Der Endzeitwahn Ahmadinedschads

Der Endzeitwahn Ahmadinedschads

Der iranische Präsident, die A-Bombe und die Apokalypse

von Victor und Victoria Trimondi

Seit seiner ersten Wahl im Sommer 2005 provoziert und erschreckt der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinedschad die Weltöffentlichkeit mit seiner apokalyptisch-messianischen Rhetorik. Ihm war es innerhalb kürzester Zeit gelungen, Osama bin Laden den ersten Platz auf der Bühne möglicher Bedrohungsszenarien streitig zu machen. Ahmadinedschad leugnet den Holocaust, ruft zur totalen Vernichtung Israels auf, stachelte den Libanon-Krieg an, sperrt Oppositionelle ins Gefängnis, lässt sich nicht in sein Nuklearprogramm schauen, fordert eine islamische Weltrevolution und beschwört das Erscheinen eines militanten Messias. Es besteht die begründete Vermutung, dass er ein Programm zur Konstruktion einer iranischen Atombombe durchsetzen will.

Mahmoud Ahmadinedschad hatte sich schon bald nach der Machtübernahme als ein weltweit gefürchteter, politischer Apokalyptiker geoutet. Seither wird in der westlichen Presse über die endzeitlichen Inhalte des von ihm vertretenen Schia-Glaubens diskutiert. Die Schiiten glauben, dass Abul-Qassam Mohammed, der 12. Imam, in direkter Blutslinie von dem Propheten Mohammed abstammt. Im Jahre 941 n. Chr. ging diese mystische Gestalt in die »Große Verborgenheit«. Unsterblich, nahm und nimmt er aus der Verdeckung heraus Einfluss auf die Geschicke der Welt. Er ist der »Rechtgeleitete«, andere Beinamen sind »Fürst der Zeit« oder »Der Aufständische«. Eines Tages, so berichten es die Prophezeiungen, wird er zurückkehren, wie die Sonne, die sich hinter schwarzen Wolken verbirgt. Nach einer Periode gesellschaftlicher Dekadenz und schrecklicher Kriege erscheint er dann als der Erlöser von Ungerechtigkeit, Not und Unterdrückung.

Sayyed Ruhollah Khomeini (1900-1989), der Gründer der islamischen Republik, hatte den schiitischen Erlösungsglauben mit der machtpolitischen Herrschaft der Ayatollahs verknüpft. Er überwand dadurch den vorher weit verbreiteten Quietismus vieler Schiiten, demzufolge das Erscheinen des Imam-Mahdi nicht durch Menschenwerk (d. h. durch die Politik) beschleunigt werden könne. „Die Behauptung, dass sich die Propheten und Imame nur mit moralischen und spirituellen Angelegenheiten beschäftigt hätten und dass die Regierungstätigkeit, die sich mit säkularen und temporären Fragen beschäftigt, von ihnen zurückgewiesen worden seien, ist ein verhängnisvoller Irrtum“ – mahnte der Gründer des theokratischen Irans noch in seinem Testament.1 Aus einem Hadith Mohammeds ergab sich zudem, dass der 12. Imam nicht mit einem Olivenzweig sondern mit dem Schwert in der Hand erscheint: „Ich bin der Prophet, und Ali ist mein Erbe, und von uns wird abstammen der Mahdi, das Siegel (das heißt der letzte) der Imame, und er wird alle Religionen erobern und Rache nehmen an den Übeltätern. Er wird die Festungen einnehmen und sie zerstören, alle Stämme der Götzendiener vernichten, und er wird Vergeltung üben für den Tod jedes Märtyrer Gottes.“ 2 Immer wieder betonte der Ayatollah die Pflicht zum aktiven politischen Handeln: „Brüder, sitzt nicht zuhause herum, so dass der Feind angreifen kann. Geht zur Offensive über, und seid gewiss, dass der Feind sich zurückziehen wird. […] Gebt euch nicht zufrieden damit, das Volk die Regeln des Gebets und des Fastens zu lehren. […] Warum zitiert ihr nicht die Sure über den Qital [bewaffneten Kampf]? Warum tragt ihr immer nur die Suren über die Barmherzigkeit vor? Vergesst nicht, dass Töten auch eine Form der Gnade ist.“ 3 Sogar nach dem Erscheinen des erwarteten Erlösers, gehe der Kampf weiter, versicherte Khomeini: „Und wenn der Große Erneuerer [der Imam-Mahdi] erscheint, glaubt nicht daran, dass ein Wunder geschieht und dass die ganze Welt in einem einzigen Tag in Ordnung gebracht wird. Nein, es erfordert [auch dann] harte Arbeit und Opfer, bevor die Unterdrücker verjagt sind.“ 4 Seither ist der militante Messianismus im Iran ein Politikum.

Der Glaube an den 12. Imam ist Teil der iranischen Verfassung

Selbst in der theokratischen Verfassung des Landes wird die Rückkehr des Imam-Mahdis erwähnt. Artikel 2 Abs. 5 fordert: „Das ununterbrochene Imamat, seine Führerschaft und seine fundamentale Rolle in der islamischen Revolution.“ Aus Artikel 5 lässt sich entnehmen, dass die Herrschaft des Klerus nur bis zur Ankunft des Imam-Mahdis andauert und dann außer Kraft gesetzt wird.5 Der Wächterrat von 12 Mitgliedern, das höchste politische Gremium des Landes, der Oberste Religiöse Führer und der Präsident handeln deswegen nicht nur »in spirito«, sondern auch »de jure« im Auftrag des Verborgenen Imam. Das gilt als herrschende Meinung des Klerus: „Aber es war nach über einem Jahrtausend Verborgenheit Imam Khomeini, der 1979 erstmalig einen Staat gründete, welcher besagten 12. Imam zum verfassungsmäßigen Staatsoberhaupt hat. Imam Khomeini selbst war ‚nur’ dessen Stellvertreter“ – schreibt Yavuz Özoguz, Vorsitzender der Organisation »Islamischer Weg« und Wortführer des Khomeinismus in Deutschland am 18. Juni 2009 im »Muslim-Forum für deutschsprachige Gottesfürchtige«.6

In der Präambel der Verfassung ist zudem die Idee einer islamischen Weltrevolution angedeutet, mit dem Ziel „eine einzige Welt-Ordnung (Ommat)“ zu schaffen und einen „andauernden Kampf“ zu führen, „um die entrechteten und die unterdrückten Nationen der Welt zu befreien.“ Die Vision von einer Welteroberung durch den »Heiligen Krieg« war ein alter Traum Khomeinis, den dieser schon 1942 aufs Papier brachte: „Diejenigen, die den Djihad studieren, werden verstehen, weshalb der Islam die gesamte Welt erobern will. Alle durch den Islam eroberten Länder oder Länder, die von ihm in Zukunft erobert werden, werden das Zeichen immerwährender Rettung tragen.“ schrieb er damals.7 Seine Vision von einem islamischen »Imperium Mundi« hat er nie aufgekündet.

Erfüllungsgehilfe des 12. Imam

Auch Mahmoud Ahmadinedschad sieht sich wie Khomeini als der Erfüllungsgehilfe des 12. Imams, obgleich er keinen klerikalen Status hat. Bei seinen öffentlichen Reden erwähnt er ständig Sätze, wie den folgenden: „Die Hauptmission unserer Revolution besteht darin, den Weg für das Erscheinen des 12. Imams, des Mahdi, zu pflastern. Wir sollten unsere Wirtschaft, unsere Kultur und unsere Politik nach der Politik von der Rückkehr des Imam Mahdi ausrichten.“ 8 Als er noch Bürgermeister von Teheran war, ließ er einen Boulevard renovieren, weil der Imam-Mahdi dereinst darüber in die Hauptstadt einmarschieren werde. Mit der fortschreitenden »Profanisierung« des Politischen in der Ära Rafsanjani und Khatami hat Ahmadinedschad Schluss gemacht. Er revitalisierte das messianisch-apokalyptische Weltbild Khomeinis. Das machte er der ganzen Welt klar, als er am 17. September 2005 eine Rede vor dem Plenum der Vereinten Nationen in New York hielt. Religionspolitisch war diese »Predigt« eine Sensation, denn der iranische Präsident proklamierte schlichtweg das Ende des agnostischen, säkularen Zeitalters und stellte das Primat der Aufklärung in Frage. Heute kultiviere die gesamte Menschheit wieder den Glauben an einen einzigen Schöpfergott, sagte er. Der Monotheismus sei das Band, das alle Völker zusammenschließe.

Den eigentlichen Höhepunkt der Rede bildeten die Schlusssätze, in denen Ahmadinedschad die Epiphanie des muslimischen Welterlösers beschwört: „Wenn dieser Tag [des Friedens] kommt, wird das letzte Versprechen aller Religionen erfüllt werden durch die Erscheinung eines perfekten menschlichen Wesens, das der Erbe aller Propheten und frommen Männer ist.“ 9 Von New York in den Iran zurückgekehrt erklärte er, während seiner Ansprache habe sich ein heiliges Licht auf ihn hinabgesenkt.10 2009 erhielt der Präsident erneut die Möglichkeit vor der UNO-Vollversammlung zu sprechen und auch dieses Mal kulminierte die Ansprache am Ende in einer pathetischen Anrufung des 12. Imam: „Dies alles [die Utopie des Friedens] wird dank der Herrschaft des vollkommenen Menschen Wahrheit werden: der Herrschaft dessen, den Gott als letztes in der Reserve hält: einem Nachkommen aus der Generation des ehrwürdigen Propheten des Islam, nämlich Hazrate Mahdi, gegrüßt sei er. Er wird kommen! Und der geehrte Jesus, Sohn der Maria, und andere rechtschaffene Menschen werden bei dieser großen internationalen Mission an seiner Seite stehen.“ 11 Was er jedoch in New York nicht erwähnte, ist die schiitische Doktrin, dass sich die von ihm prognostizierte Utopie nur dann verwirklichen lasse, nachdem die gesamte Menschheit (freiwillig oder durch Gewalt) zum Islam konvertiert ist: „Zweifelt nicht daran, alle Menschen sehnen sich nach einem islamischen Weltstaat, und dieser Staat wird bald kommen.“ 12

Typisch für das apokalyptisch-messianisches Denken ist, dass in Perioden gesellschaftlichen Pragmatismus das Interesse am Pleroma des Endzeitwahns sinkt. Das war auch im Iran der letzten drei Jahre feststellbar, nachdem sich die aufregenden Zeiten normalisiert hatten, die dem Irak-Krieg gefolgt waren. Aber die inneren Konflikte seit den turbulenten Wahlen 2009 haben das apokalyptische Phantasma des Präsidenten wieder neu entfacht. Seinen angezweifelten Wahlsieg erklärte er zum Geschenk des schiitischen Messias: „Wir sehen deutlich den Segen Gottes, die Unterstützung vom 12. Imam Mahdi, und die Wachsamkeit der großen iranischen Nation.“ 13 Auch wurde die Zeremonie zu seiner Amtseinführung auf den Geburtstag des 12. Imam verlegt. Ayatollah Khamenei sprach seine Gratulation aus: „An der Schwelle zu dem gesegneten Jahrestag der Geburt des Retters der Menschheit, des großartigen Gottesfreundes und des Imams der Rechtschaffenen, Hasrate Hodschat-ul Ibn-ul Hassan – mein Leben sei ihm geopfert und Gott möge ihn schneller erscheinen lassen – möchte ich dieses große Fest würdigen und Herrn Dr. Mahmoud Ahmadinedschad zu seiner Wahl bei den 10. Präsidentschaftswahlen gratulieren.“ 14 Zunehmend wird in den innenpolitischen Wirren der apokalyptische Wahn wieder mit realpolitischen Szenarien verknüpft, und das ist nicht ungefährlich. So sagte Ahmadinedschad am 4. Dezember 2009 in Isfahan: „Wir verfügen über Dokumente, die belegen, dass Amerika die Rückkehr des zwölften Imam verhindern will.“ 15

Ausgehend von der Prämisse, dass der Präsident der Erfüllungsgehilfe des 12. Imams ist, müssen seine Opponenten als Rebellen und Häretiker gegen den göttlichen Willen des schiitischen Messias gebrandmarkt werden. So glaubt Yavuz Özoguz von Oppositionsführer Mohammad Mousawi, dieser unterminiere die aus der Verborgenheit betriebene Politik des 12. Imam: „Ein Mensch, der von seiner Entwicklung und seinen Anlagen das Zeug dazu hätte, die höchsten Stufen islamischer Erkenntnis zu erlangen, stürzt unfreiwillig in die Jauche westlicher Dienerschaft, weil er seine eigene Einschätzung der Lage für höher einstuft als diejenige des Vertreters des 12. Imams.“ 16

Ayatollah Mesbahe-Yazdi – Die graue Eminenz

Der spirituelle Meister Ahmandinedschads ist Ayatollah Mesbahe -Yazdi (Jahrgang 1934) aus der Stadt Yazd. Er ist der Gründer der ultra-islamischen Haghani-Schule und firmiert immer noch als der (verborgene) Chefideologe der Islamischen Republik. In der »heiligen Stadt« Ghom leitet er das »Imam-Khomeini-Institut für Lehre und Forschung«. Der Ayatollah ist Befürworter eines rein muslimischen Gottesstaates, ein Verfechter selbstmörderischer Märtyreroperationen und ein fanatischer Gegner des Westens. Eine seiner vordringlichen Aufgaben sieht er darin, die islamische Republik von allen Reformströmungen zu reinigen und wieder in ein apokalyptisch-messianisches Fahrwasser zu treiben, aus dem sie einmal entstanden ist. Mesbahe-Yazdi gilt als der große Hintergrundspieler der aktuellen iranischen Politik. Er war der erste religiöse Führer, den Ahmadinedschad nach seiner ersten Wahl (in Ghom) aufsuchte und von dem er sich absegnen ließ. Selbstbewusst präsentierte sich Mesbahe als Königsmacher und ebenfalls als ein Erfüllungsgehilfe des »Imam-Mahdi«: „Wir haben für unseren Bruder [Ahmadinedschad] gebetet, und der verborgene Imam hat unsere Gebete erhört und ihm zum Sieg verholfen.“ sagte er nach dem Sieg seines Schützlings.17

Der radikale Ayatollah aber steht mit seinen Ideen keineswegs isoliert da. In der Regierungszeit Ahmadinedschads ist bei einem beachtlichen Teil der klerikalen Intelligenzija des Landes die Beschäftigung mit dem »Madaviyat« („der Glaube an den Mahdi und die Anstrengung, sich auf sein Erscheinen vorzubereiten“) en vogue gekommen. Die »Reformer«, die unter Khatami für einen »Dialog der Kulturen« eingetreten waren, galten von nun an als out, und die so genannten »Prinzipientreuen«, die Khomeinis Vision einer islamischen Weltrevolution folgten, waren in. So erklärte Hassan Abbasi, einer der prominenten Theoretiker des Landes, dass die Idee von einer »messianischen Gesellschaft« seit dem Beginn der iranischen Revolution noch nie so aktuell und attraktiv gewesen sei wie heute.18 Ayatollah Nouri Hamedani sieht insbesondere durch die politischen Turbulenzen der Gegenwart bestätigt, dass die Endzeit angebrochen sei. Einer seiner Sprüche lautete: „Bekämpft die Juden, um das Kommen des Verborgenen Imam zu beschleunigen.“ 19 Selbst der höchste spirituelle Führer des Landes, Ali Khamenei, beschwor 2005 in einer Rede vor Hadsch-Pilgern: „Heute ist die Zeit gekommen, die günstigen Bedingungen für eine Regierung des Imam-Mahdis zu schaffen, möge Allah bald sein nobles Erscheinen bewirken.“ 20

Der 12. Imam in Deutschland

Auch in der Diaspora sind die Propagandisten des 12. Imam rührig, zum Beispiel in Deutschland. Wir haben schon den vom Verfassungsschutz beobachteten Vorsitzenden der Organisation »Islamischer Weg«, Yavuz Özoguz, erwähnt. Von der deutschen Website der staatlich iranischen Rundfunkgesellschaft I.R.I.B. mit einem Sitz im Bundespressehaus (http://www.germanradio.ir) lassen sich mehrere Reden des iranischen Präsidenten, in denen er den 12. Imam beschwört, herunterladen. Außerdem ist die Seite voll mit messianisch-apokalyptischen Spekulationen wie zum Beispiel über die profanisierende Rolle der Renaissance: „Der Glaube an die Endzeit und den Weltretter schrumpfte nach der Renaissance und der wachsenden materialistischen Lebenseinstellung. […] Deshalb haben die Menschen in Europa und den USA erneut begonnen, sich der Spiritualität zuzuwenden und auf einen Retter zu hoffen.“ 21

Auf einem Kongress des so genannten »Bright Future Instituts«, einer Art ständiger Konferenz zur Verbreitung des Mahdismus mit Sitz in Teheran, wurde auch ein deutsches Referat mit dem Titel »Der Imam Mahdi, der der Welt Gerechtigkeit bringen wird« von Doris Tarabolsi gehalten und dann auf einer von und für Muslimas betriebenen, deutschen Website (»Meryems Welt«) publiziert. Die Autorin proklamiert das baldige Erscheinen des schiitischen Messias und stellt – angeblich aus traditionellen Quellen – einen ziemlich modern wirkenden Katalog von »Zeichen« zusammen, die dem Arrival des »Imam Mahdi« vorausgehen sollen:

Ausbreitung der Unterdrückung und Tyrannei;

Korrupte Dominanz. Erscheinen der korrupten Überzeugungen, moralischer Verfall der Zivilisationen;

Großer wissenschaftlicher Fortschritt;

Vernichtende Uneinigkeit und Kriege. Schwinden der Sicherheit und des Friedens;

Das Erscheinen von Lügnern und Schwindlern, die behaupten, Reformatoren zu sein;

Preissteigerungen und ökonomischer Verfall;

Reformatorische Bewegungen und Führerschaften werden sich den Weg zu al-Mahdi bahnen. Menschen werden nach Hilfe rufen, um sich von Staaten der Unkenntnis zu befreien, die von Mächten des Materialismus und der Aggressionen unterstützt werden.22

Anschließend beschreibt Tarabosi kurz das kommende Paradiesreich des 12. Imam, erwähnt aber, dass „die unterdrückerischen Systeme, wo sie auch überall auf der Welt regieren, nicht kampflos aufgeben werden.“ Darauf gelte es sich vorzubereiten. In der sich schon anbahnenden Sammlung aller gerechten Menschen und Völker stehe der iranische Staat an der Spitze: „Es gibt ein Volk auf der Welt, das erkannt hat, dass es schon jetzt möglich ist, nach den Prinzipien des Imam Mahdi, […] zu leben, und das sich eine entsprechende Verfassung gegeben hat, das ist die Islamische Republik Iran. Dort ist festgelegt, dass das Staatsoberhaupt Statthalter des verborgenen Imams, […] ist und in Verantwortung vor Allah und diesem regiert.“ 23 Die Version ihres Referats, das sie vor dem »Bright Future Institut« gehalten hat, ist etwas schärfer formuliert als die Fassung auf der Muslima-Website. Dort kommt sie direkt auf die Apokalypse und einen Endzeitkrieg zu sprechen: „Es ist meiner Meinung nach ein Teil der Wahrheit, dass die Erde und die Menschheit vor einer Apokalypse stehen, aber nur in einem Teil der Menschheit, die das Üble und Teuflische verkörpert. Der andere Teil, der das Gute und Göttliche verkörpert, wird sich in dem Maße verstärken, wie auch der üble Teil zunimmt. Im Ausmaße dessen, wie die Menschen an Wissen, Erkenntnis, Vervollkommnung wachsen, werden sie das Üble, Falsche, Schlechte wahrhaftig erkennen. Das Üble wird kämpfen, um den unvermeidlichen Niedergang seiner Macht auf Erden aufzuhalten, und das Gute wird sich erheben für die Gerechtigkeit und am Ende den Sieg davon tragen mit Gottes Hilfe.“ 24

Apokalypse und A-Bombe

Die endzeitlich-messianischen Polit-Visionen des iranischen Präsidenten dürfen nicht als ein Kuriosum abgetan werden. Sie sind Bestandteil des Khomeinismus und fest im Denken und Kulturbetrieb der iranischen Theokratie verankert. Ein Zusammenhang zwischen Apokalypse und A-Bombe besteht nicht nur deswegen, weil hier einem religiösen Fanatiker eine ultimative Waffe in die Hand gegeben würde, sondern weil Atombomben bei Fundamentalisten aller Glaubensrichtungen in ihren apokalyptischen Phantasien eine zentrale Rolle spielen. Seit den Mega-Explosionen von Los Alamos, Hiroshima und Nagasaki werden Zerstörungs-Passagen aus den traditionellen Endzeit-Texten der Religionen als Beschreibungen eines atomaren Holocausts gedeutet.

Wahied Wahdat-Hagh, Kolumnist in der Tageszeitung »Die Welt«, bringt das iranische Atomprogramm direkt mit dem Endzeitwahn des Präsidenten und mit dessen spirituellem Hintermann in Verbindung: „Die Urananreicherung und das Atomprogramm dienen nach dem Verständnis von Präsident Ahmadinedschad und seinem Mentor Ayatollah Mesbahe-Yazdi der Beschleunigung der Rückkehr des in der Mitte des 10. Jahrhunderts verschwundenen zwölften Imam der schiitischen Muslime. […] In der khomeinistischen Interpretation des Islam muss der Klerus solange herrschen, bis der Messias erschienen ist. Und in der Interpretation von Ayatollah Mesbahe-Yazdi, un-geistiger Mentor des Präsidenten Ahmadinedschad, kann dieser Prozess beschleunigt werden. In einer Schlacht gegen die ungläubige Welt soll dann die Islamisierung der Welt erfolgen. […] Ayatollah Mesbahe-Yazdi und Präsident Ahmadinedschad gehen vom festen Glauben aus, dass die Welt sich in dieser messianischen Phase befindet. Dies ist die schiitische Variante eines apokalyptischen Denkens, das die paramilitärischen Unterdrückungsorgane der Bassiji und der Revolutionsgardisten nicht als Instrumente einer totalitären Herrschaft, sondern als ‚heilige Institutionen’ versteht. Daher ist die ‚mahdistische Gesellschaft’, von der Präsident Ahmadinejad spricht, die totalitäre ‚Utopie’ aller schiitischen Islamisten.“ 25

Der Märtyrerwahn

Was könnte geschehen, wenn die USA einen kurzfristigen Militärschlag gegen das Land durchführen? Die Antwort regimetreuer Iraner lautet: eine weltweite Entfesselung schiitischer Selbstmordattentate. Schon 2005 hatte Mohammadresa Jafari, Chef einer Militäreinheit mit dem Namen »Kommando der freiwilligen Märtyrer«, gedroht, 50.000 Kämpfer stünden bereit, um sich nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch in den USA und anderen NATO-Staaten in die Luft zu sprengen und die Welt mit Terror zu überziehen. „Der Feind hat Angst, dass die Kultur des Martyriums zu einer Weltkultur aller Freiheitsliebenden wird“, erklärt Jafari und fährt fort: „Märtyreraktionen stellen den Gipfel in der Größe eines Volkes dar und sind die höchsten Form seines Kampfes.“ 26 Diese Drohung ist mittlerweile mehrmals von Sprechern des iranischen Mullah-Regimes wiederholt worden.

Wie ernst ist ein solches Szenario zu nehmen? Die Zahlen mögen übertrieben sein, dass aber der Märtyrer-Kult ein zentrales Ereignis in der schiitischen Kultur darstellt, darüber besteht kein Zweifel. Das Martyrium (»Shahadat«) wird hier keineswegs nur als Waffe angesehen, um dem Gegner Schaden zuzufügen, sondern es wird mystisch verklärt und erhält einen theologischen Eigenwert. Weit verbreitet ist der Glaube, das vergossene Blut der Märtyrer selber, unabhängig von jeglichem militärischen Effekt, bringe die islamische Weltrevolution voran und beschleunige das Erscheinen des schiitischen Erlösers, des Imam-Mahdi. „Gibt es eine Kunst, die schöner, göttlicher und andauernder ist als die Kunst des Martyriums? Eine Nation, die das Martyrium pflegt, kennt keine Versklavung. Diejenigen, die dieses Prinzip aushöhlen wollen, höhlen die Grundlagen unserer Unabhängigkeit und unserer nationalen Sicherheit aus. Sie unterminieren die Grundlage unserer Ewigkeit…“ schwärmt Mahmoud Ahmadinedschad.27

Kommt es zu Märtyreraktionen, dann muss auch mit dem massiven Einsatz von Kinder-Märtyrern gerechnet werden. Während des Irak-Iran Krieges wurden diese, selbst gegen den Willen ihrer Eltern, an die Front geschickt. Man benutzte die Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren als Kanonenfutter. Unter anderem hatten sie die Minenfelder freizumachen, damit die regulären Truppen nachsetzen konnten. Dabei sollen Zehntausende getötet worden sein. „Der Baum des Islam kann nur wachsen, wenn er ständig mit dem Blut der Märtyrer getränkt wird“ hatte Ayatollah Khomeini während des Krieges verkündet.28

Was also ist zu tun, wenn ein Krieg gegen den Iran die Situation noch verschärfen würde? Der Westen muss alles Mögliche daran setzen, die derzeitige Opposition zu unterstützen und die Sanktionen gegen das Regime zu verschärfen. Die oppositionelle Bewegung ist seit den letzten Wahlen stark, selbstbewusst und zeigt Durchhaltekraft. Sie hat eine Verankerung nicht nur in der Bevölkerung oder bei den Intellektuellen, sondern ebenfalls im Klerus. Auch unter den Ayatollahs ist der von Ahmadinedschad kultivierte Endzeitwahn nicht unwidersprochen. Der kürzlich verstorbene Groß-Geistliche Hossein Ali Montazari zum Beispiel kritisierte die Regierung, sie missbrauche den Mahdi Kult für ihre politischen Interessen.

