objekte) als Träger und Vorantreiber politischer islamischer Ideologien mit militanten oder frömmigkeitspolitischen Agenden ist im Kontext des Demokratisierungsdrucks islamischer politischer Parteien, der Wandlungsprozesse traditioneller religiöser Vereinigungen und der gesteigerten Präsenz globaler islamischer Medienpersönlichkeiten zu verstehen. Dabei beanspruchen Letzere im Zuge der zunehmenden Nutzung neuer Informations- und Kommunikationsmedien im Namen des Islams zu sprechen. Moderne Prediger produzieren mehr Videos und DVDs als Bücher, die islamische Autoritätsstrukturen auch durch die allgegenwärtige Abrufbarkeit von Empfehlungen zur Rechtleitung radikal verändern. Die Pluralisierung auf der Anbieterseite islamischer Interpretationen beschleunigt die Individualisierung religiösen Partizipationsverhaltens auf der Konsumentenseite. Die Richtung des religiösen Wandels geht hin zu Enttraditionalisierung, Stärkung der Partizipationsrechte der Laien und erfahrungsorientierter Modernisierung. Totalisierende Projekte klassischer Islamisten konkurrieren mit muslimischen politischen Agenden unter und über der nationalstaatlichen Ebene und dies führte zur Entwicklung post-islamistischer Strategien islamisch-politischer Mobilisierung.

Ein Verständnis des Wesens des Post-Islamismus ist zentral für die Frage der Zukunft islamischer Politik und der Bestimmung der auf sie bezogenen Forschungsmethoden und -perspektiven. Islamistische Politik hat sich verändert. Wissenspolitik (»Wer spricht für einen authentischen Islam?«) unterliegt radikalen Reformprozessen und der islamische Identitätsbegriff wird in unterschiedlichen Kontexten neu ausgehandelt. Manche Beobachter kontrastieren klassischen Islamismus als »Islam der Angst« (Baker 2006) oder »Nein-Sager Islam« (Fuller 2003) und dessen dogmatische Verboten-oder-Erlaubt-Diskurse mit dem neuen Islamismus des politischen Pragmatismus, der persönlichen Weiterentwicklung und der sozialen Gerechtigkeit. Autoreformdiskurse kennzeichnen die jungen Islamisten.

Die Spannungen zwischen alten und den neuen, jungen Islamisten sind zahlreich. Die Schariaisierung der Gesamtgesellschaft ist von dem was ich im Folgenden Sunnaisierung nenne, klar abgrenzbar. Die Privatisierungs- und Individualisierungsprozesse des Neofundamentalismus verschieben auch den Ort der Moralität. Die neuen Islamisten sind scheinbar protestantisch anti-korrupt, engagiert für ökonomische Gerechtigkeit sowie zur Erreichung persönlicher Zufriedenheit und Gutgestelltheit.

Olivier Roy beschreibt in »Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung« die Transnationalisierungs- und Deterritorialisierungsprozesse gegenwärtiger Islampolitiken auch aus dem Scheitern nationaler Projekte heraus. Radikalismus und Neofundamentalismus können nach Roy als Antworten der Globalisierungen und der mit ihnen verbundenen Säkularisierungs-, Dekulturations- und Entwurzelungsprozesse interpretiert werden: Hochfromme religiöse Eiferer erobern den säkularen Raum und Muslime der Diaspora prägen ihre Herkunftskulturen in religiösen Substanzsprachen neu, in denen die Glaubensgemeinschaft global gedacht und nicht mit einer tatsächlich existierenden Gesellschaft übereinstimmt. Die religiöse Erneuerung der Neofundamentalismen ist weniger politisch ausgerichtet – die gegenwärtige Reislamisierungswelle der Kleidung, Rede und des persönlichen Verhaltens versucht die Religion in einer säkularisierten Gesellschaft autonom zu verankern. Es ist ein häufiges Missverständnis und ein großer Fehler anzunehmen, dass eine Verwestlichung des Islams zwangsläufig Liberalisierung bedeute. Die jüngere Geschichte des Judentums oder des Christentums bieten exzellente Beispiele: Modernisierungsprozesse führen nicht automatisch zu liberaleren Positionierungen und liberale Denker befriedigen maximal unzureichend die Nachfrage auf den religiösen Märkten.

Roys Beobachtungen zum Scheitern nationaler islamistischer Projekte sind für den Sonderfall der Zia-Ära in Pakistan und das Scheitern der Barelwi-JUP-Islamisierungbemühungen relevant. Aus diesem Scheitern entsteht eine neue Reislamisierungswelle, die durch Privatisierung und Individualisierung islamistischer Projekte gekennzeichnet ist. Die jungen Islamisten neofundamentalistischer Missionsbewegungen zur Islamisierung individueller Lebensführung sind Zeichen und Produkte der voranschreitenden Verwestlichung islamischer Gesellschaften und die gegenwärtige Wiederkehr der Religion eine Reaktion auf die wenig erfolgreiche Überpolitisierung der »alten« Islamisten.

Sozialformen junger Islamisten erinnern häufig an das Neureligiöse: Laisierte, antiintellektuelle Grundsignatur, emotionale Religiosität, Selbstverwirklichungssuche und expressiver Individualismus bei gleichzeitiger Kommunitarisierung, wobei das Kollektiv durch eine Überbetonung des »Ich« geprägt bleibt: Auch al-Qaida ist keine soziale Gruppe, sondern eine Ansammlung von Individuen mit Isolations-, Bruch- und Selbstsucherfahrungen.

