Die Münchner Sicherheitskonferenz

Die Münchner Sicherheitskonferenz

Verantwortung für die Weltgemeinschaft ?

von Thomas Mohr

Ein ganzes Wochenende lang herrscht Ausnahmezustand in München: Teile der Innenstadt werden für die Öffentlichkeit gesperrt, Kanaldeckel zugeschweißt und Straßenbahnlinien umgeleitet. Auffällig viel Polizei ist zu sehen. Demonstrationen versuchen, Aufmerksamkeit zu bekommen. „Ach so, wieder Sicherheitskonferenz“, grummeln die Einheimischen. Was hat es mit dieser Veranstaltung auf sich, die jedes Jahr im Februar so eine Unordnung in München verursacht? Kann sie zu einer friedlicheren und gerechteren Weltordnung beitragen?

Es ist unübersehbar: Die Weltgemeinschaft ist bisher nicht in der Lage, die Erde effektiv, fair und nachhaltig als gemeinsame Heimat der ganzen Menschheit zu organisieren. Wesentliche Aspekte dieses Versagens sind der riesige Abstand zwischen dem Reichtum weniger und der Armut vieler – nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern zunehmend auch innerhalb der einzelnen Länder –, die Ausbeutung endlicher Ressourcen für den kurzfristigen Nutzen eines kleineren Teils der Weltbevölkerung, die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Militär und Krieg als Mittel der Politik, zunehmende Spannungen zwischen wichtigen Akteuren, mangelhaft entwickelte Strukturen einer fairen internationalen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung. Wie ist vor diesem Hintergrund die Münchner Sicherheitskonferenz einzuschätzen? Kann sie einen Beitrag leisten zu einer Politik, die ihre Verantwortung für die Weltgemeinschaft ernst nimmt? Oder versammeln sich dort, zugespitzt formuliert, Politiker*innen aus NATO- und EU-Staaten, um zu klären, wie sie sich und den Wohlstand ihrer Geldgeber möglichst effektiv vor dem Rest der Welt schützen?

Die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) wurde 1963 von Ewald von Kleist als »Internationale Wehrkunde-Begegnung« gegründet und war im Kalten Krieg ein Ort der transatlantischen Meinungsbildung. Unter dem Kleist-Nachfolger Horst Teltschik (ab 1999) nahmen erstmals auch Nicht-NATO-Staaten an der Konferenz teil. Seit 2009 ist Wolfgang Ischinger, zuvor u.a. Staatssekretär im Außenamt und Diplomat, Leiter der MSC. Auf ihrer Internetseite wird die Konferenz heute folgendermaßen vorgestellt: „Im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte hat sich die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) zum zentralen globalen Forum für die Debatte sicherheitspolitischer Themen entwickelt. Jedes Jahr im Februar kommen über 450 hochrangige Entscheidungsträger aus aller Welt zusammen, um über aktuelle und zukünftige sicherheitspolitische Herausforderungen zu diskutieren. Dazu zählen Staats- und Regierungschefs, Minister, führende Persönlichkeiten aus internationalen und nichtstaatlichen Organisationen sowie hochrangige Vertreter aus Industrie, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft. […] Alle Aktivitäten sind darauf ausgerichtet, bestmögliche Plattformen für einen freimütigen und offenen Meinungs- und Ideenaustausch zu bieten.“ 1

Ganz anders schätzt das » Aktionsbündnis gegen die ‚NATO-Sicherheitskonferenz’«2 dies ein, das der von ihr als »NATO-Kriegstagung« titulierten Veranstaltung Kriegstreiberei vorwirft, am Konferenzsamstag gegen sie demonstriert und auch schon dazu aufrief, die Konferenz zu umzingeln oder sie zu verhindern. Seit 2003 führt ein weiterer Trägerkreis jeweils am Wochenende der MSC die »Internationale Münchner Friedenskonferenz« durch, eine Informations- und Bildungsveranstaltung zu friedenspolitischen Themen, die sich als inhaltliche Alternative zur MSC versteht.3 Einen dritten Weg schlug die Projektgruppe »Münchner Sicherheitskonferenz verändern« (MSKv)4 ein. Bereits vor zehn Jahren suchte diese kleine Gruppe den Dialog mit den Verantwortlichen der Sicherheitskonferenz. Aus ihren Gesprächen mit Konferenzleiter Ischinger ergab sich 2009 die Möglichkeit, eine*n – inzwischen zwei – zivilgesellschaftliche Beobachter*innen zur MSC zu entsenden. An der Sicherheitskonferenz nehmen neben den über 300 offiziellen Teilnehmer*innen auch gut 150 so genannte Beobachter*innen teil. Seit 2015 bietet die Projektgruppe unter Federführung des Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) auf der MSC auch selbst ein thematisches »Side Event« an. Die Vision der Projektgruppe ist eine »Münchner Konferenz für Friedenspolitik«, ein Forum für faire globale Zusammenarbeit, von dem Initiativen für eine gerechte, ökologische und gewaltfreie Weltinnenpolitik ausgehen.

Welche Interessen verfolgt die Sicherheitskonferenz?

An der Behauptung, die MSC sei – so ihr Pressesprecher Rolofs5 – eine „neutrale Plattform für einen unabhängigen Gedankenaustausch zu aktuellen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik“, „absolut regierungs- und parteiunabhängig“ und verfolge „keine eigenen“ politischen Interessen, sind Zweifel durchaus angebracht. Diese beginnen bei der Finanzierung der Konferenz und damit der Regierungsunabhängigkeit. Neben direkten, nicht in Rechnung gestellten Unterstützungsleistungen der Bundeswehr (beispielweise den Schutz der Veranstaltung und des Veranstaltungsorts »Bayerischer Hof«) werden der MSC über das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Mittel für „sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit aus einem Etat des Verteidigungsministeriums zur Verfügung gestellt. Dafür standen laut der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Jahr 2015 ca. 500.000 Euro zur Verfügung; diese Summe habe ca. 30 % der Gesamtkosten der Veranstaltung abgedeckt.6 Begründet wird diese Unterstützung damit, dass „die Durchführung der Münchner Sicherheitskonferenz im besonderen Interesse der Bundesregierung“ liege. Sie erlaube es der Bundesregierung, einem großen Kreis bedeutender Entscheidungsträger anderer Staaten und Regionen ihre Position zu ausgewählten Einzelthemen darzustellen. Eines der Themen scheint die »neue deutsche Verantwortung« zu sein, die Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen den Konferenzteilnehmer*innen und der Öffentlichkeit 2014 unisono zu erläutern suchten.

Auch die Behauptung, die MSC verfolge keine eigenen politischen Interessen, sondern wolle nur Plattform sein, kann nicht überzeugen. Seit Ischinger von der Bundesregierung mit der Leitung der MSC beauftragt wurde, nutzt er seine Position, um in den Medien, die ihn häufig als Sicherheitsexperte anfragen, seine politische Meinung zu verbreiten. Ein besonderes Anliegen scheint ihm zu sein, bei der deutschen Bevölkerung für Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr zu werben. So forderte er unmissverständlich: „Deutschland muss seinen Nachkriegspazifismus vollends überwinden.“ 7 Es ist kaum anzunehmen, dass die politischen Präferenzen ihres Leiters nicht auch Programm und Außenwirkung der Sicherheitskonferenz selbst prägen.

Die Sicherheitskonferenz öffnet sich (ein wenig)

Die weitaus meisten Teilnehmer*innen der MSC kommen zwar weiterhin aus Staaten der NATO, der EU bzw. anderer Verbündeter des Westens, die Einbeziehung von Ländern wie Russland, Iran oder auch China ist aber durchaus bemerkenswert.

So bot die MSC iranischen Politikern immer wieder die Möglichkeit, ihre Position im langjährigen Atomkonflikt mit dem Westen ausführlich darzustellen. Der iranische Parlamentspräsident Laridschani nutzte seinen Auftritt bei der MSC 2009 darüber hinaus für eine deutliche Kritik an der Politik des Westens und hielt dabei anklagend zwei Fotos von Opfern des israelischen Phosphoreinsatzes im Gazastreifen hoch. Kon­struktiv ging es beim Meinungsaustausch allerdings selten zu. 2006 z.B. beantwortete die neue Bundeskanzlerin Merkel eine Zwischenfrage des iranischen Vize-Außenministers Araghchi ziemlich barsch und von oben herab. 2010 quälte der iranische Außenminister Mottaki bei seinem kurzfristig anberaumten Auftritt die Zuhörer*innen zu später Stunde mit langatmigen Ausführungen, ohne – wie eigentlich erhofft – die iranischen Vorschläge für eine Lösung des Atomstreits zu präzisieren. Immerhin wurde mit dem Iran so zumindest ein Gesprächskontakt aufrecht erhalten. Die in den letzten Jahren eingeführten Liveübertragungen der Plenarsitzungen der MSC boten der Öffentlichkeit außerdem die Möglichkeit, die iranische Position einmal in voller Länge zu hören. Und vielleicht wurde in den Hinterzimmern ja konstruktiver miteinander gesprochen? Auf Basis ihrer langjährigen Gesprächskontakte mit iranischen Regierungsvertretern nutzte die MSC jedenfalls im Oktober 2015 nach dem Wiener Abkommen zum iranischen Atomprogramm das Tauwetter, um in Teheran ein »Core Group Meeting«8 zu veranstalten, an dem u.a. der iranische und der deutsche Außenminister teilnahmen.

Auch regionale Konflikte, wie z.B. zwischen Mazedonien und Griechenland oder zwischen Serbien und Kosovo, stehen ab und zu auf der Tagesordnung. Dies gilt auch für den Nahost-Konflikt. Und während Ischinger noch 2010 auf die Frage des Bayernkuriers, ob die Konferenz „zum globalen Sicherheitsforum“ werde, antwortete: „Wir können nicht in zwei Tagen die ganze Welt abhandeln. Wir wollen den zentralen Fokus der Konferenz dort halten, wo auch die Wurzeln dieser Konferenz liegen: bei transatlantischen und europäischen Sicherheitsfragen“,9 gab es 2013 im Hauptprogramm dann doch ein Podium mit den »aufstrebenden Mächten«, wodurch die wachsende Bedeutung von China, Singapur, Indien und Brasilien gewürdigt wurde.

»Towards Mutual Security« lautet der Titel einer 2014 von der MSC zur 50. Sicherheitskonferenz veröffentlichten umfangreichen Festschrift. Doch anders als die NATO stehen die Vereinten Nationen und die OSZE, also inklusive Organisationen gemeinsamer Sicherheit, die ihre Existenzberechtigung nicht bestimmten »äußeren Feinden« verdanken, kaum im Blickfeld der Konferenz. 2009, bei der ersten Konferenz, die Ischinger als neuer Leiter verantwortete, spielten die Vereinten Nationen z.B. überhaupt keine Rolle. 2010 wurde dieses Manko mit einer persönlichen Videobotschaft des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon zumindest etwas korrigiert, 2011 war er dann persönlich Gast der Konferenz.

Seit der Ukraine-Krise hat die OSZE, die lange Zeit – auch finanziell – klein gehalten worden war, als Organisation, in der nicht nur der Westen, sondern auch Russland Mitglied ist, in der internationalen Politik wieder neu Beachtung gefunden, was auch bei der MSC Widerhall fand. Ischinger wurde von der OSZE zum Leiter einer Kommission ernannt, die sich über »Europäische Sicherheit als Gemeinschaftsaufgabe« Gedanken machen sollte. Und bei der MSC 2015 wurde die OSZE durch die Verleihung des Ewald-von-Kleist-Preises der Sicherheitskonferenz besonders gewürdigt. Die Laudatio hielt der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, der auf der Konferenz auch einige kurzfristig umsetzbare Reformvorschläge für die Vereinten Nationen vorstellte.10 Trotzdem: Vereinte Nationen und OSZE sind weiterhin nur Randthemen auf der MSC.

Die MSC wagte außerdem eine Öffnung nach außen. Noch unter der Leitung von Horst Teltschiks wurde 2007 Kenneth Roth von Human Rights Watch als erster und einziger Vertreter einer Nichtregierungsorganisation zur Konferenz zugelassen. 2012 wurde mit dem Auftritt von Kumi Naidoo, dem internationalen Greenpeace-Chef, ein neuer Akzent auf dem Podium der MSC gesetzt: „Allein Kumi Naidoo sprach sowohl die Bedrohungen für die Umwelt durch ungebremsten Energiekonsum an als auch die bereits stattfindenden verheerenden Folgen für die Menschen in den armen Ländern Afrikas und Asiens“, so die MSKv-Konferenzbeobachterin Renate Grasse.11 Sie hatte allerdings den Eindruck, dass sein Beitrag ein weithin unverstandener Fremdkörper im Konferenzgeschehen blieb.