Anmerkungen

1) Ruhullah al-Musavi al-Khomeini: »In the Name of God the Compassionate, the Merciful« URL: www.wandea.org.pl/khomeini-pdf/ruhullah-musavi-khomeini.pdf

2) Thomas Patrick Hughes (1995): Lexikon des Islam. Wiesbaden, S.455, 456.

3) Bruno Schirra (2006): Iran – Sprengstoff für Europa. Berlin, S.146.

4) Ruhullah al-Musavi al-Khomeini: »In the Name of God the Compassionate, the Merciful«. URL: www.wandea.org.pl/khomeini-pdf/ruhullah-musavi-khomeini.pdf

5) Verfassung des Iran. URL: www.iranonline.com/iran/iran-info/Government/constitution-1.html.

6) Yavuz Özoguz: »Die Islamische Revolution beginnt in der Selbsterziehung«. URL: www.muslim-markt.de/forum/messages/795.htm.

7) Ayatollah Ruhollah Khomeini (1924): »Islam is not a Religion of Pacifists«. URL: www.scepticism.info/quotes/archives/islamic_extremism_index.shtml

8) Patrick Poole: »Ahmadinejad’s Apocalyptic Faith«. URL: www.frontpage.com/Articles/Printable.asp?ID=23916.

9) Text der Rede Ahmadinedschads vor der UN-Generalversammlung. URL: www.globalsecurity.org/wmd/library/news/iran/2005/iran-050918-irna02.htm.

10) »Ahmadinedschad – Der Hetzer aus Teheran«. URL: www.focus.de/politik/ausland/ahmadinedschad_nid_25028.html.

11) I.R.B.I – Rede des iranischen Staatspräsidenten vor der 64. UNO-Vollversammlung in New York am 23.9.2009. URL: http://german.irib.ir/index.php?option=com_contentview=articleid=27694:die-ansprache-des-iranischen-staatspraesidenten

12) Iran-Report der Heinrich Boell-Stiftung. URL: www.boell.de/downloads/presse2005/iran-report0705.pdf.

13) »Die glorreiche Präsenz der Iraner an den Wahlen«. URL: http://pressemitteilung.ws/node/159927.

14) International Quran News Agency: »Der republikanische und der islamische Charakter sind zwei untrennbare Momente«. URL: www.iqna.ir/de/news_detail.php?ProdID=443283.

15) Wahied Wahdat-Hagh: »Mahdismus und das iranische Atomprogramm«. URL: www.welt.de/debatte/kolumnen/Iran-aktuell/article6061745/Mahdismus-und-das-iranische-Atomprogramm.html.

16) Vgl. Fußnote 6.

17) Vgl. Fußnote 10.

18) »Eine zweite Stunde Null im Iran – Hoffen auf eine messianische Gesellschaft«. Interview mit Hassan Abbasi. URL: www.prayradio.fm/5045739662125e506/53882196c1105830d.php.

19) Memri (Middle East Media Research Institute): »Ayatollah Nouri-Hamedani: Fight the Jews and Vanquish Them so as to Hasten the Coming of the Hidden Imam«. URL: www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/1362.htm.

20) Jüngste Äußerungen Khameneis im iranischen Fernsehen. URL: www.timesonline.co.uk/article/0,,2092-2281184_1,00.html.

21) I.R.B.I: »Glaube an Retter im Okzident«. URL: http://german.irib.ir/index.php?option=com_contentview=articleid=26303:glaube-an-retter-im-okzidentcatid=95:beitraegeItemid=43

22) Meryems Welt: »Was sind die Zeichen der Wiederkehr Imam Mahdis, f.?«, Teil 2. URL: http://meryemdeutschemuslima.wordpress.com/2009/06/19/imam-mahdi-moge-er-bald-erscheinen-teil-2/

23) Meryems Welt: »Was sind die Zeichen der Wiederkehr Imam Mahdis, f.?«, Teil 3. URL: http://meryemdeutschemuslima.wordpress.com/2009/06/21/uber-imam-mahdif-teil-3-die-art-seines-aufstandes-und-aktueller-bezug/.

24) Bright Future Institute/Doris Tarabolsi: »Vortrag zum Imam Mahdi«. URL: www.mahdaviat-conference.com/vdcebv8eijh8f.k1j.html.

25) Vgl. Fußnote 15.

26) Bruno Schirra: »How Dangerous Is Iran?«. URL: http://regimechangeiran.blogspot.com/2005/11/how-dangerous-is-iran-full-text-of.html.

27) MEMRI (2005): Special Dispatch Series No. 945 (29.07.2005).

28) Kevin Toolis: »A million martyrs await the call«. URL: www.timesonline.co.uk/article/0,,1072-1878612,00.html.

Victor und Victoria Trimondi sind Publizisten, Kultur- und Religionsforscher. Sie arbeiten zu Themen wie Apokalyptik, Fundamentalismus, politische Theologie sowie zur Rolle der Geschlechter und des Eros in Religion, Mythos und Kunst (vgl. www.trimondi.de). Zuletzt erschien im Münchner Fink-Verlag der Band »Krieg der Religionen – Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse«.

»Gerechter Krieg« und Pazifismus

»Gerechter Krieg« und Pazifismus

Ein Vergleich islamisch-westlicher Denktraditionen

von Kai Hafez

Vor allem die Existenz des islamistischen Terrorismus lässt nach dem Verhältnis des Islam zur Gewalt fragen. Besteht in der islamischen Welt eine im Vergleich zur christlich-abendländischen Welt kulturell und religiös stärker ausgeprägte Gewaltneigung? Diese auf den ersten Blick plausible Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar. Ein Vergleich westlich-christlicher und östlich-islamischer Denktraditionen verweist sogar auf erstaunliche Parallelen des Gewaltbegriffs.

In beiden Sphären prägt die Idee des »gerechten Krieges« und der »gerechten Gewalt« den Mainstream der Theologie und der Denktraditionen, während sowohl Extremismus als auch Pazifismus Minderheitenmeinungen geblieben sind, die allerdings in der politischen Entwicklung für bedeutsame Ereignisse des gewaltfreien Widerstandes stehen. Der bislang fast durchgehend verweigerte Vergleich der religiösen und politischen Kulturen zeigt, dass Unterschiede zwischen Islam und Westen eher in der Form der ideologischen Begründungen und der Traditionen als in deren Substanz begründet liegen.

Die Lehre vom »gerechten Krieg« – kein Krieg ist heilig

Das Verhältnis von Religion und politischer Gewalt wird nur in einer minoritären Richtung des Islam so gedeutet, dass sich die entsprechenden Interpretationen als Grundlage für terroristische Akte eignen. In der islamischen Tradition lassen sich drei Strömungen einer politischen Gewalttheorie ausmachen (Bennett 2005, S.198 ff.). Am bedeutsamsten ist die Theorie des gerechten Krieges, wonach Gewalt nur defensiv und im Falle eines Angriffes von außen erlaubt ist. Daneben existieren die kleineren Denkströmungen des offensiven und totalen Krieges (Dschihadismus) und des islamischen Pazifismus, auf den später einzugehen sein wird.

Gemäß der moderaten Lesart, die heute die meisten Gelehrten vertreten (Abu-Nimer 2003, S.26 ff., 35; Bennett 2005, S.219 ff.), ist Krieg im Islam nur erlaubt, wenn die Intentionen und die Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Mittel keinen anderen Weg erlauben, also etwa zur Befreiung von Muslimen von Aggressoren. Auch im Krieg soll Gewalt verhältnismäßig eingesetzt werden, und Zivilisten dürfen nicht das Ziel des Angriffs sein. Kernpunkt dieser Ansicht ist, dass das sogenannte »Haus des Islam« (Dar al-Islam), also das Territorium mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, zwar gewaltsam verteidigt, aber nicht gewaltsam erweitert werden darf. Kriege um der Mission und Konversion willen dürfen nicht geführt werden.

Vor allem die bei extremistischen Islamisten beliebten Denker Sayyid Qutb und Sayyid Abul Ala Maududi haben einen offensiven »heiligen Krieg« propagiert (Bennett 2005. S.198 ff.). Das Dar al-Islam steht demnach in ständigem Krieg mit dem Dar al-Kufr, mit dem Territorium der »Ungläubigen«. Frieden wird erst im Jenseits gewährt. Historische Bezüge lassen sich zum Beispiel zu den Kalifen herstellen, die als Nachfolger Mohammeds das arabische Territorium aktiv erweitert haben und damit die islamische imperiale Phase einleiteten. Heute ist diese Auslegung einer kleinen terroristischen Minderheit vorbehalten, die als »dschihadistisch« bezeichnet wird (Understanding Islamism 2005).

Die Existenz einer moderaten, defensiven wie einer radikalen, offensiven theologischen Begründung politischer Gewalt stimmt mit der christlichen Tradition überein, auch wenn deren historische Konjunkturen oft zeitversetzt waren. Vilho Harle: „Der Islam ist wegen des Konzepts des Jihad, üblicherweise übersetzt mit ›heiliger Krieg‹, vielfach als eine gewaltsame Doktrin betrachtet worden. Dies ist unzutreffend: Gemäß dem klassischen Islam ist keine menschliche Aktivität heilig, und dies gilt ganz besonders für den Krieg. Es steht auf einem anderen Blatt, dass der Islam, ganz wie der Zoroastrismus, das Judentum und das Christentum, Menschen dazu bewegt hat, im Namen der Religion und im Auftrag Gottes Kriege zu führen – für das Gute und gegen das Böse. (…) Die religiöse Doktrin als solche aber beinhaltet nicht mehr Gewalt als die des Christentums“ (Harle 2000, S.75, 77, eigene Übers.).

In der Geschichte hat es immer wieder das Bild des christlichen Märtyrers gegeben (Davis III 2004). Für den christlichen Krieger war allerdings nicht Jesus Christus das Vorbild, da er mit der traditionellen christlich-jüdischen Figur des kriegerischen Messias, der die Welt reinigt und sie dem richtigen Glauben zuführt, gebrochen hatte. In den Jahrhunderten nach dem Tod Christi entwickelte sich die Märtyrer-Figur des Christentums immer stärker vom leidenden und pazifistischen Märtyrer zum christlichen Krieger-Märtyrer, etwa in der legendären Figur des Heiligen Georg aus Lydda/Palästina, die im 4. Jahrhundert entstand. Georg wurde später von Richard Löwenherz zum Schutzherrn dessen Kreuzzuges erkoren. Muslime und Christen haben über Jahrhunderte nahezu identische Vorstellungen vom gerechten Krieg entwickelt. Wichtig waren hierbei im Christentum etwa die Lehren des Heiligen Augustinus oder die frühmittelalterliche Theologie des französischen Klosters Cluny, deren Abt Odo (926-44) argumentierte, man könne Kriege für gute Motive, also »heilige Kriege«, führen (Davis III 2004, S.251). Diese Vorstellung wurde während der Kreuzzüge offensiv-radikal, während der Angriffe islamischer Staaten aber auch defensiv-moderat gedeutet, und sie lebt auch heute noch in der Sprachgebung solcher Evangelisten wie Billy Graham fort, dessen Reden deutliche Spuren der heiligen Kriegslehre aufweisen. Glaube, so Graham, sei permanenter Krieg, Krieg gegen die Sünder und die Sünde (Davis III, S.244). Im Westen ist die offensive Reinigungsmetapher zum Teil auch bei christlich inspirierten Sekten wie Scientology sehr beliebt, bekannt geworden etwa im Januar 2008, als der amerikanische Schauspieler Tom Cruise, ein hohes Mitglied der Sekte, in einem später veröffentlichten internen Video zur Reinigung der Welt aufrief.

Der christliche Protestantismus hat in den letzten einhundert Jahren zahlreiche Begründungsmuster entwickelt, die einen moralischen Einsatz von Gewalt rechtfertigen und »gerechte Kriege« möglich erscheinen lassen. Der berühmte amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr bereitete mit seiner Lehre vom ethischen Perfektionismus im Umgang mit Gewalt den moralphilosophischen Grund für den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg (Childless 1974). Der Mensch, so Niebuhr, sei im Grunde sündhaft, und Gewalt sei dem Leben immanent. Es komme darauf an, im Umgang mit der Gewalt ein ziviles Maß zu entwickeln, nicht aber, wie in der pazifistischen Leugnung jeglicher Gewalt, soziale Verantwortung abzulehnen. »Notwendigkeit« (necessity) und »Verantwortung« (responsibility) waren für Niebuhr die zentralen Maßstäbe, an denen die Anwendung von Gewalt auszurichten war.

Doktrinäre Fortschritte erzielte etwa die protestantische Kirche dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als immer mehr Interpreten unter dem Eindruck der entwickelten Atom- und Massenvernichtungswaffen eine pazifistische Wendung forderten und den »gerechten Krieg« nicht mehr für durchführbar hielten (Honecker 1995, S.416 ff.). Dass diese Interpretation jedoch nicht die gesamte christliche Weltkirche in gleicher Weise erfasst hat, sondern immer wieder auch »gerechte Kriege« kirchlicherseits propagiert werden können, zeigte sich etwa am 17. Februar 2008, als die orthodoxe Kirche in Belgrad die Regierung anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur Mobilisierung der Armee und zur Besetzung der ehemaligen serbischen Republik aufforderte. Dieses eine Beispiel zeigt bereits, dass weder das Christentum noch der Islam mit einer offensiven und radikalen Deutung von Gewalt vollständig abgeschlossen haben.

Gewaltfreier islamischer Widerstand – im Westen ignoriert

Der Pazifismus ist in Europa und Nordamerika eine verbreitete Weltanschauung, in der verschiedene humanistische und christliche Begründungen zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Krieg und Gewalt führen. In den USA ist vor allem der Quietismus-Pazifismus der Quäker und der Amish-People ein Begriff. Wesentliche Einflüsse gingen aber auch von der Aufklärung aus, von Kants »ewigem Frieden« und der sich entwickelnden Menschenrechtsphilosophie. Moderne Friedensbewegungen haben sich in westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder gebildet, vor allem gegen den Krieg in Vietnam, die Golfkriege oder die Aufrüstungsbestrebungen während des Kalten Krieges. Pazifismus und Friedensbewegungen sind allerdings nicht identisch. Letztere sind relativ kurzfristige soziale Bewegungen, die Menschen unterschiedlicher Motivation vereinen, von denen die Wenigsten konsequente Pazifisten sind, wofür etwa der Zerfall der amerikanischen Friedensbewegung vor dem Einstieg der USA in den Zweiten Weltkrieg steht.

Eine mit dem Pazifismus verwandte Strömung stellt der gewaltfreie Widerstand dar. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika haben sich Bewegungen entwickelt, die der Ansicht sind, dass der gesellschaftliche Frieden nicht allein durch die Abwesenheit von Kriegen geschaffen werden kann (Ebert 1978). In den USA wurde vor allem Martin Luther King mit seiner Philosophie des gewaltlosen Widerstandes gegen die Rassendiskriminierung berühmt. In jüngeren Jahren vereinen zum Beispiel die Umwelt- oder auch die Anti-Globalisierungsbewegungen unterschiedliche Formen des gewaltfreien Widerstandes, wobei vor allem symbolische Aktionen einen moralischen Vorteil verschaffen sollen (LeVine 2005, S.246 ff.).

Es wäre trotz entsprechender starker Traditionen dennoch falsch anzunehmen, dass Pazifismus oder gewaltfreier Widerstand im Westen akzeptierte Mehrheitskulturen seien. Der konservative deutsche Bundestagsabgeordnete Heiner Geißler ging 1983 sogar so weit, den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich zu machen. Geißlers Aussage macht in überspitzter Form deutlich, dass eine prinzipielle Ablehnung von Gewalt und Krieg von einer Mehrheit in westlichen Gesellschaften als soziale Verantwortungslosigkeit betrachtet wird; eine Position, die in völliger Übereinstimmung mit der gerechten Kriegslehre von Theologen wie Reinhold Niebuhr steht (s.o.). Die zivilisierte Gewalt, nicht aber die völlige Ablehnung von Gewalt, prägt den zeitgenössischen Westen etwa im System der kollektiven militärischen Sicherheit der NATO und militärischer Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen. Zwar wird an dieser herrschenden Lehre von Seiten der Pazifisten immer wieder kritisiert, sie erhalte den Teufelskreis von Krieg und Gewalt aufrecht. Dennoch bleibt die Vorstellung von der ethischen, angemessenen und gerechten Gewalt die primäre, der Pazifismus hingegen die sekundäre Kultur des Westens, die allenfalls von Minderheiten vertreten wird.

Mark LeVine war einer der Ersten, die darauf hingewiesen haben, dass pazifistische und gewaltfreie Denkströmungen und Strategien des Islam im Westen nahezu völlig ignoriert werden. In der westlichen Welt herrscht eine selektive Wahrnehmung vor, die den Islam vor allem auf Terrorismus und alle möglichen Formen der Gewaltausübung reduziert, während umgekehrt der Buddhismus und Hinduismus von Vielen als »Friedensreligionen« verortet werden. Die selektive Festlegung des Islam auf Gewaltaspekte hat dazu geführt, dass der Versuch, Islam und Pazifismus in Einklang zu bringen, für viele Kritiker einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Theologisch scheinen unüberwindbare Probleme zu bestehen, da der Koran Gewalt und Krieg, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, rechtfertigt und vor allem, weil der Prophet Mohammed selbst Kriege führte. Während christliche Kriegsbegründungen stets sehr aufwändig sind, da sie der pazifistischen Botschaft von Jesus Christus zu widersprechen scheinen, könnte man meinen, dass Krieg und Gewalt dem Grundcharakter des Islam widerspruchsfrei und vollständig entsprechen. Dennoch hat sich ein islamischer Pazifismus entwickeln können, wobei Christentum und Islam spiegelbildliche Methoden der Exegese hervorgebracht haben. Das Christentum hat über Jahrhunderte, und zum Teil bis heute, die radikale Friedensbotschaft von Jesus Christus, die er nicht zuletzt in der Bergpredigt formuliert hat, in der praktischen Theologie durch Kriegsrechtfertigungen konterkariert. Im Islam ist die Lehre vom gerechten Krieg zwar tatsächlich die Hauptbotschaft des Korans, während pazifistische Lehren am Rande existieren (Abu-Nimer 2003, S.33). Allerdings berufen sich islamische Pazifisten auf die frühe Periode des Propheten Mohammed, in der dieser immer wieder trotz Verfolgung seinen Anhängern Gewaltausübung verbot, und zwar auch in Fällen der Selbstverteidigung. Die Person des Propheten Mohammed wird von den unterschiedlichen Richtungen vereinnahmt: Den Pazifisten gilt dieser ebenso als Vorbild wie den Terroristen (s.o.). Die Gruppen beziehen sich auf unterschiedliche Taten und Perioden seines Lebens. Der Missachtung der pazifistischen Schrift (Bibel) durch die christliche Kriegslehre entspricht also eine Relativierung der koranischen Lehre des gerechten Krieges durch die muslimischen Pazifisten unter Rückgriff auf bestimmte islamische Traditionsschriften der Hadith (Taten Mohammeds). Durch diesen epistemologischen Kunstgriff besteht durchaus die Möglichkeit, einen islamischen pazifistischen Traditionsbezug herzustellen. In einzelnen Fällen gelingt heute sogar bereits eine entsprechende Neudeutung des Korans selbst.

Das Bild des leidenden und verfolgten Propheten Mohammed hat sich im Sufismus wie auch in der Ahmadiyya-Bewegung verfestigt. Beide Richtungen stellen starke volksislamische Strömungen dar, die innere Askese und Reinigung durch Leidensfähigkeit predigen und sich vom Dschihad-Begriff als Metapher für den physischen Kriegskonflikt getrennt haben (Abu-Nimer 2003, S.45). Der moderne Reformislam hat diese Impulse aufgenommen und zur Herausbildung eines intellektuellen Pazifismus beigetragen. Maulana Wahiduddin Khan begründet die Überlegenheit des gewaltfreien Widerstandes mit den ersten Jahren des Wirkens des Propheten Mohammed in Mekka, als dieser Gewaltfreiheit und friedliche Mission (dawa) predigte (Khan o.J.). Zeki Saritoprak beruft sich unter Hinweis auf die türkischen Reformdenker Said Nursi und Fetullah Gülen ebenfalls auf das Vorbild Mohammeds (Saritoprak 2005).

Eine außergewöhnliche elegante Argumentation ist die von Chaiwat Satha-Anand, da sie sich nicht nur auf die Praxis des Propheten, sondern auf den Koran selbst bezieht. Zwar räumt Satha-Anand ein, dass der Koran die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Bedingungen erlaube. Allerdings seien diese Konditionen in der Ära hochtechnologischer Kriegsführung nicht mehr einhaltbar. Satha-Anand meint, die im Mainstream des Islam verankerte Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen (Zivilisten) sei im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr schlüssig, da Tötung nicht zielgenau auf Soldaten beschränkt werden könne, was praktisch bedeute, dass auch der Koran unter den zeitgenössischen Bedingungen als Aufforderung zum Kriegsverzicht zu interpretieren sei (Satha-Anand 1993, S.15). Hier deutet sich eine Argumentation an, die absolut parallel zu der pazifistischen Debatte des protestantischen Christentums nach dem Zweiten Weltkrieg verläuft. Beide Überzeugungen, der islamische wie auch der christliche Pazifismus, wenden sich gegen die von Niebuhr und anderen geprägte Vorstellung vom ethisch perfektionierbaren Umgang mit der Gewalt (s.o.) und weisen dabei insbesondere auf die Zerstörungskraft moderner Massenvernichtungswaffen hin.

Es gibt eine große Zahl von Beispielen für den Einsatz gewaltfreier Widerstandstechniken in der jüngeren islamischen Geschichte, die allerdings im Westen kaum beachtet werden. Auch islamistisch-fundamentalistische Organisationen setzen diese Techniken ein. Zu den berühmtesten Beispielen für gewaltfreien Widerstand (vgl. u.a. Wiktorowicz 2004, Zunes 1999) zählen die Ägyptische Revolution 1919 (monatelanger gewaltfreier Widerstand gegen die britische Besatzung), der paschtunische Widerstand 1930 unter Abdul Ghaffar Khan (»Badschah Khan«), der als enger Weggefährte Gandhis im heutigen Nordpakistan Tausende Mitstreiter seiner »Armee Gottes« (Khudai Khidmatgar) zum gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialmacht sammelte und sich dabei auf Mohammeds frühe pazifistische Tradition berief (vg. Easwaran 1999, Johansen 1997, Milton-Edwards 2006, S.187 ff.) oder auch in jüngerer Zeit der palästinensische Widerstand 1987, als im ersten Intifada-Aufstand die Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen ihre Form des Widerstandes vom bewaffneten Kampf der PLO zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Widerstand änderten.

Neben diesen großen Bewegungen ist gewaltfreier Widerstand ein alltäglicher Bestandteil des politischen Lebens in der islamischen Welt; ob Demonstrationen algerischer Journalisten, Hungerstreiks an palästinensischen Universitäten, von irakischen Ajatollahs organisierte Großdemonstrationen oder von Hamas initiierte Menschenketten durch den Gaza-Streifen: Die Zahl der Aktivitäten ist groß, ihr Charakter vielfältig.

Gegen kulturalistische Sichtweisen

Diese Beispiele zeigen schon, dass kulturalistische Thesen, die dem islamischen Raum gewaltfreien Widerstand oder gar Pazifismus grundsätzlich nicht zutrauen und von einer immanenten Gewaltneigung ausgehen, die Verhältnisse in den etwa sechzig islamischen Staaten dieser Erde nie genau analysiert haben. Chancen und Grenzen des gewaltfreien Widerstandes gegen Besatzung und autoritäre Herrschaft in der islamischen Welt sind bislang erst ansatzweise wissenschaftlich erörtert worden. Manchmal hat es den Eindruck, als ob westliche Öffentlichkeiten gewaltfreien Widerstand im islamischen Raum geradezu systematisch ignorieren würden. Während jeder Terroranschlag in den Abendnachrichten landet, sind auch die aufwändigsten gewaltfreien Aktionen bestenfalls Randnotizen in unseren Medien.

