Vorzeiten

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Mutterrecht und Friedfertigkeit – revisited

von Monika Nehr

Schon einmal bewegte ich mich auf den Spuren femininer Vorzeiten – und ich bewegte mich nicht allein. Das Thema »weibliche Friedfertigkeit und patriarchaler Rüstungswahn« – zusammengefasst in der einfachen Frage: Sind Frauen friedlicher? – bewegte seinerzeit viele von uns, als das Inhalts- wie Sprachungetüm »NATO-Doppelbeschluss« vom 12. Dezember 1979 die weltweit wohl größte Friedensbewegung auslöste. Ende 1983 steuerte sie nach der zweiten Ungeheuerlichkeit, die »Nachrüstungsbeschluss« hieß, auch in der Bundesrepublik Deutschland auf ihren Höhepunkt zu und verebbte erst nach der Stationierung atomarer Raketen auf west- und ostdeutschem Territorium.

Mit dem Ende der großen Friedensbewegung, in der Frauengruppen eine wichtige Rolle inne hatten, begann unsere Arbeitsgruppe. Wir – drei Frauen1 – trafen uns regelmäßig Sonnabend nachmittags und studierten die FrauenFriedensFrage bei den Klassikern August Bebel und Friedrich Engels, bei dem Rechtshistoriker und Mythenforscher Jakob Bachofen, später noch »das Patriarchat« des Sexualforschers Ernest Bornemann … immer entlang der Frage: Wie verhielt es sich denn mit Krieg und Frieden, mit Mann und Frau und den Machtverhältnissen zwischen ihnen vor unserer Zeit? Ein Fazit lautete: Frauen sind nicht von Natur aus friedlicher, doch ist die Friedfertigkeit historisch in den Urgesellschaften verankert; nachweislich in den vorpatriarchalen Stammesgesellschaften der Jungsteinzeit, deren Siedlungen zum Beispiel ohne Befestigungsanlagen auskamen.2

Archäologische Befunde

Mein heutiges Augenmerk gilt Ausgrabungen und archäologischen Funden aus fast dreißigtausend Jahren prähistorischer Kunst, insbesondere den zahlreichen Frauenfigurinen und der von der »männlichen« Archäologie vernachlässigten Frage, was diese über die Friedfertigkeit urgesellschaftlicher Kulturen aussagen. Passt die »Fat Lady« von Saliágos ebenso zu Engels Evolutionstheorie wie die »Sleeping Lady« von Malta oder die Irokesin? Hat die neolithische Revolution der Männer die Goldenen Zeiten beendet?

Aus der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, sind ungefähr 1000 vollständige oder fragmentarische weibliche Bildnisse erhalten, darunter Skulpturen, Reliefs und Holzschnitte. Die frühesten entstanden während der letzten Phase der Altsteinzeit ungefähr ab dem 30. Jahrtausend vor Christus. Zahllos sind jedoch die bei Ausgrabungen entdeckten weiblichen Ton- und Marmorfiguren vorwiegend aus der neolithischen Periode etwa zwischen 7.000 und 3.000 v. unserer Zeitrechnung. Einige von ihnen möchte ich vorstellen.

Eine der ältesten Figurinen, die berühmte Venus von Willendorf, stammt noch aus der Altsteinzeit. Etwa 23 Tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde sie aus Kalkstein gefertigt. Diese nur 10,5 cm hohe, stehende, nackte, üppig beleibte Frauenfigur mit dünnen, über die großen Brüste abgewinkelten Unterarmen und dem gesichtslosen, einer Brombeere gleichenden Kopf, fand man 1908 in einer Höhle im heutigen Österreich. Sehr ähnlich sieht ihr die 13 cm hohe, sogenannte Venus von Malta, eine stehende, ebenfalls nackte, jedoch kopflose Figurine aus gebranntem Ton (Werkstoff seit der Jungsteinzeit), die aber ungefähr 20.000 Jahre später im Neolithikum, ca. 3.300 Jahre vor Christus entstand und erst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in einem megalithischen Tempel auf Malta gefunden wurde.

Einer der jüngsten Funde ist die nur ca. 6 cm hohe Keramikfigurine, genannt Fat Lady von Saliágos, eine üppig beleibte kopflose Figur mit untergeschlagenen Beinen. In der Vitrine in dem kleinen Archäologischen Museum von Paros spiegelt sie ihr rundes Hinterteil in einem kleinen runden Taschenspiegel. Die Fundstätte, die winzige nur 100 auf 50m messende Insel Saliágos zwischen den Kykladeninseln Paros und Antiparos, beherbergte eine der ältesten neolithischen Siedlungen der Ägäis.

Andere Figurinen sind bekleidet, wie die Sleeping Lady genannte kostbare Tonstatuette, etwa 3.300 v.u.Z., aus einem unterirdischen neolithischen Tempel von Malta; diese seitlich liegende rundliche Frauenfigur, nicht länger als 12 cm, bekleidet mit einem langen, gemusterten, körpernahen Gewand, scheint auf einer Art Liege zu schlafen. Der auf dem abgewinkelten Unterarm ruhende kleine Kopf und die aus dem Rock herragenden, kleinen spitz zulaufenden Füße stehen in auffallendem Kontrast zu dem runden Körper und den wulstigen Armen.

Die prähistorischen weiblichen Figuren werden häufig als Venusstatuetten, Idole, Votivfiguren oder Fruchtbarkeitssymbole bezeichnet. Für Marija Gimbutas, eine der seltenen Frauen in der Archäologie, stellen sie weibliche Gottheiten dar. Die auch in Anthropologie, Religionsgeschichte und alten Sprachen ausgewiesene Wissenschaftlerin, nennt diese Frauendarstellungen einfach Göttin von Malta, Göttin von Willendorf; die Mère von Catal Hüyük genannte Figur bezeichnet sie als eine majestätisch thronende Göttin beim Geburtsakt, die Sleeping Lady als schlafende Göttin, und männliche Figuren, deren Anzahl weitaus geringer ist, stellt sie ihnen als Götter an die Seite.

Apropos Götter: Im Archäologischen Museums in Athen stößt man auf eine mit etwa 50 cm relativ große sitzende nackte männliche Tonfigur aus Thessalien des späten Neolithikum. Die rechte Faust stützt den kantigen Kopf, während die linke Hand den auffallend großen, zum Teil abgebrochenen erigierten Penis hält. Diese »The Thinker« betitelte Figur wird im Museumsführer „zum frühesten Symbol männlicher Natur und männlichen Denkens“ emporgehoben. In meinen Notizen frage ich: beginnt mit dem »Thinker« der prähistorische Männlichkeitswahn? Doch in Gimbutas Systematik repräsentiert er nicht mehr und nicht weniger als irgend eine männliche Gottheit.

Symbolsprache

Bis zu ihrer Emeritierung 1989 lehrte die gebürtige Litauerin Archäologie zuerst in Harvard, später an der Universität von Kalifornien und leitete selbst umfangreiche Ausgrabungen in Jugoslawien, Italien, Mazedonien und Griechenland. Gimbutas Name ist untrennbar mit der systematischen Erforschung der prähistorischen Göttin verbunden. Ihre beiden wichtigsten Bücher »Die Sprache der Göttin« und »Die Zivilisation der Göttin« erschienen Mitte der 1990er Jahre auch auf deutsch.

Marija Gimbutas entzifferte die Symbolsprache der prähistorischen Kunst. Sie entdeckte verschiedene, sich wiederholende Zeichen und entschlüsselte den Code, der sich hinter den scheinbar nur dekorativen Elementen der prähistorischen Weiblichkeitsdarstellungen verbirgt. So stellte sie eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Darstellungen der Göttin aus der Steinzeit und denjenigen von diversen Tieren und vor allem Wasservögeln fest. Diese Ähnlichkeiten gibt es bei den nahezu 30.000 Jahre alten Figuren ebenso wie auf neolithischen Abbildungen und Töpferarbeiten bis hinein in das bronzezeitliche Kreta, ca. 1.450 v. Christus. Gimbutas verglich auch die Symbole auf Rücken oder Beinen von Göttinnendarstellungen mit den Eigenschaften von Flüssigkeiten: Ein Doppel-V bedeutet fließendes Wasser, die senkrechten Linien auf den Göttinnen-Krügen und -Ikonen stellen Regen dar. Ähnliche Symbole auf den Brüsten bedeuten Milch, auf der Rückseite der Schenkel Fruchtwasser. Damit verband Gimbutas die prähistorische Göttin mit dem Urelement Wasser und legte den Grundstein zu ihrer Theorie einer paläolithischen Schöpferin, die sich selbst und die Welt aus der Urflüssigkeit erschuf.

Die Ähnlichkeit vieler paläolithischer Figurinen und Tierdarstellungen mit solchen aus dem Neolithikum verweise ihrer Ansicht nach auf die Möglichkeit eines religiösen Zusammenhangs und auf einen mehrere Jahrtausende währenden Göttinnenkult, zumindest im »alten Europa«, wie Gimbutas das Gebiet der Ägäis, Kreta, den Balkan und das östliche Zentraleuropa, die Mittelmeerländer und Westeuropa bezeichnet.

Mutterrecht

Die Vorstellung einer solchen prähistorischen weiblichen Gottheit als verbindendes religiöses Element über Jahrtausende hinweg wäre durchaus nach dem Geschmack von Johann Jakob Bachofen gewesen, der als Altertumswissenschaftler und Jurist zunächst Jurisprudenz in Basel lehrte und später seinen bis heute populären und kontroversen Forschungen zum sogenannten Mutterrecht nachging. Bachofen suchte und fand die Spuren eines matriarchalen oder mutterrechtlichen Urzustandes in den Mythen der antiken geschichtlichen und religiösen Überlieferungen. Für ihn bedeutete Mutterrecht Gynaikokratie, das ist das griechische Wort für Matriarchat oder Herrschaft der Frauen. Von den späteren archäologischen Entdeckungen ahnte er noch nichts, denn die eventuell seine Theorie unterstützenden Ausgrabungen begannen erst nach seiner Lebenszeit, die 1887 endete.

Einen anderen Zugang zum sogenannten Mutterrecht fand ein Zeitgenosse Bachofens, der amerikanische Ethnologe Henry Morgan, der eine Zeit lang bei den indianischen Irokesenstämmen im Staat New York lebte. Er entdeckte bei ihnen die matrilineare, matrilokale und matrifokale Gentilgesellschaft, deren Keimzelle die mütterliche Verwandtschaftsgruppe oder matrilokale Gens ist. Nach der Fachterminologie bedeutet matrilinear, matrilokal und matrifokal, dass sich Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen insgesamt sehr geachtet wurden. Es gibt noch den Sammelbegriff matristisch, der alle drei Aspekte beinhalten kann und auch synonym zu mutterrechtlich verwendet wird.

Nun glaubte Morgan ein allgemeingültiges historisches Entwicklungsgesetz gefunden zu haben, welches von den mutterrechtlichen Ordnungen der Urgesellschaften zu den vaterrechtlichen oder patriarchalen Strukturen der späteren Gesellschaften führt. Bis dahin kannte man nur die patrilinearen und patrilokalen, griechischen und römischen Gentilgesellschaften.

Während bei den Irokesen in Nordamerika die gesellschaftlichen Triebkräfte zum Umsturz des Mutterrechts fehlten und sie bis heute mehr oder weniger mutterrechtlich geblieben sind, konnten die im Neolithikum sesshaft gewordenen einstigen Jäger- und Sammlergesellschaften in der Alten Welt mit Ackerbau und Viehzucht zum ersten Mal Vorräte und Überschuss produzieren. So begannen die für die Züchtung von Viehherden zuständigen Männer mit dem Zuwachs an Vieh auch Besitz anzusammeln, den sie nicht mehr kollektiv verteilen, sondern sich privat aneignen wollten. Über diese neuen Reichtümer konnte der Mann als Besitzer bisher nicht verfügen und ihn auch nicht an seine Kinder vererben. Das war Grund genug, das Mutterrecht umzustoßen und Vaterrecht in der gesellschaftlichen Gemeinschaft einzuführen. Das bedeutete Patrilokalität und die Möglichkeit, den Reichtum an die eigenen Kinder zu vererben. Die weibliche Abstammungslinie war zugunsten der väterlichen abgesetzt.

Von der vaterrechtlichen Gens zum patriarchalischen und kriegerischen Staat war es dann nur noch ein verhältnismäßig kurzer Weg, schreibt Friedrich Engels in seinem 1884 erschienen Werk über den »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«. Engels, der wesentlich auf Bachofens und Morgans Forschungen gründet, spricht von Umsturz des Mutterrechts, und nennt diesen Umsturz eine der einschneidensten Revolutionen der Menschheit und die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts.

Bachofen hat indes nicht wie Engels oder Morgan den mutterrechtlichen Urgesellschaften nachgetrauert – im Gegenteil: er begrüßt den Umsturz als Fortschritt und formulierte es philosophisch: „Die Seele steigt aus den Niederungen des Stoffs empor zum Licht, zur Unsterblichkeit. Das ist der Weg vom Mutterrecht zum Vaterrecht.“ Mit den „Niederungen des Stoffs“ ist das Weibliche gemeint; „Unsterblichkeit“ verweist auf die griechische Götterwelt und den Umsturz der Großen-Göttin-Religion.

Den Umsturztheorien wurde jedoch heftig widersprochen. Uwe Wesel, der bekannte Rechtshistoriker, präsentierte 1980 in seinem Buch »Der Mythos vom Matriarchat« die internationale Diskussion zu Bachofen, Engels und Morgan bis zum Ende der 1970er Jahre. Nach dieser Forschungslage habe es in der vorzeitlichen Entwicklung keine allgemeine Kulturstufe des Mutterrechts gegeben und entsprechend auch keinen Umsturz zum Vatererrecht. Es habe auch nirgendwo Matriarchate im Sinne von Frauenherrschaft existiert, sondern einige wenige Stammesgesellschaften, in denen sich die Abstammung und das Erbrecht der Kinder sowie der Familienort nach der Mutter richteten und Frauen auch geachtet wurden. Eben die Gesellschaften, die von den »Klassikern« beschrieben wurden, und vielleicht noch ein paar andere; wie die Ethnologie auch heute noch etwa einhundert matrilineare Völker in Nord- und Südamerika, in Afrika, in Asien und in der Südsee kennt, von denen einige auch matrilokal leben. Die mutterrechtlichen Gentilgesellschaften der Vorzeit sollen synchron mit den vielen patriarchalen Stämmen existiert haben.

Der Einfluss Gimbutas

Als um 2.500 v.Chr. die ersten griechischen Stämme aus dem Norden nach Theassalien einströmten, fanden sie auch dort eine ausgebildete Kultur vor, doch trafen sie mit diesen Menschen offenbar nicht friedlich zusammen, so formuliert es vorsichtig die Herausgeberin des Museumsführers vom Athener Nationalmuseum. Marija Gimbutas drückt es drastischer aus und spricht von den indogermanischen und patriarchalen Stämmen aus Griechenland, die die friedfertigen, egalitär und mutterrechtlich geprägten Kulturen der Alten Welt unterwarfen.

Welchen Einfluss haben heute Marija Gimbutas 30jährige Feldforschung und ihre zahlreichen Veröffentlichungen auf Archäologie und Vorgeschichte? Schauen wir zum Beispiel nach Malta, dessen vorzeitliche megalithische oder großsteinige Tempelkultur noch gar nicht lange bekannt ist. Erst seit wenigen Jahren gibt es Gewissheit: Die sieben Haupttempel, die in den 1980er Jahren ins Weltkulturerbe aufgenommen wurden, sind die ältesten freistehenden Steinbauten der Welt, mehr als 1000 Jahre älter als die Pyramiden Ägyptens.

Nicht zufällig tagte daher im Jahr 1985 in Malta die erste Konferenz über Archäologie und Fruchtbarkeitskult im Alten Mittelmeerraum, zu der auch Marija Gimbutas mit einem Vortrag über »Frauenfigurinen in der Vorgeschichte« eingeladen war; und sie wird vermutlich auch eine ihrer Entdeckungen erwähnt haben, nach der die Tempelgrundrisse augenscheinlich die voluminösen Körper der Göttinnendarstellungen repräsentieren. Ein Teilnehmer dieser Konferenz wundert sich jedenfalls 14 Jahre später, dass der interessante Vortrag Gimbutas nicht in dem von Anthony Bonanno 1986 edierten Tagungsband erschien (vgl. Mifsud & Ventura 1999).

Bei meinem Aufenthalt auf Malta im Oktober 2000 erzählte mir Stephen Cini, der noch junge Leiter des kleinen archäologischen Museums in der Zitadelle von Victoria auf Gozo, von der ablehnenden Haltung des auch für die Museen maßgeblichen maltesischen Archäologen Anthony Bonanno gegenüber allen Deutungen in Richtung femininer Kulturhoheit des Tempelvolkes und diktierte mir unter vorgehaltener Hand den Namen Marija Gimbutas und den Titel ihres Buch »The Language of the Goddess« in den Block – eine fast konspirative Empfehlung. Im archäologischen Museum von La Valetta auf Malta wohnte ich zufällig einer Schulklassenführung maltesischer Schüler bei. Der Lehrer zeigt den etwa 14jährigen Schülern die vielen Frauenfigurinen in den Vitrinen und nennt sie Zeuginnen einer femininen Kultur; Bonannos Verdikt scheint subversive Reaktionen hervorzubringen!

Maltas Archäologie und Prähistorie wird sich einer Neuinterpretation der künstlerischen Darstellungen wie der gesamten Tempelkultur auf Dauer nicht verschließen können. Die Friedlichkeit der mehrere Tausend Jahre währenden Tempelperiode ist unbestritten; die archäologischen Evidenzen sind eindeutig; nirgendwo fand man Festungsmauern oder Waffen; auch keine Ansammlungen von Skeletten mit Spuren gewaltsamer Todesarten.

Ähnliches gilt zum Beispiel auch für die neolithische Siedlung von Catal Hüyük in der heutigen Türkei, dem Fundort der majestätisch thronenden Göttin beim Geburtsakt oder für das wesentliche spätere minoische Kreta. Doch die unstrittige Friedfertigkeit dieser Kulturen befindet sich keineswegs im Fokus der prähistorischen Forschung. Joseph Magro Conti ist eine der wenigen Ausnahmen: „Eine Kultur manifestiert sich nicht einfach durch Bauwerke und künstlerische Darstellungen, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt und Aggression.“ 3 Doch woher kam die Friedfertigkeit? War sie eine natürliche Eigenschaft der Vorzeit-Menschen, wie Conti vermutet: „Krieg ist unnatürlich, denn er ist ein Ergebnis der Zivilisation. Die Menschen des Neolithikum und das Tempelvolk waren wahrscheinlich von Natur aus friedlich… doch die Menschen des Bronzezeitalters waren zweifellos an Krieg und Aggression gewöhnt.“

Über die Herrschaft und Kriege seit der Bronzezeit wissen wir in der Tat fast alles, denn mit dem patriarchalischen Griechenland beginnt auch bald die geschriebene Geschichte und Literatur. Homers Epen geben erste Zeugnisse dieser Kriege. Aus der Vorzeit gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Frauenfigurinen und andere Weiblichkeitsdarstellungen werden bisher noch nicht als Zeugnisse gesellschaftlicher Lebensformen und einer besonderen Rolle der Frauen in Betracht gezogen. Sie werden bewundert, beschrieben und in Museen ausgestellt; doch fallen plausible Theorien für egalitäre und gewaltfreie Gesellschaften mit einer möglichen Kulturhoheit der Frauen meistens unter einen Konsens des Verschweigens.

Über das warum darf spekuliert werden: Handelt es sich nur um die übliche männliche Ignoranz in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gegenüber abweichenden Erkenntnissen aus weiblichen Quellen? Geht es um die Vermeidung von Diskursen über egalitäre und nicht- hierarchische, gar urkommunistische Gesellschaften, wie es auch die jüngste internationale Irokesenforschung4 nahe legt? Ist es gar die Sorge vor einer neuen feministischen Matriarchats-Debatte? Immerhin fand 2003 der erste Weltkongress für Matriarchatsforschung statt. Oder bangen die monotheistischen Religionen um ihre männliche Vorherrschaft? Für letztere gibt Gimbutas teilweise Entwarnung. Obwohl Männer in der prähistorischen Kunst weitaus seltener dargestellt sind, waren die Urgesellschaften keine Frauenkulturen, in denen es nur Göttinnen und keine Götter gab. In allen Mythologien findet man neben der Mutter- oder Erdgöttin ihren göttlichen Begleiter. Auch im politischen Leben besteht eine egalitäre Situation: An der Seite der Königin, die auch gleichzeitig die Hohe Priesterin ist, sitzt gleichberechtigt entweder ihr Ehepartner, Bruder oder Onkel.

Gimbutas Überzeugungen gründen auf ihrem Lebenswerk: „Der Ursprung Europas war eine kooperative und friedliche neolithische Göttin-Kultur.“ Das klingt nach »Goldenen Vorzeiten«! Simone de Beauvoir, die noch nichts über Gimbutas Erkenntnisse wissen konnte, schrieb 1949, dass in Wirklichkeit das Goldene Zeitalter der Frau nur ein Mythos sei.

Pazifismus und FrauenFriedensFrage heute

Auf dem Europäischen Sozialforum im Jahr 2006 in Athen ist die Friedensfrage in der Feministischen Sektion nicht präsent. Andere, alte Probleme stehen wieder neu auf der Agenda. Die bekannte ehemalige schwedische Linkspolitikerin Gudrun Schymann vermittelte zum Beispiel ein düsteres Bild über die reale Stellung der Frau in Schweden und forderte die Frauen auf, für Geschlechtergerechtigkeit in der Politik zu kämpfen. Männliche Strukturen verhinderten die Gleichberechtigung der Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft. Und mit Verweis auf den Tagungsort Athen erinnerte sie daran, dass die berühmte griechische Demokratie eine Männerdemokratie war, die vollständig ohne Frauen auskam; abgesehen davon war die Unterdrückung der Frauen in der damaligen Antike ohne Beispiel, besonders in Athen. Weltweit soll die Frauenfriedensfrage durch die UN-Resolution 1325 des Weltsicherheitsrates vom 8. März (!) 2000 verankert werden. Erinnern wir uns: Die UNO ruft das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau aus. Auf der ersten Weltfrauenkonferenz, die noch im selben Jahr in Mexico City stattfindet, wird ein Welt-Aktionsplan verabschiedet und die UNO-Dekade der Frau unter dem Motto »Gleichheit – Entwicklung und Frieden« eingeleitet. Die letzte und größte der vier Weltfrauenkonferenz findet 1995 in Peking statt. Mit der UN-Resolution 1325 sollte eine Art Ersatz institutionalisiert werden.

Im Wesentlichen geht es in der Resolution jedoch wohl darum, die Auswirkungen von Kriegshandlungen für die Frauen vor Ort zu mildern, auch wenn als vorrangiges Ziel die Verhinderung von Kriegen genannt wird. In Deutschland hat sich daraufhin im Jahr 2003 ein sogenannter Frauensicherheitsrat gegründet, der von Einzelpersonen und Vertreterinnen einiger Frauenorganisationen, darunter die altehrwürdige pazifistische Internationale Frauenliga Frieden und Freiheit (IFFF), getragen wird. Die Vertreterin der Internationalen Frauenliga nennt es in einem Interview schon einen Erfolg, wenn zum Beispiel statt eines Mannes ein weiblicher Offizier der Bundeswehr in einem Krisengebiet wie Sudan oder Afghanistan die Frauen vor Ort schützen kann. Nationale Aktionspläne für die Umsetzung der Resolution gibt es bisher nur in England und den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen. Die Bundesregierung verweigert bis heute strikt einen solchen Aktionsplan. Auch deswegen hat eine Organisation wie der Frauensicherheitsrat kaum Einfluss und Beratungsmöglichkeiten.

Das eigene Selbstverständnis dieses Frauengremiums lässt zudem alle Fragen nach frauen- und friedenspolitischer Standortbestimmung offen. Auch historische Orientierungen sind nicht auszumachen. Wo bleiben die großen Vordenkerinnen und Friedensaktivistinnen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg gewarnt haben. Ich denke an Pazifistinnen wie Lyda Gustava Heymann, eine der deutschen Gründerinnen der Internationalen Frauenliga, an Bertha von Suttner, die vor 100 Jahren den Friedensnobelpreis bekam und im vergangenen Jahr immerhin mit einer Briefmarke geehrt wurde. Und wo bleiben die Sozialistinnen und Kriegsgegnerinnen Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg, ebenso wie Margarete Mitscherlichs Bücher »Die friedfertige Frau« oder »Die Zukunft ist weiblich« und Christa Wolfs Roman »Kassandra«? In der Friedensbewegung der 1980er Jahre waren sie nicht nur in aller Frauen Munde! – Alles vergessen? Da wage ich es kaum, noch an unsere »Goldenen Vorzeiten« zu erinnern…

Literatur

Bonanno, Anthony (2000): Malta – ein archäologisches Paradies. Valletta.

Bachofen. J.J. (1975): Das Mutterrecht. Frankfurt/Main.

Bornemann, Ernest (1981): Das Patriarchat. Frankfurt/Main.

Bebel, August (1974): Die Frau und der Sozialismus. Berlin.

Engels, Friedrich (1970): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin.

Gimbutas Marija (2001): The Language of the Goddess. London.

Mifsud, Anton & Ventura, Charles Savona (Eds.) (1999): Facets of Maltese Prehistory. Valletta.

Wesel, Uwe (1980): Der Mythos vom Matriarchat. Frankfurt/Main.

Wesel, Uwe (1997): Geschichte des Rechts. München.

Anmerkungen

1) mit Dr. Eva Förster und – in memoriam – Dr. Claudia Hoffmann.

2) Vgl. Nehr, Monika (1985): Mutterrecht und Friedfertigkeit. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden 3/1985, S.18-19.

3) Conti, Joseph Magro (1999): Aggression and Defence in Prehistoric Malta; in: Mifsud & Ventura, S.191-205.

4) Vgl. Wagner, Thomas (2004): Irokesen und Demokratie. Münster.

Dr.phil Monika Nehr ist Linguistin, leitete bis 2005 bilinguale Schulprojekte in Berlin und forscht derzeit zur Biographie der Antifaschistin Johanna Weitz.

Religionsgemeinschaften und Gewalt

Religionsgemeinschaften und Gewalt

von Hans G. Kippenberg

Dass die Gewalttätigkeit von religiösen Gemeinschaften auch im Handeln ihres Gegenüber begründet sein kann, ist eine wichtige Erkenntnis religionswissenschaftlicher und -soziologischer Studien. Andere Konfliktdimensionen – etwa die dabei wirksame Anrufung von religiösen Erzählungen, der Stellenwert von Heilserwartungen oder auch die Relevanz semantischer Deutungsmuster – harren einer weitergehenden, insbesondere komparativen Forschung. Schließlich dürften insbesondere die Kategorie der Moral(ität) religiös motivierter Akteure zu kontroversen Beurteilungen führen.

