Der Erdgipfel und die indigenen Völker

Der Erdgipfel und die indigenen Völker

Eigene Territorien – Voraussetzung zum kulturellen Überleben der amazonischen Waldvölker

von Jürgen Wolters

Auf der Tagesordnung des Erdgipfels der Vereinten Nationen zum Thema Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro (UNCED) spielten die Belange indigener Völker eine bemerkenswerte Rolle. Im Vordergrund stand die Anerkennung ihrer Vorbildfunktion für »sustainable development«, das Leitmotiv der Agenda 21. Ohne Frage hat Rio die internationale Wahrnehmung der Belange indigener Völker gefördert und ihre Rechtsansprüche auf kulturelle, soziale und ökonomische Eigenständigkeit gestärkt. Merklich gestiegen ist auch das Selbstbewußtsein vieler Völker auf nationaler wie internationaler Bühne. Aber gewachsene politische Beachtung hat im Alltag auch alte, handfeste Ressentiments belebt und neue Konflikte geschürt. Die indianischen Waldvölker Amazoniens gehören zu den Leittragenden.

Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß die internationale Politik im Zusammenhang mit der in Rio geführten, umfassenden Diskussion über die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen die indigenen Kulturen quasi neu entdeckt und scheinbar endlich schätzen gelernt hat. Jahrhunderte lang waren Unterdrückung, Entrechtung und Zwangsassimilation indigener Völker Kennzeichen sowohl der Kolonialpolitik wie der Politik der staatlichen Eliten. Allein in Brasilien wurden so in den vergangenen 500 Jahren über 1200 indianische Völker ausgerottet, 80 noch in diesem Jahrhundert. Übrig blieben nicht einmal 170 amazonische Waldvölker.

Je nach Definition und Abgrenzung existieren heute weltweit noch 4000 bis 5000 indigene Kulturen, die – mißt man sie an der Sprachidentität – allen Verfolgungen zum Trotz immer noch über 90 Prozent der kulturellen Vielfalt der Erdbevölkerung repräsentieren. Von »den« indigenen Völkern zu reden, ist allerdings eine extreme Vereinfachung, die insbesondere den sehr unterschiedlich gelagerten Interessen der einzelnen Gesellschaften keineswegs gerecht wird. Es gibt indigene Völker, die etliche Millionen Menschen umfassen, und andere, deren Mitglieder sich an zwei Händen abzählen lassen. In Brasilien sind sie beispielsweise mit weniger als einem Prozent an der Gesamtbevölkerung numerische Randgruppen und werden auch so aufgefaßt. Sie leben und wirtschaften überwiegend sehr ursprünglich und sehen sich alltäglich Rechtsverletzungen ausgesetzt. Im Nachbarland Bolivien stellen sie dagegen mit mehr als 70 Prozent das Gros der Landesbevölkerung, sind in Parlamenten vertreten und gemessen am Lebens- und Kulturstil nicht mehr generell als Indigene identifizierbar. Gemeinsam ist den meisten Indigenen allein die historische Definition »unmittelbare Nachkommen der Urbewohner«.

Die von UNCED neu angestoßene Diskussion focussiert auf Indigene im kulturell ursprünglichen Sinn, nämlich auf Völker, die sich spirituell, sozial und ökonomisch als Teil eines natürlichen Beziehungsgefüges sehen, konsequent danach leben und wirtschaften. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es zuvorderst utilitaristische Gründe waren, die im Rio-Prozeß zu einer besonderen Anerkennung solcher indigenen Völker führten. So ist in der Rio-Deklaration davon die Rede, daß Indigene (der Ausdruck Peoples wird dabei bewußt vermieden) wegen ihrer besonderen Kenntnisse eine vitale Rolle im Umweltmanagement und der Entwicklung spielen und daß Staaten (deshalb) ihre Identität, Kultur und Interessen anerkennen und unterstützen sollen, sowie ihre effektive Partizipation bei der Erzielung dauerhafter Entwicklung.

Diese Herangehensweise setzt sich konsequent in den diversen Vertragswerken des Rio-Prozesses fort, in dem Weltaktionsplan Agenda 21 und insbesondere in dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Biodiversitätskonvention). Hier ist, wenn auch unverbindlich deklariert, sogar von dem Gebot des gezielten Erhaltes und der Förderung der erwiesen naturverträglichen Praktiken indigener Völker die Rede, von der Notwendigkeit politischer Partizipation, vom Aufbau von Beteiligungsmechanismen und der Beseitigung indigenenfeindlicher politischer Praktiken.

UNCED setzt Impulse für internationale Indigenenpolitik

Sicher nicht zufällig hat sich im Umfeld von UNCED die Wahrnehmung der Belange indigener Völker auch auf anderen Ebenen verbessert. Kurz vor dem Rio-Gipfel trat die Konvention 169 der ILO (International Labour Organization) in Kraft, das bis dato fortschrittlichste Instrumentarium zur Anerkennung der Rechte indigener Völker, dem allerdings angesichts einer kläglichen Schar von einem knappen Dutzend Zeichnerstaaten jede größere Wirkung genommen ist. Das Jahr 1 nach Rio wurde von den Vereinten Nationen zum »Internationalen Jahr der indigenen Bevölkerung ausgerufen«. Mehr noch, auf Empfehlung der 1993 in Wien abgehaltenen UN-Weltkonferenz über Menschenrechte wurde 1994 gar die »Dekade der indigenen Völker« postuliert, in der zumindest innerhalb der UNO die politische Partizipation Indigener gestärkt werden soll.

Entscheidende Impulse erhofft man sich jetzt auch für die Arbeit der UN-Working Group on Indigenous Populations, die an einer »Allgemeinen Erklärung der Rechte der indigenen Völker« arbeitet. Fast 15 Jahre ist diese UN-Arbeitsgruppe bereits tätig. Der Durchbruch in den zähen Verhandlungen scheitert bislang an der kontroversen Diskussion über die Definition indigener Völker und vor allem an der Frage ihrer völkerrechtlichen Anerkennung, die schon von der ILO-Konvention 169 ausgeklammert wurde. Die Arbeit der UN-Working Group wird von indigenen Völkern zwar überwiegend positiv zur Kenntnis genommen, aber gleichzeitig fragen viele zu Recht, wieso es angesichts der Tatsache einer längst vorliegenden »Allgemeinen Definition der Menschenrechte« denn noch eine spezifische für Indigene braucht.

Neue Fragen: Kulturelle und intellektuelle Eigentumsrechte

Parallel zu diesen Prozessen haben sich im Zuge des UNCED-Prozesses indigene Völker und ihre Dachorganisationen politisch selbst zu Wort gemeldet. Der Verabschiedung der »Charta der indigenen Stammesvölker der tropischen Regenwälder« Anfang 1992 in Penang folgte nur wenig später die Formulierung der »Erdcharta der indigenen Völker«. Indigene Völker reklamieren hier unmißverständlich ihr Selbstbestimmungsrecht und die unveräußerlichen Rechte an ihrem Land und sämtlichen Ressourcen ihrer Territorien. In der 1993 verabschiedeten Mataatua-Erklärung der indigenen Völker wird insbesondere auf deren kulturelle und geistige Eigentumsrechte Bezug genommen und damit ein Themenkomplex aufgegriffen, der auch in der neuen Biodiversitätskonvention eine wichtige Rolle spielt.

Diese deklariert nicht nur die Grundsätze für den Erhalt der biologischen Vielfalt, sondern beschäftigt sich auch mit dem Zugang zu genetischen Ressourcen, mit Fragen der Verwertung von Nutzungskenntnissen und der Nutzenaufteilung. Dabei stellt sich natürlich auch die Frage der gerechten Teilhabe indigener Völker an der Verwendung ihrer Kenntnisse der Biodiversität und der natürlichen Ressourcen ihrer Lebensräume. Insbesondere die Nationalstaaten in den Tropen, die über 90 Prozent der biologischen Vielfalt beherbergen, sind damit politisch und rechtlich erheblich gefordert.

Die aktuelle politische Diskussion von Indigenenfragen beschränkt sich also längst nicht mehr auf originäre Menschenrechtsanliegen, sondern schließt zunehmend auch komplizierte ökonomische Fragen ein. Daß es sich hierbei nicht um Marginalien handelt, verdeutlicht die Tatsache, daß derzeit weltweit allein im Pharmabereich über 40 Milliarden Dollar mit den Ursprungskenntnissen indigener Völker verdient werden. Zwei Drittel der Welternährung hängt nach wissenschaftlichen Schätzungen von indigenem Wissen über die Nutzung genetischer Ressourcen ab. Die Internationale Ethnobotanische Gesellschaft schätzt gar, daß sich mehr als 99 Prozent des gesamten Wissens der Menschheit über die Nutzung biologischer Ressourcen im Besitz indigener Völker befinden.

In der Mataatua-Erklärung fordern diese die Nationalstaaten und die internationalen Organe nicht nur zur Anerkennung ihrer kulturellen und intellektuellen Eigentumsrechte auf, sondern auch zur Entwicklung von Regimen, die die Kontrolle Indigener über die Verwendung ihres Wissens und von Ressourcen aus ihren Territorien ermöglichen. Diesen Ansprüchen steht das deklarierte Souveränitätsrecht vieler Staaten entgegen, dem zufolge Indigene nur beschränkt über die Ressourcen auf ihrem Land verfügen dürfen.

Gemäß der Biodiversitätskonvention sind alle Zeichnerstaaten verpflichtet, im Planungsrecht, im Abgabe-, Patent- und Urheberrecht die Belange und Ansprüche indigener Völker angemessen zu berücksichtigen. Eine Reihe von Staaten verfügt noch nicht einmal über das gebotene Rechtsinstrumentarium etwa zum Urheber- und Patentschutz. Indigene Völker fordern zudem verständlicherweise angesichts jahrhundertelanger Ausbeutung ihres Wissens und ihrer Kulturgüter rückwirkenden Schutz und gemäß ihrem sozialen und kulturellen Verständnis auch einen generationenübergreifenden Schutz von kollektivem geistigen Eigentum. Bestehende Rechtsinstrumente lassen sich darauf im Regelfall gar nicht unmittelbar anwenden.

Das Thema ist brisant. Die gewachsene internationale Diskussion über die Nutzung genetischer Ressourcen hat eine ganze Welle von Bio-Prospektierungsinitiativen ausgelöst. Viele Tropenwaldländer wittern neue Einnahmequellen. Wo, wie in Brasilien, eine zahlenmäßige Minderheit wie die indigenen Völker mehr als sieben Prozent der Landesfläche für sich reklamieren kann – darunter in absehbarer Zeit die Filetstücke noch erhaltenen Regenwaldes – scheinen Konflikte geradezu vorprogrammiert.

Der Rio-Prozeß hat zur Lösung all dieser Probleme bislang nicht mehr als Anstöße gegeben. Konkrete praktikable Lösungen müssen erst noch entwickelt werden. Denkbar ist in diesem Zusammenhang im internationalen Politikbereich etwa die Verabschiedung eines eigenen Protokolls unter der Biodiversitätskonvention, das die Handlungsgrundlagen für die Absicherung der kulturellen Eigenständigkeit und Unversehrtheit indigener Kulturen regelt. Hier ist die internationale Staatengemeinschaft und sind die einzelnen Länder des Nordens gefordert, sich umgehend für entsprechende Fortentwicklungen der neuen Instrumentarien einzusetzen und im eigenen unmittelbaren Handlungsbereich etwa durch Verhaltenscodices für die heimische Wirtschaft und die Entwicklungszusammenarbeit konsequent die berechtigten Interessen indigener Völker zu fördern.

Für die indigenen Völker – und dies darf nicht übersehen werden – stellen mögliche positive Entwicklungen im geistigen Eigentumsschutz natürlich auch große innere Herausforderungen dar. Eine denkbare finanzielle Beteiligung an der Wertschöpfung ihrer Kenntnisse führt nämlich auch zu Kapitalisierungssystemen, die naturgebundene Ökonomie, Gemeinschaftsbesitz und andere kulturelle Charakteristika auf eine große Bewährungsprobe stellen.

Reaktionen in der brasilianischen Indigenenpolitik

Das Wichtigste an der neuen Debatte über die Rechte indigener Völker ist allerdings die Aktualisierung der Frage nach der Absicherung und effektiven Kontrolle indigener Völker über ihre Territorien. Dies bleibt der Kernpunkt der Überlebenssicherung traditioneller indigener Kulturen.

Gerade hierbei drängt sich der Eindruck auf, als habe zum Beispiel in Brasilien, dem Gastland der UN Konferenz zu Umwelt und Entwicklung, die neue Diskussion von Indigenenfragen vor allem die Gegner einer praktischen Anerkennung indigener Rechte auf den Plan gerufen. Während im Vorfeld von UNCED der damalige brasilianische Präsident Collor noch demonstrativ Landebahnen von Goldsuchern in Indianergebieten zerstören ließ, hat sich die Situation der Stammesvölker in der Folge eindeutig verschärft.

Dazu mag ungewollt sogar eine Initiative der G7-Staaten beigetragen haben, deren Bezug zum UNCED-Prozeß ebenfalls unübersehbar ist und die auf einen Vorstoß des deutschen Bundeskanzlers zurückgeht: das »Pilotprogramm zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien«. Gedacht war das Vorhaben, dem Brasilien nach einigem Zögern grundsätzlich zustimmte, als Musterprogramm für international koordinierte und finanzierte Programme zum Erhalt der Tropenwälder weltweit. Brasilien wurde nicht zufällig als Pilotland ausgewählt. Es beherbergt über 40 Prozent der noch verbliebenen Regenwälder der Erde. Ende 1991 formal auf den Weg gebracht, sollte das Pilotprogramm seine Wirksamkeit binnen drei Jahren beweisen.

Es umfaßt eine Palette verschiedener Handlungsbereiche, von der Stärkung institutioneller Strukturen über Verbesserung des Managements von Schutzgebieten und die Entwicklung nachhaltiger Waldnutzungskonzepte bis zur Forschungsförderung. Auch für Indigene sieht es besondere Investitionen vor, zum Beispiel 30 Millionen Dollar zur Forcierung der Demarkation von Indigenengebieten. Daneben enthält das Programm auch einen eigenen Projektfonds zur Förderung von Kleinprojekten brasilianischer Nichtregierungsorganisationen, der natürlich auch indigenen Völkern zur Nutzung offensteht. Das Gesamtprogramm wird von der Weltbank verwaltet, wobei größere Teilvorhaben auch in direkter bilateraler Kooperation mit Geberländern abgewickelt werden können; in direkter Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik beispielsweise das Projekt zur Demarkation von indigenen Territorien.

Schon in der parlamentarischen Beratung der verschiedenen Teilkomponenten des Pilotprogramms wurde politischer Widerstand gegen das Projekt deutlich. Bezüglich der Demarkation der indigenen Territorien trat insbesondere der brasilianische Justizminister Jobim auf den Plan. Nach der neuen brasilianischen Verfassung von 1988, in der die Anerkennung der Landrechte indigener Völker verbrieft ist, sollten eigentlich schon bis 1993 alle 556 indigenen Gebiete des Landes demarkiert und rechtsverbindlich in den Grundbüchern eingetragen sein. Zum gesetzten Termin war man davon weit entfernt.

Der Justizminister Jobim bestritt der einschlägigen Rechtsverordnung sogar die Verfassungsgemäßheit und setze 1996 ein neues Dekret (1775) durch, demzufolge binnen einer für Frühjahr 1996 terminierten Frist jedermann Einsprüche gegen die Zonierung von rechtlich noch nicht abschließend bestätigten Indianergebieten erheben konnte – immerhin 345 Gebiete mit einem Anteil am gesamten indigenen Territorium von etwa 45 Prozent. Offiziell sollte die neue Vorschrift möglichen zukünftigen Verfassungsklagen vorbeugen, was von diversen brasilianischen Rechtsexperten aber durchaus anders interpretiert wurde.

Das Prüfverfahren der Einsprüche dauert derzeit noch an. Nach inoffiziellen Angaben sollen bis zu 2000 Eingaben gegen 60, möglicherweise sogar 120 Indianerterritorien vorliegen. Die nächsten ein bis zwei Jahre werden zeigen, ob es – wie viele Indianer befürchten – im Rahmen des neuen Dekretes zu einer deutlichen Einschränkung indianischer Lebensräume kommen wird.

Möglicherweise gravierender sind die unmittelbaren Folgen für die Indianer Amazoniens, die sich aus der neu entfachten politischen Diskussion über die Waldvölker ergaben. In verschiedenen Regionen des Landes ist es in den beiden letzten Jahren in erheblichem Umfang zu neuen Invasionen und Übergriffen auf Indianergebiete gekommen. Die Handlungsmöglichkeiten der staatlichen Indianerbehörde haben sich spürbar verschlechtert. Hochrangige Politiker warben zuletzt sogar in Wahlkämpfen mit der endgültigen Lösung der brasilianischen Indianerfrage durch Zwangsintegration. Im Bundesstaat Rondonia, in dem fast ein Viertel aller noch existierenden Völker beheimatet ist, hat sich die Gesundheits- und Ernährungssituation der Indianer dramatisch verschlechtert. Der Katholische Indianermissionsrat (CIMI) dokumentierte im vergangenen Jahr in einen hundertseitigen Bericht aktuelle Verletzungen der Menschenrechte indigener Völker in Brasilien.

Internationale Solidarität mit indigenen Völkern mehr denn je gefragt

Entwicklungen wie die in Brasilien waren absehbar. In dem gleichen Maße, wie sich durch internationale Anerkennung prinzipielle Fortschritte in der Indigenenfrage abzeichneten, wuchsen vielerorts die handfesten politischen Widerstände. Die deutsche Bundesregierung lief sogar Gefahr, mit ihrem fraglos gut gemeinten Engagement zur Absicherung der Territorien brasilianischer Indianer zum Steigbügelhalter indigenenfeindlicher Politik zu werden. Sie hat sich dagegen verwahrt und ihre brasilianischen Partner vor Mißbrauch deutscher Fördermittel gewarnt.

Damit allein ist es allerdings nicht getan. Das brasilianische Pilotprogramm, dessen Teilkomponenten jetzt mit großer Verzögerung schleppend umgesetzt werden, trägt nämlich nur in Ansätzen den Geist von Rio. Es blendet völlig die Verantwortung der Industriestaaten an der Tropenwaldzerstörung und damit auch der Verschlechterung der Lage indigener Völker aus. Es ignoriert längst überfällige Korrekturen in der Handels- und Außenwirtschaftspolitik der Industrieländer gemäß der Agenda 21.

Der UNCED Prozeß hat eine Weichenstellung vorgegeben. Die Impulse, die er gerade auch in der Indigenenfrage gesetzt hat, müßten mit sehr viel größerer Ernsthaftigkeit weiterentwickelt werden und sich in der jeweiligen nationalen Politik der Industrieländer verstärkt wiederspiegeln. Jetzt auf halbem Wege stehen zu bleiben hieße jedenfalls, der Sache der Indigenen gegebenenfalls mehr zu schaden als zu nutzen.

Literatur

Cimi (1996): A violência contra os povos indigenas no Brasil 1994-1995. Brasilia.

Dömpke, S., Gündling, L. u. Unger, J. (1996): Schutz und Nutzung biologischer Vielfalt und die Rechte indigener Völker. Forum Umwelt & Entwicklung. Bonn.

Durning, A.T. (1992): Guardians of the Land: Indigenous Peoples and the Health of the Erarth. Worldwatch Paper 112. Washington.

N.N. (1996): Herausforderungen an das Gelingen des Pilotprogramms. Erklärung deutscher Nichtregierungsorganisationen zur Teilnehmerkonferenz des Pilotprogramms zur Bewahrung der Tropenwälder in Brasilien. Bonn.

Regenwälder Kampagne (1993): Indigene Völker und Wald. Statusbericht, Empfehlungen und Perspektiven für die bundesdeutsche Politik. Bielefeld.

Jürgen Wolters ist Geschäftsführender Vorstand und Referent für Indigenenfragen der Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz (ARA e.V.), Bielefeld.

Der konziliare Prozess

Der konziliare Prozess

von Ulrich Schmitthenner

Als Antwort auf die Überlebensfragen ist in den Kirchen ein gemeinsamer Lernprozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung in Gang gekommen. Er hat seine Wurzeln in der christlichen Überzeugung, daß der Mensch zum Partner und Mitschöpfer Gottes berufen ist mit dem Auftrag, Geschichte zu gestalten. An seiner Wiege stand die Idee eines Konzils, das durch die Grundlegung einer neuen ökumenischen Sozialethik zur Überlebensfähigkeit dieser Welt beitragen sollte.

Vom Konzil zum »konziliaren Prozeß«

Der Gedanke eines verbindlichen christlichen Redens zum Frieden ist in Deutschland mit dem Namen Dietrich Bonhoeffer verknüpft. Er verlangte 1934 ein gesamtchristliches Friedenskonzil. Der katholische Priester Max Joseph Metzger schlug gleichzeitig ähnliches vor.

Doch erst 1983 diskutierte der Weltkirchenrat (ÖRK), Zusammenschluß von über 320 christlichen Kirchen, auf seiner Vollversammlung in Vancouver „ob die Zeit reif ist für ein allgemeines christliches Friedenskonzil, wie es Dietrich Bonhoeffer angesichts des drohenden Zweiten Weltkrieges vor fünfzig Jahren für geboten hielt.“ In der Diskussion zeigte sich, daß für die Menschen des Südens die Frage der Gerechtigkeit die elementare Überlebensfrage ist. Deshalb wurde die Beschränkung einer Konzilszielsetzung auf die Friedensfrage obsolet. Stattdessen erfolgte die Einladung zu einem »Bund gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«. Ein Konzil war für einige Kirchen nicht möglich. Doch ein »konziliarer Prozeß« kam in Gang.

Was so als Schwäche schien, wurde später durch einen außerordentlich breiten Lernprozeß in den Gemeinden und Gruppen der Kirchen vor allem in Europa zu einer Stärke. Es wurde kein hierarchisch von oben nach unten verlaufender Belehrungsprozeß, so hätte man sich ein Konzil gedacht, sondern ein in Netzstrukturen von unten nach oben sich durchsetzender Bekehrungsprozeß in den Kirchen. Und darin wird beständiges Interesse an Dialog und Kooperation in Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen sowie Wissenschaftlern geäußert. Sie wurden programmatisch zu allen Versammlungen im konziliaren Prozeß eingeladen.

Tatsächlich hat in allen christlichen Kirchen eine breite Diskussion und Neuorientierung eingesetzt. Sie folgte stets einem methodischen Dreischritt: Analyse, Urteil, Handlungsmodelle mit Selbstverpflichtungen. Und sie mobilisierte enorme Energien. In der ehemaligen DDR z.B. flossen über zehntausend Eingaben von einzelnen Christen in die Vorbereitungspapiere der landesweiten ökumenischen Versammlungen zu Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung ein. Hier wurden die Positionen für den friedlichen Wandel formuliert.

Auf europäischer Ebene folgte schließlich 1989 eine ökumenische Versammlung in Basel.

Ähnliches geschah mit unterschiedlicher Intensität in den anderen Weltregionen. 1990 konnte im südkoreanischen Seoul in einer ökumenischen Weltversammlung ein erster Höhepunkt gefeiert werden. Der erreichte Konsens wurde in zehn Grundüberzeugungen zusammengefaßt, dem Kern eines sozialethischen ökumenischen Katechismus. Bei allen Überlebensfragen ist die Sichtweise der Armen und Marginalisierten vorzuziehen und die Festlegung auf Gewaltfreiheit.

Nach Seoul und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ging die Motivation der Engagierten zurück. Den guten Worten waren zu wenig Taten gefolgt. Die Selbstverpflichtungen auf einen neuen Lebensstil in den Kirchen – bescheidener, solidarischer, gewaltfrei – blieben zu schwach. Aber verloren ging nichts.

Schwerpunkte

Die soziale Basis des konziliaren Prozesses in der Bundesrepublik sind vor allem die ökumenischen Netze, Zusammenschlüsse von Menschen verschiedener christlicher Konfession auf regionaler Ebene.

Schwerpunkte der dem konziliaren Prozeß verpflichteten Netze und Gruppen bilden heute im Feld Gerechtigkeit die Frage der Armuts- und Kriegsflüchtlinge. Beim Nachdenken über die Schaffung von – insbesondere in der Beziehung zum Süden – gerechten, Frieden und Umwelt erhaltenden Formen des Wirtschaftens, hat eine ökonomische Alphabetisierung in christlichen Gruppen eingesetzt.

Von Interesse auch die Diskussionen, etwa während der Zusammenkunft des Weltkirchenrates kürzlich in Südafrika, über patriarchalische Gesellschaftsordnung, über eine neue Anthropologie, die Fragen der Sexualität, auch die der Homosexualität, aufgreift.

Im Bereich Frieden rückt die »Überwindung der Gewalt« in den Mittelpunkt. So lautet der Titel für ein neues Programm des Weltkirchenrates. Ein erster Schritt ist der internationale Austausch über gewaltfreie Methoden zur Konfliktlösung in unterschiedlichen regionalen Kontexten und die Organisation speziell von Runden Tischen (etwa für Ex-Jugoslawien oder auch für Jugendbandenchefs in USA). Menschen, die einen Lebensabschnitt dem Friedensdienst widmen wollen, können sich zu einem Schalomdiakonat als einem ordensähnlich strukturierten kirchlichen Dienst verpflichten.

Bei der Sorge um die Schöpfung steht ökologisches Wirtschaften im Vordergrund. Das schließt ökologische Projekte in Gemeinden ein, beim Energiesparen, Einsatz alternativer Energien, ökologischem Nahrungsanbau, Verkehrs- und Müllkonzepten. Diskussionen über Gentechnik führen zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Wissenschaftsethik.

Der Schwerpunkt bei der Fortsetzung des konziliaren Prozesses muß sicher auf einem größeren Selbstverpflichtungsgrad liegen. Der ÖRK plant eine weltweite jährliche Dekade für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung. Dazu gehören dann Gottesdienste und gemeinsame Aktionen.

Für ihre weltregionale Ebene faßte die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) eine zweite Europäische ökumenische Versammlung für 1996 ins Auge, eine Art kontinentaler Kirchentag zu »Versöhnung«.

Der konziliare Prozeß wird stärker in sehr verschiedenen weltregionalen und kulturellen Kontexten fortgesetzt werden. Das bringt auch Schwierigkeiten. Aber er ist ein hoffnungstiftendes Unternehmen. Und er hat Zukunft.

Kontakte

»Programm zur Überwindung der Gewalt«: WCC, Unit III, CCIA, Dwain Epps, POB 2100, 150, route de Ferney, CH-1211 Geneve 20, Tel.: 0041-22-791-6111, Fax 0041-22-798-1346.

»Schalomdiakonat«: Ökumenische Dienste im konziliaren Prozeß, Dr. Reinhard Voß, Mittelstr. 3, D-34474 Wethen, Tel.: 05694-8033.

Gruppen und ökumenischer Informationsdienst: Ökumenisches Büro, Mittelstr. 4, 34474 Wethen, Tel.: 05694-1417.

Literatur

Studienbuch zum konziliaren Prozeß: Ulrich Schmitthenner (Hg.): Übereinstimmung und Anregung. Frankfurt 1993. 320 S.

Pfarrer Ulrich Schmitthenner, Am Schönblick 7, 73527 Schwäbisch Gmünd, Tel.: 07171-72819, Fax: 07171-72651. Er ist Redakteur der Zeitschrift Ökomenischer Informationsdienst.

»Gerechter Krieg« als Instrument ethischer Kriegsbegrenzung

»Gerechter Krieg« als Instrument ethischer Kriegsbegrenzung

von Heinz-Günther Stobbe

Es dürfte nicht ganz überflüssig sein, zu Beginn kurz die Voraussetzungen zu klären, von denen der folgende Beitrag ausgeht. Der Verfasser versteht sich zwar als katholischer Theologe und will das keineswegs leugnen oder verbergen, doch spielt das im vorliegenden Fall deshalb zunächst keine besondere Rolle, weil die traditionelle Lehre vom »gerechten Krieg«, obgleich hauptsächlich im christlich-kirchlichen Kontext entwickelt, eigentlich keinen spezifisch christlichen Standpunkt vortragen, sondern sich im Rahmen der allgemeinen sittlichen Vernunft bewegen wollte, deren Einsichten auch für den gläubigen Menschen als verbindlich erachtet wurden, die aber andererseits in keinen Widerspruch zum christlichen Glauben führen durften.

Gerade deswegen erfuhr sie allerdings von Anfang an scharfen Widerspruch aus dem Bereich des Christlichen selbst, so daß sie zu keiner Zeit als wirklich gemeinchristliche Lehre angesehen werden kann. Außerdem entwickelten sich im Gefolge der Reformation innerhalb der Christenheit unterschiedliche ethische Denkansätze, aufgrund derer sich die Stellung gegenüber dieser Tradition noch weiter ausdifferenzierte und die Diskussionslage beträchtlich verkomplizierte. Und schließlich bleibt zu beachten, daß der gegenwärtige religiöse und weltanschauliche Pluralismus ihren überkommenen Allgemeinheitsanspruch grundsätzlich zu erschüttern oder gar unwiderruflich zu widerlegen scheint.