Deterritorialisierung begünstigt Laisierung. Die zunehmende Verknüpfung verschiedener lokaler Institutionen, führt zu mehr Heterarchie, d.h. Polyzentrie erhöht die Brüchigkeit klassischer Hierarchie- und Verantwortungsstrukturen. Massenmedien, die Reinterpretation von Islam als »publicly embodied experience«, die Wandlungsprozesse traditioneller religiöser Wissensproduktion, zunehmende strukturelle Interdependenz, erhöhte Mobilität von Personen und die Verfügbarmachung traditioneller Wissenskulturbestände durch neue Informationstechnologien in Echtzeit verändern den Autoritätsbegriff im Islam vergleichbar wie in anderen Religionen. Die neuen Religionsgelehrten unterstützen oft autodidaktische Wissensaneignungsprozesse. Die zunehmende Inanspruchnahme von »Großmufti Google« auch als Upload-Plattform reduziert klassische Grenzen der Wissensproduktion, erhöht Laienpartizipation und minimalisiert dramatisch ehemalige staatliche Patronage- und Kontrollpotentiale. Klassische Rechtsspruchsammlungen werden nun digitalisiert und sind mit Suchfunktion für mehr Interessierte leichter nutz- und revalorisierbar. Zusätzlich gibt es mittlerweile zahlreiche interaktive Rechtsspruchfunktionen per email, sms oder Telefonanruf. Dies steigert authentizitätspolitische Reifizierungsprozesse.

Das islamische Projekt der Sunnaisierung, d.h. das Neuausgestalten und die Rekonstruktion der täglichen Routine sowie der Markierungen individueller Identität nach dem Vorbild des Propheten und der Altvorderen nach der Hadith-Literatur. Diese sogenannte apolitische Sunnaisierung wird hier als Privatisierung und Individualisierung der politischen Re-Islamisierung verstanden. Diese fokussiert die Privatsphäre anstelle des Staates und argumentiert vermehrt mit Hadith als dem Koran. Mit neuer Ambiguitätstoleranz verbindet Sunnaisierung Elemente von Sufismus und Salafismus.

Post-Islamismus in Pakistan

Im September 1981 haben führende Barelwi-Gelehrte wie Arshad al-Qadiri (1925-2002), Muhammad Wiqar ad-Din Qadiri (1915-92), Shah Turab al-Haq Qadiri (-1995) und JUP-Mitglieder im Haus Shah Ahmad Nuranis (1926-2003) in Karachi die Gründung der apolitischen transnationalen »Barelwi Tablighi Jamaat Dawat-e Islami« beschlossen, auch um das Scheitern der nationalen politischen Reislamisierungsbemühungen zu kompensieren, die den Weg für den Militärputsch 1979 bereitet hatten und die JUP in eine tiefe Krise stürzten. In dieser Runde wurde Muhammad Ilyas Qadiri als Amir der Bewegung vorgeschlagen, u.a. wohl weil sein Name an den Namen des Tablighi-Gründers Muhammad Ilyas erinnert, aber auch weil er Memon ist und als Präsident einer Studentenbewegung der JUP bereits unter Beweis stellte, dass er insbesondere die jüngere Generation mobilisieren kann. Die »Dawat-e Islami« sollte unter Ilyas Qadiri (geb. 1950) den Nizam-e Mustafa-Plan [Rechtsordnung des Propheten] an politischen Institutionen vorbei erfolgreich weiterentwickeln und so zur Lösung der JUP-Führungskrise beitragen.

Man kann die »Dawat-e Islami« in ihrer apolitischen Attitüde folglich als „Machtschattengewächs“ (Ottfried Fischer) bezeichnen, das den unheiligen Hainen der politischen Religionen entwachsen ist, ja sogar direkt auf Parteieinfluss zurückgeht. Folglich lohnt hier eine kurze Betrachtung der Person des Shah Ahmad Nurani. Malik (1990) legt eine hochinteressante Studie zu den charismatischen Aspekten seiner religiösen und politischen Legitimitätsansprüche vor. Obgleich Shah Ahmad Nurani von 1953 bis 1964 Generalsekretär der »World Muslim Ulama Organization« war, wurde er in Pakistan praktisch erst 1970 bekannt, mit seiner Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der den Barelwis nahestehenden politischen Partei JUP. Sein heroisches Projekt ist die Etablierung des »Nizam-e Mustafa«, d.h. das System des Propheten Muhammad als verbindliche Rechtsordnung Pakistans einzusetzen um eine gerechte und gottgewollte Gesellschaftsordnung zu schaffen.

1977 führte er gegen den Premierminister Zulfiqar Ali Bhutto (Staatspräsident 1971-1973, Premierminister 1973-1977) den Slogan »Nizam-e Mustafa« ein, der als Kampfansage die „islamischen Parteien“ gegen die „unislamische“ PPP (Pakistan People´s Party) verband. Die Opposition gründete mit einem Zusammenschluss aus neun Parteien die »Pakistan National Alliance« (PNA) als Gegenkraft zu Bhutto´s PPP. Als die PPP dennoch einen Wahlsieg feierte, organisierte die PNA, die Wahlbetrug witterte, Großdemonstrationen und bat das Militär zu intervenieren. Dies war die ideale Vorlage für den Putsch des Militärdiktators Zia al-Haq am 05.07.1977, der Zulfiqar Ali Bhutto (1928-1979) und die PPP den Regierungsverantwortungen enthob. Oppositionelle wurden ermordet, Nurani selbst zwischenzeitlich inhaftiert. Obgleich Nuranis Idee der Umsetzung des »Nizam-e Mustafa« scheiterte, bediente sich der General Zia al-Haq (1924-1988, Militärdiktator 1977-1988) dieses Slogans, um seine Islamisierungspolitik zu oktroyieren. Zia erlaubte der als apolitisch geltenden »Tablighi Jamaat« innerhalb des Militärapparates frei zu operieren und er war der erste Politiker, nicht nur der erste Armeechef, der den jährlichen »ijtima« der »Tablighi Jamaat« in Raiwind besuchte.