Dabei wäre gerade der systematische islamisch-westliche Vergleich von großer Bedeutung. Die muslimische Welt hat eine reiche Tradition friedlicher ziviler Streitschlichtung, aber Strategien des modernen Pazifismus und gewaltfreien Widerstandes sind nur mit begrenztem Erfolg umgesetzt worden. Zwar sind solche Erfahrungen auch im Westen in der Regel gesellschaftliche Randerscheinungen geblieben, aber die Errungenschaften etwa der Arbeiterbewegungen, der Friedensbewegungen oder der afro-amerikanischen Bewegung in den USA zeigen, dass tradierte Institutionen der gesellschaftlichen Streitbeilegung nicht ausreichen, um sich gegen Unterdrückung des modernen Staates zur Wehr zu setzen, egal ob es sich um den eigenen autoritären Staat oder einen fremden Okkupationsstaat handelt. Gerade im Nahen Osten hat sich ein Teil der Jugend der Gewalt zugewandt, weil die alten gesellschaftlichen Friedenssicherungen vom modernen Staat vereinnahmt wurden. Saddam Hussein kooperierte mit den tribalen Autoritäten des Irak (Jabar 2003) und Gamal Abdel Nasser kontrollierte die traditionelle islamische Geistlichkeit. Zur Bewältigung aktueller politischer und sozialer Probleme der islamischen Welt aber bedarf es moderner Emanzipationsbewegungen, in denen die patriarchalische Kluft zwischen Mann und Frau und soziale wie ethnische Grenzen überwunden werden müssen, um den Werten des Pazifismus und des gewaltfreien Widerstandes zum Durchbruch zu verhelfen (Abu-Nimer 2003, S.110 ff.).

Literatur

Abu-Nimer, Mohammed (2003): Nonviolence and Peace Building in Islam. Theory and Practice. Gainesville u.a.: University of Florida Press.

Bennett, Clinton (2005): Muslims and Modernity. An Introduction to the Issues and Debates. London/New York: Continuum.

Childless, James F. (1974): Reinhold Niebuhr’s Critique of Pacifism, The Review of Politics 4: 467-491.

Cleaver, Harry M. (1998): The Zapatista Effect: The Internet and the Rise of an Alternative Political Fabric, Journal of International Affairs 2: 621-640.

Davis III, Charles T. (2004): The Qur’an, Muhammad, and the Jihad in Context, in: J. Harold Ellens (Hrsg.): The Destructive Power of Religion. Violence in Judaism, Christianity, and Islam. Westport/London: Praeger, S.233-254.

Easwaran, Eknath (1999): Nonviolent Soldier of Islam. Badshah Khan: A Man to Match His Mountains. Tomales: Nilgiri.

Ebert, Theodor (1978): Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Frankfurt: Waldkircher.

Harle, Vilho (2000): The Enemy with a Thousand Faces. The Tradition of the Other in Western Political Thought and History. Westport/London: Praeger.

Honecker, Martin (1995): Grundriss der Sozialethik. Berlin: de Gruyter.

Jabar, Faleh A. (2003): Der Stamm im Staat. Zur Wiederbelebung der Stammeskultur im Irak, in: Kai Hafez/Birgit Schäbler (Hrsg.): Der Irak – Land zwischen Krieg und Frieden. Mit einem Vorwort von Hans Küng. Heidelberg: Palmyra, S.187-207.

Johansen, Robert C. (1997): Radical Islam and Nonviolence: A Case Study of Religious Empowerment and Constraint among Pashtuns, Journal of Peace Research 1, S.53-71.

Khan, Maulana Wahiduddin (o.J.): Non-Violence and Islam. URL: http://www.alrisala.org/Articles/papers/nonviolence.htm (15. September 2007).

LeVine, Mark (2005): Why They Don’t Hate Us. Lifting the Veil on the Axis of Evil. Oxford: Oneworld.

Saritoprak, Zeki (2005): An Islamic Approach to Peace and Nonviolence: A Turkish Experience, The Muslim World 7, S.413-427.

Satha-Anand, Chaiwat (1993): The Nonviolent Crescent: Eight Theses on Muslim Nonviolent Actions, in: Glenn Paige/Chaiwat Satha-Anand/Sarah Gilliatt (Hrsg.): Islam and Nonviolence. Honolulu: University of Hawaii, Center for Global Nonviolence Planning Project, S.7-26.

Understanding Islamism, International Crisis Group, Middle East/North Africa Report, Nr. 37, 2. März 2005, o.O.

Wiktorowicz, Quintan (Hrsg.) (2004): Islamic Activism. A Social Movement Theory Approach. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press.

Zunes, Stephen (1999): Unarmed Resistance in the Middle East and North Africa, in: Stephen Zunes/Lester R. Kurtz/Sarah Beth Asher (Hrsg.): Nonviolent Social Movements. A Geographical Perspective. Malden/Oxford: Blackwell, S.41-51.

Prof. Dr. Kai Hafez ist Professor für Vergleichende Medienforschung an der Universität Erfurt und Autor des Buches »Heiliger Krieg und Demokratie« (Bielefeld 2009).

Gender-Jihad

Gender-Jihad

Grundlage für den islamischen Geschlechterfrieden

von Rabeya Müller

Das Verstehen des Begriffs »Islam« könnte im öffentlichen Leben kaum unterschiedlicher sein. Die einen verbinden damit die Vorstellung von Frieden und Hingabe an Gott, die anderen Gewalt und Terror, aber auch Unterdrückung von Frauen. Beides lässt sich von den jeweiligen ProtagonistInnen belegen, sei es durch qur’anische Texte, sei es durch reale Bilder. Nach außen hin wirkt es so, als würden sich muslimische Mädchen und Frauen in das vorgegebene Rollenschema einfügen und die bestehende Situation verteidigen während auf der anderen Seite sog. Islamkritikerinnen die Situation feministisch erkannt und analysiert haben. Wie sieht die Konstellation innerislamisch tatsächlich aus? Ist es möglich eine Friedenserziehung vom islamischem Verständnis durchzuführen, z.B. als Bestandteil eines konfessionellen islamischen Religionsunterrichts, die auch zu einem friedlichen Zusammenleben der Geschlechter führt? Welche Rolle spielt dabei Feminismus oder Geschlechtergerechtigkeit im Islam?

Kein Frieden ohne Geschlechterfrieden – wenn diese abgewandelte Form des Slogans von Hans Küng („Kein Friede ohne Religionsfrieden“) zitiert wird, reagieren viele muslimische Vertreter, aber auch Vertreterinnen mit einem gewissen Unverständnis.

Im allgemeinen wird der Begriff Islam mit der Konnotation Salam (Frieden) synonym gesetzt, beide haben die gleiche Wortwurzel. Was dies allerdings mit der Rolle der Geschlechter zu tun haben könnte, wird als irrelevant empfunden. Dies ist die offizielle »Heile-Welt-Version«, die seitens vieler muslimischer Gruppierungen vertreten wird. Auf der anderen Seite haben bereits viele muslimische Frauen erkannt, dass die patriarchale Auslegung ein Zustand ist, der Frauen einschränkt, sie domestiziert und von der Partizipation an der Macht abhält.

Traditionell liegt das Ziel darin, bestehende Rollenklischees zu verfestigen und neuere Machtansprüche des weiblichen Geschlechts zu kontaminieren. Dies geschieht auf geradezu subtile Weise unter den Augen der Öffentlichkeit, ja sogar unter deren Beihilfe. So wird z.B. viel über die Ausbildung von Imamen diskutiert und viele Hochschulen möchten diese Ausbildungsgänge zu sich holen. Schließlich geht es hier nicht nur um einen Machtfaktor, sondern auch um die Möglichkeit richtungsweisend für die islamische Theologie der nächsten fünfzig Jahre tätig zu werden. Staatlicherseits wird zwar zaghaft die Frage von Imaminnen vorgebracht, aber viel zu leicht lässt man sich hier mit der Aussage abwiegeln, dass es natürlich Imaminnen bzw. weibliche Hodschas gäbe – wohlwissend, dass diese zwar für den Unterricht, maximal für das Gebet von Frauen, aber keinesfalls für die Leitung einer Gemeinde eingesetzt werden.

Die Kontroverse um die Islamprofessorin Amina Wadud, die 2005 in New York als Frau ein Freitagsgebet von Männern und Frauen leitete, zeigt wie angstbesetzt die nach außen hin so widerstandsfähig wirkenden patriarchalen Kräfte sind. Die Reaktionen gingen quer durch die sog. Islamische Welt, von dem Vorwurf der Häresie, über die Betitelung als »Feindin des Islam« bis zur Abqualifizierung als »verwirrte Frau«. Wadud bekam es, auch persönlich, deutlich zu spüren, wie wenig offen viele muslimische Kreise Veränderungen gegenüber sind, besonders wenn sie die traditionelle Religionsausübung betreffen.

In ihren Büchern, vor allem in dem Werk »Inside the Gender Jihad«1 plädiert sie explizit für eine Pluralität in Bezug auf Meinungen und Lebensentwürfe, insbesondere auch auf die Perspektiven der Qur’aninterpretation. Hierbei stellt sie die dynamische Interaktion zwischen dem Lesenden und dem Text in den Mittelpunkt.

Für Wadud, wie für viele andere Vertreterinnen einer geschlechtergerechten Sichtweise auf den Qur’an, ergibt sich aus dessen Lektüre eine werkimmanente Geschlechtergerechtigkeit, die eine egalitäre Kernbotschaft des Qur’ans verdeutlichen. Viele dieser Ideen konnten in der frühislamischen Zeit nicht unmittelbar umgesetzt werden, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür noch nicht bereit waren. Fatal ist nur, dass offenkundig die Stellen, die augenscheinlich der Gleichheit widersprechen, sofort verwirklicht und etabliert werden konnten.

Dass es sich hierbei um eine kontextuelle Interpretation handelt, möchten viele ausblenden. So wie Übersetzungen stets eine Interpretation des Textes darstellen, sind auch Exegesen nie ein Endprodukt. Die quasi »offene Struktur des Buches« eröffnet die Möglichkeit unterschiedliche Perspektiven zuzulassen ohne sich dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen.

Gerade auch deshalb ist es notwendig Gender als eine Denkkategorie wieder ins Bewusstsein zu bringen, um einen zwar kontroversen, aber auch friedlichen Diskurs hinsichtlich der Geschlechterdifferenz zu ermöglichen.

Auf vielen anderen Gebieten sind Reformen zwar kritisiert, aber dennoch zugelassen worden, etwa als Muhammad Abdu Bankzinsen für zulässig erklärte, nur in Bezug auf die sog. Frauenverse und der damit verbundenen Genderfrage scheint weder ein Einlenken noch ein Kompromiss möglich.

Wie erwähnt ist dies allerdings eine Tendenz, die von nichtmuslimischer Seite beabsichtigt oder unbeabsichtigt unterstützt wird.

Exegetischer Friede oder friedliche Exegese?

Ein weiteres Beispiel ist, wenn in zugelassenen Lehrplänen davon die Rede ist, dass die »einschlägigen« Verse zur Erschaffung des Menschen (u.a. Sure 4:1-3 oder 49:13) gekannt werden sollen, aber nirgendwo die Rede davon ist, welche Übersetzung hierfür genutzt werden soll; auch hier besteht die Gefahr patriarchale Strukturen zu verstärken. Denn die vorgegebenen Verse können sowohl geschlechtergerecht als auch patriarchal gelesen werden, wie das Beispiel der Schöpfungsgeschichte belegt (siehe Kasten).

Patriarchale Übersetzung Geschlechtergerechte Übersetzung
Sura An-Nisa‘ (Die Frauen) (offenbart zu Al-Madina) 176 Ayat Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen! O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; und aus ihm erschuf Er seine Gattin, und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und fürchtet Allah, in Dessen Namen ihr einander bittet, sowie (im Namen eurer) Blutsverwandtschaft. Wahrlich, Allah wacht über euch.[4:1] [1] Sura An-Nisa‘ (= Die Frauen, offenbart zu Madina, 176 Ayat)
„Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen! Ihr Menschen, seid ehrfürchtig gegenüber eurem Rabb, Der euch erschaffen hat aus einem einzigen Wesen; Aus ihm erschuf Er das (entsprechende) Partnerwesen und aus den beiden ließ Er viele Männer und Frauen entstehen. Und seid ehrfürchtig gegenüber Gott, in Dessen Namen ihr einander bittet, ……[4:1]“ *
* (Zentrum für Islamische Frauenforschung- und Frauenförderung: „Ein einziges Wort ..“, Köln 2005.)

Zumindest wäre es sinnvoll diese beiden möglichen Übersetzungen miteinander zu vergleichen und deren Wirkung entsprechend zu diskutieren. Statt dessen werden die Verse zu häufig zur Bestätigung und Verfestigung bestehender Rollenklischees genutzt, anstatt einen qur’anhermeneutischen Schwerpunkt zu setzen. Was gänzlich im Lehrplan fehlt und die anderen Verse unter einem entsprechenden Aspekt interpretierbar macht ist, dass der Qur’an die Beziehung der Geschlechter an der gegenseitigen Zuneigung festmacht: „Und zu Seinen Zeichen gehört es, dass Er euch aus Erde erschuf; alsdann, seht, seid ihr Menschen geworden, die sich vermehren.[30:20] Und ebenfalls zu Seinen Zeichen gehört es, dass Er Partner und Partnerinnen für euch aus euch selber schuf, damit ihr Frieden bei ihnen finden möget; und Er hat Zuneigung und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin liegen tatsächlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt.“[30:21]

Erst hier wird der Kontext klar, um den es in den vielen anderen Qur’anstellen geht. Aber diese Kontextualisierung, die damit verbundene Reflexion und kritische Fragestellung sind in vielen Gruppierungen nicht erwünscht und dem wird auch öffentlich Rechnung getragen – eventuell, um ein bestimmtes Bild vom Islam zu erhalten oder um sich die entsprechenden Gruppierungen gewogen zu halten.

Diese klischeehafte Vorstellungen von den Geschlechterrollen durchsetzen viele Themen in den Lehrplänen, auch so harmlos erscheinende wie das Thema Fasten: „Es ist euch erlaubt, euch in der Nacht des Fastens euren Frauen zu nähern; sie sind Geborgenheit für euch und ihr seid Geborgenheit für sie. Allah weiß, dass ihr gegen euch selbst trügerisch gehandelt habt, und Er wandte euch Seine Gnade wieder zu und vergab euch. So pflegt nun Verkehr mit ihnen und trachtet nach dem, was Allah für euch bestimmt hat. Und esst und trinkt, bis der weiße Faden von dem schwarzen Faden der Morgendämmerung für euch erkennbar wird. Danach vollendet das Fasten bis zur Nacht. Und pflegt keinen Verkehr mit ihnen, während ihr euch in die Moscheen zurückgezogen habt. Dies sind die Schranken Allahs, so kommt ihnen nicht nahe! So erklärt Allah den Menschen Seine Zeichen. Vielleicht werden sie (Ihn) fürchten.“[2:187]

Hier wird augenscheinlich von einem aktiven männlichen Part und einem passiven weiblichen ausgegangen. Es ist ein Beispiel für einen Text, der ohne entsprechenden azbabun-nuzul (Grund für die Offenbarung) frauenfeindlich genutzt werden kann. Dabei ist wichtig zu wissen, dass hier offene Fragen in der frühislamischen Gemeinde vorlagen lediglich den Zeitumfang des Fastens betreffend um diesen ähnlich dem anderer Religionsgemeinschaft zu gestalten. Es geht eindeutig um das Aussetzen des Fastens während der Nacht.

Islamischer Religionsunterricht – Basis für Geschlechtergerechtigkeit?

Anhand der Interpretationsmöglichkeiten nur der wenigen, bisher genannten Verse ist erkennbar, welchen Stellenwert die Bearbeitung des Themas Frieden, hier speziell des Geschlechterfriedens im Unterricht haben sollte:

„Im Religionsunterricht werden Kinder oft erstmalig an eine strukturelle Aufarbeitung der Themen Frieden und Gewalt herangeführt. Das bedeutet ihre bisherige Sozialisation hat die Vorkenntnisse und »Vorurteile« zu diesem Thema bereits entscheidend geprägt. Auch die katechetischen Belehrungen haben häufig eine prägende Wirkung.

Umso wichtiger ist es, dass Kinder einen eigenen Zugang zu ihren Quellen erarbeiten, der ihnen auch Instrumentarien an die Hand gibt, selbst diese Quellen zu erschließen und eigene Rückschlüsse für ihr Leben zu ziehen. Das ist im Hinblick auf die Tatsache, dass Elternhaus und Gemeinde oft stärker an der Wahrung der Traditionen der jeweiligen »Volksreligion« interessiert sind, nicht gerade fazil.

Somit hat Religionsunterricht (RU) nicht nur die Funktion theologisches Wissen zu vermitteln, sondern auch das Wissen zu benutzen, um Zusammenhänge erfassen und Komplexität analysieren zu können. Jede Religionsgemeinschaft erhebt den Anspruch ihre Kinder zum Glauben hin erziehen zu wollen, allerdings gehört dazu das Wissen über die Religionen und die zu erlernende Fähigkeit, aus dem eigenen Religionsverständnis heraus gemeinsames, friedliches Zusammenleben in Respekt voreinander miteinander gestalten zu können.

Die verschiedenen Religionsgemeinschaften betrachten diese Voraussetzungen mit unterschiedlicher Gewichtung. Einerseits erschließt sich uns eine klare Sachebene, auf der Friedenskompetenz erarbeitet werden kann. Das lässt sich sowohl im konfessionellen, als auch im interreligiösen Unterricht bewältigen. Andererseits gibt es aber noch die persönliche und damit sehr emotionale Ebene der Friedenskompetenz, die auch abhängig ist vom Friedenswillen, der wiederum durch entsprechendes theologisches Sachwissen unterstützt werden soll.“ 2

Der Respekt vor dem Andersdenkenden ist nicht ausschließlich auf Angehörige anderer Glaubensvorstellungen und Ideologien gerichtet, sondern zugleich grundsätzlicher Natur – denn er beinhaltet z.B. auch den Respekt vor dem jeweils anderen Geschlecht, also bedarf es ebenfalls einer Friedenserziehung in der Geschlechterdifferenz. Wie gezeigt, beginnt dies bereits bei der Schöpfungsgeschichte, wo der jeweilige Schöpfungsbericht entweder durch Interpretation oder durch gezielt gelenkte Übersetzungen frauenfeindlich überliefert wird.3

So wie hinter der Konnotation von Religion und Gewalt meist der Absolutheitsanspruch auf Besitz der Wahrheit steht, setzt sich dies in der Durchsetzung von bestehenden Rollenstrukturen weiter fort. Obwohl weitgehend betont wird, dass der Islam eine körperfreundliche Religion sei, was durch den Qur’an auch durchaus belegbar ist, ist die traditionelle Haltung vieler Musliminnen und Muslime (so wie dies auch in anderen Religionsgemeinschaft als Trend erfasst werden kann) eher geeignet weibliche Sexualität unter Kontrolle zu halten.

Sex, Gender und Gewalt?

Die Differenzierung von »sex« als biologischem Geschlecht und »gender« als sozialem Geschlecht findet nur selten Niederschlag im Bewusstsein muslimischer Schülerinnen und Schüler. Das bedeutet auch wenig Veränderungen im Bewusstsein der alltäglichen religiösen Praxis. Eine Situationen, die viele sog. Islamexperten zu der Ansicht verleitet, dass die patriarchalen Strukturen, durch religiöse Vorgaben begünstigt werden und damit der Religion allein die Schuld für die desolate Situation vieler muslimischer Frauen zukommt. Oft genug gipfelt dies in der Forderung, die Religion möglichst abzuschaffen.

Die von einigen Musliminnen und Muslimen oft vorschnell eingebrachte Absicht religiöse Überzeugungen mit Hilfe von Gewalt oder deren Androhung Nachdruck zu verleihen, führt zu einer Konstellation von Intoleranz gepaart mit extremistischen Vorstellungen, die den sog. IslamkriterkerInnen und deren Einschätzungen Vorschub leistet.

Wenn also das Thema Gewalt in der Vielfalt seiner emotionalen Facetten (wie Angst, Abscheu, aber auch Faszination und Begeisterung) lebensgeschichtlich schon früh eine tragende Rolle spielt, ist damit auch die religiöse und ethische Entwicklung des Menschen angesprochen. Die entscheidende Zuspitzung liegt aber darin, dem Phänomen in seiner geschlechtsspezifischen Dimension Rechnung zu tragen. Allerdings – und das macht die Kombination der Fragestellung nach Religion, Gewalt und Geschlecht besonders brisant – ist dies forschungswissenschaftlich Neuland, denn die Untersuchungen zu Religion und Gewalt blenden zumeist die Genderthematik aus, während die vor allem sozialwissenschaftlich boomenden Studien zur Männlichkeit der Gewalt den religiösen Blickwinkel vernachlässigen. Wir kommen jedoch nicht umhin, beide Stränge im Gewaltdiskurs einzubinden, um auf die Notwendigkeit weiterer Forschung hinzuweisen.

Kinder und Jugendliche sehen sich einer bestimmten Erwartungshaltung seitens der Eltern und der Gemeinschaft ausgesetzt, was sie im Religionsunterricht lernen sollen und leiten diesen Druck bewusst oder unbewusst an die jeweilige Lehrkraft weiter. Eltern ihrerseits sind oft von Ängsten besetzt und fürchten den Verlust religiöser Werte.

Werte sind wissenschaftlich gesehen oft sehr eingeschränkt auf fachimmanente Kategorien bezogen. In der islamischen Theologie z.B. ist jedoch eine Möglichkeit der werkimmanenten Interpretationsmöglichkeit des Qur’an (d.h. die Instrumentarien für die Interpretation liefert das Buch selbst) bekannt.

Die Wahrung der religiösen Werte z.B. im »Volksislam« verlangen augenscheinlich nach ausgeprägter normativer Pädagogik. Dem entgegen steht die Vorstellung einer Schuldidaktik, dass Schülerinnen und Schüler die obligatorischen Werte selbst erarbeiten und analysieren sollten und somit einen eigenen Zugang zu religiöser Wahrheit konzipieren. Ein solcher Unterricht ist prozessorientiert dem spezifisch subjektiven Lernen angepasst. Dieser emanzipatorische Ansatz stellt hohe Anforderungen an die Lehrkräfte und die Zugeständnisfähigkeit der Eltern, die oft ganz andere Erwartungen an einen konfessionellen Religionsunterricht in der Schule haben.

Die Forderungen an die Lehrkräfte, hierbei eine neutrale Rolle einzunehmen, erscheint manchmal als eine Illusion und wahrscheinlich wäre nur die Vermittlung ideologiekritischer Instrumentarien dazu geeignet ein neutrales Element mit einzubringen, welches berücksichtigt, dass Lehren stets mit eigenem Lernen verbunden ein wechselseitiger Prozess ist.

Grundsätzlich sind beide Geschlechter, d.h. Mädchen und Jungen, Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer betroffen, wobei sich aber augenscheinlich vornehmlich bei der jüngeren Generation der nicht ausgetragene innerislamische Konflikt um den Geschlechterdiskurs zunehmend nach außen richtet und zu einer Art Radikalisierung führt. Besonders junge Musliminnen empfinden sich in ihrer muslimischen Identität nicht ernst genommen. Sie erleben bei den zarten Versuchen als eigenständige muslimische Persönlichkeiten wahrgenommen und akzeptiert zu werden die Zurückweisung großer Teile der nichtmuslimischen Gesellschaft sehr schmerzhaft. Denn auch in der nichtmuslimischen Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Tradition und Religion nur allzu oft – zu intensiv war die Vorgabe der »IslamkritikerInnen«. Die Antwort der Islamischen Seite ist oft eine Apologetik, die die Selbstkritik zu einem Verrat werden lässt.

Friedensfähigkeit durch Friedenserziehung

Da ist zunächst die persönliche Ebene, die stark auch mit dem Begriff der Identitätsbildung verbunden ist: „Auch religiöse Identitäten stehen immer in bestimmten historischen Zusammenhängen und sind keine anthropologischen Konstanten. Sie haben vielmehr teil an Traditionslinien und -brüchen der je eigenen und der allgemeinen Geschichte und entwickeln sich also immer in bestimmten Erfahrungszusammenhängen von erlebter oder doch wahrgenommener Geschichte….“ 4

Hier ist der Weg zuerst einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und in Einklang mit sich selbst zu kommen. Kindern und Jugendlichen sollte vermittelt werden, dass ein solch eigener Standpunkt, auch vor der eigenen Religion und Religionsgemeinschaft legitim ist, wobei aber dieser eigene Standpunkt keinen Absolutheitsanspruch entwickeln sollte.

Dabei wird sich natürlich immer wieder die Frage nach der Wahrheit bzw. dem Wahrheitsanspruch in den Vordergrund drängen; eine Frage, die, aufgrund der Tatsache, dass entsprechende Vorstellungen Eingang in pädagogisches Handeln bekommen, uns auch weiterhin in hochbrisanter Weise beschäftigen wird.