Die Sicherheitskonferenz und Russland

Seit Jahren nimmt auch eine russische Delegation an der MSC teil. Offen bleibt, ob dies als Chance zu einem echten Dialog genutzt wird. So berichtete 2011 die MSKv-Beobachterin Grasse: „Die russischen Delegationsmitglieder waren »die anderen«. Die Begrüßung war förmlicher, die Diskussionsbeiträge schärfer und konfrontativer.“ 12

Russische Vertreter hatten bereits 1999 bei ihrer ersten Teilnahme an der MSC vor einer Osterweiterung der NATO und insbesondere vor einer Aufnahme der baltischen Staaten gewarnt. „Wenn die NATO diese rote Linie überschreitet“, so der stellvertretende Außenminister Jewgeni Gussarow, „dann verändert sich unser Verhältnis zur NATO grundsätzlich, dann ist das Potential für eine Zusammenarbeit nicht mehr vorhanden“.13 In seiner Rede auf der MSC 2007 wurde der russische Präsident Putin noch deutlicher: „Die USA hat ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten. Wem soll das gefallen?“ 14 Er erinnerte an die einstige Zusicherung der NATO, keine Truppen in Ostdeutschland zu stationieren, und warnte ausdrücklich davor, ein weiteres Festhalten an der NATO-Ost­erweiterung würde das gegenseitige Vertrauen gefährden. „Man will uns neue Trennlinien und Mauern aufzwingen, die abermals den Kontinent zerschneiden.“ 15

Ähnlich deutlich äußerte sich der russische Politiker Kosachev bei der MSC 2010: Die NATO wolle zwar global handeln, vertrete aber nur die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten und könne die OSZE und die Vereinten Nationen als Institutionen gemeinsamer Sicherheit keinesfalls ersetzen. Auch sei unklar, ob sich die NATO in Zukunft – anders als 1999 im Fall Kosovo – an UN-Mandate halten wolle. Ischinger hingegen benennt in seiner Festrede bei einer großen deutsch-russischen Dialogveranstaltung im Oktober 2015 als eigentlichen Kern unserer Beziehungskrise“ nicht das Agieren des Westens, sondern die einseitige militärische Sicherheitsstrategie Russlands. Moskau habe „nicht aufgehört, seine eigene Sicherheit so zu definieren, dass sie fast zwangsläufig der Unsicherheit der Nachbarn Russlands bedarf“.16

Bei der MSC 2016 beschwor der russische Ministerpräsident Medwedew gar die Gefahr eines neuen Kalten Krieges. Ruth Aigner, zum zweiten Mal für MSKv dabei, beobachtete: „Noch mehr als 2015 hinterlassen die Eindrücke auf der MSC 2016 einen tiefen Zweifel an der zerrütteten Art des Umgangs unter den »Supermächten«. Wo läge ein Ansatzpunkt in der kontinuierlichen Dämonisierung durch amerikanische Redner? Wem dient die misstrauische Zuspitzung von Äußerungen russischer Vertreter durch deutsche Medien, wenn diese sogar von Außenminister Steinmeier auf offener Bühne beanstandet wird? Viel Pessimismus, Spekulationen und Unterstellungen drängten sich durch die Räume des Bayerischen Hofs.“ 17

Friedens- statt Sicherheitskonferenz!

Mona-Géraldine Hawari, 2016 ebenfalls für MSKv bei der MSC, berichtete: „Die Münchner Sicherheitskonferenz befasste sich einmal mehr mit der Frage nach Zustand, Entwicklung und Perspektiven der internationalen Ordnung. Nun stellt sich der kritischen Beobachterin die Frage, ob es mit Blick in die Zukunft überhaupt legitim und vernünftig ist, diese alte Ordnung als gute Ordnung erhalten zu wollen. Auf der MSC 2016 wollte man dies jedenfalls ganz entschieden und ließ dabei beiseite, dass die die Konferenz dominierenden Ordnungsvorstellungen überwiegend als paternalistisch, eurozentristisch und bisweilen auch hegemonial zu bezeichnen sind.“ 18

Die Münchner Sicherheitskonferenz ist also beides: Medienspektakel mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit, bei dem die Spannungen der in ternationalen Politik auf offener Bühne dargestellt werden, ebenso wie eine informelle Begegnungsmöglichkeit, die – je nachdem – für Rüstungsgeschäfte oder für friedensfördernde Dialoge genutzt werden kann. Durch verschiedenartigste Parallelveranstaltungen, die sich teilweise nur an handverlesene Gäste richten, wurde das Programm in den letzten zwei, drei Jahren allerdings deutlich vielfältiger. Die Ausrichter dieser Zusatzangebote reichen von der US-Rüstungsfirma Raytheon bis zur Deutschen Gesellschaft für international Zusammenarbeit (GIZ). Auf diesem Weg können sogar Themen der Friedens- und Entwicklungspolitik Eingang finden, aber eben nur auf Nebenschauplätzen. Konferenzbeobachterin Hawari richtet deshalb folgende Fragen an den MSC-Planungsstab: „Warum wagen Sie nicht mehr Kursänderungen in Programm und Ablauf, warum nicht mehr Vertreter*innen internationaler Organisationen, warum nicht weniger Bühne und mehr Konferenz, warum Reproduktion der Verhältnisse statt neuem Input?“ 19

Zu einem Deutschland, das sich seiner historischen Friedensverantwortung bewusst ist, würde eine andere internationale Konferenz besser passen: eine Tagung, die sich – statt wie bisher an der »Sicherheitslogik« – an einer »Friedenslogik« (Hanne-Margret Birckenbach) orientiert. So eine Konferenz könnte ein Ort sein, wo Deutschland sich jedes Jahr neu den folgenden Fragen stellt: Wer sind die Anderen, vor denen wir Angst haben? Was tragen wir selbst zur momentanen Konfliktkonstellation bei? Und wer sind die Anderen, die vor uns Angst haben bzw. denen unsere Politik Leiden zufügt? Dann könnte mit genau diesen (verschiedenen) Anderen der Kontakt gesucht und der Dialog ermöglicht werden. Wie wäre es, wenn die Sicherheitskonferenz anstatt zur Verfestigung einer vermeintlichen Weltordnung konsequent als Dialogveranstaltung zum Abbau von Feindbildern gestaltet würde? Nicht nur bei Themen wie Russland, Ukraine, Syrien, Iran oder sogar islamischem Fundamentalismus gäbe es da einiges zu tun.

Anmerkungen

1) Munich Security Conference: Über die MSC; securityconference.de.

2) sicherheitskonferenz.de.

3) www.friedenskonferenz.info.

4) mskveraendern.de.

5) Marvin Oppong (2016): Ausverkauf des Journalismus? Medienverlage und Lobbyorganisationen als Kooperationspartner. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung, S. 56.

6) Laut stellvertretendem Konferenzleiter Benedikt Franke (MSKv-Veranstaltung 24.2.2016) beträgt der Anteil der Bundesregierung am Budget allerdings nur noch zehn Prozent, da die Zuschüsse von Sponsoren steigen. Hier sind vor allem Linde, Allianz, BMW, Kraus-Maffei-Wegmann, Socar, Telekom sowie weitere internationale Wirtschafts- und Rüstungsunternehmen zu nennen (securityconference.de/ueber-uns/unterstuetzer/). Unter Ischinger wurde die Sicherheitskonferenz in eine Stiftung (gemeinnützige GmbH) überführt. Das verstärkte Engagement von Sponsoren sowie die neue Rechtsform deuten auf eine größere Eigenständigkeit der MSC gegenüber der Bundesregierung hin, möglicherweise allerdings um den Preis, nun vermehrt die Interessen der Sponsoren berücksichtigen zu müssen.

7) Text von Wolfgang Ischinger und Gérard Errera, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 3.4.2014; zit. nach: MSC: Monthly Mind April 2014, »Fremde Freunde«; ­securityconference.de.

8) Unter Konferenzleiter Ischinger hat die MSC ihre Aktivitäten um weitere Veranstaltungsformate außerhalb Münchens erweitert, z.B. Core Group Meetings, European Defence Roundtables, Cyber Security Summits. Mit diesen über das Jahr verteilten Veranstaltungen wurden Themenspektrum und Relevanz der MSC erweitert.

9) „In der Außenpolitik muss man immer Optimist sein.“ 46. Münchner Sicherheitskonferenz: Gelegenheit zum Meinungsaustausch auch hinter dem Vorhang – Interview von Heinrich Maetzke mit Wolfgang Ischinger. Bayernkurier, 6.2.2010, S. 5.

10) Die Reformvorschlage stammen von der unabhängigen Gruppe einflussreicher Führungspersönlichkeiten »The Elders«: Strengthening the United Nations – Statement by the Elders, 7 February 2015; theelderts.org.

11) Renate Grasse: Als Beobachterin bei der 48. Münchner Sicherheitskonferenz 2012 – Bericht aus einer fremden Welt. Projektzeitung »gewaltfrei MSK verändern«, Nr. 8, Februar 2013, S. 2.

12) Renate Grasse: Als Beobachterin bei der Sicherheitskonferenz 2011. Projektzeitung »gewaltfrei MSK verändern«, Nr. 7, Februar 2011, S. 2.

13) Lorenz Hemicker: Münchner Momente 1999 – Russland warnt die NATO; securityconference.de.

14) Oliver Rolofs: Münchner ­Momente 2007 – Ein Hauch von Kalter Krieg; ­securityconference.de.

15) Ibid.

16) Petersburger Dialog 2015, Potsdam: Vortrag von Botschafter Wolfgang Ischinger bei der Eröffnungssitzung am 22. Oktober 2015; petersburger-dialog.de.

17) Eindrücke vom Sicherheitskonferenz-Wochenende. MSKv Denk-Mail Nr. 13, 15.2.2016.

18) Ibid.

19) Thomas Mohr: Die Münchner Sicherheitskonferenz 2016 – von außen und von innen. FriedensForum, Heft 3/2016, S. 7.

Dr. phil. Thomas Mohr, Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker ist Vorsitzender der Projektgruppe »Münchner Sicherheitskonferenz verändern« e.V. und nahm seit 2009 viermal als Beobachter an der Münchner Sicherheitskonferenz teil.

Deutschland nach vorn

Deutschland nach vorn

Bertelsmann aktiv: Europa militarisiert, die Bundesrepublik optimiert

von Anja Schwertfeger

Der diesjährige Bundeskongress Internationalismus (BUKO 30), der vom 6.-9. April in Leipzig stattfand, hat die Bertelsmannisierung zu einem seiner Schwerpunktthemen gemacht. Unter dem Titel »Ökonomisierung und Privatisierung – Bertelsmann in neoliberaler Mission« wurden die derzeit von Bertelsmann-Einrichtungen, wie dem »Centrum für Hochschulentwicklung« (CHE) in Gütersloh, initiierten Umstrukturierungen in Schulen, Hochschulen und Kliniken sowie die Einflussnahme auf die Konzeptionen europäischer Außenpolitik analysiert. In der Diskussion um Widerstandsperspektiven standen nicht allein politische Kampagnen, sondern auch die kollektive Deutung der Arbeits- und Lebenserfahrungen in den zur Zeit auftretenden Konflikten im Vordergrund.

Die europäische Militarisierung wurde auf dem BUKO von drei verschiedenen Seiten beleuchtet.

Jörn Hagenloch vom »Medienkombinat Berlin«, hat die starke Einflussnahme des »Centrums für angewandte Politikforschung« (CAP) in diesem Prozess dargestellt (vgl. den Beitrag in diesem Heft). Detlef Hartmann von der Kölner Initiative »bundeswehr-wegtreten.tk« legte in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf die kolonialistischen Dimensionen des europäischen Supermachtbestrebens: Kriege würden geführt, um die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen der Bevölkerung untereinander zunächst zu zerstören, und sodann der Bevölkerung die Strukturen aufzuzwingen, die einen kapitalistischen Handel erst ermöglichen – jene »schöpferische Zerstörung«, wie Schumpeter die »Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte« genannt hat.

Die »anti-b AG Militarisierung« erläuterte anhand der von Bertelsmann genutzten Sprachcodes, nach welchen Prinzipien die Akzeptanz von Krieg und innerer Mobilmachung geschaffen wird, z.B. die Aufhebung der Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheitspolitik durch den Diskurs des »Sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels«.

Krieg nach außen bedeutet auch immer Krieg nach innen, so die auf dem Kongress vertretene These. In diesem Sinne nimmt die Bertelsmannstiftung Einfluss insbesondere auf die öffentlichen Dienste in Deutschland. Erklärtes Ziel ist, den Menschen und die Institutionen effizienter zu gestalten. Die »AG du bist bertelsmann Bremen/Hamburg« legte hierzu dar, wie die derzeitige Ökonomisierung und auch Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Institutionen innerhalb der Bundesrepublik einzuordnen ist. Sie diene dazu, auch in den bislang vom Staat durchgeführten Aufgaben das Prinzip des Leistungswettbewerbs einzuführen. In der Konsequenz bedeute dies mehr Leistungsdruck, mehr Arbeit, mehr Stress – also eine klassische Rationalisierungsoffensive, nun aber nicht mehr auf der Ebene von Einzelbetrieben, sondern als systematisch gesamtgesellschaftlicher Ansatz. Nach der Privatisierung von Bus- und Bahnverkehr, Energie- und Wasserversorgung, Telekommunikation und Post steht nun die Ökonomisierung der Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Kliniken, Sozialsysteme und der Kommunalverwaltungen an. Flankiert werden solche Maßnahmen durch die Etablierung sogenannter Bürgerstiftungen, die die bisherigen Aufgaben des Staates, besonders auf kommunaler Ebene, in Eigenverantwortung, durch freiwillige Spenden finanziert, neu und natürlich »besser« organisieren sollen.

In der Umstrukturierung der Krankenhäuser erhält die Bertelsmannstiftung durch ihre direkten Kooperationen mit den Gesundheitsministerien, durch diverse regelmäßig erscheinende Publikationen und die Verleihung des Deutschen Präventionspreises einen erheblichen Einfluss. Die Stiftung finanziert verschiedene Institute, wie z.B. das »Institut für Krankenhausmanagement« (IKM) an der Universität Münster und das »Centrum für Krankenhausmanagement« (CKM). Krankenhäuser werden ökonomisiert und in steigender Zahl privatisiert, um auch diesen Bereich Gewinn orientiert auszurichten. Unter der Parole »Steigerung der Eigenverantwortung« werden die Krankheitskosten immer stärker auf die Kranken umverteilt.

Die »AG Hochschulprivatisierung« des BUKO 30 diskutierte die Rolle des »Centrums für Hochschulentwicklung« (CHE) in der Transformation der Hochschulen zu stromlinienförmigen Qualifizierungsunternehmen: Nicht die gesellschaftlichen Bildungsziele seien tonangebend für die Lehrinhalte an den Hochschulen, sondern das betriebswirtschaftliche Denken. Elitebildung gehört ebenso dazu wie Studiengebühren, Kennziffernsysteme, Qualitätsmanagement, Evaluationen und Hochschulrankings.