Nurani wurde damit zum tragischen Helden, dessen Gegenspieler von seinem heroischen Projekt profitierten. Nach diesem Scheitern des »politischen« Versuchs der Etablierung des fundamentalistischen Programms der Barelwis, versuchte er nun an der Politik vorbei, quasi apolitisch, dieses nunmehr neofundamentalistische Programm der Islamisierung der Gesellschaftsordnung nicht mehr »von oben herab« sondern »von unten herauf« umzusetzen. Das Mittel hierfür sollte die »Dawat-e Islami« werden. Die teilweise massive Diskriminierung der Barelwis unter der Militärherrschaft Zias führte zu einer neuen Mobilisierungsstrategie der Barelwis nach einem Muster, das zahlreiche Parallelen hat.

»Dawat-e Islamis« Missionsarbeit verbreitete sich durch eine radikale Betonung auf universeller Barelwi-Bruderschaft quasi im Schneeballsystem rasch in Karachi und im Sindh. Sie vermarkten sie bis heute als Akteure praktizierter Prophetenliebe und Errichter einer idealen islamischen Gesellschaft innerhalb ihrer Neobruderschaft. Das Versammlungsprogramm besteht aus i) Koranrezitation, ii) Prophetenlob, iii) moralische Erbauungsrede eines Laienpredigers, und iv) bayan zu einer Sunna, d.h. ein Alltagsproblem neu zu deuten. Laienpredigergruppen reisen in die verschiedenen Stadtteile, um an den Moscheen grundsätzliche islamische Glaubenslehren zu erklären. Mit dieser hocheffektiven Methode des »empowering« von Laienpredigern, die sich den Islam im Wesentlichen durch das Weiterverbreiten aneignen und einfache und ehrliche Gefühle der universellen Bruderschaft beschwören, verbreitete sich die Bewegung zügig im ganzen Sindh und dann über Lahore auch im Punjab. Im Oktober 1988 wurde als Handbuch für die Laienpredigten der »Faizan-e Sunnat« (Segnungen der Sunna) veröffentlicht. Dieses Hauptwerk Ilyas Qadiris erleichterte die Homogenisierung der Laienpredigeraktivitäten in den diversen Subzentren, da es als Lehrredenhandbuch die Unterweisungen der Laienprediger vorgibt und auch die Kultivierung eines hohen Urdu-Sprachniveaus fördert, das im ruralen Kontext nicht zwangsläufig als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.

1991 öffnete das Weltzentrum der »Dawat-e Islami« in Karachi. Als wahre Megamoschee dient der »Faizan-e Madina« in Karachi zum wöchentlichen »ijtima« etwa 40.000 Muslimen als Gebetsstätte, Ausbildungszentrum und Vermittlerstelle für freiwillige Dienste zur Verbreitung der Reislamisierung in Pakistan und in den Diasporagesellschaften. Studien zu Megakirchen belegen die naheliegende Vermutung, dass solch große Einrichtungen insbesondere »neue«, jüngere und unverheiratete männliche Gläubige anziehen, die häufig von Bekannten eingeladen werden, da große Kultstätten mit weniger Vorbehalten und Hemmschwellen assoziiert werden und ein breiteres Spektrum an Partizipationsmöglichkeiten anbieten. Die Idee, nach dem Vorbild der »Tablighi Jamaat« eine effektive Mobilisierungsbewegung für die Barelwi-Jugend zu gestalten, überwindet traditionelle Milieugrenzen, man könnte zugespitzt gar von Ritenklau sprechen.

Spiritualität, Radikalisierung und militante Mobilisierung in Südasien

Die neofundamentalistischen Missionsbewegungen »Tablighi Jamaat« und »Dawat-e Islami« betonen die buchstäbliche Nachahmung des Verhaltens des Propheten in allen Aspekten des Alltagslebens. Für dieses »islamische Projekt« möchte ich den Begriff »Sunnaisierung« vorschlagen. Sunnaisierung ist eine personalisierte Form der Islamisierung, die den privaten anstatt den politischen Raum fokussiert, und deren Akteure mehr mit Hadithen argumentieren als dem Koran. Obwohl diese Bewegungen extrem radikale Verurteilungssemantiken zur Kritik gegenwärtiger Gesellschaften und Individuen anwenden, stehen ihre überwiegend gewaltlos vorgehenden Akteure für eine friedliche Wiederverkündung islamischer Botschaften.

Durch Gruppendruck implementieren sie einen strikten Kleidungsstil unter ihren Anhängern, die sich in extrem mobilen Kleingruppen hochfrommer Laienprediger organisieren (»jamaat«, »madani qafila«). Sie laden zu wöchentlichen und jährlichen Veranstaltungen (»ijtimas«) ein. Struktur, Organisation und Vorgehen der Missionsbewegungen ähneln sich stark. Der wirklich neue Aspekt dieser neureligiösen Phänomene ist ihre zunehmende Visibilität und Politisierung ihrer Präsenz.

Die auch von Konvertiten, wiedererweckten Muslimen und Proselytenmachern vorangetriebene Politisierung oder „Islamisierung des Islams“ (al-Azmeh 1993: 7) und der Debatten über den Islam erzeugt einen spezifischen Druck insbesondere auf konservative Muslime, die zu »50:50-Muslimen« oder »not-good-enough«-Muslimen degradiert werden.