Als im Zeitalter der Glaubenskriege Religionsgemeinschaften Europa mit Gewalt überzogen, sah Thomas Hobbes die Lösung in einem starken Staat, der allein die sozial destruktiven Kräfte der Religionsgemeinschaften bändigen könne. Zur selben Zeit vertrat Samuel Pufendorf die entgegengesetzte These, dass kein Staat ohne Religion Bestand haben könne, da nur die Religion ein soziales Band zwischen den Bürgern herstellen könne. Um seine Pflichten zu erkennen, benötige der Mensch keine Offenbarungsschriften, sondern müsse nur auf sein eigenes Gewissen hören. Was aber stimmt nun: Ist das soziale Band, soweit es von religiösen Gemeinschaften begründet wird, für das Gemeinwesen eine Gefahr oder ist es sein soziales Kapital? Solange Religionen in der Moderne eine Sache des Individuums wurden, verlor das Problem an Brisanz. Doch das stetige Wachstum religiöser Gemeinschaften weltweit bringt die alte Unsicherheit zurück.

Über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt

Jan Assmann hat recht, dass der exklusive Monotheismus, den Moses in Israel durchsetzte, die eigene wahre Gottesverehrung scharf von der grundfalschen der Heiden unterschied (Assmann 1998). Allerdings hält er biblische Erzählungen von einer gewaltsamen Ausrottung der falschen Götter und ihrer Völker für ein semantisches Paradigma, mit dessen Hilfe die Durchsetzung des Monotheismus nur erinnert worden sei, das sich aber nicht auf reale Gewalthandlungen beziehe (Assmann 2003, S.36). Wo im Judentum überhaupt Gewalthandlungen bezeugt sind, dann allein nach innen gegen den Apostaten, nicht aber gegen Ungläubige.

Doch gibt es sehr wohl noch einen anders gelagerten Fall, den Assmann nicht einbezieht, der das Bild aber radikal verändert. Den Juden war von den Persern im 5. Jh. v. Chr. nach ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft das Privileg einer autonomen Rechtsgemeinschaft zugestanden worden. Diese Gemeinschaft verband mit der mosaischen Unterscheidung noch eine soziale: die zwischen Freiheit und Sklaverei. Die Sicherung der Gemeindemitglieder vor dauerhafter Versklavung durch Fremde wurde zu einer religiösen Pflicht aller Gläubigen. Als im 2. Jh. v. Chr. der Jerusalemer Tempel von hellenistischen Herrschern entweiht wurde und ein Jude sich bereit zeigte, auf Geheiß eines königlichen Beamten ein heidnisches Opfer zu bringen, tötete der Priester Matthias, Vater der Makkabäer, nicht nur den Abtrünnigen, sondern auch den Beamten. Mit dem Ruf: „Ein jeder, der für das Gesetz eifert und die Bundestreue hält, ziehe hinter mir her!“ flohen er und seine Söhne in die Berge (1. Makkabäerbuch 1-2). Die Apokalypse Daniel deutete die Verschärfung des Konflikts als Auftakt zu einer neuen Heilszeit. Wer im Kampf gegen die Gottlosen stirbt, ist ein Märtyrer und wird zum ewigen Leben erweckt. Gewalt zwecks Verteidigung des erwählten Volkes gegen seine Feinde war ein vorbildlicher Akt. Andererseits schlossen dieselben Aufständischen mit dem heidnischen Römischen Senat einen Freundschaftsvertrag, als dieser der jüdischen Gemeinschaft Autonomie zugestand (1. Makk. 8). Dieser lang erinnerte Fall zeigt, dass es keinen irgendwie zwingend notwendigen Zusammenhang zwischen dem Monotheismus und Gewalttätigkeit gibt. Er ist bedingt von einer Situation der Bedrohung der religiösen Gemeinschaft durch innere und äußere Feinde.

Religiöse Gewalteskalationen in den USA

Untersuchungen neuerer Fälle religiöser Gewalt haben eine Wendung genommen, die dies bestätigen. Der erste Fall, der so aufgearbeitet wurde, waren Mord und Massenselbstmord der nordamerikanischen Religionsgemeinschaft »People's Temple« in Jonestown, Guayana 1978. Jugendliche und Alte, Männer und Frauen, Arme und Wohlhabende, und – ungewöhnlich – Weiße und Schwarze hatten sich in Kalifornien gemeinsam dem Prediger und Heiler Jim Jones angeschlossen. Sie wollten eine revolutionäre Gemeinschaft bilden: ohne Rassendiskriminierung, ohne Privateigentum und ohne die sexuellen Normen des bürgerlichen Amerikas. Erboste Verwandte liefen Sturm gegen den »Kult«, wie es abschätzig hieß; Abtrünnige bestätigten die wildesten Vorurteile; in Medienkampagnen wurden Vorwürfe von Gehirnwäsche erhoben.

Als es der Gemeinschaft nicht gelang, die Angriffe gerichtlich abzuwehren, wanderte sie nach Mittelamerika aus. Als dort eine Delegation der Gegner mit einem Kongressabgeordneten an ihrer Spitze auftauchte und erste Gemeindemitglieder dem Druck nachgaben, ihre Rückkehr in die USA ankündigten und damit die Existenz der Gemeinschaft gefährdeten, entlud sich die Spannung in Gewalt. Gemeindemitglieder erschossen den Kongressabgeordneten und drei weitere Personen auf dem Flugfeld, als sie abfliegen wollten. Eine Stunde später begann die »Weiße Nacht«, in der die Gemeindemitglieder sich das Leben nahmen. Jim Jones hatte ihnen gepredigt, dass der Freitod eine bessere Lösung sei als erneute Unterwerfung unter die destruktiven Mächte dieser Welt. 911 Menschen verloren ihr Leben. In diesem fürchterlichen Ende sahen die Gegner eine nachträgliche Bestätigung dafür, dass die persönliche Überzeugung der Gemeindemitglieder nur erzwungen worden und Jim Jones nur ein falscher Prophet sein konnte. »Jonestown« wurde das warnende Beispiel dafür, wozu »Kulte« alles imstande seien.

Studien, die zehn Jahre später den Fall neu aufrollten, kamen jedoch zu einem anderen Ergebnis. John Hall scheibt: „Der Schlüssel zum Verstehen des Massenselbstmordes von Jonestown liegt in der Konfliktdynamik zwischen religiösen Gemeinschaften, die Autonomie beanspruchen, und äußeren politischen Ordnungen. Die Aufforderung, sich den äußeren Ordnungen unterzuordnen, zwingt die Gemeinschaft dazu, zwischen dem Heiligen und dem Bösen zu wählen. Dieser Wahlzwang macht religiöse Überzeugung zu einer Frage der Ehre und ist das Treibbeet für einen Märtyrertod.“ (Hall 1987, S.296). Erst der von außen kommende Druck hat die Gemeinschaft dazu gebracht, ihre Sozialform mit Gewalt zu verteidigen.

Die Schatten von Jonestown fielen noch auf Vorgänge in Waco (Texas) 15 Jahre später, als eine adventistische Religionsgemeinschaft in den Verdacht rechtswidriger Handlungen geriet – zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Als Beamte bei der überfallartigen Durchsuchung des Anwesens auf Gegenwehr stießen, belagerte das FBI das Grundstück mehrere Wochen lang. Schließlich gingen die Einsatzkräfte zur gewaltsamen »Befreiung« über. 74 Tote wurden nach dem Angriff gezählt. Der Blick der Untersuchungskommission, die die Clinton-Regierung dazu einsetzte, fiel auch auf unausgesprochene Annahmen der Einsatzleitung. Die Beamten waren davon überzeugt, dass Religion ein innerer persönlicher Glaube sei, der mit äußeren gemeinschaftlichen, gar gewalttätigen Handlungen nichts zu tun haben könne (Sullivan 1993, S.213-234). Dass der religiöse Anführer den Überfall auf die Gemeinschaft und die folgende Belagerung mit Hilfe der Offenbarung Johannes deutete und in den Einsatzkräften die Mächte des widergöttlichen Babylon sah, entging ihnen völlig. So haben sie mit ihrer Gewalt dem Glauben der Adventisten, in einer Welt voller Ungerechtigkeit zu leben, noch zusätzlich Nahrung geliefert und zum Gewaltausbruch beigetragen (zu analogen Fällen: Hall, Schuyler & Trinh, 2000).

Bei einer späteren Besprechung dieser Vorgänge waren sich Beamte des FBI und Vertreter der American Academy of Religion darin einig, dass man in solchen Situationen »worldview translators« (Weltbildübersetzer) benötigt, um unbeabsichtigter Eskalation vorzubeugen (Rosenfeld 2000, S.347-351). Zwar rechnet christliche Apokalyptik immer mit einer Zunahme des Bösen in der Endzeit; ob aber den Gläubigen Geduld und Leidensbereitschaft abverlangt werden oder aber Kampf gegen das Böse bis zum Tod gegen die gottlosen Mächte, ist völlig offen und muss von den Gläubigen entschieden werden. Vorschnelle Anwendung von Gewalt kann aus einer duldsamen Gemeinschaft eine gewalttätige werden lassen. Angesichts dieser Untersuchung muss man ernsthaft damit rechnen, dass die Gewalttätigkeit von Religionsgemeinschaften ihren Ort in einem Handlungsverlauf hat, dass die zugrunde liegenden Konflikte sich auf das soziale Band der Religionsgemeinschaft beziehen und dass an der Eskalation Träger staatlicher Gewalt maßgeblich beteiligt sein können.

Der Nahostkonflikt: von einem Krieg zwischen Staaten zu einem zwischen religiösen Gemeinschaften

Auch für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gilt, dass religiöse Gewalt in einem Handlungsverlauf entstand. Der Konflikt um das von Israel 1967 besetzte palästinensische Territorium wurde nicht nur in Begriffen des Völkerrechts ausgetragen, sondern auch mit religiösen Ansprüchen. Nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg verlangten die Vereinten Nationen, dass sich die Staaten der Region gegenseitig anerkennen und dass Israel seine Streitkräfte aus Gebieten, die es während des jüngsten Konfliktes besetzt hat, zurückzieht. Doch ließen die Resolutionen offen, ob Israel nur besetzte Gebiete oder die besetzten Gebiete insgesamt räumen sollte. Der Streit darüber fiel in eine Zeit, als in Israel religiöse Zionisten die Eroberung der einst zum biblischen Land gehörenden Gebiete von Judäa und Samaria als Auftakt der messianischen Wiederherstellung deuteten und im verheißenen Land Siedlungen anlegten.

Die zionistische Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina war lange Zeit gerade nicht religiös begründet worden. Orthodoxe Juden hielten sie für eine Angelegenheit ausschließlich des Messias. Zwar war es Juden religiös gestattet, in Palästina leben – doch nur, um die Tora zu studieren; wenn sie aber das Land bewirtschafteten, würden sie unzulässig das Ende herbeizwingen wollen. Jedoch gab es im Lager der Orthodoxen einen Rabbiner, Abraham Isaak Kuk (1865-1935), der das säkulare zionistische Vorhaben geschichtsphilosophisch deutete. Der Messianismus schreite unabhängig von den säkularen Absichten der Akteure voran. Als dessen Sohn Rabbi Zvi Yehuda Kuk (1891-1982) wenige Tage vor dem Sechstagekrieg in einer Predigt unvermittelt in eine Klage darüber ausbrach, dass Hebron, Sichem, Jericho und Anathot 1948 bei der Teilung des Britischen Mandatsgebietes von Israel losgerissen worden seien, und nur wenige Tage später die Truppen Israels dieses Unglück ungeschehen machten, wurde er zu einem fast biblischen Propheten. Aus dieser Sicht war der Sechstagekrieg ein »Krieg der Erlösung«. Anhänger seiner Schule legten gegen eine zögernde Regierung der Arbeiterpartei Siedlungen in den besetzten Gebieten an. Als 1977 die rechtsgerichtete Likudpartei an die Macht kam, nahm die neue Regierung die Siedlungsaktivitäten selber in die Hand. Der sog. »Block der Getreuen« ging in den besetzten Gebieten nicht selten mit Gewalt und mit Unterstützung der Armee gegen sich widersetzende Palästinenser vor. Ehud Sprinzak, ein israelischer Politikwissenschaftler, zählte 3.000 Fälle von kommunalen Konflikten zwischen Siedlern und Palästinensern, bevor 1987 die Intifada losbrach (Sprinzak 1991, S.148). Die Rückgabe von Teilen des biblischen Landes im Zusammenhang mit einem Friedensvertrag betrachteten sie als Abfall vom Glauben. Als Ministerpräsident Yitzhak Rabin dazu ernsthafte Bereitschaft zeigte, wurde er 1995 von einem Theologiestudenten der Universität von Bar Ilan als Verräter ermordet.

Ähnliche Entwicklungen in der Deutung des Konfliktes gab es auf Seiten der Palästinenser. Die PLO begründete ihren Widerstand gegen Israel noch mit einem Kampf gegen den Imperialismus. Anders die Muslim-Brüder, die die Zeit für den bewaffneten Kampf gegen Israel noch nicht für gekommen hielten. Erst müsse die palästinensische Gesellschaft islamisiert werden, was sie mittels des Aufbaus sozialer Institutionen wie Moscheen, Schulen, einer Universität, Bibliotheken, Krankenhäusern und Entwicklungsgenossenschaften vorantrieben. Israel ließ sie als unpolitisches Gegengewicht zur PLO gewähren.

Als sich aber 1987 Palästinenser in den besetzten Gebieten gegen Israels Kriegsrecht erhoben, wollte das Oberhaupt der Muslim-Brüder die Koordination der Erhebung nicht den nationalen Kräften überlassen und rief im Dezember 1987 die »Islamische Widerstandsbewegung« (harakat al muqawama al-Islamiyya) ins Leben. Ihre Abkürzung Hamas bedeutet »Eifer«. Schon im ersten Kommunikee schlug sie andere Töne an. Die von der israelischen Armee Erschossenen seien Märtyrer auf dem Weg Gottes; ihr Tod sei ein Ausdruck für den Opfergeist der Palästinenser, die das ewige Leben mehr liebten als ihre Gegner das irdische. Sie werde den Banner Gottes über jedem Zipfel Palästinas aufpflanzen, heißt es in Artikel 6 ihrer Charta. „Die Muslime der Eroberungszeit haben [Palästina] den muslimischen Generationen bis zum Tag der Auferstehung als (unveräußerliches; HGK) waqf [Stiftungsland] übertragen“ (Art. 11). Darüber kann nicht verhandelt werden. Als dann auch nach den Oslo-Abkommen der Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten weiterging und im Oktober 2000 der Oppositionsführer Ariel Scharon den von Muslimen verwalteten Tempelberg mit einer bewaffneten Eskorte betrat, um den jüdischen Anspruch auf diesen von Muslimen verwalteten Bezirk zu demonstrieren, brach die zweite Intifada aus, die anders als die erste vor allem wegen der Märtyreroperationen gegen israelische Soldaten und Zivilisten ungleich blutiger verlief.

Der Übergang zum Religionskrieg hat auch vor den USA nicht halt gemacht. Unter Präsident Jimmy Carter hatte das Außenministerium noch die Vierte Genfer Konvention bekräftigt und die Errichtung jüdischer Siedungen in den von Israel besetzten Gebieten für illegal erklärt. Der neu gewählte amerikanische Präsident Ronald Reagan beurteilte den Sachverhalt plötzlich anders. Die Siedlungen seien nicht illegal. Es handele sich nicht um »besetzte«, sondern um »umstrittene« Gebiete; nicht nur Palästinenser, auch Israel habe berechtigte Ansprüche auf sie. Die Idee einer Wiederherstellung Israels im Heiligen Land konnte bei der neuen Regierung auf Verständnis rechnen. Die Bevorzugung von Ansprüchen Israels darf man jedoch nicht nur in Verbindung mit der jüdischen Lobby sehen. Sie wird auch von einem bestimmten Typus von Protestantismus genährt. Protestanten dieser Richtung glauben, dass die biblischen Verheißungen an Israel nicht an das Volk der Christen und damit die Kirche übergegangen sind – was in der christlichen Theologie sonst eine verbreitete Auffassung ist -, sondern dass sie nach wie vor dem jüdischen Volk gelten. Gegenwärtig habe der Prozess der Wiederherstellung Israels begonnen; die Geschichte stehe kurz vor dem Beginn des letzten Millenniums. Die politischen Ereignisse rund um die Gründung des Staates Israel sind wie der Zeiger auf der apokalyptischen Uhr. Als einen der nächsten Schritte erwarten diese Protestanten die Wiederherstellung des Jüdischen Tempels, nachdem zuvor der islamische Felsendom zerstört worden ist. Romane und DVDs (»Left behind«) haben diese Geschichtsauffassung so sehr populär gemacht, dass heute vierzig bis fünfzig Millionen Amerikaner mit ihr sympathisieren und ein Wählerreservoir darstellen, das die Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush für sich mobilisieren konnten.

Globaler Jihadismus

Fälschlich wird der globale Jihadismus z.B. von al-Qa'ida mit den Gewaltakten von Hamas in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber operiert er auf der Basis einer anderen Definition der heutigen Lage des Islams. Für seine Vertreter ist die gegenwärtige Welt einschließlich der islamischen Länder so sehr von der gottlosen Kultur des Westens verdorben, dass der wahre Islam nur noch an einem einzigen Ort anzutreffen ist: in der reinen Intention der wenigen verbliebenen wahren Gläubigen. Wie der Prophet Mohammed in einer ähnlichen Situation überfallartige Kriege (ghazwas; »Razzia«) gegen die Feinde führte, so inszenierten die Jihadisten den Anschlag vom 11. September 2001. Ihre Gründe, die USA anzugreifen, finden sich in einer Erklärung der »Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler«: die Besetzung der arabischen Halbinsel und der dort liegenden heiligsten islamischen Stätten durch amerikanische Truppen; das Embargo gegen den Irak, das vielen Menschen das Leben gekostet hat; die Zerstückelung des Irak sowie anderer Staaten der Region in wehrlose Kleinstaaten, um Israels Überlegenheit über die arabischen Nachbarstaaten zu garantieren. Diese Handlungen seien eine Kriegserklärung an Gott. Es sei jetzt die individuelle Glaubenspflicht eines jeden Muslims in jedem Land, Amerikaner und ihre Verbündeten, Zivilisten und Militärs zu töten, um die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Heilige Moschee von Mekka aus ihrer Gewalt zu befreien, sodass sich alle ihre Armeen aus der islamischen Welt zurückziehen, besiegt und unfähig, noch irgendeinen Muslim zu bedrohen (Lawrence 2005, S.61). Tatsächlich angegriffen am 11. September 2001 wurden gezielt die Machtzentren der USA: das ökonomische im World Trade Center, das militärische im Pentagon und das politische im Capitol, das wegen des Absturzes der Maschine in Pennsylvania nicht getroffen wurde; doch wurde der Tod zahlloser unschuldiger Zivilisten dabei billigend in Kauf genommen.

Die Dämonisierung des Feindes

Der Übergang zum Religionskrieg hat sich in neuen Definitionen des Feindes niedergeschlagen. 1977 sah ein Zusatzprotokoll (I) zur Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen vor, dass auch Menschen, die „gegen Kolonialherrschaft, fremde Besetzung und rassistische Regime in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, kämpfen“, in den Genuss des Schutzes kommen sollten. Damit hatten auch palästinensische Widerstandsorganisationen ein Anrecht auf Behandlung entsprechend den Genfer Konventionen – vorausgesetzt, sie hielten sich selber daran. Diese neue Rechtslage rief in Israel und den USA heftige Gegenreaktionen hervor. Zwei Konferenzen in Jerusalem und Washington hatten die erklärte Absicht, die „Vorstellung, dass des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist“ zu widerlegen. „Das ist es, was die Terroristen uns glauben machen wollen“. Man müsse Terrorismus anders definieren: als absichtliche und systematische Ermordung, Verstümmelung und Bedrohung von Unschuldigen, um aus politischen Gründen Furcht zu verbreiten (Netanyahu, 1986).

Diese neue Definition setzte sich bald durch. Wer heute von Terroristen spricht, lässt bei den Zuhörern jeden Wunsch schwinden, etwas über die Gründe ihres Handelns erfahren zu wollen; er lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, ob vielleicht die Politik der eigenen Staaten zu dem Entstehen der Erscheinung mit beigetragen haben könnte; er suggeriert, es sei widersinnig, mit solchen Menschen überhaupt zu verhandeln; Terroristen seien moralische Nihilisten und stünden außerhalb der Rechtsordnung. Betrachtet man aus dieser Sicht Hamas oder auch den globalen Jihadismus, ist der Terrorbegriff, wie er in der französischen Revolution gebildet wurde, tauglicher. Terror sei, so Robbespierre, „nichts anderes als strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend“. Nicht ein Mangel, sondern ein Übermaß an Moralität treibt Hamas und die Jihadisten. Der neue Terrorbegriff lässt die Ambivalenz des Umstandes, dass Menschen für berechtigte Anliegen mit verwerflichen Mitteln kämpfen, verschwinden. So schwer es fällt, es anzuerkennen: der verbrecherische Gewalttäter und der Märtyrer für eine heilige Ordnung können dieselbe Person sein.

Eine gleiche Veränderung des Feindbildes finden wir bei Hamas. Auch sie eliminiert alle einhegenden Momente des internationalen Kriegsrechtes zu Gunsten einer Dämonisierung des Feindes. In ihrer Charta beschwört sie in Art. 7 eine Propheten-Überlieferung, die einen Kampf der Muslime mit den Juden am Ende der Zeit voraussieht (Oliver/ Steinberg, 2005, S.19-24), und greift die antisemitische Verschwörungstheorie der »Protokolle der Weisen von Zion« auf. Graffiti, Videos und Flugblätter dämonisieren Juden in Anlehnung an Koran Sure 5, 60 als „Söhne von Affen und Schweinen“, malen ihr Ende sadistisch aus und schwelgen in der Vorstellung, welche Angst ihr Herz beim Anblick eines „lebenden“ Märtyrers erfasst (Oliver/ Steinberg, 2005, 72-76). Häufig wird in diesem Zusammenhang von Antisemitismus gesprochen. Doch ist diese Begriffsbildung eher irreführend, da es vor dem Nahost-Konflikt im Islam keinen Antisemitismus wie in Europa gab. Auch war der Antizionismus nicht rassistisch, obwohl man sehen muss, dass im Laufe des Konfliktes die Unterscheidung zwischen Zionisten und Juden häufig verschwand. Es war dieses Verschwinden, das die Bürger Israels darin bestärkt, in der Feindschaft der Palästinenser die Manifestation eines altbekannten Antisemitismus wiederzuerkennen.

Religiöse Handlungsoptionen jenseits von Gewalt

Die neuen Formen gewalttätiger gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. Erleichtert wird ihre Existenz dadurch, dass bestehende Rechtsformen es Laien erlauben, religiöse Vereinigungen unabhängig von staatlichen Privilegien sowie von traditionellen religiösen Institutionen oder Autoritäten zu gründen. In diesen Vereinigungen werden aktuelle Probleme, drängende Sorgen, demütigende Erfahrungen und hochgespannte Erwartungen der Religionsangehörigen intellektuell und solidarisch bewältigt. Verbreitet haben sie sich vor allem dort, wo staatliche Ordnungen in Krisen und Kriegen zerbrechen, und Sozialstaatlichkeit schwach oder gar nicht ausgebildet ist. Wo weder der Staat, noch verwandtschaftliche oder tribale Loyalitäten den Einzelnen Sicherheiten in Notlagen verheißen, wird die Brüderlichkeitsethik religiöser Gemeinschaften zu einem begehrten Sozialkapital.

Die neuen Formen gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. In ihnen sind jedoch mehr Optionen angelegt, als Bezeichnungen wie Kult, Fundamentalismus oder Terrorismus erwarten lassen. Neben dem Aufruf zur Aktion stand immer gleichwertig das Lob der Geduld; neben einer kriegerischen Gesinnungsethik die Verantwortung für die soziale Gemeinschaft insgesamt. Die Geschichte des jüdischen Monotheismus liefert Beispiele dafür, dass Gläubige mit Gottlosen Verträge abschließen konnten, vorausgesetzt sie dienten dem Wohl der Gemeinschaft. Unbeirrt von diesen Optionen gegen Hamas Krieg zu führen und palästinensische Hilfsorganisationen, die über die Muslim-Brüder und damit Hamas Mittel in den besetzten Gebieten an Bedürftige verteilen lassen, zu kriminalisieren, lässt Feindschaft und Hass von Seiten der Palästinenser und der Muslime allgemein nur weiter eskalieren. Auch Zyklen der Gewalt sind Handlungen, die voraussetzungsreich sind und daher nicht notwendig. Die Beziehung von Religion und Gewalt ist weder unmöglich, noch zwingend notwendig; sie ist kontingent.

Der vorliegende Beitrag stützt sich auf das kürzlich im Verlag C.H. Beck erschienene Buch von Hans G. Kippenberg „Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung“.

Literatur

Assmann, Jan (1998): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München.

Assmann, Jan (1987): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München.

Hall, John R. (1987): Gone from the Promised Land: Jonestown in American Cultural History. New Brunswick & London.

Sullivan, Lawrence E. (1996): No longer the Messiah': US Federal Law Enforcement Views of Religion in Connection with the 1993 Siege of Mount Carmel near Waco, Texas, in: Numen 43 (1996), S.213-234.

Hall, John R.; Schuyler, Philip D.; Trinh, Sylvaine (2000): Apocalypse Observed: Religious Movements and Violence in North America, Europe and Japan. London & New York.

Lawrence, Bruce (Hrsg.) (2005): Messages to the World. The Statements of Osama bin Laden. Translated by James Howarth. London & New York 2005.

Netanyahu, Benjamin (Hrsg.) (1986): Terrorism. How the West Can Win. New York.

Oliver, Anne Marie & Steinberg, Paul F. (2005): The Road to Martyrs' Square. A Journey into the World of the Suicide Bomber. Oxford.

Rosenfeld, Jean E. (2000): A Brief History of Millennialism and Suggestions for a New Paradigm for Use in Critical Incidents, in: Wessinger, Catherine (Hrsg.): Millennialism, Persecution, and Violence. Historical Cases. Syracuse & New York, S.347-351.

Sprinzak, Ehud (1991): The Ascendance of Israel's Radical Right. New York.

Prof. Dr. Hans G. Kippenbergs ist Professor für Religionswissenschaften am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt.

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

Die Hindu-nationalistische Bewegung zwischen Machtverlust 2004 und Neuwahlen 2009

von Uwe Skoda

Durch den gewaltsamen Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya 1992, durch den Regierungsantritt 1998 und die unmittelbar folgenden ersten offiziellen Atomtests sowie durch das anti-moslemische Pogrom im Bundesstaat Gujarat 2002 geriet die Hindu-nationalistische Bewegung in Indien international in die Schlagzeilen, sorgte gleichermaßen für Aufsehen und Entsetzen. Mit der Niederlage der Hindu-nationalistischen »Indischen Volkspartei« (Bharatiya Janata Party/BJP) und ihrer Allianzpartner bei den Unionswahlen 2004 wurde es dagegen vergleichsweise still um diese politisch-religiöse Bewegung. Nachrichten über die boomende Wirtschaft des »erwachenden Elephanten« und über die bunte, aber wenig repräsentative Bollywood-Welt bestimmen stattdessen das aktuelle Indienbild. Was aber ist aus dem Projekt zur Schaffung einer »Hindu-Nation« geworden? Wohin steuern die BJP und die Hindu-nationalistische Bewegung vor den nächsten Wahlen 2009?