Die Schule in Public Private Partnership (PPP) ist eine weitere Variante der verbetriebswirtschaftlichten Bildungslandschaft. Horst Bethge von der GEW und der »AG Bildungspolitik der Linkspartei.PDS« zeigte anhand einer Vielzahl von Beispielen, wie Unternehmen, voran Bertelsmann, das Konstrukt PPP nutzen, um ihren Einfluss auf die allgemeine Schulbildung auszudehnen. Auch die Schulen strukturieren sich mit Hilfe ähnlicher Steuerungsinstrumente wie in den Hochschulen neu. Hier wie dort sind Hierarchisierung, Rationalisierungen, Stellenabbau, sogenanntes Qualitätsmanagement und Selbstoptimierung treibende Kräfte. Die Bildung wird zur Ware. Schüler, Studierende und Lohnabhängige kaufen (Weiter-)Bildung, um ihren Wert als Arbeitskraftunternehmer auf dem Markt zu steigern und verlieren damit letztlich ein großen Teil der Selbstbestimmung über das eigene Leben.

Die Ökonomisierung der Öffentlichen Dienste berührt aber nicht nur die Rechts- und Finanzierungsform der Institutionen, sondern auch die Rationalisierung von Arbeitsabläufen und die Einführung moderner, undemokratischerer Organisations- und Entscheidungsstrukturen. Durchgesetzt wird diese Rationalisierungswelle mit Hilfe allgemeiner Prekarisierung – unterstützt von stabiler Arbeitslosigkeit, mangelhafter Grundversorgung und der Sachzwanglogik der leeren Kassen. Dazu kommen Lohnsenkungen und Arbeitsverdichtung, die unter anderem mit Stellenabbau, betrieblicher Umstrukturierung und der Selbstaktivierung überhöhter Arbeitsmotivation erfolgt. Gängiges Prinzip bei allen »Reformen« und Umstrukturierungen ist der Appell an jede/n einzelne/n, mehr Verantwortung zu übernehmen, damit das Effizienzdenken in Fleisch und Blut übergeht und zu dem prioritären Handlungsmotiv schlechthin wird. Die Selbstoptimierung, im Bertelsmannjargon auch Selbstaktivierung genannt, soll habituell in alle Lebensbereiche übernommen werden. Ganz nebenbei erschließen sich mit der Übernahme der Öffentlichen Dienste für Bertelsmann und andere private Unternehmen neue Märkte. Deshalb spricht man hier auch von der »Ausweitung der Märkte nach innen«. Generell ist neben der Legitimation der Bertelsmannstiftung deshalb auch die Frage zu stellen, weshalb sie gesellschaftlich als »gemeinnützig« anerkannt bleiben soll.

Auch wenn es schwierig scheint, einer Akteurin wie der Bertelsmannstiftung Widerstand entgegenzusetzen, bleibt es trotzdem wichtig, sich nicht von den gefälligen Worten der Stiftung verwirren zu lassen, sondern das eigene Unbehagen auf der Arbeit, in der Schule oder im Krankenhaus ernst zu nehmen, sich Widersprüche deutlich machen und, wer erfolgreich sein möchte, kollektiv über konkrete Missstände zu diskutieren und in dem damit geschaffenen Rahmen, Handlungsmöglichkeiten in Angriff zu nehmen.

Anja Schwertfeger arbeitet in der AG »du bist bertelsmann« (Bremen/Hamburg) mit

Von der Zivilmacht zur Supermacht Europa

Von der Zivilmacht zur Supermacht Europa

Die außenpolitische Agenda der Bertelsmann-Stiftung

von Jörn Hagenloch

Sage niemand, die Provinz sei harmlos. Ausgerechnet in Gütersloh ist einer der aggressivsten und einflussreichsten Fürsprecher einer Militarisierung der deutschen und europäischen Außenpolitik zuhause: die Bertelsmann-Stiftung. Seit vielen Jahren arbeitet sie mit Erfolg daran, in Deutschland neoliberale Reformen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen mehrheitsfähig zu machen (Bildung, Gesundheit und andere soziale Sicherungssysteme, öffentliche Hand,…). Sie ist einzigartig, was ihre finanziellen und personellen Ressourcen betrifft sowie die daraus resultierenden Einflussmöglichkeiten. Die Stiftung macht keinen Hehl aus ihrer »Mission« und beschreibt sich unverblümt als operatives Instrument, das direkt in Politik und Gesellschaft eingreift1.

Lagen die Arbeitsschwerpunkte in der Vergangenheit eher bei innenpolitischen Reformen, so stellt die Stiftung zunehmend außenpolitische Themen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Für die Beförderung ihrer außenpolitischen Agenda nutzt sie ein engmaschiges Netzwerk von persönlichen Beziehungen, das bis in die Spitzen der nationalen, europäischen und transatlantischen Politik reicht. Diese exponierte Stellung ermöglicht ihr großen Einfluss bei der strategischen Ausrichtung der deutschen und europäischen Außenpolitik (Sicherheits-, Rohstoff-, Verteidigungspolitik). Für die strategische Vorbereitung und Umsetzung stehen 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung. Hinzu kommen von der Stiftung finanzierten Forschungsinstitute wie das »Centrum für angewandte Politikwissenschaft« (CAP) in München.

Die außenpolitische Agenda der Stiftung hat einen eindeutigen Fokus auf der »Mitgestaltung« der zukünftigen Rolle der EU in der Welt. Die Botschaft lautet: Europa soll innerhalb der globalen Wirtschafts- und Machtblöcke seine Interessen wahrnehmen und sich zum Weltmachtstatus bekennen. Dafür haben die Stiftung und das CAP eine schier unübersehbare Vielzahl von Gutachten, Einschätzungen und Empfehlungen veröffentlicht sowie hochkarätig besetzte Konferenzen organisiert. Das alles gleicht einem Trommelfeuer für ihr strategisches Ziel: die Europäische Union, die sich bis vor wenigen Jahren noch als Zivilmacht verstanden hat, zum globalen Militärakteur zu entwickeln, der jeden Punkt der Welt kontrollieren kann, damit sogenannte sicherheitspolitische Interessen gewahrt werden, der Zufluss von Rohstoffen jederzeit sicher bleibt und reibungslose globale Kapitalströme sowie Liefer- und Absatzketten gewährleistet sind.

Geschichte und Verflechtungen der Bertelsmann-Stiftung

Die Geschichte der Bertelsmann-Stiftung ist jung, sie reicht ins Jahr 1977. Damals wurde sie vom Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn gegründet – vor allem wohl aus Gründen der Steuerersparnis. Am Anfang waren die Betätigungsfelder im sozialen und kulturellen Bereich angesiedelt. Erst langsam kamen neoliberale bildungspolitische Initiativen hinzu (z.B. die Privatuniversität Witten-Herdecke). Im Jahr 1991 begann die Stiftung ihren aggressiven Kurs der gesellschaftlichen Einflussnahme, der sich seither kontinuierlich gesteigert hat. Damals gab Konzernpatriarch Reinhard Mohn den Vorstandsposten des Konzerns ab und wechselte auf den Vorstandsposten der Stiftung. Ein Jahr später berief er Werner Weidenfeld in den Vorstand der Stiftung. Weidenfeld, damals Politologe an der Universität Mainz, war zuvor langjähriger Berater Helmut Kohls und brachte seine weitreichenden persönlichen Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern in der EU und den USA in die Stiftung ein.

Dass die Bertelsmann-Stiftung auch mit anderen außenpolitischen Think Tanks verbunden ist, zeigt der Blick auf die Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Hier, wo sich Vertreter des deutschen Militärs und der Geheimdienste mit Wissenschaftlern und Journalisten zum Austausch treffen, ist auch die Bertelsmann-Stiftung nicht weit. Von 1995 bis 2005 hat Werner Weidenfeld die hauseigene Zeitschrift »IP – Internationale Politik« herausgegeben und war lange Zeit Mitglied des Exekutivausschusses und des Präsidiums der DGAP. Die DGAP hat sich zum obersten Ziel gesetzt, »die außenpolitische Stellung Deutschlands zu fördern«. Sie wird vornehmlich aus Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Industrie finanziert und weist bemerkenswerte personelle Überschneidungen mit der Bertelsmann-Stiftung auf. So sitzen im Präsidium der DGAP beispielsweise Elmar Brok, der einflussreiche EU-Parlamentarier und Angestellte der Bertelsmann AG, Günther Nonnenmacher, einer der Herausgeber der FAZ und vom CAP für seine langjährige Verbundenheit in den exquisiten Club der »CAP-Fellows« aufgenommen, sowie Rita Süßmuth, die bis vor kurzem auch im Kuratorium der Bertelsmann-Stiftung saß.

1993 übertrug Mohn der Stiftung 68,8% des Grundkapitals der Bertelsmann AG. Seither wird die Arbeit der Stiftung maßgeblich aus den erwirtschafteten Dividenden der AG finanziert. In der Folge wurde das »Centrum für Hochschulentwicklung« (CHE) gegründet und 1995 das CAP. Das CAP ist als Institut direkt der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität angegliedert, wo Weidenfeld zugleich den Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Einigung übertragen wurde. 1999 kam es innerhalb des CAP zur Gründung der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik. Deren Leiter Josef Janning ist gleichzeitig stellverstretender Leiter des CAP. Der Aufbau der organisatorischen Strukturen war damit abgeschlossen.

Empfehlungen zur Militarisierung der EU-Außenpolitik

Die strategische außenpolitische Einflussnahme begann unter anderem mit der Gründung von »Expertenteams«, die im Auftrag der Stiftung »Expertisen« zu außen- und sicherheitspolitischen Themen entwickeln. So wurde 1999 die »Venusberg Group« gegründet. Sie besteht aus neun außen- und sicherheitspolitischen »Experten« aus verschiedenen europäischen Staaten. Im Jahr 2000 veröffentlichten sie ein sicherheitspolitisches Konzept für die EU. Darin fordern sie, dass sich »die EU bis 2030 gegen alle Arten von Bedrohung autonom verteidigen können«2 soll. Es wird auch deutlich gesagt, dass die militärische Leitstrategie der Verteidigung des eigenen Territoriums gegen Angriffe nicht mehr genügt. Der neue Leitgedanke ist die Lösung von »sicherheitspolitischen Herausforderungen«. Unverhohlen empfiehlt das Konzept »über den regionalen Rahmen hinaus weltweit zu Sicherheit und Stabilität beizutragen. […] Ziel der EU sollte es sein, sowohl im zivilen wie im militärischen Bereich zu einem effektiven sicherheitspolitischen Akteur zu werden«. Das schließt auch ausdrücklich EU-weite militärische Strukturen und gemeinsame Rüstungsprojekte ein.

Diese nachdrückliche Empfehlung einer Militarisierung der EU-Außenpolitik bestärkt Tendenzen der EU-Kommission und der Regierungen der Mitgliedsländer.3 Die Bertelsmann-Stiftung sieht ihre Rolle innerhalb des Elitendiskurses darin, den Ausbau der EU zur militärischen Weltmacht zu beschleunigen und unumkehrbar zu machen. Die ökonomische Macht soll mit politischer und vor allem militärischer Macht abgesichert werden. Schon vor dem 11. September 2001 fordert die Bertelsmann-Stiftung die EU auf, künftig eine dominante weltpolitische Rolle zu spielen. Und kurz nach dem 11. September 2001 wurde dann von der Stiftung eine »Task Force Zukunft der Sicherheit« ins Leben gerufen. Das selbst gesteckte Ziel: »Schwachstellenanalyse der gegenwärtigen außen- und innenpolitischen Sicherheitsstrukturen vornehmen und einen Katalog von Empfehlungen für die Abwehr aktueller und denkbarer Bedrohungen erarbeiten«. Der Ton zeugt vom selbstbewussten Umgang mit den höchsten politischen Stellen auf nationaler und europäischer Ebene. Man kennt sich eben gut, so dass es nichts Ungewöhnliches ist, als im November 2001 in Brüssel Bertelsmann-Stiftung und CAP dem EU-Kommissar Günter Verheugen gemeinsam ein Strategiepapier zur Zukunft des europäischen Prozesses übergeben. Darin wird eine gemeinsame EU-weite Außen- und Sicherheitspolitik propagiert. Die »asymmetrische Bedrohung für die Innen- und Außenpolitik« ist weiterhin ein zentrales Thema der Stiftung. Im vergangenen Jahr wurde eigens dafür der »1. Global Policy Council« abgehalten, flankiert von der Bertelsmann-Studie »Weltmächte im 21. Jahrhundert«. Ihr Inhalt: »Diese Bestandsaufnahme zeigt, wie wirtschaftliche Verflechtung, globale Abhängigkeiten, Kontrolle über wichtige regionale Versorgungslinien, demographischer Stress, Pandemien, Zugang zu Ressourcen wie Energie und Wasser sowie Probleme wie staatliches Versagen oder die Entfaltung nuklearer Macht geostrategisches Handeln in Zukunft bestimmen werden.« Hauptredner Wolfgang Schäuble wird sich verstanden gefühlt haben.

Überhaupt wird der Kontakt in die höchsten nationalen und EU-Kreise intensiv gepflegt. Die Stiftung empfiehlt sich beispielsweise mit ihrem »Bertelsmann International Forum« regelmäßig als Kontaktbörse der großen Politik. Für ihre alle zwei Jahre stattfindende Konferenz steht ihr das Auswärtige Amt als Tagungsort zur Verfügung. Die Veranstaltung ist hochkarätig besetzt. Beim letzten Treffen 2006 konnten die Spitzen von Bertelsmann AG und Bertelsmann-Stiftung 160 Gäste begrüßen, darunter die Bundeskanzlerin und ihren Verteidigungsminister, Henry Kissinger, den Präsidenten der EU-Kommission, zahlreiche Staats- und Regierungschefs sowie Minister aus der EU, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, außereuropäische Diplomaten, Vertreter der Weltbank sowie hochrangige internationale Manager, Wissenschaftler und Medienvertreter. Und einmal mehr ging es zentral um die globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen und die europäische »strategische Antwort« darauf.