Den Pluralisierungstendenzen der neuen Entdeckung der Vielfalt steht komplementär die Tendenz entgegen, dass Religionen insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten vermehrt Politisierungsprozessen unterworfen sind. Nach Assmann (2003) neigen dabei insbesondere monotheistische Religionen zu einer Bekenntnispolitik, die durch eine scharfe Trennung von Wahrheit und Lüge in der Praxis häufig Intoleranz fördert. Sowohl »Tablighi Jamaat« als »Dawat-e Islami« konzipieren »dawa« mit einer Rhetorik des »jihad« eines universalen Kampfs der wenigen wahren Gläubigen gegen Glaubensverfall und Unglauben.

Einige der Attentäter der Anschläge von 11. März 2004 in Madrid bzw. vom 7. Juli 2005 in London oder prominente Terroristen wie der »Amerikanische Taliban« John Walker Lindh oder Richard Reid bzw. Jose Padilla waren nach Medienberichten in Tablighi Aktivitäten involviert. Die Brüder Kafil und Sabil Ahmad, die im Juli 2007 den Anschlag auf den Flughafen in Glasgow ausführten, waren regelmäßige Besucher des Tablighi »markaz« in Bengaluru. In Indien war der Tablighi Gelehrte Sufyan Patangia angeklagt, eine Terrorzelle anzuführen, die angeblich Gujerats Innenminister Haren Pandya ermordete. Zwei der Tatverdächtigen des Anschlages auf den Sabarmati Express, einen Zug, der im Februar 2002 Hindu Pilger von Ayodhya transportierte, bei dem 58 Menschen getötet wurden, hatten Verbindungen zu Tablighi Institutionen. Einige Beobachter unterstellen, dass diese missionarischen Bewegungen junge Muslime radikalisieren, die dann nach einer Weile nach Pakistan auf Missionsreise geschickt werden, wo sie vermutlich mit anderen militanteren Akteuren in Kontakt treten, insbesondere der Deobandi-Bewegungen »Harakat al-Mujahidin«.

Ob die Missionsbewegungen eine aktive politische Rolle einnehmen oder von militanten Mitgliedern als Mobilisierungsplattform ausgenutzt werden, bleibt zu diskutieren. Fakt ist, dass all diese Bewegungen »jihad« als Krieg und Pflicht lehren und dies in der Tat einen Rahmen schafft, wo es auf einen dritten Akteur ankommt, der erklärt, dass dies jetzt unter diesen Umständen der besagte Moment der Geschichte ist, an dem eine Pflicht erfüllt werden muss. Zahlreiche islamistische Gruppen kritisieren die Frömmigkeitsbewegungen jedoch stark für ihre apolitischen Einstellungen, die Muslime angeblich einschläfern und von der Islamisierung der Gesamtgesellschaft wegführten. Kafil und Sabil Ahmed beispielsweise oder die beiden führenden Mitglieder der Terrorzelle, die die Anschläge in London am 7. Juli ausführten, Mohamed Siddique Khan und Shezhad Tanwir, hatten sich zuvor von Tablighi-Moscheen in Bengaluru bzw. Beeston wegen deren zu engen – rein missionarischen – Anstrengungen und apolitischen Einstellungen distanziert bzw. bekamen Hausverbot.

Mittlerweile scheint es, dass postislamistische konservative Neofundamentalismen, die die Gesellschaft durch die Entfaltung missionarischer Tätigkeit von unten nach oben islamisieren wollen, den »Salafi Jihadismus«, der die Gesellschaft durch Erreichung staatlicher Kontrolle islamisieren wollte, größtenteils ersetzt hat. Diese augenscheinlich von unten vorangetriebene »Islamisierung von innen« durch langfristige kulturelle Islamisierung und Säkularisierung klassisch-islamischer Konzepte muss scharf abgegrenzt werden von gewalttätigen »Religionskriegen und -konflikten«, die üblicherweise von oben herab organisiert werden.

Die unterschiedlichen Akteure traditioneller und moderner islamischer Fundamentalismen argumentieren in unterscheidbaren Rationalitäten. Man erkennt eine Verschiebung vom bigotten Bekenntnispathos hin zu praktizierter erfahrbarer Frömmigkeit. Deshalb reorientieren sich die Laienprediger an einer virtuellen translokalen Medinagesellschaft, gleichsam eines »dar as-sunna« (Haus der Sunna) anstatt eines Nationalstaates. Beide Bewegungen beeinflussen in hohen Maßen, wie Islam in ihrem Umfeld praktiziert wird. Dies mag in der Öffentlichkeit den Eindruck wecken, diese Bewegungen seien mit radikalen Gruppen assoziiert, aber die innere Logik dieser islamischen Revitalisierungsbewegungen ist Rekrutierungsprozessen jihadistischer Organisationen nur begrenzt nützlich. In der Tat könnte die Unterstützung der radikalen Missionare eines apolitischen friedlichen Islam zentral sein um der Botschaft terroristischer Gewalt innerislamisch entgegenzutreten. Neofundamentalistische Mobilisierung hilft bei der Neutralisierung terroristischer Netzwerke, denn hochfromme Kleingruppen der Neobruderschaften fischen in den gleichen Wässern wie militante Akteure. Mit vergleichbaren Mobilisierungsstrategien üben sie ihre Attraktionskraft auf dieselbe Gruppen hochengagierter, manchmal sozial alienierter junger männlicher Muslime aus, deren Mangel an gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten mit Abenteuerliebe und einem ansteckend brennenden Verlagen nach Weltverbesserung gepaart ist. Die Laienprediger verbreiten eine in ähnlicher Weise dichotome Weltsicht, aber friedlich und auf die Privatsphäre bezogen. Sie sind mittlerweile zentraler Teil der neuen transnationalen Islamisierungsbewegung geworden und ziehen dabei auch Opportunisten an, die sich ihnen als cover anschließen um Verfolgungen von Sicherheitsbehörden zu entgehen. Obgleich die Frömmigkeitsbewegungen lange Zeit einer Politik des Nichtfragens nach der persönlichen Vergangenheit folgten – da jeder bereuen, revertieren und umkehren kann – haben ihre hochprofessionellen und effektiven bürokratischen Organisationsstrukturen in den Jahren nach 2002 wirkungsvolle Maßnahmen geschaffen um die lebensgeschichtliche Identität ihrer Vertreter zu überprüfen und Infiltrierung militanter Elemente zu begrenzen.