Traditionsträchtige Werte scheinen meist nicht kombinierbar mit Reflexionsansprüchen. Kinder wollen ihren Eltern gefallen und übernehmen manchmal in geradezu schizophrener Weise die Werte mit einem Teil ihrer Persönlichkeit, sind aber im Alltag oft mit ganz anderen Realitäten konfrontiert und setzen viel daran die traditionellen Werte zu verteidigen, sogar wenn dabei der Wert des Friedenserhalts außen vor gelassen wird. So haben wir eine Rankingliste der Werte, bei der Frieden offensichtlich weit unten rangiert. Unreflektiertes Wissen kann jedoch keinen friedensfördernden Denkprozess in Gang setzen. Wer z.B. nur gelernt hat, dass Islam Frieden heißt, ohne dabei einen Bezug zur eigenen Lebensrealität zu entwickeln, glaubt zunächst, dass dieses Wissen ausreichend sei. Bei der nächstbesten Konfliktsituation jedoch tritt ein realer Mechanismus in Kraft, bei dem das reproduzierte Wissen völlig in den Hintergrund tritt und das »Gesetz der Straße« greift. Das bedeutet, auch Gewalt ist augenscheinlich eine Lösung.

Als nächstes steht »das Frieden-Schließen« mit der eigenen Familie und der eigenen Gruppe an. Wobei auch hierbei wesentlich ist die Problematik nicht im anderen zu sehen, sondern zunächst eine Selbstproblematisierung vorzunehmen, die einen eigenen Lösungsansatz ermöglichen und nicht den Ist-Zustand als gegeben betrachten lassen. Keine Kritik ohne Selbstkritik könnte hier das Motto lauten. Den Mut zu fassen die Deutungshoheit nicht in den Händen einiger Weniger zu lassen und das Recht über die Schrift nachzudenken und darüber zu diskutieren. Das gilt für allgemein theologische Bereiche ebenso wie für alle Tabuthemen und das in jeder Religionsgemeinschaft.

Erst dann ist im eigentlichen Sinn auch eine Friedenserziehung im interreligiösen und interkulturellen Bereich möglich, d.h. Religionsunterricht dient auch der »Entfeindung des Andersdenkenden«. Es gilt das Interreligiöse und Interkulturelle in der eigenen Religion entdecken, was heißt auf der Ebene der Geschöpflichkeit jegliche Dominanzansprüche fallen zu lassen. Wenn der Mensch sich in seiner Subjektivität begreift, aber als ein von Gott gewolltes Wesen, kann er sich ohne Verlust von Selbstachtung seiner eigenen Überzeugung als subjektiv stellen, die anderen mit sich auf gleicher Ebene betrachten und sich beruhigt in »Gott hineinfallen lassen«.

Die Religion an sich benötigt keine Verteidigung, ebenso wie Gott nicht einer Verteidigung durch den Menschen bedarf. Das ist wesentlich im Hinblick auf einen friedlichen Umgang mit sich, der eigenen und anderen Religionsgemeinschaften und der Mehrheitsgesellschaft.

Obwohl es in den einzelnen Religionen und Ideologien verstärkt Ansätze zu interreligiösem und interkulturellem Handeln und Agieren gibt, ist die Umsetzung in die eigene Lebensrealität schwieriger denn je.

Auch im Religionsunterricht ist es mehr denn je nötig verständlich zu vermitteln, dass demokratisches Denken und Handeln nicht im Widerspruch zur eigenen Religion stehen, was jedoch ebenfalls voraussetzt, dass demokratische Strukturen in gleichem Maße für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten, was sie zwar formell tun, in der Realität erleben sich jedoch z.B. religiös orientierte Menschen ausgegrenzt und das Bekenntnis zu einer religiösen Orientierung kommt einem Outing gleich, das oft ein Spießrutenlaufen nach sich zieht.

So ergeben sich aus dem Alltag heraus wesentliche Punkte, die Einfluss auf Friedensdenken und somit auch auf den RU haben.Nicht umsonst sprechen wir von einer Bedrohung des sozialen Friedens und damit ist nicht mehr allein der Frieden in den Betrieben etc. gemeint, sondern das Nicht-Vorhandensein sozialer Gerechtigkeit und das stets zunehmende soziale Gefälle durch das Wegbrechen der Mittelschicht. Das erschwert in den meist heterogenen Klassen und Gruppen den Zugang zum Friedensbegriff überhaupt. Eine Gesellschaft, die auf sozialen Ausgleich bedacht ist, hat es auch einfacher mit der Erziehung zum Frieden.

Möglichkeiten und Grenzen

Gerade die Erarbeitung der Unterschiede als Potential für Pluralität und nicht Antagonismus bietet eine Chance in der Friedenserziehung. Wenn Unterschiede bearbeitet und als Thema »normalisiert« werden, wird durch Vielfalt die Aggressivität entzogen. Dabei ergeben sich Möglichkeiten sich auf das Andere, das Fremde einzulassen und dabei eigene grenzenüberwindende Potentiale zu entdecken.

Junge muslimische Männer versuchen ihrer, so oft formuliert »gottgegebenen« Rolle gerecht zu werden. Diese Rolle zeichnet sich durch die Vorstellung einer spezifischen Dominanz in Familie und Gemeinschaft aus, die der augenscheinlichen sozialen Unterlegenheit in der realen Sozialstruktur entgegensteht. Während junge Frauen nach zwei Seiten gegen ihre von außen verordnete Einordnung in ein Rollenklischee kämpfen, tun junge Männer dies zum Erhalt dieses Musters, obwohl auch sie diese ideologischen Vorgaben oft kritisch sehen.

Die von außen verordnete oder an die Zielgruppen herangetragene Kritik bleibt allerdings meist wirkungslos, da diese, zielgerichtet auf die Religion abgestimmt, mehrheitlich als deplaciert empfunden wird, d.h. sie trifft nicht »des Pudels Kern«.

Was tatsächlich in Frage gestellt wird sind die geschlechtsspezifischen Vorgaben im Erziehungsstil. Muslimische Kinder und Jugendliche analysieren bei entsprechender Kenntnis qur’anischer Instrumentarien sehr wohl, dass theologisch keine Grundlage für die strukturelle Rollenvergabe vorhanden sind, denn außer Schwangerschaft und Gebärfähigkeit sieht der Qur’an explizit keine unterschiedliche Rollenverteilung vor. Diese Analyse führt einerseits dazu, dass innerislamisch der Diskurs über religiöse Rollenmuster in Bewegung kommt, dass andererseits durch die von außen angewandten Zuschreibungen das Gewaltpotential wächst, und zwar auch bei Mädchen und jungen Frauen.

Gerade Musliminnen fühlen sich zunehmend durch den Qur’an dahingehend bestätigt, dass Gott, der im Islam selbst als geschlechtslos gilt, da Geschlechtlichkeit eine Eigenschaft des Geschöpfs ist, kein Geschlecht bevorzugt oder benachteiligt. Gott wird zwar oft mit nahezu menschlichen Eigenschaften versehen, aber die sind ebenso männlich wie weiblich einzuordnen und gerade deshalb keinem Geschlecht zuordbar.

Die Aufgabe religiöser Bildung darf allerdings hier nicht stehen bleiben. Es geht darum diese Erkenntnisse in den Alltag zu integrieren und in die Praxis umzusetzen. Ein guter Weg dorthin ist auch die »Ent-Theologisierung« der alltäglichen Probleme, um sie als das zu entlarven, was sie tatsächlich sind, nämlich Genderkonstrukte im Hinblick auf die Fragwürdigkeit von Machtstrukturen. Diese Form der Bildung sollte, ausgehend vom schulischen Bereich, auch auf die Erwachsenenbildung ausgedehnt werden, um auch hier die tradierten Identitätsbilder in Frage stellen zu können. Die Entwicklung einer entsprechenden Diskussionskultur ist die Grundlage nicht nur des Geschlechterfriedens sondern des friedlichen Miteinanders der Gesamtgesellschaft.

Anmerkungen

1) Amina Wadud: Inside the Gender Jihad, One World Publication, Oxford 2006.

2) Rabeya Müller / Reinhold Mokrosch: „Islamische und christliche Perspektiven für Friedenserziehung in der Schule“ in Werner Haußmann u.a.: Handbuch Friedenserziehung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, S.342ff.

3) siehe auch hierzu: Rabeya Müller: „Wer den Wind sät …den weht dieser an einen fernen Ort“ in Predigthilfe / Ökumenische Friedensdekade, Aktion Sühnezeichen (Hrsg.) , Ausgabe August 2003 (S.II34 ff).

4) Rudolf von Thadden: Identifikation im demokratischen Gemeinwesen in Wolfgang Schultheiß (Hrsg.): Zukunft der Religionen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, (S.81-85).

Rabeya Müller ist Leiterin des Instituts für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik in Köln.

Im Haus der Vernunftflucht

Im Haus der Vernunftflucht

von Sabine Korstian

„Immer wenn es um die Iren ging, ist bei den Briten die Vernunft aus dem Fenster geflogen.“ An diesen Spruch einer nordirischen Bekannten muss ich oft denken, wenn über den Islam diskutiert wird. Nicht wegen Iren und Briten, sondern wegen der Vernunftflucht, die offenbar einsetzt, sobald das Stichwort Islam fällt. Im multikulturell bewohnten Haus der Vernunftflucht wimmeln die üblichen Verdächtigen – Intoleranz, Ignoranz, verzerrte Wahrnehmung, Neid, Vorurteile, Aus- und Abgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Rassismus – meist geschmückt als Kulturdeterminismus – und ähnlich hässliche Hausgenossen, die verstärkt und ermuntert seit 9-11 mit einem neuen Jargon ihren Hass- und Projektionsobjekten religiöse Etikette anheften. Da Menschen im Guten wie im Bösen gleich sind, sollte das nicht überraschen, sondern eher die Frage aufwerfen, ob es nicht weniger das »Anderssein« ist, an dem man sich stört, als vielmehr das hässliche Spiegelbild des Eigenen. So verwundern weitere Gemeinsamkeiten nicht, wie Demokratiefeindlichkeit, Gewaltverherrlichung, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus.

Islamkritische Argumente erinnern an frühere Debatten über die angeblich ebenso chronische wie automatische Rückständigkeit, Autoritätsgläubigkeit usw. von Katholiken, wie sie sowohl im angelsächsischem Raum als auch in Deutschland mit größter Selbstverständlichkeit geführt wurden, während gleichzeitig katholische Reaktionen oft genauso wenig als Sternstunden der Vernunft gelten können. Das in den 60er Jahren populär gewordene »katholische Arbeitermädchen vom Lande« war z. B. keineswegs zufällig katholisch. War dies ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, um verschiedene Dimensionen von Benachteiligung in einem Schlagwort zu benennen, so beschäftigten sich einige Mieter im Haus der Vernunftflucht mit der Vermischung von Dimensionen ohne Analyse: Soziale Fragen werden zu kulturellen, kulturelle zu religiösen, religiöse zu politischen, politische zu individuellen, individuelle zu kollektiven und umgekehrt und weiter beliebig vermischbar bis man entweder gar nicht mehr weiß, worüber gesprochen wird oder nur allzu genau: Der Islam und die Muslime. Sind sie friedlich? Sind sie kriegerisch? Gibt es blöde Fragen? Ja!

Denn auch die anderen beiden Fragen sind schnell beantwortet: Ja und nein; nein und ja; sowohl als auch; mal so, mal so. Inhaltsleere Antworten ergeben sich aus inhaltsleeren Fragen, denn was ist »der Islam« und wer ist »der Muslim«? Das essentialistische Denken ist das Hobby weiterer Mieter und daher sind beide überzeugt, die Essenz des Islam gefunden zu haben. Der eine hat den Muslim an sich durchschaut, der andere weiß genau, wie ein echter Muslim zu sein hat. Vielfalt, Kontextualisierungen, innerislamische Debatten und sonstige Differenzierungen erscheinen ihnen überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich. Doch sie haben einen Vetter, der es nicht einmal böse meint, allerdings dazu neigt, alles unschöne auszublenden. So kann dieser zum Beispiel sagen »Islam heißt Frieden«. Als persönliches Bekenntnis und als theologischer Standpunkt ist dagegen nichts einzuwenden, ebenso wie man glauben kann, »Christentum heißt Nächstenliebe«. In jedem anderen Zusammenhang sind solche Floskeln allerdings nicht nur eine Unverschämtheit gegenüber den unzähligen Opfern religiös begründeter Gewalt, sondern Unsinn, wie historisch und aktuell unschwer feststellbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass »Frieden« und »Nächstenliebe« nicht selbsterklärend sind. Schon manch einer hat aus lauter Nächstenliebe jemanden den Schädel eingeschlagen oder so Frieden hergestellt. Weder sind andere Religionen besser, noch ist Gewalt ein Merkmal, das Religionen auszeichnet. Man kann Religionen als Versuche interpretieren, Gewalt als omnipräsente Handlungsoption des Menschen einzudämmen, aber sie können ebenso das Gegenteil befördern.

Schließlich will ich eine WG im Hause nicht unerwähnt lassen. Dort ist man gerne und ausdauernd mit den eigenen Gefühlen beschäftigt oder den angeblichen Gefühlen anderer. Manche fühlen sich bedroht und überfremdet, manche bedroht und nicht respektiert. Alle sind sich ganz sicher, dass es Millionen anderen genauso geht und haben sich gegenseitig von der Richtigkeit dieser Einschätzung überzeugt: Welcher echte Deutsche wacht demnach morgens nicht schweißgebadet vor Islamangst auf und welcher echte Muslim ist nicht schon beim Aufwachen beleidigt? Das Gerede über Gefühle hat Vorteile: Es ist nicht überprüfbar, muss sich von Fakten nicht stören lassen und lenkt von tatsächlichen Problemen ab.

Kann mal jemand im Haus die Fenster schließen und statt dessen die Tür öffnen? Mit dieser Ausgabe, versuchen wir einen kleinen Beitrag dazu zu leisten.

Ihre Sabine Korstian

»Der« Islam?

»Der« Islam?

Vielfalt und Friedensvorstellungen

von Dr. Silvia Kaweh

In Deutschland leben über vier Millionen Muslime, und dies oft schon in der dritten Generation. Die meisten stammen aus der Türkei. Mittlerweile sind 45 Prozent der Muslime in Deutschland eingebürgert. Rund ein Drittel lebt in Nordrhein-Westfalen, und manchmal stellt dort die muslimische Schülerschaft die Mehrheit in den Klassen. Auch wenn nicht alle Muslime als streng gläubig anzusehen sind, sind sie jedoch religiöser als die meisten ihrer nicht-muslimischen Mitbürger. Was sind die Grundgedanken des Islam – der nach dem Christentum zweitgrößten Weltreligion –, zu dem sich mehr als eine Milliarde Menschen bekennt? Welche Bedeutung kommen dem Koran, der »Sunna« und Muhammad als Religionsstifter zu? Längst meinen die meisten zu wissen, was »den« Islam ausmacht: Gewaltbereitschaft, Antimodernismus, fehlende Integrationsbereitschaft und damit einhergehende muslimische Parallelgesellschaften in Europa. Die Wirklichkeit ist deutlich differenzierter.

Letztendlich zielen die religiös begründeten ethnischen Prinzipien und Pflichten im Islam auf ein konfliktarmes Zusammenleben. Darin ähneln sich wohl alle Religionen. Dies schließt den religiösen Einfluss auf Gesellschaft und Politik mit ein und setzt die moralische Vervollkommnung des Menschen auf ein religiöses Ziel hin voraus.

Das arabische Substantiv »Islam« leitet sich vom 4. Wortstamm der arabischen Konsonantenwurzeln »s-l-m« ab. Das Verb des 4. Stammes »Aslama« bedeutet: »sich (Gott) hingeben, den Islam annehmen«. Muslim ist also derjenige, der »sich Gott hingibt«. Auf die gleiche Wortfamilie bezieht sich auch die Begrüßungsformel »As-Salam alaikum« (Friede sei mit Euch). Einige Muslime in Deutschland übersetzen das Wort Islam oft mit „Frieden finden durch die Hingabe an Gott“ (Kaweh 2006, S.110 f.). Eine den Ge- und Verboten entsprechende islamische Lebensweise führt zu innerem und äußerem Frieden. Ein Frieden, der seinen Niederschlag finden soll in Toleranz, Tugendhaftigkeit und tiefer Gottverbundenheit. Gottesfürchtige Muslime sind sich der Allgegenwärtigkeit Gottes bewusst und glauben, dass Gott hinter jeder Tat auch die dahinter stehende Absicht sieht.

Mitleid und Selbstkontrolle

Zu den moralischen Grundwerten zählen Aufrichtigkeit und Mitleid. Von äußerster Wichtigkeit ist das Gemeinwohl. Gegen Unterdrückung, Armut und Verleumdung müssen sich gläubige Muslime zur Wehr setzen. Eine gute Muslimin und ein guter Muslim üben sich in Selbstkontrolle, beachten die Speisegebote und verzichten auf jegliche Rauschmittel. Sie begehen keinen Ehebruch, vermeiden jegliches außereheliches sexuell aufreizendes, aber genauso auch prahlerisch-narzistisches Verhalten.

Für Gott gibt es keine Rangunterschiede zwischen den Menschen. Wenn doch, bestehen diese nur in der Intensität der Frömmigkeit. Wer die Ge- und Verbote beachtet, dem erweist sich Gott als der, der er nach muslimischer Auffassung ist: Ein barmherziger, verzeihender Gott, der »beste Erbarmer«, »Helfer und Beschützer«.

Der Islam versteht sich als eine natürliche Religion. Der Mensch als Statthalter (nicht Ebenbild) Gottes besitzt eine ihm von Gott von Natur aus gegebene monotheistische Veranlagung (Fitra). Er ist daher von Geburt an Muslim (der, der sich Gott hingibt). Adam ist demnach gleichzeitig erster Mensch und Muslim. Einen Aufnahmeritus wie beispielsweise die christliche Taufe, die Kommunion oder Konfirmation oder eine formale Mitgliedschaft gibt es entsprechend für den Muslim nicht. Auch sind muslimische Imame und Religionsgelehrte in der Regel verheiratet.

Beziehung zu Juden- und Christentum

Der Glauben an das Jenseits (Hölle und Paradies) und den Jüngsten Tag, an die Engel Gottes, an die Bücher (Thora, Evangelium, Koran) und die Gesandten Gottes zählt zur Glaubenspflicht. Dem einzigen Gott (Tauhid = Bekenntnis zu dem einen Gott) darf nichts gleichgestellt werden. Dies gilt als »Schirk« (Beigesellung), die einzige Sünde, die Gott niemals verzeiht. Deshalb lehnen Muslime die christliche Trinität ab.

Islam verbunden mit Propheten Muhammad

Der Islam beruht auf einer göttlichen Offenbarung, die historisch eng verbunden ist mit der Person des Propheten Muhammad. Muhammad kam um cirka 570 (n. Chr.) in Mekka auf der Arabischen Halbinsel zur Welt und entstammte dem Stamm der Qureisch. Mekka diente als Handelszentrum und Pilgerstätte zur Kaaba, wo verschiedene Gottheiten und auch der Hochgott Allah angebetet wurden. Um 610 erhielt Muhammad (circa vierzigjährig) zum ersten Mal eine göttliche Offenbarung durch den Engel Gabriel. Diese Gottesworte in arabischer Sprache wurden Muhammad über einen Zeitraum von 22 Jahren offenbart. In Mekka konnte er jedoch nicht viele Anhänger für seine Botschaft gewinnen. Seine Aufrufe zu Ehrlichkeit im Handel, Gerechtigkeit und Milde gegenüber sozial Schwachen, seine Warnung zur Umkehr zu dem einen Gott angesichts eines bevorstehenden Endgerichtes fanden kaum Widerhall.

Beginn der islamischen Zeitrechnung

Muhammad prüfte ein Auswanderungsangebot, das ihm von Abgesandten verschiedener Stämme der Stadt Jathrib, dem späteren Medina (an-Nabiy), übersetzt »Stadt (des Propheten)«, gemacht wurde. Er stimmte diesem 622 zu und emigrierte (Hidschra) im gleichen Jahr mit seinen Anhängern nach Yathrib. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit diesem Datum neu: 622 n. Chr. ist damit das Jahr 0.

In Medina konnte Muhammad nicht nur als Bußprediger auftreten. Hier war sein Können als politisches wie religiöses Gemeindeoberhaupt gefragt. Hiermit vollzog sich eine inhaltliche Neuausrichtung. Blutsverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit waren jetzt nicht mehr ausschlaggebend. Die Gläubigengemeinschaft, die der Islam und der Glaube an den einen Gott vereint und zu »Verwandten« macht, übernahm jetzt diese Funktion. Die Umma (al-Mu‘minin), d.h. die Gemeinschaft (der Gläubigen), ist somit ein religiös begründetes Gemeinschaftswesen.

Entstehung des Koran

Die von Muhammad in wörtlicher Rede wiedergegebenen Gottesoffenbarungen wurden von seinen Gefährten gesammelt, teils auswendig gelernt und circa 20 Jahre nach Muhammads Tod zum Koran zusammengefasst. Der Koran ist in erster Linie »gehörtes Wort« und bedeutet übersetzt nicht das »Buch«, sondern die »Lesung, Rezitation (Qur‘an)«. Die 114 Suren (Kapitel) im Koran sind nicht chronologisch, sondern der Länge nach abfallend angeordnet (außer der ersten Sure). Sie sind unterteilt in mekkanische Suren, die göttlichen Worte, die Muhammad in Mekka von 610 bis zu seiner Auswanderung 622 offenbart wurden, und in die medinensischen Suren, die er seit seiner Emigration in Medina (ehemals Yathrib) übermittelt bekam. Die mekkanischen Suren betonen den Aufruf zum Eingottglauben und die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Taten vor Gott über den Tod hinaus. Sie warnen vor dem jüngsten Gericht und lehren eine allgemeinverbindliche Ethik ähnlich dem Dekalog, der im Koran auch vorkommt. Die medinensischen Suren enthalten dagegen mehr konkrete Gebote, rechtliche Regelungen des Erbrechts, des Strafrechtes und rituelle Vorschriften. Sie thematisieren unter anderem auch die politische Situation der jungen muslimischen Gemeinschaft, ihre (kriegerischen) Konflikte und können so auch zur Legitimierung von Gewalt herangezogen werden.

Die Gläubigengemeinschaft weitete ihren Machtbereich schon zur Zeit Muhammads fast auf die gesamte arabische Halbinsel aus, einschließlich Mekka. Muhammad schloss einen auch bis heute für das islamische Gemeinwesen beispielhaften Vertrag mit den jüdischen arabischen Stämmen in Medina ab (Verfassung von Medina). Der Vertrag besagte: Freie Religionsausübung, gleiche Hilfeleistungen wie den Muslimen gegenüber bei Kämpfen oder Notsituationen. Dafür keine Verbrüderung dieser mit Muhammad feindlich gesinnten Stämmen. Muhammad führte mehrere Kämpfe gegen die Mekkaner und ihre Verbündeten, aus denen er mehr oder weniger siegreich hervorging. Ab 632 mit seinem Einmarsch in Mekka schlugen sich fast alle bis dahin feindlichen Clanführer zunächst auf seine Seite. Muhammad erteilte ihnen Generalamnestie und wählte die von Götzenbildern befreite Kaaba als Wallfahrtsziel und Kultstätte. Die Riten seiner Wallfahrt und Kaaba-Umkreisung, die er dort 632 vollführte, werden bis heute penibel befolgt. Im gleichen Jahr starb er, ohne seine Nachfolge abschließend geregelt zu haben.

Die Hauptrichtungen Sunniten und Schiiten – Streit unter Glaubensbrüdern

Deshalb kam es gleich zu ersten Streitigkeiten innerhalb der jungen muslimischen Gemeinde bezüglich der Nachfolge Muhammads. Endgültig spaltete sich diese nach dem Tode Ali ibn Abu Talib‘s, des vierten (nach schiitischer Auffassung ersten) Kalifen und Schwiegersohns Muhammads, in die für Ali und seine Söhne Hussein und Hassan (Schi‘a = Partei) Partei ergreifenden Schiiten und die später als Sunniten (Sunna = die durch Muhammad vorgelebte Offenbarungsinterpretation des Koran) bezeichneten Anhänger der omayyadischen Kalifen (661-750). Als Hussein in den kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten in Kerbela (Irak) 680 den Märtyrertod fand, war die Trennung unwiderruflich vollzogen.