Nach dem Verlust der Regierungsmacht auf nationaler Ebene sind die ausgesendeten Zeichen durchaus widersprüchlicher Natur. In der »Doppelzüngigkeit« bzw. Polyphonie – hardline-Ideologie mit moderateren Tönen gemischt – dürfte eine Ursache des Erfolges der Bewegung zu finden sein und hierin liegt auch eine Kontinuität. Auf eine inklusivere Strategie der Partei scheint in den letzten Jahren die häufigere Verwendung des Konzeptes »Bharatiyata« (Indianness/Indientum) zu deuten, das gerade vom früheren Premierminister A.B. Vajpayee und dem ehemaligen Vize-Premier und jetzigen Oppositionsführer L.K. Advani aufgegriffen und gegenüber dem Begriff »Hindutva« (Hindutum) stärker akzentuiert wird. Anfang des 20.Jh. hatte V.D. Savarkar, Begründer und Vordenker der »Hindutva«-Ideologie einen Hindu als „jede Person“ definiert, „die dieses Land Bharat Varsha, vom Indus bis zu den Meeren als Vaterland und heiliges Land, d.h. als Wiege seiner Religion“ betrachtet1, wodurch er auf geschickte Weise Jainismus, Buddhismus und Sikhismus einschloss, während gleichzeitig Islam und Christentum als »Andere« ausgeschlossen werden, da deren Heiligtümer außerhalb Indiens liegen. In den letzten Jahren argumentiert Vajpayee dagegen, dass „Hindutva umdefiniert worden sei und nun Bharatiyata meine“ 2, ohne genau zu erklären, was es nun bedeutet. Möglich erscheint ein verstärkt territorialer Bezug der Identitätsbildung gegenüber den Abgrenzungen auf religiöser Ebene, aber es kann letztlich nur spekuliert werden, ob es sich nicht schlicht um einen »Etikettentausch« handelt, um die Ideologie für neue Wählerschichten und Allianzpartner salonfähiger zu machen. Denn während einerseits Advani beteuert, die Ideologie der BJP werde heute besser durch den Begriff »Bharatiyata« ausgedrückt, denn die Partei müsse „aggregative“ (zusammenfügend) und „inclusive“ sein3, kann man andererseits auf der Homepage der BJP lesen: „Wir wiederholen, dass für die BJP »Hindutva«, »Bharatiyata« and »Indianness« synonyme Begriffe sind.“ 4, was nicht auf ein Abrücken von früheren Positionen schließen lässt.

Offenbar steht eine solche Begriffsverschiebung im Zusammenhang mit zögerlichen Versuchen insbesondere Vajpayees, die Parteibasis zu erweitern und unter bestimmten Umständen auch Moslems zu integrieren. So erhielt Najma Heptullah, langjährige Congress-Politikerin, ehemalige Vize-Präsidentin des Oberhauses und Großnichte des Freiheitskämpfers Maulana Abdul Kalam Azad, nach ihrem Parteiwechsel 2004 ein BJP-Mandat für das Oberhaus und wurde 2007 gar zur BJP-Kandidatin bei der Wahl um das Amt des indischen Vizepräsidenten auserkoren – allerdings eine Nominierung mit eher symbolischem Wert und vergleichsweise geringen Chancen, tatsächlich ins Amt gewählt zu werden.5 2002 hatte die Partei – auch mit Blick auf die wichtigen Allianzpartner innerhalb der National Democratic Alliance (NDA) – bereits dem angesehenen Luftfahrtingenieur AJP Abdul Kalam, ebenfalls Moslem, zum Präsidentenamt verholfen.

Das Image des Hardliners relativieren

Der Besuch Advanis in seiner Heimatstadt Karachi im heutigen Pakistan im Juni 2005 und die dortige, später kontrovers diskutierte Rede können als Versuch gelesen werden, sein durch die Ayodhya-Kampagne erworbenes Image als Hindu-nationalistischer Hardliner – gerade im Gegensatz zu dem als moderater angesehenen Vajpayee – wenigstens zu relativieren. In einer emotionalen Rede stellte Advani den pakistanischen Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah, dessen Grab er ebenfalls besuchte, zumindest in Teilen seiner politischen Biographie als säkularen Politiker und gar als „Vertreter hinduistisch-muslimischer Einheit“ dar. Mehr noch, er erteilte der Idee eines »Groß-Indien« (Akhand Bharat) eine Absage, erkannte die Existenz des pakistanischen Staates an und bezeichnete gleichzeitig die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya als „traurigsten Tag in seinem Leben“.6 Mit diesen Äußerungen stand er gleich in mehrfacher Hinsicht im Konflikt mit Grundsätzen des Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligen Corps/RSS). Die bereits 1925 gegründete Kaderorganisation der Bewegung, personell und logistisch eng mit der BJP und anderen Organisationen der »Sangh-Familie“ auch im Ausland verflochten, sieht in Jinnah den Protagonisten eines moslemischen Separatismus, der zur Teilung des Subkontinents führte.

Allerdings könnte es Advani mit seiner Preisung Jinnahs auch darum gegangen sein, indirekt einen solchen Kommunalismus, d.h. die Ideologie, wonach Menschen einer Religionsgemeinschaft auch die gleichen sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Interessen teilen, zu rechtfertigen. In jedem Fall folgte auf die Rede, vermutlich auf Druck des RSS zunächst der Rücktritt Advanis vom Amt des Parteichefs, den er zwar Tage später zurücknahm, das er aber Ende 2005 schließlich an Rajnath Singh übergab. Dieser – langjähriger »Parteisoldat« der jüngeren Generation mit bäuerlichen Wurzeln in Uttar Pradesh – führt die Partei seither in einer Art Troika – mit Advani als designiertem Spitzenkandidaten für die Unionswahlen und dem sich gesundheitsbedingt zunehmend zurückziehenden Vajpayee als »elder statesman«. Der Rücktritt Advanis vom Amt des Parteivorsitzenden warf wiederum die alte Frage auf, wie unabhängig die BJP vom RSS ist oder ob sie nicht vielmehr von diesem »ferngesteuert« wird. Die Frage verliert allerdings an Brisanz, wenn man berücksichtigt, dass alle drei Politiker und viele weitere Funktionsträger der BJP langjährige Mitglieder des stark hierarchischen RSS sind.

Eine Öffnung für neue Wählerschichten erscheint auch mit Blick auf eine seit langem angestrebte Südausdehnung der Bewegung geboten. Erst 2008 gewann die BJP erstmals einen Bundesstaat im Süden, d.h. in Karnataka – mit einer Wahlkampagne, die neben spezifischen regionalen Faktoren »Development« statt »India Shining« oder Hindutva in den Vordergrund rückte. Allerdings lag der absolute Stimmenanteil des Congress immer noch leicht höher als der BJP-Anteil, was sich aber unter den Bedingungen des indischen Mehrheitswahlrechts nicht in Parlamentssitzen niederschlug. In anderen Südstaaten mit relativ stabilen Zweiparteien- bzw. Zweiallianzen-Systemen dürften Wahlerfolge noch schwieriger sein. Abgesehen von Karnataka lässt sich eine Verbreiterung der Basis nur in den Stammesgebieten Zentralindiens erkennen, wo sich der RSS und insbesondere die 1952 gegründete Unterorganisation Vanvasi Kalyan Ashram (VKA) um Anhängerschaft bemühen – u.a. durch die Gründung eigener Schulen. Im Hindu-nationalistischen Diskurs gilt die Stammesbevölkerung weniger als Ureinwohner (Adivasi) mit eigenen religiösen Ideen und Praktiken, sondern primär als Waldbewohner (Vanvasi), die den Bezug zum »Mainstream-Hinduismus« verloren hätten bzw. konvertiert seien. Sie müssten nun zum Hinduismus, präziser zu einer vom RSS propagierten Form des Hinduismus »re-konvertiert« bzw. zurück »in den Schoß der (primordialen) Hindu-Gemeinschaft« geführt werden, deren Schaffung Ziel der Bewegung ist. Die kommunalistischen Gewaltexzesse zwischen Hindu-Nationalisten und Christen in den bergigen Stammesgebieten Orissas Weihnachten 2007, bei denen mehrere Tote zu beklagen waren, stehen in Zusammenhang mit diesen Bestrebungen. Während die BJP unter Stämmen zwar an Einfluss gewinnt, schwindet er in der Gangesebene, im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh, wo die Partei bei den Wahlen 2007 nur den dritten Platz belegte, während sie in den meisten anderen Bundesstaaten des Hindi-Gürtels Nordindiens die Regionalregierung stellt oder daran beteiligt ist und in Gujarat unter Narendra Modi auch dem Pogrom 2002 gar ein drittes Mal in Folge alleine siegreich war.

Schattenseiten des Sieges

Doch die Siege auf Unionsebene (1998-2004) sowie in vielen Bundesstaaten haben auch eine Schattenseite. Es wird für die Partei zunehmend schwieriger, sich als »party with a difference«, als disziplinierte Kaderpartei, zu präsentieren. Advani selbst charakterisierte seit 2004 diese Entwicklung als »Congressisierung« der BJP und meinte damit vor allem eine zunehmende Ausbildung von Fraktionen (factionalism) bzw. Machtkämpfe in der Partei, eine verbreitete Kriecherei (sycophancy) und die wachsende Korruption bzw. eine mangelnde Integrität der Politiker.7 Ihren vermutlich größten, aber bei weitem nicht alleinigen Korruptionsskandal hatte die Partei bereits 2001, als ihr damaliger Parteivorsitzender Bangaru Laxman bei der Annahme von Schmiergeldern gefilmt wurde. Die Rivalitäten innerhalb der BJP sind schon länger sichtbar – insbesondere zwischen Advani einerseits und der charismatischen Populistin und ehemaligen Ministerin und Ministerpräsidentin von Madhya Pradesh, Uma Bharti, andererseits. Bharti, eine Mischung aus politischer Asketin, »firebrand leader« und »Hindutva's postergirl« mit OBC-Hintergrund8, einst neben Advani führende Protagonistin der Ayodhya-Bewegung und heute ebenso wie Advani daher Angeklagte im noch immer andauernden Gerichtsprozess um den Abriss der Moschee, verließ schließlich die BJP, um 2006 ihre eigene Partei, die Bharatiya Janshakti Party zu gründen. Diese beansprucht, die »wahre« Partei zu sein, die keine Kompromisse bezüglich der Ideologie mache und sich für »Rashtravad« (Nationalismus) einsetze. Ihr Austritt bildet die erste signifikante Spaltung der Partei auf nationaler Ebene, während sich gleichzeitig auch einer der ältesten und treuesten Allianzpartner der BJP, die ebenfalls nationalistisch orientierte Shiv Sena, spaltete. Inwiefern diese Spaltungen die gesamte Bewegung schwächen werden, bleibt abzuwarten – interne Dissidenten schadeten der Partei bisher, z.B. bei den Wahlen in Gujarat, ebenso wenig wie Bhartis neue Partei.

Trotz der Erfolge der BJP in verschiedenen Regionalwahlen der letzten Jahre ist nicht zu übersehen, dass die früheren Mobilisierungsstrategien – insbesondere die »Yatras« bzw. Wagenprozessionen in Anlehnung an mythisch-religiöse Vorbilder – im Vergleich zu den 80er und 90er Jahre nicht mehr die Breitenwirkung erzielen, auch wenn sie weiterhin ein wichtiges Instrument der politischen Kultur bleiben werden. So wurde im April 2006 eine Kampagne für die Sicherheit Indiens, betitelt als »Bharat Suraksha Yatra«, zeitgleich von L.K. Advani und Rajnath Singh in verschiedenen Landesteilen gestartet.9 Anlass dieser Agitation gegen die Regierung waren Bombenanschläge in Varanasi. Mit der Ermordung von Pramod Mahajan, eines führenden BJP-Politiker und Parteiorganisators, wurde die Kampagne abgebrochen, wobei das relativ geringe Interesse der Bevölkerung an der »Yatra« die Entscheidung zumindest erleichtert haben dürfte.

Auch die Agitation der Partei gegen das sogenannte Sethu Samudram Projekt im Herbst 2007 konnte nur kurzfristig Anhänger mobilisieren. Dieses Regierungsvorhaben zur Schaffung einer Schiffsfahrrinne durch die flache Palk Street zwischen Indien und Sri Lanka soll einen direkten Gütertransport zwischen den indischen Küsten, d.h. ohne Umweg um Sri Lanka, ermöglichen. Hindu-Nationalisten dagegen deuten die lose Kette aus Sandbänken, Riffs und Untiefen zwischen beiden Ländern als Brücke (»sethu«), die Lord Ram mit seinen Helfern erbaut habe, um seine Frau Sita aus den Fängen des in Lanka beheimateten Dämon Ravan zu retten. Das Projekt zerstöre somit ein historisches Monument von nationalem Rang. Die Sangh Parivar hoffte dabei, an ihre früheren erfolgreichen Kampagnen bezogen auf Lord Ram und seinen vermeintlichen Geburtsort Ayodhya anknüpfen zu können. Eine »eigene« Hindu-Geschichte, elementarer Bestandteil der Schaffung einer Hindu-Identität, sollte auch hier durch eine Fokussierung auf Lord Ram bzw. Ram Sethu als Kristallisationspunkt verdinglicht werden. Wurden in Ayodhya Mosleme als Fremde, Andere, Eindringlinge und Unterdrücker dargestellt und die Geschichte Ayodhyas als Hindu-Moslem-Antagonismus gedeutet, so ging nun nach Hindu-nationalistischer Lesart die Bedrohung von einer pseudo-säkularen Regierung aus, die Minderheiten mit Privilegien beschwichtige und die Gefühle von Millionen Hindus verletze. Die Hoffnung auf Breitenwirkung der Kampagne erfüllte sich vermutlich aber auch deswegen nicht, weil die BJP in ihrer Regierungszeit selbst an der Umsetzung des Projektes, dessen Wurzeln bis in die Kolonialzeit zurückreichen, mitgewirkt hatte. Allerdings spielte der Congress in der Debatte eine bestenfalls als ungeschickt zu bewertende Rolle, indem er die auf wissenschaftliche Gutachten gestützte Erklärung bezüglich der natürlichen Ursprünge der vermeintlichen Brücke wieder zurückzog und damit der BJP Auftrieb verschaffte.10

Auch wenn die Resonanz auf die Kampagne zur Rettung von Ram Sethu bescheiden ausfiel, ist die Sangh Parivar mit ihren Unterorganisationen dennoch in der Lage, jeder Zeit Gruppen von Aktivisten oder/und Schlägern (»goondas«) zu mobilisieren, die auch vor gewalttätigen Angriffen nicht zurückschrecken. So geschehen beispielsweise im Fall von M.F. Husain, einem der bekanntesten Maler Indiens. Ihm wurde von fanatischen Nationalisten u.a. vorgeworfen, als moslemischer Künstler hätte er mit der obszönen Darstellung einer nackten Frau in Verbindung mit den Umrissen Indiens – gedeutet als Göttin Bharat Mata (Mutter Indien) – bewusst Hindus verletzt. Auch wenn antike Tempelskulpturen Göttinnen ebenfalls häufig nackt darstellen, wurde Husain dennoch mit Klagen überzogen; Galerien, die seine Werke ausstellen wollten, wurden bedroht und er selbst ins Exil getrieben. Im vergangenen Monat wies der Delhi High Court zwar alle Klagen gegen Husain als unbegründet ab, aber es bleibt dennoch die Frage, warum untergeordnete Gerichte die Verfahren überhaupt annahmen und es bleibt die Gefahr neuerlicher Attacken, die jeweils als spontane Ausbrüche eines vermeintlichen Volkszornes inszeniert werden.

Ambivalenz des Hindu-Nationalismus

Hindu-Nationalisten fokussieren dabei immer wieder auf eine vermeintliche Herabwürdigung von Hindus – das angebliche Sakrileg von Husain wird dabei als Teil eines andauernden Hindu-Moslem-Konfliktes verstanden – und verbinden dies mit der Besetzung öffentlicher Räume, einschließlich medialer Räume, als permanenter, eigener Machtdemonstration. Ein weiteres Beispiel dieser Taktik war der gewaltsame Protest der Studentenorganisation der Sangh (ABVP) im Februar dieses Jahres an der Delhi University, wo vor den Augen von Journalisten ein Professor angegriffen und sein Büro vandalisiert wurde, weil er in seinem Kurs einen Text verwendet hatte, der angeblich Hindu-Götter diffamiere. Auch Beteuerungen, dass es Ziel der Universitäten an sich sei, kritische Auseinandersetzungen mit Texten zu lehren, ließ man nicht gelten.11 Stattdessen versuchte man hier augenscheinlich, in einem seit längerem schwelenden ideologischen Streit um Lehre und Schulbücher, insbesondere für den Geschichtsunterricht, den eigenen Positionen bzw. der eigenen Konstruktion von Geschichte durch Einschüchterungen Nachdruck zu verleihen.

Schaut man rückblickend auf die Entwicklung des Hindu-Nationalismus nach dem Verlust der Regierungsmacht auf Unionsebene so zeigt sich ein geradezu institutionalisiert ambivalentes Bild mit häufig parallelen Akzentuierungen hin zu einer national-konservativen Partei und zu faschistoiden Tendenzen. Letztere sind nach dem Pogrom in Gujarat besonders mit dem Namen Modi verknüpft, dem viele eine stärkere Rolle in der Partei, über seinen Bundesstaat hinaus, zutrauen. Gleichzeitig setzt sich die BJP, wie auch der Congress, für die bereits mehrfach diskutierte und immer wieder verzögerte sogenannte »Women's Reservation Bill« ein, d.h. für Frauenquoten im Parlament und damit für ein Empowerment von Frauen. Andererseits wird eine Rückkehr zur alten Hindutva-Agenda offen diskutiert – mit den zentralen Themen Einführung eines Uniform Civil Code, einer einheitlichen Zivilgesetzgebung ohne gesonderte Regeln für Minderheiten, und Abschaffung des Artikels 370 der Verfassung, der den speziellen Status Kashmirs innerhalb der Indischen Union behandelt. Zudem wird die vermeintlich massive Infiltration von Flüchtlingen aus Bangladesh angeprangert und die Gefahr des Terrorismus beschworen, der nur mit der Wiedereinführung drakonischer Anti-Terrorgesetze (POTA) begegnet werden könne. POTA, von der letzten BJP Regierung eingeführt und vom Congress wieder außer Kraft gesetzt, war von den Gesetzesgegnern insbesondere wegen der kommunalistischen Ausrichtung bzw. der überproportionalen Anwendung gegenüber Moslems kritisiert worden. Unklar bleibt zudem die Position der BJP gegenüber dem Nuclear Deal mit den USA, der Indien den Zugang zu ziviler Nukleartechnik und konventionellen Waffensystemen der USA ermöglichen soll, aber gleichzeitig zumindest die zivilen Nuklearanlagen unter internationale Beobachtung stellt und den Teststopp für Atomwaffen verlängert. Lehnte die Partei den Deal 2006 noch ab oder verlangte eine Neuverhandlung, so mehren sich nun Stimmen der Befürworter, darunter die des ehemaligen Sicherheitsberaters von Vajpayee, Brajesh Mishra.

In Ayodhya regiert derweil der status quo und es ist gegenwärtig weder an einen Wiederaufbau der Moschee noch an eine Errichtung des von den Hindu-Nationalisten geplanten Ram-Tempels, der in Einzelteilen bereits existiert, zu denken. Die Diversität Indiens, die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt, hat eine weitergehende Umsetzung der homogenisierenden Hindu-nationalistischen Agenda bisher verhindert. Der Widerstand geht aber häufig weniger vom Congress als vielmehr von regionalen Kräften aus. So war die eher einen tamilischen bzw. dravidischen Nationalismus verfolgende Partei Dravida Munnettra Kazhagam (DMK) bzw. ihr Vorsitzender Karunanidhi, Allianzpartner des Congress aus Tamil Nadu, schärfster Kritiker der Ram-Sethu-Kampagne der BJP. Gleichzeitig gelang Mayawati, Parteichefin der Bahujan Samaj Party (BSP) in der Gangesebene, eine neue Art des »social engineering«, wie sie es nennt, indem sie eine politische Allianz zwischen Dalits bzw. untersten Kasten im weiteren Sinne und Brahmanen (traditionellen Priesterkasten) schuf und den Einfluss der BJP in Uttar Pradesh damit deutlich schwächen konnte. Neben vielen regionalen Erfolgen bildeten die Wahlen in Uttar Pradesh die vielleicht schmerzlichste Niederlage für die BJP nach dem Machtverlust. Nichtsdestotrotz hat auch Mayawati in der Vergangenheit gezeigt, dass sie die BJP unter Umständen durchaus unterstützen kann, wenn es ihr opportun und vorteilhaft erscheint – zumal im Falle einer, angesichts steigender Lebensmittel- und Brennstoffpreise bzw. der Inflation allgemein, möglichen Niederlage der gegenwärtigen, Congress-geführten Unionsregierung bei den nächsten Wahlen.

Anmerkungen

1) Savarkar in: van der Veen, P. (1994): Religious Nationalism. Hindus and Muslims in South Asia. Berkeley: University of California Press., S.1 (Übersetzung vom Verfasser; im Original heißt es: „a person, who regards this land of Bharat Varsha, from the Indus to the Seas, as his Father-Land as well as his Holy-Land that is the cradle of his religion“. »Bharat« wird im Hindi allgemein als Bezeichnung für Indien verwandt, »varsha« kann auch als »Kontinent« übersetzt werden.

2) The Hindu, 12/02/2003, http://www.thehindu.com/2003/02/12/stories/2003021204141100.htm (aufgerufen: 19/05/2008).

3) The Tribune, 10/09/2004, http://www.tribuneindia.com/2004/20040910/nation.htm#3, (aufgerufen: 19/05/2008).

4) National Convention Rajat Jayanti Nagar 28th – 30th December, 2005 RAJAT JAYANTI SANDESH, vgl. http://www.bjp25.org/newsdetails6.html, (aufgerufen: 19/05/2008).

5) Zusammen mit dem einzigen moslemischen Vize-Präsidenten der Partei, Mukhtar Abbas Naqvi, einem von insgesamt zwölf Vize-Präsidenten, wird sie als eine Art »moslemisches Aushängeschild« der BJP betrachtet.

6) Frontline, Vol. 22, Issue 13, 2005, http://www.hinduonnet.com/fline/fl2213/stories/20050701004511400.htm, (aufgerufen: 19/05/2008).

7) Times of India, 12/04/2004, http://timesofindia.indiatimes.com/articleshow/956204.cms, (aufgerufen: 19/05/2008).

8) Die administrative Kategorie OBC (Other Backward Classes) bezeichnet sozio-ökonomisch und vom Bildungsgrad her als rückständig klassifizierte Gruppen, die weder zu den sogenannten »Scheduled Castes« (Dalits bzw. »Unberührbare«) noch zu den »Scheduled Tribes« (Adivasis bzw. Stammesbevölkerung) gehören. In der gesellschaftlichen Realität handelt es sich vielfach um bäuerliche Kasten.

9) Siehe auch Skoda, U. (2006): BJP-Rath Yatra in Orissa, http://www.suedasien.info/nachrichten/471, (aufgerufen: 12/06/2008).

10) Frontline, Vol. 24, Issue 19, 2007, http://www.flonnet.com/fl2419/stories/20071005500500400.htm, (aufgerufen: 21/05/2008).

11) Tetzlaff, S. (2008): Hindu-Nationalismus, Historiographie und Haudrauf, siehe http://www.suedasien.info/nachrichten/2375, (aufgerufen: 22/05/2008).

Dr. Uwe Skoda arbeitet als Assistant Professor für South Asian Studies am Institute of History and Area Studies der Universität Århus, Dänemark.

Jüdische Identität und Nahostkonflikt

Jüdische Identität und Nahostkonflikt

von Rolf Verleger

In kaum einem anderen zeitgenössischen politischen Konflikt sind politische und religiöse (Identitäts-) Belange dermaßen ineinander verknäult wie im Israel-Palästina-Konflikt. Der Initiator einer Petition von Jüdinnen und Juden aus Deutschland für ein Ende der deutschen und der EU-Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik (»Schalom 5767«), Professor Rolf Verleger, erläutert im folgenden Beitrag seine Sicht des jüdischen Anteils an dieser Verstrickung. Dazu greift er, »dichterisch« verfremdend, auf die große Befreiungserzählung der hebräischen Bibel zurück. Vielleicht lässt sich auf diese Weise der Paradigmawechsel, der notwendig wäre, um aus dem Schlamassel herauszukommen, eindrucksvoller verdeutlichen als durch eine konventionelle Analyse.

Herr A. war schon immer ein Außenseiter gewesen. Dass er aber Ernst machen und von Hamburg aus über das große Wasser nach Westen auswandern würde, nur von einer entfernten Verwandten begleitet, das hatten seine wenigen Bekannten denn doch nicht vorausgesehen. Wider Erwarten wurde er dort als Viehzüchter erfolgreich. Nach einem kurzen heftigen Streit um Wasserrechte kam er sogar mit den Indianern zurecht; wahrscheinlich erkannte ihr Häuptling in ihm die verwandte wilde Seele. Natürlich änderte er seinen Namen und den seiner Frau, sie wollten die Vergangenheit hinter sich lassen.

Herr A. träumte immer von einer großen Nachkommenschaft. Tatsächlich aber vertrieb er seinen älteren Sohn von Haus und Hof, und den jüngeren, den I., hätte er auf einer Wanderung in einem unerklärlichen Geisteszustand fast mit der Axt erschlagen. Dass I. dies doch überlebt hatte, das prägte dieses Kind für sein ganzes Leben, und paradoxerweise schöpfte er daraus einen Lebensmut, den er auch wiederum an seine Nachkommen weitergeben konnte.

Einer von I.s Enkeln war ein ziemliches Großmaul und ging allen auf die Nerven; am Ende wurde er aber wirklich und wahrhaftig Chefberater des Kaisers von Mexiko und holte die ganze Familie zu sich – die war inzwischen schon zu einem Clan von 70 Personen angewachsen. Kaum in Mexiko angekommen, machten sie den Traum des Herrn A. wahr und vermehrten sich nach Herzenslust – gemäß der schwärmerischen Voraussicht des A. „wie der Sand am Meer und wie die Sterne am Himmel“.

Im Laufe der Zeit nahmen aber die Reibereien mit den Mexikanern zu. Diese hatten große Angst, dass sie von den Nachkommen des A. majorisiert würden, und taten prophylaktisch alles, um sie klein zu halten. Zuerst beschäftigten sie sie für Hungerlöhne auf ihren Baustellen; dann wurde ihnen auch das zu brenzlig, mit verursacht durch einige unüberlegte Gewalttaten, und sie schufen Wohnreservate für die Nachkommen des A., abgetrennt vom übrigen Mexiko durch eine Mauer, bauten fünfhundert Straßensperren und machten ihnen das Leben zur Hölle. Natürlich gab es Widerstand, aber damit wurden die Mexikaner zunächst leicht fertig.