Literatur

Al-Azmeh, Aziz (1993): Die Islamisierung des Islam: Imaginäre Welten einer politischen Theologie. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.

Assmann, Jan (2003): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München: Carl Hanser.

Baker, Raymond William (2006): Islam Without Fear: Egypt and the New Islamists. Cambridge: Harvard University Press.

Beck, Ulrich (2008): Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen.

Donohue, John J. und John L. Esposito (Hrsg.) (2007): Islam in Transition. Muslim Perspectives. New York: Oxford University Press.

Fuller, Graham E. (2003): The Future of Political Islam. New York: Palgrave.

Gugler, Thomas K. (2010): The New Religiosity of Tablîghî Jamâ´at and Da´wat-e Islâmî and the Transformation of Islam in Europe. Anthropos 105 (1), S.121-136.

Gugler, Thomas K. (2009): Mujahedin islamischer Mission. Südasien 29 (4), S.66-69.

Jalal, Ayesha (2008): Partisans of Allah: Jihad in South Asia. Cambridge: Harvard University Press.

Malik, Jamal (2008): Islam in South Asia. A Short History. Leiden: Brill.

Malik, Jamal (1990): The Luminous Nurani. Charisma and political mobilization among the Barelwis in Pakistan. Social Analysis. Journal of Cultural and Social Practice. Special Issue. Hg. v. Pnina Werbner: Person, Myth and Society in South Asian Islam, S.38-50.

Mandaville, Peter (2007): Global Political Islam. New York: Routledge.

Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen: Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.

Sageman, Marc (2008): Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-First Century. Philadelphia: University of Pennsylvania Press.

Thomas K. Gugler war langjährig Mitarbeiter am »Zentrum Moderner Orient« mit dem Schwerpunkt Südasien; er forscht zudem zur Situation von Muslimen in Europa und in ihren Herkunftsgesellschaften.

Europa – Haus der Kulturen?

Europa – Haus der Kulturen?

von Werner Ruf

Die Haus-Metaphorik ist schon des Öfteren bemüht worden, suggeriert sie doch friedliches und gutnachbarliches Zusammenleben unterschiedlicher Parteien. Welche Euphorie umgab diesen Begriff vor zwanzig Jahren zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Charta von Paris! Doch dann wollte die Mehrheit der am Projekt Beteiligten einen der wichtigsten Bewohner, Michael Gorbatschow und seine russische Familie, nicht haben. Das Haus wurde nie gebaut; stattdessen schob die NATO ihre Festungsanlagen weit gegen die Verschmähten vor. Nun geht es wieder um das Haus Europa, in dem sich schon viele Bewohner aus – fast – aller Herren Länder niedergelassen haben. Davon tragen manche Frauen Kopftücher, kochen mit viel Knoblauch und wollen in der Nachbarschaft noch ach so fremde Gebetshäuser bauen, gar mit eleganten, schlanken Türmen. Statt an einer gemeinsamen Hausordnung zu arbeiten, die die Regeln und Pflichten aller Partien im Hause einvernehmlich und respektvoll regelt, gibt es plötzlich Bedrohungsgefühle.

Nun herrschte in einem großen Teil Europas vor nicht allzu langer Zeit ein tausendjähriges Reich, das ganze zwölf Jahre zu lange dauerte, die nördliche Hälfte des Planeten in den bis dahin fürchterlichsten aller Kriege stürzte und einen Teil seiner Bewohner in einem industriellen Massenmord bestialisch vernichtete. Einige »Wissenschaftler« hatten behauptet, dass die Menschheit in Rassen aufgeteilt sei und dass die gute Rasse, um zu überleben, die minderwertige Rasse vernichten müsse, weil sonst ihr gutes Erbgut infiziert würde. Dieser Irrlehre schwört man heute öffentlich tüchtig ab. Reste dieser menschenverachtenden Einstellung scheinen aber überlebt zu haben und scheinen in anderen Gewändern wieder aufzustehen: Da sind plötzlich neue Fremde, die uns bedrohen, diesmal nicht ob ihrer Rasse, sondern ob ihrer »Kultur«, unsere Identität scheint in Gefahr.1