Vor diesem Hintergrund sollte ohne weitere Erläuterung einleuchten, daß das Thema eine ganze Reihe meist recht komplizierter Probleme aufwirft, die zudem auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Entsprechend führen denn auch die Kritiker der Lehre vom »gerechten Krieg« recht verschiedenartige Argumente ins Feld. So läßt sich etwa gegen sie einwenden, daß neuzeitliche Auseinandertreten von Politik und Moral verbiete eine sittliche Beurteilung auch des Krieges, über seinen Sinn und seine Notwendigkeit könne nur anhand politischer Kriterien entschieden werden; eine Auffassung, die außerordentlich nachaltigen Einfluß auf die Bedeutung der Lehre vom »gerechten Krieg« ausgeübt hat. Man kann sich zum Beispiel darüber hinaus ernsthaft fragen, ob eine politische Ethik, sofern sie überhaupt noch denkbar sei, unter der Bedingung unaufhebbarer Pluralität mehr und anderes zu leisten vermag als die Legitimation partikularer Standpunkte und Interessen und darum praktisch gewollt oder ungewollt, kriegfördernd wirkt. Auch dieses Bedenken besitzt eine lange Geschichte und erhebliches Gewicht. Und endlich sieht es, um ein letztes Argument zu nennen, in den Augen vieler so aus, als habe die moderne Kriegswirklichkeit der Lehre vom »gerechten Krieg« den Todesstoß versetzt, ganz zu schweigen von jenen, die sie aus religiösen Gründen schon imer rundheraus abgelehnt haben.

Ein Konsens der relativen Mehrheit

Noch vor kurzem konnte leicht der Eindruck entstehen, all diese und andere Einwände hätten in der Summe eine breite, weltweite Übereinstimmung darüber entstehen lassen, daß die Lehre vom »gerechten Krieg« spätestens mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und damit dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Anwendbarkeit eingebüßt habe. Ein trügerischer Schein freilich, wie schon ein Blick ins europäische Ausland bewies. In Wahrheit war dieser Konsens stets im wesentlichen auf Deutschland beschränkt geblieben, und selbst dort umfaßte er bestenfalls eine lediglich relative Mehrheit. Vor allem zwei Ereignisse haben jedoch, neben der gewandelten weltpolitischen Konstellation, bekanntlich auch ihn brüchig werden lassen, zum einen der Zweite Golfkrieg, und zum anderen der Dritte Balkankrieg. Seither haben sich die Verhältnisse einschneidend verändert, insbesondere verwischten sich die bislang geläufigen Grenzen zwischen den verschiedenen innenpolitischen Lagern. Es entstand eine ungewohnte Situation kreativer Verwirrung, die dem gründlichen Nach-Denken über die notwendigen Konsequenzen der neuen Lage durchaus förderlich sein könnte.

Ethische Reflexion vollzieht sich niemals im luftleeren Raum, sondern immer unter ganz bestimmten historischen Bedingungen, und das kann auch nicht anders sein, nicht nur, weil der berühmte Elfenbeinturm keine reale Möglichkeit darstellt, sondern mehr noch deshalb, weil sich das ethische Nachdenken von seiner Eigenart her unabdingbar darauf verwiesen sieht, die jeweils konkreten Umstände, auf die sich das sittliche Urteil bezieht oder beziehen soll, in den Blick zu nehmen. Folglich hat die sittliche Urteilsbildung konstitutiv zwei Gegebenheiten zu berücksichtigen: die Lage der Ethik selbst und die politische Lage als Kontext der Reflexion. Tatsächlich werden gegen die Gültigkeit der Lehre vom »gerechten Krieg« in beiderlei Hinsicht Argumente vorgebracht, die je für sich überprüft werden müssen.

Die erste Argumentationsreihe betrifft, wie schon erwähnt, vor allem die Folgen der pluralen Verfaßtheit der Gesellschaft und führt zu dem Schluß, die Lehre vom »gerechten Krieg« erweise sich als untauglich und sogar kontraproduktiv. Dagegen wiederum sprechen unter anderem folgende Beobachtungen: Zum einen zeigt sich, daß fast überall dort, wo überhaupt (noch) nach der sittlichen Erlaubtheit militärischer Gewaltanwendung gefragt wird, de facto meist die von ihr entwickelten Urteilskriterien angewandt werden und gelegentlich selbst in Fällen, in denen ihre Brauchbarkeit theoretisch bestritten wird. Nachgerade klassische Beispiele ließen sich aus der Diskussion über die Möglichkeit einer »gerechten Revolution« zitieren. Zum anderen werden die klassischen Kriterien nicht selten benutzt, um die Undurchführbarkeit eines »gerechten Krieges« zu beweisen. Das klassische Beispiel hierfür stellt die Argumentation dar, die F.-M. Stratmann in seinem Buch »Weltkirche und Weltfriede« gegen den Zweiten Weltkrieg richtete. Zwar liefert keine der beiden Beobachtungen einen im strengeren Sinne systematischen Grund für das Festhalten an der Lehre vom »gerechten Krieg«, doch lassen sie immerhin begründet vermuten, daß es diesseits der Position eines absoluten Pazifismus keine echte ethische Alternative zu ihr gibt.

Schaffung eines ethikfreien Raumes

Auf der Ebene der Kontext-Analyse wird häufig mit dem Stand der Waffentechnik argumentiert oder einer vergleichsweise optimistischen Gegenwarts- und Zukunftsprognose. Bei genauerem Zusehen jedoch erweisen sich beide Argumente als nicht stichhaltig. Um Krieg zu führen, braucht es nicht unbedingt Massenvernichtungswaffen oder hochgradig zerstörerische konventionelle Waffen, es genügt – wie der Dritte Balkan-Krieg belegt – der Wille zur Zerstörung, um mittels einer ziemlich einfachen und fast anachronistischen Technologie Dörfer und Städte vollkommen zu verwüsten. Auf der anderen Seite eröffnet gerade modernste Waffentechnik in gewissem Maße die Chance, die Zahl der Opfer herabzusetzen, anstatt sie ins Unermeßliche zu steigern.

Was nun die geschichtliche Entwicklung angeht, so läßt die vorhersehbare Zukunft eher Schlimmes erwarten, mit Sicherheit aber keine friedliche Welt. Nationalistischer und/oder fundamentalistischer Fanatismus setzt zunehmend auf Gewalt, und zahlreiche andere Konfliktursachen kommen hinzu. Im übrigen verlief auch die Nachkriegszeit im Weltzusammenhang erheblich kriegerischer als in Europa, so daß das Bild einer langen Friedensphase, die sich nach dem Fall der Mauer fortsetzt und ausweitet, in hohem Maße auf einer eurozentrischen Täuschung beruht. Alles in allem dürften kriegerische Konflikte und konventionelle Kriege künftig zu- statt abnehmen. Wenn es trotzdem gelänge, den Krieg einzuhegen, wäre schon viel gewonnen.

Wer in anbetracht dieser Gesamtlage dennoch dafür plädiert, die Lehre vom »gerechten Krieg« gänzlich fallenzulassen, läuft zumindest Gefahr, das einzige verfügbare und einigermaßen handhabbare Instrument einer ethischen Kriegsbegrenzung preiszugeben und gleichsam einen ethikfreien Raum zu schaffen, den dann beliebige Ideologien ausfüllen können. Es kommt jedoch gerade darauf an, das Gewissen zu schärfen, anstatt es zu beruhigen, einzuschläfern. Sehr viel mehr kann die Kirche ohnehin nicht tun, um Kriege zu verhindern oder auf ihren Verlauf zu beeinflussen. Andererseits wäre es fatal, das Bessere zum Feind des Guten zu machen und die kleine, aber realistische Chance der Einflußnahme ungenutzt verstreichen zu lassen – im Namen eines großen, aber unerfüllbaren Traumes.

Nicht den Sack sondern den Esel schlagen

Allerdings bedarf die überkommene Lehre ohne Zweifel einer den veränderten Verhältnissen Rechnung tragenden Revision. Vor allem darf die ethische Reflexion auf keinen Fall die Normen des Völkerrechts unterlaufen. Sie hat darum streng das in der UN-Charta ausgesprochene Kriegs- und Gewaltverbot zu beachten, eine bindende Rechtsnorm, die auch im Namen größerer Gerechtigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Eingeschränkt auf den Fall bedingter und befristeter Staatsnotwehr hat deshalb das traditionelle Kriegsführungsrecht bereits jetzt seine bisherige Bedeutung fast verloren und insofern und insoweit kann die Institution des Krieges als schon abgeschafft betrachtet werden. Darum läßt sich durchaus erwägen, ob der Begriff des »gerechten Krieges« noch einen Sinn macht. Sachlich jedenfalls reduziert sich sein Gehalt auf das Recht zur legitimen Verteidigung, das in den übergreifenden Rahmen einer Lehre vom »gerechten Frieden« einzuordnen ist. Solcherart eingegrenzt bleibt jedoch die Lehre vom »gerechten Krieg« der Sache nach unverzichtbar notwendig.

Gegen einen vollständigen Verzicht auf den überkommenen Begriff spricht, daß er unmißverständlich zum Ausdruck bringt, worum es bei der Ausübung der Waffengewalt im Raum internationaler Politik am Ende geht. Er könnte insofern geeignet sein, sprachlichen Verharmlosungen entgegenzuwirken. Diese Möglichkeit bleibt abzuwägen, nicht nur gegen seine sachliche Problematik, sondern auch den Umstand berücksichtigend, daß er offenbar fast zwangsläufig das Mißverständnis hervorruft, die Lehre vom »gerechten Krieg« sei als wohlfeiles Legitimationsinstrument gedacht, dessen sich jeder nach Lust und Laune bedienen kann, der zum Krieg entschlossen ist. Im Grunde handelt es sich um eine zweitrangige terminologische Frage gemessen an der Notwendigkeit, die sachliche Spannung aufrechtzuerhalten zwischen einer entschiedenen, alle gewaltfreien oder gewaltarmen Mittel nutzenden Politik der Friedensförderung, welcher der Primat gehört, und der Option der ultima ratio militärischer Gegengewalt, um die Menschenrechte und das Völkerrecht nötigenfalls gegen gewaltsamen Widerstand durchsetzen zu können. Wenn der Vorrang einer umfassenden, präventiv ausgerichteten Friedenspolitik bis heute nicht ausreichend zur Geltung kommt, so liegt das weniger an der Lehre vom »gerechten Krieg«, sondern an einem Mangel an politischer Einsicht und politischem Willen. Die Friedensbewegung sollte sich jedenfalls davor hüten, nur den Sack zu schlagen, wenn sie in Wahrheit den Esel meint.

Prof. Dr. Heinz-Günther Stobbe ist katholischer Theologe und Professor an der Universität Münster.

Rolle der Religion im Algerienkonflikt

Rolle der Religion im Algerienkonflikt

Wirtschaftskrise, Islamismus und Gewalt

von Sabine Kebir

„Die Soldaten Gottes, die Treuhänder der Macht Gottes, teilen den Helfern der Tyrannen, den Treuhändern der Macht Satans, folgendes mit: … wir halten Euch für Kriminelle. Die Bewegung für den islamischen Staat ist mächtiger als je zuvor. Sie kann alle Kriminelle, alle Verräter und alle, die sich dem Islam nicht unterwerfen wollen, überall aufspüren, sei es innerhalb oder außerhalb unseres Landes. Wir werden Euch finden und töten, wo Ihr Euch auch immer versteckt und verbarrikadiert, selbst wenn Ihr bis Mekka geht und Euch an die Vorhänge der Kaaba klammert!“

Dieser Drohbrief trägt den Stempel der Organisation »Aktion für den Islamischen Staat« und war an Khelida Messaoudi gerichtet, die Präsidentin der »Assoziation für den Triumph der Rechte der Frau«, fünfundreißig Jahre alt, Mathematiklehrerin. Khalida Messaoudi wurde schon vom Einparteiensystem der FLN (Front de Libération Nationale) verfolgt. Zwar ist ihre Assoziation seit der durch die Volksunruhen von 1988 erzwungenen Demokratisierung legal. Aber um der Vollstreckung des islamistischen Todesurteils zu entgehen, versteckt sie sich seit April 1993.

Wenn sich die Konfliktparteien in Algerien scheinbar mit islamischer Legitimität versehen, so ist darin nur die Form, nicht der eigentliche Inhalt der Krise zu sehen. Hinter den skandalträchtigen Meldungen aus Algerien wird im Westen oft die große Mehrheit der Menschen nicht wahrgenommen, die keineswegs ihre Auffassungen von Religion und Lebensweise gewaltsam verbreiten will. Ebenso unterbelichtet bleiben auch die Ursachen, die Algerien in die Krise geführt haben, an deren Entstehen der Westen nicht unbeteiligt ist. Es ist auch wenig bekannt, daß es sich in Algerien nicht um zwei, sondern mindestens um drei große Konfliktparteien handelt. Es stehen sich nicht nur Islamisten und der Repressionsapparat des FLN-Regimes gegenüber. Einen dritten gesellschaftlichen Pol stellen die umfangreichen, wenn auch zersplitterten demokratischen Bewegungen dar, zu denen nicht nur Parteien, sondern auch die Gewerkschaften zählen. Obgleich legalisiert, sind die Demokraten zur Zeit die vom Terrorismus am härtesten dezimierte Gruppe, wobei in Einzelfällen dahingestellt bleiben muß, ob die Täter aus dem Lager der Islamisten oder des Regimes kommen. Aus der Sicht der Opfer ist es relativ gleichgültig, ob hinter den Morden die antidemokratische, bereits islamistische Tendenz des alten Regimes steht, oder der neue politische Islamismus.

Während die Demokraten versuchen, den eine laizistische Entwicklung ermöglichenden Standpunkt der Sunna zu stärken, wonach keine weltliche Macht das Interpretationsmonopol der Religion besitzen kann, liegt sowohl auf seiten der FLN, als auch der Islamisten der Versuch vor, den Islam totalitär zu instrumentalisieren. Ehe ich darauf näher eingehe, möchte ich auf die eigentlichen sozialen Konfliktursachen eingehen: auf das Scheitern des zunächst so aussichtsreich scheinenden algerischen Entwicklungsmodells.

Das algerische Entwicklungsmodell

Während die Nachbarländer Tunesien und Marokko, die über keine große Erdölrendite verfügten, wenigstens bezüglich der Grundversorgung bis heute vom Weltmarkt relativ unabhängig blieben, hatte sich Algerien in den siebziger Jahren in ein ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm gestürzt. Mit neuester westlicher Technik sollte das Land in kurzer Zeit Exporteur von Industrieerzeugnissen und die Landwirtschaft nach australischem Vorbild produktiv gemacht werden. Diese technikintensive Entwicklungskonzeption baute aber die vom Kolonialismus ererbte Massenarbeitslosigkeit nicht ab. Außerdem blieb die Industrie materiell und auch personell von ausländischer Kooperation abhängig.

Als Mitte der achtziger Jahre die Ölpreise um etwa die Hälfte fielen, bedeutete das für Algerien die ökonomische und soziale Katastrophe. Die Weltmarktbindung der Industrie ging endgültig verloren, die an Importe gewöhnte Bevölkerung verarmte in rasantem Tempo. Während die Industriekomplexe heute nur noch als traurige Relikte existieren, hat sich auch die Landwirtschaft vom Schock der Übertechnisierung nicht erholt. Zwar wurde die Kollektivierung zu Beginn der achtziger Jahre rückgängig gemacht, aber einheimisches Gemüse, Obst und Fleisch sind immer noch Luxuswaren. Zu viele Algerier sind in die Städte abgewandert und kaum zur Rückkehr aufs Land zu bewegen. Im Gegensatz zu Marokko und Tunesien ist hier niemand mehr bereit, die Erde per Hand zu bearbeiten. Das Land ernährt sich größtenteils von Weizen- und Ölimporten, für die aber immer weniger Devisen zur Verfügung stehen. Das Land erzielt aus seinen Erdölexporten z.Z. etwa 11 Milliarden Dollar, wovon 9 Milliarden für den Schuldendienst aufgewendet werden müssen. Trotzdem versprach auch die Islamische Heilsfront (FIS) keinesfalls eine »Abkoppelung« vom Weltmarkt, sondern einen Neuaufschwung moderner Industrialisierung. Der Westen soll nur kulturell bekämpft werden, worunter vor allem die Zurückdrängung der Frauen aus Öffentlichkeit und Arbeitsleben verstanden wird.

Daß viel zu wenig Algerier in der Wirtschaft Arbeit und Brot fanden, hing auch mit der Bildungspolitik zusammen, die in eigenartigem Gegensatz zur Industrialisierungspolitik stand. Obwohl sich die Industrie trotz ihrer staatlich-zentralistischen Organisationsform über den Typ der Technologie extrem stark an den vom Westen beherrschten Weltmarkt band, wurde das Bildungssystem immer konsequenter auf das Ziel der Wiedergewinnung der »arabisch-islamischen Identität« hin orientiert. In Schulen und Universitäten ersetzte das Hocharabische seit den siebziger Jahren zunehmend das Französische, das aber Voraussetzung für Qualifizierung in der Industrie blieb. Selbst Arbeiter müssen Organigramme lesen und Krankenschwestern mit französischen Rezepten umgehen können.

Die Ausrichtung der Bildungsinstitutionen auf das Hocharabische verschärfte jedoch auch bereits bestehende kulturelle Probleme. Es ist nahezu unbekannt, daß zwischen 30 und 40% der Algerier Berberdialekte als Alltagssprache benutzen. Das von der arabophonen Mehrheit gesprochene algerische Arabisch ist wiederum durch zahlreiche lexikalische und grammatische Eigenheiten mit dem berberischen Substrat verbunden, so daß auch das arabophone Kind in Algerien das Hocharabische als Fremdsprache erlernen muß. Dennoch ist zwischen dem Kabylischen – der bedeutendsten Berbersprache Algeriens – und den Arabophonen keine Verständigung möglich. Und zwischen dem algerischen Arabisch und dem Hocharabischen wiederum herrscht ebenfalls eine Kommunikationsschranke. Dies hat zur Folge, daß die große Mehrheit weder der berberischen Kinder noch der arabophonen Kinder ausreichend Hocharabisch lernt, um in dieser Sprache Berufschancen in den wenigen Branchen wahrnehmen zu können, in denen dies möglich ist. So habe ich selbst bei meiner Lehrtätigkeit am Institut für Journalismus in Algier während der achtziger Jahre beobachten können, daß sogar ein beträchtlicher Teil der bereits aus der arabisierten Schule hervorgegangen Journalistikstudenten nicht in der Lage war, einer arabischen Vorlesung problemlos zu folgen: die Professoren wurden immer wieder gebeten, zu diktieren und zu wiederholen.

Da Algerien in den siebziger Jahren selbst nicht in der Lage war, die beschlossene rasche Einführung des Hocharabischen personell selbstständig durchzuführen, wurde eine große Zahl von Lehrern aus dem Orient – hauptsächlich aus Ägypten – als Kooperanten eingeladen. Hier handelte es sich oft um wenig qualifizierte Menschen, die in ihren Ursprungsländern arbeitslos gewesen waren und nicht selten auch den Moslembrüderschaften nahegestanden hatten. Von ihnen gingen damals schon weniger nasseristische als islamistische Impulse aus, die für die weitere Entwicklung Algeriens immer wichtiger werden sollten.

Die Anfang der siebziger Jahre auf autoritäre Weise vollzogene Agrareform löste die von der FLN geweckten großen Erwartungen – insbesondere der Jugendlichen in der Provinz – nicht ein. So gelang es der enteigneten, aber vom Staat großzügig entschädigten Feudalität rasch, die Agrarreform als unislamisch darzustellen, weil der Koran das Privateigentum schütze.

Ein Teil der Abfindungsgelder, die im allgemeinen in den Aufbau von Handels- und Zwischenhandelsunternehmen flossen, wurden auch zur privaten Grundfinanzierung von Moscheen verwandt, deren Bau vorsätzlich nie ganz abgeschlossen wurde, um sie der Kontrolle des Religionsministeriums zu entziehen. Die »alten Familien«, die sich damals schon der finanziellen Unterstützung aus Saudi Arabien und den Golfstaaten erfreuen konnten, bezahlten auch die Imame der in den siebziger und achtziger Jahren sich phantastisch vermehrenden »wilden Moscheen«. So sicherten sie sich dort auch das geistige Monopol. Der Historiker Ahmed Rouadjia hat in einer minutiösen soziologischen Studie (Les frères et la mosquée. Enquète sur le mouvement islamiste en Algérie, Paris 1991) den Bau der wilden Moscheen in Constantine – einer Stadt, die inmitten eines großen landwirtschaftlichen Gebietes liegt – seit den siebziger Jahren dargestellt. Der FLN-Staat, der den Islam zur Staatsreligion erklärt hatte, setzte der islamistischen Bewegung damals kaum Widerstand entgegen, sondern versuchte vielmehr, sie gegen die linken und demokratischen Bewegungen zu instrumentalisieren, die nicht den angeblich unislamischen, sondern den autoritären Charakter der Agrarreform kritisierten. So kam es zunächst im Constantinois, später auch in anderen Regionen, zu einer Duldung und auch zur Verflechtung der Islamisten mit den zunehmenden islamistischen Tendenzen in der FLN. Abdelghani, der Colonel des Constantinois, hatte den Bau der wilden Moscheen gedeckt, darunter auch den der mit kuwaitischem Geld errichteten, seinerzeit größten Moschee Afrikas Emir Abd El Kader. Obwohl auch sie zunächst als illegale Moschee auf einem Terrain errichtet wurde, das für die enormen Betonmassen ungeeignet ist – die Fundamente müssen unablässig mit Zementzugaben befestigt werden –, nahm Präsident Chadli an ihren Einweihungsfeierlichkeiten teil. Präsident der ihr angeschlossenen islamischen Universität war bis 1989 der wegen seiner islamistischen Lehren aus seiner Heimat Ägypten ausgewiesene Imam El Ghozali, der lange Jahre in Mekka und El Quatar gewirkt hatte. Er arrivierte in den achtziger Jahren zum Fernsehstar und zur obersten religiösen Autorität Algeriens. Colonel Abdelghani stieg unter Chadli zum Innenminister auf und war zeitweilig sogar Premierminister.

Durch die wachsenden islamistischen Tendenzen im Staatsapparat selbst waren die halbherzigen Bemühungen Chadlis, Anfang der achtziger Jahre zumindest auf einigen Gebieten Modernisierungen durchzusetzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Technokraten des Regimes hatten erkannt, daß der wirtschaftlichen Entwicklung enge Grenzen gesetzt waren und die Erwartungen der seit der Unabhängigkeit bereits verdoppelten Bevölkerung auf Arbeit, Wohnungen und ein besseres Auskommen nicht annähernd erfüllt werden konnten. Das deshalb 1982 für alle Ministerien zum Gesetz erhobene Programm freiwilliger Geburtenregelung wurde in den Moscheen vereitelt, aber auch von den staatlichen Institutionen nicht ernsthaft betrieben. Insbesondere scheiterten alle Versuche, Aufklärungsunterricht in den Schulen durchzusetzen. Wie stark zu Beginn der achtziger Jahre bereits die islamistische Tendenz im Staatsapparat war, offenbarte der damals stattfindende Kampf um ein neues Familiengesetz. Es bereitete einen eklatanten Bruch der Verfassung vor, die für Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten vorschrieb. Das 1984 gegen erbitterten Widerstand der demokratischen und Frauenbewegungen durchgesetzte Familiengesetz legte von nun an fest, daß Frauen lebenslang Mündel des Vaters oder der Brüder, später des Ehemannes bleiben. Auch im Scheidungs- und Erbrecht wurden sie eklatanten Benachteiligungen ausgesetzt. Kritische Juristen erklärten, daß Algerien damals den ersten Schritt zum islamischen Staat vollzog.

Wie in den siebziger Jahren die Universität von Constantine, so war in den achtziger Jahren die Universität von Algier zum Zentrum gewalttätiger Kämpfe zwischen »Modernisten« und »Traditionalisten« geworden. Nur äußerlich ging es um einen Kampf zwischen »linken« Frankophonen und »rechten« Arabisanten. Obwohl bekannt war, daß die Universitätsmoscheen als Waffenlager dienten, ließ der Staat den Islamisten zunächst noch relativ freie Hand. Erst nachdem 1982 ein als links geltender kabylischer Student in der Mensa mit einem Schwert geköpft worden war und die Islamisten danach ein Protestmeeting gegen die vorgenommenen Verhaftungen durchführten, kam es zu ersten Prozessen – u.a. auch gegen den damals als Hochschullehrer tätigen Madani Abassi, den späteren Sprecher der FIS. Da in dieser Zeit auch eine erste islamistische Guerilla unter Mostepha Bouyali begann Alkoholdepots, Polizeistationen und andere staatliche Einrichtungen zu überfallen, begriff das FLN-Regime, daß sich die Islamisten nicht mehr in das System integrieren lassen wollten, sondern zu einer ernsthaften Gefahr wurden.

Bei den Auseinandersetzungen an der Universität von Algier strebten die Islamisten die Durchsetzung der arabo-islamischen Identität Algeriens auf der Basis des Hocharabischen an und verlangten von der Regierung eine energische Beschleunigung des Arabisierungsprozesses in allen Sektoren der Gesellschaft. Die ebenfalls das Regime bekämpfenden »Modernisten« forderten dagegen ein den Realitäten entsprechendes zweisprachiges Ausbildungssystem sowie die Anerkennung der »berberischen Identität« eines Teils der Algerier. Hier wirkte der große Volksaufstand nach, der 1980 die Kabylei erschütterte. Er hatte nicht nur die Anerkennung der berberischen Sprachen als „authentischen Ausdruck des algerischen Volkes“ gefordert, sondern auch die Berücksichtigung der arabophonen Volksdialekte im Bildungssystem. Die seit der kabylischen Sezessionsbewegung von 1963 in den Untergrund gedrängte FFS (Front des Forces Socialistes) versuchte so, ihre sezessionistischen Positionen zu überwinden und ihren Einfluß auf die Arabophonen auszuweiten. Während die bereits islamistische Tendenz den totalitären Monolithismus des alten Regimes nur radikalisieren wollte, drängte die modernistische Tendenz zur Pluralisierung und Differenzierung des kulturellen und politischen Lebens. Die Frauenbewegungen, die sich im Kampf gegen das Familiengesetz vom modernistischen Flügel der FLN verraten fühlten, fanden hier ebenfalls Unterstützung.

Patriarchale Vorstellungen

Wenn schließlich aber auch die Islamisten Einfluß auf einen Teil der Frauen, insbesondere der Studentinnen erlangten, so lag das an ihrem Zugeständnis, die Frauen zwar nicht in ihrer sozialen Rolle, aber doch zumindest in der Religion als gleichberechtigt zu erklären. Das war – zumindest für den Maghreb – neu. Bislang war es hier Sitte, die Regelmäßigkeit des Gebets, den Besuch der Moschee sowie die Pilgerreise nach Mekka von den Frauen erst nach der Menopause zu verlangen, wenn sie von ihren Mutterpflichten mehr oder weniger entbunden waren. Die Islamisten begannen, einen Bereich der Moscheen für Frauen jeden Alters zu reservieren. Wenn sie den Hidjab akzeptierten, sollten sie in wenigen Bereichen des Arbeitslebens – so im Bildungssektor und der Gynäkologie – auch weiterhin wirken dürfen. Man öffnete einigen Frauen auch Betätigungsfelder, die sie traditionell nur innerhalb der Familie besetzt hatten: charitative Aktivitäten, die die Moscheen den zunehmend verelendenden ärmsten Bevölkerungsschichten anboten.

In den achtziger Jahren wurde der fundamentalistische Einfluß der muslimischen Bruderschaften Ägyptens – hinter dem sich eigentlich der Einfluß des saudischen Königsreiches verbarg – von der politischen Ausstrahlungskraft der iranischen Revolution teilweise abgelöst. Sie verstärkte die antidemokratische, totalitäre Tendenz des algerischen Islamismus weiter und führte sogar zu mehr oder weniger heimlichen Übertritten zur Schia – ein Problem, womit sich die bereits im Untergrund entstehende Bewegung von Ali Belhadj – einem späteren Führer der FIS – ernsthaft auseinandersetzen mußte.

Die orientalischen Einflüsse in Algerien machten sich auch durch Äußerlichkeiten bemerkbar. Immer häufiger kam es zu früher in dieser Region unüblichen öffentlichen Massengebeten. Der »Haik«, der traditionell aus einem weißen oder schwarzen Tuch bestehende Frauenschleier, wurde durch den Hidjab, ein langes Mantelgewand mit Kopftuch, ersetzt. Junge Männer, die ihr Äußeres »islamisieren« wollten, kehrten nicht zur traditionellen Pluderhose zurück, sondern legten das orientalische Hemd, das Khemis, an und ließen sich Bärte wachsen. Während den Frauen das traditionell durchaus verbreitete Schminken verboten wurde, färbten sich Männer dagegen gern die Augen mit schwarzem Khol – wie es der Prophet getan haben soll. Eine Fülle von religiösem Propagandamaterial – in Saudi Arabien oder in den Golfstaaten auf Glanzpapier gedruckt oder in Form von Hörkassetten – wurde billig oder kostenlos vor den Moscheen angeboten.

Die immer deutlicher werdende Perspektivlosigkeit der Jugendlichen konnte – wegen des Verbots der demokratischen Bewegungen – nicht von diesen aufgefangen werden, sondern trug zur stetigen Stärkung des Islamismus bei, der trotz zunehmender Repression des Staates über finanzielle Mittel und mit den Moscheen auch über logistische Stützpunkte verfügte. Sie förderten auch bei ganz jungen Leuten ein Klima für die Tradierung traditioneller patriarchalischer Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse. Nicht die Fehler des auf Hochtechnologie basierenden Entwicklungsmodells, sondern die wenigen arbeitenden Frauen (nur jeder hundertste Erwerbsarbeitsplatz wird von einer Frau besetzt) waren in den Augen vieler Jugendlicher dafür verantwortlich, daß sie selbst keinen Arbeitsplatz fanden. Auch die Koedukation von Jungen und Mädchen in den von Jahr zu Jahr überfüllteren Bildungseinrichtungen wurde – unter moralischen Vorwänden – immer unverhohlener kritisiert. In Wirklichkeit sollte ein besonderer Bildungsweg für Mädchen die Privilegierung der Jungen beim Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt sichern. Da diese faktisch aber bereits bestand, erfüllte diese von den Islamisten geführte Diskussion um die »Frauenfrage« ähnliche »ideologische« Funktionen, wie die um die »Ausländerfrage« in Deutschland. Phantombilder von »Sündenböcken« wurden aufgebaut, die die Analyse der wirklichen Problemlage verhindern.