Dann geschah aber absolut Unglaubliches: Ein zufällig am Kaiserhofe erzogener Nachkomme des A. – unbestätigten Gerüchten zufolge ein illegitimes Kind der Kaisertochter – wechselte die Seiten. Dieser M. ging in die eingemauerten Siedlungen, erklärte sich zum geistigen und politischen Führer der Unterdrückten und verlangte allen Ernstes vom Kaiser von Mexiko, die Einschließung der Stadt solle aufgegeben werden, denn die ganze Stadt wolle in die Wüste auswandern, „um dort unserem Gott zu dienen“. Natürlich war am Anfang keiner seiner unterdrückten Landsleute für einen solchen verquasten Fundamentalismus zu begeistern, aber da die Lage immer verzweifelter wurde, die alte nationalistische Führung durch die Mexikaner entweder umgebracht oder korrumpiert worden war und die Mexikaner von einer unerklärlichen Serie von Unglücken und Pannen befallen worden waren, genau so wie M. es vorhergesagt hatte, hatte er Erfolg: In einem rauschhaften kollektiven Festmahl nahm die geknechtete Bevölkerung Abschied von Mexiko, schmierte in ekstatischem Enthusiasmus sogar noch das Blut der geschlachteten Lämmer an die Türen ihrer Hütten und Häuser, und dann strömten sie alle heraus in die Wüste von Nevada, wo sie tatsächlich nicht verhungerten – sie hatten große Mengen Knäckebrot dabei; und als die mexikanische Armee auch noch wie durch ein Wunder einem Tsunami zum Opfer fiel, da erklärten sich die lange unterdrückten Nachfahren des A. nach sieben entbehrungsreichen Wochen in der Wüste bereit, dem M. und seinen neuen moralischen Vorstellungen Folge zu leisten.

Herr A. wäre begeistert gewesen, wenn er das noch miterlebt hätte, denn er hatte schon immer eine Ader für spirituelle Ideen gehabt…

Erbe und Verpflichtung

Diesen Mythos, in aller Kürze, habe ich so erzählt wie es im 1. und 2. der Fünf Bücher der Torah dargestellt wird. Gott habe ich dabei nicht erwähnt, denn Herr A. war ja der einzige, der Gott zum damaligen Zeitpunkt erkannt hatte, und auch M. musste alle anderen von der Existenz dieses Einen Gottes überzeugen. Äußere Beobachter mussten sich das Geschehen also anders zusammenreimen, damit es für sie einen Sinn ergab.

Natürlich war das große Wasser, das Herr A. überquerte, nicht der Ozean, sondern nur der Fluss Euphrat; aber er hatte diesen Fluss genau so überquert wie die Auswanderer des 19. Jahrhunderts den Ozean, nämlich auf Nimmerwiedersehen, und so wurde er zum Stammvater aller Auswanderer, die ihr Glück in der Ferne suchen. Denn als er den Fluss überquerte, wurde er zum »'iwri«, eingedeutscht zum »Hebräer«; das ist »einer von Drüben«, ein Überschreiter, ein Wanderer (siehe ausführlich bei Halter 2006).

Der Indianerhäuptling hieß Abimelech; der Brunnen, um den man sich stritt und wo man dann Frieden schloss, heißt seitdem Be'er Schewa; und die Namensänderung von Herrn A. und seiner Frau verlief von Awram und ßaraj zu Awraham und ßarah.1 Illinois oder Colorado oder Kalifornien, oder wo immer Herr A. sein Glück machte, ist das Land Kanaan, und das Land, in dem der Großsprecher, Erfinder der Traumdeutung und spätere Staatsrat für Ernährung und Finanzen Joseph seinen Clan unterbrachte, heißt in der Bibel Mizrajim, und das klingt ja für unsere Ohren wirklich mehr nach Mexiko als nach Ägypten. Und das Knäckebrot ist die Matza, das ungesäuerte Brot. Kleinere dichterische Freiheiten habe ich mir nur bei der Beschreibung der Unterdrückung erlaubt, darauf komme ich weiter unten zurück.

Der Auszug aus Ägypten ist der zentrale Mythos des Judentums. Darum wird das Pessach-Fest in jüdischen Familien seit Jahrtausenden als das wichtigste Fest begangen. Ich habe diese Tradition in meinem Elternhaus aufnehmen können. Die folgende Passage dazu ist meinem Buch »Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht« entnommen (Verleger 2008): Das schönste Fest war Pessach. Man merkte schon tagelang vorher, dass das Fest kommen würde: Das ganze Haus wurde geputzt, denn das »Chamez« – Brotkrümel, Vergorenes, Mehl – musste weg. Einen Abend vor Pessach ging mein Vater mit einer Kerze durchs Haus und suchte und sammelte die Brotstücke ein, die extra dafür ausgelegt waren. Das Brot wurde am nächsten Vormittag im Garten verbrannt, und damit war unser Haus sauerteigfrei. Und dann wurde das Essen für die zwei ßeder-Abende vorbereitet: Rosinenwein für die Kinder, Charosset, Eier, Salzwasser, Radieschen, Hühnersuppe mit Matze-Knödeln, Huhn. Wer mutig war, durfte den Meerrettich reiben. Der Tisch war weiß gedeckt, die Matza lag unter dem schönen Abdecktuch, auf jedem Stuhl lag ein Kissen, die Kerzen brannten. Jeder wusste, wie der Abend ablaufen würde, aber trotzdem musste das jüngste Kind so tun, als sei es ganz überrascht, und die vier Fragen „Ma Nischtana haLajla ha-se mikol haLejlot“ stellen – „Was unterscheidet diese Nacht von allen Nächten?“ Und darauf erzählte der ßedergebende aus dem Buch dieses Abends, der »Hagadah« (Erzählung) von der Geschichte des Auszugs aus Ägypten, der Versklavung und der Befreiung, wir tranken vier Becher Wein, aßen viel, wie es vorgeschrieben war, und sangen die traditionellen Lieder.

Was ist das Wesentliche an diesem Abend? Martin Buber (1949) erzählt die Geschichte des chassidischen Rabbi Levi Izchak von Berditschew (gest. 1809), der einmal sehr stolz darauf war, wie er den ßeder-Abend abgehalten hatte, und darauf aber eine Stimme hörte: „Worauf bist Du stolz? Lieblicher ist mir der ßeder Chajims des Wasserträgers als der deine.“ Der irritierte Rabbi ließ den Chajim suchen. Man fand ihn, einen einfachen, ungebildeten Mann, der einen schweren Rausch ausschlief und dem zunächst die Fragen des Rabbis ganz egal waren. Dann fragte ihn der Rabbi: „Wie habt Ihr den ßeder gehalten?“

Der Wasserträger sagte: „Rabbi, ich will Euch die Wahrheit sagen. Seht, ich habe von je gehört, dass es verboten ist, Branntwein zu trinken die acht Tage des Festes, und da trank ich gestern am Morgen, dass ich genug habe für acht Tage. Und da wurde ich müde und schlief ein. Dann weckte mich mein Weib, und es war Abend, und sie sagte zu mir: ‚Warum hältst Du nicht den ßeder wie alle Juden?' Sagte ich: ‚Was willst Du von mir? Bin ich doch ein Unwissender, und mein Vater war ein Unwissender, und ich weiß nicht, was tun und was lassen. Aber siehe, das weiß ich: unsre Väter und unsre Mütter waren gefangen bei den Zigeunern, und wir haben einen Gott, der hat sie hinausgeführt in die Freiheit. Und siehe, nun sind wir wieder gefangen, und ich weiß es und sage dir, Gott wird auch uns in die Freiheit führen.' Und da sah ich den Tisch stehen, und das Tuch strahlte wie die Sonne, und standen darauf Schüsseln mit Mazzot und Eiern und anderen Speisen, und standen Flaschen mit rotem Wein, und da aß ich von den Mazzot mit den Eiern und trank vom Wein und gab meinem Weib zu essen und zu trinken. Und dann kam die Freude über mich, und ich hob den Becher Gott entgegen und sagte: ‚Sieh, Gott, diesen Becher trink ich dir zu! Und du neige dich zu uns und mache uns frei!' So saßen wir und tranken und freuten uns vor Gott. Und dann war ich müde, legte mich hin und schlief ein.“

Das Judentum war über Jahrhunderte hinweg eine Ideologie der Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung, der Heilung der Welt durch Gottes Gnade. Dadurch gab das Judentum den gläubigen Menschen die Perspektive und den Lebenssinn, durch das freudige Erfüllen von Gottes Geboten diese Heilung der Welt näher zu bringen (siehe dazu ausführlich Scholem 1967).

Der traditionelle Text der Hagadah legt zum Abschluss der Erzählung des Auszugs aus Ägypten nochmals fest: In jeder neuen Generation ist es die Pflicht des Menschen, sich selbst so zu sehen, als ob er selbst aus Ägypten herauskommen konnte, denn (in der Torah) wird gesagt: „Du sollst Deinem Kind an diesem (Jahres-)Tag sagen: ‚Darum tat mir Gott das bei meinem Auszug aus Ägypten'“: Das heißt, nicht nur unsere Vorfahren alleine erlöste der Heilige Gelobt Sei Er, sondern mit ihnen erlöste er auch uns.

Sich selbst so zu sehen, dass man noch unter der ägyptischen Unterdrückung litt und auf Erlösung aus der Knechtschaft wartete, das fiel den Juden in Mitteleuropa nicht schwer, denn die Umstände im christlichen Abendland waren meistens unerfreulich, die Hoffnung auf Befreiung war da und wurde selten erfüllt. Erlösung war ein Zauberwort, und ist es geblieben bis in die Gegenwart.

Das Pessachfest sagte uns Juden auch, dass unsere traditionelle Rolle die Opferrolle ist. Und auch wenn Gott die Axt auf uns fallen lässt, so wie Herr A. zunächst glaubte, dass es ihm mit seinem Sohn Isaak von Gott befohlen worden sei, so wird doch derselbe Gott die Axt in ihrem Lauf aufhalten, so wie es bei Isaak geschah, oder zumindest wird uns Gott posthum Gerechtigkeit zuteil werden lassen und uns schließlich erlösen. Und wenn der Pharao gestern Hitler hieß, so sind wir doch heute von ihm befreit, und wegen des Verdiensts unserer teuren Ermordeten hat uns Gott die neue Erlösung geschickt, mit David ben Gurion als dem neuen Moses…

So war es bisher.

Plötzlich kann man aber, parallel zu diesem Jahrtausende alten Opfermythos, die Erzählung von der Unterdrückung im Lande Mizrajim auch ganz anders lesen. Die Hauptangst der Ägypter war ja, dass sich dieses andere Volk so vermehren würde, dass es die Mehrheit bilden könnte; dann wäre es mit dem ägyptischen Charakter des Staats vorbei. Genau diese eigene Angst vor dem Verlust des Charakters als »jüdischer Staat« (ein durchaus problematischer Begriff, s. Kap. 4 in Verleger 2008) bildet den Hintergrund der Lähmung der israelischen Politik bezüglich des besetzten Westjordanlands. Denn die Politik ist in dem Dilemma gefangen zwischen dem Wunsch nach Ausdehnung des Staatsgebiets und der demokratischen Gepflogenheit, den dann Staatsbürger Israels werdenden Bewohnern dieses Gebiets die vollen Bürgerrechte zu geben. Und so erzählt der Mythos immer noch von uns, aber nicht mehr als den Helden der Geschichte. Ich hatte in meine Wiedergabe des Mythos von der Unterdrückung nur wenige Wörter eingesetzt, schon wurden andere Assoziationen unwiderstehlich: Eine Mauer, fünfhundert Straßensperren, der Ausbruch der eingemauerten Menschen in die Wüste: »let my people go«. Die neuen Israeliten sind diesmal aus Gaza, und wieder strömen sie durch die Mauer in die Wüste, aber diesmal nicht mit dem Pessachlammbraten im Magen und dem Knäckebrot im Rucksack, sondern mit leeren Einkaufsbeuteln und leeren Benzinkanistern. Wieder sind ihre Führer Gott suchende Fundamentalisten, so wie Moses.

War also David ben Gurion der erste in einer Reihe neuer Pharaonen? Wenn aber nun Juden die Rolle Pharaos spielen, oder auch nur zu spielen scheinen, was wird dann aus dem Judentum, was wird aus unserem Mythos, aus unserer Religion, aus unserer Weltanschauung? Wen sehen wir, wenn wir uns im Spiegel betrachten?

60 Jahre Israel

Anlässlich des 60. Jahrestags der Ausrufung des Staates Israels veröffentlichte die monatlich erscheinende »Jüdische Zeitung« in ihrer Mai-Ausgabe kurze Interviews, in denen mehrere Personen auf die gleichen Fragen antworteten (u.a. Charlotte Knobloch, Micha Brumlik, Ralf Giordano). Die »Jüdische Zeitung« sieht offenbar ihre Aufgabe darin, zu einer offenen Meinungsbildung innerhalb und im Umfeld der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands beizutragen; sie sollte nicht verwechselt werden mit der wöchentlich erscheinenden »Jüdischen Allgemeinen«. Auf dem Hintergrund des hier bisher Gesagten gab ich in meinem Interview die folgenden Antworten:

Was verbindet Sie persönlich mit Israel?

Palästina war einer der Fluchtpunkte vor den Nazis für die deutsch-jüdische Verwandtschaft meiner Mutter. Ich selbst war 1960 als Achtjähriger zum ersten Mal in Israel, als ich in Jerusalem mit meinem Vater den Gerer Rebbe2 besuchte, und viele Male danach. Mein Bruder wanderte 1969 und meine Schwester 1972 nach Israel aus. So habe ich nun sechs israelische Nichten und Neffen und schon vier Großneffen und natürlich viele andere Verwandte.

Welche Bedeutung hat Israel für Ihre Identität?

Israel ist das zentrale politische Projekt des Judentums, zu dem man sich als Jude nicht gleichgültig verhalten kann. Ich fühle mich in der Tradition der zionistischen Mehrheitslinie, die das Konzept einer jüdischen Heimstätte im Vielvölkerstaat Palästina vertrat, in Abgrenzung zum »revisionistischen« Konzept eines Jüdischen Staats. Dieses Konzept lehnte die Mehrheit zu Recht ab, weil es „von der Welt nur in einem Sinn verstanden“ wurde (Weizmann, 1931 – zit. n. Krojanker 1937), nämlich dass es die Vertreibung der Araber zur Voraussetzung hatte.

Was wünschen Sie sich in Zukunft für den Staat Israel?

Ich wünsche, dass das Judentum und Israel vom nationalistischen Irrweg umkehren, der nur Leid und Gewalt produziert, hin zum Weg der Versöhnung, den Südafrika und Nordirland so erfolgreich in unseren Tagen gegangen sind. Zu diesem Ziel wünsche ich mir als erstes zwei Schritte, einen kleinen und einen großen, dann stimmt die Richtung: Der kleine Schritt ist, mit der Hamas als der gewählten palästinensischen Vertretung offiziell zu reden. Der große Schritt ist, dass Israel und wir Juden gegenüber den Palästinensern unsere historische Schuld an der Vertreibung der Araber 1947/1948 und an der folgenden Enteignung ihres Besitzes eingestehen.

Kurz darauf erfuhr ich, dass mir der Vorsitzende eines Regionalverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft den Vorwurf der »Israelfeindschaft« machte.

Anmerkungen

1) Leider kann man im Deutschen ein stimmloses S am Wortanfang nicht anders darstellen. „ßarah“ heißt „Herrin“ und ist der bekannte Vorname, dagegen heißt „Sarah“ mit stimmhaftem S „Fremde“ und ist daher im Hebräischen kein gebräuchlicher Vorname.

2) Mein Vater war sein Leben lang Anhänger dieser Rabbiner-Dynastie gewesen, die bis zum Angriff der Deutschen auf Polen im Städtchen Góra Kalwaria (Kalvarienberg, 50 km südlich von Warschau) beheimatet war und großen Einfluss in Galizien und bis nach Warschau hatte. Der „Gerer Rebbe“ ist die jiddische Verschleifung von „Góra-er Rebbe“.

Literatur

Buber, Martin (1949): Die Erzählungen der Chassidim. Zürich: Manesse.

Halter, Marek (2006): Alles beginnt mit Abraham: Das Judentum, mit einfachen Worten erzählt. München: dtv.

Krojanker, Gustav (Hrsg.) (1937): Chaim Weizmann: Reden und Aufsätze 1901-1936. Berlin: Jüdischer Buchverlag Erwin Löwe.

Scholem, Gerschom (1967): Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt: Suhrkamp.

Verleger, Rolf (2008): Israels Irrweg. Eine Jüdische Sicht. Köln: PapyRossa.

Prof. Dr. Rolf Verleger ist Psychologe am Universitätsklinikum in Lübeck. Er verfasste zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften über Gehirnprozesse beim Wahrnehmen und Handeln und war Delegierter aus Schleswig-Holstein im Zentralrat der Juden in Deutschland, von dessen vorbehaltloser Unterstützung der israelischen Gewaltpolitik er sich während des Libanonkriegs 2006 in einem Offenen Brief distanzierte.

Vereinfachen bringt nichts!

Vereinfachen bringt nichts!

von Albert Fuchs

Für die zeitgenössische atheistische Religionskritik ist Religion (u.a. auch wieder) ein in sich gewaltförmiges Wahnsystem; wenn nicht Ursache ungezählter Gewaltkonflikte, dann doch ein hoch gefährlicher Brandbeschleuniger. Und zwar Religion grundsätzlich und jeder Machart und Provenienz, insbesondere aber in ihrer monotheistischen Gestalt. Seit dem 11. Sept. 01 stimmen Künder eines Kampfes der Kulturen dieses Lied vor allem auf den Islam an.

Gewiss: Religionen besitzen ein enormes Konflikt- und Gewaltpotenzial und haben wohl alle irgendwelche Argumentationsfiguren zur Rechtfertigung von militärischer Gewalt entwickelt. Jedoch ist das nur eine Seite der Medaille; wer sie für die einzige Seite hält, verzerrt die Wirklichkeit des Religiösen. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Polemik gegen den Islam ist diese Verzerrung kaum eindrucksvoller zu verdeutlichen als durch das Verhalten der Muslime in einem der fürchterlichsten Gewaltexzesse der Geschichte, dem Völkermord von 1994 in Ruanda.

Von Anfang April bis Mitte Juli verloren in diesem nominell christlichen Land 800.000 bis 1.000.000 Menschen ihr Leben. In rund 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit wenigstens 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie moderate Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten. Bis auf die Zeugen Jehovas waren alle christlichen Gemeinschaften in den Völkermord verstrickt. In besonderem Maß wird der katholischen Kirche eine Mitverantwortung zugeschrieben; vor 1994 gehörten ihr gut zwei Drittel der Bevölkerung an und sie verfügte über enge Beziehungen zur Machtgruppe um den Hutu-Präsidenten-Habyarimana, dessen Tod infolge des Abschusses seines Flugzeugs beim Anflug auf Kigali am 6. April 1994 als Auslöser des Genozids gilt. Dagegen hatten die Muslime als Minderheit (etwa 5 Prozent der Bevölkerung) ausreichend Distanz zum politischen System. Frühzeitig warnten muslimische Geistliche vor der Hass- und Gewaltpropaganda, verurteilten Gewalt als unislamisch und koranwidrig, organisierten Not- und Flüchtlingshilfe, spionierten Hutu-Milizen aus und verhinderten Einsätze von »Todesschwadronen«. Sie begründeten ihre Hilfe, die Bedürftigen gleich welcher Stammes- oder Religionszugehörigkeit zukam, ausdrücklich mit ihrem Glauben: Dass der Koran Gewaltlosigkeit lehre und Mord als Sünde verurteile, alle Menschen als gleich betrachte und den Schutz der Schwachen und Unterdrückten fordere. Eine systematische Verwicklung in die Gewalttaten ist nicht bekannt; kein muslimischer Geistlicher wurde nach dem Sieg der Tutsi-Rebellenbewegung RPF wegen Beteiligung am Genozid vor Gericht gestellt. Im postgenozidären Ruanda forderte der Präsident die Muslime auf, andere Ruander zu lehren, wie man zusammenlebt. Führende Muslime sehen es nun als ihre Aufgabe an, zur Versöhnung von Tutsi und Hutu beizutragen, und bezeichnen diese Obliegenheit als den »dschihad« in Ruanda.

 

Das Handeln der Muslime im Zusammenhang des Genozids in Ruanda und die Terrorattacken von New York und Washington unter Berufung auf den Islam exemplifizieren die gegensätzliche Rolle, die ein und dieselbe religiöse Tradition in politischen Auseinandersetzungen zu spielen vermag. Zahlreiche analoge Beispiele aus anderen religiös-kulturellen Kontexten legen nahe, in der Konflikt- und Friedensforschung von einer grundsätzlichen Ambivalenz von Religion im Hinblick auf Krieg und Frieden auszugehen – statt mit der eingangs erwähnten fundamentalkritischen Hintergrundannahme zu operieren. Auch eröffnet erst die Ambivalenzhypothese das Feld für die Suche nach Bedingungen gewalt- oder friedensförderlicher Auswirkungen religiöser Traditionen, nach Wirkungsmechanismen sowie nach Strategien, um einerseits religionsbasierte Eskalationspotenziale zu entschärfen und andererseits religiös inspirierte Friedenskräfte zu wecken und zu stärken.

Die konkrete Forschung zum Thema »Religion, Krieg und Frieden« scheint denn auch durchgehend die Ambivalenzhypothese als Bezugsrahmen zu haben. Das besagt aber, dass die eigentliche Forschungsarbeit damit erst beginnt. Zum bisherigen Ertrag auf diesem relativ jungen Forschungsfeld sei hier nur hervorgehoben, dass inhaltliche Unterschiede zwischen den Religionen anscheinend nur eine untergeordnete Rolle spielen. Anders gesagt: Keine Weltreligion ist von sich aus besonders gewalt- oder friedensaffin; in allen Religionen können gewaltförmige wie friedensförderliche Kräfte bestimmend werden. Viel bedeutsamer als der religiös-weltanschauliche Inhalt ist etwa – wie in dem skizzierten Beispiel – das jeweilige Distanz-Nähe-Verhältnis einer religiösen Gemeinschaft zur politischen Macht. Darauf hingewiesen sei auch, dass bisher – womöglich im Kielwasser der atheistischen Religionskritik – Studien, die sich mit dem Gewaltpotenzial religiöser Traditionen auseinandersetzen überwiegen; umso erfreulicher, dass wir einen Beitrag zum Friedenspotenzial von Religionen akquirieren konnten. Schließlich erschien uns wichtig, die ebenfalls unterbelichtete psychologische Seite des Problemfeldes aufzugreifen.

Albert Fuchs

Wie friedfertig sind die Frommen?

Wie friedfertig sind die Frommen?

Christliche Religiosität und militaristische Einstellungen

von Anne-Katrin Henseler und J. Christopher Cohrs

Das Verhältnis von christlicher Religiosität und militärischer Gewalt erscheint paradox. Während die christliche Ethik von Werten wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Versöhnungsbereitschaft bestimmt ist, kam es in der Geschichte der christlichen Kirchen und bis in die jüngste Zeit oftmals zur gewaltsamen Unterdrückung von Andersgläubigen und zu erbitterten Konfessionskriegen. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nahe, in welcher Beziehung persönliche Religiosität und Einstellungen zu militärischer Gewalt stehen, wie die kollektive religionsbasierte Gewalt im Überzeugungs- und Wertsystem der christlichen Frommen verankert ist.

Bereits Mitte der 1990er Jahre wurde in W&F über den Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema „Christliche Religiosität und Militarismus“ berichtet (Zwingmann et al. 1994). Der vorliegende Beitrag knüpft daran an und macht erneut auf den Forschungsbedarf aufmerksam, der nach wie vor besteht. Dazu werden die Ergebnisse einer »klassischen« Übersichtsarbeit zum Verhältnis von christlicher Religiosität und Militarismus, der sog. Russell-Studie (Russell 1974), kurz dargestellt und dann im Lichte aktueller religionspsychologischer Forschung und Theoriebildung differenziert und diskutiert.

Bei der Russell-Studie handelt es sich um einen Forschungsüberblick zum Verhältnis von christlicher Religiosität und Militarismus, definiert als „Anerkennung oder Bevorzugung von Krieg als Mittel zur Lösung von Weltproblemen“ (Russell 1974, S.25; vgl. Cohrs 2004). Die Grundlage für diese Studie bildeten 20 sozialwissenschaftliche Forschungsarbeiten aus dem nordamerikanischen Raum, die verschiedene Aspekte von Religiosität erfassten: die Häufigkeit von Gottesdienstbesuchen, die konfessionelle Ausrichtung (Orthodoxie vs. Agnostizismus) sowie religiöse Orientierungsmuster (Orthodoxie im Sinne eines rigiden Festhaltens an christlichen Dogmen). Über die verschiedenen Arbeiten hinweg war christliche Religiosität tatsächlich mit stärkeren militaristischen Einstellungen assoziiert. Bei Menschen mit orthodoxer religiöser Orientierung zeigte sich dieser Zusammenhang besonders stark. Weiterhin waren orthodoxe christliche Religiosität und Militarismus mit Einstellungen wie Autoritarismus, Punitivität (Präferenz für harte Strafen bei Normverstößen), Intoleranz, Nationalismus und Ethnozentrismus in einem gemeinsamen Einstellungskomplex verbunden. Russell nahm daher an, dass dieser autoritär-punitive Einstellungskomplex die verbindende Grundlage für einen orthodox-christlichen Glauben und militaristische Einstellungen darstellt. Allerdings konnte Russell auch eine (kleine) Subpopulation von Christen identifizieren, bei der Religiosität eher mit einer ablehnenden Haltung gegenüber militärischer Gewalt assoziiert war. Hierbei handelte es sich größtenteils um konfessionell ungebundene Christen oder Angehörige friedenskirchlicher oder liberaler Glaubensgemeinschaften (z.B. Quäker, Unitarier).

Ein wichtiges Fazit dieser Studie besagt, dass christliche Religiosität zwar alles in allem eher mit militaristischen Einstellungen einhergeht, aber in bestimmten Fällen auch negativ mit Militarismus assoziiert sein kann. Entscheidend für die Richtung des Zusammenhangs scheint insbesondere der Charakter des religiösen Orientierungsmusters zu sein.

Zur Generalisierbarkeit der Befunde der Russell-Studie

Wie bereits von Zwingmann et al. (1994) festgestellt, wurde das Verhältnis von Religiosität und Einstellungen zu militärischer Gewalt gerade in aktuelleren Studien selten explizit untersucht. Daher werden im Folgenden auch einzelne Arbeiten erwähnt, die sich mit dem Zusammenhang von Religiosität und anderen Aspekten des von Russell beschriebenen autoritär-punitiven Einstellungssyndroms befasst haben.

Nachdem Cowdry et al. (1970) für eine nordamerikanische Stichprobe gezeigt hatten, dass christliche Schüler weniger kritisch gegenüber dem Vietnamkrieg eingestellt waren als Schüler aus konfessionslosen oder jüdischen Familien, betrachteten amerikanische Schüler aus christlichen Schulen auch den jüngsten Irakkrieg eher als gerechtfertigt und notwendig und vertraten für die heutige Zeit verhältnismäßig rechtsgerichtete und militaristische Einstellungen (Garetti & Rudnitski 2007). Des Weiteren scheinen traditionelle christliche Überzeugungen, Nationalismus, autoritäre Denkweisen und Militarismus als Bestandteile des autoritär-punitiven Einstellungskomplexes in der amerikanischen Bevölkerung nach wie vor miteinander assoziiert zu sein (Barker et al. 2008).