An dieser Antwort arbeitet die Stiftung selbst intensiv seit 2004. Damals wurde das Projekt »Europas weltpolitische Verantwortung« aus der Taufe gehoben. Nach eigener Aussage dient es dazu, »den Entwicklungsprozess der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union konzeptionell mit Analysen, Handlungskonzepten und Strategieempfehlungen [zu begleiten]. Schwerpunkte liegen dabei auf der Ausgestaltung der transatlantischen Partnerschaft, der Weiterentwicklung der außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Instrumente der Europäischen Union sowie ihrer Befähigung zur konstruktiven Konfliktregelung bei innerstaatlichen und regionalen Konflikten

Entsprechend dieser Leitlinien hat die »Venusberg Gruppe« 2004 ihre Vorstellungen einer europäischen Verteidigungsstrategie vorgestellt. Sie betont, dass die EU als »security actor« global Verantwortung übernehmen muss, dass die bisherige Sicherheitsstrategie nicht weit genug geht, da konkrete Handlungsanleitungen fehlen. So lässt der Text auch keinen Zweifel daran, dass die Zeiten der rein defensiven Verteidigung längst vorbei sind. Es geht um Angriffspolitik und das empfohlene strategische Konzept zielt auf »offensive and defensive security and defence efforts«4. So werden die Kernelemente aller Bertelsmann-Papiere zur Außenpolitik noch einmal aufgezählt: die Schaffung des Postens eines EU-Außenministers, einer EU-Armee, neuer Waffen für den globalen Einsatz und gemeinsame geheimdienstlicher Strukturen. Und durch die Hintertüre wird Deutschland als Teil der Europäischen Union sogar Atommacht. Denn was die französischen und englischen Atomwaffen anbetrifft, so heißt es lapidar: »In time it may be that the role of these forces might have to be formalised within an EU framework as they are within the NATO framework5

Europa als machtpolitischer Akteur

Es sind ganz neue Töne, die den EU-Bürgern plötzlich in den Ohren klingen. Die Zivilmacht Europa ändert ihren Charakter. Die Wirtschaftsmacht, die es bisher so gut verstanden hat, ihre globale Interessenpolitik hinter der Fassade des globalen Anwalts der Menschenrechte, als Helfer in der Not zu verstecken, schlägt neue Töne an. Doch weltweite militärische Einsätze sind für EU-Bürger immer noch gewöhnungsbedürftig. Die Bertelsmann-Stiftung hat das erkannt. Schließlich hat sie hierzulande mittlerweile viel Erfahrung bei der Beeinflussung des gesellschaftlichen Klimas gesammelt. Beispielsweise durch die mediale Verbreitung der eigenen Überzeugungen. Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung werden von Printmedien, Hörfunk und Fernsehen als »Experten« für außen- und sicherheitspolitische Fragen eingeladen und können ihre Sicht der Dinge vermitteln. Immer wieder gibt es auch hochkarätig besetzte Tagungen und Diskussionsrunden, die sich der Frage widmen, wie politische Kommunikation heute gemacht werden muss, um die »Reformbereitschaft« der Menschen zu steigern.6 So soll auch die Bereitschaft der EU-Bürger zum Weltmachtstatus gefördert werden. Ein Strategiepapier der »Venusberg Group« aus dem Jahr 2005 mit dem Titel »Why the World needs a Strong Europe…and Europe needs to be Strong. Ten Massages to the European Council« empfiehlt dem Europäischen Rat: »Engage the European People: Europeans want leadership. To generate political capital for Europe’s new defence European leaders must finally open a strategic dialogue with EU civil society about the role of Europe in the world. Only by gaining broad popular support Europe will be capable of achieving its strategic objectives and master the challenges ahead7

Mit anderen Worten: es geht um den Gewinn der diskursiven Hegemonie in der Gesellschaft, um die gesellschaftliche Akzeptanz für weltweite Kriegseinsätze. Und die zentrale Botschaft lautet: Es gibt zahllose Gefahren für den europäischen Wohlstand und das sichere Leben der EU-Bürger. Überall lauern Bedrohungen, die nicht mehr nur mit zivilen Mitteln abgewendet werden können, beispielsweise durch »Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Staatsscheitern und die Abhängigkeit von Energie-Importen«8. Im Juni 2007 forderte die Stiftung gar eine europäische »Energieaußenpolitik«. Unter dem Titel »Europa im Wettlauf um Öl und Gas« werden Vorschläge gemacht, durch welche Maßnahmen die EU ihren gewaltigen Energiebedarf in Zukunft sichern könnte. Dort heißt es: »Aufgrund der Instabilität diverser Rohstoffstaaten ist Europa gefordert, durch den Einsatz seiner vielfältigen außenpolitischen Instrumente (Diplomatie, Wirtschaft, Handel, Entwicklung, etc.) die Voraussetzungen für ein verlässliches Agieren der Partner zu unterstützen9 Was hier so zivilisiert klingt, kann auch einen anderen Ton annehmen; so ist in einer Analyse des CAP zur Asienpolitik der EU etwa der Satz zu lesen: »Außerdem bedarf es eines Bekenntnisses der EU dazu, dass auch Europäer in ihrer Außenpolitik sehr wohl Interessenpolitik betreiben10

Wohin die Reise tatsächlich gehen soll, vermittelt eine Broschüre des CAP aus dem Jahr 2003. Dort werden fünf Szenarien zur Zukunft der EU beschrieben. Hier der Favorit der Autoren: »Im Szenario Supermacht Europa wird das große Europa seinem objektiven Weltmachtpotential gerecht. Die Europäische Union nutzt ihre materiellen und institutionellen Ressourcen in vollem Umfang. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevölkerungszahl, militärisches Potential und das europäische Wertesystem bieten ihr eine beachtliche Handlungsbasis. […] Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik.«11

Anmerkungen

1) Der damalige Vorsitzende der Stiftung Heribert Meffert hat es in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung so formuliert: »Die Politik braucht Unterstützung. Wir dürfen uns deshalb nicht nur als Think Tank, als Denkfabrik, betätigen, sondern müssen auch kampagnenfähig werden und konkrete Lösungsansätze bieten. Damit steigt natürlich der Einfluss« (SZ, 29.04.05).

2) Pressemitteilung der Bertelsmann-Stiftung vom 06.06.2000.

3) So hat der Europäische Rat auf seiner Sitzung im Dezember 1999 beschlossen, eine europäische Eingreiftruppe aufzubauen, die innerhalb von 60 Tagen mit einer Stärke von bis zu 60.000 Soldaten weltweit einsetzbar ist und deren Einsatz für ein Jahr gewährleistet werden kann.

4) Bertelsmann Foundation: »A European Defence Strategy«. Gütersloh, 2004. S.5.

5) Ebenda: S.58

6) Hier ist auch die PR-Kampagne »Du bist Deutschland« zu erwähnen, die in den Vorstandsetagen von Bertelsmann erfunden und u.a. mit starker Hilfe der hauseigenen Medien (RTL, Stern etc.) umgesetzt wurde.

7) »Why the World needs a Strong Europe…and Europe needs to be Strong. Ten Messages to the European Council«. Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh, November 2005, S.18.

8) Klaus Brummer: »Warum schicken wir Truppen in alle Welt?«. Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau, 03.08.2006. Brummer ist Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung.

9) www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-0A000F14-E88E9715/bst/hs.xsl/nachrichten_53103.htm.

10) www.cap-lmu.de/aktuell/positionen/2006/asem.php.

11) Algieri, Emmanouilidis, Maruhn: »Europa Zukunft. Fünf EU-Szenarien« München, 2003. S.12f.

Jörn Hagenloch ist freier Journalist und arbeitet im Medienkombinat Berlin

Power Structure Research

Power Structure Research

Deskriptionsmodelle der herrschenden Klassen heute

von Hans Jürgen Krysmanski

Durch Globalisierung und Informatisierung, schreibt Fredric Jameson, werden die Linke wie die Rechte und die Wirtschaft selbst mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass irgendein regionales oder nationales Gebiet den Zustand der Autonomie oder gar der Subsistenz erreicht, sich vom Weltmarkt abkoppelt. So hat die „Rettung der Utopie“ nur eine Chance, wenn die Marxisten „den Gedanken einer globalen Totalität festhalten oder – wie Hegel gesagt hätte – »dem Negativen folgen« und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das – unverhoffte – Entstehen des Neuen erwartet werden kann.“ (Jameson 1996, 174 ff.) So wie Erkenntnis ist auch Herrschaft Aus- oder Vorgriff auf weltgesellschaftliche Totalität. Die Strukturen der Moderne, insbesondere der Staat, entlang derer Totalität einst begriffen werden konnte, lösen sich auf. Die Moderne verabschiedet sich mit Karikaturen ihrer selbst, mit Zeugnissen eines „immensen monadischen Stils“ (Jameson 1994, 131f.) wie den Weltbeherrschungsphantasien des Faschismus oder eines »American Empire« (Rilling 2002). In den Sozialwissenschaften haben Systementwerfer wie Talcott Parsons (1964) und Niklas Luhmann (1997) einen Begriff von Weltgesellschaft vorbereitet, wie er subjektloser und indifferenter nicht sein kann. Dieser Begriff erlaubt Handlungsorientierungen allenfalls denjenigen, die das System praktisch beherrschen. Doch wo Theorie ins Leere führt, finden sich nicht zuletzt in der Massenkultur Ansätze eines »cognitive mapping« (Jameson) globaler Totalität. Mithilfe der »geopolitischen Ästhetik« (Jameson) von »Weltfilmen« (global vermarkteten Hollywoodproduktionen) erfahren wir, wie der Versuch der Insertierung der amerikanischen Perspektive in die übrigen Regionen verläuft. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie die nationale Allegorie der USA sich in ein konzeptuelles Instrument umzuformen beginnt, „das tatsächlich dazu taugt, unser aller neues In-der-Welt-Sein zu begreifen.“ (Jameson 1992, 3) Wir sehen, wie die amerikanische Machtelite die Welterklärungs-Schemata des Kalten Krieges, des Trikontismus usw. ablegt, wie sie zu Globalmodellen vordringt, die einerseits etwas vom kolonialistischen Blick der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg haben, andererseits mit dem Cyberspace operieren. Hardt und Negri (2002) haben die eine Seite dieser Entwicklung – den Netzcharakter und die »nicht-euklidische Räumlichkeit« (Jameson 1993; Sassen 1991) dieses Herrschaftshandelns – auf den Punkt gebracht. Die Voraussetzungen jedoch für die konkrete Beobachtung und Beschreibung der Akteure in diesem von den Strukturen der Moderne nicht mehr strukturierten globalen Raum hat – neben Hollywood – das US-amerikanische Power Structure Research geschaffen.

C. Wright Mills

Das (post)moderne Power Structure Research – in der Tradition Thorstein Veblens (1899) und des amerikanischen »Muckraking«-Journalismus (Harrison u. Stein 1973) – begann mit C. Wright Mills’ The Power Elite (1956/2000), verfasst unter dem Eindruck der Faschismusanalysen Franz Neumanns (1944/1984). Mills beschreibt, wie F. D. Roosevelts Reformen und die Planungsanstrengungen des Zweiten Weltkriegs das traditionelle Establishment durcheinander gewirbelt hatten. Hielten zuvor wenige reiche Familien in jeder Metropole und in jedem Bundesstaat die lokalen Regierungen fest im Griff, so drängten nun neue Gruppen an die Schaltstellen der Macht: Washingtoner Bürokraten und Konzernmanager, medienwirksame Politiker, politische Generäle, Gewerkschaftsführer und die Chefs von FBI und CIA; auch Wissenschaftler aus Forschungszentren und Planungsstäben strebten nach politischer Mitbestimmung. Mills zeigt, wie die Reichen und Superreichen es lernten, in dieser neuen Welt der Massenmedien, des Aktieneigentums, der Werbung, des Massenkonsums sowie eines wachsenden Selbstbewusstseins der Mittelschichten ihren Einfluss zu bewahren und zu mehren. Der amerikanische Kapitalismus, so Mills, war immer noch eine perfekte Maschine zur Erzeugung von Millionären und Milliardären (1956, 112 f.). Aber der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Umbau der US-Gesellschaft brachte auch neue Formen der Macht und neue Privilegienstrukturen hervor, verkörpert durch eine noch weitgehend gesichtslose Konzern-Elite, die teilweise mit der traditionellen Geldelite zu einer neuen »upper class« verschmolz, den Corporate Rich. Aufgrund ihrer Statusvorteile konnte diese Gruppe den komplexen Unterbau der neuen Industrie- und Staatsbürokratien zum eigenen Vorteil nutzen, etwa durch Beeinflussung der Steuergesetzgebung oder des Stiftungsrechts, und dabei vielfältige Tarnkappen verwenden, um die „im Kern völlig verantwortungslose Natur ihrer Macht zu verbergen“ (ebenda, 117). Die institutionelle Macht des reorganisierten Reichtums erlaubte es, Einflussimpulse über das gesamte politische System in streng hierarchisch-autoritärer Manier zu verteilen und zudem die Exekutivmacht allmählich einem der Parteiendemokratie entrückten »politischen Direktorat« zuzuschanzen. Hervorzuheben ist Mills Insistenz, in die Analyse der politischen Rolle der Corporate Rich auch die »militärische Elite« einzubeziehen.