Weil die ökonomische Zukunft der Jugendlichen immer ungesicherter wurde, verschob sich das durchschnittliche Heiratsalter der Männer auf etwa 30, das der Frauen auf 25 Jahre. Viele heiraten überhaupt nicht. Auf Grund ihrer Abhängigkeit von der Familie wagen die Frauen nur selten einen Bruch des alten Jungfräulichkeitstabus. Deshalb entwickelte sich eine sexuelle Krise, die man historisch in dieser Region nie gekannt hat. Sie ist ein weiterer Grund für die Aggressivität gegen Frauen – die in der Phase der Legalisierung der frauenfeindlichen Diskurse der Heilsfront 1989-1992 ihren Höhepunkt erreichte. Diese nutzte die sexuelle Krise geschickt für ihre Zwecke aus. Sie betonte, daß der Koran die Gläubigen zur Ehe verpflichtet, das FLN-Regime die Jugendlichen in der Erfüllung dieser Pflicht aber hindere. Im Falle ihrer Machtergreifung versprach sie eine rasche Änderung der Wohnungs- und Arbeitssituation und ermunterte die Jugendlichen einstweilen, Fatiha-Ehen einzugehen, die religiös, nicht aber standesamtlich legitimiert sind. Sie stellen für die jungen Frauen ein außerordentliches Lebensrisiko dar.

Weder politisch noch militärisch ist eine Lösung in Sicht

Nach dem Sturz der Erdölpreise gegen Mitte der achtziger Jahre, verschlechterte sich der schon lange stagnierende Lebensstandard der algerischen Familien rapide. Der Staat mußte soziale und ärztliche Dienste stark einschränken, wodurch besonders der arme Teil der Bevölkerung immer mehr auf die, Almosen der Moscheen angewiesen war. Diese stammten paradoxerweise von denen, die im Bund mit dem Westen für den Zusammenbruch des Preiskartells der OPEC letztlich verantwortlich waren – Saudi Arabien und die Golfstaaten.

Die schon lange schwelende Unzufriedenfriedenheit brach sich 1988 in mehrtägigen Jugendunruhen Bahn, gefolgt von Streiks der Arbeitenden. Da die Regierung über keine Reserven verfügte, um den Forderungen nach besseren Lebensbedingungen nachkommen zu können, entschloß sie sich, durch demokratische Öffnung einen Ausweg aus der Krise zu suchen, die 1989 zur Legalisierung der FIS führte. Die Politik des ihr bereits in den Kommunalwahlen 1990 unterlegenen FLN-Regimes zielte auf eine große Koalition mit den Islamisten. Dieser Kompromiß war und ist in den Augen der Demokraten die gefürchtete negative Grundtendenz der algerischen Entwicklung bis heute. In der Tat gab Präsident Chadli vor den ersten freien Parlamentswahlen 1991 seine Bereitschaft zur Kohabitation bekannt.

Gegenüber den 1989 ebenfalls sofort entstehenden demokratischen Parteien – deren Anhänger sich vor allem aus Besitzern von Arbeitsplätzen zusammensetzten – hatten sowohl die FLN als auch die Islamisten enorme finanzielle und logistische Vorteile. Zudem waren die Demokraten politisch zersplittert, u.a. weil sich erstmalig auch regionale und sprachliche Gruppierungen eigene Repräsentanzen schaffen durften. Insofern zeichnen sich in den Ergebnissen des ersten Wahlganges von 1991 auch Konturen eines möglichen Bürgerkrieges ab: in der Kabylei ging kein Wahlkreis an die FIS oder die FLN, die meisten Stimmen bekam dort die sozialdemokratisch orientierte FFS, die im Landesmaßstab sogar zweite Partei wurde.

Das katastrophale Ergebnis der FLN nach dem 1. Wahlgang machte eine Koalition mit der FIS unmöglich, diese hätte im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit errungen. Die teilweise mit der FLN verfilzte, teilweise aber auch demokratisch orientierte Armee unterbrach den Wahlprozess und rief den Ausnahmezustand aus. Chadli wurde abgesetzt, im März 1992 wurde auch die FIS verboten. Auf Grund dieser Konstellation herrscht in Algerien bislang noch die 1988 errungene Freiheit für demokratische Medien, deren Ausmaß in der arabischen Welt derzeit einmalig ist. Journalisten, Schriftsteller, aber auch Lehrer und Ärzte sehen sich jedoch zunehmendem Druck des islamistischen Terrors ausgesetzt. Auch das Regime versucht, sie durch Zensurversuche und Gefängnisstrafen einzuschüchtern.

Seit Sommer 1993 verstärkte die islamistische Guerilla die Wirtschaftssabotage. Im Zusammenhang damit stehen wohl auch die Morde und Entführungen von Ausländern, vorwiegend technischen Kooperanten und Konsulatsangehörigen. Damit soll das Regime vollends kreditunwürdig gemacht werden. Die Antwort ist die Verschärfung des sogenannten Antiterrorkampfes: militärische Aktionen, bei denen auch Zivilisten umkommen, Folter, eine hohe Zahl von »legalen« Todesurteilen, aber auch von illegalen Erschießungen. Bislang sind an die 4000 Menschen umgekommen.

Weder eine politische, noch eine militärische Lösung der Konfliktlage ist in Sicht. Die wirtschaftlichen Ursachen des Aufstands der Marginalisierten wären keineswegs mit einer islamistischen Machtübernahme beseitigt. Mittelfristig kann Algerien nur die Stundung der Auslandsschulden und eine auf die Rekonstruktion des inneren Marktes gerichtete Wirtschaftspolitik helfen.

Sabine Kebir lebt nach elfjährigem Algerienaufenthalt seit 1988 als freie Autorin in Berlin. Kürzlich publizierte ECON ihre Analyse der algerischen Krise unter dem Titel »Zwischen Traum und Alptraum. Algerische Erfahrungen 1977-1992« (siehe unter Rezensionen in diesem Heft).

Editorial

Editorial

von Albert Fuchs

Es ist also soweit. Nach dem Tod des Feldwebels A. Arndt in Kambodscha im Oktober des vergangenen Jahres ist nun mit den Todesschüssen von Belet Uen der Bann wohl endgültig gebrochen: Nicht mehr nur »Deutsche Waffen und deutsches Geld morden mit in aller Welt«, sondern auch unsere staatlich geschulten, approbierten und besoldeten Gewalt- und Tötungsspezialisten sind wieder richtig dabei – beim Stechen und Schießen wie die anderen, beim Exekutieren dieser absurden und perversen Staaten-Normalität.

Zwar fehlt noch die höchste Weihe – eine entsprechende Verfassungsänderung –, doch was schert das die regierenden Verfassungsbeuger! Schritt für Schritt hat man seit dem Anschluß der DDR und der Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität die Verfassungspraxis geändert; Schritt für Schritt hat die Bundesregierung seither die Grenzen hinausgeschoben, die sie noch von der »normalen« Verfügung über die Bundeswehr trennen, d.h. von ihrer Verwendung als Instrument nationalstaatlicher Macht- und Interessenpolitik. Kaum verschleiert ist dieser Zielhorizont in den diversen konzeptionellen Entwürfen der Hardthöhe artikuliert. „Der Krieg ist als Mittel der Politik nach Europa zurückgekehrt“, verkündete dementsprechend V. Rühe am 15. Januar 1993 im Bundestag und meinte das offensichtlich nicht nur beschreibend.

Und welchen Part – um zu unserem Leitthema zu kommen – spielt in diesem Spiel die organisierte Religion, das vermeintliche Gewissen der Gesellschaft? Nun, was kann man schon erwarten? Etwa daß die beiden christlichen Großkirchen ihre Komplementaritätsformeln, mit denen sie zur Hoch-Zeit des »Nachrüstungs«-Konflikts Abschreckungsgläubige wie Pazifisten unter ihrer Anhängerschaft bei der Stange zu halten versuchten, nicht neuauflegen, ihre »Weder-Fisch-noch-Fleisch«-Gerichte (R. Bahro) nicht wiederaufwärmen und sich stattdessen auf den radikal gewaltkritischen Inspirator aus Nazareth einlassen? Niemand sollte Illusionen kultivieren! In der Tat zeichnet sich die Neuauflage, das Wiederaufwärmen, deutlich ab. So legte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland Anfang Februar d.J. ein Positionspapier zur angeblich neuen friedensethischen Standortbestimmung vor. Sieht man sich dieses Papier etwas genauer an, findet man die besagte Weder-heiß-noch-kalt-Formel so wohlklingend reformuliert, daß man diese Passage am liebsten wörtlich wiedergeben möchte. Nicht einmal die berühmt-berüchtigte Heidelberger These VIII von 1959, wonach die Kirche den „Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen“ muß, wird revidiert – obwohl sie seinerzeit ausdrücklich unter dem Vorbehalt einer gegnerischen Drohung mit Massenvernichtungswaffen stand, diese Drohung aber erklärtermaßen nicht mehr besteht. Gewiß wird die Lehre vom »gerechten Krieg« problematisiert –, aber nur, um wiederholt auf Komponenten dieser Konzeption als Bedingungen des „Einsatz(es) militärischer Gewalt zur Wahrung des Friedens und zur Durchsetzung des Rechts“ zu rekurrieren. Kurz und gut: Alter Wein – bzw. alter Fusel – in einem runderneuerten Schlauch!

Keineswegs besser sieht es bei den »Hütern der ewigen Wahrheit« (R. Havemann) mit dem anderen Gebetbuch aus. Jahre nach dem Beginn des »neuen (außen- und sicherheitspolitischen) Denkens« (und Handelns) der Sowjetführung unter Gorbatschow und nach dem zwischenzeitlichen Untergang des »Reiches des Bösen« (R. Reagan) und damit nach dem erklärten Ende der „fundamentalen Bedrohung von Freiheit und Menschenwürde“, die seinerzeit auch den katholischen Deutschen Bischöfen als Rechtfertigungsgrund für die ethische Tolerierung des Abschreckungssystems diente, haben auch diese immer noch keine Revision dieser Position zustandegebracht, sich immer noch nicht von „Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ verabschiedet. Man schweigt sich dazu aus, daß diese Ideologie und Praxis immer offener gegen Völker und Staaten auf der südlichen Halbkugel gerichtet wird, dazu noch im Rahmen der eingangs angesprochenen Relegitimierung von Militär und Krieg als Mittel der Politik. Wer aber schweigt …Nein, mit staatstragenden Kirchen ist und bleibt friedenspolitisch kein Staat zu machen! Daran hat sich seit der »Konstantinischen Wende« nicht viel geändert, und daran wird sich nicht viel ändern. Die Beförderung zur »Staatskirche« hat eben ihren Preis: Tolerierung, wenn nicht Mystifizierung des staatsbildenden Prinzips Gewalt. Friedenspolitisch fruchtbar kann nur Religion »von unten« sein, d.h. aufgrund der Erfahrung Gottes als »Vater« und »Mutter« aller Menschen. In dem Maße, in dem der Glaubende sich und jeden potentiellen Gegner von seinem Gott unbedingt bejaht erlebt, sieht er sich zu ihm im Gegensatz, sobald er bereit wird und lernen will, seinen Gegner zu vernichten. Damit zerstört er zwangsläufig seine religiöse Identität. Andererseits kann er sich nicht mit dem wechselseitigen Vernichtungswillen unter Menschen abfinden; Gewaltbereitschaft und Krieg stellen die Verbindung zwischen den Menschen in Gott und damit wiederum das identitätsstiftende Daseinsverständnis des Glaubenden prinzipiell in Frage.

Wann und wo immer in der Geschichte sich Frauen und Männer vor diesem oder einem ähnlichen Orientierungshintergrund frei assoziiert haben, konnten sie friedenspolitisch produktiv werden. Vielleicht bietet das »Projekt Weltethos« (H. Küng) des Parlamentes der Religionen eine entsprechende Hoffnung für unsere Zeit.

Ihr Albert Fuchs

Christliche Religiosität und Militarismus

Christliche Religiosität und Militarismus

Die sozialwissenschaftliche Sicht

von Christian Zwingmann • Christoph Diringer • Randolph Ochsmann

Das Verhältnis von christlicher Religiosität und der Einstellung zu militärischer Gewalt bildet das Thema des vorliegenden Überblicks. Als Grundlage werden jedoch nicht historische Analysen herangezogen, sondern empirische Befunde und theoretische Ansätze aus den Sozialwissenschaften dieses Jahrhunderts, vor allem aus der Religions- und Sozialpsychologie, aber auch aus der Religionssoziologie. Einige Beobachtungen zum Stand der friedensethischen Diskussion in den christlichen Großkirchen Deutschlands runden die Darstellung ab.

Vielfach ist – vor allem von religionskritischen Autoren – auf den auffälligen Widerspruch zwischen der christlichen Ethik der Liebe und Friedfertigkeit und den gewalttätigen Erscheinungsformen des Christentums im Laufe der Geschichte hingewiesen worden (Deschner, 1970). Seitens der Kirche wurden nicht nur der »gerechte Krieg« zur Verteidigung des Gemeinwohls, sondern auch solche aggressiven Unternehmungen wie die Inquisition und die Kreuzzüge legitimiert. Als weitere Beispiele für die gewalt- und kriegsfördernde Kraft des Christentums können die protestantisch-katholischen Religionskriege und die mit kirchlich-missionarischem Sendungsbewußtsein verbundene »Conquista« der Neuen Welt angeführt werden. Selbst in unserem Jahrhundert finden sich Anzeichen für das Verstricktsein der Kirchen in militärische Gewalt (Huber, 1974; Mettner, 1984).

Forschungsdefizite

Begonnen werden muß der vorliegende Überblick allerdings damit, in dreifacher Hinsicht Defizite in der Forschungslage zu konstatieren: Erstens fällt schon die empirische Beschäftigung mit Religion und Religiosität innerhalb der Sozialwissenschaften trotz ermutigender Ansätze immer noch in den randständigen Forschungsbereich. Dies gilt – zweitens – ganz besonders für den deutschsprachigen Raum: Empirisch-religionspsychologische Forschung ist hierzulande nur in ersten Ansätzen erkennbar (Grom, 1992, 21.9.); in der deutschen Soziologie sind die Defizite zwar weniger ausgeprägt, gleichwohl besteht eine Marginalisierung religionsbezogener Forschung auch hier (Buggle, 1992, S. 377ff.). Drittens ist in nur sehr wenigen, zumeist älteren Untersuchungen explizit nach dem Verhältnis von Religiosität und der Einstellung zu militärischer Gewalt gefragt worden.

Als Gründe für den Mangel an religionsbezogener Forschung innerhalb der empirischen Sozialwissenschaften sind neben wissenschaftshistorischen Argumenten vor allem die zumeist geringe persönliche Religiosität vieler Sozialwissenschaftler sowie Berührungsängste mit theologischen und geisteswissenschaftlichen Denktraditionen diskutiert worden (Gorsuch, 1988). Der gegenwärtige Mangel an religionsbezogenen Fragestellungen sowohl innerhalb der Psychologie und Soziologie als auch der Friedens- und Konfliktforschung mag außerdem mit der weit verbreiteten, aber umstrittenen Auffassung zusammenhängen, daß im fortschreitenden Prozeß der Moderne die Handlungsrelevanz religiöser Einstellungen abnimmt (Terwey, 1993). Die Frage, warum die Großkirchen wenig Interesse an empirischer Forschung gerade zum Verhältnis von christlicher Religiosität und der Einstellung zu militärischer Gewalt zeigen, läßt sich – zumindest für den Bereich des deutschen Katholizismus bis in die 70er Jahre – möglicherweise darauf zurückführen, daß eine kritische Hinterfragung des Christentums aufgrund der Geschlossenheit des kirchlichen Milieus kaum Chancen auf innerkirchliche Rezeption oder Förderung hatte. Ein Diskurs über die gesellschaftlichen und politischen Anfragen der Moderne wurde innerhalb der katholischen Kirche bis zum II. Vatikanischen Konzil 1962-1965 mit der Begründung abgelehnt, die Kirche verstehe sich als „societas perfecta“ (Kaufmann, 1984, S. 69ff.).

Die Ergebnisse der Russell-Studie

Angesichts der sehr unzulänglichen Befundlage muß als zentraler Ausgangspunkt dieses Überblicks eine mehr als 20 Jahre alte, inzwischen schon als »klassisch« zu bezeichnende Zusammenfassung der Forschungslage herangezogen werden, nämlich die von dem Friedens- und Konfliktforscher Elbert W. Russell (1971/1974) in den Veröffentlichungen des Canadian Peace Research Institute vorgelegte sog. Russell-Studie. In dieser Studie wurde zunächst auf der Grundlage von rund 20 soziologischen Untersuchungen, die zwischen 1940 und 1970 in Nordamerika durchgeführt worden waren, unmittelbar dem empirischen Zusammenhang zwischen christlicher Religiosität und »Militarismus« nachgegangen (S. 38ff.).

Zur Erfassung der Religiosität wurden nicht nur die Kirchgangshäufigkeit und eine – in der heutigen Forschung nicht mehr übliche – a priori-Einordnung der jeweiligen Konfession in ein Orthodoxie-Agnostizismus-Kontinuum verwendet, sondern auch verschiedene Fragebögen zur Messung religiöser Anschauungen. Einen besonderen Stellenwert nahm dabei die Bestimmung der »religiösen Orthodoxie« ein: Unter »religiöser Orthodoxie« (orthos=richtig; doxa=Glaube) wurde eine Haltung verstanden, die vor allem in Form der Übernahme und Verteidigung eines geschlossenen religiösen Einstellungssystems rigide an dem richtigen Glauben festhält.

»Militarismus« wurde aufgefaßt als individuelle Einstellung, die sich auf ein bestimmtes Problemlösungsverhalten im Rahmen der internationalen Politik bezieht, nämlich auf „die bereitwillige Anerkennung oder Bevorzugung von Krieg als Mittel zur Lösung von Weltproblemen“ (Russell, 1974, S. 25). Die militaristische Einstellung konnte mit Hilfe von eigens entwickelten Fragebögen zuverlässig erfaßt werden. Darüber hinaus wurden Hinweise auf eine niedrige oder fehlende militaristische Einstellung auf der Verhaltensebene ermittelt, indem z.B. die Höhe der Geldspenden zum Zwecke der Friedensforschung und die Teilnahme an aktiven Friedensdiensten erfaßt wurden.

Als nun die derart erhobenen Indikatoren für christliche Religiosität und Militarismus statistisch miteinander in Beziehung gesetzt wurden, zeigte sich als relativ homogenes Ergebnis über die verschiedenen Stichproben aller Untersuchungen hinweg ein moderater bis starker Zusammenhang folgender Art: Je religiöser eine Person oder Gruppe und vor allem je orthodoxer deren religiöse Einstellung war, desto eher oder stärker wurden militaristische Einstellungen geäußert (Russell, 1974, S. 48). Allerdings konnte – dies sei hier besonders hervorgehoben – auch festgestellt werden, daß ein kleiner Teil der befragten Christen betont pazifistische Einstellungen vertrat (S. 51).

Unter Berücksichtigung einer Vielzahl weiterer empirischer Untersuchungen konnte Russell (1974, S. 55ff.) darüber hinaus belegen, daß religiöse bzw. religiös-orthodoxe Haltungen nicht nur mit militaristischen Einstellungen, sondern außerdem häufig mit einer Reihe weiterer Anschauungen einhergingen und mit diesen gemeinsam ein sog. »autoritär-punitives« Syndrom bildeten. Bei den zusätzlichen Einstellungen handelte es sich um eine besondere Abhängigkeit von Autoritäten (Autoritarismus), ein Befürworten harter Strafen für Gesetzesbrecher (Punitivität), eine hohe Bereitschaft zu Antisemitismus, Ethnozentrismus und anderen Vorurteilen, eine geringe Ausprägung humanitärer, prosozialer Einstellungen sowie um politisch konservative bis reaktionäre Anschauungen wie Nationalismus, Antikommunismus, Anti-Wohlfahrtsstaatlichkeit und Befürworten einer Zensur.

Ergebnisse der religions- und sozialpsychologischen Forschung

Wenn auch innerhalb der Religions- und Sozialpsychologie die Einstellung zu militärischer Gewalt bisher vernachlässigt wurde, so liegen jedoch zahlreiche empirische Studien über das Verhältnis von christlicher Religiosität und einigen zentralen Komponenten des von Russell (1974) beschriebenen »autoritär-punitiven« Syndroms vor. Diese Untersuchungen, namentlich aus der Forschung zu Vorurteilen und zur Prosozialität, koinzidieren in ihren Durchschnittsergebnissen mit der von Russell festgestellten »Paradoxie« (S. 66), daß „die Früchte des Christentums … offenbar das genaue Gegenteil seines Ideals der Liebe“ (S. 67) sind. Für Teilgruppen der untersuchten Christen zeigten sich allerdings auch hier „Ausnahmen von der allgemeinen Regel“ (S. 50).

Bereits die in den 40er Jahren in den USA durchgeführte, groß angelegte Studie von Theodor W. Adorno (1950/1973) und seinen Mitarbeitern über »The authoritarian personality« zeigte neben anderen Ergebnissen einen insgesamt positiven Zusammenhang zwischen Kirchenmitgliedschaft und Voreingenommenheit gegenüber nationalen Minderheiten – obwohl „ein Widerspruch zwischen dem Vorurteil und der christlichen Lehre von der allumfassenden Liebe“ (S. 281) besteht. Der Befund, daß eine stärkere christliche Religiosität bzw. religiöse Orthodoxie im allgemeinen auch mit stärkeren Vorurteilen und erhöhter Intoleranz einhergeht, konnte seitdem – zumindest für Christen der weißen Mittelschicht in den USA der 60er und 70er Jahre – unter Einsatz verschiedenster Meßmethoden in einer Vielzahl von religions- und sozialpsychologischen Untersuchungen repliziert werden (Batson & Ventis, 1982, S. 258ff.; Gorsuch & Aleshire, 1974). Allerdings stellte bereits Adorno (1973) einschränkend fest, daß zumindest eine Minderheit der Gläubigen über ausgeprägte persönliche Glaubenserfahrungen verfügte, und daß diese „Personen oder Gruppen, die Religion in einer verinnerlichten Weise »ernst n[a]hmen«, den Ethnozentrismus eher ablehn[t]en“ (S. 285). Auch Gorsuch & Aleshire (1974) schlußfolgerten in ihrem Review, daß eine Teilgruppe der Kirchenmitglieder, nämlich häufige Kirchgänger mit intensiver Glaubenspraxis, weniger Vorurteile zeigten. Das Verhältnis von christlicher Religiosität und Voreingenommenheit ist offenbar ein zweifaches: „There is something about religion that makes for prejudice, and something about it that unmakes prejudice“ (Allport, 1966, S. 447).

Betrachtet man die Ergebnisse aus der Prosozialitätsforschung, so zeigt sich zwar einerseits, daß religiöse Menschen im Vergleich zu nichtreligiösen engere moralische Standards vertreten und über eine etwas höhere persönliche Hilfsbereitschaft berichten (Batson & Ventis, 1982, S. 284ff.), andererseits scheinen diese Selbstbeschreibungen dem tatsächlichen Verhalten nur unvollkommen zu entsprechen: So ergaben sich in Untersuchungen, in denen die tatsächliche Hilfsbereitschaft ermittelt wurde, keine Beziehungen zwischen – unterschiedlich erfaßter – Religiosität und der aktuellen Bereitschaft nachzusehen, ob eine im Nachbarraum umgefallene Leiter eine Frau verletzt hat, für eine liegengebliebene Autofahrerin den Abschleppdienst zu rufen oder für geistig behinderte Kinder einen freiwilligen, ehrenamtlichen Einsatz zu leisten (Batson & Ventis, 1982, S. 287f.). Allerdings konnten in mehreren nachfolgenden Experimenten wiederum – je nach situativer Anforderung – verschiedene Teilgruppen christlicher Teilnehmer identifiziert werden, die Personen in einer Notlage zuverlässig und angemessen halfen (Batson & Ventis, 1982, S. 290ff.; Wulff, 1991, S. 194ff.).

Zumindest für einen bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext zeigen die Ergebnisse der Russell-Studie und der zusätzlichen religions- und sozialpsychologischen Forschung somit, daß christliche Religiosität zwar einerseits häufig mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen sowie mit geringem Hilfeverhalten einhergeht, andererseits aber auch mit pazifistischen Einstellungen, wenig Vorurteilen sowie mit zuverlässigem und angemessenem Hilfeverhalten verbunden sein kann. Zur Erklärung dieser zweifachen Befundlage wurde vorgeschlagen, christliche Religiosität differenzierter zu betrachten.

Motivational-funktionale Unterschiede

Für eine solche differenziertere Betrachtungsweise wurden mehrere religionspsychologische Konzepte entwickelt, welche jeweils betonen, daß es verschiedene »religiöse Orientierungen«, d.h. verschiedene motivationale Zugänge zum christlichen Glauben gibt. Derartige Konzepte sind funktional, weil sie von dem spezifischen Inhalt des religiösen Glaubens absehen.

Die in der religionspsychologischen Forschung bisher wohl einflußreichste, auch von Russell (1974, S. 68f.) diskutierte »Unterscheidung der Geister« stammt von dem Persönlichkeitstheoretiker und Sozialpsychologen Gordon W. Allport (1966). Er differenzierte zwei verschiedene, bei einigen Personen auch gemeinsam vorliegende motivationale Zugänge zum christlichen Glauben: Die extrinsische religiöse (E-)Orientierung stellt eine nur instrumentelle, zweckgebundene Gläubigkeit zur Befriedigung persönlicher oder sozialer Bedürfnisse dar. Bei der intrinsischen religiösen (I-)Orientierung hingegen handelt es sich um eine verinnerlichte Gläubigkeit als Ausdruck einer tiefen Verbundenheit mit religiösen Werten (Zwingmann, 1991, S. 34ff.). Zur empirischen Erfassung der beiden religiösen Orientierungen E und I wurden – mehrfach weiterentwickelte – Fragebögen erstellt, die inzwischen auch in deutscher Sprache vorliegen (Rumpf, 1993; Zwingmann, Hellmeister & Ochsmann, 1993). Religionspsychologische Untersuchungen mit Hilfe dieser Fragebögen ergaben wiederholt, daß nur die E-Orientierung, nicht hingegen die I-Orientierung mit Voreingenommenheit zusammenhängt (Donahue, 1985, S. 405f.). Darüber hinaus konnte bei weißen Methodisten in den USA gezeigt werden, daß Personen mit einer hohen I-Orientierung zumindest eine positivere Bewertung von Hilfsbereitschaft, Liebe und Verantwortung vornehmen als andere Gläubige (Tate & Miller, 1971). Diese Forschungsergebnisse lassen vermuten, daß auch militaristische Einstellungen nicht mit christlicher Religiosität allgemein, sondern speziell nur mit der E-Orientierung einhergehen. Mit der I-Orientierung, bei der das Gebot der Nächstenliebe ernst genommen wird (Allport, 1966, S. 455), hängen militaristische Einstellungen vermutlich nicht systematisch zusammen.

Als wichtige Ergänzung des Allportschen Ansatzes wurde von dem Theologen und Religionspsychologen C. Daniel Batson (Batson & Ventis, 1982, S. 149ff.) eine zusätzliche religiöse Orientierung abgegrenzt, bei der selbstkritische Hinterfragung und kontinuierliche Zweifel an endgültigen Antworten auf existentielle Fragen als positive Werte im Vordergrund stehen. Diese sog. Quest-(Q-)Orientierung (quest=Suche) bildet somit einen deutlichen Gegenpol zu einem starren Festhalten an vorgegebenen Glaubenslehrsätzen, wie es für die von Russell (1974) beschriebene, mit militaristischen Einstellungen verbundene orthodoxe Glaubenshaltung charakteristisch ist. Auch für die Q-Orientierung wurde ein – inzwischen ins Deutsche übertragener (Hellmeister, 1993) – Fragebogen entwickelt. Sein Einsatz in der religionspsychologischen Forschung ergab, daß die Q-Orientierung mit einer deutlichen Ablehnung rassischer Diskriminierung und sehr toleranten Einstellungen im sozialen und politischen Bereich zusammenhängt sowie mit einem Hilfeverhalten einhergeht, das nicht von sozialer Anerkennung abhängig ist und den tatsächlichen Bedürfnissen des Notleidenden in hohem Maße gerecht wird (Batson & Ventis, 1982, S. 290ff.; Wulff, 1991, S. 241). Auf dem Hintergrund dieser Befunde erscheint es nicht unplausibel, die Q-Orientierung als motivationalen »Königsweg« zu einer mit betont pazifistischen Einstellungen verbundenen christlichen Religiosität in Erwägung zu ziehen.

Als beeindruckendes Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen dem motivationalen Zugang zum religiösen Glauben und politischen Einstellungen soll schließlich die Untersuchung von Benson & Williams (1982) angeführt werden: Bei einer Befragung von 80 Mitgliedern des amerikanischen Kongresses wurde festgestellt, daß ein starkes Militär sowie ferner freie Marktwirtschaft und Privateigentum vor allem von denjenigen Politikern befürwortet wurden, die in orthodoxer bzw. extrinsischer Weise ein großes Gewicht auf die Regeln, Richtlinien und Begrenzungen sowie auf den Zweck des religiösen Glaubens legten. Für Entwicklungs- und Hungerhilfe hingegen votierten in erster Linie solche Politiker, die in intrinsischer Weise die Bedeutung des Glaubens für das alltägliche Handeln betonten.