In europäischen Studien wurden mehrfach Zusammenhänge von christlicher Religiosität und ethnischen Vorurteilen aufgezeigt (z.B. Scheepers et al. 2002). Der Zusammenhang mit militaristischen Einstellungen ist jedoch weniger eindeutig. So konnte in einer italienischen Stichprobe kein statistisch bedeutsamer Zusammenhang zwischen Religiosität und der Bereitschaft, gegen den Irakkrieg zu demonstrieren, gefunden werden (Roccato & Fedi 2007). Auch die Daten aus einer Befragung, die im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September 2001 in Deutschland durchgeführt wurde, ließen keinen klaren Zusammenhang zwischen Religiosität und militaristischen Einstellungen erkennen (Cohrs et al. 2002). Zwar wiesen im Vergleich zu den konfessionslosen Befragten (n = 431) sowohl die Angehörigen der römisch-katholischen Kirche (n = 389) als auch die Angehörigen der evangelischen Kirche (n = 325) stärkere militaristische Einstellungen auf, auch bei Berücksichtigung der Einflüsse soziodemografischer Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Ost- vs. Westdeutschland) und der selbsteingeschätzten politischen Grundhaltung (rechts vs. links). Innerhalb der drei Gruppen von Befragten stand jedoch das (selbstbeurteilte) Ausmaß der Religiosität nicht mit militaristischen Einstellungen in Beziehung, d.h. die Einstellungen sehr religiöser Christen waren weder militaristischer noch weniger militaristisch als die Einstellungen wenig religiöser Christen.

Dieses Ergebnis legt die Vermutung nahe, dass eher die friedensethischen Normen einer Glaubensgemeinschaft als die individuelle Religiosität für den Zusammenhang von militaristischen Einstellungen mit Religiosität verantwortlich sind. Die deutschen evangelischen Landeskirchen vertreten bezüglich militärischer Gewalt eine ambivalente Haltung. Zwar lehnen sie militärische Gewalt und die Theorie des gerechten Krieges ab, halten allerdings den Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio zum Schutz der Menschenrechte für rechtfertigungsfähig (z.B. Evangelische Kirche in Deutschland 2007). Ähnliches gilt für die katholische Seite (vgl. Die deutschen Bischöfe 2000). Damit erleichtert man es, die aktuellen Einsätze militärischer Gewalt als notwendig anzusehen oder sogar positiv zu beurteilen. Hunsberger und Jackson (2005) führen einige empirische Belege dafür an, dass ethische und soziale Normen einer Glaubensgemeinschaft bedeutsam für die Einstellungen (hier Vorurteile gegenüber bestimmten Minderheiten) der Gläubigen sind.

Die ambivalente Positionierung der christlichen Kirchen bietet jedoch keine hinreichende Erklärung dafür, warum konfessionell gebundene Christen in vielen Studien militaristischer eingestellt sind als konfessionslose Menschen. Es sind religionspsychologische Differenzierungen auf individueller Ebene notwendig, um das Verhältnis von Religiosität und militaristischen Einstellungen zu erhellen.

Religionspsychologische Differenzierungen

Bereits in der Russell-Studie wurde deutlich, dass christliche Religiosität sowohl positiv als auch negativ mit Militarismus verbunden sein kann. Gleiches gilt für die Zusammenhänge von Religiosität mit Einstellungen wie Toleranz, ethnischen Vorurteilen und Autoritarismus. Es liegt nahe zu fragen, ob es unterschiedliche Formen der Religiosität selbst sind, die zu diesen gegensätzlichen Zusammenhängen führen. In der religionspsychologischen Forschung wurden in diesem Zusammenhang Glaubensinhalte, Glaubensstrukturen bzw. religiöse Orientierungen und die individuelle Zentralität oder Bedeutsamkeit des Glaubens untersucht. Im Folgenden werden diese drei Aspekte der Religiosität vorgestellt und in ihrer Bedeutung für den Zusammenhang von christlicher Religiosität und Militarismus diskutiert.

Glaubensinhalte

Russell (1974) sah den deutlichsten Unterschied zwischen »pazifistischen« und »militaristischen« Christen in deren unterschiedlichen Gottesbildern. Er ging davon aus, dass der Glaube an einen strafenden Gott autoritär-punitive und militaristische Einstellungen unterstützt, während der Glaube an einen bedingungslos liebenden und gütigen Gott Mitgefühl stärkt und militaristische Einstellungen hemmt.

Im Einklang mit dieser Annahme zeigte sich in einer Befragung amerikanischer Kongressmitglieder, dass die Abgeordneten mit liberalen politischen Einstellungen Gott eher als liebevoll und unterstützend beschrieben, während rechtsgerichtete Politiker eher an einen allmächtigen und strafenden Gott glaubten (Benson & Williams 1982). Die Ergebnisse einer aktuellen amerikanischen Studie weisen außerdem darauf hin, dass der Glaube an einen liebenden persönlichen Gott mit einer ablehnenden Einstellung gegenüber der Todesstrafe assoziiert ist (Unnever et al. 2006). Sehr wahrscheinlich wird der Glaube an einen zornigen Gott, der Gewalthandlungen legitimiert, auch positiv mit militaristischen Einstellungen assoziiert sein.

Religiöse Orientierung und Glaubensstruktur

Unter »Glaubensstruktur« bzw. religiöser Orientierung werden grundlegende Unterschiede in der Herangehensweise an religiöse Themen verstanden, die unabhängig von spezifischen Glaubensinhalten sind. In der Studie von Russell (1974) war religiöse Orthodoxie, verstanden als das rigide Festhalten an christlichen Dogmen, besonders stark mit militaristischen Einstellungen verbunden.

An das rigide Festhalten anknüpfend, haben Altemeyer und Hunsberger (1992) versucht, religiösen Fundamentalismus unabhängig von christlichen Glaubensinhalten zu erfassen. Nach diesem Ansatz bedeutet religiöser Fundamentalismus zu glauben, dass es eine grundlegende religiöse Lehre gibt, die die absolute und unabänderliche Wahrheit über das Leben und über Gott verkündet, und dass dieser Lehre und den sie tragenden Traditionen bedingungslos gefolgt werden muss, um mit einer göttlichen Macht in Beziehung treten und letztlich Erlösung finden zu können. In Studien zu diesem Konzept wurde deutlich, dass religiöser Fundamentalismus stark mit Autoritarismus und Vorurteilen verbunden ist. Ein positiver Zusammenhang zwischen religiösem Fundamentalismus und Vorurteilen konnte auch in verschiedenen nicht-christlichen Stichproben gefunden werden (Hunsberger 1996). In einer aktuellen Untersuchung zum Verhältnis von traditionellem christlichen Glauben und außenpolitischen Präferenzen in den Vereinigten Staaten konnte gezeigt werden, dass eine dogmatische und fundamentalistische Denkweise sowohl direkt als auch indirekt (durch Verstärkung nationalistischer Überzeugungen) mit militaristischen Einstellungen verbunden ist (Barker et al. 2008).

Ein klassischer sozialpsychologischer Ansatz zur Differenzierung verschiedener (christlicher) religiöser Orientierungen stammt von Allport (1966). Er unterscheidet eine extrinsisch motivierte, zweckgebundene Form der Religiosität von einer intrinsisch motivierten, tief verinnerlichten Gläubigkeit. Eine Weiterentwicklung erfuhr dieser Ansatz durch Batson und Schoenrade (1991a, b), welche die religiöse „Quest“-Orientierung als drittes Glaubensmotiv bzw. als dritte Glaubensstruktur beschrieben haben. Damit wird ein suchender und fragender Umgang mit religiösen Inhalten bezeichnet, welcher Zweifel an den eigenen Glaubenssätzen zulässt, andere Sichtweisen anerkennt und endgültigen Antworten auf existenzielle Fragen Skepsis entgegen bringt. Die Quest-Orientierung stellt also gewissermaßen den Gegensatz zu religiösem Fundamentalismus dar. In Arbeiten zum Quest-Konzept wurden positive Zusammenhänge mit Toleranz und Hilfsbereitschaft (Batson et al. 2001) sowie negative Zusammenhänge mit christlicher Orthodoxie, religiösem Fundamentalismus und Autoritarismus gefunden (z.B. Altemeyer & Hunsberger 1992). Anzunehmen ist daher, dass diese Form der Religiosität auch mit gering ausgeprägten militaristischen Einstellungen verbunden ist.

Neben einer fundamentalistischen vs. Quest-Orientierung wurden weitere Glaubensstrukturen unterschieden, die für den Zusammenhang von christlicher Religiosität und Militarismus relevant sein könnten. So differenziert Wulff (1991) zwei Dimensionen, auf denen sich individuelle Formen von Religiosität unterscheiden können. Eine Dimension betrifft dabei den Glauben an eine transzendente Wirklichkeit, während auf der anderen Dimension die wörtliche Verarbeitung religiöser Inhalte einer symbolischen Verarbeitung gegenüber gestellt wird. Orthodoxie wird in diesem Modell z.B. als Kombination aus einem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit und eine wörtliche Interpretation von Religion gesehen. In Anlehnung an dieses Modell entwickelten Duriez et al. (2000) die »Post-Critical-Belief-Scale«. Duriez' weiteren Studien zufolge ist die wörtliche Verarbeitung religiöser Inhalte – unabhängig von dem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit – mit Autoritarismus und ethnischen Vorurteilen assoziiert (Duriez, 2004). Anzunehmen ist, dass eine wörtliche Verarbeitung religiöser Inhalte auch mit eher militaristischen Einstellungen einher gehen kann.

Zentralität des Glaubens

Der religionspsychologische Ansatz von Huber (2003), der einen großen Teil der hier diskutierten Differenzierungsmöglichkeit integriert, weist der persönlichen Bedeutsamkeit bzw. Zentralität der Religiosität eine wichtige zusätzliche Rolle zu. Religiosität wird in diesem Ansatz als persönliches Konstruktsystem definiert, welches alle Vorstellungen, Erfahrungen und Verhaltenspräferenzen beinhaltet, die auf »das Heilige« bezogen sind. Glaubensstrukturen bzw. religiöse Orientierungen wie die Relativität des eigenen Glaubens (welche der Quest-Orientierung entspricht) oder Fundamentalismus werden ebenso zu den Bestandteilen des religiösen Konstruktsystems gezählt wie das Gottesbild und die emotionale Haltung gegenüber Gott. Zusätzlich wird jedoch die persönliche Bedeutsamkeit der Religiosität bzw. die Zentralität des religiösen Konstruktsystems berücksichtigt. Huber (2007) konnte zeigen, dass religiöse Überzeugungen nur dann relevant für Verhalten und Einstellungen werden, wenn Religiosität für die betreffende Person einen mittleren bis hohen Stellenwert im Vergleich zu anderen Überzeugungen oder Überzeugungssystemen hat.

Fazit

Die Erkenntnis aus der Studie von Russell (1974), dass christliche Religiosität sowohl positiv als auch negativ mit Einstellungen wie Militarismus, Intoleranz oder Autoritarismus verbunden sein kann, ist bis heute gültig. Ein negativer Zusammenhang von Glaube und militaristischen Einstellungen wurde allerdings nur innerhalb solcher Glaubensgemeinschaften gefunden, die pazifistische Einstellungen vertreten. Die friedensethischen Normen der jeweiligen Glaubensgemeinschaft spielen somit eine wichtige Rolle für die Zusammenhänge von christlicher Religiosität und Militarismus.

In der religionspsychologischen Forschung wurden verschiedene Modelle darüber entwickelt, welche Formen der Religiosität zu unterscheiden sind. Auch wenn sich die meisten dieser Untersuchungen auf die Zusammenhänge von Religiosität und ethnischen Vorurteilen oder Autoritarismus beziehen, liefern sie einige Hinweise darauf, dass Glaubensinhalte, Glaubensstrukturen bzw. religiöse Orientierungen und die persönliche Bedeutsamkeit des Glaubens für den Zusammenhang von christlicher Religiosität und Militarismus relevant sein können. Um definitive Aussagen machen zu können, sind gezielte weitere empirische Untersuchungen notwendig. Mit diesem Fazit zeigt sich, dass sich an dem bereits von Zwingmann et al. (1994) konstatierten Mangel an entsprechenden Untersuchungen wenig geändert hat.

Ein besonderes Problem der Forschung zu Religiosität und Militarismus besteht darin, dass in den bisherigen Studien ausschließlich zu einem Zeitpunkt bestehende korrelative Beziehungen untersucht wurden. Vielfach zu findende Aussagen über kausale Beziehungen sind daher spekulativ. Notwendig wären hier längsschnittliche Studien, die die Entwicklung und Veränderung von religiösen Überzeugungen und militaristischen Einstellungen über die Zeit untersuchen.

Angesichts der interkulturellen und internationalen Verbreitung von Militarismus und religiös motivierter Gewalt ist es zudem bedauerlich, dass in den allermeisten der vorliegenden Studien ausschließlich auf christliche Religiosität eingegangen wird. Zwar gibt es auch Studien, die sich mit islamischer Religiosität und politischen Präferenzen in Bezug auf internationale Konflikte befassen (z.B. Tessler & Nachtwey 1998). Religionsübergreifende Forschung wäre jedoch sehr wünschenswert.

Literatur

Allport, G.W. (1966): The religious context of prejudice, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 5, 447-457.

Altemeyer, B. & Hunsberger, B. (1992): Authoritarianism, religious fundamentalism, quest, and prejudice, in: International Journal for the Psychology of Religion, 2, 113-133.

Barker, D.C., Hurwitz, J. & Nelson, T.L. (2008): Of crusades and culture wars: »Messianic« militarism and political conflict in the United States, in: Journal of Politics, 70, 307-322.

Batson, D.C. & Schoenrade, P.A. (1991a): Measuring religion as quest: 1) Validity concerns, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 30, 416-429.

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Cohrs, J.C., Kielmann, S., Moschner, B. & Maes, J. (2002): Befragung zum 11. September 2001 und den Folgen: Grundideen, Operationalisierungen und deskriptive Ergebnisse der ersten Erhebungsphase. Berichte aus der Arbeitsgruppe »Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral«, Nr. 148. Trier: Universität Trier/Fachbereich I – Psychologie.

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Wulff, D.M. (1991): Psychology of religion: Classic and contemporary views. New York: Wiley.

Zwingmann, C., Diringer, C., Ochsmann, R. (1994): Christliche Religiosität und Militarismus: Die sozialwissenschaftliche Sicht, in: Wissenschaft und Frieden, 12 (2), 4-9.

Anne-Katrin Henseler studiert Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und schreibt gegenwärtig ihre Diplomarbeit über Formen von Pazifismus und deren Zusammenhänge mit persönlichen Werten, Religiosität und politischer Grundhaltung. E-Mail: annekatrin_henseler@yahoo.de.
Dr. Christopher Cohrs ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Vorstandsmitglied des Forums Friedenspsychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Autoritarismus, Vorurteile, sozialpsychologische Friedensforschung. E-Mail: christopher.cohrs@uni-jena.de.

Aus Gottes Frieden für gerechten Frieden – Ja und?

Aus Gottes Frieden für gerechten Frieden – Ja und?

Anmerkungen zur neuen Friedensdenkschrift der EKD

von Albert Fuchs

Gut ein Vierteljahrhundert nach ihrer ersten, ganz im Zeichen der West-Ost-Konfrontation stehenden Friedensdenkschrift von 1981 hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein neues friedensethisches Grundsatzpapier vorgelegt. Unser Autor arbeitet zahlreiche Schwachstellen der i.e.S. politischen Teile dieser »Denkschrift« heraus und kommt zum Ergebnis, sie erschließe keinen »Mehrwert« der christlichen Perspektive für die friedenspolitische Debatte. Ein Verdienst könne gleichwohl darin bestehen, dass endlich die seit der Epochen-Wende überfällige breite öffentliche Debatte um eine konstruktive Friedens- und Sicherheitspolitik angestoßen werde.

Im Vorwort der im Oktober 2007 unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ veröffentlichten neuen Friedensdenkschrift der EKD führt der amtierende Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, aus, nach dem 11. Sept. 2001 hätten sich die Stimmen gemehrt, die „einen neuen grundlegenden Beitrag zur friedensethischen und friedenspolitischen Orientierung erwarteten“ (a.a.O., S.8). Nach Bischof Hubers Verständnis soll in einer solchen Denkschrift „nach Möglichkeit ein auf christlicher Verantwortung beruhender, sorgfältig geprüfter und stellvertretend für die ganze Gesellschaft formulierter Konsens zum Ausdruck kommen“ (ebd.).

Die rd. 120 Seiten umfassende Schrift verdient in der Tat eine ernsthafte Auseinandersetzung. Ähnlich wie den deutschen katholischen Bischöfen mit ihrem »Wort zum Frieden« (2000) geht es der EKD erklärtermaßen darum, das Denken auf möglichen Krieg hin und in Kriegskategorien durch ein Denken auf (gerechten) Frieden hin zu ersetzen. Andererseits drängt sich bereits mit dem Religion und Politik verbindenden Titel die Frage auf, worin eigentlich der friedenspolitische »Mehrwert« dieses Ansatzes bestehen soll oder bestehen könnte. Auch lässt Hubers Anspruch, einen Konsens „stellvertretend für die ganze Gesellschaft“ präsentieren zu können, erwarten, dass der Text Ausblendungen und Lücken, Brüche und Inkonsistenzen und wohl auch manchen Scheinkonsens beinhaltet. Im Folgenden steht eine Auseinandersetzung mit der Denkschrift aus einer dezidiert militärgewalt-kritischen Perspektive im Vordergrund.

Das Papier umfasst nach einer bereits das Leitbild des gerechten Friedens hervorhebenden und die aktuelle friedenspolitische Situation sehr allgemein skizzierenden Einleitung vier Teile oder Kapitel mit entsprechenden Unterkapiteln: „Friedensgefährdungen“, „Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“, „Gerechter Friede durch Recht“ und „Politische Friedensaufgaben“. In einem kurzen Schlusskapitel werden Grundsätze und Maximen prägnant zusammengefasst. Der Text ist in 197 fortlaufend nummerierte Paragraphen oder Abschnitte gegliedert. Die Auseinandersetzung mit dem Papier muss an dieser Stelle auf die Kapitel „Gerechter Friede durch Recht“ und „Politische Friedensaufgaben“ beschränkt bleiben. Textbezüge werden durch die entsprechenden Ziffern ohne bibliographische Zusatzangaben belegt.

„Gerechter Friede durch Recht“

Das dritte Kapitel reflektiert Fragen der rechtlichen Fundierung einer dauerhaften, an der Vorstellung des gerechten Friedens orientierten Friedensordnung. Dazu werden Anforderungen an eine globale Friedensordnung als Rechtsordnung entwickelt (Ziff. 86-97), Prinzipien einer (nach Meinung der Autoren und Autorinnen) dazugehörigen Ethik „rechtserhaltender Gewalt“ skizziert (98-103) und Grenzen militärischen Gewaltgebrauchs aufgezeigt (104-123). Das Kapitel stellt einen bemerkenswerten Versuch dar, die Annahme, dass (militärische) Gewalt (wieder) geeignet und ethisch vertretbar oder gar geboten sein kann, um Unrecht und Gewalt Einhalt zu gebieten, in Einklang zu bringen mit der Pflicht, den Krieg zu überwinden. Dazu wird das Kantische Paradigma des »Friedens durch Recht« ergänzt um die der bellum iustum-Lehre entstammenden Kriterien für die Ausübung „rechtserhaltender Gewalt“. Die Gedankenführung wirkt beeindruckend schlüssig – solange man nicht genauer hinschaut.

Erstens: So wird erklärt, nur „eine kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung“ liege „in der Zielperspektive eines gerechten Friedens“ (87). In diesem Rahmen sei auch das zwischenstaatliche Sicherheitsdilemma „legitim lösbar durch ein System kollektiver Sicherheit, wie es in der UN-Charta vorgezeichnet“ (ebd.) sei. Leider geben die Autoren fast keinen Hinweis, wie diese ideale Ordnung vom herrschenden quasi-anarchischen Verhältnis der Staaten zueinander aus erreicht werden soll – zumal dieser Zustand mit immensen Macht- und entsprechenden sozioökonomischen Privilegierungsasymmetrien einhergeht (vgl. 92). Die Hoffnung, insbesondere „internationale Organisationen und Regelwerke“ trügen „zu nachhaltiger Inderdependenz zwischen den Staaten“ und damit zur Etablierung der besagten Ordnung bei (87), kann sich nur sehr bedingt auf die reale Entwicklung seit der Epochenwende stützen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht kompromittiert das für den gesamten Ansatz zentrale Konzept der kollektiven Sicherheit, indem es seit 1994 in kontinuierlicher Rechtsprechung ein erklärtes Militärbündnis, die NATO, zu einem System kollektiver Sicherheit befördert.

Zweitens: Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit wird aus dem Postulat, Recht sei „auf Durchsetzbarkeit angelegt“, nicht nur gefolgert, in „einer auf Recht gegründeten Friedensordnung“ seien „Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür“ stelle (98). Es wird auch grundsätzlich unterstellt, dass diese Frage eben positiv zu beantworten ist. Dann wird allerdings in Anlehnung an die bellum iustum-Lehre ein „zumindest erlaubter Gewaltgebrauch“ u.a. wesentlich von einer „Aussicht auf Erfolg“ abhängig gesehen (102). Damit wird die zunächst begriffslogische Herleitung der Rechtfertigungsfähigkeit eines Rückgriffs auf Gewalt in ungeklärter Weise mit kontingenten Bedingungen verbunden. Demzufolge kann Recht, das nicht einmal mit Gewalt durchsetzbar ist, eigentlich kein Recht sein. Insofern wird nahe gelegt, Recht werde durch Gewalt konstituiert – und der Glaube an das »Recht des Stärkeren« wird gerade dadurch gestützt, dass man „rechtserhaltende Gewalt“ dagegen propagiert. Der Kern des Problems dürfte darin liegen, dass der Durchsetzungsanspruch des Rechts nicht vom Durchsetzungsmittel Gewalt unterschieden wird.

Drittens: Der Ausdruck „rechtserhaltende Gewalt“ konnotiert zweifelsohne soziale Kontrolle. Es geht jedoch nicht (primär) darum, eine bestehende Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. Da sich „die gegenwärtige globale Lage als ein Kontext der Ungerechtigkeit“ darstellt (90), muss vielmehr die Überwindung von kriegerischer Gewalt Hand in Hand gehen mit dem Aufbau von wirtschaftlicher und politischer Gerechtigkeit. Dieser zu einer „globalen Friedenssicherung“ komplementäre Prozess findet der Denkschrift zufolge seine „Konkretisierung in den Menschenrechten“ (88). Mit den betreffenden Überlegungen werden die Friedensthematik und die Menschenrechtsthematik in systematischerer Weise positiv aufeinander bezogen, als das in der UN-Charta vorgezeichnet ist (vgl. Art. 55c). Das könnte eine Korrektiv dazu sein, dass im Zusammenhang der Debatten zur sog. humanitären Intervention seit den 1990er Jahren immer wieder ein Konkurrenzverhältnis zwischen »negativem« Frieden (sensu Galtung, 1975) und Menschenrechten konstruiert wird. Mit der kommentarlosen Übernahme des Unteilbarkeitspostulats im Hinblick auf die Menschenrechte, das noch kontroverser diskutiert zu werden scheint als das Universalitätspostulat (vgl. Hamm & Nuscheler, 1995), vergibt man die Möglichkeit, vorab eine (Interventions-)Verpflichtungsabstufung entsprechend der Fundamentalität der zu schützenden Rechte zu begründen – und bestärkt damit u.U. den (vorgeblichen) Gegensatz zwischen Frieden und Menschenrechten.

Viertens: In diesem Zusammenhang unterbleibt jede Auseinandersetzung mit der „Position des unbedingten Pazifismus“. Man bezieht sich darauf nur, um die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ kontrastiv zu markieren (99). Das besagt i.B: Die grundlegende Frage, ob Töten von Menschen zum Schutz von Menschen nicht ein in sich verwerfliches Mittel ist, wird nicht diskutiert. Weiter bleibt unerörtert, wie „rechtserhaltende Gewalt“ in Einklang zu bringen sein soll mit der im vorausgehenden Kapitel beschworenen Mittel-Zweck-Kongruenz à la Gandhi (vgl. 76). Irgendwie setzt die Denkschrift auf eine „sorgfältige Güterabwägung“ (103). In der dunklen Rede von dem trotzdem „bleibenden Risiko des Schuldigwerdens“ (ebd.) scheinen die unbedachten schwierigen ethischen Fragen in den Text zu drängen.

Fünftens: Als Grundlage der Güterabwägung sollen die „moralischen Prüfkriterien“ dienen, „die in den bellum iustum-Lehren enthalten waren“ (102). Im Vertrauen offensichtlich auf ihre Evidenz werden diese Kriterien nicht weiter begründet, nur kurz erläutert (ebd.). Die damit verbundenen immensen Operationalisierungsprobleme werden nicht reflektiert. Man macht es sich auch einfach im Hinblick auf die Informationsintegration, d.h. im Hinblick auf die eigentliche Urteilsfindung. Dazu wird nur lapidar konstatiert: „Nach herkömmlicher Auffassung der Ethik müssen für den Gebrauch von legitimer Gegengewalt alle diese Kriterien erfüllt sein.“ (103). Indes hat just der EKD-Vorsitzende in einem Beitrag jüngeren Datums dieses Prinzip als zu restriktiv, als auf einen de facto-Pazifismus hinauslaufend und als „extensional“ sogar „dem prinzipiellen Pazifismus“ entsprechend kritisiert (Huber, 2004, S.4).

Sechstens: Außer Betracht bleibt ferner ein besonders vertracktes Problem der bellum iustum-Figur: die Frage, wer eigentlich das ausschlaggebende Erkenntnis- und Entscheidungs-Subjekt sein soll. Wenn nämlich für diese Rolle die jeweilige Obrigkeit in Aussicht genommen wird – wie es für die christlichen Nacherfinder der bellum iustum-Lehre, Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin, selbstverständlich war – verliert das Kriterium der adäquaten Autorisierung seinen Sinn. Der liegt erklärtermaßen darin, dass niemand sich zum Richter in eigener Sache eignet; dass vielmehr „im Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller potentiell Betroffenen“ (102) entschieden werden sollte. Wenn dagegen eigentlich an die jeweiligen Untergebenen gedacht ist – wie die vielfache Betonung des Vorrangs des Gewissens des einzelnen auch „gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsdurchsetzung“ nahe legt (62) -, steht eine zentrale Funktionsbedingung des Militärs in Frage: die Erzwingbarkeit des Gehorsams der Regierten gegenüber dem obrigkeitlichen Ansinnen, sich zum Töten und Sich-töten-Lassen zu verdingen (bzw. Militär- und Kriegssteuer zu zahlen).