Unterschiedliche Führungsqualitäten

Die Nachfolge Muhammads und damit die Leitung der Umma durften nur Persönlichkeiten (Kalifen) übernehmen, die aufgrund ihrer Lebensführung als Vorbild dienen konnten. Der Kalif muss für die Schiiten – im Unterschied zu den Sunniten – aus der direkten Verwandtschaft mit dem Propheten Muhammad stammen. Eine direkte Nachkommenschaft ist jedoch nur über die Linie von Muhammads Tochter Fatima und ihrem Ehemann Ali Ibn Abu Talib gegeben. Viele Schiiten glauben an die Wiederkehr des Mahdi, des zwölften (deshalb »Zwölfer-Schiiten«) oder – wie einige schiitische Gruppierungen glauben – siebten (= Ismailiten) Imam, der als Erlöser wiederkommt. Die Zaiditen lehnen den Mahdi-Glauben ab und halten den Sohn Zaid des vierten Imam Ali ibn Hussein für den rechtmäßigen Nachfolger Muhammads und der Söhne Ali ibn Abu Talib‘s Hassan und Hussein.

Dieser Mahdi (= der unter göttlicher Leitung Stehende) ist in die Zeitlosigkeit entrückt und handelt aus dieser Verborgenheit (Ghaibat) heraus. Als »Imam« bezeichnen Schiiten – im Gegensatz zu den Sunniten – nicht nur den Vorbeter in der Moschee. Schiitische Imame sind von Gott beauftragt, nehmen teil am göttlichen Wissen und gelten als sündenlos. Schiitische Rechtsgelehrte handhaben die Auslegung des Koran flexibler als Sunniten. Gerade innerhalb der Zwölferschia hat sich eine geistliche Hierarchie entwickelt, die es bei Sunniten so nicht gibt. Rund 10 bis 15 Prozent der Muslime gehören der schiitischen, der Rest der sunnitischen Glaubensrichtung an. Die Schiiten leben hauptsächlich im Iran und Irak, als Minderheiten im Libanon, Jemen, in Syrien, in der Türkei, in Israel, Albanien, Turkestan und in Pakistan.

Verhältnis zu Andersgläubigen

Muhammad schuf eine Gemeindeordnung, die gesellschaftliche Ideale wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubenseinheit ermöglichen sollte. Die Christen und Juden wurden jedoch der Umma mit fortschreitender Islamisierung der Gesellschaft als »Schutzbefohlene« (Dhimmi) unterstellt. Die Umma sah sich nun vor die Aufgabe gestellt, eine islamische Lebensweise zu gewährleisten, in der jeder Muslim für den anderen wie auch für die Verwirklichung der islamischen Gemeindeordnung verantwortlich war. Die islamische Gemeinde machte keinen Unterschied zwischen einem profanen und religiösen Bereich. Die ideale religiöse Gemeinschaft Umma ist nach muslimischer Auffassung keine Utopie geblieben, sondern zur Zeit Muhammads in Medina in die Tat umgesetzt worden. Muslime greifen auf sie als Ideal einer starken und erfolgreichen muslimischen Gesellschaftsform immer wieder zurück, auch in den islamischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Ähnlich wie die Thora wird der Koran zum Wegweiser in allen aufkommenden Fragen der Gläubigen. Islamische Theologen haben genauso über die wahre Beschaffenheit des Koran disputiert wie beispielsweise christliche Theologen über die wahre Natur Christi. Jesus ist für den Islam ein Prophet wie viele andere vor ihm, nicht der Sohn Gottes. Aber er gilt als Sohn der Maria, der im Koran eine ganze Sure gewidmet ist (Sure 19) und die als weibliches Vorbild gesehen wird.

Der Koran sucht immer den Kontext der anderen beiden heiligen Schriften Evangelium und Thora. Er bezieht sich auf diese, versteht sich aber gleichzeitig als letztgültige Offenbarung. Im Koran gibt es eine lange Prophetenreihe. Diese Reihe beginnt mit Adam, dem ersten Menschen, und setzt sich nach der Sintflut fort mit Noah, Moses, Jesus bis hin zu Muhammad. Häufig werden im Koran Moses und Abraham erwähnt. Gott hat seit Beginn der Menschheitsgeschichte immer wieder Propheten gesandt. Die Botschaften dieser Propheten wurden jedoch verfälscht. Deshalb greift Gott immer wieder korrigierend ein und entsendet neue Propheten mit der gleichen alten Botschaft, die den vergesslichen Menschen jedoch neu vorkommt. Es kommt so zu Religionsspaltungen und zu neuen Religionen, deren Botschaften jedoch durch Menschenhand verfälscht wurden. Judentum und Christentum gehören auch dazu. (Wild 2001)

Schari‘a oder Tariqa?

Das islamische Recht (Schari‘a) wurde als religiöse Pflichtenlehre konzipiert und regelt das öffentliche wie private Leben. Schari‘a hat übersetzt die Bedeutung »Weg zur Oase«. Sie ist für Muslime Gottes gute Gabe und Rechtleitung. „Der Lebensweg zwischen Wiege und Bahre gerinnt im Sinnbild des Weges zur Wasserstelle als Grundbedeutung des arabischen shari‘ah; wer vom Weg abkommt, verdurstet seelisch.“ (Behr 2005, S.77) Die Scharia umfasst die gottesdienstlichen Handlungen, ethische Grundsätze für jeden Muslim, familienrechtliche, strafrechtliche und sozialpolitische Bestimmungen. Sie ist aber nie abschließend kodifiziert worden. Heute ist sie meist eine Kombination aus traditionellem und modernem europäischem Recht.

Die islamische Mystik ist mit ihren religiösen Orden (Tariqa) den nicht allen zugänglichen »engeren« Pfad (Tariq) der asketischen inneren Versenkung gegangen. Ihr geht es weniger um die Befolgung der Pflichtenlehre als um Glaubensverinnerlichung unter Aufgabe jeglicher weltlicher Bindung. Ziel ist die »unio mystica«, die höchste Stufe der Gotteserkenntnis und liebenden Vereinigung mit Gott.

Methoden der Rechtsfindung

Der Koran enthält keine komplette Strafrechtslehre und oft auch nur Antworten auf Einzelfragen. So musste das islamische Recht zur Rechtsfindung auch auf zusätzliche Quellen zurückgreifen. Neben dem Koran dient als zweite Rechtsquelle die Sunna. Sie umfasst die überlieferte Lebenspraxis und die Handlungsgewohnheiten des Propheten Muhammad und seiner Gefährten. Hier handelt es sich um Hadithsammlungen (Aussprüche des Propheten) und die durch Muhammad vorgelebte Offenbarungsinterpretation. Als dritter Quelle bediente man sich zur Rechtsfindung des Analogieschlusses (Qiyas) und des Gebrauches der menschlichen Vernunft (Idschtihad). Als vierte Rechtsquelle zog man den Konsens der jeweiligen Gemeinde (Idschma‘) hinzu. Ab dem achten Jahrhundert entstanden die für Muslime noch heute wichtigen Rechtsschulen. Diese Rechtsschulen unterscheiden sich weniger in ihren Inhalten als in unterschiedlichen Mitteln der Rechtsfindung. Heute kann ein Muslim auch Rechtsgutachten (Fatwa) anderer Rechtsschulen einholen. Die heutigen englischsprachigen Fatwa-Online-Dienste konnten die Grenzlinien zwischen den Rechtsschulen aufweichen.

Vergebung und Zuneigung im Islam

Im Koran finden wir den Frieden befürwortende wie die Gewalt legitimierende Textstellen. Es gibt genug Beispiele im Koran wie auch in der islamischen Traditionsliteratur dafür, dass das Verhältnis von Gott und Mensch und der Menschen zueinander geprägt ist von Reue, Vergebung, Zuneigung und Geduld. 113 der 114 Suren (außer Sure 9) im Koran beginnen mit der Eröffnungsformel „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“. Nahezu jede Tat gläubiger Muslime wird mit dieser Formel eingeleitet. Auch der Koran berichtet von der Versuchung Adam und Evas durch den Teufel (Iblis) und ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Jedoch trägt Eva daran keine besondere Schuld, und Gott verzeiht Adam, als dieser seine Tat bereut (Sure 20, Vers 122 und 2, 37). Die Erbsünde gibt es im Islam nicht. Frau und Mann sollen als Ehepartner einander in Zuneigung und Geduld begegnen (Sure 30, Vers 21). Die Feindseligkeit begünstigende Charaktereigenschaften des Menschen wie Neid, Hass und Verachtung sollen vermieden werden. Mit den Anhängern anderer (monotheistischer) Religionen soll man miteinander in einen Wettkampf für das Gute eintreten (2,148). Auch müssen nicht alle im Koran beschriebenen Strafandrohungen vollzogen werden (soweit sie nicht die Rechte Gottes betreffen), wenn die koranische Ermahnung, dem Reue zeigenden Täter zu vergeben (Sure 5, Vers 38 f.), beim jeweiligen Kläger und Richter Berücksichtigung findet.

Auch die Deutung von Dschihad ist entsprechend vielschichtig. »Dschihad« ist die Substantivform von »dschahada« und bedeutet »sich bemühen, anstrengen (»auf dem Wege Gottes = fi Sabil-i-llah«). Erst in zweiter Linie kann dieser Begriff mit »kämpfen« übersetzt werden. Er bedeutet aber nicht automatisch Krieg oder gar heiliger Krieg. Der Koran selbst gibt Anlass zu verschiedenen Auslegungen: Einerseits mahnt er die muslimischen Gläubigen zu Geduld auch bei schwerwiegenden Verstößen der Gegner, andererseits lässt er den Krieg zur Verteidigung und als Kampf mit klaren Eingrenzungen zu (Sure 2, Vers 190 -193).

Islam in Deutschland

Dschihad als Selbstaufopferung

Die Diskussion über den Dschihad ist mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Mit dem Dschihad verbinden Muslime in Deutschland beispielsweise die Selbstaufopferung auf dem Wege Gottes. Diese kann Gewaltverzicht meinen gemäß der islamischen Mystik, die den Dschihad verinnerlicht und vergeistigt hat hin zum Weg der persönlichen Vervollkommnung. Dschihad kann den Einsatz der »Waffe« des Wortes für die Sache Gottes meinen, jedoch auch den als verdienstvoll angesehenen Einsatz von Vermögen, Gut und Leben bedeuten. (Kaweh 2006, 145 ff.)

Ideale muslimischer Jugendlicher

Im Prinzip geht es immer um Selbstvervollkommnung auf dem Wege zu Gott. Höflichkeit, Aufrichtigkeit, eine angemessene und überlegte Haltung gelten als Ideal auch der islamischen Jugend in Deutschland. Der Islam wird als friedliebend und tolerant gesehen (Kaweh 2007, 59). (Bertelsmann-Studie 2009) Geduldig, aber selbstbewusst sollen diese islamischen Werte in die nicht-muslimische Gesellschaft hinein getragen werden, auch wenn diese durchaus kritisch gesehen wird. (Kaweh 2007, 56ff.)

Islamischer Religionsunterricht

Muslimische Schüler erhalten ihre religiöse Erziehung mittlerweile nicht nur im Elternhaus, in den Koranschulen der Moscheen, sondern auch im deutschsprachigen Schulversuch »Islamische Unterweisung«, der ausgeweitet wird zum bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht. Hier findet sich ein kritisches Hinterfragen, Abwägen und Vergleichen als pädagogisches Erziehungskonzept, das die Erziehungstraditionen einiger islamischer Heimatländer durchaus herausfordern wird.

Selbsterziehung und interreligiöse Kompetenz

Eine Didaktik gegenüber Heranwachsenden müsse die Bereitschaft zur Selbsterziehung fördern, meint Harry Harun Behr, Professor für Islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. Deshalb könne man islamische Erziehung heute eher unter den Begriff Tazkiyya (zaka = im Innern gut sein, wachsen, sich läutern) fassen als unter die ursprüngliche Bezeichnung Tarbiyya (yurabbi = aufziehen, ernähren, beibringen) oder Ta‘dib (= das gute Verhalten beibringen). Muhammad sei der ideale »Lehrer« und sein Leben das ideale »Curriculum« (Behr 2005, S.77). Islamische Theologie vermittle zwischen Tradition und Moderne, so Behr. Ein säkular verstandener Humanismus könnte sich aber herausgefordert fühlen. „Der These von der reinen Selbstbildung des Menschen aus eigener Kraft begegnet das muslimische Credo, dass es »keine Macht und Kraft außer Gott« gibt.“ (Behr, S.77)

Es existieren bereits konkrete Vorstellungen darüber wie islamische Erziehung auch interreligiös im Unterricht umzusetzen ist: Muslime und Musliminnen würden im Koran dazu aufgefordert, im Glauben wie auch im praktischen Zusammenleben „mit denen gemeinsam zu wirken, die bereits über ein eigenes Buch göttlicher Rechtleitung verfügen“, schlussfolgert Rabiyya Müller vom Institut für Interreligiöse Pädagogik und Didaktik Köln. Interreligiosität sei dem Islam bereits immanent (Müller 2005, S.144). Junge Muslime sollen sich ungeachtet der Religionszugehörigkeit solidarisch mit allen Menschen fühlen. Muslim zu sein heißt, „nicht zuzusehen wie sich die Menschen schon auf Erden gegenseitig die Hölle bereiten.“ (Behr 2008, S.12 f.)

Literatur

Behr, Harry (2005): Erziehung und Bildung, S.76-78, in Tworuschka, Udo (Hrsg.): Ethik in den Weltreligionen, Darmstadt.

Behr, Harry (2008): Zeitschrift für die Religionslehre des Islam, Heft 4, Dez. 2008, 2. Jg., S.7-16, Nürnberg.

Bertelsmann-Stiftung (2009): Religionsmonitor 2008.

Kaweh, Silvia (2006): Integration oder Segregation? Religiöse Werte in muslimischen Printmedien, Nordhausen Bautz-Verlag.

Kaweh, Silvia (2007): Religion und Identität – Junge Muslime in Deutschland und das ihnen vermittelte Europabild, in: Orient. Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients, IV/2007, S.52 – 63.

Müller, Rabiyya (2005): Wie ‚inter‘ ist der Islam, in: Schreiner, Peter (Hrsg.): Handbuch interreligiöses Lernen.

Paret, Rudi (1979): Der Koran, Stuttgart Kohlhammer-Verlag.

Wild, Stefan (2001): Mensch, Prophet und Gott im Koran, Münster Rhema-Verlag.

Dr. Silvia Kaweh ist Islam- und Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet zur Zeit als Lehrbeauftragte für Religionswissenschaft an der Universität Siegen. Sie forscht zu Muslimen in Deutschland, zum Islam aus interkultureller und interreligiöser Perspektive, zu religiösen Kinder- und Jugendprintmedien in Deutschland und sozialkritischen iranischen Schriftstellern der Nachkriegszeit.

Das islamische Völkerrechtsdenken

Das islamische Völkerrechtsdenken

Kann es einen Beitrag zu einer Friedensvölkerrechtsordnung leisten?

von Rüdiger Lohlker

Islamisches Völkerrecht wird häufig nur als Kriegsrecht wahrgenommen. Eine genaue Betrachtung des völkerrechtlichen Denkens und der Praxis legt aber nahe, dass aus dem islamischen Völkerrecht auch friedensvölkerrechtliche Vorstellungen entwickelt werden können.

Das islamische Völkerrecht wird von nichtmuslimischer Seite zumeist als Kriegsrecht mit seinen unterschiedlichen Aspekten wahrgenommen. Der Kernbegriff ist der Dschihad, dessen Struktur an dieser Stelle nicht untersucht werden kann. Stattdessen werden einige Konzepte des islamischen internationalen Rechtes der »siyar« betrachtet. Diese Konzepte werden in Hinblick darauf diskutiert, ob sie geeignet sind, zu einer Friedensvölkerrechtsordnung beizutragen.1 Es handelt sich hier lediglich um Reflexionen zu diesem Thema, nicht jedoch um den Versuch einer theoretischen Grundlegung, die nicht Aufgabe der Islamwissenschaft ist, oder gar eine Rekonstruktion des Ursprungs dieses Rechtes (kritisch hierzu vgl. Agamben 2009). Es wird dabei hauptsächlich auf sunnitische Vorstellungen zurückgegriffen. Anderes muslimisches Rechtsdenken kann an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden.

Für die folgenden Überlegungen ist grundlegend, dass unter islamischem Recht nicht nur das gelehrte Recht verstanden wird. Auch andere Rechtsbereiche, wie Abkommen muslimischer mit nichtmuslimischen Herrschern, fallen hier hinein. Damit ist der Gegenstand unserer Betrachtungen islamisches Völkerrechtsdenken, also ein Nachdenken über „jenen Komplex von Normen, die aufgrund beiderseitiger Anerkennung für die Beziehungen zwischen der islamischen Gemeinde und ihren nichtmuslimischen Partnern in Frage kommen“ (Kruse 1979, S.7). Die Beziehungen zwischen islamischen Staaten, die wir in Anlehnung an Kruse als „muslimisches Völkerrecht“ bezeichnen können (1979, S.4; vgl. Krüger 1978, S.34ff.), sind nicht Gegenstand unserer Überlegungen.

Dschihad

Trotz des gerade gemachten Einwandes ist ein kurzer Blick auf das Konzept des Dschihads notwendig (vgl. Kelsay/Johnson 1991). Wenn wir davon ausgehen, dass in der Gegenwart eine recht weitgehende Übereinstimmung unter MuslimInnen dahingehend besteht, dass von Dschihad nur gesprochen werden kann, wenn ein Angriff auf die muslimische Gemeinschaft stattfindet (siehe historisch z. B. Butterworth 1990), ist eine absolute Verpflichtung zum Dschihad nicht mehr aufrecht zu erhalten (so z. B. Royal Aal al-Bayt Institute 2007).

Dies gilt auch, wenn wir die militante Umdeutung des Dschihadkonzeptes, angefangen durch 'Abdallah 'Azzam, betrachten (Lohlker 2009; Khadduri 1962, S.51ff.). Dschihad wird in diesem Prozess von einem semantisch mehrdeutigen Begriff, der grundsätzlich eine unspezifische Anstrengung bezeichnet, zu einem nur noch militärischen Konzept, das eine ständige gewaltsame Verteidigung (auch präventiver Art) gegen einen imaginierten Generalangriff des Westens gegen den Islam beinhaltet. Diese gewaltsame Deutung wird jedoch nur von extremistischer Seite vorgenommen.

Wird dagegen ein solcher Verteidigungszwang nicht angenommen, wird der Dschihad obsolet und eine wesentliche Rahmenbedingung des »siyar«-Rechtsdenkens als Kriegsrecht entfällt. Wenn wir davon ausgehen, dass das islamische Recht grundsätzlich ein dynamisches System ist, widerspricht dieser Interpretation auch nicht, dass ältere gelehrte Autoren diese Auffassung nicht teilen (so Krüger 1978, S.118f.).

Dar al-Islam/Dar al-Harb

Betrachten wir die neuere Diskussion um die muslimische Präsenz in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften, werden wir mehrere Entwicklungen feststellen: Es findet erstens eine von jeglichem rechtlichen Diskurs unbelastete praktische Anerkennung des Miteinanderlebens statt. Daneben tritt der für unsere Diskussion interessantere Versuch, eine neue rechtstheoretische bzw. rechtsmethodische Fundierung der Rechts- und Moralvorstellungen2 von MuslimInnen in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften zu entwickeln. Dazu dient insbesondere die Diskussion um die »maqasid«, die Zielsetzungen des islamischen Rechtes, und die Debatte um die »masalih«, den Nutzen der muslimischen Gemeinschaft (z. B. Ramadan 2009). Diese theoretischen Konzepte ermöglichen im Verständnis ihrer Befürworter eine flexible Reaktion auf die Herausforderungen der Gegenwart. Dabei schwankt das Verständnis zwischen moderaten Konservativen und Liberalen. Ein zum Teil eher traditionalistisch geprägtes Konzept ist »Fiqh al-Aqalliyyat«, das Recht der Minderheiten (Abou El Fadl 1997; vgl. Rohe 2009, S.386f.). Es geht von der Notwendigkeit aus, dass sich das islamische Recht unter den Bedingungen nichtmuslimischer Mehrheitsgesellschaften auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen muss und an anderen Orten formulierte Regeln nicht ohne weiteres übernommen werden können. Ein »Recht der Minderheiten« muss demnach als äußerst flexibles Instrument gestaltet werden. Damit wird die Entwicklung eines dynamischen Systems ethischer Normen möglich, das sich in den Rahmen säkularer Rechtsstaaten einpasst.

Sogar dieses traditionalistische Konzept geht also davon aus, dass eine Normalität und auch eine unproblematische Normierung des Umganges von MuslimInnen und NichtmuslimInnen möglich sind. Damit wird die Unterscheidung zwischen dem »Haus des Islams« und dem »Haus des Krieges« obsolet (vgl. Kruse 1979, S.57ff.). Dies wird in aller Eindeutigkeit in der »Erklärung der Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa« im österreichischen Graz 2003 formuliert: „Die mittelalterliche Einteilung in eine Welt der Gegensätze von »Dar al-Islam« (Haus des Islam) und »Dar al-Harb« (Haus des Krieges) ist abzulehnen“ (Erklärung 2003). Beachten wir diese Verschiebungen, so wird auch der Bezugsrahmen des islamischen Völkerrechts, der eine Binarität muslimisch/nichtmuslimisch unterstellt, verändert und neue Ansätze werden denkbar.

Als Alternativmodell wird häufig von einer Dreiteilung in »Dar al-Islam«, »Dar al-Harb« und »Dar as-Sulh« ausgegangen. Letzteres, das »Gebiet der friedlichen Übereinkunft«, wird heute zunehmend als Raum verstanden, in dem MuslimInnen unbehelligt ihre Religion ausüben können. In älteren gelehrten Diskursen wurde es eher als Gebiet aufgefasst, das zwar nicht erobert worden war, aber der islamischen Hoheitsgewalt unterstand. Pohl nennt dies den Sonderfall der „friedlichen Eroberung“ (1988, S.75). Die gegenwärtige Auffassung des »Gebietes der friedlichen Übereinkunft« kann als Reflex des ursprünglichen Konzeptes von »sulh« im islamischen Recht gesehen werden. Ursprünglich zielte dieses Konzept auf einen Vergleich, verstanden als Fallenlassen einer Forderung, bzw. auf einen gegenseitigen Ausgleich (Lehmann 1970). Welche rechtlichen Konzeptionen gibt es nun, um einen solchen Ausgleich zu erzielen?

Zwischen Waffenstillstand und Frieden

Die Sekundärliteratur erweckt den Eindruck, es gebe einen genau definierten Bestand an Regeln für völkerrechtliche Fragen im islamischen Recht. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass der tatsächliche Gebrauch der Begriffe mitnichten so klar ist (Panaite 2000, S.237ff.; Köhler 1991, S.396f.). Verträge wie »muwada‘a« oder »hudna« können so als Verträge verstanden werden, die von einem temporären Waffenstillstand in einen dauerhaften Frieden überleiten (Panaite 2000, S.37). Das Konzept geht auf die Frühzeit der islamischen Gemeinschaft zurück (Pohl 1988, S.81; Salem 1984, S.168ff.). »Hudna« und »muwada‘a« können für unsere Zwecke austauschbar benutzt werden.

Eine »muwada‘a«, ein Sicherheitsvertrag, ist im Verständnis eines der wichtigsten Autoren zu diesem Thema nur als Unterbrechung der Kriegshandlungen denkbar, wenn die Muslime nicht in der Lage sind, die Oberhand über die Nichtmuslime zu gewinnen (Shaibani 1997, S.3). Für die »muwada‘a« werden also „als Voraussetzungen des so nicht generell zu verbietenden, aber auch nicht schlechthin zuzulassenden Friedens die militärische Überlegenheit der Ungläubigen und das Vorhandensein einer Notwendigkeit […], die den Vertrag besonders erforderlich macht“ (Pohl 1988, S.81), vorausgesetzt. Damit kann die »muwada‘a« als Kampf im übertragenen Sinne in das System der »siyar« eingebunden werden. Ändern sich die Kräfteverhältnisse, ist der Vertrag aufzukündigen.

Die »muwada‘a« beinhaltet eine gewisse Anerkennung des nichtislamischen Gegenparts; für den Gültigkeitsbereich des Vertrages wird damit der rechtliche Mangelzustand des Kriegsgebietes, in dem es eigentlich keinen Vertragspartner gibt, geheilt. Damit stellt die »muwada‘a« „ein Instrument für gleichberechtigende interinstitutionelle Beziehungen dar. Zur Vermeidung eines potentiellen Bruches in der Doktrin der »siyar« durch die Institutionalisierung eines Rechtsmittels, das die Pflicht zum Heiligen Krieg dauerhaft hemmt, wird die zwingende zeitliche Befristung der Übereinkunft von besonderer Bedeutung“ (Pohl 1988, S.81). Diese zeitliche Befristung ist jedoch gar nicht so zwingend, wie es aufgrund von Quellen der hanafitischen Schule des sunnitischen islamischen Rechtes erscheinen mag. Ein Blick in die Literatur der in Nordwestafrika und im islamischen Spanien vorherrschenden malikitischen Schule zeigt, dass die Pflicht zur Befristung dort tendenziell aufgehoben wird und der freien Aushandlung des Herrschers überlassen bleibt (Lohlker 2006, S.36ff.). Damit dürfte der systematische Befund der zwingenden Befristung im gesamten Bereich des älteren sunnitischen islamischen Rechtes nicht gegeben gewesen sein.