Unterschiede in den Glaubensinhalten

Eine differenzierte Betrachtungsweise christlicher Religiosität darf sich nicht auf die motivationale Ebene beschränken, sondern muß auch Unterschiede in den Glaubensinhalten berücksichtigen (Schaefer & Gorsuch, 1991). Als eine wesentliche Komponente des Glaubensinhaltes wurden innerhalb der Religionspsychologie mit Hilfe von Adjektiv- oder Substantivlisten mehrfach die persönlichen Gottesvorstellungen der Gläubigen ermittelt. Als für christliche Stichproben besonders relevant ergaben sich die Vorstellungen eines liebenden/unterstützenden, eines strengen/richtenden/strafenden und eines fernen/unerreichbaren/deistischen Gottes (Petersen, 1993, S. 14ff.). In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß Voreingenommenheit und konservative politische Anschauungen – beides Komponenten des von Russell (1974) beschriebenen »autoritär-punitiven« Syndroms – in unterschiedlicher Weise mit diesen Gottesvorstellungen verbunden sind.

So fanden Spilka & Reynolds (1965), daß Vorurteile in erster Linie von solchen Gläubigen geäußert wurden, die Gott als fern, unpersönlich und passiv charakterisierten. In dieser deistischen Perspektive kann christliche Religiosität offenbar nur wenig Handlungsrelevanz entfalten. In Übereinstimmung mit dieser Interpretation stellten Schaefer & Gorsuch (1991) fest, daß eine deistische Gottesvorstellung zumeist mit einer zweckgebundenen E-Orientierung zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse einhergeht.

Wenig voreingenommene Gläubige beschrieben in der Untersuchung von Spilka & Reynolds (1965) einen nahen, persönlichen und aktiven Gott, den sie entweder als warm und liebend oder aber als kontrollierend und strafend erlebten. Während hier also sowohl die liebende als auch die strafende Gottesvorstellung – wenn auch vermutlich aus verschiedenen Gründen – mit wenig Vorurteilen einhergingen, zeigten sich bei der bereits erwähnten Befragung amerikanischer Kongreßmitglieder (Benson & Williams, 1982) Unterschiede zwischen diesen beiden Vorstellungen: Politiker, die Gott als liebend und unterstützend beschrieben, äußerten liberale Einstellungen, Politiker mit einer omnipotenten und strengen Gottesvorstellung hingegen konservative Anschauungen.

In einer weiteren, an einer US-repräsentativen Stichprobe durchgeführten Untersuchung wurde ein anderer Zugang zur Klassifizierung der Glaubensinhalte gewählt: Piazza & Glock (1979) unterschieden danach, ob die Gläubigen an einen Einfluß Gottes auf das persönliche Leben und/oder auf soziale Bedingungen glaubten. Konservative politische Einstellungen, eine Ablehnung liberaler Rassenpolitik und eine geringe persönliche Hilfsbereitschaft wurden bei denjenigen Personen festgestellt, die Gott einen Einfluß auf die soziale Ordnung zusprachen. Gegensätzliche Auffassungen, nämlich liberale politische Einstellungen, eine Befürwortung liberaler Rassenpolitik und eine hohe persönliche Hilfsbereitschaft gaben jene Personen an, die einen Einfluß Gottes nur für ihr persönliches Leben annahmen. Personen, die als eher deistische Vorstellung überhaupt keinen Einfluß Gottes wahrnahmen, lagen zwischen diesen beiden Extremen.

Diese – etwas uneinheitlichen – Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Glaubensinhalt und einigen Komponenten des »autoritär-punitiven« Syndroms lassen zumindest vermuten, daß die Vorstellung eines liebenden Gottes, der Einfluß nur auf das persönliche Leben, nicht hingegen auf die soziale Ordnung nimmt, mit militaristischen Einstellungen inkompatibel ist. Für deistische oder strafende Gottesvorstellungen und besonders für den Glauben an den Einfluß Gottes auf soziale Bedingungen kann hingegen eher ein Zusammenhang mit Militarismus vermutet werden.

Ambiguität der christlichen Lehre?

Unsere differenziertere Betrachtungsweise hat gezeigt, daß sowohl hinsichtlich des motivationalen Zuganges als auch des Glaubensinhaltes verschiedene Formen christlicher Religiosität abgrenzbar sind. Einige dieser Formen sind offenbar bevorzugt mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen verbunden. Im Hinblick auf die zugrundeliegenden Untersuchungen muß allerdings betont werden, daß es sich lediglich um Zusammenhänge, nicht um kausale Wirkverhältnisse handelt. Es kann also nicht behauptet werden, daß bestimmte religiöse Formen militaristische Einstellungen bewirken oder hervorbringen. Es könnte z.B. auch gerade umgekehrt sein, nämlich daß Menschen mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen solche religiösen Formen und Kontexte wählen, die zu ihren Einstellungen passen. Dennoch muß auch unter Berücksichtigung dieser eingeschränkten Interpretierbarkeit betont werden, daß es offenbar Formen christlicher Religiosität gibt, die – trotz der christlichen Ethik der Liebe und Friedfertigkeit – mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen nicht in Widerspruch geraten. Kann dies auf eine Ambiguität der christlichen Lehre zurückgeführt werden?

Russell (1974, S. 74ff.) hat dies im Hinblick auf die biblischen Texte zu zeigen versucht. Nach seiner Analyse unterstützt ein fundamentalistisches (= literales, wörtliches) Verständnis der Bibel kaum humanitär-liebevolle Einstellungen, sondern vor allem militaristische Anschauungen, da vielfach ein autoritärer und unnachsichtig strenger Gott beschrieben wird, der seine Liebe an Bedingungen knüpft. In einem ähnlichen, aber von Zenger (1992, 1.5.) sehr überzeugend kritisierten Argumentationsgang bewertete kürzlich der deutsche Psychologe Franz Buggle (1992) die Bibel als „zutiefst gewalttätig-inhumanes Buch“ (S. 21). Wir wollen auf eine Nachzeichnung dieser Diskussion nicht nur deshalb verzichten, weil sie den sozialwissenschaftlichen Bereich verläßt, sondern auch deshalb, weil eine Analyse der Bibel am Kern der Sache vorbeigeht: Die in den oben dargestellten empirischen Untersuchungen aufgewiesenen, mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen einhergehenden Formen christlicher Religiosität sind nämlich nicht notwendigerweise mit einem fundamentalistischen Verständnis der Bibel verbunden.

Wichtig erscheint uns hingegen, auf die Ambiguität christlicher Glaubensvermittlung vor allem im Rahmen religiöser Erziehung hinzuweisen: Vielfach wird zwar durch Vermittlung inhaltlicher Begründungen und Anregung zum eigenen Erleben und Reflektieren ein intrinsischer (I) bzw. suchender (Q) Zugang zum religiösen Glauben ermöglicht. Andererseits wird nicht selten durch die Beschreibung Gottes als Erfüller selbstbezogener Bedürfnisse sowie durch die Darstellung von Kirche primär als Ort sozialer Kontakte ein extrinsischer und durch die Betonung vorgegebener Pflichten ein starrer, orthodoxer Zugang zum religiösen Glauben gefördert (Grom, 1992). Diese Mehrdeutigkeit zeigt sich auch hinsichtlich der vermittelten Gottesvorstellungen: Sowohl autobiographische Texte (Scherf, 1984) als auch psychotherapeutische Beobachtungen (Hark, 1990) belegen, daß Gott nicht nur als Quelle von Geborgenheit und Hoffnung, sondern auch von Angst und Zwang erfahren wird.

Religiöse Erziehung scheint also beides zu ermöglichen: sowohl solche Glaubensformen, die – wie die oben dargestellten Untersuchungen gezeigt haben – mit militaristischen und »autoritär-punitiven« Einstellungen einhergehen, als auch solche, die empirisch nicht mit diesen Einstellungen zusammenhängen. Läßt sich hinsichtlich der direkten Verlautbarungen zu militärischer Gewalt auf der Ebene institutioneller Religiosität eine ähnliche Ambiguität feststellen? Um diese Frage zu beantworten, nehmen wir abschließend eine Analyse der friedensethischen Diskussion im 20. Jahrhundert vor, wie sie sich auch und vor allem in den christlichen Großkirchen Deutschlands darstellt. Angesichts der defizitären empirischen Forschungslage hierzulande können die oben dargestellten, vornehmlich auf dem nordamerikanischen Kontinent durchgeführten Untersuchungen nur mit Hilfe dieser Analyse um eine auch auf Deutschland gerichtete Perspektive ergänzt werden.

Friedensethische Diskussion in den christlichen Großkirchen

Für eine Analyse werden im folgenden neuere Dokumente der christlichen Großkirchen zur Friedensethik exemplarisch skizziert. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei auf der lehramtlichen Position der römisch-katholischen Kirche; wo Bezüge zur evangelischen Kirche angebracht erscheinen, werden diese benannt. Die zugrundegelegten Dokumente können dabei als gesellschaftliche Objektivationen religiösen Bewußtseins zu einem im gesellschaftlichen Diskurs auftauchenden relevanten Thema betrachtet werden. Bezogen auf das Verhältnis von christlicher Religiosität und militärischer Gewalt sind sie Ausdruck kirchlich-ideologischer Reflexion einer innergesellschaftlichen und politischen Debatte um verschiedene sicherheitspolitische Optionen, die in einen sich verändernden weltpolitischen Bedingungsrahmen eingebunden sind. Dies impliziert, daß solche kirchlichen Verlautbarungen immer schon politisch wirken, ja sogar für politische Zwecke – sei es im Interesse der Kirche oder der Politik – funktionalisiert werden können. Sie zielen auf den Zusammenhang von religiösem Bewußtsein und politisch-militärischem Handeln und sind deshalb für unser Thema relevant.

Die Entwicklungslinie katholischer Friedensethik im 20. Jahrhundert auf der Ebene der römisch-katholischen Weltkirche führte von der auf den Verteidigungskrieg reduzierten Tradition der »Lehre vom gerechten Krieg« (Papst Pius XII.) zu einer grundsätzlichen Neuorientierung in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils 1962-1965 (Mettner, 1984). Diese bilden im Kontext einer weltweiten atomaren Abschreckungspolitik mit der Rezeption zentraler Thesen und Begriffe neuzeitlicher Friedens- und Konfliktforschung die Grundlage einer abschreckungskritischen Position innerhalb der katholischen Friedensethik. Die Qualität einer abschreckungsgegnerischen, antimilitaristischen Position besitzen sie allerdings keineswegs.

Konnte in Deutschland die »Lehre vom gerechten Krieg« zur Legitimierung westlicher atomarer Drohpolitik politisch funktionalisiert (Mettner, 1984, S. 429ff.) und die ethische Option der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bis in die 70er Jahre als „irrige Gewissensentscheidung“ auch innerkirchlich diskreditiert werden (Diringer, 1989), so ist die friedensethische Neuorientierung des II. Vatikanischen Konzils charakterisiert durch die Ablösung der »Lehre vom gerechten Krieg« durch die Lehre vom »gerechten Frieden«, der inhaltlich als soziale Entwicklung begriffen wird, sowie durch die zunehmende Tendenz, angesichts der atomaren Bedrohung den Rüstungswettlauf rückhaltlos zu verurteilen.

Jedoch wird in den neueren friedensethischen Dokumenten der katholischen Kirche bis heute eine strukturelle Schwäche sichtbar: Kontroverse friedenspolitische Positionen werden in Kompromißformeln entschärft, und die politische Forderung nach militärischer Abrüstung und Entwicklung sozialen Friedens bleibt einem idealistisch-appellativen Charakter verhaftet, indem sie sich an den »guten Willen« der politisch Verantwortlichen in internationalen Gremien richtet (Mettner, 1984, S. 427f.).

Der Kompromißcharakter weltkirchlicher Friedensethik und ihrer Rezeption in der deutschen Ortskirche zeigt sich vor allem in der Tendenz, eine eindeutige politische Operationalisierung ihrer Ethik zu vermeiden. Ein pointiertes Beispiel für diese Behauptung ist die ambivalente Haltung zur Frage der »Dienste für den Frieden«, die im Konzilsdokument »Gaudium et spes« (Sekretariat der DBK, 1982) zum Ausdruck kommt: Sowohl der Wehr- bzw. Kriegsdienst der Soldaten als auch die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen werden als gleichwertige sittliche Entscheidungen beurteilt, allerdings mit Ausnahme der »situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung« und der »Totalverweigerung«. Damit rücken die Konzilsaussagen zur Kriegsdienstverweigerung und zum Wehr- bzw. Kriegsdienst in die Nähe der sog. »Komplementaritätsthese«, die Ende der 60er Jahre innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland formuliert wurde, um den innerkirchlichen Konflikt um die Atombewaffnung der Bundeswehr zu entschärfen (Krölls, 1980, S. 61ff.). Diese Kompromißformel versucht, die verschiedenen individualethischen Optionen von Soldaten und Kriegsdienstverweigerern als komplementäres Handeln zu verstehen. Auf dem Evangelischen Kirchentag 1967 wurde erstmals die Formel vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ geprägt; spätestens in den 70er Jahren wurde die Gleichrangigkeit von Wehr- und Zivildienst auch von der katholischen Kirche in Deutschland übernommen (Bertsch et al., 1976, S. 445ff.).

Offensichtlich wird die an diesem Beispiel deutlich werdende Ambiguität beider christlichen Großkirchen in Fragen der Friedensethik bzw. des Friedenshandelns auch von der Bevölkerung wahrgenommen – wie es sich am Beispiel einer repräsentativen Umfrage in der Schweiz zeigt: Auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, wie es … wäre, wenn es die reformierte und die katholische Kirche nicht mehr gäbe?“, stimmten 48% der Antwort „(Es) würde weniger für den Frieden getan“ zu, gleichzeitig lehnten jedoch 40% diese Aussage ab (Bovay, 1993, S. 195). Warum, so läßt sich angesichts dieses Befundes fragen, favorisieren die christlichen Großkirchen eine neutrale, mehrdeutige Position in einer zentralen Frage ihrer Friedensethik?

Primär scheint dies, so soll unsere soziologische These lauten, in einer spezifischen Form von strukturkonservativem bzw. systemstabilisierendem »Krisen-Management« der Großkirchen angesichts der zunehmenden Erosion des traditionell-kirchlichen Milieus begründet zu sein.

War es innerhalb der ideologischen wie institutionellen Geschlossenheit des deutschen Katholizismus der Nachkriegszeit – im Gegensatz zur evangelischen Kirche (Vogel, 1978) – ohne größeren Widerstand aus den Reihen der Mitglieder und unter starker politischer Einflußnahme der deutschen Bischöfe möglich, frühzeitig eine eindeutige und offensive Option für die deutsche Wiederaufrüstungspolitik der Ära Adenauer zu organisieren (Doering-Manteuffel, 1981), so hat sich die Situation seit den 70er Jahren grundlegend verändert: Christliche Basisgruppen entwickeln als Gegenüber zu dem amtlichen politischen Profil der Großkirchen eine eigene politische Präsenz und transformieren – durch ihre Teilnahme an gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen innerhalb der »Neuen sozialen Bewegungen« (Friedens-, Ökologie-, Frauen-, Solidaritäts-Bewegung) – gesellschaftskritische Impulse als kirchenkritische Impulse in die strukturkonservativen Institutionen der Großkirchen hinein (Steinkamp, 1992). Aber auch die ideologische Geschlossenheit der 50er und 60er Jahre in der katholischen Kirche ist zerbrochen: Die wachsende Zahl aktueller innerkirchlicher Konflikte ist ein deutlicher Indikator für den „Wandel des Religiösen“ (Gabriel, 1993) und den wachsenden kircheninternen Pluralismus (Hengsbach, 1988), der sich amtskirchlich nicht mehr wie früher steuern oder ausgrenzen läßt.

Dieses konfliktive Spannungsfeld ist letztlich Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Differenzierungs- und Modernisierungsprozesses, der die bisher »dominierende« christliche Religiosität zu einer »dominierten« Religion transformiert (Bourdieu, 1992, S. 237). Der Versuch der christlichen Großkirchen, dieser Herausforderung innerhalb des modernen Differenzierungsprozesses mit einer innovationshemmenden Strategie der Identitätssicherung zu begegnen, indem sie versucht, eine mittlere Position zwischen Extremen einzunehmen, zeigt sich in ihrer Uninteressiertheit bis Feindseligkeit gegenüber konfessionellen, ökumenischen und außerkirchlichen Friedensbewegungen dieses Jahrhunderts. Gleichzeitig, so kann man vermuten, werden durch diese Ambiguität orthodox-dogmatische Gruppen dazu ermutigt, innerkirchliche, aber auch gesellschaftspolitische Räume mit ihrer Einflußnahme zu besetzen.

Resümee

Der vorliegende sozialwissenschaftliche Überblick hat gezeigt, daß christliche Religiosität und eine Einstellung, die militärische Gewalt als Mittel zur Lösung von Weltproblemen gutheißt, nicht selten miteinander verbunden sind. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen eindeutigen Zusammenhang; vielmehr ist eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich: Gestützt auf empirische Untersuchungen vor allem aus den USA hat sich auf der individuellen Ebene ergeben, daß nicht christliche Religiosität allgemein, sondern nur bestimmte Glaubensformen – nämlich motivationale Zugänge extrinsischer oder dogmatisch-orthodoxer Art sowie Vorstellungen eines deistischen, strafenden oder auf soziale Bedingungen Einfluß nehmenden Gottes – bevorzugt mit militaristischen und anderen, der christlichen Ethik der Liebe und Friedfertigkeit widersprechenden Einstellungen einhergehen.

Allerdings können diese Glaubensformen nicht einfach als Mißverständnisse der christlichen Lehre angesehen werden – vielmehr scheint eine Ambiguität christlicher Glaubensvermittlung vor allem im Rahmen religiöser Erziehung solche Glaubensformen nicht unmaßgeblich zu fördern. Wie eine Analyse der neueren friedensethischen Diskussion auf der Ebene institutioneller Religiosität gezeigt hat, ist hinsichtlich amtskirchlicher Verlautbarungen der christlichen Großkirchen Deutschlands zu militärischer Gewalt ebenfalls eine mehrdeutige Haltung festzustellen. Diese Position, welche die Ausbildung pazifistischer Einstellungen unter den Gläubigen keineswegs begünstigt, resultiert vermutlich aus dem Bemühen der Großkirchen, angesichts des wachsenden kircheninternen Pluralismus eine neutrale Haltung zwischen Extremen einzunehmen.

Die innewohnende Gefahr, daß christliche Religion zu einem erheblichen gesellschaftlichen Faktor des Unfriedens werden kann, sollte jedoch sowohl den einzelnen Christen als auch die christlichen Kirchen dazu bewegen, die Reflexion über die Friedensfähigkeit ihres Glaubens als zentrales Thema ihrer Friedensethik zu behandeln. Eine Verweigerung dieser Auseinandersetzung ist wohl nur um den Preis der eigenen Glaubwürdigkeit durchzuhalten.

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Dipl.-Psych. Christian Zwingmann ist außeruniversitär im Bereich der statistischen Datenanalyse beschäftigt und arbeitet zur Zeit an seiner Doktorarbeit über ein Thema an der Schnittstelle zwischen Sozial- und Religionspsychologie. Dipl.-Theol. Dipl.-Päd. Christoph Diringer ist pastoraler Mitarbeiter in der Krankenthausseelsorge. Er ist Mitglied der katholischen Friedensbewegung Pax Christi und war 1989-1991 für die ökumenische Kampagne »Rüstungsexporte stoppen – Produzieren für das Leben« in Idstein tätig. Prof. Dr. Randolph Ochsmann ist Professor für Sozialpsychologie im Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Die Ethik des Zenbuddhismus in Japan

Die Ethik des Zenbuddhismus in Japan

Verletzung anderer ist Selbstverletzung, Un-Sinn.

von Sybille Fritsch-Oppermann

Die Ethik des Zenbuddhismus führt zu friedenstiftendem Handeln. Im Vordergrund steht die Befreiung vom eigenen Ich; aus der daraus resultierenden Autonomie folgt, daß jegliche Verletzung anderer als Selbstverletzung, als Un-Sinn empfunden wird. Dieser sehr positiv beschriebenen Lehre des Zenbuddhismus in Japan, als einer Schule des Buddhismus, stellt die Autorin aber auch die Wirklichkeit gegenüber, aus der deutlich wird, daß auch diese Religion funktionalisiert und mißbraucht wird.

Im Gegensatz zu einer in Europa und besonders im Christentum weit verbreiteten Meinung kennt sowohl der südliche wie auch der nördliche Buddhismus eine Ethik. Sie leitet sich her von den im Sangha geltenden Regeln, Regeln die in einer Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen entwickelt wurden, die sich um Shakyamuni Buddha versammelt hatten. Vor allem im Mahayana und im Zen wird immer wieder betont, daß alle Wesen dem Sangha zugehören und somit diese Regeln auch für alle gelten. Das ist bis heute so geblieben. Die Betonung der Meditation und der Befreiung vom eigenen Ich und seinem Weltverhaftetsein wurde zu Unrecht als Weltflucht oder subjektivistische Frömmigkeit ausgelegt. Die buddhistische Erkenntnis, daß anderen nur helfen könne, wer zuerst sich selber befreit habe, ist kein Egoismus. Ganz im Gegenteil dient die Befreiung vom eigenen Ich einer Zuwendung zur Welt und allem Seienden, die zur Voraussetzung die Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit all dieses Seienden (Sanskrit: Pratityasamutpada) hat. Sie ist das letzte und letztgültige Gesetz (Dharma) der Wirklichkeit. Die liebevolle und solidarische Zuwendung zu anderen Wesen wird allerdings anders als im traditionellen Christentum nicht als Akt des Gehorsams Gott gegenüber, sondern als quasi »von selbst« entstehende Handlungsweise dessen erlebt, der erleuchtet ist und daher weiß, daß alle anderen angetane Gewalt das Ganze der Wirklichkeit und damit auch ihn selbst verletzt.

Wir können dieses einen pragmatischen oder epistemologischen Altruismus nennen, der in buddhistisch geprägten Kulturen – selbst so hochtechnologisierten und modernisierten wie der japanischen – einer nahezu völligen Subjektivierung der Gesellschaft, der Trennung von Subjekt und Objekt und damit dem »Willen zur Macht« über andere Lebewesen (nicht nur Menschen) als Objekte dieses Willens gewehrt hat.

Die Idee des Bodhisattva, eines Wesens, das die Erleuchtung erlangt hat, aber nicht ins Nirvana eingehen will, bevor nicht alle anderen Wesen auch erlöst sind, hat außerdem dazu geführt, daß buddhistische Mönche immer darauf bedacht waren und sind, neben der Mönchsgemeinschaft auch die weltliche Gemeinschaft zu suchen und dieser in Lehre und Tun verbunden zu bleiben. Aus der Soto-Zen-Schule hat sich u.a. die Harada-Yasutani-Tradition des Zen entwickelt, in der die Schüler »die sechzehn Bodhisattva-Gebote« studieren. Diese werden eingeleitet durch die »drei Gelübde der Zufluchtnahme«, und zwar zum Buddha, zur Lehre und zur Gemeinschaft. Alle drei bilden gleichermaßen wichtige Voraussetzungen für ein Leben in Erleuchtung und Zuwendung zur Welt. Eines ist nicht ohne das andere zu denken. Nimmt man hinzu, daß der Buddhismus, besonders der Zen, sich als ein Weg versteht, auf dem es diese »Gebote« zu befolgen gilt, und gerade nicht als esoterische oder metaphysische Lehre über das Sein und einen wie auch immer gearteten Status der Wahrheit, so wird klar, daß jede einzelne Tat auf dem Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Erde auch im Buddhismus gar nicht hoch genug bewertet werden kann.

Die Tatsache, daß die letzte (Heils-)Wirklichkeit im Buddhismus mit Nirvana oder Sunyata, der »absoluten Leere«, umschrieben wird, weist in diesem Zusammenhang nun gerade nicht auf wie auch immer geartete nihilistische Tendenzen, sondern darauf, daß jede Verabsolutierung von Substanz gerade dieses Miteinander aller Seienden nicht nur verletzt, sondern im Gegenteil in eine oft tödliche Subjekt-Objekt-Trennung verfällt. Leere bedeutet im Buddhismus immer auch Freiheit von der Verabsolutierung des Ich, von einem schmerzhaften und besitzergreifenden Haften an den Dingen dieser Welt, und führt zur Freiheit für die Liebe zum Anderen und zur Freiheit für die Hochachtung all dessen, was ist.

Die Ethik des Zen ist eine Situationsethik (und wird daher oft mit der Bergpredigt Jesu verglichen). Das macht es schwierig, dem Zen irgendwelche ethischen Systeme oder Theorien zu entziehen. Das macht ihn aber andererseits empfänglich für eine sich stetig wandelnde Welt und Gesellschaft und fähig, auf die Fragen und Nöte eines technologischen Zeitalters in Auslegung der alten Regeln zu reagieren. „Sie sind keine in Stein gemeißelten Befehle, sondern inspirierte Kundgaben, eingeschrieben in etwas, das flüssiger ist als Wasser. Relatives und Absolutes sind in ihnen zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Die von Bodhidharma und Dogen Zenji überlieferten Kommentierungen der Gebote lassen sich wie Koan studieren, aber auch unser Alltagsleben ist nichts anderes als ein großes, facettenreiches Koan, mit dessen »Aufschlüsselung« wir unentwegt beschäftigt sind, ohne es je ganz lösen zu können.“ (Aitken, S. 25)

Die Regeln: Weder Befehle noch Verbote

Nach den »drei Gelübden der Zufluchtnahme« und den »drei Geboten der Reinheit« folgen in den »sechzehn Bodhisattva-Geboten« die »zehn Hauptgebote«. Das erste, besser die erste Regel, betrifft das Töten. Sie ist, wie alle anderen Regeln, weder positiv als Befehl noch negativ als Verbot aufgefaßt, sondern gilt als Ausdruck einer mitfühlenden Weisheit, die die Gegensätze »falsch/richtig« oder »negativ/positiv« äußerst zurückhaltend verwendet. Die erste Regel bedeutet also nicht einfach „du sollst nicht töten“, sondern vielmehr „laßt uns das Leben nach Kräften fördern“ und „es gibt keinen Gedanken des Tötens“.

Im Jainismus wird diese Regel in solcher Konsequenz befolgt, daß die Mönche sogar ihr Trinkwasser filtern, um auch den Verzehr von Mikroorganismen noch auszuschließen. Ob überhaupt jemand in diesem Sinne das Töten vermeiden kann, ist fraglich, denn auch Pflanzen gehören zu den Seienden, die in gegenseitiger Abhängigkeit mit allen anderen verbunden sind. Aber es wird doch gerade an dieser Überspitzung deutlich, daß in der Weltsicht und dem Wirklichkeitsverständnis des Buddhismus keine wie auch immer gearteten ethischen Abstufungen vorhanden sind etwa in der Weise, daß das Leben der Menschen per se schützenswerter sei als das der Tiere und Pflanzen. Die ökologische Fragestellung war so von Anfang an in die Ethik des Buddhismus integriert.