Siebtens: Damit liegt die Doppelfrage nahe, an wen überhaupt sich die Denkschrift gerade in diesem Zusammenhang wie ernsthaft wendet. Wenn das befürwortete „restriktive“ Verfahren der Bildung eines Gesamturteils auf einen de facto-Pazifismus bzw. sogar auf den prinzipiellen Pazifismus hinausläuft, werden sich sicherheitspolitische Zirkel kaum dafür erwärmen lassen und noch viel weniger die Militärführung. Solche Zumutungen dürften die Autoren auch kaum im Sinn haben; dazu ist die Denkschrift insgesamt viel zu »staatstragend«. Näher mag liegen, dass es auch hier um die sog. einfachen Soldaten geht. Das aber würde bedeuten, dass kaum noch jemand im Dienst einer »Armee im Einsatz« zu finden sein dürfte ohne eine (situationsbezogene) Kriegsdienstverweigerungsgeschichte in seiner Personalakte. Damit aber würde die Funktionsfähigkeit des Militärapparates erst recht untergraben – und ein verlässlicher Einsatz von „rechtserhaltender Gewalt“ nahezu unmöglich. Demnach wird auch das nicht in der Aussageintention der Denkschrift liegen. Um wen und was geht es aber dann? Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Implikationen der Vorschläge (abermals) nicht genau durchdacht wurden. Bleibt wohl eine diffuse Akzeptanzbeschaffung für „rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauch“.

Achtens: Die Denkschrift erhebt die bellum iustum-Kriterien zu „allgemeine(n) Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt… – unabhängig vom jeweiligen Anwendungskontext“ (102). Diese Parallelisierung von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen gewaltförmigen Konfliktkonstellationen beinhaltet eine demokratie- und friedenspolitisch hoch problematische Verwischung der Grenzen zwischen militärischen und polizeilichen Maßnahmen bzw. zwischen Militär und Polizei und eine Konfundierung von (kriegs-)ethischen Fragen und von Rechtsfragen i.e.S. Statt zur Eindämmung und zur Verrechtlichung von militärischer Gewalt kann das aber zur Militarisierung und Entrechtlichung des staatlichen Gewaltgebrauchs nach innen führen. Auf eine entsprechende „Gefahr“ wird im ersten Kapitel der Denkschrift selbst hingewiesen (25). Viele Beobachter sehen die Waagschale im Zuge des »war on terror« sich längst zur zweiten Seite hin neigen (vgl. Fischer-Lescano, 2004; Harder, 2006).

„Politische Friedensaufgaben“

Vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel dargestellten „Friedensgefährdungen“ und der friedenstheologischen und -ethischen Ausführungen in Kapitel zwei und drei wendet sich die Denkschrift im vierten Kapitel einzelnen friedenspolitischen Handlungsfeldern zu. Hervorgehoben werden: die Stärkung universaler Institutionen (Ziff. 125-137) und – damit verbunden – die Wahrnehmung von „Europas Friedensverantwortung“ (138-156), der Abbau der Waffenpotenziale (157-169) und der Ausbau des Instrumentariums der zivilen Konfliktbearbeitung (170-183) sowie die Notwendigkeit, alle konkreten Schritte und Maßnahmen – im Sinn des Konzepts „menschliche Sicherheit“ – an der Würde und den tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen auszurichten (184-193). Die Darlegungen wirken weitgehend so abstrakt, dass man sich nur schwer vorzustellen vermag, wie sie Wirkung entfalten könnten. Über diese allgemeine Kritik hinaus sind wenigstens drei gravierende spezifischere Bedenken angebracht.

Erstens: Im Zusammenhang der Erörterungen zu „Europas Friedensverantwortung“ werden NATO und EU nahezu fraglos als »Friedensmächte« adressiert. Der neuen NATO wird zwar ins Stammbuch geschrieben, Auffassungsunterschiede „über Rolle, Strategien und konkrete Operationen des Bündnisses“ müssten „offener ausgetragen… und nicht der Bündnistreue untergeordnet werden“ (140). Die Umwandlung des ehemaligen Verteidigungsbündnisses in ein weltweit operierendes Militärinterventionsbündnis als solche wird jedoch völlig kritiklos als Grundlage für »militärisches Friedenschaffen« akzeptiert. Die (effektive) Veränderung des NATO-Vertrags im Rücken von Parlamenten und Öffentlichkeit spätestens mit der strategischen Neuorientierung von 1999 (vgl. Presse- und Informationsamt des Bundesregierung, 1999) wird nicht andeutungsweise problematisiert. Vor diesem Hintergrund wirkt der Hinweis, ein Einsatz „außerhalb des Bündnisgebietes (oder gar weltweit) ohne Mandatierung durch die UN“ entspreche „nicht den oben genannten Anforderungen an den Einsatz rechtserhaltender militärischer Gewalt“ (140), eigenartig »blauäugig«.

Noch um einiges affirmativer als zur neuen NATO positioniert sich die Denkschrift zur EU als »Friedensmacht«. Zwar wird gesehen, dass „interne regionale Gewaltkonflikte bis heute nicht dauerhaft gelöst“ sind und dass „Misstrauen insbesondere im Verhältnis Russlands zur EU … weiterhin überwunden werden“ muss (142). „Mit ihren Werten und Institutionen“ gilt die Union jedoch als „Modell für andere Regionen und von unverändert große Anziehungskraft“ (ebd.). Dass sie „im Rahmen der ‚Petersberg-Aufgaben' … auch über Europa hinaus zur Übernahme von humanitären und Rettungseinsätzen sowie zu Operationen der Friedenserhaltung und -erzwingung bereit ist“ (143), findet anscheinend die ungeteilte Zustimmung von Kammer und Rat der EKD. Die Institutionalisierung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und erste Operationen auf dieser Grundlage werden als besondere Errungenschaften gewürdigt (ebd.). Nicht einmal das Operieren der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 mit einem „präventiven Gesamtinstrumentarium“ (144) ist verdächtig – so wenig wie die „Kampfverbände … für Operationen zur Befriedung von Krisenregionen“. Das EU-Friedensmacht-Gemälde hat einen einzigen Schönheitsfleck: mangelnde Transparenz und „geringe Mitspracherechte der Parlamente“ (144; vgl. 147). Die nur allzu berechtigte Kritik an der Militarisierung der Union u.a. per Verfassungs- bzw. Reformvertrag wird auf Fehlinterpretationen bzw. auf eine inadäquate Darstellung der EU-Politik zurückgeführt und als PR-Problem behandelt (ebd.). Kein Satz über die »friedensgefährdende« Migrationsabwehr (Stichwort: Frontex) oder zu den Versuchen der EU, anderen, insbesondere (den) AKP-Staaten, ihre zerstörerischen Strukturanpassungsprogramme aufzudrücken (Stichwörter: Afrika-Europa-Gipfel, Freihandelsabkommen).

Zweitens: Einen besonders kontroversen Aspekt der Friedensmachtthematik stellt die sog. zivil-militärische Zusammenarbeit dar. Der Sache nach steht diese militärstrategische Neuerfindung wiederholt zur Rede. So wird zu den NATO-Einsätzen angemerkt, „immer deutlicher“ sei „erkennbar, … dass die Herstellung eines ‚sicheren Umfeldes' und der Wiederaufbau gleichzeitig und nicht nacheinander zu verwirklichen sind“. Erforderlich sei daher „eine wesentlich engere Zusammenarbeit mit den Internationalen Organisationen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie lokalen Kräften“ (140). Und für das »Friedenschaffen« der EU wird postuliert: „Zwischen Soldaten und zivilen Kräften kommt es auf situationsangemessene Kooperation an“ (146). Andererseits – in partiellem direktem Widerspruch zu diesen Forderungen – wird moniert: „Die Gleichzeitigkeit von Kriegführung und Wiederaufbau … kann den Fortschritt in Entwicklung und Vertrauensbildung beeinträchtigen“ (150). Wie die Gleichzeitigzeit der „Herstellung eines ‚sichereren Umfeldes'“ und des „Wiederaufbaus“ bzw. die „situationsangemessene Kooperation“ so realisiert werden könnte, dass Beeinträchtigungen „in Entwicklung und Vertrauensbildung“ ausgeschlossen sind, bleibt dahingestellt. Viel verspricht man sich anscheinend von der Erarbeitung eines „friedenspolitischen Gesamtkonzepts“, ohne allerdings konkreter zu werden (ebd.). Nicht erörtert wird, dass jede zivil-militärische Zusammenarbeit prima facie hoch problematisch sein muss angesichts der grundverschiedenen Handlungslogiken von militärischer und – im emphatischen Sinn – ziviler Konfliktbearbeitung (vgl. Fuchs, 2006) sowie im Hinblick auf den expliziten Anspruch der militärischen Seite auf Unterordnung aller Maßnahmen unter den militärischen Auftrag (vgl. NATO, 2002). Und schließlich bleibt ausgeblendet, dass die westliche Interventionspolitik zumindest durch einen starken Trend gekennzeichnet ist, durch militärisch abgesichertes »nationbuilding«, das westliche Staats- und Wirtschaftsmodell zu exportieren.

Drittens: Die vielleicht befremdlichsten Ausführungen sind im dritten Unterkapitel zum Thema Abbau der Waffenpotenziale zu finden. Gemeint sind die Ausführungen über die Strategie der nuklearen Abschreckung (Ziff. 162-164). Zwar wird geltend gemacht, in der veränderten sicherheits- und friedenspolitischen Lage hätten „die Gründe für die Kritik an der Abschreckungsstrategie deutlich an Gewicht gewonnen“ (109). Dementsprechend wird abweichend von Nr. VIII der Heidelberger Thesen (1959) die Auffassung vertreten: „Aus der Sicht der evangelischen Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ (162) Dann aber wird ausführlich dargelegt, weshalb „umstritten“ bleibt, „welche politischen und strategischen Folgerungen aus dieser gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht zu ziehen sind“ (ebd.). Dieses „umstritten“ impliziert zwar nicht logisch, wohl aber politisch-praktisch, dass es diesbezüglich eigentlich nichts zu ändern gibt. Worin der friedenspolitische Wert solcher „gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht“ bestehen soll, ist ein Rätsel.

Resümee und Ausblick

Wer die neue Friedensdenkschrift der EKD nur aus (kirchlichen) Presseverlautbarungen oder vielleicht noch von der Einleitung und dem Schluss her kennt, mag den Eindruck haben, die vorliegende kritische Auseinandersetzung sei mit einem anderen Text befasst. In der Tat gibt es auch in der hier eingenommenen Sicht von außen kaum etwas an (den) Leitgedanken des Schlusskapitels zu bekritteln: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“ (194) oder „Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein“ (195) oder „Gerechter Friede in der globalisierten Welt, setzt den Ausbau der internationalen Rechtsordnung voraus“ und die „muss dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung verpflichtet sein und die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien binden“ (196) oder „Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der ‚Menschlichen Sicherheit' und der ‚Menschlichen Entwicklung' her gedacht werden“ (197) u.s.w. Wer wollte solchen im besten Sinn erbaulichen Leitgedanken widersprechen? Je näher man sich die Denkschrift allerdings anschaut, umso fremder schaut sie zurück. Das gilt durchaus nicht nur für die beiden hier diskutierten Kapitel.

Der Kern des Problems scheint darin zu liegen, dass Kammer und Rat der EKD in der Lehre vom gerechten Frieden zentrale Elemente des christlichen Pazifismus und der Denkfigur des gerechten Krieges kombinieren wollen. Das geht nicht ohne Abstriche in der einen wie in der anderen Richtung. Vom Pazifismus wird die Vorstellung übernommen, Frieden im umfassenden Sinn vorrangig mit gewaltfreien Mitteln zu fördern und zu erneuern – aber eben nur vorrangig. In der bellum iustum-Tradition steht die (militärische) „rechtserhaltende Gewalt“ als letztes Mittel – unter der Voraussetzung, dass im Vorfeld und Umfeld solcher Gewaltanwendung auch alle übrigen Kriterien des bellum iustum-Katalogs einer strengen Prüfung standhalten. Damit bleibt die Denkschrift dem Augustinischen Programm verhaftet, das biblische Ethos der Gewaltfreiheit, insbesondere den entsprechenden kulturrevolutionären Impuls der Jesusbewegung, mit der römisch-imperialen Gewaltkultur zu versöhnen und ihre politisch-praktische Zusammenarbeit zu begründen. Die fatale Wirkungsgeschichte dieser Programmatik ist hinlänglich bekannt.

Nach der Lektüre der Denkschrift mag man rätseln, woraus die protestantischen »Christenmenschen« ihre Zuversicht schöpfen, der abendländische »Großversuch«, zusammenspielen zu lassen, was nicht zusammengehört, könne doch noch einen heilsamen Ausgang nehmen. Das Operieren mit dem Konzept des gerechten Friedens als solches kann nicht die Grundlage solcher Zuversicht sein. Dafür wurde es bereits zu oft kompromittiert und wird mit der Bindung an „rechtserhaltende Gewalt“ nicht wirklich verwandelt (vgl. Furth, 1987). Ein »Mehrwert« des Einbezugs der christlichen Perspektive in die friedens- und sicherheitspolitische Debatte erschließt sich kaum. Auf der deklaratorischen Ebene ist der »Vorrang« der Gewaltfreiheit doch längst gebongt – von den Apokalyptikern diverser Provenienz einmal abgesehen! Ein großes Verdienst der Denkschrift könnte gleichwohl darin liegen, endlich die seit der Epochen-Wende überfällige öffentliche Auseinandersetzung um eine konstruktive Friedens- und Sicherheitspolitik anzustoßen. Dafür müssen allerdings auch die Rezipienten sorgen.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (1994). Urteil vom 12. Juli 1994 – 2 BvE 3/92 u.a. Neue Juristische Wochenschrift, 47, S.2207-2219.

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Fischer-Lescano, Andreas (2004): Soldaten sind Polizisten sind Soldaten. Kritische Justiz, 37, S.67-80.

Fuchs, Albert (2006): Hochzeit von Unvereinbarkeiten? Zum Verhältnis von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung. Wissenschaft und Frieden, 24 (4), S.6-10.

Furth, Peter (1987): Frieden oder gerechter Frieden? In C. Schulte (Hrsg.), Friedeninitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg – Widersprüche (S.159-177). Darmstadt: Luchterhand.

Galtung, Johan (1975): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In J. Galtung, Strukturelle Gewalt (S.7-36). Reinbek: Rowohlt.

Hamm, Brigitte & Nuscheler, Franz (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. INEF-Report 11/1995.

Harder, Martina (2006): Polizeisoldaten. Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik. Wissenschaft und Frieden, 24 (4), S.31-34.

Huber, Wolfgang (2004): Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik. Vortrag im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam am 28. April 2004. URL: http://www.ekd.de/vortraege

NATO International Military Staff (2002). NATO Military policy on civil-military cooperation. Docu MC411/1. URL: http://www.nato.int

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1999): Das strategische Konzept des Bündnisses. Bulletin Nr. 24, 03.05.99, S.222-231.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe und Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Eine Analyse der gesamten Denkschrift kann unter fuchs.albert@t-online.de angefordert werden.

Mehrheitsgesellschaft und türkisch-sunnitische Migranten

Mehrheitsgesellschaft und türkisch-sunnitische Migranten

Chancen für eine Kultur des Friedens?

von Reiner Albert

»Zeige mir, wie du Konflikte regelst, und ich sage dir, welche politische Kultur du besitzt!« In Anwendung dieses Leitgedankens stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit dem latenten Konflikt zwischen Deutschen und türkisch-sunnitischen Migranten um? Bestehen Chancen einer innergesellschaftlichen Kultur des Miteinanders, das einer reifen Demokratie gerecht wird? Die Antwort ist nicht im »Kampf der Kulturen«, sondern primär im Einfluß politischer Interessen auf die kognitiven Strukturen der Migranten zu suchen.

Kann im Sinne eines zivilisatorischen Fortschritts eine »Kultur des Friedens« (Vogt/Jung 1997) entwickelt werden? Eine Frage, die seit den bürgerlichen Revolutionen von 1776 und 1789 stetig an Bedeutung gewonnen hat. Als Spezifikum der Moderne wurden die Ideale des Gesellschaftssystems eng mit der endgültigen Regelung des Friedensproblems durch eine »Friedenstheorie« verbunden. Politische Philosophen der beginnenden Aufklärung wie Thomas Morus (Habermas 1978: 57f) definierten den gesellschaftspolitischen Idealzustand unter ethischen und friedenspolitischen Gesichtspunkten. Begriffe wie Kultur und Zivilisation wurden zu einer politischen und der Terminus Politik zu einer humanitären, moralischen und zivilisatorischen Kategorie. Die so verstandene politische Kultur wurde zum »Zivilisierungsprojekt« (Senghaas 1995: 196ff) und Gradmesser, inwieweit es gelang, ein friedliches Miteinander zwischen den Bevölkerungsteilen eines Staatswesens bzw. zwischen Ländern in einem internationalen System mit möglichst geringen Gewaltmitteln zu erzielen. Das philosophisch gefaßte Telos hatte in der politischen Praxis nicht nur positive Konsequenzen insofern, daß man sich von nun an auf dem von Kant in Aussicht gestellten Weg zum »ewigen Frieden« befand; im Gegenteil, die politische Kultur der westlichen Moderne brachte nicht nur unterschiedliche Gesellschaftssysteme, sondern auch konfligierende Friedensmodelle hervor, wie sie sich vor allem im Ost-West-Konflikt manifestierten. Die Kombination von Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit, moralischen und friedenspolitischen Wertvorstellungen konnte – verbunden mit einer polarisierenden eschatologischen Weltsicht, die dem eigenen Friedensmodell die alleinige Existenzberechtigung zuschrieb – zur Steigerung des militärtechnologischen Gewaltpotentials führen.

Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bleibt die Kernfrage: Wie vermag der moderne Mensch sich im individuellen Bewußtsein der Freiheit eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, die den Frieden sichert, ohne innenpolitisch das von Max Weber als »Monopol physischer Gewaltsamkeit« bezeichnete ordnungspolitische Mittel staatlicher Gewalt unverhältnismäßig zu strapazieren bzw. ohne außenpolitisch die strategisch-mililtärischen Gewaltmittel ins außerhalb jeglicher menschlicher Ethik stehende Unermeßliche zu steigern? Will der moderne Staat nicht mit seinen zivilisatorischen Zielen in Widerspruch geraten, so muß die Wahl seiner politischen Mittel dem bislang erreichten Entwicklungsstand auch im Ergebnis der faktisch praktizierten Politik entsprechen. Vor diesem Hintergrund lenkt die nachfolgende Darstellung die Aufmerksamkeit auf eine der diffizilsten Herausforderungen an den demokratischen Rechtsstaat am Ende unseres Jahrhunderts: das Zusammenleben von christlich-säkularen Bürgern und türkisch-sunnitischen Migranten.

Das Desiderat: Ein Gesamtkonzept für die Eingliederung von türkischen Sunniten

Obwohl Muslime seit Jahrzehnten in Europa leben, zeigt das im Alltag zu erlebende faktische Nebeneinander von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft, daß der praktizierte interkulturelle Dialog keine echte kognitive Substanz im Abbau von gegenseitigen Fremdwahrnehmungen und im Aufbau eines Miteinanders in der Bevölkerung bilden konnte. Die Ursache für diese Situation ist primär auf einen zu bescheidenen Grundanspruch an den interkulturellen Dialog, auf halbherzige Integrationsprojekte und vor allem auf das Fehlen eines Gesamtkonzeptes zurückzuführen, mit dem vorrangig ein in größeren wissenschaftsmethodischen und historisch-politischen Zusammenhängen stehendes Programm zur Erforschung der tieferliegenden Strukturen des defizitären Eingliederungsprozesses entwickelt werden kann.

Es ist höchste Zeit, nicht mehr einen oberflächlichen, die wahren Problemdimensionen verschleiernden Dialog zu inszenieren, sondern wissenschaftliche und politische Rahmenbedingungen für einen europäischen Islam zu schaffen, innerhalb derer eine ausreichende Substanz für ein effektiveres Miteinander bei der Basis der muslimischen und nicht muslimischen Bevölkerung gebildet wird. Diesem Desiderat steht der die Praxis beherrschende Minimalanspruch gegenüber, den eher auf Konfrontation statt auf Interessenausgleich ausgerichteten Prozeß als nichthinterfragbare Normalität einer schwerdefinierbaren Migrationsproblematik erscheinen zu lassen; kurzfristig wird u.a. durch Absprachen mit Vertretern des Herkunftslandes von Migranten ein Pseudofrieden demonstriert anstatt weiterführende innovative Dialogkonzepte zu entwerfen, die das Problem an der Wurzel packen, indem man die hiesigen seßhaftgewordenen Muslime als die eigentlichen Ansprechpartner begreift (Hagemann / Albert 1998: 149). So ist es ratsam, sich mit dem Ziel einer Neukonzipierung des Dialogs zunächst der relevanten Einflußfaktoren auf die kognitiven Strukturen der türkisch-sunnitischen Migranten bewußter zu werden sowie eine auf gemeinsame ethische und friedenspolitische Werte bezogene Perspektive zu entwickeln. Im Bewußtsein vieler Politiker und der breiten Bevölkerung bestehen nämlich keine klaren Vorstellungen vom Integrationsprozeß: Während deutscherseits z.T. Integration als Assimilation, Akkulturation bis hin zu Christianisierung verstanden wird, benutzen insbesondere betroffene Muslime sehr ungern den Integrationsbegriff, weil er für sie mit der Aufgabe ihrer kulturellen und religiösen Wurzeln verbunden sein könnte. Sie suchen vielmehr die Gleichberechtigung in gesellschaftlicher, politischer, religiöser und ökonomischer Hinsicht. Die auf den kleinsten gemeinsamen und zugleich wichtigsten Nenner gebrachte und im Terminus »Verfassungspatriotismus« zusammengefaßte Zielvorstellung eines politischen Konsenses ist für viele türkische Sunniten zu abstrakt bzw. zu politikbezogen und gibt ihren Anspruch auf eine eigene Identität zu wenig wieder. Läßt sich dennoch eine für die praxisorientierte Forschung notwendige Formel finden, die sowohl der politischen Kultur einer reifen Demokratie als auch den Bedürfnissen der Muslime entspricht? Mit der Frage nach einer innergesellschaftlichen Kultur des Friedens zwischen Mehrheitsgesellschaft und türkisch-sunnitischen Migranten könnte eine geeignete Formel entwickelt werden. Sie sollte einen realistischen Maßstab für den Dialog setzen und aufgrund ihrer Intention die Möglichkeit bieten, auf methodisch erforderliche Kriterien für eine Analyse der bislang hinter den Symptomen der komplexen Erscheinungsformen verborgenen Ursachen des kränkelnden Integrationsprozesses hinzuweisen. Diese Formel sollte helfen, nach dem bestmöglichen Zustand zu suchen und so Gewaltanwendungen präventiv zu begegnen.

Chancen für eine gemeinsame Formel durch Vermeidung reduktionistischer Planung

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen (Esser / Friedrichs 1990) belegen die durchaus vorhandene Anpassungsbereitschaft von praktizierenden Muslimen, die diejenige Handlung wählen, die eine vergleichsweise günstige Nutzenerwartung verspricht. Lernen und Handeln hängen davon ab, ob entsprechende Vorteile im Aufnahmeland vorliegen, ob es Barrieren bzw. konkurrierende Alternativen z.B. seitens des Herkunftslandes gibt. Ausgehend von der prinzipiellen Lernfähigkeit ist der Eingliederungsprozeß deshalb im Kontext aller auf die Lebensverhältnisse und Bewußtseinsstrukturen der Migranten einwirkenden Einflüsse und Hemmnisse zu begreifen. Dazu gehört wesentlich das auf Integrationskonzepte wirkende Theorie-Verständnis der Moderne, das Schwächen offenbart, die Jürgen Habermas (1978: 49) in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Sicht des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Terminus »Herstellungsdenken« zusammenfaßt. Danach demonstrieren moderne Formen der Konzeptionalisierung latente Interessenleitungen, die ein reduktionistisches Planen zur Folge haben können. Das daraus entstehende Fehlen eines Wechselspiels von Theorie und historisch-politischer Praxis würde letztlich zu einem Mangel an Anpassungsfähigkeit (Staudinger 1987: 3ff) und Realitätsnähe führen. Geprägt von diesem in unterschiedlichen Stufen feststellbaren Planungsdefizit neigen Integrationskonzepte, die sich gelegentlich auf das säkulare Weltbild der Moderne als alleinige normative Größe konzentrieren, dazu, den für den Orient gesellschaftspolitisch sehr wirksamen Faktor Religion (Casanova 1996) nicht hinreichend ernst zu nehmen oder überzubewerten. Dies trübt nicht nur eine realistische Beurteilung der politischen Auswirkungen des Islam, sondern verhindert auch einen selbstkritischen Umgang (Bielefeldt 1998: 29) mit den eigenen Wurzeln, der aber notwendig ist, um keine Überlegenheitsgefühle und Vorurteile bis hin zu Feindbildern (vgl. Heine 1996, Hafez 1996, Hoffmann 1997 und Ruf 1997) zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen, zwischen Muslimen und säkularer Mehrheitsgesellschaft entstehen zu lassen. Zu einer realitätsbezogenen Planung gehört „die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Empathie. Wer sich in die andere Seite hineinversetzen kann ohne Rücksicht darauf, ob er dafür Sympathie oder Antipathie empfindet, trägt dazu bei, Kommunikation an die Stelle von Konfrontation beziehungsweise falscher Harmonie zu setzen. Der von einem politischen Realismus getragene kommunikative Konfliktaustrag hat sowohl die eigene Interessenwahrung im Auge als auch einen Blick für die Interessendefinition des Konfliktpartners„ (Niedhart 1996: 81). Reduktionismus, Interessenleitung und Perzeptionsproblematik treffen aber nicht nur im Kontext der methodischen Selbstkritik, sondern in extremem Maße auch auf die fehlerhafte Adaption westeuropäischer Politikstrukturen durch die türkische Politik seit den 20er Jahren zu.