Abendländische Wurzeln

Die Herstellung von Identität bedarf der Abgrenzung des »Wir« von »den Anderen«. Fremdheit speist sich aus der Entgegensetzung zum Eigenen, wobei dem Selbst ganz selbstverständlich positive Attribute zugewiesen werden, dem Fremden dagegen negative.2 So benötigt das »Wir« die »Anderen« als Projektionsfläche für die eigene Identitätsstiftung. Und in diesem wechselseitigen Prozess sagt meist die Ausmalung des »Anderen«, des »Fremden« mehr über die Befindlichkeit des »Wir« aus als über diesen »Anderen«, von dem es sich abzugrenzen versucht. Dabei werden »die Anderen« als fest zusammen geschmiedetes Kollektiv wahrgenommen, ihre »Kultur« (der Begriff der »Rasse« ist ja unbrauchbar geworden) determiniert ihre kollektiven Eigenschaften, Denkweisen, ihr Handeln. So werden sie dann auch berechenbar – anders ausgedrückt: »Wir« wissen, was »sie« wollen. Und damit »wir« in Furcht fest zusammen stehen, müssen »wir« auch wissen, wie bedrohlich »sie« sind. In einem der erfolgreichsten deutschen Internet-Blogs »Politically Incorrect«, der sich explizit gegen das „Götzenbild des Multikulturalismus“ richtet,3 klingt das so: „Die Islamisierung Europas ist in vollem Gang. Die Mehrheit der Europäer steht dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Weder sind sie über das wahre Wesen des Islams informiert, noch über die Hintergründe islamischer Politik auf europäischem Boden. Die Muslime sind nicht gekommen, um sich in die europäischen Gesellschaften zu integrieren. Ihr Ziel ist die Umgestaltung Europas in ein islamisches Herrschaftsgebiet, wo künftig nur noch die Scharia herrschen soll: das Gesetz des Islam.“ 4 „Weltherrschaft ist das Hauptziel des Islam“ heißt es weiter auf dieser Internet-Seite, die eine geradezu komplette Link-Liste zu rechten und rassistischen Organisationen enthält, die von der Bürgerbewegung »Pax Europa« bis »Support Geert Wilders« reichen. Diese Schlachtrufe erinnern überdeutlich an die »kommunistische Weltbedrohung«, die uns allerdings abhanden kam, als die Perspektive für den Bau jenes zuvor genannten Gemeinsamen Hauses am politischen Horizont auftauchte: Das »Wir« hatte die für seinen Zusammenhalt notwendige Bedrohung durch »den Anderen« verloren. Auch hier schuf die Wissenschaft Abhilfe: Samuel Huntington befand, bar jeder Empirie: „… über die Jahrhunderte hinweg haben die Konflikte zwischen den Kulturen die längsten und gewalttätigsten Konflikte erzeugt.“ 5

Und der Islam wurde als die gefährlichste Kultur identifiziert, denn „Islam has bloody borders“. 1996 legte er nach, indem er die westliche Kultur als einzigartig bezeichnete, weil nur sie das Erbe der griechischen Philosophie rezipiert habe,6 weil sie geprägt sei vom Christentum, weil die europäische Sprachenvielfalt ein Unikat darstelle, weil es nur dem Westen gelungen sei, geistliche und weltliche Autorität zu trennen, weil nur im Westen Rechtsstaatlichkeit herrsche, weil es nur dort sozialen Pluralismus und Zivilgesellschaft, repräsentativ gewählte Körperschaften und Individualismus gäbe.7 Und vehement wandte er sich gegen jeden Universalismus oder gar Multikulturalismus, da die westliche Kultur gerade nicht universell, sondern einzigartig sei.

Diese Argumentation ist schlicht rassistisch – nur dass sie die Rassenlehre hinter dem Begriff »Kultur« verbirgt. Huntingtons Aussagen über die Kulturen erinnern fatal an die Feststellung Ernest Renans, des Ahnvaters des Orientalismus, in seiner Vorlesung über die semitischen Völker (1883), wonach die Orientalen/Semiten unfähig zu wissenschaftlichen Leistungen seien, wegen „(…) der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm die immer gleiche Tautologie ‚Gott ist Gott’ entgegenzuhalten“.8

Das antisemitisch/antijüdische Klischee war auch schon konstitutiv für die Entstehung des deutschen Nationalismus. Von Ernst-Moritz Arndt stammt der schöne Satz, in dem man nur das Wort »Juden« durch »Muslime« ersetzen muss, um 200 Jahre später denselben Diskurs zu finden: „Man sollte die Einfuhr der Juden aus der Fremde in Deutschland schlechterdings verbieten und hindern. … Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden.“ 9

Einschluss – Ausschluss – Religion

Nun ist das Verhältnis zwischen dem »Wir« und »den Anderen« ein dialektisches: Ausschluss, Abgrenzung bewirken Reaktionen der Besinnung auf das Eigene, das »Wir« der »Anderen«. Wer die Debatte um Integration einigermaßen sorgfältig verfolgt, wird feststellen, dass fast überall dort, wo von Integration die Rede ist, im Kern Assimilation gemeint ist. Man lese nur die Einbürgerungsfragebogen einiger Bundesländer. Viele von ihnen haben mehr oder weniger deutliche islamfeindliche oder islam-kritische Konnotationen. Das bewirkt bei den Betroffenen eine Rückbesinnung auf die eigene Identität. Wer immer mit Menschen mit muslimischem Immigrationshintergrund spricht, und seien diese Menschen Intellektuelle, die genauso säkular denken wie »wir«, wird feststellen, dass sie auf solche Aussagen angewidert bis aggressiv reagieren, dass sie sich nicht kollektiv durch eine »Kultur« oder gar in eine Religionszugehörigkeit etikettieren lassen wollen, die sie oft selbst ablehnen, die aber zu identifikatorischen Reaktionen provoziert, weil sie merken, dass solche Fragen und Zuweisungen dazu dienen, sie als Menschen kollektiv zu diskriminieren.

»Wir« agieren im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Vor zwanzig Jahren, als der Höhepunkt der Immigration längst vorbei war, sahen wir in deutschen Schulen, Universitäten, Städten kaum ein Kopftuch! Bei diesem ist zu unterscheiden zwischen dem traditionellen Kopftuch türkischstämmiger Frauen, das dem unserer deutschen Trümmerfrauen ähnelt, und dem »hijab«, jenem Tuch, das den Kopf eng einschließt und das demonstrative Bekenntnis von Frauen zum Islam signalisiert. Die Aufwertung des Religiösen ist – auch ohne männlichen Zwang – zu einem identitären Akt von Menschen geworden, die in diesem »Haus Europa« angekommen sind, darin leben und leben wollen, ohne ihre Identität preiszugeben.