Im Osmanischen Reich (ca. von 1299 bis 1922) wurde auf das Konzept der »muwada‘a« zurückgegriffen, um Verträge mit europäischen Mächten zu legitimieren. Voraussetzung ist einschlägigen Fatwas folgend das Bestehen eines entsprechenden Interesses der Muslime und einer entsprechenden Notwendigkeit. Die so geschlossenen Verträge sind dann zu halten (Krüger 1978, S.121). Dieser Vertragstypus löst sich im osmanischen Verständnis nicht vom Primat des Dschihads und ist eher ein Eingeständnis, diesen im Moment nicht erfolgreich führen zu können (Krüger 1978, S.120ff.).

Zur Geschichte

Nun sollte nicht von einem zeitgenössischen Bruch mit diesem älteren islamischen Rechtsdiskurs ausgegangen werden. Historisch lassen sich etliche andere Beispiele einer Auffassung des Verhältnisses zu NichtmuslimInnen feststellen, die nicht von einer absoluten Suprematie der muslimischen Seite ausgehen. Selbst für die Frühzeit der islamischen Gemeinde können wir Beispiele für relativ lange fortdauernde, vertraglich gesicherte friedliche Beziehungen zu Nichtmuslimen feststellen.

Wie bereits Kruse festgestellt hat, ist die rechtspraktische Umsetzung des islamischen Völkerrechts „nur von historischen Quellen her zu erschließen“ (1979, S.4). Wenn wir nun einen wichtigen Ort konfliktträchtiger Begegnung betrachten, nämlich »al-Andalus«, den muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel, sowie seine christlichen Widersacher, erscheint das Bild noch weniger eindeutig. Der Fall, um den es hier geht, ist das letzte muslimische Reich auf iberischem Boden: das Reich der Nasriden von Granada (von 1232 bis 1492). Wenn wir die überlieferte Korrespondenz und die Verträge des Nasridenreiches mit der christlichen Seite, dem Königreich Aragón, betrachten (siehe im Detail Lohlker 2006), fällt zuerst der »zivile« Stil der Dokumente auf, der sich von dem anderer muslimischer Reiche unterscheidet. Bedeutsamer sind aber zwei Elemente, die sich in verschiedenen Verträgen und anderen Teilen der Korrespondenz wiederfinden. Der Herrscher von Granada spricht den christlichen Herrscher als gleichrangigen Partner an, was für die Verfasser von Kanzleihandbüchern im arabischen Osten undenkbar war. Außerdem wird die unbegrenzte Fortdauer des sicherheitsvertraglichen Verhältnisses in den Verträgen greifbar. Eine Beschränkung ergibt sich nur mit dem Regierungsende bzw. dem Tod der vertragsschließenden Parteien, was mit Blick auf die damalige Zeit als Normalität zu bewerten ist. Damit wird das Instrumentarium der »siyar« in der rechtlichen Anwendung zum Mittel eines – relativ – dauerhaften Friedenszustandes.

Auch für das Osmanische Reich können wir Entwicklungen im Rechtsverhältnis zu nichtmuslimischen Vertragspartnern feststellen. Die Entwicklung vom Konzept des »ahdname«, hauptsächlich eine vertragliche Übereinkunft zwischen zwei Staaten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der »muwada‘a« hat, und der »muwada‘a« zu den Kapitulationen3 des 18. und 19. Jahrhunderts (Theunissen 1998) kann nicht nur als Verfallsgeschichte der osmanischen bzw. muslimischen Macht gesehen werden. Auch eine Interpretation als Adaptierung an veränderte internationale Problemlagen ist denkbar. Dies zwingt uns natürlich, von einer Betrachtung abzugehen, die nur an der theoretischen Entwicklung des Rechtes interessiert ist.

Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass das Recht der »siyar« sich bis in die Gegenwart immer wieder transformiert hat. Shaheen Sardar Ali hat festgestellt, dass das zeitgenössische »siyar«-Recht enormen Modifikationen unterlegen ist, die grundsätzlich darauf verweisen, dass muslimische Staaten die Möglichkeit haben, Recht aus ihrem Verständnis der Scharia zu formulieren. Die staatlich begründete muslimische Jurisdiktion habe das »siyar«-Recht den Realitäten der Koexistenz in einer sich mehr und mehr globalisierenden Welt geöffnet und die Idee der Universalität des »siyar«-Rechtes obsolet gemacht (Ali 2007, S.93).

Weitere Ansätze zu einer Anerkennung nichtmuslimischer Ansprüche sind denkbar. In »ar-Radd 'ala siyar al-Auza‘i«, einem recht frühen »siyar«-Werk, findet sich so der Hinweis, dass von einem Muslim erworbene Rechte an Boden und mobilem Eigentum im »Dar al-Harb« (Haus des Krieges) in bestimmtem Umfang anerkannt werden können (Abu Yusuf Ya‘qub o. J., S.107f.). Dies deutet systematisch auf die Anerkennung von Rechtsgeschäften in nichtmuslimischem Gebiet hin und kann auch in Richtung einer Anerkennung nichtmuslimischer Ansprüche weiter gedacht werden. Andere Konzepte des islamischen Völkerrechts könnten in ähnlicher Weise betrachtet werden.

Wenn wir den kurzen Durchgang durch das islamische sunnitische Völkerrechtsdenken resümieren, stellen wir fest, dass die Konzepte des älteren gelehrten Rechtsdiskurses auf den ersten Blick nicht geeignet erscheinen, eine Quelle für eine Friedensvölkerrechtsordnung zu bilden. Gehen wir aber über diesen gelehrten Diskurs hinaus, stellen wir fest, dass es Ansätze gab, die zunächst rechtspraktisch sind, aber auch einen entsprechenden rechtstheoretischen Hintergrund haben und auf eine andere als die gerade formulierte starre Auffassung hindeuten. Berücksichtigen wir dann den zu konstatierenden – gewiss erst beginnenden – Paradigmenwandel in der heutigen sunnitischen islamischen Rechtsdiskussion hin zu einer zunehmenden Flexibilisierung, so wird ein muslimischer Beitrag zu einer Friedensvölkerrechtsordnung möglich. Dafür können auch die hier reflektierten Konzepte nutzbar gemacht werden.

Literatur

Abou El Fadl (1994): Islamic Law and Muslim Minorities: The Juristic Discourse on Muslim Minorities from the Second/Eighth to the Eleventh/Seventeenth Centuries, Islamic Law and Society 1, S.141-187.

Abu Yusuf Ya‘qub b. Ibrahim al-Ansari (o.J.): ar-Radd 'ala siyar al-Auza‘i, hrsg. von Abu 'l-Wafa‘ al-Afgani, Beirut.

Agamben, Giorgio (2009): Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M.

Ali, Shaheen Sardar (2007): The Twain Doth Meet! A preliminary Exploration of the Theory and Practice of As-Siyar and International Law in the Contemporary World, in: J. Rehman & S. Breau (Hrsg.): Religion, Human Rights and International Law, Leiden, S.81-113.

Bouzenita, Anke Iman (2007): The Siyar an Islamic Law of Nations?, Asian Journal of Social Science 35, S.19-46.

Butterworth, Charles E. (1990): Al-Fârâbî‘s Statecraft: War and the Well-Ordered Regime, in: James Turner Johnson & John Kelsay (Hrsg.): Cross, Crescnt, and Sword. The Justification and Limitation of War in Western and Islamic Tradition, New York u.a., S.79-100.

Erklärung (2003): Erklärung der Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa, URL: http://www.derislam.at/haber.php?sid=44&mode= flat&order=1 (Zugriff 10. 01. 2010).

Kelsay, John & Johnson, James Turner (Hrsg.) (1991): Just War and Jihad. Historical and Theoretical Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, New York u.a.

Khadduri, Majid (1962): War and Peace in the Law of Islam, Baltimore.

Köhler, Michael (1991): Allianzen und Verträge zwischen fränkischen und islamischen Herrschern im Vorderen Orient. Eine Studie über das zwischenstaatliche Zusammenleben vom 12. bis ins 13. Jahrhundert, Berlin/New York.

Krüger, Hilmar (1978): Fetwa und Siyar. Zur internationalrechtlichen Gutachtenpraxis der osmanischen Seyh ül-Islâm vom 17. bis 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des »Behcet ül-Fetâvâ«, Köln.

Kruse, Hans (1979): Islamische Völkerrechtslehre, Bochum.

Lehmann, Friedrich-Wilhelm (1970): Das Rechtsinstituts des Vergleiches as-sulh im islamischen Recht nach al-Kâsânî, Diss.phil., Bonn.

Lohlker, Rüdiger (2009): Dschihadismus. Materialien, Wien.

Lohlker, Rüdiger (2006): Islamisches Völkerrecht. Studien am Beispiel Granada, Bremen.

Panaite, Viorel (2000): The Ottoman Law of War and Peace, New York.

Pohl, Dietrich F. R. (1988): Islam und Friedensvölkerrechtsordnung, Wien/New York.

Ramadan, Tariq (2009): Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München.

Rohe, Mathias (2009): Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München.

Royal Aal al-Bayt Institute of Islamic Thought (2007): Jihad and the Islamic Law of War, Amman.

Shaibani, Muhammad b. al-Hasan al- (1997): Sharh kitab as-siyar al-kabir, hrsg. von Muhammad H.M.I. Ash-Shafi‘i, Beirut.

Salem, Isam Kamel (1984): Islam und Völkerrecht. Das Völkerrecht in der islamischen Weltanschauung, Berlin.

Theunissen, Hans (1998): Ottoman-Venetian Diplomatics: The ‘Ahd-names, Electronic Journal of Oriental Studies 1. 2, S.1-698.

Anmerkungen

1) An anderer Stelle wird durchaus gegen diese Möglichkeit argumentiert (Bouzenita 2007).

2) Es sollte hier erwähnt werden, dass der Begriff der »Scharia« über den des reinen Rechts hinausgeht und heute häufig eher in Richtung eines allgemeinen ethischen Systems verstanden wird. »Fiqh« bezeichnet eher das von Gelehrten formulierte Recht im eigentlichen Sinne und schließt auch die ritualrechtlichen Regeln ein. Daneben gibt es traditionell die weiten Bereiche des Gewohnheitsrechtes, des Rechtsbrauchs und des herrscherlich formulierten Rechtes.

3) Als »Kapitulationen« bezeichnet werden die in »in capitualae« (daher der Name), d.h. Kapitel, gegliederten ungleichen Abkommen des Osmanischen Reiches mit europäischen Reichen, die zu einem Sonderrecht für Europäer und unter deren Schutz stehenden Personen im Osmanischen Reich führten.

Prof. Dr. Rüdiger Lohlker ist Professor für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Kirche und Staat

Kirche und Staat

von Jürgen Nieth

„Bischöfin Käßmann löst Empörung aus“ (Welt am Sonntag, 03.01.10., S.1), „Streit über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes – Scharfe Kritik an Käßmann“ (FAZ 05.01.10., S.1) „Käßmann will das Militär schon lange überflüssig machen“ (FAZ 05.01.10., S.5) „Soldaten fürchten um kirchlichen Rückhalt“ (taz, 05.01.10, S.7), „Klare Worte von der Kanzel“ (Süddeutsche Zeitung 07.01.10, S.2) „Populistische Fundamentalkritik“ (Spiegel, 11.01.10, S.17). So einige Schlagzeilen nach dem Neujahrsgottesdienst der EKD-Ratsvorsitzenden, Bischöfin Margot Käßmann, in der Dresdner Frauenkirche.

Kritik und Unterstellungen

Für den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Ruprecht Polenz (CDU), macht es sich Frau Käßmann „zu einfach“, wenn sie die Botschaft vermittele, man könne kurzfristig aus Afghanistan abziehen, „ohne sich schuldig zu machen“ (FAZ 04.01., S.1). Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), wirft der Bischöfin vor, sie übe „populistische Fundamentalkritik“ und vermittle Tausenden von Soldaten das Gefühl, in Afghanistan gegen Gottes Gebot zu verstoßen. Es sei naiv in Afghanistan mit „Gebeten und Kerzen“ Frieden schaffen zu wollen wie vor 20 Jahren in der DDR, „aber niemand hindert Frau Käßmann daran, sich am Hindukusch mit den Taliban in ein Zelt zu setzen und über ihre Phantasien zu diskutieren, gemeinsame Rituale mit Gebeten und Kerzen zu entwickeln.“ (Spiegel 11.01., S.17)

Ähnlich zynische Töne schlägt der Vorsitzende der grünen Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, in der Welt am Sonntag (03.01., S.8) an: „»So rasch wie möglich« sollen die deutschen Truppen abziehen (wer sollte da widersprechen?), aber »nicht völlig überhastet«, nein, vielmehr sollte über einen »ruhigen und geordneten Rückzug nachgedacht werden«. Irgendjemand soll freilich den »Waffen- und Drogenhandel« unterbinden, alldieweil »religiös motivierte Vermittler« zwischen den Fronten pendeln und eine friedliche Lösung stiften. So malt sich die Ratsvorsitzende der EKD den Weg zum Frieden aus… Sie (Frau Käßmann) vermehren damit die Inflation politischer Stellungnahmen von Kirchenoberen, die selten über gut gemeinte Banalitäten hinauskommen.“

Mit den in Anführungszeichen gesetzten Passagen (»…«) vermittelt Fücks den Eindruck die Bischöfin zu zitieren. Ein Blick in die Predigt zeigt, dass dem nicht so ist.

Die Neujahrspredigt

In ihrer Neujahrspredigt hat die Bischöfin der banalen Floskel »Alles ist gut« ein »Es ist nichts gut« in Sachen Klima, Kinderarmut, Armutsscham und Leistungsdruck entgegengesetzt. Und eben auch ein: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Weiter heißt es dann: „All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun mal Waffen benutzen und auch Zivilisten getötet werden. Das wissen die Menschen in Dresden besonders gut! Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas zynisch, ich meine wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen.“

Nicht gelesen aber verstanden?

Frau Käßmann hat also Recht, wenn sie einigen Kritikern „perfide Unterstellungen“ vorwirft. „Ich denke, viele haben meine Predigt gar nicht gelesen“, sagte sie gegenüber dpa (03.01.). Vielleicht ist es aber auch so, dass die Kritiker die Predigt verstanden haben – auch ohne genau nachzulesen – und sich getroffen fühlen. „Die Aufregung hat etwas mit dem schlechten Gewissen der so pragmatisch-schlauen Truppenentsender zu tun, die offenbar mit ihrem kriegerischen Latein am Ende sind“, schreibt Friedrich Schorlemmer im Freitag (07.01., S.1). Das Medienecho zeigt, dass viele die von Käßmann angeregte Grundsatzdebatte fürchten und deshalb mit allen Mitteln zurückgeschlagen. Wie S. Löwenstein in der FAZ (05.01., S.5): Frau Käßmann war „von Anfang an dagegen, dass Deutschland sich an diesem Einsatz beteiligt… als Präsidentin der Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerung, die sie seit 2003 ist, (will sie) langfristig das Militär überflüssig machen.“ Er selbst spricht statt Krieg von Einsatz, kritisiert aber, dass die Bischöfin von »Einsatztruppen« spreche (ein Wort, das in der Neujahrspredigt nicht vorkommt): „Hört sich doch »Einsatztruppen« fast so an wie die »Einsatzgruppen« der nationalsozialistischen SS.“

Für den SPD-Außenpolitiker Klose ist es schon „problematisch“, dass Frau Käßmann sich als EKD-Ratsvorsitzende überhaupt zum Thema Afghanistan geäußert hat. „Sie hat sich mit ihrer Äußerung in Gegensatz zur Mehrheit des Bundestages gesetzt“ und vertritt „die Position der Linkspartei“ (Welt am Sonntag 03.01., S.1). Davon abgesehen, dass die Zeit, in der die Kirche das Handeln der Herrschenden abzusichern hatte – und die Waffen segnete – vorbei ist, hat Klose offensichtlich auch noch nicht gemerkt, dass die Mehrheit im Bundestag in dieser Frage gegen die Mehrheit der Bevölkerung handelt. Im jüngsten Votum „sprechen sich 71 Prozent für einen schnellen Abzug deutscher Soldaten aus, mehr als je zuvor.“ (FR 11.01.)

Darf die Kirche das?

Inzwischen mehren sich aus beiden Kirchen die Stimmen, die eine offene Diskussion über Afghanistan fordern: „Natürlich geht es dabei langfristig um eine Exitstrategie.“ (Stephan Ackermann, kath. Bischof von Trier, FR 06.01.). Ein „realistisches Ausstiegsszenario“ fordert auch der Präses der Ev. Kirche im Rheinland. Der Präsident von Pax Christi, Bischof Algermissen, fordert einen Kurswechsel in der Afghanistanpolitik und „den schrittweisen Abzug der Bundeswehr“ (PE Pax Christi, 19.01.).

Religiöse Identität und Friedensarbeit indischer Muslime

Religiöse Identität und Friedensarbeit indischer Muslime

Eine empirische Typologie zur Ambivalenz des Sakralen

von Raphael Susewind

Während sich zunehmend die Annahme durchsetzt, dass Religion sowohl zur Eskalation wie zur Deeskalation von Konflikten beitragen kann (s. W&F 3/08 – Schwerpunkt »Religion als Konfliktfaktor«), steht die konkrete Rekonstruktion dieser Ambivalenz auf der Mikroebene religiöser Identität und sozialen Handelns weiterhin aus. In der hier vorgestellten explorativen Studie zu muslimischen Friedensaktivisten im indischen Bundesstaat Gujarat konnten vier Weisen des Zusammenspiels von Glaubensvorstellungen, Gruppenidentifikationsprozessen und politischem Verhalten empirisch identifiziert und idealtypisch verdichtet werden. Während »glaubensbasierte Akteure« und »säkulare Macher« statische und eindeutige Konfigurationen darstellen, liefern »sich emanzipierende Frauen« und »zweifelnde Profis« erste Hinweise zur Konkretisierung der Ambivalenzhypothese.

Im Februar 2002 wurden im indischen Bundesstaat Gujarat in brutalen Ausschreitungen mit staatlichem Rückenwind über 2000 Menschen ermordet: die heftigsten »communal riots« seit den 1970er Jahren (vgl. Engineer 2003). Die überwiegende Mehrheit der Opfer, von denen Zigtausende nach wie vor in Flüchtlingslagern leben, waren Muslime und die meisten Täter waren niederkastige, von Eliten aufgestachelte Hindus. Viele Aktivisten örtlicher NGOs waren vom Ausmaß der Gewalt völlig überrascht und versuchten in den folgenden Jahren erstmals, das Verhältnis von muslimischen Gemeinschaften und Hindus sowie den bislang ignorierten Faktor Religion in ihren Interventionen zu berücksichtigen. Mit explizitem Peacebuilding, der Beschäftigung mit dem Islam sowie mit fragilen Kooperationen mit muslimischen Wohltätigkeitsorganisationen betraten viele der meist als Hindus sozialisierten säkularen Entwicklungstechnokraten tastend Neuland.

Forschungsdesiderate und Studiendesign

Ihre Ratlosigkeit korrespondiert mit erheblichen Forschungsdesideraten zum Zusammenhang von Religion und Konflikt. Zwar besteht zunehmend Konsens darüber, dass Religion grundsätzlich ein eigenständiger Faktor sowohl in der Eskalation wie in der Deeskalation von Konflikten sein kann: Weder platte Instrumentalisierungsthesen noch vereinfachende Kulturkampfrhetorik konnten empirische Varianz zufriedenstellend erklären, weil beide Standpunkte die Komplexität von Religion nicht ernst genug nehmen (vgl. Wilhelmy 2006). Aus demselben Grund sollten auch die Ausschreitungen in Gujarat nicht einfach mit dem Hinweis auf wahltaktische Kalküle hindunationalistischer Parteien zu den Akten gelegt werden – über Jahrzehnte die beliebteste Deutung in Indien (vgl. Hansen et. al. 2006). Allerdings ist der entstehende Konsens über die grundsätzliche Varianz und Relevanz religiöser Faktoren nur ein erster Schritt; die konkrete Rekonstruktion der „Ambivalenz des Sakralen“ (Appleby 2000) auf der Mikroebene sozialen Handelns steht bislang aus – und insbesondere die Untersuchung des Zusammenhangs von Religion und Frieden steckt hier noch in den Kinderschuhen (vgl. Weingardt 2008). Auf dieser Ebene markieren sowohl Prozesse der Gruppenidentifikation als auch substantiell gehaltvolle Glaubensvorstellungen die religiösen Grenzen, aber auch Möglichkeitsräume für politisches Verhalten, ohne letzteres jedoch gänzlich zu determinieren. Eine umfassende und dennoch offene Konzeption religiöser Identität ist daher der zentrale Ansatzpunkt für die Konkretisierung der Ambivalenz des Sakralen auf der Mikroebene (vgl. Schäfer 2009).

Das hier vorgestellte Projekt untersucht verschiedene Möglichkeiten des Zusammenspiels beider Dimensionen religiöser Identität mit Friedensaktivismus in einem konkreten Kontext, um besser zu verstehen, wie sich die Ambivalenz des Sakralen als persönliche Dynamik entfaltet. Dazu führte der Autor im Frühjahr 2008 narrative und strukturierte Interviews mit 21 Muslimen in Gujarat, begleitet von sozialpsychologischen Fragebögen und Hintergrundgesprächen. Erfragt wurden die Autobiographie der Aktivisten (vgl. Lieblich et. al. 2008) sowie elementare metaphysische und ethische Annahmen und Grundzüge ritueller Praxis (inspiriert von Schlösser 2003). Die Testverfahren behandelten psychodynamische Dispositionen, Intensität und Relevanz der Gruppenidentifikation sowie die Fähigkeit, Ambiguität zu tolerieren (vgl. Beckmann et. al. 1991; Jackson & Smith 1999; Reis 1996). Durch gezielte Exploration wurde versucht, eine möglichst große Varianz in allen Untersuchungsdimensionen zu erfassen; einziges Sampling-Kriterium war die Selbstkategorisierung als Muslim und Friedensaktivist.

Empirische Typologie

Die resultierenden Daten konnten in einem komplexen Analyseprozess zu einer empirischen Typologie verdichtet werden (vgl. Kelle & Kluge 1999), in der vier spezifische Konfigurationen von Gruppenidentifikation, Glaubensvorstellungen und politischem Verhalten deutlich werden:

Glaubensbasierte Akteure

Der Aktivismus »glaubensbasierter Akteure« wird sowohl von einer starken Identifikation mit der Ingroup wie von konkreten Glaubensvorstellungen beeinflusst. Diese Aktivisten – alles Männer – deuten die Realität und ihre eigenen Projekte aus einer dogmatischen Perspektive, hinter der ihr autobiographisches Narrativ weitgehend verschwindet: Ich bin als Muslim geboren, Islam bedeutet Frieden, konsequenterweise bin ich Friedensaktivist. Interessanterweise entspricht diese Darstellung für einen Teil dieser Akteure ihrer tatsächlichen Lebensgeschichte: Sie wurden in Familien geboren, die traditionell eine Streitschlichter-Funktion für ihre lokale Gemeinschaft innehaben.

Anderen »glaubensbasierten Akteuren« jedoch gibt das Dogma die Möglichkeit, unangenehme Widersprüche und Kontingenzen in ihrer Biographie zu verdecken. So bestehen zum Beispiel trotz vermeintlich unmittelbarer Verbindung von Muslim-Sein und Friedensarbeit große Unterschiede in ihren theologischen Vorstellungen und Peacebuilding-Ansätzen: Alle religiösen und politischen Strömungen des indischen Islam sind vertreten. Auch erleben sich alle »glaubensbasierten Akteure« psychologisch als Kollektivsubjekt, schließen auf Nachfrage aber ganz unterschiedliche Gruppen in dieses Kollektiv mit ein. Damit entspricht diese Gruppe von Aktivisten populär gängigen Vorstellungen von politisch aktiven Muslimen – andererseits bestätigt die permanente Dialektik von behaupteter Einheit und realer Differenz, wie wichtig empirische Exploration und genaue Differenzierung sind.

Säkulare Macher

Für eine zweite Gruppe von Aktivisten – Männer wie Frauen – verhalten sich religiöse Identitätsdimensionen und Friedensaktivismus genau umgekehrt: Weder Gruppenidentifikation noch Glaubensvorstellungen spielen eine Rolle für ihr politisches Verhalten. Sie erzählen ebenfalls wenig aus ihrem eigenen Leben, ersetzen das biographische Narrativ allerdings nicht durch dogmatische Kausalität, sondern berichten ausführlich von ihren konkreten Aktivitäten und Initiativen. Privat sind diese »säkularen Macher« nicht notwendigerweise anti-religiös, sondern stellen sich in erster Linie als »religiös unmusikalisch« dar. Die Ergebnisse dieses Typs tragen zwar zur Rekonstruktion der Ambivalenz des Sakralen nur wenig bei; »säkulare Macher« sind dennoch erwähnenswert, weil in der Debatte um den Islam zu oft vergessen wird, dass es Muslime gibt, die aus nicht-religiösen Motiven handeln und ebenso Muslime, die »religiös unmusikalisch« sind.