Die türkische Adaption des Westens und die politische Fremdbestimmung von Migranten

Durch die Überbewertung der kulturellen und religiösen Faktoren (Huntington 1993: 22-49) türkischer Politik wurde auch der Zusammenhang zwischen türkischer Politikgestaltung, islamischen Organisationen in Deutschland und den daraus entstehenden Einflußfaktoren auf Migranten zu gering beurteilt. In Anlehnung an Hans-Gerd Jaschke (1998: 39ff) stellt der politische Fundamentalismus des Herkunftslandes eine wichtige konkurrierende Alternative zur Identifikation mit hiesigen demokratischen Werten dar; dies bedeutet, daß der wesentlich von der kemalistischen Ideologie gestützte türkische Nationalismus eine ebenso zu beachtende negative, polarisierende Wirkung wie der von der ehemaligen Refah-Partei gesteuerte Islamismus ausstrahlt. Beide Facetten prägen gemeinsam die türkische politische Kultur, die erhebliche entwicklungsbedingte Unterschiede zu europäischen Demokratien aufweist. In dieser demokratischen Asymmetrie ist denn auch ein wesentlicher Kernpunkt des Integrationsproblems zu finden: Je verwandter die gelebte politische Kultur (Rittberger 1987: 3ff) ist, um so leichter fällt es, einen politischen Konsens zu erzielen. Ist die politische Beschaffenheit von Aufnahme- und Herkunftsland weit voneinander entfernt, so trägt eine Fremdbestimmung mit dem Ziel, das nationale Interesse des Herkunftslandes zu unterstützen, eher dazu bei, Desintegrationsprozesse zu fördern. Die Integration von türkisch-sunnitischen Migranten und der von gesellschaftlicher Zerrissenheit (Tibi 1998: 18ff) geprägte politische Zustand der Türkei sind letztlich nicht voneinander zu trennen, da man davon ausgehen muß, daß über Generationen der Einfluß der politischen Kultur des Herkunftslandes – sicherlich mit graduellen Unterschieden – Geltung für hiesige Migranten besitzt. Vor diesem Hintergrund ist notwendigerweise nach den Ursachen des inneren Streits um nationalistische wie islamistische Tendenzen in der türkischen Politik zu fragen. Das auslösende Moment der innertürkischen Spannungen scheint ganz wesentlich in der erkenntnistheoretischen Vorgehensweise bei der Republikgründung zu liegen, die man im Gegensatz zu den reformerischen Ansätzen in europäischen Demokratien als extrem sozialtechnisch (Habermas 1978) kritisieren kann. Beim Aufbau der türkischen Republik in den 20er und 30er Jahren erreichte die Anwendung von Gewaltmitteln sicherlich nicht das Ausmaß z.B. der bolschewistischen Revolution, blieb jedoch eine Hinterlassenschaft, welche die heutige Türkei und ihr Verhältnis zu Europa (Steinbach 1996: 95f) noch immer belastet: „Atatürk war in zweifacher Hinsicht Revolutionär. Zum einen verordnete er der türkischen Republik den Laizismus (Säkularismus), also die Trennung von Religion (Islam) und Gesellschaft: sie sollte einen nach Westen ausgerichteten Weg ermöglichen, der zugleich jegliche Einflußnahme der Religion auf die Politik von vornherein verhinderte. Das bedeutete auch, daß der Staat sich nicht wie in anderen Demokratien auf eine neutrale rechtsstaatliche Rahmenordnung beschränkte, sondern sich direkt die Funktion einer Kontrollinstanz über die türkischen Muslime zusprach. (…) Zum anderen setzte er auf den türkischen Nationalismus, der – nach dem Zusammenbruch des osmanischen Vielvölkerstaates – den türkischen Nationalstaat legitimieren sollte. Die Säkularisierung war ein kultureller und politischer Gewaltakt, wie ihn die islamische Welt seither nicht erleben sollte. Die Trennung von Staat und Religion richtete sich nicht nur gegen die osmanische Tradition, die sich jahrhundertelang wesentlich aus dem Islam speiste, sie war auch aus islamischer Sicht fragwürdig…„ (Steinbach 1995: 12f). Diese Herstellung sozio-politischer Strukturen bei der gleichzeitig in der jüngeren türkischen Geschichte ablesbaren politischen Schwerfälligkeit sowie die andauernde tragende politische Stellung des Militärs brachten eine „unveränderbar festgefügte Ideologie„ (Steinbach 1995: 12f) anstatt einer pragmatischen Abfolge von Modernisierungsschritten hervor. Man ahmte den Westen nach, ohne aber die demokratischen Verhaltensnormen zu verinnerlichen (Y.Kemal 1997). Integrationsbemühungen stoßen immer wieder auf dieses Grunddefizit bei Migranten, aber vor allem mit Blick auf die Politik der Türkei selbst, die offenbar darauf abzielt, „die Türken in Deutschland als politischen Vorposten zu mißbrauchen – als Druckmittel gegen türkeikritische Deutsche und als Bollwerk gegen die Islamisten.„ (Der Spiegel 17/1998: 61) Diese Instrumentalisierung von islamischen Organisationen hat Tradition in der Geschichte der türkischen Republik: Bereits unter Ministerpräsident Menderes wurden in den fünfziger Jahren sog. Imam-Hatip-Schulen offiziell wieder eröffnet, und nach dem Militärputsch von 1960 entstand Diyanet, eine Behörde für religiöse Angelegenheiten, die den Zweck verfolgte, den Islam in den Staat einzubinden: „Mit dieser Kontrolle des Islam versucht der Staat radikalen, auf Veränderung des Staatswesens abzielenden islamischen Strömungen entgegenzuwirken. Indirekt gibt sie ihm aber auch die Möglichkeit, den Islam für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Mit ihren rund 84 000 Beamten ist die Religionsbehörde für etwa 72 000 Moscheen in den Städten zuständig, deren Vorbeter und Prediger sie besoldet.„ (Franz 1997: 140) Analog dazu wurde 1982 die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) als Trägerverein von mehr als 600 Moscheen in Deutschland gegründet. Über DITIB schickt die staatliche Behörde Diyanet Imame (Vorbeter), die sowohl als Autoritäten eines Moscheevereins als auch als türkische Staatsbeamte – weisungsgebunden an die jeweiligen Generalkonsule und Religionsattachés vor Ort – über das von der türkischen Staatsdoktrin vorgegebene Verständnis von Religion und Staat wachen und ohne Kenntnisse der hiesigen Sprache und politischen Kultur das jeweilig definierte türkisch-nationale Interesse den Gemeindemitgliedern predigen. Neben dem größten in Deutschland aktiven Verband DITIB besteht noch eine Vielzahl von weiteren regionalen und überregionalen Vereinen, die ebenfalls enge Beziehungen zu ihrem Heimatland pflegen. Den größten Zulauf unter den extremistischen Islam-Gruppen hat die straff organisierte und vom Verfassungsschutz beobachtete Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Mehr als ihre Mitgliederzahl (ca.26.500) wiegt die nur schwer schätzbare Zahl der Sympathisanten. Die IGMG ist als verlängerter Arm der früheren türkischen Wohlfahrtspartei nicht nur der wichtigste Vertreter des politischen Islamismus in Deutschland, sondern stellt zugleich die Gefahr dar, daß sie gewissermaßen als „fünfte Kolonne die häufig militant geführte Auseinandersetzung in der türkischen Gesellschaft nach Europa tragen könnte.“ (Hagemann 1996: 103ff) Offizielles Bekenntnis zum Dialog und schroffe Ablehnung westlicher Kultur nach innen können bei diesen Vereinen weit auseinanderklaffen (Spuler-Stegemann 1998: 68). Alles in allem läßt sich sagen, daß „das gesamte Spektrum der türkischen Politik sich auf unserem Staatsgebiet wiederfindet und die Ereignisse in der Türkei auch hier ihr Echo finden. Die massive Präsenz türkischer Medien (…) beschleunigt dieses Echo nicht nur, sondern knüpft die Menschen sehr eng an die Heimat, die sie verlassen haben.“ (Müller 1998: 5) Innertürkische Spannungen erfahren via Moschee- und Kultur-Vereine einen Konfliktexport, der mehr bewirken kann als nur die Behinderung des Integrationsprozesses.

Lösungsmöglichkeiten und Aufgaben der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft

Aus der politischen Fremdbestimmung türkisch-sunnitischer Migranten resultiert die Aufgabe muslimischerseits, einen eigenen souveränen Weg zu gehen, der nicht den Verlust der Identität, sondern lediglich die Anpassung an die politische Kultur eines nicht-islamischen Landes bedeutet: „Die Muslime müßten sich die Flexibilität, die im Koran, in der Überlieferung des Propheten Muhammad und im Rechtssystem zu finden ist, selbst zunutze machen.(…) Es ist dabei nicht hilfreich, Lösungen, die in den jeweiligen Heimatländern entwickelt wurden und dort ihre Gültigkeit besitzen, unüberarbeitet zu importieren. Es gilt, sich der Aufgabe zu stellen, für die islamische Diaspora ein Modell zu entwerfen, das zu ihrer konkreten Lebenssituation paßt.“ (Hagemann/Khoury 1997, 124) Deutscherseits heißt es, die Demokratiebemühungen von Vertretern der türkischen Politik zu unterstützen, aber auch unabhängige muslimische Organisationen als Ansprechpartner zu suchen, diesen mittels der Gesetzgebung zu helfen und dialogorientierte Glaubens- und Bildungseinrichtungen (Graf 1998: 12f) für Imame und Gläubige zur Herausbildung eines »Euro-Islams« mittelfristig zu schaffen. Wenn dies schrittweise erfolgt, bestehen gute Chancen, daß praktizierende türkische Sunniten und christlich wie säkular geprägte Europäer „sich zusammentun, um ihren je eigenen und ihren gemeinsamen Beitrag zur Lösung der gemeinamen Probleme der Menschen in aller Welt leisten.“ (Hagemann/Khoury 1997, 125)

Literatur

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Dr. Reiner Albert, Historiker und Politologe M.A., Lehrbeauftragter am Seminar für Katholische Theologie der Universität Mannheim, ehemaliger Leiter des Instituts für deutsch-türkische Integrationsforschung an der Sultan Selim Moschee in Mannheim.

Militär kontra Islamismus

Militär kontra Islamismus

von Ulrike Dufner

Besteht die Gefahr, daß sich in der Türkei ein zweites iranisches System etabliert? Kommt es in dem am engsten mit Europa verbundenen Staat des mittleren Ostens zu einem islamischen Gottesstaat? Was steckt hinter dieser Agitation der türkischen Militärs? U. Dufner untersucht die Hintergründe der bisher beispiellosen Kampagne des Militärs gegen islamistische Aktivitäten, der Parteiverbote, Kleidungsvorschriften, Zugangsbeschränkungen für religiöse Schulen usw.

Es vergeht gegenwärtig kaum ein Tag, an dem die türkischen Zeitungen nicht über Demonstrationen von StudentInnen gegen das Kopftuchverbot, über Strafverfahren gegen AnhängerInnen islamistischer Organisationen oder über die Laizismus-Frage berichten. Diese Berichte lassen sich wie ein roter Faden bis zum 28.Februar 1997 zurückverfolgen. An diesem Tag verfaßte der Nationale Sicherheitsrat der Türkei, ein Gremium bestehend aus hochrangigen Militärs und Vertretern der Regierung, ein Memorandum gegen den »Fundamentalismus«. In dem darin enthaltenen 20-Punkte-Programm wird die damalige Regierung unter der Führung von Necmettin Erbakan aufgefordert, Maßnahmen zur Eindämmung islamistischer Aktivitäten zu ergreifen.

Das Militär fordert unter anderem:

  • Maßnahmen, die verhindern sollen, daß »muslimische Militante« den Verwaltungsapparat durchdringen;
  • die Wohlfahrtspartei wird angehalten, nicht weiter Offiziere zu rekrutieren, die aufgrund von islamistischen Sympathien vom Militär ausgeschlossen wurden;
  • private, nicht staatlich kontrollierte Koran-Kurse zu schließen;
  • jegliche Propaganda für die Einführung des islamischen Rechts in privaten Rundfunk- und Fernsehsendern zu verbieten;
  • Einschränkungen bezüglich religiöser Kleidung in öffentlichen Einrichtungen zu erlassen;
  • Finanzorganisationen, die Sufi-Orden bzw. Religionsgemeinschaften angehören, stärker zu kontrollieren;
  • die Schulpflicht auf acht Jahre zu verlängern;
  • den Paragraphen 163 des türkischen Strafgesetzbuches wieder einzuführen, der das Politisieren von Religion verbietet und der erst Anfang der neunziger Jahre abgeschafft worden war.

Eine weitere Maßnahme von zentraler Bedeutung ist die Einrichtung der sog. Arbeitsgruppe West innerhalb des Militärs, die Informationen über die Aktivitäten islamistischer Gruppierungen sammeln soll.

Jede einzelne dieser Forderungen stellte für sich schon eine Kampfansage an den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan dar und war für diesen unannehmbar. Betrachtet man die Forderungen als Ganzes, so wird deutlich, daß die Struktur der islamistischen Strömung zerschlagen und das Unterbreiten von als »islamisch« verstandenen Symbolen in der Öffentlichkeit verboten werden sollten. Die Forderungen richteten sich in großen Teilen auch gegen Kernelemente der Politik der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) Erbakans seit den 80er Jahren. Nach dem erzwungenen Rücktritt Necmettin Erbakans im Juni letzten Jahres wurden die von den Militärs geforderten Maßnahmen sukzessive umgesetzt.

So wurde im August der Zugang zu Koranschulen beschnitten und zudem die Pflichtschulzeit auf acht Jahre erhöht. Das diesbezüglich vom Parlament verabschiedete Gesetz sieht ein Verbot religiöser Unterweisung in den ersten acht Schuljahren vor. Nur Schüler, die mindestens fünf Schuljahre absolviert haben, können sich wahlweise zum Religionsunterricht anmelden, der außerhalb der normalen Schulzeiten oder in den Ferien stattfindet. Zudem darf der Religionsunterricht nur von Geistlichen oder Lehrern gehalten werden, die von der staatlichen Religionsbehörde zur Lehre befugt sind. Schließlich sollen Absolventen von Imam-Hatip-Schulen nur noch Theologie studieren dürfen. Mit dieser Maßnahme und dem Verbot der religiösen Unterweisung in den ersten acht Schuljahren wird den Imam-Hatip-Schulen der Boden entzogen, da sie ab dem fünften Schuljahr einsetzen.

Die Aktivitäten richten sich auch zunehmend gegen Stiftungen der islamistischen Strömung. Der Nationale Sicherheitsrat beriet im Juni 1997 über die Finanzquellen islamistischer Organisationen und insbesondere über ca. 500 Stiftungen, die gegründet wurden, um die religiöse Ausbildung zu organisieren. Nach Angaben des Nationalen Sicherheitsrates existierten zusätzlich zu den 500 Stiftungen rund 2.500 Vereine, etwa 1.000 Firmen und Konzerne, 1.200 Heime und 800 Schulen, in denen die Umwandlung der Türkei in einen Gottesstaat propagiert werde. Erste Ermittlungen wurden im August 1997 gegen die Nationale Jugenstiftung, eine der Wohlfahrtspartei nahestehende Stiftung, aufgenommen. Diese Stiftung unterhält Studentenwohnheime, organisiert Veranstaltungen und Diskussionsrunden zu diversen Themen mit gesellschaftspolitischem Bezug.

Auch der »Verein Unabhängiger Unternehmer« gerät unter Druck. Er wurde 1992 von kleinen und mittleren Unternehmern, insbesondere aus Zentralanatolien, gegründet, die dem islamistischen, in Teilen nationalistischen, politischen Lager zuzuordnen sind. Die Staatsanwaltschaft forderte im Mai 1998 das Verbot des Vereins, u.a. wegen finanzieller Unterstützung islamistischer Organisationen.

Im Juli 1998 wurde der Bau neuer Moscheen von der Genehmigung des staatlich ernannten Muftis abhängig gemacht; seit August 1997 dürfen nur noch Muezzine großer Moscheen über Lautsprecher zum Gebet rufen. Weitere Maßnahmen, die sich gegen ein öffentliches Darstellen islamischer Symbolik richten, betreffen insbesondere neu erlassene Kleidungsvorschriften. Im April dieses Jahres werden neue Vorschriften über das korrekte Erscheinungsbild männlicher Beamter erlassen. Darin heißt es u.a., daß die Barthaare die Lippen nicht bedecken dürfen, der Schnurrbart nicht an den Seiten herunter hängen und auf der Höhe der Lippen enden solle. Die unterschiedlichen Bärte sind in der Türkei oftmals Kennzeichen der politischen Zugehörigkeit der Bartträger und haben einen hohen symbolischen Stellenwert. Der Bart von streng gläubigen Muslimen oder von Islamisten ist ein zu einem Halbmond geformter Vollbart. Dieser entspricht nun nicht mehr dem geforderten Erscheinungsbild türkischer Beamter. Eine vergleichbare Vorschrift enthält die neue Hochschulordnung. Vom kommenden Hochschuljahr an soll nach der neuen Hochschulordnung das Tragen des symbolträchtigen Türban (Kopftuch) verboten werden. Zur Immatrikulation bzw. Verlängerung des Studentenausweises sind Photos vorzulegen, auf denen Kopf und Nacken der Studentinnen unbedeckt und die Männer ohne Vollbart abgebildet sind. Die Hochschuldirektoren sind für die Durchführung dieser Vorschriften zuständig. Verwaltungsbeamte oder DozentInnen und ProfessorInnen, die Studentinnen mit Kopftuch oder Studenten mit Vollbart die Teilnahme an Vorlesungen oder Prüfungen erlauben, müssen mit Disziplinarverfahren rechnen.

Im November 1997 wurden des weiteren erste Maßnahmen zur Einschränkung privater islamistischer Rundfunksender beschlossen, die „gegen die säkularen Grundlagen der Verfassung verstoßen.“

Schließlich wurde im Januar 1998 die Wohlfahrtspartei vom türkischen Verfassungsgericht wegen Verstoßes gegen das Laizismusprinzip der türkischen Verfassung verboten. Gegen Necmettin Erbakan und fünf weitere führende Funktionäre der Partei wurde ein fünfjähriges Politikverbot verhängt.

Zu fragen ist nach dem Hintergrund dieses Generalangriffs des türkischen Militärs auf die islamistische Strömung. Eines kann mit Sicherheit schon ausgeschlossen werden: Die von den türkischen Militärs und den Medien verbreitete Panik vor einem zweiten iranischen System, vor dem Sturz des politischen Systems und der Errichtung eines wie auch immer gestalteten »islamischen Gottesstaates«. Das ist nicht die eigentliche Ursache. Es geht in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um andere zentrale Fragen der Macht und des Machterhaltes.

Zunächst seien einige Gründe aufgeführt, warum der vermeintliche Schutz vor einem »islamischen Gottesstaat« nicht das Motiv der Militärs darstellt.

Gerade in der Übergangszeit zwischen Militärherrschaft und ziviler Regierung nach dem Militärputsch 1980 wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, um dem Islam eine spezielle Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Hierfür wurden insbesondere in der Zeit der direkten Militärherrschaft zahlreiche Anstrengungen zum Ausbau islamischer bzw. religiöser Bildungseinrichtungen unternommen: So wurde erst 1982 die sogenannte Moral- und Sittenlehre als Pflichtfach in den Grund- und Mittelschulen verfassungsmäßig festgeschrieben. AbsolventInnen der religiösen Gymnasien (Imam-Hatip-Gymnasien) erhielten in diesem Zeitraum Zugang zu allen Fachgebieten an den Universitäten. Die Imam-Hatip-Schulen insgesamt – also Mittelschulen und Gymnasien – wurden stark ausgebaut (die Anzahl von Imam-Hatip-Gymnasien stieg von 249 im Jahr 1979/80 auf 341 im Jahr 1982/83, die der Mittelschulen von 349 auf 374 im selben Zeitraum). Darüber hinaus stieg die Anzahl der staatlichen Korankurse von 2.002 im Jahr 1979 auf 4.691 im Jahr 1988.

Die 1983 gewählte Regierungspartei ANAP unter der Leitung Turgut Özals stellte des weiteren ein Sammelbecken der vor dem Militärputsch zugelassenen politisch-konservativen bis hin zu islamistischen Strömungen dar. Unter der Regierung Turgut Özals wurde eine Ideologie der Türkisch-Islamischen Synthese propagiert, die versuchte, eine Klammer um das islamistisch-nationalistische Spektrum zu legen und diese Strömungen einzubinden. So waren Abgeordnete der ehemaligen islamistischen Nationalen Heilspartei (die Vorgängerin der im Januar verbotenen Wohlfahrtspartei Erbakans) ebenso in die ANAP eingebunden wie Anhänger von religiösen Sufi-Orden, etwa des Nakshibendi-Ordens. In dieser Zeit wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen und Begünstigungen für die Gründung sogenannter Islamischer Finanzinstitutionen gelegt. Diese Finanzinstitutionen bildeten mit den im »Verein Unabhängiger Unternehmer« (MÜSIAD, Müstakil Isadamlar Dernegi) zusammengeschlossenen Unternehmern das »islamistische« Segment der türkischen Ökonomie der 90er Jahre.

Schließlich war die Wohlfahrtspartei insbesondere seit Anfang der 90er Jahre bestrebt, ihr Image einer Partei der konservativen Moschee-Besucher abzustreifen. Sie versuchte verstärkt, eine konservative, religiös angehauchte Partei der Mitte zu verkörpern und gleichzeitig die diversen Flügel der islamistischen Strömung einzubinden. Denn die islamistische Strömung der Türkei ist seit Mitte der 80er Jahre enorm gespalten. Auf der einen Seite finden sich traditionsbewußte, konservative Kräfte – insbesondere aus zentralanatolischen Gebieten – die in Teilen einige der Sufi-Orden unterstützen, sowie die nach oben strebenden, jüngeren Unternehmer Anatoliens, zusammengeschlossen in dem Verein MÜSIAD. Auf der anderen Seite findet sich eine städtische Klientel, die sich aus unabhängigen studentischen Gruppierungen und aus eher vormals sozialdemokratisch orientierten verarmten Unterschichten zusammensetzt. Schließlich stellen die kurdischen Gebiete von jeher eine der traditionellen Wählerhochburgen der islamistischen Partei dar.

Betrachtet man die Politik während der einjährigen Regierungszeit Erbakans, also von Juli 1996 bis Juni 1997, so vermag man keine Elemente zu finden, die auf einen Sturz des bestehenden Systems und die Gründung eines wie auch immer gearteten islamischen Staates hinweisen. Vielmehr war die Wohlfahrtspartei gezwungen, ihr Versagen bei der Lösung dringend anstehender sozial- und wirtschaftspolitischer Fragen durch symbolische Akte zu kompensieren. Dementsprechend versuchte die Partei, Assoziationen zur siegreichen Erzwingung Konstantinopels für sich zu instrumentalisieren und forderte, das Ayasofya-Museums wieder in eine Moschee umzuwandeln; die RP forderte den Bau von Moscheen am Taksim-Platz in Istanbul, auf dem eine Büste von Mustafa Kemal (dem Gründer der Türkischen Republik) thront, und in Cankaya, dem Regierungsviertel Ankaras. Erbakan wollte die öffentlichen Dienstzeiten an die Fastenrituale anpassen und Pilgerreisen nach Mekka auf dem Landweg ermöglichen. Schließlich reichte er ein Gesetzesvorhaben ein, welches das Tragen des Kopftuches an öffentlichen Verwaltungen, Schulen und Universitäten erlauben sollte. Verglichen mit der Förderung islamischer Einrichtungen zur Zeit der Militärherrschaft und der ANAP-Ära sind diese Maßnahmen nicht besonders aufsehenerregend.

Der Grund für das harsche Vorgehen der Militärs gegen die islamistische Strömung seit dem letzten Jahr ist vielmehr auf folgende Ursachen zurückzuführen:

Der nationalistisch-konservative Block in der Türkei ist in verschiedene politische Parteien gespalten, die Mutterlandspartei, ANAP (Vorsitz: Mesut Yilmaz), die Partei des Rechten Weges, DYP (Vorsitz: Tanju Ciller), die Demokratische Türkei Partei, DTP (einige Abgeordnete waren u.a. aufgrund der Ciller-Erbakan- Regierungskoalition aus der DYP ausgetreten und hatten die DTP gegründet) und diverse kleine nationalistische Parteien wie die faschistische Nationale Bewegungspartei, MHP (deren ehemaliger Vorsitzender Alparslan Türkes und die »Grauen Wölfe« international bekannt sind), und die Große Einheitspartei, BBP (eine islamistisch-nationalistische Partei, die sich in den neunziger Jahren von der MHP abspaltete). Keine der großen konservativen Parteien – ANAP bzw. DYP – war in den 90er Jahren in der Lage, allein die Regierung zu stellen. Einer Koalitionsbildung standen insbesondere persönliche Rivalitäten im Wege. Im Unterschied dazu gewann die Wohlfahrtspartei in den 90er Jahren bei den Kommunalwahlen und war stärkste Fraktion bei der Parlamentswahl 1995. Es zeichnete sich ab, daß sie ihre Basis und Wählerschaft trotz mangelnder politischer Lösungskonzepte durch eine geschickte Propaganda und die besondere Arbeit ihrer Kommunalregierungen stabilisieren konnte und vermutlich in der Lage gewesen wäre, sie weiter auszubauen. Die RP drohte zusehends, die ehemaligen Parteien, die über Jahrzehnte die Regierung stellten, abzulösen und eine dominante Partei der Mitte zu werden.

Interessant ist zudem, daß der eingangs erwähnte 20-Punkte-Katalog des Nationalen Sicherheitsrates zu einer Zeit verabschiedet wurde, als wesentlich ein anderes Ereignis die Aufmerksamkeit der türkischen Öffentlichkeit erregten: der Unfall von Susurluk. Die Unfallopfer in dem Fahrzeug legten direkte Verbindungen zwischen türkischer Drogenmafia, Killerkommandos und Militär bzw. Sicherheits- und Staatsapparat nahe. Selten zuvor war das Ansehen des Staates und des Sicherheitsapparates derart ins Wanken geraten. Es gab zahlreiche oppositionelle Aktivitäten der Zivilgesellschaft, die eine Aufklärung dieser Verbindungen einforderte. Zudem wurde mit diesem Unfall das Vorgehen des türkischen Militärs und Sicherheitsapparates gegen die kurdische Bewegung in Mißkredit gebracht. Mit dem Proklamieren eines neuen Feindbildes und einer neuen Bedrohung der inneren Sicherheit sollte von den Verbindungen zwischen Staat, Mafia und Sicherheitsapparat abgelenkt und die Legitimität des Staates und des Militärs wieder hergestellt werden.

Von kritischen Wissenschaftlern der Türkei werden die Gründung eines Krisenstabes beim Ministerpräsidium (9. Januar 1997), das Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates und die Errichtung der »Arbeitsgruppe West« im Militärapparat im Februar 1997 als ein indirekter Militärputsch bezeichnet. Der Krisenstab ist damit beauftragt, Maßnahmen zur Vorbeugung, Verhinderung und Beseitigung von Krisen zu ergreifen, die die innere Einheit, Verfassung, Demokratie etc. gefährden. Dieser Krisenstab wurde in das Sekretariat des Nationalen Sicherheitsrates eingebunden, dem Ministerpräsidenten unterstellt und ist dem Militär und dem Ministerpräsidenten verantwortlich. Er untersteht jedoch nicht der Kontrolle des Parlaments. Hiermit hat sich das Militär das Recht auf die Intervention in die Politik des Landes gesichert, die über das schon bestehende Maß an Einflußnahme des Nationalen Sicherheitsrates hinausgeht. Die Arbeitsgruppe West innerhalb des Militärs hat die Aufgabe, Aktivitäten der islamistischen Strömung zu beobachten. Zudem gelang es dem Militär, die zivile Regierung derart unter Druck zu setzen, daß sie die in dem Memorandum geforderten Maßnahmen umsetzte und entsprechende Gesetze durch das Parlament peitschte. Mit dem fortdauernden Beschwören der Gefahr eines »zweiten Iran« wird die Legitimation für militärisches Eingreifen geschaffen.

Möglicherweise ist die Wohlfahrtspartei oder die im vergangenen Dezember neu gegründete Nachfolgepartei, die Tugendpartei (FP, Fazilet Partisi), auch deswegen kein geeigneter Bündnispartner für das Militär, weil sie im Unterschied zu den übrigen konservativen Parteien über eine Verankerung in der Bevölkerung verfügt, auf den Druck dieser Basis reagieren muß und den Militärs nicht Garant genug für ihr freies Agieren sein kann. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, daß auch die Tugendpartei von einem Verbot bedroht ist. Denn am 16. August verkündete das Staatssicherheitsgericht, zu prüfen, ob die Tugendpartei nicht lediglich eine Fortsetzung der Wohlfahrtspartei darstelle und damit ebenso von dem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts vom Januar diesen Jahres betroffen sei.