Gerade die Religion wird auch von den »christlichen« Hausbewohnern bemüht. Das christlich-(jüdisch-)abendländische Erbe »unserer« Identität sei bedroht: Die behauptete Bedrohung wird dann oft von der höheren Geburtenrate der Migranten abgeleitet: Das reicht von den Vorstellungen des ehemaligen Berliner Innensenators und heutigen Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank Thilo Sarrazin, über „ständig neue Kopftuchmädchen“ 10 bis zu Theologen wie dem Fernsehpfarrer Jürgen Fliege, der die Gefahr in der „schrumpfenden Zahl an Nachkommen in christlichen Familien“ sieht.11 Die merkwürdige Annahme dahinter ist wohl, dass Religion erblich sei: Wie viele Alt-Europäer sind denn noch »Christen«? Sind alle Immigranten aus islamischen Ländern praktizierende Muslime, werden es auch ihre Kindeskinder bleiben? Religion wird nicht genetisch vererbt. Oder verbirgt sich hinter diesem Argumentationsmuster doch das alte rassische Klischee? Unzweideutig klingt es an in Sarrazins Behauptung, dass „osteuropäische Juden (einen) um 15% höheren IQ (hätten) als die deutsche Bevölkerung.“

Und die Muslime?

Der Islam kennt zwei große Glaubensrichtungen, Sunna und Shi’a. Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechtsschulen. Darüber hinaus gibt es von Westafrika bis in die Südsee und nach China unzählige Formen eines Volksislam. Vor allem: Es gibt keine zentrale Instanz, die für alle Muslime sprechen und verhandeln könnte. Dies ist eines der Probleme, weshalb es beispielsweise so schwierig ist, etwa bei der Frage nach muslimischem Religionsunterricht repräsentative Ansprechpartner zu finden. Dennoch spielt für die innerislamische wie für die interkulturelle Debatte in Europa eine Person eine zentrale Rolle: der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, der wegen seiner Auftritte und Publikationen große Aufmerksamkeit erregt hat, geht es ihm doch in erster Linie um das Gesicht eines europäischen Islam. Eine Auseinandersetzung mit seinen Ideen war auch von der Redaktion von »Wissenschaft & Frieden« gewünscht.

Ramadan ist ohne Zweifel ein international anerkannter Wissenschaftler. Davon zeugen sein Ruf an die hochkarätige Notre Dame University in Indiana und sein Visiting Fellowship am prestigereichen St. Anthony’s Collegs in Oxford wie auch seine vielfältigen Lehrtätigkeiten an verschiedenen europäischen Universitäten. Wo immer man eine Seite über ihn aufschlägt, findet man den Hinweis auf seine Abstammung: Er ist der Enkel von Hassan El Banna, der 1928 in Ägypten die Muslim-Bruderschaft gründete. Ist er deshalb – genetisch bedingt – ein Muslimbruder? Ja, er ist gläubiger Muslim und beruft sich bei vielen seiner Thesen auf das Denken von Jamal ed-Din al Afghani und Mohamed Abduh, die am Ende des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Repräsentanten eines Reformislam bezeichnet wurden. Die Muslimbrüder selbst, die heute in der Literatur oft auf Dogmatismus reduziert werden und mit denen Ramadan während seines Studium in Kairo in Kontakt stand, waren jedoch ursprünglich eher eine radikale Widerstandsbewegung gegen den britischen Kolonialismus denn eine Gruppe religiöser Fanatiker.

Immer wieder wird ihm vorgeworfen oder unterstellt, er sei ein Wolf im Schafspelz, ein verkappter Muslimbruder.12 So etwa wirft der deutsche Islamwissenschaftler Ralph Ghadban ihm vor, sein Ziel sei „die Integration des Westens in den Islam.“ 13 Dahinter stehen die Vorwürfe oder Ängste, der Islam sei seinem Wesen nach expansionistisch.14 Daran ist sicherlich richtig, dass der Islam ebenso wie das Christentum – im Gegensatz zum Judentum – eine missionarische Religion ist. Andere kompetente Autoren nehmen dagegen die Äußerungen Ramadans ernst und sehen in seinen Gedanken wichtige Perspektiven für die Entwicklung der muslimischen Präsenz in Europa.15

Ramadans Hauptanliegen ist es, den »Ijtihad«, die undogmatische und kontextabhängige Auslegung der heiligen Texte, wieder zur Grundlage des Glaubens zu machen, so wie es in den Anfangszeiten des Islam der Fall war. Mit dem im 11. Jahrhundert staatlich verordneten Dogmatismus, demzufolge – ganz in Analogie zum späteren christlichen Fundamentalismus – nur der Buchstabe der Schriften gültig war, wurde der auf der »ratio« basierende Umgang mit den Texten beendet. Grundlage des »Ijtihad« war die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, die ursächlich war für die Blüte der Wissenschaften auf der iberischen Halbinsel und im Zweistromland und von dort ins »Abendland« gelangte. Ramadan will an diese rationalen Traditionen anknüpfen, es geht ihm um eine „kritische Auseinandersetzung mit dem Islam von innen, die darlegt, dass wir eine radikale Reform benötigen.“ (Hervorhebung im Original).16 „Es geht nicht länger nur darum, die Lehren eines ahistorischen Buches zu befolgen … sondern auch den jeweiligen Kontext und das menschliche, soziale und wissenschaftliche Umfeld (zu berücksichtigen).“ 17 Und weiter: „Widerstand ist also nach zwei Seiten erforderlich: gegen einen gewissens- und seelenlosen Fortschritt einerseits, gegen ein buchstabengetreues Verharren … und irreführenden Formalismus andrerseits.“. Es geht um eine „auf gesellschaftliche Transformation abzielende Reform, (einen neuen) Ausblick auf die Schriftquellen und ihren menschlichen/gesellschaftlichen Kontext (…), um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ 18

Das wäre, nach Ramadan, die Rolle und Aufgabe eines europäischen Islam, der, in Europa angekommen, mit den europäischen Werten einen reformerischen Impetus für den Islam in seiner Gesamtheit zu leisten hätte und dies auch könnte. Leistbar ist dies nur durch „beständige Selbstkritik hinsichtlich der eigenen Praktiken und eine besondere Neigung zur intellektuellen Empathie, die darin besteht, dass man sich in die Sichtweise des Anderen versetzt und somit dessen Bezugssystem verstehen kann. (…) Das ethische Erfordernis setzt ein beständiges Infragestellen voraus.“ 19 Alles Lüge und Tarnung? Weshalb? Warum nehmen wir diesen Text nicht beim Wort? Ein verborgener Aufruf zur »Islamisierung Europas« ist darin nicht zu entdecken.