Entwicklungen des Power Structure Research

Zu den wichtigsten Vertretern des Power Structure Research zählen – neben C. Wright Mills und Floyd Hunter – Ferdinand Lundberg, Noam Chomsky, William Domhoff, Thomas R. Dye, Michael Parenti und Kevin Phillips. Hinzu kommen viele Journalisten und Literaten (z.B. Gore Vidal). Alle diese Autoren haben sich (oft oberflächlich) mit der Klassentheorie auseinandergesetzt, benutzen zum Teil auch den Begriff der »ruling class« (Domhoff), haben sich aber insgesamt eher dafür entschieden, ihre Forschungen mit einem besser für die Deskription geeigneten Begriffsinstrumentarium zu betreiben und geben dem Begriff der Machtelite den Vorzug. Forschungsgegenstand sind u.a. das soziale Umfeld und die ökonomischen Interessen von einzelnen Mitgliedern der Machtelite, die innere Machtstruktur großer Konzerne und ihre Einflussnahme, der Geldfluss aus diesen Kreisen an politische Kandidaten und Parteien und die Rolle von special interest groups, Lobbyisten, Stiftungen, Denkfabriken und Unternehmensverbänden. Fokus des Interesses sind erstens die Gruppe der Reichen und Superreichen und deren soziale und kulturelle Netzwerke. Zweitens geht es um den Aufstieg der Chief Executive Officers, die seit dem New Deal in mehreren Konzentrationswellen eine zentrale Rolle im Gefüge der Machteliten eingenommen haben und im Gefolge der Globalisierung und Informatisierung durch die Gruppe der Finanzmanager ergänzt wurden. Drittens werden die Abhängigkeiten der politischen Klasse und der Parteien untersucht. Die ökonomische Konzentration und die Herausbildung verschiedener Teileliten (CEOs, Erben großer Vermögen, »politische Direktorate« usw.) haben das Thema der »interlocking directorates« auf die Tagesordnung gesetzt: Ein überschaubarer Kreis von wenigen tausend Personen besetzt in immer neuen Kombinationen die Vorstände der bedeutendsten Großkonzerne, Banken, Versicherungen, Investitionsfirmen, staatlichen Institutionen, Elite-Universitäten, kulturellen Institutionen, Stiftungen usw. Im Zentrum dieses hochgradig vernetzten Systems wirken Policy Discussion Groups (z.B. Council on Foreign Relations, Business Roundtable, Committee on Economic Development, The Brookings Institution, American Enterprise Institute usw.), in denen die wichtigsten staatlichen, parlamentarischen und gesetzgeberischen Aktivitäten vorentschieden werden. Das Power Structure Research ist auf die Beobachtung und Analyse neuester Entwicklungen eingestellt. Die Auflagen der Standardwerke (u.a. Dye, Domhoff, Parenti) werden ständig aktualisiert. Forschung und Präsentation nutzen alle Möglichkeiten des Internet.

Vier Machteliten

Verallgemeinernd kann aus dem Power Structure Research ein bestimmtes Deskriptionsmodell herrschender Klassen oder Machteliten abgeleitet werden (Abbildung). Danach gibt es vier Gruppen, die in einem Funktionszusammenhang stehen, den man aus den vier Subsystemen des Systems der Produktionsverhältnisse – Eigentums-, Verwertungs-, Verteilungs- und Arbeitsverhältnisse – ableiten kann. Im Kern dieses Funktionszusammenhangs findet sich die Gruppe des privaten Reichtums bzw. der Superreichen; sie repräsentiert die Geldmacht. Über Mikro-Netzwerke, über »Philanthropie« und über die Machtmaschine des Stiftungswesens übt diese Gruppe auf alle (auch die abseitigen) Bereiche des gesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Lebens einen enormen Einfluss aus. Diese neue Form des Gottesgnadentums steht, was seine gesellschaftliche Funktionsweise angeht, oberhalb der üblichen Kapitalverwertungsprozesse, kann nicht bestimmten »Kapitalfraktionen« zugeordnet werden und ist vornehmlich mit transkapitalistischen Formen der »Kapitalvernichtung« zwecks Verhinderung von Machtkonkurrenz beschäftigt. Mit dem Verschwinden der Souveränitätsformen der Moderne verfügt nur diese Gruppe, als einzige, noch über Souveränität; denn „das Regime privater Enteignung (tendiert dazu), universell zu werden.“ (Hardt u. Negri 2002, 313) Die nächste Gruppe repräsentiert Verwertungsmacht. Sie besteht aus den Chief Executive Officers aus Industrie, Finanz und Militär, die gewissermaßen einen Schutzring um den Kern der Superreichen formen und mit ihnen gemeinsam den Komplex der »Corporate Community/Upper Class« (Domhoff) ausmachen. Diese »Verwertungselite« ist vorrangig mit der Mehrung und Verwaltung des Vermögens der Superreichen beschäftigt und weiß ihrerseits viele Multimillionäre unter sich; sie kann als Kapitalistenklasse im traditionellen Sinne begriffen werden. Innerhalb der Verwertungselite gibt es selbstverständlich Kapitalfraktionen und folglich ökonomisch begründete Interessengegensätze, insbesondere zwischen den „großen transnationalen Konzernen, die nationale Grenzen übergreifen und als Bindeglieder im globalen System fungieren“ und den „begrenzten modernen Unternehmen früherer Jahre.“ (Hardt u. Negri 2002, 165) Die dritte Gruppe, bereits erheblich differenzierter, repräsentiert Verteilungsmacht. Hier handelt es sich allgemein gesprochen, um die politische Klasse, eine echte Dienstklasse, zuständig für gesellschaftlichen Konsens und für die Aufrechterhaltung eines Anscheins von Verteilungsgerechtigkeit. Im Kern der politischen Klasse agieren Oligarchien oder »politische Direktorate« (Mills). Wahlkämpfe drehen sich im allgemeinen nur um die Besetzung dieser Positionen. Im übrigen hat Verteilungspolitik unter Globalisierungsbedingungen eine Stufe erreicht, in welcher universelle Werte, wie Gerechtigkeit, überhaupt keine Rolle mehr spielen (können) und »Regierungskunst« darin besteht, „Konflikte nicht zu integrieren, indem sie sie einem kohärenten sozialen Dispositiv unterwirft, sondern indem sie die Differenzen kontrolliert.“ (Hardt u. Negri 2002, 348) Den komplexen Außenring schließlich bildet die Schicht der Technokraten und Dienstleister, hier wäre Wissens- und Kommunikationsmacht zu verorten. In diesem Heer von Beratern, Experten, Helfern aus allen Bereichen der Gesellschaft (Wissenschaft, Medien, Kultur, Technik usw.) sind genaue Kenntnisse über die Funktionsweisen des kapitalistischen Weltsystems und seiner Subsysteme mit kritischen und zum Teil subversiven Tendenzen vermischt, so dass hier Widersprüche zur Handlungsreife gelangen können. Insgesamt veranschaulicht und beschreibt dieses Vier-Ringe-System heute weltweit stattfindende Versuche einer Reorganisation von herrschenden Klassen, die sich ohne einen starken Staat und unter den Bedingungen einer Umstellung der Regulierung von ökonomisch-kollektiven Formen zu individuellen Formen das Überleben sichern müssen. Das durchaus benennbare Personal dieser »Ringburg« – im Kern wenige Tausende, im Außenring einige Millionen – operiert zunehmend in einem Milieu absoluter Korruption: „Während Korruption in der Antike und in der Moderne im Verhältnis zu den … Wertrelationen bestimmt wurde und als deren Falsifikation galt, … kann Korruption heute (als Begründung) der Transformation von Regierungsformen gar keine Rolle spielen, weil sie selbst ja Substanz und Totalität des Empire ist. Korruption ist die reine Ausübung des Kommandos, ohne jeden verhältnismäßigen oder angemessenen Bezug zur Lebenswelt.“ (Hardt u. Negri 2002, 398)

Power Structure Research im Internet

Zu den wichtigsten Internet-Sites gehören An Internet Guide to Power Structure Research: (http://www.uoregon.edu/~vburris/whorules/index.htm) sowie die Datenbank Namebase: (http://www.namebase.org/) mit der Möglichkeit, Soziogramme personaler Netzwerke abzurufen. Neuerdings tut sich das Massachusetts Institute of Technology mit seinem Government Information Awareness Project (http://opengov.media.mit.edu/ – leider häufig vom Netz) hervor, das im Sinne einer »Graswurzelforschung« die Bürger zur Mitarbeit an einer umfassenden Datenbank über die amerikanische Machtelite anregen will. Interessant und visuell anregend, sind auch die Projekte They Rule (http://www.theyrule.net/) und die Université Tangente (http://www.universite-tangente.fr.st/). They Rule ist eine Website, mit deren Hilfe man Karten von »interlocking directorates« der 100 Top-Konzerne der USA herstellen kann. Wegen der schnellen Veränderungen innerhalb der Konzerneliten sind die Möglichkeiten begrenzt und die Ergebnisse letztlich statisch. Der Ansatz hat aber sehr anregend auf die »Graswurzelforschung« gewirkt.Die Université Tangente produziert und vertreibt bemerkenswerte Grafiken und Karten über globale Herrschaftsnetze und Machtverflechtungen. Nicht zuletzt sei auf die Kunst von Mark Lombardi hingewiesen, dessen Bilder inzwischen Kultstatus haben: http://www.albany.edu/museum/wwwmuseum/work/lombardi/Lombardi (1951-2000) nahm politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12.000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann.

Literatur:

Chomsky, N. (1969): American Power and the New Mandarins, New York 2002.

Domhoff, G. W. (1967): Who Rules America? Power and Politics in the Year 2000, Third Edition, Mountain View, CA, 1998.

Dye, Th.R. (2002): Who’s Running America?, Seventh Edition, Prentice Hall.

Hardt, M. u. A. Negri (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M.

Harrison, H. H. u. J. M. Stein (Hrsg.) (1973): Muckraking – Past, Present and Future, University Park, Pa.

Hunter, F. (1953): Community Power Structure, Chapel Hill, N. C.

Jameson, F. (1992): The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, London.

Jameson, F. (1993): Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: A. Huyssen (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Hamburg.

Jameson, F. (1994): Seeds of Time, New York.

Jameson, F. (1996): Fünf Thesen zum real existierenden Marxismus, in: Das Argument, 214/1996.

Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.

Lundberg, F. (1969): The Rich and the Super-Rich, New York 1968 (dt. Die Reichen und die Superreichen, Hamburg.

Mills, C. W. (1956): The Power Elite, New York (dt.: Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1962), Neuauflage 2000.

Neumann, F. L. (1944): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt/M 1984.

Parenti, M. (2002): Democracy for the Few, Seventh Edition, Belmont, CA.

Phillips, K. (2002): Wealth and Democracy: A Political History of the American Rich, New York (dt.: Die amerikanische Geldaristokratie. Eine politische Geschichte des Reichtums in den USA, Frankfurt/M., New York 2003).

Sassen, S. (1991): The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton.

Veblen, Th. B. (1899): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/M 1986.

Dr. Hans Jürgen Krysmanski, em. Professor für Soziologie an der Universität Münster, Buchpublikationen u.a. Soziologie und Frieden (1993), Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne (2001), Hirten & Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen (2004). Homepage: www.hjkrysmanski.de

Starke Politik

Starke Politik

Der Machtkörper des neuimperialen Projekts in den USA

von Rainer Rilling

Seit Anfang der 90er Jahre steht die »Grand Strategy« einer Weltordnungspolitik zur Debatte und Entscheidung. Ihr Gedanke ist: Sicherung des globalisierten Kapitalismus durch ein dauerhaftes American Empire, das nicht herausgefordert werden kann. Die imperialistische Tradition des Projekts hat eine Jahrhundertgeschichte – so gesehen, ist es bislang nicht mehr als eine Episode. Sein neoliberales Milieu entstand in den letzten vier Jahrzehnten. Seine mächtigsten Akteure fanden sich im letzten Vierteljahrhundert. Ambition, Praxis und das Profil der »Grand Srategy« konturierten sich in den 90er Jahren. Sein Katalysator und machtpolitischer Durchbruch endlich war »Nineleven«. Der Irakkrieg ist seine erste Probe. Schlägt sie fehl, womöglich dramatisch, ist dieses Projekt noch lange nicht aus der Wirklichkeit. Es geht um die Zukunft des Neoliberalismus und seines amerikanischen Zentrums.

Der zentrale gegenwärtige Konflikt ist, ob innerhalb des globalen neoliberalen Feldes das Projekt eines neoliberalen Empire dominant werden wird. Ein solches Muster verbindet auf sehr widersprüchliche Weise traditionell neoliberale und imperiale Praxen miteinander – also den starken nationalen Sicherheitsstaat mit einem »small government«, den Shareholderkapitalismus mit einem staatsalimentierten Militär-Industrie-Komplex, die Unendlichkeit der globalen Finanzmärkte mit der Begrenztheit territorial ansetzender Geopolitik der Militär-, Rüstungs- und Extraktionsindustrie (Öl!), den Multilateralismus mit dem Unilateralismus, die Disziplin des freien Marktes mit der Disziplin des Militärischen, die politischen Krieger, die für eine starke Politik kämpfen, mit den Marktradikalen, die auf Schwächung des Marktstaates und der Politik aus sind, die Besitzbürger mit den Besatzern. Zu fragen ist, ob wir es dann mit einem »Empire in Decline« zu tun haben oder ob wir in ein »Rising Empire« hineinsteuern, eine neue Hypermacht, die erstmals in der Geschichte auf Dauer zwischen sich und dem Rest der Welt einen grundsätzlichen Machtunterschied setzen kann.

Neoliberalismus und Empire

Es waren der »Dixie Capitalism« des Südens und das Wallstreet-Dollar-Regime des Nordens der USA, die staatsverwobene Militärökonomie und Kriegerkultur des Cold War und die Ideologen aus der Mont-Pelerin-Society oder der Chicago School und ihrer Vorläufer mit ihrer marktenthusiastischen Zielkultur, die seit den späten 60ern den global werdenden Neoliberalismus als ein neues politisches Projekt konfigurierten. Während seit den 70er Jahren und dann vor allem in den 80er Jahren sich dieser Neoliberalismus als dominante Logik und Form der Herrschaft und Gesellschaftsregulierung etablierte, rückte nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Welt in den 90er Jahren zunächst die Frage nach der ökonomischen Transformation (Globalisierung) der neuen Welt und danach das Thema der Neugestaltung des internationalen Systems in den Vordergrund. Denn eine globalisierte kapitalistische Ordnung wirft, ob man will oder nicht, die Frage nach der Neukonfiguration globaler Herrschaft auf. Die USA versuchen eine Neugewichtung des Verhältnisses von neoliberaler Globalisierung und militärischem Globalismus, die sich darstellt als neuimperiale starke Politik und eine neue große Strategie. Diese Antwort auf die Frage nach der politischen Ordnung des Globalkapitalismus hat ihren nationalen institutionellen Ort in einem über drei Jahrzehnte sich verdichtenden Machtkörper aus Think Tanks, Stiftungen, Medien, Konzernen, Staatsapparaten und politischen Organisationen.