Dr. phil. Ulrike Dufner, Köln, Mitglied der INAMO-Redaktion

Recht und Frieden

Recht und Frieden

Gedanken zu einem interkulturellen Recht

von Arnold Köpcke-Duttler

Nach herrschendem westlichem Verständnis entstammt das Recht zum größten Teil, wenn nicht ausschließlich, formellen Akten staatlicher Gewalt und wird durch die Exekutivorgane des Staates durchgesetzt. Betrachtet man dann noch in der Tradition der Hobbes’schen Staatsphilosophie den Staat letztlich als durch die (potentielle) Gewalttätigkeit der Individuen konstituiert, erscheint das Recht als so eng mit der Gewalt liiert, daß es kaum wundernehmen kann, wenn seine gleichwohl postulierte Friedensfunktion nur allzu oft ausbleibt oder sich gar in ihr Gegenteil verkehrt. Aber vielleicht ist das »nur« die Folge dieser sozialen Konstruktionen über das Recht, eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung. Der folgende Beitrag skizziert alternative rechtsphilosophische Konstruktionen.

Gustav Radbruchs (1961, S. 101) Weckruf, den Menschen im Recht zu sehen, ist geprägt von seiner in humanistischem Geist verwurzelten Güte und Menschenfreundlichkeit. Hellenistisch-römische philanthropia und humanitas durchdringen sein menschliches Recht. Sein rechtsphilosophischer Sinn richtet sich auf die Notwendigkeit einer »Völkerbundgesinnung« (Radbruch, 1919) und auf die Anerkennung vorstaatlicher Menschenrechte. Die Kulturwerte Goethes, Dantes, Shakespeares, Molières könnten nicht als Torpedos verschossen, als Giftgase verblasen werden. Die höchsten Kulturwerte ließen sich nicht in militärischen Machtziffern, nicht in Quantitätsbestimmungen ausdrücken; Kultur sei eine unvergleichliche Qualität. Die Nationen bildeten keine konkurrierenden oder kämpfenden »Kulturmassen« verschiedener Größe. So ruft Radbruch gerade den Juristen dazu auf, sich nicht mit dem Krieg wie einem unabwendbaren Unheil abzufinden: „An ihn vor allem ist die Frage gestellt, ob über den Planeten, der uns Menschen anvertraut ist, der Zufall herrschen soll oder die Vernunft“ (Radbruch, 1973, S. 307). In diesem Aufruf liegt beschlossen, daß das Recht etwas Höheres ist als ein Teil der Staatsraison, daß es dem Staat gegenüber ein „eigengesetzliches Geistesgebilde“ ist, „eine selbständige Kulturmacht“ (Radbruch, 1947, S. 12).

Der Mensch im Recht

Dieser Eigenstand hat geschichtliche Bedeutung erlangt, als im neunzehnten Jahrhundert dann an die Menschenrechte appelliert wurde, wenn der einzelne Mensch von der autoritären Staatsmacht oder den Ungerechtigkeiten der Gesellschaftsordnung in seiner Existenz bedroht wurde. Für Hannah Arendt (1962) wurden so fast unmerklich die Menschenrechte zu einer Art zusätzlichen Ausnahmerechts für die Unterdrückten, zu einem „Minimum an Recht für die Entrechteten“ (S. 435). Arendt hat sich allerdings nicht der ironischen Bemerkung enthalten, zu den Aporien der Menschenrechte gehöre auch, daß diese von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert worden seien, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschieden habe. Diese Bemerkung deutet eine Kritik der Menschenrechte an. Das unabhängige Recht des Menschen, befreit von Staatsbürgerschaft und nationaler Differenz, das Menschenrecht für alle, werde doch immer wieder auch vielen Menschen vorenthalten, seine Geltung sei einem großen Teil der Menschheit verweigert worden, sei auch der Mensch seine Quelle und sein Ziel.

Grenzen des Menschenrechts

Wir gehen nicht der Frage nach, ob das Pathos des abstrakten Menschen, das Absehen von der Pluralität der Menschen, zu einer ausweglosen Aporie und Selbstwiderlegung führt (vgl. Hofmann, 1992; Leuenberger, 1983) , sondern führen eine Beobachtung Johannes Schwartländers (1979) an. Die moderne Zivilisation sei heute dabei, alle Völker und Kulturen umzuprägen, notfalls auch gegen deren Willen, Heilsaussichten und Gefahren über die ganze Erde verbreitend. Schwartländer warnt vor einer Hypertrophie des Menschenrechtsgedankens, vor seiner politischen Instrumentalisierung und Ideologisierung. Nicht alle Kulturen hätten Menschenrechte gekannt. Das Ethos der Menschenrechte decke weder das Ganze menschlicher Wertvorstellungen ab, noch bilde es das höchste Ethos: „Wir kennen die Ethik des Mitleids, die Grundforderung der »Ehrfurcht vor dem Leben«, und das Sippenethos afrikanischer Völker tritt in unseren Blick. Es scheint z.B. das In-Würde-alt-Werden und sterben-Können besser zu lösen als die westlichen Industriegesellschaften. Die Menschenrechte sind nicht das höchste Ethos. Die buddhistische Leidens- und Erlösungslehre und die christliche Liebe greifen in Sinntiefen, die menschenrechtliche Normen gewiß nie zu erreichen vermögen“ (a.a.O., S. 62).

Georg Picht (1980) hat in seinen Gedanken »Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Lehre von den Menschenrechten« (S. 126) herausgearbeitet, der klassische (europazentrierte) Vernunftbegriff sei zusammengebrochen, mit ihm das Menschenrecht als Vernunftrecht. Verstehe man die Menschenrechte als über- und außerstaatliche Normen, die für die ganze Menschheit ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Religionen, der Kulturen, der politischen Systeme gölten, so müsse diese Gültigkeit begründet werden auf der Basis einer Anthropologie, die von allen Völkern der Erde akzeptiert werde. Nach dem Bruch jener Anthropologie der Menschenrechte selbst in Europa (s. Wieacker, 1983), sei die Utopie einer globalen Menschenrechtsordnung nur ein leerer Wahn. Die Humanität des Menschen läßt sich durch universale Normen nicht abstrakt definieren. So muß eine interkulturelle und ökumenische Menschenrechtsbewegung initiiert werden.

Das Menschenrecht hat es beispielsweise bislang nicht vermocht, Kinder vor dem Zwang zum Töten zu schützen, vor der Verwendung als Kindersoldaten (vgl. Massey, 1998). Völkerrechtlich ist es gerade einmal zu der Verabredung einer Altersgrenze gekommen, die immer wieder durchbrochen wird. Nach jahrezehntelangen Anstrengungen sind die Regierenden jetzt dahin gelangt, ein Weltstrafgericht zu bilden. Unlängst hat eine Staatenkonferenz in Rom ein Statut für ein ständiges Strafgericht diskutiert, das Völkermord, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll ahnden können. Umstritten bleibt allerdings u.a. immer noch die Frage, ob das geplante Tribunal auch für das Verbrechen des Angriffskriegs zuständig sein soll. Kern der Diskussion ist die Unabhängigkeit einer Welt-Strafjustiz (vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung vom 18./19.07.98, S. 1). Zu viele Nationalstaaten fürchten, daß ihre Soldaten nach internationalen Einsätzen belangt werden, daß das Weltstrafgericht von einzelnen Staaten als Bühne der Propaganda mißbraucht wird. Weiterhin wollen Staaten sich im Vertrag vorbehalten, daß das Gericht ihre Staatsangehörigen nicht wegen Kriegsverbrechen verfolgt. Eine Einigung auf einem hohen Niveau des Schutzes vor Kriegsverbrechen steht immer noch aus, auch wenn es schon die alliierten Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokyo sowie UN-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda gegeben hat.

Die aufgenötigte Vereinheitlichung

Franz Wieacker (1983) betrachtet es als eine kaum lösbare Aufgabe, die westeuropäisch-atlantische Industriegesellschaft, diese Wohlstandsgesellschaft, aufrechtzuerhalten unter Verzicht auf die zerstörerische Ausbeutung der äußeren Natur und unter Verzicht auf die Manipulation der Menschennatur. Die zerstörerischen Tendenzen entdeckt er im Rechtswesen als Machtpositivismus, doktrinären Formalismus, opportunistischen Relativismus und als Planungshypertrophie des social engineering.

Wir können weiter sagen, daß diese Gesellschaftsordnung trotz ihres inneren Zwiespaltes auf eine supranationale Rechtsvereinheitlichung hin drängt, auf das Recht der globalen Waren-, Dienstleistungs- und Kapital-„Ströme«. Genährt auch durch militärische Erfolge, verallgemeinert sich das Recht des Siegers, des ökonomisch Überlegenen (s. Henry, 1994). Mit anderen richtet Henry (1997) der aufgenötigten Vereinheitlichung das Argument entgegen, in einer multikulturellen Welt könne Gerechtigkeit nur die Erhaltung einer möglichst großen Zahl von Kulturen bedeuten. Der »Rechtstransfer« verstoße gegen die Idee der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit verlangt, in der Möglichkeit des anderen eine Lebensbedingung auch des eigenen Rechts zu sehen: „Zu vermuten ist, nicht ohne Grund, daß in nicht-westlichem, in mythischem, in dem, was weitgehend als Nicht-Recht gilt, Schätze verborgen liegen, die uns weiterhelfen könnten“ (ebd., S. 51). In Richtung auf das Bodenrecht fragt Henry zum Beispiel, wie ein europäischer Jurist Bodenrecht anders als eine Regelung zur Verteilung eines knappen Wirtschaftsguts, wie er den Boden anders als privates Eigentum, wie er Grund und Boden anders als eine zweidimensionale Fläche verstehen, wie er sein Recht zurückhalten könne, um kulturfremdes Recht zu erkennen. Weiter fragt er, wer in der Lage sei, die durch seine eigene Sprache bewirkten Trennungen und Verbindungen der Wirklichkeit zu transzendieren. Die Erfahrung, daß wir Tieren, der Natur insgesamt, unser Eigentums-Recht aufdrängen und zugleich Menschen anderer Kulturen ihr Recht, in einem anderen Recht zu leben, absprechen, stimmt bedenklich. Könnte es sein, daß nicht so sehr das Fremde uns im (Rechts-) Wege steht, sondern wir selbst uns widerlegen – wir uns ein Eigentumsrecht an der Erde, an anderen Kulturen anmaßen, das im selben Atemzug Menschen anderer Kulturen abgesprochen wird? Der Weg eines menschlichen Rechts dagegen bewegt sich als die Einheit von Hingabe und Stärke, als Recht des Gebens (s. Köpcke-Duttler, 1986).

Kritik einer panökonomischen Ideologie

Raimon Panikkar (1995) widerspricht der modernen panökonomischen Ideologie und erinnert an die ökonomische Vision traditioneller Kulturen. Diese suche statt einer globalen Wirtschaft den regionalen Wohlstand, statt des globalen Profits die regionale Selbstversorgung, statt einer Ausweitung der Wirtschaft als allgemeingültigen Wert in einem universalen Bereich die Begrenzung auf dem Gebiet der Wirtschaft. Panikkar sieht die Menschen im Kampf gegen das System, mit dem die menschliche Welt unausweichlich verknüpft zu sein scheint, gegen das System der technokratischen und panökonomischen Ideologie. Mit Lewis Mumford (1986) kritisiert er die Megamaschine der abendländischen technologischen Kultur, das Prinzip der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die der neuzeitlichen Wirtschaft eigen sei. Er fügt an, zur heutigen Welt gehörten schätzungsweise 200 Millionen Menschen, die in »Konzentrationslagern« Slums, Favelas, Ghettos, Bidonvilles lebten; im Jahr 2000 würden wohl einige Milliarden Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen von Slums der Großstädte dahinvegetieren. Zumindest für die Armen habe der Dritte Weltkrieg bereits begonnen. Der europäische Individualismus, gefesselt an eine panmonetäre Ideologie, und der »wissenschaftliche Humanismus«, der auch die europazentrierten Menschenrechte trage, betrachteten den Menschen als König der Schöpfung, als Herrn des Universums. Panikkar streitet gegen eine anthropozentrische Vision der Wirklichkeit, die zugleich die absolute Herrschaft über den Menschen in sich einschließe. In Armut, Ungerechtigkeit, Hunger, Ausbeutung entdeckt Panikkar eine umfassende humanistische Krise, die die ökologische Misere noch verschärfe. Er erinnert daran, daß die atomaren, biologischen und chemischen Vernichtungsmittel erbarmungslos die Unmenschlichkeit und die Übel des modernen Kriegs dramatisieren. Schließlich warnt er davor, die neue Wissenschaft der Ökologie als weiteres Instrument zu nutzen, die Erde zu beherrschen. Insofern reicht es keineswegs hin, den Menschenrechten ökologische Grundpflichten anzufügen. Eine neue Grundgebung der Menschenrechte, des Rechts steht aus. Es geht um ein Recht sowohl für den Menschen als auch für die Welt. Der Religionsphilosoph Panikkar, Sohn einer (katholischen) spanischen Mutter und eines (hinduistischen) indischen Vaters, heute an der Grenze zwischen ehemals islamischer und abendländisch-christlicher Kultur am Südrand der Pyrenäen lebend, schlägt die Ganzheitserfahrung einer kosmotheandrischen Vision als Grundlage vor.

Interkulturelles Rechtsgespräch

<-2>Zu einem ernsthaften interkulturellen Rechtsgespräch gehören eine ökumenische Offenheit und eine nicht-eurozentristische Perspektive der menschlichen Würde und Selbstrealisierung. Praktisch zeigt sich diese Offenheit darin, daß chilenische Frauengruppen Gemeinschaftsküchen aufbauen, die Selbsthilfe von Arbeitslosen fördern, Kinder und Jugendliche verteidigen, eine Verbesserung der medizinischen Versorgung verlangen. In dem Protest der Frauen gegen Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Hunger wird ein menschliches Recht konkret (s. Schutte, 1991).<0>

Francis X. D’Sa (1991) stellt dem anthropozentrischen Jus eine kosmozentrische Weltsicht entgegen. Hier wird die menschliche Person als Teil eines größeren Ganzen gesehen. Dharma heißt rechte Ordnung und Harmonie in der indischen Tradition, grundlegende Bezogenheit, Verbundenheit mit allem anderen, Totalität der Beziehungen. Die Entdeckung der kosmischen Wurzeln bildet auch einen neuen Rechts-Weg: Anthropologie kann nicht länger Kosmologie ausklammern, Kosmologie schließt Anthropologie als integralen Teil ein. „In solchem Kontext ist das Jus, ein Mensch zu sein, bereits im Dharma, kosmisch zu bleiben, begründet. Die Rechte des Menschen sind verwurzelt im Nährboden des kosmischen Dharma, der die Rechte des Menschen nährt“ (a.a.O., S. 184). Das Menschenrecht und der Dharma des Kosmos sind eine orbitale Bewegung. Der Mensch muß den Kosmos vor dem Menschen beschützen. Das Recht, ein Mensch zu sein, ist auf dem Dharma, kosmisch zu bleiben, gebaut (s. Kessler, 1996). Das Recht des alten Indiens ist zentriert um den Dharma, die Grundlage eines geordneten Kosmos, das dynamische Ordnungsprinzip der Welt. Dharma ist das Recht, die Pflicht, die Moral, das Tragende, der Halt, die Stütze (s. Stietencron, 1980; Derrett, 1980).

Den Gleichklang von Recht und Pflicht im alten indischen Recht kann ein synepeisches Rechtsdenken verdeutlichen, das Fikentscher (1980) vorgeschlagen hat. Die Synepeik philosophiert in verschiedenen Denkarten: in der griechisch-abendländischen, in einer gnostisch-zyklischen, in einer magischen. Synepeisches Denken ist nicht gebunden an einen bestimmten Argumentationsweg, sei er ein logisch-systematischer, topischer, magischer, mystischer, spekulativer. Als Synkretismus kann es von einer Denkweise in die andere übergehen; jede habe ihre eigenen Folgerichtigkeiten (synépeia Konsequenz): „Man kann synepeisch weltweit philosophieren“ (ebd. S. 62). Doch ist der Weg zu einer interkulturell akzeptierten Rechtsanthropologie trotz dieses Denkens in Konsequenzen noch weit.

Soedjatmoko, der spätere Rektor der UN-Universität in Tokyo, betrachtet als größten Feind der Freiheit die einseitige Ausrichtung auf einen Wert oder ein einzelnes Ziel. Der Kampf für die Freiheit, gegen ökonomische und politische Unterdrückung, Bewaffnung, Militarismus, fordere die Bereitschaft, für die eigenen Rechte und zugleich für die Rechte der Nachbarn einzutreten (zit. n. Sivaraksa, 1994, S. 109). Entgegen jeder rigiden Selbstgerechtigkeit weiß die buddhistische Weltsicht, daß nicht so sehr die gesellschaftlichen Ketten die Freiheit behindern, sondern das Ich des einzelnen Menschen und die drei Gifte: Begierde, Haß, Illusion. Der Mensch wird hier nicht gedacht als der in der Unantastbarkeit seiner Würde Ruhende, sondern als hineingeboren in eine Welt von Leid und Sorge; er ist der Grund des Egoismus, der Teil des Karma (Gesetz der Ursache) ist. Demnach heißt für andere zu sorgen auch für sich selbst zu sorgen.

Sulak Sivaraksa (1994) betrachtet als primäres Recht des Menschen in der buddhistischen Gedankenwelt das Recht, zu wissen, wer man ist, die Furcht zu überschreiten, im Frieden mit sich selbst zu sein. Dieses Recht trägt in sich die Pflicht, nicht zu hassen, nicht zu töten. Geltung von Menschenrechten heißt hier nicht nur Rechte für dich oder Rechte für mich, sondern Recht für alle – und ein diesem Recht gemäßes Leben. Sivaraksa gibt ein Beispiel der Allverbundenheit: Wer ein Stück Papier anschaue, denke an Bäume, an die Sonne, an den Regen, an die Erde, an den Holzfäller. Das Papier anschauend, bedenkt der im Recht Erfahrene den Verstoß gegen die Rechte der Natur, des Holzfällers und unserer selbst, der mit der Abholzung der Bäume einhergeht. Diese Allbezüglichkeit verpflichtet, kein Lebewesen zu töten. „Je selbstloser du bist, desto mehr kannst du dich dann auch um das Tierreich sorgen. Pflanzen, Bäume und Flüsse, alles hängt zusammen. Aus diesem Grund ist das erste buddhistische Prinzip, das sich mit dem Verbot der Tötung befaßt, kein Gebot. Es geht um dein eigenes Wohl, deinen eigenen Frieden. Du handelst zum Wohle aller, wenn du nicht tötest und dann Mitleiden und Liebe und Freundlichkeit entwickelst, um denen zu helfen, die leiden“ (a.a.O., S. 144). Das Prinzip des Nicht-Stehlens läßt die Frage nach dem Recht der armen Welt stellen. Stiehlt nicht das internationale Bankensystem den Menschen der Armut etwas? Stellt ein Waffenverkauf an die Herrscher der Dritten Welt nicht einen mittelbaren Mord dar? Je selbstloser ein Mensch ist, desto erfüllter ist er, desto klarer entdeckt er in sich das »Recht für die Welt«. Jedes Lebewesen hat Rechte: jener Bewohner der Pazifischen Inseln, dieses Meer, jenes Tier, dieser Berg. Vom buddhistischen Standpunkt aus muß ein Mensch dahin gelangen, Menschenrecht aus sich selbst heraus zu verstehen. Jeder von uns muß Wege entdecken, wie der andere Mensch nicht ausgebeutet wird und wie anderen Lebewesen geholfen werden kann.

Auf der Suche nach Frieden gebender Gemeinsamkeit

Als die Vereinten Nationen im Jahr 1993 das Jahr der indigenen Völker einläuteten, endete das zweite Jahrzehnt der Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und rassischer Diskriminierung. Im Zusammenhang dieses Vorhabens wurden nicht allein die Schattenseiten der Conquista deutlich, sondern auch die Staatenzentriertheit des Völkerrechts (vgl. Hilpold, 1998). Erinnert wurde an das Recht auf Land, an kulturelle und religiöse Traditionen, die dem Land eine sakrale Bedeutung zusprechen. Zur gleichen Zeit schränkten einige lateinamerikanische Staaten die Rechtsfähigkeit indigener Völker ein, über Eigentum an Grund und Boden zu verfügen, und wiesen dieses Recht autoritär-treuhänderischen Institutionen zu.

Bedacht werden müssen auch die Gefahren einer »globalen Ökokratie«, auf die Wolfgang Sachs (1993) hingewiesen hat. „“Ökokraten« werden wohl kaum die industrielle Lebensweise in Frage stellen, nur um die Belastung der Natur zu reduzieren; also bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihr ganzes Geschick, ihren Weitblick und die neuesten technologischen Mittel einzusetzen, um die zahllosen gesellschaftlichen Aktivitäten zum Gleichlauf zu bringen … Die wahre historische Aufgabe stellt sich anders und kann nicht ökokratisch formuliert werden: Wir müssen uns fragen, wie ökologische Gesellschaften aussehen könnten, die mit weniger Regierungsgewalt und weniger Expertenmacht auskommen“ (S. 426). Ökologie wird hier zu einer Steuerungsstrategie, gerichtet auf eine effizientere Nutzung der Ressourcen; zu einem technischen Problem, nicht zu einer rechtsethischen Frage.

In ihren Gedanken zu einem Ethos d<-2>er Weltreligionen und der Menschenrechte heben Hans Küng und Jürgen Moltmann (1990) hervor, alle großen Weltreligionen hätten ihre Schwierigkeiten mit den Menschenrechten gehabt, insbesondere mit den Rechten der Frau und der jeweils Andersgläubigen. Sie hoffen, daß die Weltreligionen zu den Förderern der Menschenrechte werden, daß sie sich auf ein Grundethos und auf daraus abgeleitete Grundrechte einigen können. Mit dieser Hoffnung knüpfen sie an die »Weltkonferenz der Religionen für den Frieden« in Kyoto (Japan) aus dem Jahr 1970 an. Dort wurde erklärt: „Als wir zusammen waren, um uns mit dem überragenden Thema des Friedens zu befassen, entdeckten wir, daß die Dinge, die uns einen, wichtiger sind, als die Dinge, die uns trennen. Wir fanden, daß wir gemeinsam besitzen: eine Überzeugung von der fundamentalen Einheit der menschlichen Familie, von der Gleichheit und Würde aller Menschen; ein Gefühl für die Unantastbarkeit des einzelnen und seines Gewissens; eine Erkenntnis, daß Macht nicht gleich Recht ist, daß menschliche Macht nicht sich selbst genügen kann und nicht absolut ist; den Glauben, daß Liebe, Mitleid, Selbstlosigkeit und die Kraft des Geistes und der inneren Wahrhaftigkeit letztlich größere Macht haben als Haß, Feindschaft und Eigeninteressen; ein Gefühl der Verpflichtung, an der Seite der Armen und Bedrückten zu stehen gegen die Reichen und die Bedrücker; tiefe Hoffnung, daß letztlich der gute Wille siegen wird“ (zit. n. Küng & Moltmann, 1990, S. 92).<0>

Ein in dieser Hoffnung gründendes naheliegendes Ziel besteht darin, einem Wort Albert Einsteins gemäß die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern als Schande für einen modernen Staat, als Begünstigung kriegerischer Ziele zu verurteilen. Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung als Ausprägung des Rechts auf Gewissensfreiheit muß endlich weltweit anerkannt werden (vgl. Tannert, 1998) – wie auch das Recht auf Asyl für Militärdienstverweigerer und Deserteure. Doch bildet die Anstrengung auf dieses Ziel hin nur einen Schritt auf dem Weg hin zu einer menschlichen Rechtskultur.

Literatur

Arendt, H. (1962): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt.

Derrett, J. D. M. (1980): Das Dilemma des Rechts in der traditionellen indischen Kultur, in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg/München, S. 499ff.

D’Sa, F. X. (1991): Das Recht, ein Mensch zu sein, und die Pflicht, kosmisch zu bleiben, in: J. Hoffmann (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Bd. 1. Frankfurt, S. 184ff.

Fikentscher, W. (1980): Synepeik und eine synepeische Definition des Rechts, in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg/München.

Henry, H. (1994): Vom Entwicklungsrecht zum Menschenrecht auf Entwicklung, in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung, S. 3ff.

Henry, H. (1997): Kulturfremdes Recht erkennen. Warum? Wie? in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung, S. 49ff.

Hilpold, P. (1998): Zum Jahr der indigenen Völker Eine Bestandsaufnahme zur Rechtslage, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft, S. 31ff.

Hofmann, H. (1992): Menschenrechtliche Autonomieansprüche, in: Juristen-Zeitung, S. 165 ff.

Kessler, H. (Hrsg.) (1996): Ökologisches Weltethos, Darmstadt.

Köpcke-Duttler, A. (1986): Wege des Friedens, Würzburg.

Küng, H. & Moltmann, J. (1990): Ethos der Weltreligionen und Menschenrechte, in: Concilium, S. 92ff.

Leuenberger, T. (1983): Menschenrechte und divergente Weltbildstrukturen, in: Rechtstheorie, S. 181 ff.

Massey, C. M. (1998): Zum Morden gezwungen. In: Wissenschaft und Frieden, 16.Jg./2, S. 17 ff.

Mumford, L. (1986): Mythos der Maschine, Frankfurt.

Panikkar, R. (1995): Der Dreiklang der Wirklichkeit, Salzburg/München.

Picht, G. (1980): Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1. Stuttgart.

Radbruch, G. (1982): Der innere Weg, Göttingen, 2. Auflage.

Radbruch, G. (1919): Völkerbundgesinnung, in: Neue Erde 1, S. 52-57.

Radbruch, G. (1973): Rechtsphilosophie, Stuttgart, 8. Auflage.

Radbruch, G. (1947): Die Erneuerung des Rechts, in: Die Wandlung 2.

Sachs, W. (1993): Umwelt, in: W. Sachs (Hrsg.), Wie im Westen so auf Erden, Reinbek.

Schutte, O. (1991): Die Begründung von Menschenrechten aus der Sicht lateinamerikanischer Frauen, in: J. Hoffmann (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Bd. 1, Frankfurt, S. 115 ff.

Schwartländer, J. (1979): Thesen zur Diskussion »Was sind Menschenrechte?« in: ders., Menschenrechte eine Herausforderung der Kirche, Münster/Mainz.

Sivaraksa, S. (1994): Buddhismus und Menschenrechte, in: J. Hoffmann (Hrsg.), Universelle Menschenrechte im Widerspruch der Kulturen, Bd. 2, Frankfurt.

Stietencron, H. v. (1980): Zur Theorie von Ordnung und Strafe im alten Indien, in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg/München, S. 537 ff.

Tannert, C. (1998): Das Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung und das Europäische Parlament, in: Friedens-Forum, (4), S. 31 ff.

Wieacker, F. (1983): Europäische Rechtskultur, in: F. König & K. Rahner (Hrsg.), Europa. Horizonte der Hoffnung, Graz/Wien/Köln, S. 127 ff.

Professor Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge, Ochsenfurth/Unterfranken