So scheinen die Angriffe auf Ramadan eher gespeist von Bedrohungsphantasien, die in der Präsenz des Islam in Europa das Ende »unserer« Zivilisation sehen wollen. Damit stellt sich jedoch zugleich die Frage, wie wir dieses Europa (und »unser« Deutschland) sehen: als freiheitliche Republik,20 in der laut Grundgesetz die individuellen Freiheiten des Kultus, der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses geschützt und garantiert sind oder als Raum der Assimilation, in dem die Immigranten gezwungen werden sollen, ihre Identität aufzugeben.

Die schon fast ins Gespenstische gehende Debatte erweist sich so als ein dialektischer Prozess, der nicht nur die Muslime vor allem in Europa betrifft, sondern auch die Mehrheitsbevölkerung – und die Zukunft der Verfasstheit des gemeinsamen Hauses. Tariq Ramadan hat genau dies im Blick, wenn er treffend schreibt: „Es gibt keine Wirklichkeit des ›wir gegen sie‹. Ein ›wir gegen sie‹ wäre das Ende unserer gemeinsamen Zukunft. Um dies zu verhindern, braucht es Menschen, die aus ihren jeweiligen kulturellen, religiösen und intellektuellen Ghettos herauskommen. (…) Ihr seid Teil dieses Prozesses. Ihr werdet die Muslime bekommen, die Ihr verdient.“ 21

Anmerkungen

1) Vgl. dazu den verdienstvollen Sammelband von Thorsten Schneiders (Hrsg.): Islamfeindlichkeit, Wiesbaden 2009.

2) Vgl. bspw. Birgit Rommelspacher (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft, Frankfurt/Main & New York, S.9-20; Ulrich Beck (1996): Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Miller, Max & Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei, Frankfurt/Main, S.318-343. Vgl. auch Hobsbawm, Eric (2005): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Auflage, Frankfurt/Main & New York, S.7.

3) Leitlinien der Homepage »Politically Incorrect«. URL: http://www.pi-news.net/leitlinien/ [26.2.20010]

4) http://www.pi-news.net/2009/08/eurabia-die-geplante-islamisierung-europas/ [15-02-10] Die website von »Politically Incorrect« verzeichnet rd. 50.000 und mehr Besucher täglich.

5) Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs Vol. 72, No. 3, S.22-49, hier S.25.

6) Unerwähnt bleibt hier, dass die griechische Philosophie erst über muslimische Philosophen wie Avicenna (Ibn Sina) und Averroes (Ibn Ruschd) überhaupt ins christliche Abendland kam – ohne sie wären Renaissance, Aufklärung und Republikanismus gar nicht möglich gewesen.

7) Huntington Samuel P. (1996): The West Unique, not universal, in: Foreign Affairs Vol. 75, No. 6, S.28-49, hier S.30-33.

8) Ernest Renan (1948): De la part des peuples sémitiques dans l’histoire de la civilisation, in: Oeuvres complètes, Bd. 2, Paris, S.333.

9) Arndt, Ernst Moritz (1814): Blick aus der Zeit auf die Zeit, Germanien. Frankfurt/Main: Eichenberg.

10) URL: http://www.faz.net/s/RubA24ECD630C AE40E483841DB7D16F4211/Doc~E528F39 D378054A5699DBE2EF84B4F1D7~ATpl~Ecommon~Scontent.html [16-02-10]

11) URL: http://www.freie-allgemeine.de/artikel/news/problem-ist-nicht-islam-sondern-ueberfremdung/ [16-02-10]. Vgl. http://www.nexworld.tv/sendereihen/meinungsbilder/story/news/die-zukunft-der-religionen/ [16-02-10].

12) Fourest, Caroline (2004): Frère Tariq: Discours, stratégie et méthode de Tariq Ramadan, Paris. Schon im Titel wird hier die Richtung gewiesen: »Frère« (also: Bruder) Tariq.

13) Interview in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32 (6. August 2007). Vgl. auch. ders. (2006): Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin: Verlag Hans Schiler Berlin.

14) Haenni, Patrick/Amghar, Samir: Die falsche Angst. Le Monde Diplomatique (dt. Ausgabe), 12. Febr. 2010.

15) Roy, Olivier (2006): Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München; Todd, Emmanuel (1997): Le Destin des Immigrés, Paris.

16) Ramadan, Tariq (2009): Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München, S.419.

17) Ebd., S.419 f.

18) Ebd., 421 f.

19) Ebd., S.417.

20) Vgl. dazu einschlägige Arbeiten von Dieter Oberndörfer wie Turkophobie (Blätter für Deutsche und internationale Politik 2/2003, 138-142) und Die Rückkehr der Gastarbeiterpolitik (Blätter für Deutsche und internationale Politik 6/2005, S.725-734.

21) Ramadan, Tariq (2006): Euro-Islam und muslimische Renaissance, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2006, S.673-685, hier: S.685.

Prof. em. Dr. Werner Ruf lehrte von 1982 bis 2003 Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.