Sich emanzipierende Frauen

Weder für »glaubensbasierte Akteure« noch für »säkulare Macher« hat sich das jeweilige Verhältnis von religiöser Identität und politischem Verhalten durch die Ausschreitungen von 2002 verändert: Sie repräsentieren stabile und eindeutige Konfigurationen. Im Gegensatz dazu ist sowohl das Zusammenspiel der Identitätsdimensionen als auch deren Wechselwirkung mit Friedensaktivismus für andere Befragte dynamisch und komplex. So besteht eine dritte Gruppe von InformantInnen aus Frauen, die in Flüchtlingscamps in Kontakt mit NGOs kamen und von diesen als Multiplikatorinnen angeworben wurden. Indem sie Friedensaktivistinnen werden, befreien sich diese Frauen zunächst aus der Passivität der Opferrolle, erfahren aber wegen ihres öffentlichen Auftretens religiös legitimierten patriarchalen Widerstand und weiten dann ihren Aktivismus auf Gender-Themen aus.

Mit dem Prozess der Emanzipation gehen Veränderungen im Bereich der Glaubensvorstellungen einher. Ausgangspunkt war für die meisten Frauen eine habituelle Religiosität, aufgrund derer sie zum Beispiel regelmäßig Schreine muslimischer Heiliger besuchten – allerdings eher zur Kontaktpflege denn aus religiösen Gründen i.e.S. Sobald sie wegen ihres Aktivismus patriarchalen Widerstand erfahren, machen sie sich jedoch in einer zweiten Phase eine explizite Theologie zu Eigen, insbesondere eine auf die Geschlechterverhältnisse angewandte Gleichheitsethik. In dieser Phase ähnelt die Begründung ihres Handelns jenem der »glaubensbasierten Akteure«. Weil sie sich gegen letztere aber trotz theologischer Finesse nicht durchsetzen können, wenden sie sich langfristig enttäuscht von Religion ab und vertreten zum Teil heftig anti-religiöse Positionen.

Die psychologischen Tests weisen darauf hin, dass sowohl der Emanzipationsprozess als auch die Abwendung von Religion und Ingroup bei diesen Frauen mit Schwierigkeiten verbunden ist: Die Intensität ihrer Gruppenidentifikation nimmt leicht ab und die Toleranz für ambivalente Geschlechterrollen zu; gleichzeitig erleben sie weniger Selbstmächtigkeit. Hier spiegelt sich ihr grundsätzliches Problem: Einerseits möchten sie dem Einfluss religiöser Patriarchen entkommen, wären aber ohne die Kategorisierung als Muslima von keiner NGO angestellt worden und besäßen ohne religiöse Argumente (und seien es solche feministischer Theologie) noch weniger Aussicht auf Akzeptanz. Konsequenterweise erweisen sich beide Dimensionen religiöser Identität für diese Frauen als hochgradig ambivalent – und bisweilen als lähmend.

Zweifelnde Profis

Der letzte der vier empirischen Typen schließlich – Frauen wie Männer – sind ehemalige »säkulare Macher«, die nach den Ausschreitungen von 2002 Zweifel an ihren bisherigen Interventionen und deren Vorannahmen entwickeln. Diese »zweifelnden Profis« stellen erschreckt fest, einen grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt ignoriert zu haben und berichten in ihren Narrativen ausführlich von diesem Erkenntnisprozess. Das Hinterfragen bisheriger Gewissheiten zum Zusammenhang von Religion und Konflikt bewirkt für sie auch persönlich Änderungen im Verhältnis von religiöser Identität und politischem Verhalten. Im Bereich der Glaubensvorstellungen verbinden sie ihren Friedensaktivismus mit einer ganzheitlich-ästhetischen Spiritualität, in der es weniger um Details des Guten (Ethik) oder des Wahren (Metaphysik) geht, sondern um die Schönheit und Stimmigkeit des Guten und Wahren (Ästhetik). Diese Stimmigkeit trägt sie durch die Anstrengungen des Aktivismus, ohne jedoch, wie im Fall »glaubensbasierter Akteure«, konkrete Handlungsanweisungen bereit zu halten. Gleichzeitig fühlen sie sich nach 2002 in hohem Maße für ihre Ingroup verantwortlich, identifizieren sich aber, ähnlich wie »säkulare Macher«, nicht sonderlich stark mit ihr im psychologischen Sinn.

Diese Verbindung von selbstbestimmter Gruppenzugehörigkeit, ganzheitlich-ästhetischer Spiritualität und individueller Verantwortung ist typisch für einen modernen Umgang mit Religion (vgl. Luhmann 2000). Sie setzt eine innere Freiheit voraus, die sich auch in den psychologischen Skalen niederschlägt: »Zweifelnde Profis« können Ambiguitäten besser tolerieren als die anderen drei Typen, sind emotional unabhängiger von ihrer Ingroup und daher als einzige Gruppe von Befragten in der Lage, das Verhältnis von religiöser Identität und Friedensaktivismus reflexiv und bewusst zu gestalten.

Theoretische Implikationen

Die vier vorgestellten Typen unterscheiden sich zwar in ihrer jeweiligen Kombination von religiösen Identitätsdimensionen und Friedensaktivismus, nicht jedoch in Bezug auf soziodemographische Merkmale (mit Ausnahme des Faktors Geschlecht) oder bestimmte Arten von Friedensarbeit. Alte und junge Aktivistinnen, graduierte Muslime vom Land wie Analphabeten aus der Stadt verteilen sich ohne erkennbares Muster, ebenso wie sich kaum Vorlieben etwa für klassischen Wiederaufbau, für Traumaarbeit, Friedenserziehung oder Dialogprojekte herausschälen. Trotz dieser relativen Robustheit der Typologie ist ihre Generalisierbarkeit aus methodischen Gründen letztlich nicht einzuschätzen: Der Vorteil explorativer Fallstudien liegt in der Möglichkeit dichter Beschreibung – auf Kosten verlässlicher Übertragbarkeit.

Allerdings lassen sich aus dem Forschungsprozess einige Lehren für die theoretische wie empirische Konkretisierung der »Ambivalenz des Sakralen« auf der Mikroebene formulieren. Die beiden dynamischen Typen der »sich emanzipierenden Frauen« und der »zweifelnden Profis« sind hier besonders instruktiv: Sie zeigen, dass Ambivalenz nicht nur an der Polarisierung zwischen Gewalttätern und Friedensaktivisten, sondern auch bereits an den inneren Dynamiken letzterer erkennbar wird, wie bereits von Appleby (2000) angenommen. Beide Typen zeigen weiterhin, dass sich Ambivalenzen sowohl diachron innerhalb einer Identitätsdimension als auch synchron zwischen Glaubensvorstellungen und Gruppenidentifikation entfalten können. Schließlich beeinflussen sich im Fall beider Typen politisches Verhalten und religiöse Identität gegenseitig, was sowohl statischen Konzeptionen von Identität als auch Thesen zu ihrer Irrelevanz widerspricht. Eine genauere Untersuchung der jeweiligen Dynamiken, der Übertragbarkeit auf andere Kontexte, auf Aktivisten mit anderer religiöser Sozialisation (konkret etwa auf Hindus) sowie auf gewalttätige Akteure könnte zum besseren Verständnis der »Ambivalenz des Sakralen« auf der Mikroebene beitragen wie zur Weiterentwicklung einer nicht-statischen Konzeption religiöser Identität, die sowohl Glaubensvorstellungen als auch psychologische Prozesse sowie die Wechselwirkung beider Dimensionen berücksichtigt.

Literatur

Appleby, R. S. (2000): The ambivalence of the sacred. Lanham: Rowman & Littlefield.

Beckmann, D./Brähler, E. & Richter, H.-E. (1991): Der Gießen-Test (GT). Ein Test für Individual- und Gruppendiagnostik (4. Aufl.). Bern: Huber.

Engineer, A. A. (Ed.) (2003): The Gujarat carnage. Hyderabad: Orient Longman.

Hansen, T./Momin, A./Petersen, R. & Brass, P. (2006): Review symposium: The production of Hindu-Muslim-violence in contemporary India by Paul R. Brass. Ethnicities, 6, pp. 102-117.

Jackson, J. W. & Smith, B. R. (1999): Conceptualizing social identity: A new framework and evidence for the impact of different dimensions. Personality and Social Psychology Bulletin, 25, pp. 120-135.

Kelle, U. & Kluge, S. (1999): Vom Einzelfall zum Typus: Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Lieblich, A./Zilber, T. B. & Tuval-Mashiach, R. (2008): Narrating human actions: The subjective experience of agency, structure, communion and serendipity. Qualitative Inquiry, 14, pp. 613-631.

Luhmann, N. (2000): Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Reis, J. (1996): Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz (IMA). Heidelberg: Asanger.

Schäfer, H. W. (2009): Zum Religionsbegriff in der Analyse von Identitätskonflikten: einige sozialwissenschaftliche und theologische Erwägungen. epd-Dokumentation 5/09, S.6-16.

Schlösser, J. (2003): Islam als Lebenswelt – Zur religiösen Identität von Studentinnen in Marokko. Mainz: Institut für Ethnologie und Afrikastudien. Arbeitspapiere Nr. 32.

Weingardt, M. A. (2008): Religion als Friedensressource. Potenziale und Hindernisse. Wissenschaft & Frieden, 26 (3), S.26-29.

Wilhelmy, S. (2006): Die Rolle von Religionen in Gewaltkonflikten und Friedensprozessen. Osnabrück: Deutsche Stiftung Friedensforschung. Verfügbar unter: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/pdf-docs/arbeitspapiere2.pdf [Zugriff: 30.07.09].

Raphael Susewind studiert sozialwissenschaftliche Indologie am St Antony‘s College der Universität Oxford; dieser Artikel basiert auf seiner Diplomarbeit am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Kontakt: mail@raphael-susewind.de.

Der Islam in Russland

Der Islam in Russland

von Alexey Malashenko

In den Medien ist oft von der wachsenden Gefahr einer Islamisierung Russlands zu hören. Neben dem Christentum gehört der Islam auf dem Gebiet der Russischen Föderation zu den dort seit Jahrhunderten verwurzelten Religionen. Eine in sich fest geschlossene Gemeinschaft haben die hier lebenden muslimischen Völker allerdings zu keinem Zeitpunkt ihrer Entwicklungsgeschichte gebildet. Vielmehr existiert in Russland eine Vielzahl islamischer Gemeinschaften, die von verschiedenen Strömungen beeinflusst seit dem Zusammenbruch der UdSSR und infolge der damit einhergehenden globalen Veränderungsprozesse um eine Neuordnung ihrer islamischen Werte in Russland ringen.

Der vereinheitlichende Begriff russischer bzw. post-sowjetischer Islam, der von manchen Wissenschaftlern verwendet wird, ist nicht ganz korrekt. Die in Russland zahlreichen muslimischen Ethnien, wie beispielsweise Tataren, Baschkiren sowie Völker des nördlichen Kaukasus, sind von verschiedenen Kulturen und Erfahrungen geprägt und betonen die Differenzen in ihrer religiösen Tradition. In Russland existieren westlich und östlich des Uralgebirges zwei islamische Gebiete wobei jedes als Teil Russlands seine Besonderheiten aufweist. Der russische, bzw. post-sowjetische Islam als homogenes Phänomen existiert nicht, weshalb in der vorliegenden Abhandlung der Terminus »Islam in Russland« verwendet wird.

Muslimische Vielfalt in der Russischen Föderation

Es ist schwierig, die Größe der muslimischen Bevölkerung in Russland exakt zu beziffern. Nach der Volkszählung im Jahr 2002 betrug sie 14,5 Millionen Menschen. 2006 überstieg die Zahl der Muslime mit russischer Staatsbürgerschaft 15 Millionen. In sieben Gebieten der Russischen Föderation stellen Muslime die Mehrheit in der Bevölkerung, namentlich in Inguschetien (98%), Tschetschenien (96%), Dagestan (94%), Kabardino-Balkarien (70%), Karatschai-Tscherkessien (63%), Baschkortostan (54,5%) und Tatarstan (54%). Wenn es um eine Schätzung der in Russland lebenden Muslime geht, gilt es, neben jenen, die die russische Staatsbürgerschaft von Geburt an besitzen, auch solche Muslime zu berücksichtigen, die nach Russland emigriert sind. Fasst man beide Gruppen zusammen, so ergibt sich in etwa die Zahl von 20 Millionen Muslimen, die heute auf dem Gebiet der Russischen Föderation leben. Diese Zahl wird von den muslimischen geistlichen Führern1 als realistisch eingestuft und auch von der russischen Führung als Referenzzahl genannt.

Was die soziale Vernetzung der russischen Muslime betrifft, so lässt sich für den Zeitraum der vergangenen zwei Jahrzehnte festhalten, dass diese nicht nur ihre Beziehungen zur Umma, der religiösen Gemeinschaft der Muslime pflegen, sondern auch enge Kontakte zur nicht-muslimischen Welt unterhalten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einer zunehmenden Konfrontation mit anderen, fundamentalistischen Strömungen des Islam, wie beispielsweise dem Wahhabismus aus dem arabischen Raum. Der sich daraus entwickelnde so genannte neue Islam, wird heute mit dem religiösen Radikalismus assoziiert. Sein Aufschwung erfolgte in den 1990er Jahren, als auf dem sich neu formierenden russischen Territorium eine Vielzahl von radikalen Gruppen aktiv wurde, die auf das religiöse und politische Bewusstsein der dort lebenden Muslime massiv Einfluss zu nehmen begannen.

Der neue islamische Radikalismus

In Russland wird im Zusammenhang mit dem radikalen Islam am häufigsten der Terminus »Wahhabitismus« verwendet, bei dem eine Verbindung zwischen religiösen und politischen Komponenten besonders stark zum Ausdruck kommt. In einem von ihr propagierten Kampf für soziale Gerechtigkeit opponiert diese Strömung des Islam in Russland nicht nur gegen die regierende Macht. Zugleich wendet sie sich gegen die eingangs erwähnten, in Russland traditionell vorherrschenden islamischen Strömungen, die nach ihrer Auffassung von der Sowjetmacht deformierte Traditionen in sich aufgenommen haben. Besonders stark zeichnet sich die Einflussnahme dieser radikalen Strömung im Nordkaukasus ab. Hier entwickelte sich in den 1990er Jahren ein separatistischer Dschihad, der von einem systematischen Terrorismus auf dem Territorium von Zentralrussland begleitet wurde. Die mit dieser Entwicklung einhergehenden Terroranschläge waren in der öffentlichen Wahrnehmung religiös motiviert, verfolgten aber das Ziel, die Behörden zu Verhandlungen mit Separatisten zu zwingen. Zu den Terroranschlägen, denen Hunderte von Menschen zum Opfer fielen, werden unter anderem die Bombenanschläge in der Moskauer Metro (2001), die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater (2002), der Bombenanschlag auf ein Musikfestival in Moskau (2003), eine Reihe von Bombenanschlägen in der Region Stawropol (2002-2003), der Bombenanschlag in Grosny auf das Sportstadion »Dinamo« (2004), die Bombenanschläge auf Linienflüge (2004), die eintägige Eroberung der inguschetischen Hauptstadt Nasran (2004), die Geiselnahme von Beslan (2004) und der Überfall auf Naltschik, der Hauptstadt von Kabardino-Balkarien (2005) gezählt. In Dagestan wurde in den Jahren 1997-99 mit der Unterstützung wahhabitischer Glaubensanhänger ein »schariatisches Territorium der Russischen Föderation« ins Leben gerufen, das vier Siedlungen umfasste (Karamachi, Tschabanmachi, Chankurbe und Kadar) und die Schari‘a, das Gesetz des Islam, einführte. Im Jahr 1999 verübte der 2006 ums Leben gekommene Rebellenführer des äußeren Flügels der tschetschenischen Separatisten, Schamil Bassajew, einen Angriff auf Dagestan mit dem Ziel, auf dem Territorium von Tschetschenien und Dagestan ein Vereinigtes Islamisches Emirat zu schaffen.

Der traditionelle Islam

Im islamischen Alltag der Republiken Baschkortostan und Tatarstan machen sich die Radikalen weniger bemerkbar. Hier treten Islamisten nur vereinzelt auf, sie kontrollieren keine Moscheen. Ihnen nahestehende Imane werden von der regierenden Administration in Kooperation mit konformen Geistlichen von offiziellen Ämtern ferngehalten bzw. verdrängt. Gleichwohl besitzen auch in diesen Republiken entsprechende Kräfte die Fähigkeit, Schläge gegen die föderalen Regierungsorgane zu führen.

Der traditionelle Islam in Russland wird für unpolitisch gehalten, weshalb die Beteiligung von islamischen Kräften am politischen Prozess mit radikalen Strömungen in Verbindung gebracht wird. Zum traditionellen Islam werden die religiös-rechtlichen und in Russland anerkannten Schulen der Hanafiya (Hanafiten) und Schafi‘iya (Schafiiten) gezählt, die beide dem sunnitischen Islam zuzuordnen sind. Anhänger der erstgenannten Schule sind beispielsweise Tataren, Baschkiren und ein Teil der kaukasischen Muslime. Die letztgenannte Schule der Schafiiten ist in Dagestan und Tschetschenien verbreitet. Zum traditionellen Islam zählt auch der Sufismus, dem sich in Russland Glaubensbruderschaften (Tarikaten), wie beispielsweise die Nakschbandija, Kadirija und Schadhiliya, zugehörig fühlen.

Politisierung des Islam

Vor allem in Nordkaukasien hat der traditionelle Islam seit Anfang des 21. Jahrhunderts infolge anhaltender sozialer und politischer Spannungen den Weg der Politisierung genommen, obwohl es gegen den sufistischen Geist verstößt, für den laut dem dagestanischen Islamforscher Mustafa Bilalov die Nichteinmischung in die Politik2 bisher charakteristisch war. Die Politisierung der hier ansässigen islamischen Glaubensbruderschaften, deren Strukturen in Russland als Tarikatismus bezeichnet werden, geschieht auch mit Unterstützung des Tschetschenischen Präsidenten, Ramzan Kadyrov. In der Resolution eines im Juni 2008 in Grosny gehaltenen wissenschaftlich-praxisorientierten Seminars mit dem Titel »Islam in Tschetschenien: Geschichte und die Gegenwart« heißt es: „Islam wird heute zu einem der legitimen Faktoren des gesellschaftlichen und politischen Lebens der Tschetschenischen Republik.“3 Viele kaukasische Politiker und Beamte verstehen sich als Müriden (Schüler) einer der im Kaukasus aktiven Glaubensbruderschaften und streben danach, von ihren religiösen Oberhäuptern politisch legitimiert zu werden. In der Kaukasusregion ist diese Art von Beziehungsgeflecht von großer Bedeutung, weil die Unterstützung durch das religiöse Oberhaupt dem Politiker in der Gesellschaft zusätzliche Legitimität verleiht.

Islamisierung des Alltags

Grundsätzlich lässt sich in den Regionen, in denen Muslime die Mehrheit stellen, wie beispielsweise in den Republiken Dagestan und Tschetschenien, der Versuch beobachten, einen vom Islam geprägten Lebensraum zu schaffen. Und auch in Tatarstan und Baschkortostan lassen sich entsprechende Anzeichen erkennen. Zu den Bemühungen gehören Versuche, das System der »Vakf«, eine Institution zur Überwachung religiöser Aktivität, sowie Prinzipien des islamischen Rechts auf verschiedenen Ebenen einzuführen. In Tschetschenien und Dagestan sind Spielhäuser und Saunen verboten. In Dagestan wurde in jüngster Zeit außerdem ein Verbot für eine Reihe von Gastvorstellungen berühmter Sänger und Schauspieler ausgesprochen, deren Bühnenauftritte und Lebenswandel angeblich die Gefühle der Gläubigen verletzt. Die islamische Kleiderordnung für Frauen, zu der auch das Kopftuch (Hijab) gehört, tritt zunehmend in Erscheinung. In Tatarstan werden Kurse angeboten, in denen Frauen ein für muslimische Ehefrauen vorbildliches Verhalten gelehrt wird. Es ist geplant, ähnliche Kurse in Ufa, der Hauptstadt der Republik Baschkortostan, anzubieten. Traditionell muslimische Cafés werden eröffnet, ebenso wie Geschäfte mit Halal-Lebensmitteln, also Produkten, die für den gläubigen Muslim zum Verzehr erlaubt sind, und Läden mit religiösem Zubehör und Literatur. In Kasan, der Hauptstadt Tatarstans, wird regelmäßig das internationale Festival des muslimischen Films, das so genannte goldene Minbar, veranstaltet. In der russischen Hauptstadt Moskau fand kürzlich ein Wettbewerb zum besten Werk über den Islam statt. 2008 wurden auf Initiative des Rates der Muftis von Russland unter dem Titel »Fleisch und Religion« Weiterbildungskurse im russischen wissenschaftlichen Forschungsinstitut der Fleischindustrie zur Produktions- und Vertriebsorganisation von Halal-Lebensmitteln ausgeführt. Seit 2009 gilt in Tschetschenien „der internationale Maßstab für die Halal-Lebensmittelproduktion“4. In Baschkortostan gibt es das erste Taxiunternehmen in Russland, »Safar«, das nach dem Gesetz der Schari‘a organisiert ist. Der Hauptunterschied besteht darin, daß die in diesem Taxiunternehmen arbeitenden Fahrer keinen Alkohol trinken.

Auch andere Entwicklungen befördern in manchen Regionen die Schaffung eines vom Islam streng geprägten Alltags. So äußerten sich 2008 einige Imame, ob es nicht sinnvoll wäre, einen muslimischen Wohnbezirk im Moskauer Stadtbezirk Butovo zu schaffen, und diesen durch den Einsatz von muslimischen Patrouillen gegen Überfälle nicht-muslimischer Nationalisten zu schützen. 2009 schlug der Vorsitzende des Islamischen Komitees Russlands, Geidar Dschemal, vor, eine „internationale Union für die Unterstützung von Arbeitsmigranten“ zu bilden. Tatsächlich verbarg sich dahinter so etwas wie eine »islamische Genossenschaft«.

Wandel unter innerem und äußerem Druck

Wie überall in der Welt, so lassen sich bezüglich des Islam in Russland verschiedene Strömungen ausmachen. Ihre Entwicklungen reichen von traditionell konservativen über radikale bis hin zu modernen Ansätzen. Die mit dem Zusammenbruch der UdSSR einhergehenden und vielfach noch ungelösten sozioökonomischen Probleme haben in Russland den Vertretern des radikalen Islam Zulauf verschafft. Inzwischen haben sich auch Vertreter des traditionell gemäßigten Islam der sozialen Fragen angenommen und bringen sich zunehmend in den politischen Alltag ein. Ungeachtet ihrer Differenzen eint beide Strömungen die Kritik am Westen und der Wunsch, die zerrüttete Ordnung innerhalb der muslimischen Gesellschaft durch eine konsequente Anwendung der islamischen Rechtsprinzipien zu festigen. Wie schon eingangs erwähnt, ergibt sich die Rolle des Islam in Russland aus unterschiedlichen religiösen und weltlichen Erfahrungen und Problemen. Unter dem Einfluss innerer und äußerer Veränderungsprozesse steht der Islam auf dem weitläufigen Gebiet der russischen Föderation unter ständigem Veränderungsdruck auf politischer, sozial-ökonomischer und religiöser Ebene. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Russland sieht sich mit ernsthaften Schwierigkeiten demographischer Natur konfrontiert, vor deren Hintergrund das muslimische Bevölkerungswachstum an Bedeutung gewinnt. Während die russische Bevölkerung statistisch betrachtet jährlich um 0,47% schrumpft, ist insbesondere der aus dem Kaukasus stammende Teil der muslimischen Bevölkerung in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen.5

Der Strom der muslimischen Migranten aus Zentralasien und den transkaukasischen Gebieten wird weiter zunehmen. Angaben des für Migration und Beschäftigung zuständigen Regierungskomittees von Kirgisistan zufolge, siedelten von dort in den ersten neun Monaten des Jahres 2008 mehr als 430.000 Menschen nach Russland über.6 Aus Usbekistan kamen ca. 600.000 Menschen nach Russland.7 Aus Tadschikistan ungefähr 500.000 Menschen. Die Zahlen der aus Aserbaidschan stammenden Migranten in Russland bewegen sich zwischen ein bis zwei Millionen. Während die muslimischen Migranten durch ihren Wegzug in andere Gebiete der russischen Föderation einerseits ihr gewohntes islamisches Umfeld verlieren, dient ihnen der Islam andererseits als Hülle in ihrer neuen Umgebung. Als Klammer übernimmt der Islam für sie in Russland damit eine ähnliche Funktion wie für die in Europa lebenden Migranten muslimischer Herkunft.