Das hat nicht zuletzt mit der Anthropologie des Zen zu tun, in der zwischen »Bewußtsein und Über-Bewußtsein« unterschieden wird. Der »Geist«, der sich im Zustand des »Nichts« findet, darf nicht in erster Linie negativ verstanden werden. Vielmehr wird mit dieser Formulierung ein psychologischer Zustand beschrieben, in dem der »Geist« sich auf dem Punkt höchster Anspannung, Klarheit und Intensität befindet. In diesem Zustand kennt er das »Objekt« so vollkommen, daß überhaupt kein Bewußtsein von diesem übrigbleibt, ja nicht einmal ein Bewußtsein von diesem Kennen existiert; so wie ein Musiker im besten Fall eins mit der von ihm gespielten Musik wird. Dies ist der Zustand des »Über-Bewußtseins« (Isutzu, S. 21f). „Vom zen-buddhistischen Standpunkt aus ist die »verwesentlichende« Tendenz des empirischen Ichs nicht akzeptabel, und dies nicht nur, weil es überall »Objekte« als substantielle Wesen setzt, sondern besonders, weil sich das empirische Ich selbst als eine Ich-Substanz setzt.“(Isutzu, S. 23) Es bleibt in der Subjekt-Objekt-Trennung gefangen und setzt »äußere« Objekte als nicht reduzierbare Wirklichkeiten und sich selbst als aller selbst-ständigste Wirklichkeit. Es gibt aber, wie wir gesehen haben, im Buddhismus keine unveränderlichen Substanzen in dieser Welt. Selbst da noch, wo in der westlichen Kultur die empirische Weltanschauung das cartesianische Weltbild abgelöst hat, ist die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Anderen vorausgesetzt. (S. 25) Dem gegenüber steht die buddhistische Sicht der So-heit, der erstaunlicherweise Ansätze in der poststrukturalistischen Hermeneutik Lévinas und Derridas entgegen kommen. Es ist die Sicht von Sunyata und Pratityasamutpada, in der absolute Leere und phänomenale Welt zeitgleich die letzte Realität ausmachen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, daß es nach buddhistischer Ansicht in der Welt des Nirvana (die durchaus ein diesseitiger Zustand ist, der in der Erleuchtung erfaßt werden kann), der wahren Welt der leeren Unendlichkeit, nichts gibt, was als »Tod« bezeichnet werden könnte. Der Zen-Meister Takuan Zenji behauptet deshalb, daß es weder Töten noch Getötet-Werden gibt. Der Friede der unendlichen Leere erfüllt vielmehr das Universum (Aitken, S. 27f). Dies ist nicht im Sinne einer Mißachtung der konkreten menschlichen Leiden zu sehen, sondern im Sinne einer Weltsicht zu verstehen, die Nirvana und Samsara (der Zustand vollkommenen Friedens in der Erleuchtung und die Welt des Relativen, des Entstehens und Vergehens) als zwei Wirklichkeiten begreift, deren Teil wir, solange wir leben, gleichzeitig sind. Für die Praxis ausgedrückt bedeutet dies, daß der Weg des Mitempfindens und solidarischen Handelns gleichzeitig der Weg der Erleuchtung ist. Kein Dualismus ist hier als Ausflucht möglich; weder im persönlich-zwischenmenschlichen noch im politisch-ethischen Bereich. Die Ethik des Zen ist eine radikale Ethik, die auch in der Geschichte nie so etwas wie die christliche Vertröstung auf ein Jenseits und damit Legitimierung der bestehenden Zustände geduldet hat. Letztere werden vielmehr im Sinne eines kollektiven oder nationalen Selbst gedeutet. Ebenso radikal sind die ethischen Regeln und Forderungen des Buddhismus für den gesamten politischen und gesellschaftlichen Bereich. Da es keinen Dualismus zwischen Nirvana und Samsara gibt, kann auch nicht im Sinne einer lutherischen Zwei-Reiche-Lehre zwischen dem Reich der Kirche/der Religion und dem staatlicher Obrigkeit getrennt und eine wie auch immer geartete Stufenethik eingeführt werden. Jede Rationalisierung des Tötens, alle Kriterien für einen »gerechten Krieg«, jede Argumentation im Sinne von Sachzwängen wird abgelehnt, weil die dafür geltenden Prämissen, wie etwa der überragende Wert des Nationalstaates, ebenfalls abgelehnt werden. „Die Tatsache, daß historische Statistiken eine Unmenge von Kriegen verzeichnen, läßt noch lange nicht den (Kurz-)Schluß zu, der Geschichtsverlauf füge sich einem hinter den Kulissen wirkenden Zwang, der keinen Frieden duldet.“ (Aitken, S. 31)

Ähnlich wie seit Jahren in der feministischen Theologie legt der Buddhismus, besonders der Zen, einen großen Wert auf die richtige Einschätzung der Bedeutung von Sprache und des davon abhängigen rechten Sprachgebrauches. Das rührt in beiden Fällen von der Überzeugung, daß Sprache nicht nur Kommunikationsmittel ist, sondern buchstäblich unser Handeln und Tun macht. Denn bereits im Kindesalter beispielsweise gewöhnen wir uns an die Koordination bestimmter Farben, Geschlechter, Eigenschaften etc. mit negativen Werturteilen. Sie gehen in unser Unbewußtes, in unsere Wirklichkeitssicht über und lassen uns ungerecht handeln oder auch uns selber falsch einschätzen. Der Buddhismus ist darüber hinaus so radikal, Begriffe selber eher als Teil des Samsara und daher überwindungsbedürftig zu betrachten. Begriffe wollen etwas ergreifen und festhalten. Demgegenüber steht der Zustand des Nirvana, der ein gegenstandsloser ist. In einem solchen gibt es nichts zu ergreifen und daher auch keinen Gedanken des Tötens. Auf diesem Hintergrund muß die Aufforderung verstanden werden, sich vor allem um die eigene Erleuchtung zu bemühen, denn im Zustand der Erleuchtung werden Menschen und dann auch Gesellschaften im Sinne eines kollektiven Selbst kein Verlangen mehr kennen, zu besitzen und zu töten. Nicht im Sinne einer moralisch schwer erkämpften guten Handlung oder Haltung, sondern ganz natürlich, gemäß ihrem wahren Selbst, der Buddha-Natur, des mächtigen Selbst der Nicht-Substanz. Über letzteren Zusammenhang hat sich besonders der Zen-Meister Bodhidharma Gedanken gemacht, der den Zen von Indien nach China brachte und auch in Japan eine wichtige Rolle in der Zen-Tradition spielt. „Bodhidharma zielt (…) auf das Wesentliche und überspringt gleichsam die klassische Mittel-Zweck-Relation. Die Praxis der Friedfertigkeit und der Harmonie ist in gewisser Hinsicht bereits die Vollendung des Friedens und der Harmonie, sie ist nicht nur eine Vorgehensweise, um Frieden und Harmonie zu verwirklichen.“ (Aitken, S. 35f)

Im Zusammenhang damit ist eine der vorrangigsten Forderungen für den Dialog, tiefverwurzelte Überzeugungen durch die Dynamik des Gebens und Nehmens wieder in Bewegung zu bringen. Auch über gefährliche Ansichten kann man reden, wenn die Gefahrenpunkte sorgfältig aufgezeigt werden im Sinne der Maxime der »Society of Friends«: „Sag der Macht die Wahrheit ins Gesicht.“ „Die Vorzüge dieses Vorgehens kann man bisweilen deutlich spüren, wenn man einmal beobachtet, wie etwa bei Friedensdemonstrationen die Mitglieder freier Theatergruppen ihre »Botschaft« unter die Leute bringen. Im allgemeinen funktioniert das so, daß die Mitglieder eines solchen Ensembles die Anschauungen der Gegenseite aufgreifen und die extremen Folgen dieser Haltung aufzeigen. Gelingt es Ihnen dabei, ihr Anliegen kreativ umzusetzen, so halten sie der Wirklichkeit gleichsam den Spiegel vor. Dies ist nun in der Tat auch eine Form, die Perspektive anderer Menschen zu »töten«. In diesem Fall ist das Motiv jedoch Ahimsa, das Streben, niemanden zu verletzen. Und dieser Art des Vorgehens liegt es fern, die Entfaltung von Leben zu beeinträchtigen.“ (Aitken, S. 36f) Diese Haltung kann als ein Plädoyer für unbedingte Ehrlichkeit auch im interreligiösen und interkulturellen Dialog verstanden werden. Es geht ihr um eine Achtung und Beibehaltung der Verschiedenheiten und nicht so sehr um eine wie auch immer geartete Integration. Oberstes Ziel ist, sich selber in den Verschiedenheiten der anderen wiederzuerkennen, da ja alles mit allem verbunden ist. Von hier aus ließen sich interessante neue Perspektiven auch für die europäische Asyl- und Flüchtlingsarbeit entwickeln.

Buddha selber forderte seine Schüler auf, sich hermeneutischen Fragen zuzuwenden. Er ging eher von der Verwandtschaft der Wörter, die auf ihrem Gebrauch beruht, aus als von einfacher Etymologie, wie sie etwa vornehmlich von Grammatikern angewendet wird. Auch hier gibt es erstaunliche Parallelen zu westlichen Sprachphilosophien jüngeren Datums. Außerdem weist er die absoluten Strukturen von Sprache zurück, wie sie die linguistische Analyse zu eruieren bemüht ist. (Kalapuhana, S. 61f) Sein Diskurs war nie absolut oder letztgültig und beinhaltete dementsprechend keine absolute Wahrheit. Damit verfolgte er eine Methode der »Dekonstruktion«, um alle ontologischen Aussagen zu vermeiden, jedoch darauf eine Methode der »Rekonstruktion«, um den Inhalt menschlicher Erfahrung auszudrücken (und zwar mit der positiven Lehre des abhängigen Entstehens) (S. 66) Auch in der Sprache gibt es die Gleichzeitigkeit von letzter Wirklichkeit (Nirvana oder Sunyata) und der Welt wie sie ist (Samsara).

Einer der wichtigsten Zen-Meister des japanischen Zen ist Dogen Zenji. Im Gegensatz zu dem schon erwähnten Bodhidharma, der den Standpunkt unbefleckter Reinheit vertritt, vertritt Dogen eine Praxis, die sich Schritt für Schritt entwickelt. Die Praxis des Nicht-verletzens wird erlernt, indem wir, was immer wir tun und sehen auch die mit diesem Produkt oder Ereignis verbundenen Ungerechtigkeiten vor Augen haben und sie der Öffentlichkeit bekannt machen. Das Engagement einer Gruppe ist dem Engagement des Einzelnen in jedem Fall an Tragweite überlegen. Nur in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, im Sangha, lernen wir rechtes Sehen.

Die Voraussetzung ist in jedem Fall das ZaZen-Sitzen, eine (meditative) Übung des Stillewerdens, in dem mir die Erleuchtung der Großen Leere des Universums und der gegenseitigen Abhängigkeit alles Seienden bewußt wird.

Die Buddha-Natur überschreitet alle Erscheinungen von Gewalt

Die Ethik des Zen und damit seine Einstellung zu friedenstiftendem Handeln ist also eine ganz und gar autonome. Damit steht sie im Gegenüber der nach wie vor durch das Christentum – wenn auch in säkularisierter Form – geprägten Ethik in westlichen Gesellschaften. Wie wir gesehen haben, führt aber gerade diese Autonomie in keinen wie auch immer gearteteten Subjektivismus der Moderne, sondern ist die Voraussetzung für ein kollektives Lebensgefühl, das die Verletzung anderer Lebewesen und der Natur als Selbst-Verletzung, als Un-Sinn empfindet. Diese Haltung macht es dem modernen Buddhismus leicht, sich in der Friedensbewegung unabhängig von nationalen, kulturellen oder religiösen Grenzen zu bewegen. Eine Konkurrenz unter Friedensgruppen mit verschiedenen ideologischen Hintergründen und Ausrichtungen ist noch nie das Problem des Buddhismus gewesen. Ebensowenig eine oft in europäischen Friedensgruppen zu beobachtende Freudlosigkeit, die von einer Überarbeitung in Sachen Frieden, von einem Engagement herrührt, das mehr noch als ethisches als moralisches Muß verstanden wird.

Die in der Erleuchtung erkannte – nicht gewonnene – Buddha-Natur ist etwas, was jedem Menschen von Geburt an zugrunde liegt. Sie ist ewige Gegenwart, die alle Erscheinungen von Haß und Gewalt überschreitet. Aber weil sie ewige Gegenwart ist, führt sie auch notwendig zu ethischem und politischen Handeln. (In anderen buddhistischen Schulen ist dies nicht anders. Gute Beispiele für friedenspolitisches Engagement aus religiösen Kreisen heraus sind die Aktivitäten des Dalai Lama. In Vietnam und Sri Lanka hat allerdings die Notwendigkeit zu politischer Verantwortung auch dazu geführt, daß buddhistische Mönche sich im Widerstand gegen Okkupation und Fremdherrschaft selbst bewaffneten und in ihrer Interpretation ihres Tuns einer Vorstellung vom »Gerechten Krieg« sehr nahe kamen.)

Die Seinsweise des Selbst-Erwachens überwindet jegliche Form von Nihilismus. Alle Abhängigkeit, Passivität und Theonomie wird überwunden. Der Mensch wird absolut autonom und aktiv. (Hisamatsu, S. 135) Der berühmte japanische Zen-Philosoph und Begründer der Kyoto-Schule Kitaro Nishida nannte diesen Zustand »handlungsmäßige Anschauung«. „Dieses Selbsterwachen ist, wie weit man auch geht, ein Selbsterwachen, das nicht Gegenstand äußerer Wahrnehmung wird, sondern es ist aktives Subjekt, das an und für sich selbst wach ist. Es ist für uns heutige die Zeit gekommen, mittelalterliche Theonomie und Heteronomie abstoßend zur Autonomie des Menschen zu erwachen, den blinden Optimismus der modernen humanistischen Seinsweise abzutun, obgleich sie daran ist, eine staunenswerte moderne Welt aufzubauen. Es ist die Zeit gekommen, den Komplex des tiefen Pessimismus der nihilistischen Seinsweise aufzuheben, uns der aus diesem Komplex entstehenden theistischen abhängigen Seinsweise prämoderner Heteronomie zu entledigen, zu erwachen zur absoluten Autonomie der Seinsweise des Selbsterwachens.“ (Hisamatsu, S. 137)

Die beiden größten japanischen neuen Religionen, die Soka-Gakkai und die Rissho Kosei-kai, die sich von dem großen buddhistischen Reformer Japans, Nichiren, herleiten, verstehen sich ebenso dezidiert als Friedensreligionen. Das drückt sich u. a. in der Organisation und Finanzierung internationaler interreligiöser Friedenstreffen aus. Allerdings ist mindestens die erstere der beiden Vereinigungen mit ihren vielen Millionen Anhängern zu einer politisch aggressiven und militanten Sekte geworden, die den Anspruch vertritt, die einzig wahre Religion der Gegenwart zu sein. (Gerlitz, S. 23f) Bereits die Nichiren-Schule entwickelte angesichts einer drohenden Mongolen-Invasion eine militante Haltung und benutzte die ethischen Regeln des Buddhismus zu ihrer Legitimierung.

Die Rissho Kosei-kai wurde von Niwano und Nagamuna gegründet. Bereits ihr Name ist Programm: die zwei Zeichen von »rissho« deuten auf das Ideal von Gerechtigkeit und Sicherheit im Land hin, wie es von Nichiren im japanischen Mittelalter gepredigt wurde. »Ko« bedeutet die religiöse Verbindung von vielen Menschen und die Harmonie von Gläubigen. »Sei« drückt die Vervollkommnung der Persönlichkeit aus. (Nehring, S. 37) Die in der RKK geforderte Missionsarbeit bedeutete zunächst überwiegend praktische Lebenshilfe, vorwiegend in Japan und analog der sich in den 30er Jahren verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation in diesem Land. „Der Buddhismus lehrt, daß Geist und Körper eins sind und nicht als getrennte Einheiten aufgefaßt werden können. Wenn der Körper leidet, dann leidet auch der Geist und andersherum. Diese Vorstellung ist fest gegründet in dem buddhistischen Gesetz des Kausalzusammenhangs … .“ (N. Niwano, Buddhism and Health, in DW, Vol. 9, Nr. 6, 1982, S. 2. Hier zitiert nach Nehring, S. 38).

So praktisch engagiert diese Grundhaltung auch ist, so kann doch nicht übersehen werden, daß zum erstenmal Mission vordergründiges Ziel innerhalb einer buddhistischen Schule ist. Das praktische Engagement konzentriert sich auf Gesprächsgruppen, Sozialarbeit, Ausbau von Schulen und Krankenhäusern, Flüchtlingsarbeit, Entwicklungshilfe und hat einen Schwerpunkt in der Friedensarbeit, vor allem in der Mitgliedschaft im WCRP (World Congress for Religion and Peace) und im Bemühen um interreligiösen Dialog. An dieser Friedensarbeit und damit einhergehenden interreligiösen Arbeit beteiligen sich allerdings auch Mitglieder und Anhänger der beiden großen Zen-Schulen Japans, der Soto-Zen-Schule und der Rinzai-Zen-Schule.

In der RKK sind Mitleid und ethisches Handeln praktischer Ausdruck der Wahrheit. Das Mitleid mit der Welt kann auf allen Ebenen zum Ausdruck gebracht werden, auf der individuellen ebenso wie im (inter-)(nationalen) Handeln. Die Aufgabe Japans als kollektiver Größe wird in der Rolle eines Bodhisattvas gesehen. Es muß als eines der reichsten Länder der Erde den armen Ländern mit Mitleid begegnen. Dieses Mitleid soll sich auch auf die Natur erstrecken. Die RKK engagiert sich seit etwa 10 Jahren zunehmend im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes. „Verschiedene Entwicklungsprojekte der RKK sind Ausdruck für diese Haltung. Anders als die Sokka Gakkei hat die RKK keine eigene politische Partei gegründet, die Mitglieder werden jedoch aufgerufen, bestimmte Abgeordnete in der LDP zu unterstützen, die für die Ziele der RKK in der Regierungspartei eintreten.“ (Nehring, S. 90)

Das direkte politische Engagement ist, so haben wir gesehen, auch im Zen und im älteren Buddhismus angelegt. Neu ist in der RKK jedoch das parteipolitische Engagement, das – gekoppelt mit dem Anspruch, die Wahrheit für die ganze Welt zu haben, skeptisch macht. Es steht ein gewisser »Japanozentrismus« hinter diesem Anspruch, den es allerdings als Eurozentrismus und Absolutheitsanspruch auch in westlichen Kulturen seit dem 19. Jahrhundert gibt, und der sich teilweise bis hinein in westliche entwicklungspolitische Basis- und Friedensarbeit gehalten hat.

Die RKK arbeitete oft mit finanzieller und personeller Unterstützung der UNO und UNICEF und ihrer Projekte. Später wurden allerdings auch konkrete ökonomische Hilfsprogramme und -konzepte von der RKK selber für bestimmte Krisengebiete entwickelt.

1978 wurde die Buddhist Peace Fellowship von Robert Aitken und Nelson Forster gegründet, die sich auf Themen der Friedensarbeit und Ökologie konzentriert. Sie hat heute einige tausend Mitglieder in Nordamerika, Europa und Asien. Vierteljährlich erscheint die Zeitschrift »Seeds of peace«.

1989 begann das INEB (International Network of Engaged Buddhists) seine Arbeit in Thailand. Seit 15 Jahren arbeitet die ISEC (International Society for Ecology and Culture) in Ladakh, um nur einige wenige Beispiele organisierter Friedensarbeit und ökologischer Arbeit im modernen Buddhismus zu nennen.

Für den Buddhismus, auch für den Zenbuddhismus, gilt allerdings – wie für alle anderen Religionen –, daß Zeit seines Bestehens ein Unterschied wahrgenommen werden muß zwischen Lehre und Ideal einerseits und der Verwirklichung dieses Ideals in Politik und Gesellschaft andererseits. Dies kann nicht einfach auf die Friedfertigkeit und damit verbundene Machtlosigkeit der Religionen in der Welt zurückgeführt werden. Vielmehr neigt Religion, wo immer sie quantitativen oder qualitativen Einfluß in der Politik des jeweiligen Landes gewinnt, dazu, sich den machtpolitischen Regeln anzupassen oder sogar diese Regeln zu diktieren oder in die eigene Gemeinschaft zu übernehmen. Selbst da noch, wo religiöse Grundüberzeugungen bestimmter (ethnischer) Gruppen benutzt werden, um ethnonationale Konflikte zu schüren oder zu legitimieren, geht dies nur, wenn die Strukturen der jeweiligen Religionen für so einen Mißbrauch anfällig geworden sind.

Eine Religion ohne Missions- und Absolutheitsanspruch

Im Unterschied zu christlichen oder christlich-säkularen westlichen Gesellschaften kann dennoch für den Buddhismus in Anspruch genommen werden, daß er aufgrund seines Weltbildes und seiner Wirklichkeitssicht zu den eher friedfertigen Religionen dieser Welt zählt. Das liegt sicher – auch hier wieder besonders im Zen-Buddhismus – daran, daß es in dieser Religion kein theistisches Gottesverständnis gibt. Einen Absolutheitsanspruch, wie er sich im Christentum und dem folgend auch in der christlichen/westlichen Kultur im 19. Jahrhundert entwickelte und eine damit einhergehende missionstheologisch legitimierte Kolonisationsgeschichte, kennt der Buddhismus nicht. Aufgrund seiner Grundannahme, daß die letzte Wirklichkeit die »absolute Leere« und – in ihr gründend – die »gegenseitige Abhängigkeit alles Seienden« ist, ist Wahrheit im Buddhismus niemals in einem ausschließlichen oder gar argumentierbaren Sinne absolut. Sowohl Dualismus als auch jede Form von Metaphysik und abgrenzendem Substanzdenken werden abgelehnt. Natürlich geht auch der Buddhismus davon aus, daß das in der Erleuchtung erkannte letzte Gesetz der Wirklichkeit für alle Seienden gilt. Doch müssen diese selber dazu erwachen. Es gilt nicht, Andersgläubige zu missionieren oder mit welcher Form von Gewalt auch immer zu überzeugen, sondern ihnen in ihrer Andersheit solidarisch zu begegnen.

Pratityasamutpada, das Prinzip der abhängigen Entstehung, ist eine Alternative zum Substanzdenken und Egozentrismus. Es vermeidet jede Form von Geheimnis und Metaphysik und erklärt (auch gesellschaftliche) Phänomene als im Zustand stetigen Entstehens und Vergehens. Damit wird eine Wirklichkeitssicht geliefert, die an vielen Stellen derjenigen einer postmodernen Hermeneutik entgegenkommt, ohne jedoch auf deren Tendenz zu »Mythologie« und »Semiologie« eingehen zu müssen. „Thus the difficulty in perceiving and understanding dependence is due not to any mystery regarding the principle itself but to people's love of mystery. The search for mystery, the hidden something (kinei), is looked upon as a major cause of anxiety and frustration (dukkha). Therefore the one who does not look for any mystery (akincana), and who perceives things »as they have come to be« (yathabhuta), is said to enjoy peace of mind that elevates him intellectually as well as morally.“ (Kalupahana, S. 59)

Ein Austausch der Religionen über die Möglichkeiten gemeinsamen Engagements für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Erde (nicht Schöpfung), nicht im Sinne eines in jüngster Zeit vielfach propagierten »Weltethos«, sondern im Sinne eines gemeinschaftlichen ethischen Engagements bei Achtung der bestehenden Verschiedenheiten wird nicht nur von der RKK, sondern auch von anderen Religionsphilosophen und Wissenschaftlern, etwa von dem englischen Historiker A. Toynbee als unumstößlich notwendige Voraussetzung für den Frieden der Welt gesehen. Religion ist mehr als Humanismus auch religiöser Humanismus, weil sie strukturell von der Geborgenheit der einzelnen Menschen in einem sie umfassenden Ganzen ausgeht und so zu wirklichem Altruismus mindestens potentiell befähigt. Auf Japanisch heißt Religion »shukyo«, übersetzt »große Quelle aller Erziehung«. Sie bringt das reinste, heiligste und schönste im Menschen zum Vorschein: das, was nicht von Buddha verschieden ist, die Buddha-Natur, die am Grunde aller liegt. (M. Yamada, in: A Zen-Christian Pilgrimage, S. 33) Die heutige spirituelle Krise ging einher mit der materialistischen Gesellschaft in Europa und der Überbewertung von Wissenschaft im Sinne eines Szientismus. Im Gegensatz zu diesem Egoismus gibt es im Buddhismus die Forderung einer »spirituellen Zivilisation«. Letztere erst ermöglicht aber die Verantwortung für alles, was ist. (S. 34)

Literatur

Masao Abe, Buddhist Nirvana: Its Significance in Contemporary Thought and Life, in: ER XXV, No.2, 1973, S. 158-168.

Ders., The Problem of Evil in Christianity and Buddhism, in: Buddhist-Christian Dialogue: Mutual Renewal and Transformation, ed. by P.O. Ingram and F.J. Streng, Hawaii 1986.

Robert Aitken, Ethik des Zen, München 1989.

Peter Gerlitz, Gott erwacht in Japan. Neue fernöstliche Religionen und ihre Botschaft vom Glück, Freiburg im Breisgau 1977.

Shinichi Hisamatsu, Satori (Selbsterwachen). Zum post-modernen Menschenbild, in: Gott in Japan, hg. von Seiichi Yagi und Ulrich Luz, München 1973.

Toshihiko Isutzu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Hamburg 1979.

David J. Kalapuhana, A History of Buddhist Philosophy, Honululu 1992.

Andreas Nehring, Rissho Kosei-kai, Erlangen 1992.

Kitaro Nishida, A Study of Good, Tokyo 1960.

Peter Schenkel, Die Welt in uns. Überlegungen zu Buddhismus und Ökologie, in: Dialog der Religionen, 3. Jahrgang, No. 2 1993, S. 129-157.

A Zen-Christian Pilgrimage, The Zen-Christian-Colloquium, Hong Kong 1981.

Sybille Fritsch-Oppermann ist Pfarrerin und Studienleiterin der Akademie Loccum, 31545 Rehburg-Loccum.

Indischer Nationalismus

Indischer Nationalismus

Die Zerstörung der Babri Moschee in Ayodhya als Symbol für die Unerwünschtheit von Muslimen im Indien der 90er Jahre?

von Brigitte Schulze

Am 6. Dezember 1992 wurde nach lange andauerndem politischen Streit zwischen den Hauptkontrahenten und Repräsentanten sogenannter Hindu-, Muslim- und indischer Interessen im nordindischen Ayodhya eine fast 500 Jahre alte Moschee dem Erdboden gleichgemacht.

Hundertausende von »Hindu-Parteien« hingekarrte und angestachelte »Kar Sevaks« (Freiwillige) hatten sich mit bloßen Händen oder mit Spitzhacken, Schaufeln und ähnlichem Kleinwerkzeug an das Zerstörungswerk gemacht. Seit Mitte der 80er Jahre war dafür agitiert worden. Ende 1990 hatte der Parteiführer der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) eine wahltaktisch angelegte »Pilgerfahrt« nach Ayodhya bis zu einem Punkt getrieben, wo die Babri Moschee nur knapp ihrer Zerstörung entging. Zwei Jahre später wurden während und nach ihrer gelungenen Schleifung in den Straßen Ayodhyas Muslime verfolgt, angegriffen, getötet; Häuser gingen in Flammen auf.

Zu Gewaltakten zwischen Hindus und Muslimen kam es danach in zahlreichen Städten Indiens, mit umgekehrten Vorzeichen in Pakistan und Bangladesh. Polizei und Politiker wirkten maßgeblich daran mit, eine grausame Dynamik von Attacken und Racheakten in Gang zu setzen und aufrecht zu halten.

Viele Beobachter fühlten sich an die traumatischen Ereignisse in den Jahren vor und nach der Teilung des indischen Subkontinents 1946 bis 1948 erinnert.

Damals waren ca. 12 Mio. Menschen auf der Flucht, 2 Mio. sollen in dem wechselseitigen Morden zwischen Hindus und Muslimen umgebracht worden sein.

Erste Zeitungsmeldungen in Deutschland sprachen von einem Aufleben religiösen »Fanatismusses«, gar von »Fundamentalismus« und »Faschismus« auf Seiten von Hindus. Richtig ist, daß die seit Jahren zunehmende Betonung einer angeblich unterdrückten Hindu-Identität und Abgrenzung gegen »volksfremde« Muslime faschistische Züge trägt. Falsch wäre es aber für diese gesellschaftliche Entwicklung nur eine politische Gruppierung, gar in Assoziation mit »halbnackten heiligen Männern« oder ähnlichem, das für vormoderne Zustände stehen soll, verantwortlich zu machen. Die furchtbare Grausamkeit der jüngsten Gewalttaten zwischen Hindus und Muslimen beruht in erster Linie auf modernen Tatbeständen wie der Schaffung von zwei nachkolonialen Staaten: Indien und Pakistan. Auch die seit dem britischen Kolonialismus bis heute andauernde Zerstörung und Funktionalisierung vorkolonialer (Über-)Lebenszusammenhänge auf dem Subkontinent muß zur Erklärung der Vorgänge herangezogen werden.

So ist weder eine wie auch immer definierte Menschennatur (»lethargisch« und<|>/<|>oder »fanatisch«) von Hindus oder Muslimen, noch die individuelle Religiosität dieser Menschen der Grund, sondern eine Geschichte, in der Menschen zum Spielball von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen gemacht worden sind. Diese Geschichte ist eng mit dem Einfluß der britischen Kolonialherrschaft in Südasien verknüpft, mit der damit verbundenen Ausbildung von Nationalismen, insbesondere mit den Ideologien von »Hindu«- bzw. »Muslim-Identitäten« als Nationalitäten.

Gabriele Vensky formulierte in der Frankfurter Rundschau vom 8.12.1992 exemplarisch, zu welchen parteiischen Schlußfolgerungen ahistorische Verallgemeinerungen und Plausibilisierungen angesichts der Gewalt in Indien führen können: „Indien kann als Nation, so hat Narasimha Rao immer wieder hervorgehoben, nur überleben, wenn seine vielen Völker und Religionen Gesetz und Verfassung als oberste Institution anerkennen. … Indem sie (Hindu-Chauvinisten, BS) Religion und Nationalismus in gefährlicher Weise vermischen, in der Hoffnung, so an die Macht zu kommen, bereiten sie möglicherweise den Weg für die Jugoslawisierung Indiens. … Die Glaubwürdigkeit Indiens, aber mehr noch der Zusammenhalt der Nation stehen nun auf dem Spiel, weil wie im tiefsten Mittelalter Sants und Sadhus die Politik bestimmen wollen“.

In Indien gibt es schon seit Jahren eine von AkademikerInnen, JournalistInnen oder SozialarbeiterInnen geführte Diskussion über den Zusammenhang zwischen indischem Nationalismus und »communalism«. Dabei ist »communalism« der in Indien verwendete Begriff für Konflikte zwischen sozialen, meist religiösen Gruppen, den ich im Original verwende, da er nicht adäquat übersetzt werden kann. Im folgenden möchte ich mich auf eine Quintessenz aus Analysen und Argumenten zum Spannungsfeld Nationalismus – »communalism« konzentrieren. Die journalistische Öffentlichkeit Deutschlands nimmt diese Erklärungsansätze bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. der um Differenzierung bemühte Artikel von Erhard Haubold „Der dämonisierte Muslim. Indien auf dem Weg zum Hindu-Faschismus?“ in der FAZ vom 13. 3. 1993, nicht wahr. In der akademischen Auseinandersetzung bleiben die wenigen Experten leider meist unter sich1).

Im folgenden werde ich mich auf die wichtigsten Aspekte beschränken, vieles kann sicherlich nur angerissen werden, soll aber als ungewohnte Sichtweise zur Belebung hiesiger Debatten über den angeblich bedrohlich in der sog. Dritten Welt anwachsenden »Fundamentalismus“/“religiösen Fanatismus« verstanden werden.