Das Cluster der neuimperialen Political Warriors

Unmittelbar getragen wurde dieser Prozess von einer Gruppe neokonservativer Ideologen aus Think Tanks und strategischen Planungseinrichtungen sowie Militärpolitikern, die sich in den frühen 70ern in der Kritik der Entspannungspolitik und der Verarbeitung der Niederlage der USA im Vietnamkrieg bildete. Sie setzte damals auf Konfrontation statt Entspannung und auf militärische Macht. Während so auf der einen Seite die 70er Jahre den Durchbruch des neoliberalen Marktfundamentalismus und seiner antipolitischen Apologie des radikal freien Marktes und der konsequenten Liberalisierung der Waren-, Finanz- und Kapitalmärkte brachten, bildete sich zugleich eine ganz andere, neue Linie der starken militaristischen Politik. Die Generation der Hohen Priester des marktradikalen Neoliberalismus in WTO, IMF und Weltbank ist dieselbe Generation wie die »political warriors« des Kriegskabinetts Bush.

Diese »political warriors« repräsentieren einen epochalen Wandel. Sie stehen für eine besondere Generation in der amerikanischen Außenpolitik, die sich von den zwei anderen herausragenden politischen Generationen der US-Außenpolitik unterscheidet (Mann 2004: XIIIf.): den »Wise Men« (Isaacson u. Thomas) wie Dean Acheson, George Kennan, Averill Harriman, John McCloy, die nach 1945 die globale liberalimperialistische Ordnung des Kalten Krieges errichteten und den »Best and Brightest« (Halberstam) wie den Kennedys, Robert McNamara, den Bundys oder Rostows, die in den 60er Jahren für den Vietnamkrieg verantwortlich waren und versuchten, den Einfluss der USA in der »Dritten Welt« und gegen den Kommunismus auszudehnen.

  • Die erste Generation stammte aus den Welten des Business, der Banken und des Rechts. Die Wallstreet war ihre spirituelle Heimat. Sie konzentrierte sich auf den Aufbau internationaler ökonomischer, diplomatischer und rechtlicher Einrichtungen wie UN, IMF, Weltbank.
  • Die zweite Generation hatte einen akademischen Hintergrund, ihre spirituelle Welt waren Cambridge, Harvard und Yale.
  • Die dritte Generation ist die Reagan-Bush-Generation der Cheney, Rumsfeld, Powell, Wolfowitz, Rice, Armitage, Libby, Feith, Khalilzad oder Perle. Sie ist die militärische Generation. Ihre spirituelle Heimat ist das Pentagon.

Diese Generation eint der gemeinsame Glauben an die überragende Relevanz und positive Rolle der militärischen Macht Amerikas. Außenpolitik sieht sie vorweg unter militärischer Perspektive. Die Probleme der Ökonomie überlässt sie den Neoliberalen und den Führern des privaten Sektors. Für sie war und ist weder Kultur noch Geschichte oder Ökonomie, sondern Politik der große Beweger. Sie sind eben »politische Krieger« (Robin 2004), zuweilen diplomatisch (Powell), zumeist aber martialisch (Rumsfeld).

In den 70er und 80er Jahren arbeitete diese Generation am Wiederaufbau der amerikanischen Militärmacht nach Vietnam. In den 80er Jahren unter Reagan begann ihren Aufstieg. Die Warriors kristallisierten ihre radikal reaganitische Position an Offensivprojekten wie SDI und der Unterstützung der »freedom fighters« in Nicaragua und anderswo. In der ersten Regierung Bush konnte sie sich eine Minderheitsposition in der Militärexekutive sichern. Die Wende zu den 90er Jahren erlebte sie als den größten Triumph in der amerikanischen Geschichte: die USA hatten den dritten, den Kalten Krieg gewonnen. In diesem Jahrzehnt konzipierte sie eine neue Rolle des militärischen Faktors. Nach 9/11 ging sie daran, ein militärimperiales Projekt durchzusetzen. War in den 90ern die »Globalisierung« das imperialistische Codewort der ökonomischen Neoliberals, so wurde im Folgejahrzehnt das »Empire« das imperialistische Codewort der militanten politischen Warriors.

In diesen drei Jahrzehnten war ihr Aufstieg zur Macht verbunden mit dem (Wieder-)Aufstieg des amerikanischen Militärs zu einer exzeptionellen Machtposition. Diese Generation erlebte die Zeit als Erfolgsgeschichte und als Zeit, in der Amerika als moralische, freiheits- und demokratieförderliche Kraft auftrat. Nichts schien ihr am Ende unmöglich – auch nicht ein amerikanisches Imperium.

Die Warriors erreichten mit Hilfe und im Bündnis mit der im Süden der USA stark verankerten religiösen Rechten, den radikalen Marktideologen und der klassischen, eher sozialkonservativen aber stark mit fundamentalistisch-evangelikalen Einsprengseln durchsetzten Mainstream-Rechten in der zweiten Bush-Regierung und dann in der republikanischen Partei eine hegemoniale Mehrheitsposition im Politikformierungprozess. Die daraus entstandene heterogene Konfiguration der neuimperialen politischen Rechten in den USA war eine geradezu beispiellose politische Innovation, in der sich zusammenband, was bislang in gar keiner Weise zusammenzugehen schien. Die Bildung eines gemeinsamen Machtkörpers aus neokonservativ-reaganitischen Warriors, christlichen Fundamentalisten und marktradikalen Neoliberals ist eine Kopplung von Richtungen ganz ungewöhnlicher Diversität. Sie gelang im Geist einer geduldigen Kombination von Pragmatismus und ideologischer Selbstsicherheit. Im Laufe des Jahres 2002 bestimmte diese Allianz den außenpolitischen Diskurs der USA. In kurzer Zeit versammelte sie fast vollständig die außenpolitische Elite der USA und die parlamentarische Opposition hinter ihr Projekt, das konzeptionell zunehmend eine imperiale Dimension ausbildet, politikpraktisch jedoch zwischen hegemonialem und imperialem Internationalismus oszilliert. Nach einem Jahrzehnt heftiger Auseinandersetzungen etablierte sich somit ein neuer außenpolitischer Konsens in der US-Elite.

Das Mikronetzwerk der neuimperialen Macht hat vieles gemeinsam: den Berufsverlauf in politischen Feld, oft Generationszugehörigkeit, vor allem aber die ideologische Orientierung, politische Schlüsselprojekte, Reichtum und ähnliche oder gar dieselben institutionellen Vernetzungen. Zu ihm gehören Intellektuelle, Wissenschaftler, Ideologen, Strategen, Demagogen, Visionäre, Politiker, Wirtschaftler, Machtbroker, Organisatoren und Netzwerker. Innerhalb der Bush-Regierung bildet es Cluster um den Vizepräsidenten, das Pentagon, den Nationalen Sicherheitsrat sowie das Justizministerium. In anderen Ministerien wie auch dem Außenministerium sind einzelne Verbindungsknoten installiert, das institutionelle Zentrum liegt im Pentagon. Die innere Struktur dieses Kerns ist heterogen; Gruppen mit hoher Interaktionsdichte und äußerst locker geknüpfte Netzwerke gehen zusammen. Zu ihrem Führungskern gehören R. B. Cheney, P. D. Wolfowitz, D. Rumsfeld, C. Rice, C. Powell, R. Perle, W. Kristol, I. L. »Scooter« Libby, D. Feith, R. Armitage, J. R. Bolton, D. Wurmser, J. Woolsey, Z. Khalilzad, E. Abrams, S. J. Hadley, J. F. Lehman Jr., K. Adelman, E. Cohen, E. Edelman, A. Friedberg, D. S. Zakheim, P. Rodman, W. J. Schneider, S. Cambone, T. Donnelly und R. M. Gerecht (Detailliert in: Rilling, 2004).

Neuimperiale Think Tanks und politische Aktionskomitees

Bevor die Neuimperialen sich in den Institutionen der Bush-Administration positionieren konnten, kooperierten sie bereits in knapp einem halben Dutzend Think Tanks und politischen Aktionskomitees, die in den 90er Jahren intensiv an strategischen Konzepten arbeiteten, politische Lobbyarbeit betrieben und häufig von ein- und denselben Stiftungen finanziert wurden. In ihrem Umfeld operierten freilich doppelt so viele konservative wie liberale Denkfabriken, die dreimal so viel Geld zur Verfügung hatten. Lange zuvor arbeiteten viele von ihnen in den ersten militaristischen Komitees zusammen wie dem »Committee on the Present Danger«, das in den späten 70ern als konzeptiver Think Tank und personalpolitische Kaderreserve der Reagan-Regierung fungierte (Sanders 1983) oder dem »Committee for the Free World« in den frühen 80ern, dem u.a. Rumsfeld vorsaß. Nicht weniger als 30 Mitglieder des CPD rückten in den 80er Jahren unter Reagan in Regierungspositionen ein. Im Laufe der 90er Jahre und dann vor allem nach 9/11 nahmen die neokonservativen und rechten Organisationen, Medien und Verbünde an Zahl rapide zu und mittlerweile dürften 60 oder 70 überregionale Bedeutung erreicht haben.

Unter ihnen erlangte ein neuimperialer Think Tank spektakuläre Sichtbarkeit und mediale Bedeutung, der im Vergleich zu den großen klassischen Think Tanks wie AEI oder Hoover nur mit winzigen Ressourcen operierte – 2004 waren dort 5 Personen beschäftigt – und dessen Einfluss nicht ganz zu Unrecht oft mit dem des »Committee on the Present Danger« der späten 70er und frühen 80er verglichen wird. Zu den 25 Unterzeichnern der Gründungserklärung („We aim to make the case and rally support for American global leadership“„Reaganite policy of military strength and moral clarity“) des 1997 von William Kristol und Robert Kagan im »reaganitischen Geist« gebildeten »Project for the New American Century« (PNAC) gehörten Jeb Bush, William J. Bennett, Dick Cheney, Midge Decter, Steve Forbes, Francis Fukuyama, Fred C. Ikle, Donald Kagan, Zalmay Khalilzad, Norman Podhoretz, Dan Quayle, Stephen P. Rosen und Donald Rumsfeld. William Kristol wurde 2002 Vorsitzender des Think Tanks. Zu seiner Leitung gehörten weiter Bruce Jackson (1993-2002 Vizepräsident des Rüstungskonzerns Lockheed Martin), der am Entwurf des proamerikanischen Schreibens der Staaten des »Neuen Europa« mitgewirkt hat und eine Schlüsselposition beim Aufbau der Machtpositionen der USA in Osteuropa spielt (The Nation, 17.3.2003; Financial Times, 8.5.2003) und Robert Kagan, der in Brüssel für den Think Tank »Carnegie Endowment« arbeitet. Der geschäftsführende Direktor des PNAC ist Gary Schmitt, der u.a. als Geheimdienstoffizier in Reagans Weißem Haus enge Verbindungen zu dieser Szene hatte. Das PNAC operiert mit Statements, »Offenen Briefen« und wenigen strategischen Texten,1 betreibt als advocay-group deklaratorisch-propagandistische Pressure-Politik und versuchte so in den 90ern, aus dem neokonservativen power-exile heraus Einfluss auf die Clinton-Regierung zu nehmen. Das politische Kunststück, für das es steht und das als Grundlage seiner herausragenden Prominenz und nicht selten überschätzten politischen Einflussfähigkeit gelten kann, besteht darin, dass es – als im Kern neokonservatives Projekt – jenes neuimperiale Bündnis sichtbar machte und repräsentierte, das mit der zweiten Bush-Administration dann die Schlüsselpositionen der Regierungsmacht übernahm. Das PNAC kann daher kaum als Think Tank bezeichnet werden, sondern es ist eine öffentliche Plattform und ein tool zur Bildung politischer Koalitionen, das seine Verlinkung mit den mächtigsten Abteilungen der politischen Dienstklasse vorführt. Konzeptionell ist das PNAC mit seinen frühen Studien und Forderungspapieren zweifellos ungewöhnlich präsent und einflussreich gewesen. Geradezu eine Blaupause der neuimperialen Politik stellte etwa der im Jahr 2000 publizierte Report »Rebuilding America`s Defense« dar, zu dessen Autoren neben Donnelly, D. Kagan und Schmitt auch Wolfowitz und Bolton sowie Bernstein, Epstein, Schulsky, Cohen, Libby, Zakheim, Rodman und Cambone gehörten. Die verschiedenen Gruppen verbindet die Forderung nach massiver Aufrüstung – so ein Brief des PNAC an Bush vom 23. Januar 2003. Finanziert wurde das PNAC u.a. auf dem Umweg über das von Kristol geführte New Citizenship Project, das mit fast 1,9 Mio $ von der weit rechts stehenden Bradley-Stiftung gefördert wurde, die auch zu den Finanziers des American Enterprise Institute und des John M. Olin Center for Strategic Studies der Harvard University gehört, das bis 2000 vom neokonservativen Samuel P. Huntington geleitet wurde. Über das Projekt wurde bereits im Januar 1998 ein Brief von 18 Neokonservativen an Clinton organisiert, in dem der Sturz Husseins gefordert wurde. Acht Unterzeichner – Armitage, Bolton, Rumsfeld, Dobriansky, Khalilzad, Rodman, Wolfowitz oder Zoellick – gehörten später zur Bush-Administration. Ein zweites Schreiben u.a. von Rumsfeld, Wolfowitz und Kristol vom 29.5.1998 an die Fraktionsführer Gingrich und Lott forderte explizit, Hussein mit militärischen Mitteln aus der Macht zu entfernen. Kurz nach Nine-Eleven folgte am 20.09.2001 einweiteres Schreiben der »Kreuzzugsneokonservativen« (Hirsh), das diese Forderung erneuerte („even if evidence does not link him to the attack“) und u.a. gezeichnet war von W. Kristol, Allen, Bauer (der als langjähriger Vorsitzende des evangelikalen Family Research Council ein Bindeglied zur christlichen Rechten darstellte), Bennett (der unter Reagan 1981 Leiter der National Endowment for the Humanities wurde, 1985-1988 Bildungsminister war, sodann »Drogenzar« wurde und engste Verbindungen zur neokonservativen Think Tanks wie Hudson, Heritage oder der Olin-Foundation hatte), Decter, Donnelly, Friedberg, Fukuyama, Kagan, Kirkpatrick, Krauthammer, Perle, Podhoretz und Rosen. Zahlreiche der genannten Personen hatten und haben übrigens enge Verbindungen zum American Enterprise Institute, das bereits seit Jahrzehnten das neokonservative Feld befördert und in dessen Washingtoner Gebäude nicht nur der »Weekly Standard« als Zentralorgan des US-Neokonservatismus, sondern auch das PNAC residiert.