Zukünftige Herausforderungen

Im 21. Jahrhundert wird sich das Zahlenverhältnis zwischen orthodoxen und muslimischen Gläubigen innerhalb der russischen Bevölkerung weiter verändern. Im Jahr 1937 zählten die Muslime etwa 5,9% der russischen Bevölkerung, 1989 waren es ca. 7,9% und 1994 9%8. Im Jahr 2009 gehören ca. 11% der russischen Bevölkerung der muslimischen Glaubensgemeinschaft an. Der stetig wachsende Anteil der Muslime an der russischen Bevölkerung wirkt sich zweifellos auf ihr Selbstbewusstsein aus und hat Einfluss auf ihre politischen Ansichten und ihr Verhalten. Man darf daher annehmen, dass sich in Zukunft die Bemühungen der in Russland lebenden Muslime verstärken werden, ihre religiöse Identität und Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft, der Umma, zu bewahren und zu vertiefen. Im besonderen Maße wird dieser Prozess für den Nordkaukasus charakteristisch bleiben. Was die Aktivität der muslimischen Radikalen betrifft, so wird diese wohl von zwei wesentlichen Faktoren bestimmt werden, nämlich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung im Land und dem Vermögen der traditionell moderaten Strömungen, den theologischen und ideologischen Wettkampf innerhalb des Islam für sich zu entscheiden. Vielleicht ergibt sich zwischen ihnen die Möglichkeit einer sich ausbalancierenden Wechselwirkung. Der russische Staat wird sich jedenfalls daran messen lassen müssen, ob es ihm gelingt, ein taktvolles und zugleich effektives Modell für das Miteinander der auf seinem Gebiet existierenden unterschiedlichen Religionen zu entwickeln. Ein Modell, das er bisher noch nicht gefunden hat.

Anmerkungen

1) Sergej Bitschkov: Tsentrovoj muftij (Zentraler Mufti). Moskowski Komsomolez, 27. Februar 2006.

2) Ì.I. Bilalov: Sufism i posnavatelnaja kultura (Sufismus und erkenntnisreiche Kultur). Dagestanskoje knischnoje isdatelstvo, Machatschkala, 2003, S.98.

3) Islam v Tschetschne: istorija i sovremennost (Islam in Tschetschenien: Geschichte und Modernität). Tschetschenskaja Respublika, 2008, S.63.

4) An-Nur, 30 September, 2008, S.4.

5) Michail Sergeev: Glavnaja nationalnaja Ugrosa (Die nationale Hauptbedrohung). Nezavisimaja Gazeta, 14. Mai 2009, S.4.

6) Regnum, 26. Januar 2009.

7) Ferghana.ru [www.analitika.org/article.php?story=20070806030627537]

8) Alexey Malashenko: Islamskoje Vosroschdenije v sovremennoj Rossii (Islamische Wiedergeburt im modernen Russland). Moskau, 1998, S.8.

Dr. Alexey Malashenko ist Wissenschaftler am Carnegie Moscow Center, einer Abteilung der Carnegie Endowment for International Peace in Washington, DC. Darüber hinaus war er über viele Jahre Professor am Moscow State Institute of International Relations (MGIMO), der diplomatischen Ausbildungsstätte des Außenministeriums der Russischen Föderation. In seiner Forschung beschäftigt sich Dr. Malashenko insbesondere mit den Themen Religion, Gesellschaft und Sicherheit.
E-mail: amalashenko@carnegie.ru

Übersetzung: Victoria Storozenko. Sie promoviert am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.

Religion, Gewalt, Geschlecht

Religion, Gewalt, Geschlecht

Gender als vernachlässigte Frage im Diskurs religiöser Gewaltforschung

von Elisabeth Naurath

Beim Betrachten der Thematik »Religion und Gewalt« wird zumeist und vorrangig der Aspekt eines absolut gesetzten Wahrheitsanspruchs mit dem Entstehen fundamentalistischer (und damit tendenziell intoleranter) Einstellungen diskutiert. Die religiöse bzw. ethisch-moralische Entwicklung als Baustein der Disposition zu Gewalt(bereitschaft) ist demgegenüber nicht im Blick. Folglich wird auch die im Zuge der ethischen Bildung stark diskutierte Gender-Thematik für den Zusammenhang von Religion und Gewalt weitgehend ignoriert. Beide Perspektiven sollen in der folgenden gebündelten Fragestellung in den Vordergrund treten, um die Dringlichkeit weiterer Forschung aufzuzeigen: Welche Rolle spielen Geschlecht und Religion für die Entwicklung von Gewaltbereitschaft?

Was hat Religion mit »sex and crime« zu tun? Das Thema »Religion, Gewalt, Geschlecht« weckt zunächst Assoziationen an leib- und sexualfeindliche Traditionen christlicher Kirchengeschichte (vgl. Lämmermann 2002; Holl 2005) oder auch an Differenztheorien, die im religiös manifestierten Dualismus zwischen Mann und Frau den Ursprung aller Sünde und Gewalt sehen (vgl. Heininger, Böhm, Sals 2004). Doch diese Perspektive sollte meines Erachtens mit Hilfe der Differenzierung von »sex« und »gender« und im Kontext international und transdisziplinär ausgerichteter Geschlechterstudien erweitert werden: „But gender itself has on many occasions proven to be a very useful interpretive tool in deciphering subtexts of the modern world, analyzing sociological, historical and cultural developments at a point when they have not yet become ‚speakable‘.“ 1

Ein Praxisbeispiel soll diese These illustrierten (Naurath 2007, 30): In einer dritten Grundschulklasse wurde im Religionsunterricht anhand der Jakob-Esau-Geschichte das Thema »Segen« behandelt. Die Kinder sind aufgefordert, ein eigenes Bild zu malen mit der Überschrift »Segen in meinem Leben«. Ein neunjähriger Schüler zeigt der Lehrerin sein Bild, auf dem er Krieg gemalt hat: Panzer, Flugzeuge mit Bomben etc. Die Lehrerin fragt ihn erstaunt, was das mit Segen zu tun habe. Darauf antwortet der Schüler: „Ach, Krieg zu malen ist viel spannender. Ich werde am Schluss alles rot durchstreichen, dann ist es ein Friedensbild!“

Dieses frappierende Beispiel aus dem Religionsunterricht zeigt die Faszination von Gewalt, die ein Segens- oder Friedensbild im Vergleich zu action- geladenen Szenarien auch schon für – nach meiner Erfahrung vorrangig männliche – Grundschulkinder als langweilig erscheinen lässt. Das mag erschrecken, ist aber als Phänomen zunächst wahrzunehmen und nach seinen Hintergründen zu befragen. Könnte es sein, dass vor allem Jungen von Macht, Stärke, Gewalt und medialen Helden fasziniert sind, weil sie eigene Gefühle der Ohnmacht und des »Noch-nicht-Könnens« angesichts impliziter Erwartungen an ihre Geschlechterrolle dadurch kompensieren? Begeistern die magischen Künste Harry Potters die Heranwachsenden so sehr, weil hier Grenzen der Wirklichkeit machtvoll durchbrochen werden können? Drückt sich darin auch eine Sehnsucht nach Befreiung von Konventionen oder Stereotypisierungen aus? Im Blick auf den Religionsunterricht wäre dann zu fragen, inwieweit diese Sehnsucht auch als Sehnsucht nach Gott respektive nach dem Heiligen als Entgrenzendem wahr- und ernst zu nehmen ist. Dies insbesondere, da das Heilige nach Rudolf Otto »fascinosum et tremendum« (also Faszinierendes und Erschreckendes) in sich vereint und sich damit einseitigen Zuschreibungen sperrt. Verständlicherweise wird also eine Religionsdidaktik, die nur den »allzeit lieben Gott« vermitteln will, in ihrer Einäugigkeit Dimensionen des Gottesbildes und der Gottessehnsucht ausblenden, die – religionspsychologisch betrachtet – vor allem für männliche Kinder und Jugendliche bedeutsam sind, wie an dem Praxisbeispiel offensichtlich wurde.

Wenn also das Thema »Gewalt« in der Vielfalt seiner emotionalen Facetten (wie Angst, Abscheu, aber auch Faszination und Begeisterung) lebensgeschichtlich schon früh eine tragende Rolle spielt, ist damit auch die religiöse und ethische Entwicklung des Menschen angesprochen. Die entscheidende Zuspitzung liegt aber nun darin, dem Phänomen in seiner geschlechtsspezifischen Dimension Rechnung zu tragen. Allerdings – und das macht die Kombination der Fragestellung nach Religion, Gewalt und Geschlecht besonders brisant – bewegt man sich hier forschungswissenschaftlich auf Neuland, denn die Untersuchungen zu Religion und Gewalt blenden zumeist die Gender-Thematik aus, während die vor allem sozialwissenschaftlich boomenden Studien zur »Männlichkeit« der Gewalt den religiösen Blickwinkel vernachlässigen. Wir kommen jedoch nicht umhin, beide Stränge im Gewaltdiskurs einzubinden, um auf die Notwendigkeit weiterer Forschung hinzuweisen.

Welche Rolle spielt das Geschlecht für den Gewaltdiskurs?

Es scheint nicht übertrieben, den öffentlichen Diskurs zur Gewaltthematik in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsbedingungen zu sehen: Ob man tatsächlich von einem deutlichen Gewaltanstieg in unserer Gesellschaft sprechen kann oder ob hier ein wahrnehmungspsychologisches Problem vorliegt, das die (vor allem mediale) Bewusstmachung zu einem Prozess ständiger Bewusstwerdung aufgrund höherer Aufmerksamkeit führt, gleicht der Frage nach der Priorität von Huhn oder Ei. Kriminologische Statistiken konstatieren zwar eine Verjüngung und Verrohung von Gewalttaten, machen jedoch die mediale Fokussierung auf gewalttätige Einzelphänomene für den Eindruck einer im Kinder- und Jugendkontext wachsenden Gewalt verantwortlich. Ähnliche Wahrnehmungsprozesse liegen für die Behauptung eines grundsätzlich »männlichen Gesichts« der Gewalt auf der Hand. Während noch in den 1980er Jahren die Geschlechterthematik in der Gewaltforschung weitgehend unbeachtet war, erregt heute die gezielte forschungswissenschaftliche Frage „Wie kommt die Gewalt in die Jungen?“ (Kassis 2003) keinen Widerspruch. Im Zuge der Geschichte des Feminismus, die zum Teil zu einer »Genderisierung« sozialwissenschaftlicher Forschungen geführt hat, begann ein Bewusstseinswandel, der mitunter zu Recht als erneuter Biologismus via ständiger Kategorisierung von »sex« und »gender« gesehen wird. Problematisch ist insbesondere die Flut an Ratgeberliteratur, die die kritische Jungen- und Männerforschung nur verkürzt und damit verfälscht in einseitigen Sichtweisen »unters Volk bringt« und damit weiterhin rollenspezifische Klischees bedient. Hierbei fallen drei Stoßrichtungen der Argumentation auf (vgl. Schultheis, Fuhr 2006, 16ff.): der »Arme-Jungen«-Diskurs, der »Die-Schule-versagt«-Diskurs und der »Wie-Jungen-sind«-Diskurs. Die Probleme männlicher Identitätsentwicklung fokussiert der »Arme-Jungen«-Diskurs, indem resümiert wird, dass der Wandel der Geschlechterrollen für die heranwachsenden Jungen zu einem unlösbaren Paradox geführt habe: einerseits sollten sie Stärke nach dem Muster traditioneller Männlichkeitsvorstellungen und andererseits emotionale Kompetenzen wie Sensibilität und Einfühlungsvermögen entwickeln. Die Konfrontation mit zwei einander widersprechenden Männerbildern führe jedoch zu starker Verunsicherung, welche sich wiederum in wachsender Aggression und Gewaltneigung ausdrücken kann. Daran anknüpfend sieht der »Die-Schule-versagt«-Diskurs eine deutliche Benachteiligung der Jungen in schulischen Lerninhalten und -formen sowie Leistungsmaßstäben, da die Unterrichtsorganisation den eher extrovertierten und raumgreifenden, männlichen Interessen entgegenstünden. Auch diese in gewissem Sinn falschen Anforderungen an Heranwachsende männlichen Geschlechts bergen ein eklatantes Konfliktpotential in sich, die aufgrund der biologischen Disposition – hier wird vor allem mit dem erhöhten Testosteronspiegel als »Männlichkeitshormon« argumentiert – die Gewaltbereitschaft der Jungen stark erhöhe. Diese Argumentation des »Wie-Jungen-sind«-Diskurses hat im pädagogischen Kontext eine auf besonders problematische Weise »entlastende« Funktion, die ideologiekritisch zu entlarven ist: Wenn Eltern von einem Vortrag zum männlichen Testosteronspiegel kommen und sich nun endlich das Aggressionspotential ihres Sohnes erklären können, ist die entschuldigende Wirkung nicht nur eine Absage an pädagogische Bemühungen, sondern erinnert an traditionell-rollenstereotype Einstellungen, die angesichts männlicher (auch sexueller) Gewaltneigung gerne mal ein Auge zudrückt. Demgegenüber verweisen Studien der kritischen Jungen- und Männerforschung darauf, Gewalt nicht vorschnell als Form männlicher Lebensweise bzw. -bewältigung anzusehen, sondern gesellschaftspolitische Zusammenhänge einer „hegemonialen Männlichkeit“ (Kassis 2003, 149) bzw. die weiterhin evidente Rolle von Männlichkeitsmythen in den Blick zu nehmen (Wölfl 2001, 98). Damit also lohnt eine Beschäftigung mit den religiösen und kulturellen Wurzeln von »Männlichkeitsmythen«.

Welche Rolle spielt das Geschlecht für die Religion?

Das Selbstverständnis von Frauen und Männern ist kulturell im Kontext eines religiös-philosophischen Erbes zu sehen, das als gemeinsames Merkmal der Weltreligionen deutlich patriarchale Züge trägt (vgl. Heller 2004). Dies wurde in der feministisch-theologischen Forschung seit den 1980er Jahren für den christlichen Kontext in grundlegenden Studien aufgezeigt. Hierbei wurde auch deutlich, dass im Horizont eines im Abendland philosophiegeschichtlich dualistisch bestimmten Denkens (Mann-Frau, Geist-Leib, Kultur-Natur, Öffentlichkeit-Privatsphäre etc.) nicht nur die Dominanz des Männlichen, sondern auch die Männlichkeit von Dominanz als Stereotyp legitimiert wurde. Damit etablierten sich kulturelle Männlichkeitsmythen, die auf der Basis eines Konzepts hegemonialer Männlichkeit im Prozess geschlechtsspezifischer Identitätsentwicklung als »doing gender« für Jungen und Männer internalisiert werden können und für ein Entstehen aggressiver Rollenmuster verantwortlich sein können. Genetische Dispositionen scheinen daher für einen Zusammenhang von »Männlichkeit und Gewalt« weniger ausschlaggebend als geschlechtsbedingte Rollenstereotypen, deren kulturelle Bedingtheit respektive deren religiöse bzw. theologische Wurzeln ideologiekritisch aufzuarbeiten sind. Dies gilt insbesondere für die Notwendigkeit weiterer Forschungen zur religiösen wie auch ethisch-moralischen Entwicklung, scheint hierbei doch das Bedürfnis nach Anerkennung an die konventionelle Norm (vgl. die Entwicklung des moralischen Urteils nach Kohlberg) und an eine gelingende Autonomieentwicklung (vgl. Fitz Oser, Paul Gmünder) gebunden zu sein. Selbstverständlich spielt – wie emotionspsychologische Forschungen zur kindlichen Entwicklung von Mitgefühl zeigen – die Reflexion geschlechtsspezifischer Prämissen im Erziehungsstil eine Rolle (Naurath 2007, 136ff); in diesem Zusammenhang wurde in der Empathieforschung (Hoffman 2000) auf die hohe Relevanz von Induktionen hingewiesen, die gegenüber Mädchen auffallend häufig gezeigt wurden: Induktionen im erzieherischen Verhalten sind opferzentrierte Erklärungen, d.h. dem Kind werden die verletzten Gefühle einer anderen Person bewusst gemacht, um Empathie bzw. Verantwortungsbewusstsein zu stärken. Im Gegensatz hierzu stehen Disziplinierungsmaßnahmen und Strafen, die die Aufmerksamkeit vom Gegenüber abziehen und Schuldgefühle erzeugen. Diese Emotionskontrolle wirkt sich nach Hoffman besonders negativ auf die Jungen aus, denn unterdrückte Gefühle blockieren die Offenheit und Sensibilität für andere und suchen sich in Aggressionen ein Ventil. Dies gilt für den Zusammenhang von »Religion, Gewalt und Geschlecht« besonders dann, wenn via eines – nun einseitig – fordernden und strafenden Gottesbildes die (väterliche) Autorität im Sinne eines eher an negative oder gar aggressive Emotionen gekoppelten Männlichkeitsmythos transzendiert wird. Wenn „also viele Religionen, insbesondere Religionen von Abstammungsgemeinschaften, sich positiv zur Beauftragung der Männer mit Gewalt verhalten und diese rituell im Mann-Werden verankern (…), können religiöse Lehren von Gewaltlosigkeit nur dann etwas verändern, wenn sie ebenfalls am Ideal von Männlichkeit ansetzen.“ (Feldtkeller 2006: 848) Mit dieser These, der meines Erachtens unbedingt zuzustimmen ist, gilt es nicht nur, die »Gender-Thematik« als ideologiekritisches Paradigma der theologischen wie auch religionswissenschaftlichen Forschung voranzutreiben, sondern im Bereich religiöser Bildung Mädchen und Jungen respektive Frauen und Männer differenziert in den Blick zu nehmen.

Möglichkeiten gender- orientierter Gewaltprävention im Kontext religiöser Bildung

Die religiöse Dimension normativer Festschreibungen von männlichem und weiblichem Rollenverhalten ist im Blick auf die Analyse und Konstruktion präventiver Maßnahmen zur Gewaltentwicklung stärker in den Blick zu nehmen. Zentral ist hierbei die Frage nach den Gottesvorstellungen: Die gängige These Russells (1974), dass ein autoritär-punitives Gottesbild militaristische Einstellungen befördere, ist sicher richtig.2 Andererseits greift auch eine angesichts des Bösen und der entwicklungspsychologisch relevanten Frage nach Gerechtigkeit »verharmlosende Kuscheltheologie« zu kurz. Ziel führend ist demgegenüber eine Religionsdidaktik, die subjektorientiert die Themen von Heranwachsenden – und das heißt eben von Jungen und Mädchen – aufgreift und sich kritisch-konstruktiv auch mit Fragen der (Faszination von) Gewalt auseinandersetzt. Subjektorientierung impliziert hierbei auch die – für die Entwicklung des religiösen wie moralischen Urteils relevante – In-Frage-Stellung von Autorität(en). Christliche Religionsdidaktik kann und sollte dies als Ermöglichung einer diskursiven Auseinandersetzung mit dem Reichtum an biblischen Gottesbildern auf der gemeinsamen Suche nach dem Heiligen verstehen. Religiöse Mythen »hegemonialer Männlichkeit« sind insofern ideologiekritisch zu entlarven als ihnen marginalisierte Gottesbilder gegenüberzustellen sind: Der biblische Fundus weiblicher bzw. mütterlicher Gottesbilder, aber auch eines mitfühlend bzw. fürsorglich konnotierten Vaterbildes (beispielsweise im Gleichnis vom »Barmherzigen Vater« in Lk 15, 11-32) bietet hier eine Fülle möglicher Ansatzpunkte.

Desweiteren ist der Dreischritt „Degendering, Engendering und Regendering“ (Wölfl 2001, 216) auch auf theologische Forschungen transferierbar, indem zunächst geschlechtliche Zuschreibungen aufgedeckt (Degendering), dann im Sinne einer Weitung der Handlungsspielräume problematisiert (Engendering) und schließlich durch – der Komplexität der Wirklichkeit gerechter werdende – differenzierende Symbole (Regendering) ersetzt werden. Folglich müssten also rollenspezifische Denkmuster verändert werden, die wiederum von alltäglich gelebten Zuschreibungen bestimmt sind. Wenn Jungen beispielsweise in ihrer frühkindlichen, sowohl für die emotionale und damit auch für die religiöse Entwicklung zentralen Lebensphase in stärkerem Maß männlich-fürsorgliche Bezugspersonen mit dezidiert induktivem Erziehungsstil erlebten, könnten traditionelle, an Dominanzverhalten gebundene Männlichkeitsmythen im wahrsten Sinne des Wortes aufgeweicht werden. Die Rolle des Vaters erweist sich hier als zentral – dies im Kontext einer gesellschaftlich notwendigen Neuformulierung von Väterlichkeit, die authentisch gelebte Emotionalität und die Übernahme sozialer Verantwortung als geschlechterübergreifende Aufgabe und Kompetenz definiert.

Ebenso ist auch die religiöse Bildung in deutlichem Zusammenhang zur emotionalen Entwicklung zu sehen: Weil religiöse Sozialisation überwiegend von Frauen (Müttern und Großmüttern) tradiert wird und nicht selten männliche Identität in Abgrenzung zu einer an Emotionalität geknüpften Religion von Frauen vollzogen wird, liegt für Jungen eine größere Hürde in der Entwicklung ihrer Religiosität. Insofern sollte für die Religionspädagogik stärker in den Blick kommen, die Kompetenz der Väter im Blick auf religiöse Sozialisationsprozesse zu stärken (Domsgen 2004, 312). Für die Förderung mitfühlender und das heißt eben auch gewaltpräventiver Kompetenzen sollte daher ein besonderer Fokus religiöser Erwachsenenbildung auf der Elternarbeit liegen, um unter anderem auch geschlechtsspezifische Reflexionsmöglichkeiten (als Männer- und Frauenbildung) zu integrieren.

Literatur

Braun et al. (eds.) (2006): »Holy War« and Gender. Gotteskrieg und Geschlecht. Berliner Gender Studies 2. Münster: LIT Verlag.

Domsgen, Michael (2004): Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie, in: Arbeiten zur Praktischen Theologie 26. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

Feldtkeller, Andreas (2006): Gewalt und Gewaltlosigkeit als Ideale von Männlichkeit im interreligiösen Vergleich, in: Schweitzer, Friedrich (Hg.): Religion, Politik und Gewalt. Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Heine, Susanne (2004): Religion als Treibstoff gewaltsamer Politik – Eine religionspsychologische Perspektive, in: Rolett/Herle/Braunschmid (Hg.): Eingebettet ins Menschsein: Beispiel Religion. Bd. 3. Lengerich: Pabst, 139-145.

Heininger, Bernhard/Böhm, Stephanie/Sals, Ulrike (Hg.) (2004): Machtbeziehungen, Geschlechterdifferenz und Religion, in: Geschlecht – Symbol – Religion Bd. 2. Münster: LIT Verlag.

Heller, Birgit (2004): Religionen: Geschlecht und Religion – Revision des homo religiosus, in: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 610-614.

Hoffman, Martin L. (2000): Empathy and moral development. Cambridge: University Press.

Holl, Adolf (2005): Die unheilige Kirche. Geschlecht und Gewalt in der Religion. Stuttgart: Kreuz.

Kassis, Wassilis (2003): Wie kommt die Gewalt in die Jungen? Soziale und personale Faktoren der Gewaltentwicklung bei männlichen Jugendlichen im Schulkontext. Bern-Stuttgart-Wien: Haupt Verlag.

Lämmermann, Godwin (2002): Wenn die Triebe Trauer tragen. Von der Freiheit eines Christenmenschen I. München: Claudius.

Naurath, Elisabeth (2007/ 22008): Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener.

Pohlmann, Margarete/Ritter, Hans Werner (Hrsg.) (2004): Gut oder böse? Urteilsbildung in Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schultheis, Klaudia/Fuhr, Thomas (2006): Grundfragen und Grundprobleme der Jungenforschung, in: Schultheis/Strobel-Eisele/ Fuhr (Hrsg.): Kinder: Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung. Stuttgart: Kohlhammer, 12-79.

Wölfl, Edith (2001): Gewaltbereite Jungen – was kann Erziehung leisten? Ansätze zu einer genderorientierten Pädagogik. München: Reinhardt Verlag.

Anmerkungen

1)Sehr häufig hat sich Gender (Geschlecht im sozialen Sinn) als aufschlussreiches Interpretationsinstrument erwiesen, wenn es darum ging, Subtexte der modernen Welt zu entschlüsseln. Mit diesem Instrument lassen sich nämlich soziologische, historische und kulturelle Entwicklungen analysieren, bereits bevor sie explizit werden.“ (Braun 2006: 10).

2) So zuletzt in: Henseler, Anne-Katrin/Cohrs, J .Christopher: Wie friedfertig sind die Frommen? Christliche Religiosität und militaristische Einstellungen, in: W&F 3 (2008), 6-9.

Dr. Elisabeth Naurath ist Professorin für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. In Ihrer Habilitationsschrift »Mit Gefühl gegen Gewalt« (2007) befasst sie sich mit der (geschlechtsspezifischen) Entwicklung von Mitgefühl als religionspädagogischem Ansatz zur Gewaltprävention.