Wie aus Nachbarn Feinde werden oder die blutige Geschichte von »Identität«, Religion und Nation

Die erste Schwierigkeit bei der Betrachtung der Animositäten von Hindus, die sich als Hindus gegen Muslime, weil sie Muslime sind, wenden und umgekehrt, besteht darin, die Geschichte auf dem indischen Subkontinent nicht gemäß einer vom Ausgangspunkt schon parteiischen und ahistorischen Sichtweise zu interpretieren. Nämlich als immerwährenden Kampf zwischen »Hindus« und »Muslimen«.

Der Historiker Gyanendra Pandey von der University of Delhi, dessen Argumentation ich in diesem Zusammenhang hauptsächlich folge, führt aus: „Insbesondere die Teilung von 1947 hat ein bedeutenderes Zeichen für die Praxis indischer Geschichte und Politik gesetzt, als allgemein zugegeben wird. In Indien wie in Pakistan, wurde die Geschichte der gesamten Muslim-Politik und in einer weniger offensichtlichen, aber meiner Ansicht nach ebenso emphatischen Weise, aller Hindu-Politik niedergelegt als eine Vor-Geschichte der Teilung oder, was auf das Gleiche herausläuft, als der Kampf, um sie abzuwenden. Die Geschichte der indischen Muslime wird so eine Geschichte der »Muslim-Politik«, die schnell auf die Geschichte der Pakistan Bewegung reduziert wird, und weiter noch auf die Geschichte der Muslim League (Partei nationalistischer Muslime, BS) seit ihrer Gründung 1906 bis zur Errichtung des neuen Staates 1947. … Bemerkenswert ist, daß ihr (nationalistische Historiker aus Pakistan, BS) Rahmenkonzept allgemein von anderen geteilt wird, die nicht so strikt an die »Natürlichkeit« des Muslim-Nationalismus auf dem Subkontinent glauben. Hindu Propagandisten und Historiker ihrerseits beschreiben »Separatismus« als eine unausweichliche Folge des muslimischen Charakters – in Indien und anderswo. … Die Geschichte der Hindu-Politik wurde also mehr oder weniger auf die gleiche Art und Weise behandelt – als Teil einer sehr alten Tradition, als eines Ausdrucks einer »natürlichen« Solidarität und als »natürlicher« Kurs politischer Entwicklung in Indien.

Der Punkt, (…) ist, daß diese Argumentation vollkommen ahistorisch ist, daß es um Nationalismen überall lange Zeit und kräftige Auseinandersetzungen gab, daß »communities« und »Nationen« nicht fix und fertig ankommen, vollentwickelt geboren werden, natürlich und unverändert. Es muß auch betont werden, daß der nationalistische Diskurs in Indien, und damit das, was als »communalist« Diskurs bezeichnet wird, immer politisch ist, wie auch immer er sich bemühen mag, in der »nicht-politischen« Sprache von Religion oder »community« zu sprechen.“ 2

Die Teilung des indischen Subkontinents von 1947 ist tatsächlich beständiger Ausgangs- und Bezugspunkt von Hindu- oder Muslim-Nationalisten. Die Existenz von zwei bzw. drei Staaten (Indien, Pakistan und Bangladesh) soll »Beweis« dafür sein, daß die als Theorie aufgebauschte Sichtweise, Hindus und Muslime seien letztendlich zwei Nationalitäten, die nicht zusammenleben könnten, Geltung habe. Weite Teile der Öffentlichkeit in Indien, nicht nur Hindu-Nationalisten, machen deshalb Muslime für diese Amputation des vormals großen »British India« samt der vor der Teilung existierenden assoziierten und unabhängigen Fürstenstaaten, mit all ihren schrecklichen Konsequenzen verantwortlich.

Betrachtet man die Teilung unparteiisch und bemüht sich, die damals beteiligten konkurrierenden Interessen von Clement Attlee, dem damals neuen Premier Groß-Britanniens, Muhammad Ali Jinnah für die Muslim League, Jawaharlal Nehru bzw. Mohandas K. Gandhi für den Indian National Congress zu benennen und in Beziehung zu setzen, so wird nachvollziehbar, warum damals so viele Menschen wie wilde Tiere übereinander herfielen. Über Nacht waren diesseits und jenseits der am grünen Tisch neu gezogenen Grenzen zwischen der Indischen Republik und West-/Ost-Pakistan aus Nachbarn Angehörige unterschiedicher, konkurrierender und sich um Staatsgebiete streitender Nationen geworden. 12 Millionen Menschen fühlten sich plötzlich heimatlos und als Flüchtlinge, etwa 2 Millionen Menschen kämpften in dem so initiierten Volkskampf ums nackte Leben.

Muslime hatten sich schon seit Monaten immer wieder der Agitation der Nationalisten von der Muslim League gegenübergesehen. Seit etwa einem Jahrzehnt hatte der Parteiführer der 1906 gegründeten Muslim League Jinnah in seinem Profilierungskampf gegen den Congress-(Hindu-)Politiker Nehru, die Forderung nach einer nationalen Einheit »indischer« Muslime in den Gebieten aufgestellt, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Das betraf hauptsächlich die nördlichen Gebiete von Britisch Indien: im Nord-Westen Sind und Punjab, im Nord-Osten Bengalen. Seit 1940 berief sich seine Forderung nach Pakistan auf die »Zwei-Nationen-Theorie« und war Gegenstand des Pokers über die Ausgestaltung des Machttransfers von der unter 14 Mrd. US-$ Schulden, einer immensen Geldentwertung und ihrem Kriegsengagement leidenden ehemaligen Weltmacht England zu den Nationalisten auf dem Subkontinent. Clement Attlee drang auf eine möglichst schnelle Entlassung der einstigen Kronkolonie in die Unabhängigkeit, als Mitglied eines Verbundes souveräner Staaten im Commonwealth.

Zur Bekräftigung der Forderung nach einem eigenen, souveränen Muslim-Staat Pakistan, mit der natürlich auch die Frage nach dem zukünftigen Staatsgebiet verknüpft war, rief Jinnah am 16.8.1946 einen »Direct Action Day« aus. Es waren von Jinnah keine konkreten Aktionen auf die politische Tagesordnung gesetzt worden, doch besonders in Bengalen wirkte sich dieser Aktionstag katastrophal aus. Hier konnten daher die neuen Grenzen von den Bevölkerungszahlen her gesehen nicht so eindeutig festgelegt werden, gab es also noch Spielraum, um Einfluß auszuüben. Auf skrupellose Art und Weise versuchte der Führer der Muslim League in Calcutta H. Suhrawardy beispielsweise durch Anstachelung Muslime gegen Hindus zu hetzen. Um aus Calcutta eine mehrheitlich von Muslimen bewohnte Stadt zu machen, sie damit »eindeutig« in das zukünftige Pakistan eingliedern zu können, wurde ein Pogrom gegen bengalische Hindus provoziert. Die Berufung auf diese sog. Massaker zwischen Muslimen und Hindus wiederum diente als »Beweis« dafür, daß diese zwei Religionsgruppen nicht zusammenleben könnten.

Der in Deutschland lebende Wissenschaftler Indu Prakash Pandey zitiert in seiner Studie über „Regionalismus in Hindi Novellen“ 3 aus einer Novelle von Raahii Maasuum Razaa »Aadhaa Gaon« (Das halbe Dorf). Hier wird eine Geschichte über eine Muslim »community« und ihr Verhältnis zu den anderen »communities« in der Zeit zwischen 1937 und 1952 erzählt. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Pogrome in Calcutta heißt es: „Thaakur Jaipaal Singh bietet Bafaatii Caa, einem Muslim, der von den Hindu Fanatikern bedroht worden war, Schutz an. Und als die Hindus kommen, um die Muslime anzugreifen und ihre Häuser zu verbrennen, ist Jaipaal Singh außer sich und befiehlt ihnen niemals ans Kämpfen zu denken.“ Die Szene wird in der folgenden Weise beschrieben: „Wenn die Gewalttaten von den Muselmannen gegen die Hindus in Calcutta verübt wurden, warum sollen … unsere Muselmannen dafür bestraft werden? Wie kann irgendjemand diese Mädchen der Muselmannen vergewaltigen, die als Säuglinge auf unserem Schoß sitzend Wasser gelassen haben? Ich kann nicht verstehen, wie man die Häuser dieser Muselmannen, die mit uns seit Jahrhunderten zusammenleben, in Brand stecken kann. Wie kann man einen Muslim Priester töten, der, nachdem er in der Moschee seine Gebete verrichtet, die Kinder der Hindus ebenso wie die der Muslime segnet? Die Bauern könnten natürlich die Ernte vom Feld ihrer Rivalen schneiden. Ein oder zwei Morde im Zusammenhang mit Landstreitereien sind für sie normal. Aber jemanden zu töten oder sein Haus niederzubrennen, nur weil er ein Muselmann ist – die Bauern könnten das nicht verstehen.“(a.a.O., S. 343) „Die einfachen Muslims aus den Dörfern von Utter Pradesh waren so vollkommen in das Leben des Landes und seiner Kultur integriert, daß sie sich niemals als Außenseiter empfanden. Niemand gab ihnen je das Gefühl, daß sie ein eigenes Volk wären und fortgehen sollten in ein anderes Land. Sie litten niemals unter einer geringeren Stellung als Minderheit bis die Muslim League ihre Politik startete, in der sie Angst und Mißtrauen schürte. Sie fühlten sich den Hindus überlegen, weil sie mehrere Jahrhunderte lang die Herrscher Indiens waren. Es ist schon wahr, daß zwischen den zwei »communities« nach der Khilaafat Bewegung von 1921 zahlreiche Fälle von Unruhen stattfanden; im ganzen Land wurden Hunderte von Muslimen und Hindus in diesen Unruhen getötet. Aber in der indischen Geschichte gibt es bei weitem nicht genügend Aufzeichnungen über Hindu-Muslim Unruhen auf Dörfern. Tatsächlich haben sie oft in den Städten stattgefunden. Interessensgegensätze sind im ländlichen Indien natürlich an der Tagesordnung, aber sie sind selten »communal“… Baljiit Singh informiert uns darüber, daß die indische ländliche Gesellschaft in ihrem Wesen eine Gesellschaft »einzelner Gruppeninteressen« (»factional society«) ist. … In dieser vollkommen aufgespaltenen Gesellschaft könnte jede der Gruppen von cleveren Politikern ausgenutzt werden, um eine politische Karriere zu machen. Das grundlegende Problem des ländlichen Indiens liegt in Gruppenkämpfen (»factional fights«), die sich von Kasten- oder Glaubenskämpfen unterscheiden; religiöse Kämpfe stellen kein Problem dar, weil die tief abergläubigen Menschen der beiden Hauptreligionen Indiens sogar die Götter und Göttinnen und die Andachtsstätten der jeweils anderen respektierten.“ (S. 133). Dieser Ausschnitt aus der Novelle, die zur Tradition der realistischen Erzählungen zählt und autobiographische Züge trägt, spricht wie die akademische Debatte über »communalism« zwei weitere zentrale Punkte an. Einmal die Frage, seit wann und wo es zu »communalism« kam, zum anderen die Unterscheidung zwischen Kasten-, Klassen- oder Religions-Auseinandersetzungen.

Seit wann und wo ist »communalism« aufgetreten?

Über die Beantwortung dieser Frage streiten sich selbst kritische Geister. Zunächst einmal gibt es keine entsprechende Chronik, auf die man sich beziehen könnte. So argumentieren Sozialwissenschaftler wie Ashis Nandy, daß »traditionelle indische Werte« durch »wesensfremde westliche« unterdrückt wären, und in diesem Sinne sei »communalism« Ausdruck einer korrumpierten, auf verwestlichte Mittelschicht-Interessen zurückgehenden Pervertierung der politischen Auseinandersetzung. Diese Analysen vorbritischer Dorfökonomien werden jedoch wegen ihres Idealismus, der Romantisierung der indischen Dorfökonomie kritisiert4. Insbesondere die damals – und oft auch heute noch – von der elitären Interpretation des Brahmanen-Hinduismus vorgenommene Kodifizierung sozialer und ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse wird nicht problematisiert. Andere argumentieren »materialistisch« und versuchen für jedes Massaker mächtige politische oder ökonomische Interessen auszumachen, die die »Massen« für ihre Zwecke manipulierten5. Wahr ist sicherlich, daß es unter britischer Okkupation und danach kaum ein Morden im Namen von Islam oder Hinduismus gegeben hat, bei dem »rationale« Interessen nicht beteiligt gewesen wären (Großgrundbesitzer oder Politiker). Abhängigkeits-, Ausbeutungs- und Konkurrenzstrukturen fördern auch die, allerdings nicht als Zwangsmechanismus zu verstehende, Psychologie des nationalistischen Fanatismus: so unterstützen zum Beispiel weite Teile des hinduistischen Bürgertums von heute die chauvinistische Politik hindu-nationalistischer Parteien, sind mit ihnen der Meinung, Muslime seien »Schmarotzer« und gehörten aus dem Land getrieben. In dem Bewußtsein, zum »richtigen« (Hindu-)Volk zu gehören, werden solche Nationalisten auch schon einmal selber aktiv – zahlreiche Hindu-Politiker waren beispielsweise an den Pogromen gegen Muslime in Bombay im Februar 1993 direkt beteiligt.

Eine Psychologie der Angst herrscht, wo Menschen angesichts der Teilung 1947 oder auch später sich in Gebieten aufhielten, in denen ihre Bevölkerungsgruppe in der relativen Minderheit und unerwünscht war. In einem Kampf aller gegen alle sichert nur die Gegenwehr ein Überleben. Rachegelüste tun ihr übriges, und wo eine staatliche Gewalt fehlt, die die Gewalt der Einzelnen kontrolliert, wo die individuelle Gewalt sogar oft noch von den Staatsrepräsentanten angeheizt wird wie in Ayodhya Ende 1992 oder in Bombay 1993, wird fast aus jedem ein Rächer oder ein Verteidiger. Auch manche Privatfehde endet unter solchen Konstellationen oft mit Mord.

Über Gewalttaten zwischen den »communities« in vor-britischer Zeit liegen keine gesicherten Informationen vor. Viele der damaligen Herrscher veranlaßten keine Geschichtsschreibung, außerdem könnten auch Bilanzen von Opfern kaum etwas »beweisen«. Es müßten schon auch soziale, politische und ökonomische Zusammenhänge des Alltagslebens der jeweiligen Menschen und nicht nur Herrschafts- oder Politikgeschichte beleuchtet werden. Erst in jüngster Zeit bemühen sich SozialwissenschaftlerInnen wie Asghar Ali Engineer vom Institute of Islamic Studies in Bombay Geschichte auf dem indischen Subkontinent »von unten« zu rekonstruieren, »subaltern studies« zu betreiben. Das wegweisende Buch »The Construction of Communalism in Colonial North India« von dem schon zitierten Gyanendra Pandey thematisiert die fragwürdige Kumpanei zwischen Historikern und »communalists«. Auch in dem von A.A. Engineer herausgegebenen Buch über die Babri Masjid-Ramjanambhoomi Kontroverse6 ist nachzulesen, wie es die britische Kolonialherrschaft schaffte, aus religiösen »Identitäten« von Hindus und Muslimen, konkurrierende politische Identitäten zu konstruieren.

Die Brutalität, mit der politisierte, sich wechselseitig in Frage stellende Identitäten aufeinandertreffen, hat in den letzen zehn Jahren dramatisch zugenommen. „Zwischen 1980 und 1989 erlebte Indien nahezu 4500 Fälle von »communalism«, in denen mehr als 7000 Menschen ihr Leben verloren, fast viermal soviele Tote wie in den 70er Jahren.“ 7

Bei Entstehung und Praxis von »communalist conflicts« spielen, wie schon ausgeführt, verschiedene Faktoren eine Rolle. Was Indu Prakash Pandey in seiner Analyse zur Bedeutung der Sprache in der untersuchten Hindi Novelle »Aadhaa Gaon« reflektiert, kann sicherlich auch als ein allgemeines Motto gelten, wenn man sich »communalism« anschaut und beurteilen will: „Regionale Novellen lassen die Wirklichkeit größerer Zusammenhänge beiseite und konzentrieren sich auf die Wirklichkeit der kleineren. Die Wirklichkeit des Dorfes, der Kaste, des Stammes, der bestimmten religiösen Sekte, hat nur für jede dieser Einheiten eine Bedeutung, während die Wirklichkeit der größeren Zusammenhänge unterschiedlich sein, sogar im Widerspruch zu derjenigen der kleineren Zusammenhänge stehen kann. So muß man sich das Leben in Indien anschauen, das verschieden auf verschiedenen Ebenen gelebt wird. Es ist so nicht überraschend, daß die vorliegende Darstellung der Siiyaa »community« (eine in Utter Pradesh lebende Kaste und Grundbesitzerklasse von Muslimen, BS) nicht vollkommen mit der gesamten Muslim Gesellschaft übereinstimmt“ (a.a.O., S. 144).

Angesichts zunehmender »communalisms« in der indischen Gesellschaft nach einem »Allgrund« (Religion, Faschismus o.ä.) zu suchen, grenzt daher an intellektuellen Mystizismus. Sofern Interesse daran besteht, sich über Gründe bestimmter Massaker Klarheit zu verschaffen, muß die alltägliche Gewalt, die spezifische Anatomie und Geschichte dieser bestimmten Ereignisse rekonstruiert werden. Oft entpuppt sich dann ein »communal conflict« als sozialer Konflikt oder als abgekartetes Spiel zwischen Grundeigentümern, Unternehmern, Polizisten und Politikern. Ausschlaggebend für die Explosionskraft der jeweiligen Gewaltsituation und ihr Potential sich auf andere Regionen auszudehnen, ist jedoch letztendlich das Verhältnis zwischen indischem Staat und seinem Volk, repräsentiert in Haltungen und Taten maßgeblicher PolitikerInnen. Der offiziell vertretene Nationalismus.

Staatsnationalismus und Mehrheitsnationalismus

Das »junge, aufstrebende« Indien unter seinem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru hatte »Einheit in der Vielfalt« definiert und praktiziert. Alle Menschen, die innerhalb der indischen Grenzen lebten, egal welcher Kaste, Klasse, Ethnie, Religion oder welchem Geschlecht sie angehörten, sie alle waren Teil des »Großen Ganzen«. Unter anderem gab es Quotensysteme für Ausbildungs- und Arbeitsplätze, damit es zumindest auf der formalen Ebene auch für die sozial oder ökonomisch Benachteiligten oder ethnischen Minderheiten eine Chance gab, gerecht in das demokratische System eingebunden zu werden. Ob das gelang oder gelingen konnte, soll nicht zur Debatte stehen, da es um die Skizzierung des staatlich nach innen und außen vertretenen Nationalismus gehen soll.

Heute sind »Sonderrechte« für sozial Schwache und Unterdrückte, insbesondere die Arbeitsplatzquotierung für sog. rückständige Klassen und Kasten oder für die Stammesbevölkerung, Anlaß für Parteienstreit,-konkurrenz und fanatische Aktionen von (privilegierten) hochkastigen StudentInnen: Demonstrationen, auch Selbstverbrennungen fanden vor allem in Nordindien gegen die Implementierung der Beschlüsse der »Mandal-Kommission« im Herbst 1990 statt – nicht zufällig zeitgleich mit der ersten großangelegten Kampagne der BJP gegen die Babri Masjid. Die unten näher ausgeführte Scheidungs-Rechtsprechung für Muslime von 1986, der sich darauf beziehende Kampf von Hindu-Nationalisten gegen die »Sonderbehandlung«(wegen eigener islamischer Rechtsprechung) von Muslimen war zentraler Auslöser für eine ganze Woge von Lügen über angebliche Privilegien der in Indien lebenden Muslime. Der Staatsnationalismus tendierte insbesondere in den 80er Jahren (vgl. unten: Die Entwicklung seit den 80er Jahren) weg von seiner Definition von »Indertum« ohne Ansehen der Person (Religion, Ethnie u.ä.) hin zu einem »Mehrheits-Nationalismus«8, der sich auf die 84% Hindus im Lande stützen will.

Mehrheits-Nationalismus und »Hindutva«

Die Geschichte der Forderung nach »Hindutva«, Herrschaft der Hindus, aufgestellt von hindu-nationalistischen Parteien und Organisationen skizziert die Entwicklung des Hindu-Nationalismus, der schon immer »Mehrheits-Nationalismus« auf dem Subkontinent war.

Derzeit leben in Indien etwa 84% Hindus, 13 % Muslime, 8% Adivasis (Stammesbevölkerung), 2,5 % Christen und 2% Sikhs. Weniger als 10% der Hindus gehören der höchsten Kaste, den Brahmanen, an. Die große Mehrheit besteht aus Niedrigkastigen und Dalits (Nichtkastige), die auch heute noch am stärksten von Elend und Unterdrückung betroffen sind.

»Communities« und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung erhielten in dem Maße eine politische Dimension, wie sie im Laufe der Zeit als Wählerpotentiale aufgebaut wurden.

Mehrheitsbeschaffung und Religionsgruppen

Als das berühmte Zünglein an der Waage zur politischen Macht wird insbesondere auf die Muslime geachtet. Im Unterschied zu Hindus, von denen man sagt, sie orientierten sich in ihrem Wahlverhalten stärker an regionaler Besonderheit und Kastenzugehörigkeit, sollen Muslime aus ihrer Minderheitenerfahrung heraus meist geschlossen wählen.

Durch das taktische Schielen auf Wählerstimmen haben PolitikerInnen massiv dazu beigetragen, Muslime und Hindus gegeneinander auszuspielen. Rajiv Gandhi hat so den Boden für die aktuellen, brutalen Auseinandersetzungen um Ramjanambhoomi bzw. Babri Masjid bereitet.

Im April 1985 sprach das Höchste Gericht Indiens einer muslimischen Frau das Recht auf Unterhaltszahlungen durch ihren geschiedenen Ehemann zu. Daraufhin erhob sich ein Großteil der muslimischen Elite und warf dem Gericht unrechtmäßige Einmischung in einen Bereich des Familienrechts vor, der in die Zuständigkeit islamischen Rechtsverständnisses fiele. Die sich darauf beziehende Agitation bezeichnete den Richterspruch als eine ungeheure Bedrohung muslimischer Identität. Rajiv Gandhi gab diesen Forderungen nach und schrieb die Regelung der Unterhaltszahlungen bei Scheidungsfällen in muslimischen Ehen durch die Ausrichtung an islamischer Gesetzgebung fest. Die »Muslim Women (Protection of Rights on Divorce) Bill« wurde von ihm am 25. Februar 1986 dem Parlament zur Verabschiedung vorgelegt. Um es sich deshalb nicht mit Hindus zu verscherzen, veranlaßte Rajiv Gandhi am 1. Februar 1986 die Öffnung der seit 1949 offiziell verriegelten Tore zum Schrein der Babri Masjid, in dem Hindus in einer Nacht-und-Nebel Aktion im Dezember 1949 Idole von Ram und seiner Frau Sita aufgestellt und damit die Moschee nicht nur entweiht, sondern praktisch in einen hinduistischen Tempel verwandelt hatten. Zwei Ausgangs- und Bezugspunkte des heutigen Babri Masjid-Ram Janambhoomi-Konfliktes waren damit etabliert. Das Zugeständnis an die Muslime, in bestimmten Fällen nach ihrem eigenen Rechtsverständnis zu verfahren, wird von den an »Hindutva«(Herrschaft der Hindus) orientierten als »Pseudo-Säkularismus« bezeichnet. In jeder Hetzrede gegen die Muslime wird auf die Existenz der »Muslim Women Bill« verwiesen, um darauf zu deuten, wie sehr die Muslime in Indien bevorzugt würden.

Das aktuelle Kräftemessen zwischen Bharatiya Janata Party, BJP, und dem Congress (I), das seine Zuspitzung am 25. Februar 1993 in der verbotenen und auf Narasimha Rao's Geheiß niedergeknüppelten Massendemonstration der BJP fand, ist mehr als ein Gerangel um die Macht. Es ist ein Streit um die bei indischen WählerInnen erreichte Glaubwürdigkeit in Bezug auf die jeweilige Definition dessen, was als »nationale Idee« der Indischen Republik in den 90er Jahren Geltung haben soll: Welche Interpretation der Nation und damit verbunden der »nationalen Identität« setzt sich durch, vertreten Congress (I) oder BJP die neue (alte) Idee der Hindu-Nation wahlwirksamer? Dabei steht ein offensiv vorgetragener Hindu-Nationalismus der BJP dem taktierenden, auf Wählerstimmen schielenden, versteckten Hindu-Nationalismus des heutigen Congress (I) gegenüber.

»Hindutva« als Herrschaftsideologie

Der Präsident der BJP Lal Krishna Advani titulierte in seiner Antrittsrede 1986 die BJP als „die Stimme eines ungetrübten Nationalismus. Unsere Partei ist die »Nation-hat-Vorrang«-Partei. Sie strebt an, der Herzschlag Indiens zu sein“.

»Hindutva« als selbstbewußter Slogan wiederum seit Mitte der 80er Jahre in der politischen Agitation verwendet und traf bei weiten Teilen der Hindu-Mittelschicht auch auf Resonanz. 1989, als die BJP Ramjanmabhoomi (Geburtsort Rams) bzw. Babri Masjid zum zentralen Wahlkampfthema gekürt hatte, kam sie von 2 auf 80 Sitze im Parlament und stellte seit 1991 auch die Regierung des Bundesstaates Utter Pradesh, zu dem Ayodhya gehört.

Die Forderung nach »Hindutva« ist nicht neu. Sie entwickelte sich langsam parallel zu einem erstarkenden »Hindu-Bewußtsein« in Form des sog. Neo-Hinduismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Angehörige der herrschenden Elite wie Raja Ram Mohan Roy zu Beginn des letzten Jahrhunderts (Brahma Samaj) bzw. später ein erstarktes Bildungsbürgertum und die Hindu-Priesterschaft waren Träger dieser reformorientierten Interpretation des Hinduismus. Dazu gehörte, in eindeutiger Weise zu definieren, wer »Hindu« sei. Gestützt auf die traditionell bestehende Vielfalt in Interpretationen und Praxis des Hinduismus war eine exakte Bestimmung nicht zu vollziehen. Nationalismus und Religion rückten in Auseinandersetzung mit den Briten näher zusammen. Man suchte eine funktionale inklusive, möglichst weite Fassung von »Indertum«. Die Kolonialmacht hatte in ihrem, an der Religion orientierten Familienrecht einen Hindu als jemanden bestimmt, „der weder Muslim, noch Parse, noch Christ, noch Jude ist“ 9. So eine Negativ-Definition reichte dem »Neo-Hinduismus« nicht aus. Positiv sollte sich die Hindu Community bestimmen und kämpferischer Nationalgeist schmiedete die enge Verknüpfung von „Hindi (Sprache) – Hindu (Religion) – Hindustan (Nation)“.Seit Gründung des Indian National Congress (INC) 1885 schwelte allerdings auch der Streit darum, wie der indische Nationalismus ausgefüllt werden, auf welche Kulturgeschichte er sich berufen sollte. Wer war also InderIn? Schließlich bestanden auch neben »British India« zahlreiche, von muslimischen, hinduistischen oder Sikh-Herrschern regierte Fürstentümer und Königreiche weiter. Die Briten verstanden es auch nur allzu gut, die verschiedenen Fürsten und Könige gegeneinander auszuspielen. Nachgewiesenermaßen trugen sie einen nicht unbeträchtlichen Teil zur Konstruktion »der Hindus« und »der Muslime« als »Erbfeinde« im südasiatischen Raum bei). Für eine antagonistisch definierte Identität gab es zuerst nur wenig Anhaltspunkte, herrschten Ende des 19. Jahrhunderts noch vor allem regionale geschichtliche Erfahrungen von Kasten und Klassen vor. Auch Muslime galten in der Dorfgemeinschaft als Kaste. Eine Einheit »aller Inder« gab es nicht.

Der INC wurde mit seinem Anspruch »alle Inder« politisch zu repräsentieren, auch nie anerkannt, zumal das Gros der Parteiführer und -anhänger aus Hindus bestand, eine »hinduistische« Congress-Politik betrieben wurde. B.G. Tilak machte z.B. aus dem Ganesh Fest der Hindus eine nationalistische Kundgebung. Shivaji, der (hinduistische) Marathonkönig, der im 17. Jahrhundert gegen die Vorherrschaft der (islamischen) Moghule kämpfte, wurde zum »nationalen Helden« stilisiert. Zur Mobilisierung der Massen wurden – und dies gilt später insbesondere für M. K. Gandhi – hinduistische Symbole und Begriffe verwendet. Ironischerweise führten demokratische Gepflogenheiten wie die sich an Mehrheiten orientierende Abstimmung bei nationalistischen Muslimen im INC zur Überzeugung, daß sie an einer einflußreichen Gestaltung dieser Politik nicht teilnehmen könnten.

Trotz taktischer Zugeständnisse des INC-Politikers Motilal Nehru (Vater von Jawaharlal Nehru) an Muslime, gründeten diese 1906 die Muslim League. Parallel bestand eine Organisation von Hindus, die mit der »kompromißlerischen« Politik des INC und den Zugeständnissen an Muslime unzufrieden war: die Hindu Mahasabha (Große Versammlung der Hindus). Die Hindu Mahasabha war die immer präsente Mahnung, den indischen Nationalismus mit dem von der Brahmanenelite definierten Verständnis von Hinduismus zusamenzuschließen.

Der Großteil der Bevölkerung hingegen war von dieser Politisierung der Religionen zunächst ausgeschlossen bzw. fühlte sich nach wie vor als Angehörige einer bestimmten Kaste. »Indien« bleibt bis heute für viele ein abstraktes Gebilde, das mit ihnen und ihrem täglichen Leben nichts zu tun hat. Die politische Elite in Indien war und ist sich dessen bewußt und bedient sich zur Weckung des Nationalbewußtseins (»nation building«) seit jeher alter, vertrauter Symbole, meist aus dem religiösen Bereich. Die Abstraktion »Indien« z.B. wurde dem Volk von allen Parteien durch Personifizierung nahegebracht: »Bharat Mata«, »Mutter Indien«.