Aus dem Feld neuimperialer Think Tanks ist weiter hervorzuheben das 1988 gegründete Center for Security Policy (CSP), dessen Direktor Gaffney in den 80ern unter Perle im Pentagon arbeitete und dem PNAC angehört. In einer Erklärung stellte Gaffney das CSP in die Tradition des Committee on the Present Danger. In den 90er Jahren entwickelten sich das CSP und sein Beirat NSAC 2 zu einem zentralen Sammelbecken reaganitischer Politiker, Ideologen und Rüstungsindustrieller. Zakheim, Rumsfeld, Perle, Woolsey oder Feith waren schon früh eng mit dem CSP liiert. Aus dieser Zeit stammt auch eine enge Verbindung zu Heritage, dem wichtigsten rechten Think-Tank in der Reagan-Ära.3 Ca. zwei Dutzend Angehörige des CSP und NSAC zogen dann in die zweite Bush-Regierung ein.

Das CSP beansprucht für sich, nicht nur eine exzeptionelle Kaderreserve für die Regierung gewesen zu sein (Frachon, Vernet 2003), sondern auch Schlüsselargumente für den Rückzug der Bush-Administration aus zahlreichen Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen wie dem ABM-Vertrag bereitgestellt zu haben. Gesponsert wurde das CSP u.a. von den Rüstungskonzernen Boeing und Lockheed sowie weit rechts stehenden Stiftungen.

Aus dem Milieu der Think Tanks und der in ad-hoc-Zusammenhängen gegründeten politischen Aktionsgruppen ragte schließlich vor dem Irakkrieg das 2002 von Jackson (PNAC, Lockheed) gegründete Committee for the Liberation of Iraq (CLI) heraus. Seine explizite Zielsetzung war die Unterstützung der Kriegsoption der Regierung Bush. Sein Board versammelte vorwiegend eine demonstrativ prominente Menge Neokonservativer und Neuimperialer. 15 Mitglieder des CLI haben für das DoD gearbeitet, zahlreiche Mitglieder haben enge Beziehungen zum AEI und zum PNAC. Es demonstriert zweifellos die Breite der Unterstützung, den die neokonservative Stoßrichtung gegen den Irak erreicht hatte. Das Projekt war im Wesentlichen eine plakative Einrichtung und wurde mit dem formellem Kriegsende offenbar aufgelöst.

Ebenfalls aufgelöst wurde 2003 das wenig bekannte, aber nicht unwesentliche rüstungsindustrienahe U.S. Committtee on NATO (vormals U.S. Committee to Expand NATO), das im selben Jahr unter Führung von Jackson in das Project on Transitional Democracies (PTD) überführt wurde. Zu den Mitgliedern des USCN gehörten Wolfowitz, Perle, Hadley, Schmitt, R. Kagan, Scheunemann und Rodman. Das PTD wiederum hat den offenbaren Zweck, die Politik der Regierung Bush insbesondere im »neuen Europa« zu unterstützen.4 Zu den Gruppen diesen Zuschnitts gehört auch die vergleichbar gelagerte New Atlantic Initiative des American Enterprise Institute, das u.a. von Jackson gegründet wurde und zu dessen Board bzw. Beraterkreis u.a. W. Kristol, Huntington, Podhoretz, Perle, D. Pipes, Rumsfeld, Gingrich – aber auch Kissinger und Shultz gehörten. Geopolitisch relevant ist endlich das 1990 gegründete und publizistisch-strategisch ansetzende Middle East Forum, ein neokonservativer Think Tank, über den sich etwa Abrams, Dobriansky, Feith, Kirkpatrick, Ledeen, Perle, Pipes und Wurmser engagieren.

Das neokonservative und neuimperiale Cluster, zu dem weitere Institute und »policy shops« – wie das National Institute for Public Poilicy, die U.S. Space Foundation, das National Strategy Information Center, das Jewish Institute for National Security Affairs, Empower America, das Institute for Religion and Democracy, das Washington Institute oder das Institute for Religion and Public Life – gehören, hat die Unterstützung einer Reihe weiterer großer Think Tanks und anderer Einrichtungen der politischen Rechten (Hoover, Heritage, Hudson Institute, American Enterprise Institute5, Center for Strategic and International Studies (CSIS), Manhattan Institute for Policy Research, Jamestown Foundation, Lexington Foundation, Foreign Policy Research Institute, Nixon-Center) sowie neokonservativer Hochschuleinrichtungen (in erster Linie die Paul Nitze School of Advanced International Studies/ SAIS). Weniger prominente kleine Aktionskomitees wie das United States Committee for a Free Lebanon, die Coalition for Democracy in Iran (CDI) oder die 2002 von Bennett gegründete propagandistische Einrichtung Americans for Victory over Terrorism überlappen sich personell mit den genannten Akteuren und zeichnen sich oft durch weniger diplomatische Formulierungen aus.6 Die Verbindung zu der christlichen Rechten repräsentiert das Ethics and Public Policy Center, das eine fundamentalistische Moralisierung der Außenpolitik betreibt. Und die Verbindung zum amerikanischen Kapital wird am deutlichsten, betrachtet man die Vorstands- und Finanzierungsliste des AEI, in denen Unternehmen wie Exxon Mobil, Dow Chemical, Motorola, American Express, General Electric, AT&T, Ford, General Motors, Amoco, Shell oder Morgan Guarantee Trust zu finden sind oder Akteure wie das Business Roundtable, das im Schnittfeld von Kapital und Politik agiert.

Neuimperiale Medien

Charakteristisch für das gesamte Netzwerk ist neben dieser institutionellen Verankerung die starke Präsenz bekannter neokonservativer und neuimperialer Autoren in einigen nationalen Medien wie dem Wall Street Journal, den Fox News, der Washington Times und der New York Post sowie ein Bündel eigener Zeitschriften wie »Public Interes«t, »Policy Review«, »Public Opinion«, »National Review«, »The National Interest«, »The New Republic«, »American Spectator«, »Insight, Frontpage«, »First Things« und dem »Commentary Magazine« und Verlagen wie Encounter Books oder Basic Books Publishing. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Murdoch`s News Corp., zu der das Fox News Network (»Bush TV«), die New York Post und der Weekly Standard gehören: „Many people at Fox News have been supportive of Bush`s policy. They deserve a bit of a mention. And Murdoch personally.“7 Als intellektuelles Leitorgan des Neokonservatismus gilt der 1995 von W. Kristol gegründete »Weekly Standard«. Im Internet sind diese Medien zumeist gut präsent und daneben haben sich einige spezielle neuimperiale und neokonservative Sites wie Tech Central Station etabliert, die oft eng mit Konzernen verbunden sind. In der in den letzten Jahren entstandenen Weblogszene haben rechtsorientierte und neokonservative Medienintellektuelle wie Sullivan einen großen Einfluss.

Finanziers der Neuimperialen

Die Finanzierung des Netzwerks und seiner Einrichtungen erfolgt insbesondere durch Stiftungen, die zum Teil bereits in der Reagan-Ära, vor allem aber dann in den 90er Jahren eine gezielt politisch äußerst rechts ausgerichtete Förderungspolitik betrieben. Dazu gehören in erster Linde die Lynde & Harry Bradley Foundation8, die Scaife-Stiftungen9, die John M. Olin Stiftung, Castle Rock Stiftung, Smith Richardson Stiftung, Carthage, Earhart, JM Foundation und die Stiftungen der Koch-Familie, aber auch einzelne Finanziers wie zum Beispiel Kovner, Vorsitzender der Caxton Corporation und Hertog von der Alliance Capital Management, die beide 2002 halfen, die »New York Sun« zu gründen, Mitherausgeber der »New Republic« sind und in den Beiräten des Manhattan Institute oder des AEI sitzen; oder einst Black, vormals Vorsitzender der Hollinger International Inc., zu deren Vorstand auch Perle gehörte und der ebenfalls in die »New York Sun« investierte. Die finanzielle Macht dieser Stiftungen ist beträchtlich: Richard Mellon Scaife – der enge Verbindungen zu Hoover, Heritage und PNAC pflegt – gehörte in den 90ern zu den 50 reichsten Privatpersonen der USA, die Koch-Industries sind das zweitgrößte private Unternehmen der USA. Das AEI erhielt zwischen 1985 und 2002 von der Bradley-Stiftung 14 Mio. $ und von der Olin-Stiftung 6,5 Mio. $. Das PNAC wurde mit über 600.000 $ alimentiert vor allem von Bradley, aber auch von Scaife und Olin; das CSP erhielt von diesen Stiftungen 3,6 Mio. $ bis 2001, das SAIS über 7,7 Mio. $, das CSIS über 13 Mio. $; neokonservative Think Tanks wie Heritage, AEI, Cato, Manhattan Institute und Hudson-Institute erhielten allein von einem Dutzend rechts stehender Stiftungen bis 2001 weit über 100 Mio. $.10 Während z.B. Heritage oder AEI Finanzierungen von allen Großstiftungen erhalten, gibt es zwischen einzelnen Think Tanks und Finanziers zugleich symbiotische Beziehungen (z.B. zwischen CSP und Scaife oder zwischen SAIS und Bradley). Die im Frühjahr 2004 publizierte Analyse »The Axis of Ideology« des National Committee for Responsive Philanthropy ergab, dass unter 79 konservativen und rechten Stiftungen, die zwischen 1999 und 2001 mehr als 252 Mio. $ an 350 von Steuern befreite Empfänger vergaben, fünf Stiftungen den Löwenanteil der Mittel bestritten: Scaife (44,8 Mio. $), Bradley Foundation (38,9 Mio. $), Olin (17,4 Mio $), Shelby Cullom Davis (13 Mio $) und Richard and Helen DeVos (12,2 Mio. $). 46 % der Mitttel gingen an konservative Think Tanks, die sich mit allgemeinen politischen Fragen befassten; an der Spitze standen dabei: Heritage, Intercollegiate Studies Institute, George Mason University, American Enterprise Institute for Public Policy Research, Hillsdale College, Citizens for a Sound Economy Foundation, Judicial Watch, Free Congress Research and Education Foundation, Hoover Institution on War, Revolution, and Peace sowie das Manhattan Institute for Policy Research.11 Zusammengeschlossen sind zahlreiche dieser rechten Stiftungen im Philanthropy Roundtable, das Anfang der 80er Jahre entstand und ebenfalls im AEI-Gebäude sitzt und dessen Vorstandschef bis 2003 der langjährige Präsident der Bradley Stiftung Joyce war. Stein schätzt die Gesamtsumme der seit den frühen 70er Jahren an die 43 aktivsten und einflussreichsten Organisationen der intellektuellen Infrastruktur der rechten, konservativen und neokonservativen geflossenen Mittel auf 2,5 bis 3 Mrd. $.12 Die neuimperiale Strömung würde ohne diesen finanziellen Initiativ- und Profilierungshintergrund nicht existieren.

Dennoch: „It`s a small world“, sagte W. Kristol bei seiner Charakterisierung der Welt des Neokonservatismus und seiner Allianzen (Hagan 2003). Und eben darin liegt auch ihre Schwäche: Ungeachtet ihres Aufstiegs zur Macht, ist sie verletzlich und nicht robust. Ihre Kultur ist aggressiv, aber nur begrenzt konsensfähig. Ihre Ausstattung ist vergleichsweise eher karg, sie hat offenbar noch kein aktivistisches Zentrum im amerikanischen Business gewonnen, sondern eher eine gewisse Duldung. Ihr Elitismus ist wenig souverän. Sie ist erst auf dem Weg.

Literatur

Bookman, J. (2002): The president`s real goal in Iraq. The Atlanta Hournal-Constitution v. 29. 9.2002.

Corey, Robin (2004): Conservatives after the Cold War. Boston Review 1/2004.

Frachon, Alain und Vernet, Daniel (2003): The Strategist and the Philosopher. Le Monde 15. 4. 2003.

Hagan, Joe (2003): President Bush`s Neoconservatives Were Spawned Right here in N.Y.C., New Home of the Right-Wing Gloat. New York Observer v. 28. 4. 2003.

Kagan, Robert (2002): Power and Weakness. Policy Review 113 (2002).

Kristol, William und Robert Kagan (1996): Toward a Neo-Reaganite Foreign Policy, in: Foreign Affairs 4, S. 18-32.

Mann, James (2004): Rise of the Vulcans: the history of Bush`s war cabinet. New York.

Murphey, Bruce (2003): Neoconservative clout seen in U.S. Iraq policy. Milwaukee Journal Sentinel v. 6. 4. 2003.