In den 20er Jahren formierten sich hingegen auch Teile des Bürgertums, die von einer ganz anderen Idee beseelt waren. Nicht Trennung der Massen, nicht Appelle an religiöse Identität, sondern die Einheit der Massen gegen Unterdrückung und Ausbeutung war das Ziel. 1924 wurde, inspiriert vom Beispiel der UdSSR die Communist Party of India ins Leben gerufen.

Ein Jahr später gründete K.S. Hedgewar die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Nationale Freiwilligenvereinigung), eine strikt durchorganisierte hinduistisch-nationalistische Kaderorganisation, die eine gewichtigere Rolle als die Hindu Mahasabha zu spielen gewillt war. Angestachelt fühlten sich ihre Gründer auch von der zunehmend islamische Identität betonenden »Muslim Khilaafat« Bewegung der 20er Jahre. Der spätere Präsident der All India Hindu Mahasabha ( AIHM, 1939 – 45) V.D. Savarkar verfaßte 1923 die für die hindu-nationalistische Bewegung programmatische Schrift »Hindutva«. Darin unterstrich er, daß »Bharatiya«, also InderIn, und Hindi synonym seien. In seiner Amtszeit als Präsident der AIHM forderte er „Hinduisiert die Politik und militarisiert das Hindutum!“

Den ersten dramatischen Höhepunkt erfuhren die sich immer schärfer gegeneinander abgrenzenden Nationalismen von Hindus und Muslimen in der Spaltung des Subkontinents 1947. Die nach dem II. Weltkrieg hergestellte bipolare Weltordnung mit Großbritannien im westlichen Lager, hatte letztendlich die Teilung auch nicht ungern gesehen, konnte man doch die zwei neuen, sich nicht freundlich gesinnten Staaten in die Polarisierung der Welt einspannen.

1947 äußerte V. D. Savarkar sich zur indischen Nation und bezeichnete es als „das natürlichste von der Welt, daß Hindus eine Nation, Hindustan“ bilden.

Millionen Menschen mußten für Muslim- und Hindu-Nationalismen ihre Heimat oder ihr Leben opfern. Die schreckliche Erfahrung hat sich bei Hindus, Muslimen und Sikhs tief eingegraben. Viele haben daraus jedoch den falschen Schluß gezogen und diese Art von Nationalismus ihrerseits unterstützt. Im Alltagsleben sind Vorurteile gegen die jeweils andere »community« weit verbreitet.

Zentrale Elemente der »Hindutva«-Ideologie

Als die größten Feinde von »Hindutva« gelten die »inneren Feinde«, wie es der RSS Ideologe M.S. Golwalkar in den 60er Jahren ausdrückte: „Muslime, Christen und Kommunisten“.

Der Hindu-Nationalismus der Hindu Mahasabha und RSS bestimmte alles als »fremd«, was nicht hinduistisch war und bemühte sich andererseits darum, die Hindu-Mehrheit möglichst umfangreich zu definieren. Die Sikhs beispielsweise, die im heutigen Indien etwa 2% der Gesamtbevölkerung ausmachen, gelten als Hindu-Sekte. Eine besondere Ironie dieser Sichtweise besteht darin, daß der Gründer des Sikhismus' Guru Nanak, im 15. Jahrhundert Teil einer seit dem 10. Jahrhundert vom Süden sich ausbreitenden Prostestbewegung (»Bhakti«) gegen den »Brahmanismus«, die brahmanische Interpretation des Hinduismus, und insbesondere gegen das Kastenwesen war. Er strebte die Versöhnung von Hinduismus und Islam durch Verbindung der jeweils als moralisch gut empfundenen Stärken beider Religionen an, betonte den Gleichheitsgrundsatz der Menschen vor Gott und den Monotheismus. Dies sind bis heute Grundsätze der Sikh Religion.

Auch Adivasis (Stammesangehörige) und Dalits (Nicht-Kastige) werden vom Anspruch auf die Einheit aller Hindus erfaßt. Dabei spielen mehrere Erwägungen eine Rolle. Zum einen natürlich die Bemühung, möglichst viele Menschen in die Bewegung zu integrieren. Zum anderen waren es gerade die als politischer Protest der Dalits auf Dr. B.R. Ambedkar zurückgehenden Massenkonversionen zum Buddhismus, die das Konzept der Mehrheitsbeschaffung für »Hindutva« durchkreuzten. Ein großer Anteil der heutigen muslimischen Bevölkerung in Indien besteht aus konvertierten niedrig- oder nicht-kastigen Hindus.

Ein wichtiger Aspekt zur Schmiedung der wehrhaften »Hindu-Identität« ist die Konstruktion einer Bedrohung, der sie angeblich unterliegt. Hindus kämen, so die hindu-nationalistische Behauptung, nicht „zu ihrem Recht“, weil der Staat, der aus dieser Sichtweise ja eigentlich die „natürliche Heimstatt der Hindus“ darstellen müsse, eine andere, »un-indische« Bevölkerungsgruppe bevorzuge: die Muslime. Das macht Hindu-Nationalisten bisweilen zu unversöhnlichen Gegnern des Congress (I), dem sie „Pseudo Säkularismus“ vorwerfen, weil in der Nehru-Tradition Minderheiten Sonderrechte zugestanden wurden (s.o.)

Geschichtsklitterung zur Rechtfertigung anti-muslimischer Gefühle

In der Vergangenheit der nordindischen Regionen hatte es eine acht Jahrhunderte dauernde Eroberung durch muslimische Herrscher gegeben. In zahlreichen Schlachten zwischen ihnen und den lokalen hinduistischen Königen baute sich eine dauerhafte Erfahrung des Gegensatzes auf. An diesem Punkt sollte jedoch auch der Hinweis erlaubt sein, daß diese Erfahrungen Herrscher und Priester sicherlich anders prägten als Bauern, Handwerker oder Händler. Ob die Untertanen diese Zeiten als einen Gegensatz zwischen den Religionen, als etwas, das ihren Alltag besonders einschneidend veränderte, ansahen, muß bezweifelt werden; zumal nicht jeder islamische Herrscher die ihm Unterworfenen automatisch unter seine Religion (z.B. Akbar) und eine jeweilige Steuer- und Abgabenpolitik die Leute wesentlich härter traf. Nichts destotrotz gab es eine handfeste Feindschaft zwischen den sich bekämpfenden Herrschern, die ihre jeweilige Religion meist als »Staatsreligion« begriffen.

Im Streit um Ramjanmabhoomi/Babri Masjid in Ayodhya trat jedoch die sehr eigenwillige Geschichtsinterpretation der »Hindutva«-Parteien von heute wieder deutlich zutage: islamische Herrscher der vorangegangenen Jahrhunderte gelten als „Fremde, Zerstörer, Barbaren“.

Im Süden Indiens ist »Hindutva« bezeichnenderweise von weitaus geringerer Attraktivität, obwohl auch hier prozentual die Hindus die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Der konstruierte Verweis auf die »Hindu Community« kann seinen historischen »Beweis« nur mit Anlehnung an Erfahrungen des Nordens stiften. Umgekehrt hatten sich zahlreiche Ureinwohner Indiens, die Draviden, vor den Attacken der ca. 1500 v. Chr. eingedrungenen vedischen Arier der Unterwerfung unter ihre Religion in den Süden zurückgezogen. Im Dravidischen Süden können Hindu-Nationalisten kaum an Gefühle gemeinsamer Kultur und Geschichte appellieren.

Das konstruierte Geschichtsbild wurde um das Bild vom »Muslim«, der »eigentlich« seine Heimat nicht in Indien haben könne, bereichert. Seit der Schaffung von Pakistan erhielt dieser prinzipielle Verdacht auch eine materielle Gestalt. Der Staat Pakistan gilt als die „Heimstatt der Muslime“ des Subkontinents, zumindest wenn man Hindu- und Muslim-Nationalisten glauben will. Gegen alle Muslime, die nach 1947 in der Republik Indien blieben, und das waren immerhin die Hälfte der damals dort lebenden Muslime, wird der Verdacht gehegt, sie seien „verkappte Pakistani“, also quasi Ausländer, einem anderen Staat loyal. Die Schaffung Pakistans und Indiens hatte den religiös fundierten Nationalismus auf beiden Seiten praktisch bestätigt und ist seitdem in Indien ständiger Bezugspunkt für Mißtrauen und Haß gegenüber Muslimen. Ihr Status als Minderheit im demokratischen System der Mehrheiten trug dazu bei, daß ihre religiöse Zuordnung automatisch politisiert wurde.

Die Entwicklung seit den 80er Jahren

Als 1948 Nathuram Godse Mahatma Gandhi ermordete, kam in diesem Akt die kompromißlose Haltung eines Großteils politisierter Hindus gegen Muslime zum Tragen. In den Augen des Attentäters hatte sich der Mahatma gegen »Hindutva« versündigt, indem er für die Versöhnung von Muslimen und Hindus eintrat und sich gegen die Schaffung von Indien und Pakistan aussprach. Godse stand ideologisch der RSS sehr nahe, die einige Tage nach dem Attentat, am 4.2.1948 verboten wurde. Zehntausende ihrer Mitglieder hatten sich am Symbol des unabhängigen Indien vergangen. Hindu-Nationalismus galt als verpönt. Mit der nehruschen religionenübergreifenden Politik konnten sich weite Teile der indischen Mittel- und Oberschichten identifizieren. Fast idealistisch widmeten sie sich dem Aufbau der jungen Republik, glaubten an das demokratische Bekenntnis „Wir sind alle Inder“, zumal sie von den meist sehr armen Muslimen in Indien auch keine Infragestellung ihres Besitzstandes zu befürchten hatten. Der Feind saß außen: Indien betonte seine Position als Ordnungsmacht im südasiatischen Raum und führte kurz hintereinander drei Kriege, zwei gegen Pakistan und einen gegen China.

Interessanterweise förderte Indien den Unabhängigkeitskampf des ehemaligen Ost-Pakistans gegen West-Pakistan, beides mehrheitlich von Muslimen bewohnte Gebiete, bis Bangladesh 1972 mit indischer Unterstützung seine Unabhängigkeit erklärte. Erst 1977 erhielt die RSS wieder Auftrieb und politisches Gewicht. Nach der brutalen Notstandsregierung Indira Gandhis gewann die Janata Party (Volkspartei) in diesem Jahr die Wahlen zum nationalen Parlament. Zahlreiche Kader der Janata Party stammten aus der RSS, insbesondere aus der Studentenorganisation Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad. Der parlamentarische Flügel, die Bharatiya Jana Sangh (BJS, Indische Volksvereinigung), war Teil der Janata Koalitionsregierung. Diese zerbrach schließlich unter anderem am Streit zwischen den Parteigängern der BJS, die nun eine stärker an der indischen Hindu-Mehrheit orientierte Politik betreiben wollten, und der Opposition von Anti-RSS-Kräften innerhalb der Janata Party.

Der endgültige Bruch mit dem nehruschen Verständnis von »Säkularismus«, der versucht hat, den Mehrheits-Nationalismus von Hindus nicht gegen andere religiöse Minderheiten, sondern mit ihnen für die Idee einer gesamtindischen Identität zu mobilisieren, wurde von der 1980 mit Triumph ins Amt der Premierministerin zurückkehrenden Indira Gandhi vollzogen. In den 80er Jahren versuchte sie gezielt den bei hinduistischen Mittel- und Oberschichten offener zutage tretenden Hindu-Nationalismus anzusprechen und zu fördern und damit den RSS/VHP-Kräften das Wasser abzugraben. Diese hatten 1980 für die Umsetzung ihrer »Hindutva«-Politik eine neue Partei gegründet, die ihrerseits das parlamentarische Gegengewicht gegen den Congress (I) darstellen sollte: die BJP.

Kennzeichen und Strategie seit den 20er Jahren war es immer gewesen, die Aktivitäten und Ideen der Hindutva-Bewegung möglichst breit zu streuen. So organisierte sich die RSS in Zellen. Da keine Listen über die Mitglieder geführt werden, kann man ihre Zahl nur ungefähr angeben. Heute geht man von ca. 2 Mio. aus. Weitere 5 Mio. gehören den Bruderorganisationen an: Akhil Bharatiya Vidhyarti Parishad (Gesamtindische Schüler- und Studentenvereinigung) ist an fast allen Universitäten vertreten; Bharatiya Mazdoor Sangh, der Gewerkschaftsflügel, organisiert allein ca. 2 Mio. Arbeiter.

Die einflußreichste, auch finanzkräftigste Organisation ist die 1964 gegründete Vishwa Hindu Parishad (VHO, Weltrat der Hindus). Mit welchem Geschick es die Führer der VHO verstehen, gerade auch im Ausland die Gleichung Hindu=Inder durchzusetzen, zeigte sich jüngst in Frankfurt/M.. Hier tagte im August 1992 die Welthindu-Konferenz. Während in Indien BJP-Präsident Dr. Murli Manohar Joshi oder VHP-PolitikerInnen wie die radikale Sadhavi Rithambara die Hetze gegen Muslime vorantrieben und die Vorbereitungen zur Zerstörung der Babri Masjid liefen, gaben sie sich auf ihrer Weltkonferenz als humanistisch gesinnte Weltbürger. Grußadressen und finanzielle Unterstützung deutscher Politiker durften nicht fehlen, sind einige der im Ausland lebenden VHP-Mitglieder doch so finanzkräftig, daß sie über die Treuhandanstalt Betriebe in den neuen Bundesländern aufkaufen. So wird auch hier in Deutschland mit politsicher und universitärer Unterstützung (die Veranstaltung fand an der J.W. Goethe Universität statt) das tatsächlich aufgrund von Unwissen verbreitete, undifferenzierte Fehlurteil gefördert, in Indien lebten Hindus, die quasi von Natur aus furchtbar tolerant seien. In der Grußadresse eines Frankfurter Professors hieß es bspw.: „Hinduismus ist die toleranteste der Religionen …“. Swami Chinayananda verkündete: „Rama gehört Jedem“. In Indien fielen Tausende Muslime unter den „Jai Sri Ram“-Rufen (Hoch lebe Gott Ram) dem Hindu-Nationalismus zum Opfer.

Solange mehr als 2/3 der indischen Bevölkerung in Armut und in sozialen Verhältnissen leben, in denen Kastenzugehörigkeit und Religion stabilisierende und exklusive Wirkung haben, also eine Verständigung zwischen den Volksgruppen vereitelt, können religiöse Gefühle für politische Zwecke weiterhin leicht mobilisiert werden.

Anmerkungen

1) Außer Prof. Dr. Jürgen Lütt vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg gibt es kaum Gesellschaftswissenschaftler, die sich schwerpunktmäßig mit »Hindu-Nationalismus« auseinandersetzen und dazu veröffentlichen. Sehr interessant ist Lütts Aufsatz: „ Der Hinduismus auf der Suche nach einem Fundament“, in: Kochanek, Hermann (Hrsg.): Die verdrängte Freiheit: Fundamentalismus in den Kirchen, Herder Verlag, Freiburg i.B. u.a., 1991 Zurück

2) Gyanendra Pandey: Hindus und Others: The Militant Hindu Construction, in: Economic and Political Weekly, Bombay, Dec. 28, S. 2997-3009 Zurück

3) Pandey, Indu Prakash: Regionalism in Hindi Novels, Beiträge zur Südasien Forschung des Südasien-instituts der Universität Heidelberg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, 1974, S. 132 ff. Zurück

4) Upadhyaya, Prakash Chandra: The Politics of Indian Secularism, in: Modern Asian Studies, 26, 4 (1992), Cambridge University Press, S. 815-853 Zurück

5) Chandra, Bipan: Communalism in Modern India, Vikas Publishing House, New Delhi, 1984 Zurück

6) Engineer, Asghar Ali (ed.): Babri Masjid Ramjanambhoomi Controversy, Ajanta Publications (India), 1990 Zurück

7) Upadhyaya, P. Ch., a.a.O., S. 821/22 Zurück

8) Upadhyaya (1992) erklärt dieses Phänomen, das er als »majoritarianism« bezeichnet. Zurück

9) Lütt, Jürgen, 1991, a.a.O. Zurück

Brigitte Schulze ist freie Autorin und lebt in Frankfurt / Main

Kirchen und Friedenspädagogik. Eine heilige Allianz?

Kirchen und Friedenspädagogik. Eine heilige Allianz?

von Sebastian Klusak

Noch immer gilt, was R. Kabel Mitte der siebziger Jahre formuliert hat: „Die Friedenspädagogik sollte bescheidener auftreten. Die Existenz des Wortes Friedenserziehung bedeutet ja noch nicht, daß die mit ihm bezeichnete Sache auch möglich ist.“1 In der Tat: die schizophrene Situation der Friedenspädagogik, nämlich, daß es eine Praxis der Friedenserziehung gibt, aber keine auch nur ansatzweise befriedigende Theoriebildung dazu, läßt Kennern der Szene gerade in letzter Zeit immer öfter die Haare zu Berge stehen.

So führte, um nur ein Beispiel zu nennen, die unter dem Einfluß attributionstheoretischer Konzepte vonstatten gehende sogenannte „kognitive Wende“ der Psychologie dazu, daß die Sozialpsychologie noch weniger als vorher in der Lage ist, der Friedenspädagogik in den für sie lebensnotwendigen Fragen (z.B. die Entstehung von Aggressivität und feindlichen Heterostereotypen wie Feindbildern und der sinnvolle Umgang damit) stringente Erklärungsmodelle zu liefern. Dessen ungeachtet persistiert – gerade im Bereich von Unterrichtsmodellen – eine Vielzahl von friedenspädagogischen Praxisentwürfen, die stillschweigend von einer wie auch immer gearteten Beantwortung dieser Fragen ausgehen.2 Nichts gegen eine Pluralität der Konzepte – aber gerade die Tatsache, daß man wissenschaftstheoretisch (gelinde gesagt) auf mehr a/s tönernen Füßen steht, dient doch den gegenwärtig festzustellenden staatlichen Rückzugstendenzen aus der Friedenspädagogik (Reduzierung des Anteile an den Lehrplänen, Kürzung der Mittel) als willkommenes Alibi.

Hieran zeigt sich einmal mehr, daß wissenschaftstheoretisches Image und gesellschaftliche Anerkennung der Existenzberechtigung eng zusammenhängen Um so erstaunlicher, daß es eine gesellschaftliche Großgruppe gibt, die sich am chronischen Theorie- (und Erfolgs-?) Defizit von Friedenserziehung nicht stört, sondern diese sogar zu ihrem Selbstauftrag gemacht hat: die Kirchen. Im folgenden sollen Ziele und Praxis des kirchlich-friedenspädagogischen Engagements dargelegt werden. Dabei soll außerdem deutlich werden, daß „kirchliche“ Friedenspädagogik zwei alte Grundanforderungen an friedenspädagogische Praxis erfüllt: zum einen, auch anders als rein kognitiv, und zum anderen, den Sozialisationsprozeß über einen längeren Zeitraum begleitend zu wirken. Als Textgrundlage sollen uns zunächst die friedensethische Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz („Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983, im folgenden „GSE“ abgekürzt) und die des Rats der EKD („Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981, abgekürzt „EKD“) dienen. Mit einer in die Hunderttausende gehenden Gesamtauflage (die Stellungnahmen wurden in den Gemeinden verteilt und diskutiert) brachten die Kirchenleitungen dabei, wie wir gleich sehen werden, nicht nur medienpädagogische Lerninhalte, sondern auch gleich die dazugehörigen Vermittlungsstrategien unters Kirchenvolk: Die Stellungnahmen widmen sich nämlich teilweise jeweils seitenlang (!) folgenden Themen: Ursachen und Geschichte des Ost-West-Konflikts, derzeitige weltpolitische Situation, Ursachen und Stand des Rüstungswettlaufes bzw. Der Abrüstungsverhandlungen, Funktionsweise und Kritik der nuklearen Abschreckung, Interdependenzen von Nord-Süd-Konflikt und Rüstungsspirale, Gefährdungen des Kräftegleichgewichts durch neuere waffentechnologische Entwicklungen, Ursachen und Funktionsweisen von Feindbildern und Bedrohtheitsvorstellungen, menschliche Aggressivität und die Gefahr, diese in den „Gegner“ hineinzuprojizieren etc. pp. Dann nennen sie auch gleich Methoden, mit denen den erwähnten Konfliktursachen zu Leibe gerückt werden solle: Von den Politikern fordern sie, der nuklearen Abschreckung solle zugunsten eines Primats der Friedenssicherung mit politischen Mitteln ein Ende gemacht werden, und setzen sich daher für gradualistische (bei EKD sogar einseitige) Abrüstungsschritte und ein defensives Verteidigungskonzept ein; sie fordern den sofortigen Stop der Rüstungsexporte und die Umstellung der Rüstungsindustrie auf die Produktion ziviler Güter; ferner sollten die Politiker aufhören, bestimmten Staaten eine grundsätzliche Feindschaft gegenüber dem eigenen System zu unterstellen, stattdessen die Öffentlichkeit zwischen den realen Interessensgegensätzen zwischen den Staaten informieren und dazu willens und fähig sein, gemeinsam mit dem „Gegner“ kooperative Konzepte der „gemeinsamen Sicherheit“ (sic!) zu suchen. EKD fordert von Medien und Politikern ein Ende der Darstellung und Verherrlichung von Gewalt; GSF spricht sich gegen eine Erziehung zum Freund-Feind-Denken in den Schulen aus und fordert eine Einbeziehung von Fachleuten wie Psychologen und Friedensforschern in die politische Bildungsarbeit. Dabei nehmen die Stellungnahmen als Adressaten stets besonders die „christlichen“ Politiker in die Pflicht, indem sie an deren „christliche Verantwortung“ appellieren. Aber nicht nur Politiker, sondern auch alle anderen Gruppen und Organe der Kirchen bekommen ihre friedenspädagogischen Ermahnungen auf den Weg. Diese sind indessen nicht als neue friedenspädagogische Hausaufgaben zu lesen, sondern als Beschreibung dessen, was in den Kirchen bereits seit einiger Zeit in Wort und Tat praktiziert wird, weswegen sie uns als – wenn auch unvollständige – Beschreibung der friedenspädagogischen Vermittlungsbemühungen der Kirchen dienen können: den Gemeinden wird neben Gottesdiensten Aktionswochen für den Frieden, Friedensdekaden etc. das Eingehen von Partnerschaften mit Gemeinden in anderen Ländern und das konkrete Einüben von Versöhnung durch persönliche Kontakte mit ausländischen Mitbürgern und verstärktes Engagement in den kirchlichen Entwicklungshilfeorganisationen empfohlen. Die christlichen Eltern und Erzieher werden zu einer Intensivierung der Erziehung zu friedlichem Konfliktaustrag und Einsatz für den Frieden aufgerufen: Erwachsene und Jugendliche werden ermahnt, auch bei Enttäuschungen ihr Engagement nicht aufzugeben und sich besonders fr die Durchsetzung der oben erwähnten sicherheitspolitischen Forderungen an die Politiker stark zu machen; außerdem wird ihnen dringend empfohlen, der öffentlichen Meinung in Friedensfragen kritisch gegenüberzustehen und sich durch sachkundige Information lieber selbst ein Bild von der Lage zu machen. Als Hilfestellung dazu kündigen die Kirchenleitungen eine Verstärkung ihrer Aufklärungsarbeit in Form von weiteren öffentlichen Stellungnahmen, Sachinformationen (besonders für die kirchliche Bildungsarbeit) an und realisierten dies später auch; den kirchlichen Medien wird (ebenfalls erfolgreich) mehr friedenspädagogisches Engagement nahegelegt. Ähnliches gilt für den kirchlichen Religionsunterricht. EKD rät den Eltern zu einem Verzicht auf Kriegsspielzeug und warnt vor einer Vorführung von Gewalt im Schausport; GSF ruft zur Verstärkung der Arbeit für den Frieden bei den kirchlichen Verbänden, Fachgremien und kirchlichen Gemeinden auf.

Die Adressaten dieses Empfehlungskatalogs zeigen uns beispielhaft die ganze Breite kirchlich-friedenspädagogischer Einwirkungsmöglichkeiten auf die (sekundäre und tertiäre) Sozialisation von im kirchlich beeinflußten Raum Heranwachsenden: Das Kirchengemeinderatsmitglied, das die alljährliche Friedenswoche vorbereitet, praktiziert und erfährt ebenso Friedenspädagogik wie der Pfarrvikar, der mit seiner Konfirmandengruppe ein Rollenspiel zur Einübung von friedlichem Konfliktaustrag einübt oder Stellungnahmen seiner Kirchenleitung wie die gerade Besprochenen von der Kanzel verliest. Gleichzeitig gilt es, die starke Präsenz nonkognitiver, besonders handlungsorientierter Lerngelegenheiten für den Frieden zu konstatieren: Ohne dies hier motivationspsychologisch näher ausführen zu können, dürfte doch auf den ersten Blick einsichtig sein, daß der Jugendliche, der mit seiner Pax-Christi- oder Ohne-Rüstung-leben-Gruppe durch einen Informationsstand in der Fußgängerzone Passanten auf die Gefahren der Hochrüstung aufmerksam zu machen sucht, friedenspädagogischen Lernprozessen ganz anderer Art unterworfen ist, als er durch friedenspädagogische Unterrichtseinheiten im Schulunterricht erfährt oder als das Gemeindemitglied, das sich zur Teilnahme an einem der (zahlreichen) friedenspolitischen Seminare der kirchlichen Erwachsenenbildung entschlossen hat.

Wenden wir uns nun den Eigenarten des spezifisch religiös-christlichen Redens vom Frieden zu. Dieses weist nämlich bekanntermaßen einige inhaltliche Parallelitäten mit aus der Sozialpsychologie stammenden Lerninhalten der Friedenspädagogik auf: Erstens findet das psychologische Konstrukt „menschliche Aggressivität“, wie Religionspsychologen immer wieder betonen, 3 seine Entsprechung in der christlichen Vorstellung von der „Erbsünde“ (schon Kain erschlug seinen Bruder Abel). Damit zusammen hängt zweitens der sowohl von Theologie als auch von Sozialpsychologie vertretene Gedanke, daß zwischen dem Frieden mit sich selbst (d.h. auch dem gelungenen Umgang mit der eigenen Aggressivität), dem Frieden mit den „Nächsten“ und dem zwischenstaatlichen Frieden eine Wechselwirkung besteht. Beide dementsprechenden Lerninhalte der Friedenspädagogik sind dem kirchlich Sozialisierten also bereits vertraut. Drittens hat christliches Reden vom Frieden zum einen einen normativen Aspekt (vgl. die neutestamentlichen Aufforderungen zur Feindesliebe) und zum anderen einen prophetisch-eschatologischen Charakter (vgl. die Verheißungen der Bergpredigt). Dadurch entfaltet sowohl die appellative Kraft moralischer Standards als auch die bekanntermaßen mobilisierende und insofern affektive Wirkung 4 von Utopievorstellungen. Darüber hinaus geht kirchlichem Reden vom Frieden sehr oft eine stark metaphorische, genauer: in apokalyptische Termini gekleidete Beschreibung der Schrecken des Kriegs voraus.5 Diese dient (teilweise sogar explizit!) dazu, die Grauen des Krieges vor dem Vergessen zu bewahren und so den Einsam der Rezipienten für den Frieden zu befördern. So sprach z.B. Papst Paul VI. vom Krieg als „den unerhörten und verhängnisvollen Weltbränden, die die Menschheit dezimieren, ja fast völlig auslöschen können“, der immer „das Blutopfer unschuldiger Menschen und unzählige Zerstörungen“ im Gefolge hat und in dem „blinde und fanatische Mörder Massaker von so unglaublicher Brutalität anrichten wie das am 6. August 1945 in Hiroshima.“6 Vor der UN sagte er: „Die Erinnerung müßte genügen, daß das Blut von Millionen von Menschen, unzählbare und unerhörte leiden, nutzlose Gemetzel und schreckliche Ruinen den Pakt, der euch einigt, begründet haben. Dieser Eid müßte die zukünftige Geschichte der Welt ändern: Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg!“7 Und Papst Johannes Paul II. beschwor vor einem Millionen umfassenden Fernsehpublikum 8 die Gefahren des Atomkriegs und sagte dann: „Manche derjenigen, die die Realität eines bewaffneten Konfliktes zwischen Völkern niemals persönlich erlebt haben, möchten vielleicht die bloße Möglichkeit eines Atomkriegs beiseiteschieben. (…) Die fortwährenden Vorbereitungen zum Krieg, auf die die Produktion von immer stärkeren und komplizierteren Waffen hindeutet, zeigen, daß man zum Krieg bereit sein will.“ Daß solche Verbalisierungen des Schreckens der atomaren Drohung nötig und sinnvoll sind, hat die Friedenspädagogik in letzter Zeit zunehmend erkannt – allerdings mit einiger Verspätung, denn die sozialpsychiatrische Fachdiskussion über die psychischen Folgen der nuklearen Drohung beschäftigt sich bereits seit einiger Zeit mit der Tatsache, daß es eine individuelle Verdrängung des durch einen atomaren Krieg drohenden eigenen Todes, eine „nukleare Fühllosigkeit“ (R. J. Lifton) 9 gibt: „Die Angst muß weg – um jeden Preis!“ (H. Keupp) 10 Dieser Tendenz zur Verdrängung und Angstabwehr kann u.U. durch eine Verbalisierung des Schreckens begegnet werden – allerdings nur, wenn sie mit Hinweisen auf Handlungsweisen, in die der Einzelne seine Angst umsetzen und somit mit ihr leben kann, verbunden wird. Franz-Josef Esel formuliert das so: „An dieser Stelle wird vielleicht etwas deutlicher, warum manche Aktionen der Friedensbewegung auf verhältnismäßig wenig Resonanz stoßen, solange sie sich nur auf das Vermitteln von Angst beschränken. Wenn die erlebte Angst nicht zur Resignation führen soll, was lediglich eine noch stärkere Abwehrhaltung zur Folge hätte, dann müssen bei Aktionen, die auf das Vermitteln von Betroffenheit zielen, zugleich stets Handlungsweisen aufgezeigt oder angeboten werden, die es erlauben, wenigstens einen kleinen Teil dieser Angst produktiv umzusetzen.“11 Dieser sozialpsychiatrischen Forderung entspricht, wie wir gesehen haben, kirchliches Reden vom Frieden, denn dieses stellt seinen Hörern ja nicht nur die schrecklichen Wirklichkeiten eines Nuklearkriegs vor Augen, sondern ruft zugleich auch zum Engagement in den kirchlich angebotenen friedenspädapogischen Handlungsmöglichkeiten auf. Dabei wäre es indessen verfehlt, kirchlichem Reden vom Frieden ein generelles Wissen um die psychische Relevanz seiner Inhalte zu unterstellen. Denn dieses Reden geschieht nicht aus therapeutischer (auch nicht seelsorgerischer) Verantwortung, sondern entspringt schlicht traditionell vermittelten Sprach- und Denkgewohnheiten christlicher Theologie.

Nach dem hier Gesagten dürfte uns langsam klargeworden sein, daß es eben kein Zufall ist, daß z.B. die großen Kundgebungen und Demonstrationen der Friedensbewegung ob ihres Publikums häufig „einem Kirchentag ähnlicher als einer Demonstration“ 12 waren (und daß die christlichen Friedensgruppen dementsprechend im Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung dominierten) – obwohl der Anteil kirchlich Sozialisierter an ihren Gesamtjahrgängen derzeit nur bei ca. einem Zehntel anzusetzen ist. Wir wissen nun auch, daß es ebensowenig ein Zufall ist, daß viele der Embleme der Friedensbewegung (von der Friedenstaube über Friedenskreuze bis zum „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Aufstecker) der christlichen Symbolik entstammen oder daß sich z.B. bundesdeutsche Richter noch immer mit schöner Regelmäßigkeit mit pazifistischem Gedankengut vorzugsweise christlicher Provenienz konfrontiert sehen, wenn sie über manche Aktionen zivilen Ungehorsams oder Kriegsdienstverweigerungsverfahren zu befinden haben. 13 Schließlich wundert es uns nun auch nicht mehr, daß die Kirchen eine der wenigen gesellschaftlichen Großgruppen sind, in denen das Thema „Frieden schaffen“ auch nach Vollzug der NATO-Nachrüstung und bis heute eine vieldiskutierte Frage geblieben ist. Wohl aber bleibt eine Frage offen: Wenn Kirchen Friedenspädagogik zu ihrem Selbstverständnis zählen, wenn sie sie (wie wir nun vermuten dürfen, mit einigen Erfolgen) praktizieren – was hindert Friedenspädagogik eigentlich daran, in der Auseinandersetzung um ihre wissenschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Daseinsberechtigung auf, die Arbeit der Kirchen zu verweisen und auch die diesbezügliche institutionelle Zusammenarbeit mit ihnen zu verbessern? Nun: etwas mehr wechselseitige institutionelle Zusammenarbeit im friedenspädagogischen Wissenschafts- und Lernbetrieb wäre sicher möglich und bekäme sowohl der Friedenspädagogik als auch den Kirchen wohl nicht schlecht. Eine heilige Allianz zwischen beiden aber wird es solange nicht geben können, wie der volkskirchliche Charakter der Kirchen und deren damit verbundene Tendenz zur politischen Neutralität die Kirchenleitungen daran hindert, auf die politischen Entscheidungsinstanzen spürbaren Druck zur Erfüllung der eigenen friedenspolitischen Forderungen auszuüben. Denn diese entsprechen zwar, wie wir gesehen haben, inhaltlich dem, was auch in der Friedenspädagogik gelehrt wird, sind aber gerade deswegen im politischen Spektrum eindeutig als progressiv einzuordnen und würden somit eine (vermeintlich) kirchenpolitisch nicht vertretbare „Einseitigkeit“ bedeuten. Die Haltung beider großen deutschen Kirchenleitungen zum NATO-Doppelbeschluß hat dies gezeigt: die Kirchen verurteilten zwar moralisch sowohl Abschreckung als auch (fast) die gesamte staatlich praktizierte Sicherheitspolitik, sagten aber gleichzeitig deren (wenn auch eingeschränkte) vorläufige Duldung zu. So haben also schließlich beide, Friedens Pädagogik und Kirchen, ihre friedenspädagogische Schizophrenie: Beide praktizieren Friedenspädagogik – aber die Friedens Pädagogik selbst hat keine Wissenschaft dazu und die Kirchen nicht den politischen Gestaltungswillen.

Anmerkungen

1 Kabel, K.: Notwendig, wenn auch fast unmöglich: Die Erziehung zum Frieden. In: Materialien zur politischen Bildung 2,1974, S. 50 Zurück

2 So zu.: Dick, Lutz v. (Hg.): Lernen in der Friedensbewegung. Ideen für pädagogische Basisarbeit. Weinheim/Basel 1987 und Buddrus, V., Böversen. F. (Hg.): Auf dem Wege zu einer neuen Lernkultur. Ansätze für Friedenspädagogik. Baltmannsweiler 1987 Zurück

3 Vgl. Drewermann, E.: Der Krieg und das Christentum. Regensburg 1982 Zurück

4 Vgl. dazu Drewermann, E (a.a.O.), S. 338-42 Zurück

5 Textbeispiele hierzu finden sich in dem (sonst wenig überzeugenden) Aufsatz von Eugen Mahler: Christliche Botschaft und Apokalypse. Ein psychohistorischer Prozeß ohne Zukunft? In: Passet, P., Modena, E. (Hg.): Krieg und Frieden aus psychoanalytischer Sicht. München/Zürich 1987, S. 259-89 Zurück

6 Botschaft zum Weltfriedenstag 1976 vom 18.10.1975. Der Weltfriedenstag ist ein nachkonziliar eingerichteter, weltweit gefeierter Friedensgedenktag der katholischen Kirche. Zurück

7 Ansprache zu deren Vollversammlung 1965. Zurück

8 Ansprache vor dem Friedensdenkmal in Hiroshima am 25.2.1981. Zurück

9 Lifton, R. J.: Der Verlust des Todes. ober die Unsterblichkeit des Menschen und die Fortdauer des Lebens. Münster 1986, S. 411 Zurück

10 H.: Das Ende der „atomaren Gelassenheit“? Psychische Kosten der Bewältigung des Nicht-Bewältigbaren. In: Thompson, J.: Nukleare Bedrohung. Psychologische Dimensionen atomarer Katastrophen, München/Weinheim 1986, S. 194 Zurück

11 Esel, F. J.: Neurotische Angstlosigkeit und richtige Angst. Zur belebenden Funktion der Angst für die Friedenspraxis. In: Psychosozial 19, September 1983, S. 39. Vgl. ebenso Wilhelmer, B.: Emotionale Angst und rationales Handeln: kein Gegensatz. In: Bolm G. et al./Dt. Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (Hg.): Bewußtsein für den Frieden. Erster Friedenskongreß Psychosozialer Berufe. Weinheim/Basel 1984, S. 157-61 Zurück

12 FAZ (!)vom 12.10.1981 Zurück

13 In der Bundesrepublik gibt es ca. 750 kirchliche Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer. Zurück

Sebastian Klusak, M.A., ev. Theol. u. Pädagogik, Heidelberg

Kultur und die Fähigkeit zum gesellschaftlichen Überleben.

Kultur und die Fähigkeit zum gesellschaftlichen Überleben.

Kulturtheoretische Überlegungen zu Krieg und Frieden1

von Dieter Kramer

Hermann Bausinger zitiert 1985 ein Erzählmotiv aus dar Schweiz: „Man weiß nicht mehr, ob es Kaiserliche oder Franzosen waren. Sie bestiegen die Bäume, hieben mit Säbeln die Äste ab und verspeisten die Kirschen am Boden“.2 Und in einer Darstellung der „Kronberger Fehde“ von 1398 im Historischen Museum Frankfurt ist festgehalten, wie die Frankfurter in den Kronberger Wäldern Bäume entrinden und dadurch zum Absterben bringen. „Das ganze Elend das Krieges“3, so Hermann Bausinger zu der von ihm zitierten Episode. Ja mehr noch: die damals denkbare größtmögliche Steigerung der Brutalität des Krieges, die nicht nur das gegenwärtige Leben, sondern auch die Zukunft zerstört.

1. Kulturmuster des Krieges

Daß dies überhaupt auffällt (und Viktoria Schmidt-Linsenhoff hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß in der Frankfurter Darstellung der Kronberger Schlacht gerade dieses Geschehen deutlich hervorgehoben ist, es daher bewußt als etwas besonderes interpretiert werden muß), deutet darauf hin, daß es selbst innerhalb der Gewohnheiten der Kriegführung als etwas nicht tagtägliches betrachtet werden muß.

Solche Details können ein erster Zugang zur kulturwissenschaftlichen Erörterung des Themas sein. Stammesgesellschaften, vorfeudale Gesellschaften Verschiedenster Form, konnten mit ritualisierten Kriegsführungsmethoden leben, die territoriale Abgrenzungen bestätigten oder modifizierten, auch möglicherweise Funktionen bezüglich der Steuerung des Bevölkerungswachstums hatten, aber keine völlige Vernichtung des Gegners anstrebten oder bedeuteten.4 Genozid-Kriege freilich gab es wohl auch – aber nicht dort, wo verschiedene Völkerschaften über lange Zeit hinweg sich ein Territorium teilten.

Es gibt also Formen, in denen Gesellschaften ihre Aggression bis zum Krieg ausleben, ohne jedoch die Überlebensfähigkeit der beteiligten Gruppen prinzipiell infrage zu stellen. Es gibt also (und das bestätigt die Verhaltensforschung mit ihrem Hinweis auf die „Plastizität“ menschlichen Verhaltens) 5 keinen Automatismus, der von Aggression über Krieg zur notwendigen Selbstvernichtung der Menschheit führt.

2. Kultur und Überlebensfähigkeit

In der bisherigen Friedens- und Konfliktforschung sind die Kulturwissenschaften (und damit die Frage, inwieweit die kulturellen Strukturen mit beitragen zu Krieg und Frieden) nicht stark in Erscheinung getreten. Ekkehart Krippendorf hat zwar schon 1968 darauf hingewiesen, daß auch die Kulturanthropologie zur Friedens- und Konfliktforschung beizutragen hat 6, aber neben Politologie, Geschichte und Ökonomie waren es doch eher Psychologie 7 und Verhaltensforschung, die Beiträge lieferten. Auch die folgenden Überlegungen können nur eine vorläufige Skizze sein.

Was Kultur anbetrifft, so begnügen wir uns dabei in Übereinstimmung mit der neueren Kulturtheorie-Diskussion nicht mehr mit dem empirisch-deskriptiven (aus der Anthropologie abgeleiteten) Kulturbegriff, der diese beschreibend mit „Lebensweise“ gleichgesetzt. 8 Wir verstehen die Kultur einer Gesellschaft als Teil ihres Reproduktionssystems, das spezifische Leistungen erbringt.

Kultur (in diesem Sinne) steht in einer spezifischen Beziehung zur jeweiligen Realität, d. h. zur umgebenden Natur und zu den materiellen gesellschaftlichen Beziehungen. Aber es gibt dabei keine absolute Determination, sondern, begünstigt (vielleicht auch begründet) durch die gesellschaftlichen Widersprüche im Kontext der inneren Entwicklung (d.h. der unterschiedlichen zeitlichen, quantitativen und qualitativen Entwicklung der Teilsysteme) gibt es – innerhalb einer Gesellschaft von unterschiedlichen Klassen vertretene – Alternativen (und dies zu betonen ist Gegenstand der „kulturaltistischen„ Opposition gegen den reinen ökonomischen Determinismus). Da Kultur insgesamt so kein beliebiges System der Wertorientierung darstellt sondern mit der Realität rückgekoppelt ist, beeinflussen ihre Lösungen und ihre Strukturen die Lebens- und Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft. Also gibt es (und die jüngsten ökonomisch-ökologischen Krisen bestätigen dies in dramatischer Weise) kulturelle Lebensformen, die mehr und solche, die weniger Chancen für Stabilität und Überleben bieten.9 Und Kulturmuster unterscheiden sich bezüglich des Krieges: Sie können ihn mehr oder weniger stark behindern, ihn ächten, ihn ritualisieren und in Grenzen halten, ihn dulden, in Kauf nehmen lassen, befürworten, fördern oder gar nötig machen. Wie sie dies tun und wie innerhalb dieser Skala Rangfolge unsere eigene Kultur einzuordnen ist, das wäre näher zu untersuchen. Wir versuchen, uns dem Thema von der umgekehrten Seite zu nähern und nach den kulturellen Aspekten der „Friedensfähigkeit“ einer Gesellschaft zu fragen.

3 Friedensfähigkeit

Die Frankfurter Stadtverordneten-Fraktion der SPD hat am 30.8.1984 im Stadtparlament einen Antrag gestellt, die Stadt möge auf der kommunalen Ebene „Initiativen zur Herstellung und Sicherung von Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit“ ergreifen.10 Gedacht war dieser Antrag als Kontrapunkt zu den zahllosen Maßnahmen, zu denen die Kommunen im Rahmen der Herstellung der „Verteidigungsfähigkeit“ gezwungen sind.

Der Antrag wurde von der christdemokratischen Mehrheit formal beantwortet, ohne daß überhaupt begriffen wurde, wo der Sinn dieser Forderung liegt. Immerhin hat der Antrag die Einsicht verraten, daß auch die Fähigkeit, überhaupt in Frieden leben zu können, an Voraussetzungen gebunden ist. Nötig sind entsprechend sozialkulturelle und gesellschaftliche Strukturen, und nicht nur solche im juristischen, ökonomischen und politischen Bereich. Den Beitrag des kulturellen Systems zur „Friedensfähigkeit“ hat uns der Exkurs ins Definitorische, Kultur betreffend, nachvollziehbar gemacht.

Zu den Überlebensleistungen eines kulturellen Systems gehört auch die Entwicklung der Fähigkeit, mit den zu ihm in Beziehung tretenden Nachbarn (das ist heute tendenziell die Weltbevölkerung) auf eine Weise zu kommunizieren, die nicht direkt oder indirekt zum Genozid oder Ethnozid führt. Das mag früher in vielen Fällen geregelte (z. T. ritualisierte) Formen der Kriegsführung eingeschlossen haben – heute, in der „neuen anthropologischen Situation„ der menschheitsvernichtenden thermonuklearen Waffen und des durch sie drohenden „atomaren Winters“, sind Kriege zwischen Großmächten das Ende des Überlebens.11

Quincy Wright, ein moderner Klassiker der Kriegs- und Konfliktforschung, formuliert in weltgeschichtlicher Umschau: „Maßvoller Krieg wirkt sozialisierend, während zu viel Krieg und zu zerstörerischer Krieg desintegrierend wirkt. Beim primitiven Menschen förderte der Krieg die Stabilität und den graduellen Fortschritt. Beim zivilisierten Menschen wurde die Schwelle überschritten.“12 Dies gilt auch deswegen, weil jeglicher Wandel durch den Krieg mehr begünstigt wird als Stabilität, auch wenn Vorwand und Anlaß eines Krieges die Sicherung des Status quo sind. Alle Kriege seit 1945 wurden gegen die falschen Gegner geführt, und: „Das Ergebnis des Krieges war selten voraussagbar.“13

Aus der Fülle historischer Daten lassen sich folgende Trends erkennen: „Die Kulturen, in denen der Krieg ein relativ unwichtiges politisches Instrument war, wie die des alten Ägypten, Sumers, des alten China, dauerten am längsten.“14 Plato „nennt Zusammenhalt der Bevölkerung und ein Wirtschaftssystem mit mäßiger Konsumhöhe als günstige Voraussetzungen für einen Staat, der sich aus Kriegen herauszuhalten wünscht.“15

4. Lebensweise und Friedensfähigkeit

Wir sollten und können das Gewebe der Kulturmuster genauer untersuchen, um die eigentlichen wertbesetzten kulturellen Faktoren und Bestandteile, die für „Friedensfähigkeit“ wichtig sind, zu erkennen. Auch dabei werden wir freilich, weil Kultur nicht begriffen werden kann ohne ihren innigen Bezug zur Realität, komplexe (auch ökonomische) Zusammenhänge einbeziehen müssen.

Das Beispiel von Karl Oldenbergs Interpretation des Kapitalismus mag uns dabei helfen. Dieser Nationalökonom bezieht sich auf die Art und Weise, wie die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Entwicklung die Entfesselung der menschlichen Bedürfnisstruktur vorantreibt (und dieser Prozeß der Entfesselung, in dessen Verlauf der Mensch sein „bedürfnisoffenes„ Wesen entfaltet, aber auch im Sinne der nationalökonomischen Modelle und Menschenbilder zum „habgierigen Mängelwesen„ wird, ist im Grunde noch wichtiger als die – historisch später erfolgende – „Kolonisierung der Lebenswelten“ durch die Subsumtion von immer neuen Bereichen wie Freizeit Tourismus und Kommunikation unter Marktmechanismen). Oldenberg schreibt 1923: „Durch (…) sanften Druck sieht sich der Konsument in immer neue Bedürfnisse verstrickt, und das Bedauerlichste ist, daß diese Aufwendungen ihm mit abnehmender Genußempfindung lohnen. Denn gerade solche Bedürfnisse, die über das bare Existenzminimum hinausgehen, unterliegen mehr oder weniger einem Gesetz der Abstumpfung“.16 Das bedeutet, daß mehr Konsumtion keineswegs mehr Genuß zur Folge hat – auch noch aus anderen Gründen: „Der in weitem Maße konventionelle Charakter unserer Konsumtion, die Vergeudung durch den Rivalitätsaufwand, die Steigerung des Bedürfnisses durch die Konsumtion selbst, die progressive Abstumpfung der Genußfähigkeit bedeuten Abzüge vom Genußwert der heutigen hochgesteigerten Konsumtion“.17

Aber dennoch trägt für Oldenberg der „wirtschaftliche Fortschritt seinen idealen Wert in sich selbst“, „unabhängig vom Konsumtionswert der durch ihn geschaffenen Güter. Die Steigerung der Bedürfnisse, auch wenn sie nicht zu gesteigerter Lust führt, zwingt doch den Menschen zur Anspannung seiner Kräfte und wird durch diese belebende Wirkung zu einer der Grundlagen moderner Kultur. Sie ist das wirksamste Erziehungsmittel für die träge Masse. Sie schafft auch in der Befriedigung des Erfolges Genußwerte, die denen des Konsumtionsgenusses überlegen sind. Kurz, die Konsumtion, die uns als Zweck erscheint, ist jetzt in Wirklichkeit vielmehr Mittel für einen höheren Zweck. Es ist wie eine List der Natur, die den Menschen ködert, um ihn seiner Bestimmung zuzuführen; wie der um seiner selbst willen erstrebte Genuß des Essens die Erhaltung des Körpers zur Folge hat, und der Geschlechtsgenuß die Erhaltung der Menschheit, so löst die lockende Aussicht auf Befriedigung brennender Bedürfnisse überhaupt die Anspannung der Kräfte aus, die dem Leben Wert und Würde gibt, wenn sie sittlich rein bleibt. Und sie züchtet starke Menschen und starke Völker, die über die andern herrschen und ihnen ihr Gepräge aufdrücken.“18

Eine offenere, einsichtigere Ableitung dafür, daß Kapitalismus auch in der Lebensweise Imperialismus und Krieg hervorbringt, ist kaum denkbar. Und wenn der geographische Imperialismus nicht mehr möglich ist, dann führt dies zu Krieg gegen Umwelt und Zukunft. Aktuelle Überlegungen zu „globalen Problemen„ bestätigen den Zusammenhang zwischen Lebensweise und der Fähigkeit des gesellschaftlichen Überlebens.19

Bei Ekkehart Krippendorff lesen wir als Abwandlung des allzu bekannten „Parabellum“-Spruches: „Wenn du den Frieden willst, verändere jene gesellschaftlichen Voraussetzungen, die bisher immer wieder zum Krieg geführt haben“.20 Wir könnten jetzt formulieren: „Wenn ihr (wir) den Frieden wollt (wollen), dann bequemt euch (müssen wir uns bequemen) zu einer Lebensweise, welche das Entstehen von unlösbaren Konflikten vermeidet.“

5. Subjektiver und gesellschaftlicher Faktor

So zu argumentieren ist etwas anderes, als alle Voraussetzungen für den Frieden in die Individuen selbst hineinzuverlegen 21 auch wenn eine solche Argumentation Faktoren wie „Wertewandel„ hoch gewichtet – freilich als gesellschaftlichen und individuellen Wertewandel. Auch für die Friedensbewegung gilt, was Marx und Engels für die Arbeiterbewegung betonten: daß individuelle und gesellschaftliche Veränderung sich gegenseitig durchdringen und parallel laufen. Der Weg von den Kategorien des „Habens“ zu denen des „Seins“ läuft über die Lebenspraxis, nicht (nur) über den Intellekt.

Das Insistieren auf den gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen der Friedensfähigkeit ist gleichzeitig als Versuch zu werten, jenen weltpolitischen Immobilismus zu überwinden, der sich aus der Drohung des atomaren Holocaust bei jeder geostrategischen Machtverschiebung ergibt.

Wir können uns heute nicht mehr mit der – satirisch, wie beim „Report from the Iran Mountain“22 oder analytisch begründeten – Einsicht zufriedengeben, daß Rüstung und Krieg „unabdingbar für die Erhaltung der liberal-kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihrer politischen Verfassung“ sind.23 Heute davon zu träumen, „Gewaltanwendung als kurzfristig legitimes Mittel zur Zerstörung dieser einen Bedingung“24 könne eine Lösung sein, dürfte bei dem gegenwärtigen Macht- und Zerstörungspotential-Verhältnis ähnlich tödlich sein wie der missionarische Traum, die Segnungen der westlichen Freiheit auf die ganze Welt zu übertragen („Revolution“ ohne Bürgerkrieg und Interventionsdrohungen ist gegenwärtig in Westeuropa nicht in Aussicht, in den USA noch viel weniger).

6. Die Rolle von Künsten und Kulturwissenschaften

In einer solchen Situation werden die inneren Widersprüche, wie die Diskussion um unterschiedliche kulturelle Optionen innerhalb einer Gesellschaft, aufgewertet. Sie sind wichtige Faktoren für die Herstellung von „Friedensfähigkeit“ und helfen verhindern, daß „exterministische„ militärische Sachzwanglogik eine gefährliche Verbindung eingeht mit brisanten gesellschaftlichen Krisenlagen (in denen z. B. wildgewordene Konsumbürger auf Einschränkungen ihrer Lebensweise mit der Forderung der militärischen Intervention zwecks Sicherung von Ressourcen reagieren bzw. dazu gewonnen werden können).

Künste, Kunst-Rezeption bzw. Aneignung und andere kulturelle (soziakulturelle) Formen tragen zur Friedensfähigkeit potentiell bei. Sie tun dies nicht ausreichend in der dekorativen „Salatblatt“-Funktion bei politischen Veranstaltungen, wie die Kultur- und Kunst-Debatte der Linken belegt hat. Auch die moralisch erpreßte Subsumtion unter das Friedens-Thema hilft nicht – damit wird allenfalls Opportunismus und, als seine Folge, Zynismus („Frieden schaffen wie die Affen“) erzeugt, Künstler werden der „Schicki-Micki“-Kultur der „Wende“-Profiteure in die Arme getrieben.

Einer der interessantesten und wichtigsten Ansätze Für die das gesellschaftliche Bedürfnis auch zu wachsen scheint) ist die Diskussion um die Sinn-Orientierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Alle Sinn-Orientierungen, die individuellen und gesellschaftlichen Lebenssinn außerhalb der gesellschaftlichen Individuen sehen (mit auf Nation, Zukunft oder Jenseits bezogenen Zielsetzungen) sind potentiell eher nicht-friedlich, weil sie Missionarismus Verschiedenster Art verlangen oder begünstigen. Interessanter ist jener Friedensanspruch, der aus dem Insistieren auf dem eigenen Recht auf Leben resultiert.

Die Forderung „Her mit dem Leben“ schließt das Recht auf ein Leben in Frieden und Würde ein. Sie artikuliert den Anspruch auf ein aktives, tätiges Leben, das bereits den Kampf um dieses Recht als positiv empfundene Lebensäußerung wertet, in der das Leben sich mit sich in Einklang fühlt („Bei sich sein und zu sich finden“). Und insofern ist ein solches Verständnis auch ein Kontrapunkt zur „Langeweile“ des Friedens, die manche sehen: „Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung“25 – so Helmuth G. von Moltke als General der Vor-exterministischen Epoche. Zur Diskussion steht in der Ökologie 26 wie in der Friedensfrage, ob die Menschen im Käfig von Sachzwängen gefangen sind, oder ob sie dank der Überlebensleistungen kultureller Systeme in die Lage versetzt werden können, überlebensfähige Systeme von Gesellschaft und Stoffwechsel mit der Natur zu entwickeln und zu praktizieren. Es gibt, darauf deutet das kulturwissenschaftliche Material hin, Möglichkeiten, solche Systeme auf qualitativ überzeugender Stufe zu entwickeln, auch unter realistischen Bedingungen. Nur: Im Selbstlauf entstehen sie nicht.

Anmerkungen

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag ist entstanden aus den Vorarbeiten zu dem Referat gleichen Titels für den Tübinger Kongreß „Kulturwissenschaftler gegen den Krieg“ 1986.Zurück

2 Hermann Bausinger, Traditionelle Welten. Kontinuität und Wandel in der Volkskultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 81/1985, S. 173-191, S. 188.Zurück

3 A.a.O., S. 189 Zurück

4 Vgl.: Ehe die Gewehre kamen. Traditionelle Waffen in Afrika. Museum für Völkerkunde, Frankfurt/M. 1985 (Roter Faden zur Ausstellung, 8). Zurück

5 Max A. Höfer, Aggression und Verhaltensforschung. Die gesellschaftspolitische Dimension. In: Hubert Ch. Ehalt (Hrsg.), Zwischen Natur und Kultur. Zur Kritik biologistischer Ansätze. Wien, Köln, Graz 1985, S. 169-191. Zurück

6 Ekkehart Krippendorff (Hrsg.), Friedensforschung. Köln, Berlin 1968 (Neue Wiss. Bibliothek 29), S. 16 (Einleitung). Zurück

7 A.a.O., S. 16/17. Zurück

8  Vgl. dazu H. Gustav Klaus, Kultureller Materialismus. Neue Arbeiten von Raymond Williams. Das Argument 1983 (Nr. 139), S. 372-378, und Dietrich Mühlberg Woher wir wissen, was Kultur ist. Gedanken zu; geschichtlichen Ausbildung der aktuellen Kulturauffassung. Berlin (DDR) 1983. Zurück

9 Vgl. Vf., Kultur in den Krisen unserer Zeit. In: Freizeitpädagogik 1/1986 (im Druck). Zurück

10 Antrag Nr. 1174, als § 3292 am 11. Oktober 1984 dem Magistrat Überwiesen, von diesem 1985 mit Hinweis auf bestehende Aktivitäten formal beantwortet. Zurück

11 Vgl. Politik gegen den Krieg. Das Argument 1981 (H. 127) bes. die Beiträge Harich, Thompson und Williams. Vgl. auch Norbert Elias, Humana Conditio. Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985). Frankfurt/M.1985. Zurück

12 Quincy Wright, Die Geschichte des Krieges. In: Krippendorff (s. Anm.6), S. 29-44, S. 43. Zurück

13 A.a.O. S. 43. Zurück

14 A.a.O. S.43/ 44. Zurück

15 Michael Haas, Krieg und gesamtgesellschaftliche Bedingungen. In: Krippendorff (s. Anm. 6), S. 45-67, S. 46. Zurück

16 Karl Oldenberg, Die Konsumtion. In: Grundriß der Sozialökonomik. 2. neubearb. Aufl. Tübingen 1923, S. 205. Zurück

17 A.a.O., S. 206. Zurück

18  A.a.O., S. 207.Zurück

19 Vgl. z. B. Hellmuth Lange, Globale Probleme der Gegenwart und Arbeiterklasse. Jahrbuch des IMSF 6 1983, S. 431-437, S. 432, und Igor Bestushew-Lada, Die Welt im Jahr 2000. Eine sowjetische Prognose für unsere Zukunft Freiburg i. Br. 1984. Zurück

20 . Krippendorff (s. Anm. 6), S. 23 (Einleitung).Zurück

21  Vgl. Michael Schneider, Bomben-Existenzialismus. Düsseldorfer Debatte 1/1984, S. 47 53. Zurück

22 Krippendorff (s. Anm. 6), S. 19/20 (Einleitung). Zurück

23  A.a.O., S. 20 Zurück

24  A.a.O., S. 23 Zurück

25 Vgl. Hans-Jürgen Häßler und Heiko Kauffmann (Hrsg.), Kultur gegen den Krieg. Köln 1986, S. 43. Zurück

26 Vgl. Vf., Die Kultur des Überlebens. Kulturelle Faktoren beim Umgang mit begrenzten Ressourcen in vorindustriellen Gesellschaften Mitteleuropas. Demnächst in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. Zurück

Dr. Dieter Kramer ist Ethnologe und tätig im Kulturdezernat Frankfurt/M.