O`Keefe, Mark (2003): Foundation Excels at Fueling Conservative Agenda, Newhouse News Service v. 18.9.2003.

Rilling, Rainer (2004): Outbreak. Let`s take over. American Empire als Wille und Vorstellung. http://www.rainer-rilling.de/texte/ american%20empire. pdf

Sanders, Jerry (1983): Peddlers of Crisis: The Committee on the Present Danger and the Politics of Containment. Boston.

Anmerkungen

1) Vgl. www.newamericancentury.org

2) Siehe die Aufzählung der 95 Mitglieder des National Security Advisory Council des CSP und die Liste von NSAC-Mitgliedern, die der Bush-Administration angehören unter www.centerforsecuritypolicy.org

3) Enge Verbindungen zur Heritage-Stiftung haben u.a. Abrams, Bremer, Allen, Bennett, Decter, Meese, Mellon Scaife, Weyrich und Wolfowitz.

4) www.projecttransitionaldemocracy.org

5) Das 1943 gegründete AEI ist der mächtigste und ressourcenstärkste neokonservativ dominierte Think Tank in den USA. Mehr als zwei Dutzend AEI-Mitglieder sind unmittelbar oder über Beratungseinrichtungen in die Bush2-Regierung involviert, darunter Cheney, Bolton, Frum, Perle. Die personelle Überschneidung zwischen dem AEI und dem PNAC ist beträchtlich.

6) Vgl. dazu The Moscow Times v. 25.4.2003. Zum Führungskreis des US Committee for a Free Lebanon gehörten Abrams, Dobriansky, Feith, Gaffney, Kirkpatrick, Ledeen, Perle, Pipes, Rubin und Wurmser, der im September 2003 in den Stab Cheneys einrückte.

7) W. Kristol, der es wissen muss, zitiert nach Hagan 2003.

8) Zur Rolle dieser 2003 mit 535 Mio. $ ausgestatteten Stiftung, die in 18 Jahren bis 2003 über 500 Mio. $ an Förderungsgeldern ausgab und zusammen mit den Stiftungen der Koch-Familie und der Olin-Stiftung als mächtigste rechtsstehende US-Stiftung angesehen werden kann, siehe Murphey 2003, O`Keefe 2003. Seit 2002 wird die Stiftung von Grebe präsidiert, der früher Mitglied des Nationalkommittees der Republikaner war und einer der fünf Direktoren des Philanthropy Roundtable ist.

9) Zu den Stiftungen Richard Scaife Mellons s. die Washington Post vom 2.5.1999: „Scaife and his family‘s charitable entities have given at least $340 million to conservative causes and institutions – about $620 million in current dollars, adjusted for inflation. The total of Scaife‘s giving–to conservatives as well as many other beneficiaries – exceeds $600 million, or $1.4 billion in current dollars, much more than any previous estimate. (…) Scaife‘s philanthropy has had a disproportionate impact on the rise of the right, perhaps the biggest story in American politics in the last quarter of the 20th century.“

10) Siehe www.mediatransparency.org

11) S. NCRP Presseerklärung v. 12.3.2004, www.ncrp.org

12) Jerry M. Landay: The Apparat. Mediatransparency.org v. 18.3.2004.

Rainer Rilling ist wissenschaftlicher Referent im Bereich Politikanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung (Berlin) und apl. Prof. für Soziologie an der Universität Marburg

„I Still Wanted To Be A Generalist“

„I Still Wanted To Be A Generalist“

Ein Blick ins Innere des Council on Foreign Relations

von Hans Jürgen Krysmanski

„Die Vereinigten Staaten von Amerika können auf eine lange, erfolgreiche Geschichte ihres einzigartigen – und auf einzigartige Weise komplexen – Systems der außenpolitischen Praxis zurückblicken“, schreibt der Henry A. Kissinger Senior Fellow in U.S. Foreign Policy des Council on Foreign Relations, Walter Russell Mead, im Vorwort seines jüngsten, vielbeachteten Buches »Special Providence. American Foreign Policy and How It Changed the World«. Mead argumentiert darin, ‚,dass amerikanische Außenpolitik in den letzten zweihundert Jahren keineswegs chaotisch oder naiv oder eine Nebensache gewesen sei, wie etwa manche Europäer meinen, sondern erstaunlich konsistent und meist auf der Höhe der Zeit operierte.“ (Mead 2001, xviii)

Es lohnt, sich zunächst mit der Person Walter Russell Meads etwas eingehender beschäftigen. Er verkörpert nämlich eine Kultur der politischen Beratung, die weit über dem steht, was sich, zumindest in den Jahren der Blockbindung, in Ländern wie der BRD oder der DDR herausbilden konnte. Es ist zugleich ein Beratungsstil, wie er nur in einer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft möglich ist. Für all dies steht das Council on Foreign Relations (CFR), in das Mead 1999 kooptiert wurde. Diese noch immer einflussreichste policy planning group wurde 1921 mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller und Carnegie Stiftungen (und später der Ford Foundation) gegründet, um innerhalb der amerikanischen Eliten Konsens in außenpolitischen Fragen herzustellen (vgl. Dye 2002, 126 ff.). Mead beschreibt seine Tätigkeit im CFR als ein Leben „in der Gemeinschaft von Gelehrten, politischen Machern und brillanten Laien-Lesern und Laien-Denkern“ (!, Mead 2001, 355). Dabei ist die Erwähnung der beiden letzten Kategorien das Entscheidende. Denn mit den »Laien-Lesern und –Denkern« ist die eigentliche Klientel all dieser großen, enorm gut dotierten Beratungsinstitutionen, Think Tanks usw. gemeint: die Personen nämlich, die zum Establishment des großen Geldes gehören, das selten in voller Größe sichtbar wird in der Politik und Außenpolitik, um das sich aber natürlich alles dreht in dieser amerikanischen und globalen politischen Kultur.

Das CFR (vgl. vor allem Shoup u. Minter 1977) wird von einem 31 Mitglieder starken Board of Directors geleitet.1 Unter den rund 200 Mitarbeitern sind ca. 75 Fellows (Forscher). Finanziert wird das CFR aus Mitgliedsbeiträgen, Schenkungen, privaten und Stiftungsmitteln, Beiträgen aus der Konzernwelt und Einkünften aus dem eigenen Stiftungskapital. Das Gesamtbudget beträgt etwa 30 Millionen Dollar jährlich. Die Gruppe der Geldmächtigen ist denn auch im CFR, dessen Mitgliederzahl auf rund 4.000 Personen (mit langen Wartelisten) begrenzt ist, überproportional vertreten: zum einen durch Spitzenmanager aus Industrie und Finanzwelt (ca. 25%), zum anderen durch Stiftungsadministratoren (20%) und Rechtsanwälte (ca. 10%); dem stehen Wissenschaftler und Wissenschaftsadministratoren (ca. 21%), Regierungsoffizielle (ca. 14%) sowie Journalisten und Medienmanager (ca. 1%) gegenüber (vgl. Dye 2002, 126).

Orientierungsallegorien für die Geldmächtigen

Walter Russell Mead ist der Typ eines außenpolitischen Ratgebers, der perfekt in eine Beratungskultur passt, deren maßgebliche Kreise daran gewöhnt sind, alles kaufen zu können, insbesondere auch Stäbe von klugen, begabten Menschen, von Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen – und die zugleich ein feines Gespür, ja Verachtung für käufliche Charaktere entwickelt haben.2 Insofern besteht die Kunst einer Beraterkarriere, die Kunst des Aufstiegs an die Höfe der Geldmacht in der feinen Balance zwischen dem Wissen um die mäzenatischen Netzwerke und einer gewissen inneren Unabhängigkeit.

Ich lernte Walter Russell Mead 1993 kennen. Er hatte damals, als Mitarbeiter des World Policy Institute3, in einem Aufsatz voller Statistiken, Modelle und Trendanalysen zum amerikanisch-russischen Verhältnis den, wie sich zeigen sollte, außerordentlich medienwirksamen Gedanken formuliert, dass es doch für beide Seiten nur Vorteile brächte, wenn die USA den Russen Sibirien abkauften. Millionäre und Wall Street Broker wurden auf ihn aufmerksam. Mead war dem Establishment erstmals 1987 mit einem Büchlein über die Wandlungen des amerikanischen Imperiums, Mortal Splendor (Sterbliche, aber auch tödliche Pracht), aufgefallen und hatte seither gelegentlich Gutachteraufträge erhalten, war journalistisch für die »Los Angeles Times«, für Lifestyle-Magazine wie »Gentleman’s Quarterly« (GQ) usw. tätig gewesen, hatte für unterschiedliche Institutionen weltweit – als »außenpolitischer Kundschafter« – Informationsreisen unternommen und bei einer solcher Gelegenheit auch einmal den Hellespont durchschwommen, um Europa und Asien geo-spirituell miteinander zu verbinden.

Ich überredete Spiegel TV, über diesen seltsamen jungen Mann mit der – auch für deutsche Imperialisten – aufregenden Idee eine längere TV-Reportage zu machen. Mit einem Kamerateam begleitete ich Mead auf einer Erkundungsreise durch Sibirien (vgl. Krysmanski 2001, 37-55). Nach der Sibirienreise wurde die Idee im GQ-Magazin noch einmal ausgebreitet, sogar mit Landkarten, die Sibirien in sieben neue US-Bundesstaaten aufteilten, dann aber hatte für Mead der Spass ein Ende. Mead wurde Senior Contributing Editor des Börsenmagazins »Worth«, schrieb dort bemerkenswerte geopolitische Beiträge für Anleger, lieferte Artikel für »Esquire«, »The New York Times«, »International Herald Tribune«, »Wall Street Journal« und »The New Yorker«, forschte als President’s Fellow am World Policy Institute. Er ist zu einem rundum seriösen, führenden Interpreten der Geschichte der US-Außenpolitik und der Rolle Amerikas in der Welt geworden.4

Die Tugenden unbefangener Neugier und wohlverstandener Interessenvertretung, die Mead in seinen Anfängen charakterisierten, entfaltet er nun im Milieu des CFR. Das gilt sicher auch für die meisten der (insgesamt wenigen) übrigen kreativen Intellektuellen, die im CFR wirken dürfen. Generell bleibt festzuhalten, dass Beratungsinstitutionen wie das CFR so formidabel geworden sind, weil die eingekauften Geister sich in diesem eingegrenzten, exklusiven Milieu in relativer Freiheit in die Höhe und in die Tiefe entwickeln dürfen. Um die Qualität und Wirksamkeit solcher Institutionen zu verstehen, muss man sich deshalb auch mit der Elitensozialisation, genauer: mit der Sozialisation der Berater- und Experteneliten beschäftigen.

Soziales Kapital

Am Ende eines längeren Interviews an der University of California, in welchem Mead seinen Bildungsweg und die verschiedenen Spezialisierungen, die ihm offen standen, beschreibt, fällt der Satz: „I still wanted to be a generalist“ (Ich wollte immer ein Generalist bleiben). Er meint damit, dass der unbändige Drang in uns allen, Totalität, das »Weltsystem als solches« zu erkennen, zunächst in die »zweckfreie« Aneignung komplexer Allegorien und Metaphern aus Literatur, Kunst und Geschichte führen muss. Sein Subtext aber lautet: erst eine breite historische und literarische Fundierung von Urteilskraft ebnet den Weg in die engeren Beraterstäbe des heutigen Souveräns, an die Höfe der Geldmacht. Diese Einsicht zeichnet im Übrigen die US-amerikanischen Eliteuniversitäten und ähnlichen Bildungseinrichtungen seit langem aus.

Heute findet man nicht umsonst an vielen Orten Europas junge Amerikaner, deren stipendienausgestatteten Bildungsaufträge so lauten wie in einem mir bekannten Fall: Reise herum und beschäftige dich ein Jahr lang mit nichts anderem als dem Machtgedanken bei Friedrich Nietzsche und Max Weber; zum Schluss schreibe darüber ein kurzes Referat, aber nur wenn du Lust dazu hast. Neu gegründete Stiftungen wie die New America Foundation (s.u.) ebnen frischgebackenen »Generalisten« dann den Weg in die Medienwelt.

Doch der Weg in die Beratungskultur der Mächtigen – der nicht zu verwechseln ist mit der Sozialisation der Geldeliten selbst5 – ist noch viel komplizierter und beginnt in der Kindheit. Es sind immer auch Aufstiegsgeschichten aus unteren oder außenseiterischen Soziallagen, man denke an die Biografien von Henry Kissinger oder Zbigniew Brzezinski. Walter Russell Meads eigener Bericht über seine Schul- und Studienzeit ist hier besonders aufschlussreich:

„Mein Vater war Pfarrer der Episkopalischen Kirche …, dort sehr aktiv und marschierte mit Martin Luther King. Die Erfahrungen mit dem sozialen Wandel, der sich dort vollzog, so hautnah, haben mich zutiefst geprägt. Zu beobachten, wie in einer Gesellschaft, die fest daran glaubt, dass Rassentrennung das Richtige ist, Leute auf einmal ihre Meinung ändern und zu lernen beginnen – das hat mich seither begleitet. Mit dreizehn habe ich dann ein Stipendium für die Privatschule Groton 6 erhalten … Dann kam ich als Undergraduate an die Yale University. Auf diesem ganzen Bildungsweg hatte ich großartige Lehrer. Einer von ihnen hat mir in der siebten Klasse die Welt der Literatur erschlossen. Dann waren da in Groton zwei Geschichtslehrer. Doc Iron war schon der Lehrer von George Bundy gewesen … Acosta Nichols nahm, wenn eine bestimmte Geschichtsperiode dran war, in welcher die Eltern eines der Jungen ihren Reichtum angesammelt hatten, oft auf ziemlich zwielichtige Weise, den betreffenden Jungen beiseite und sagte: »Well, jetzt will ich dir einmal erklären, wie ihr zu eurem Geld gekommen seid. Viele Leute haben sich über die Kriegsprofiteure im Ersten Weltkrieg beschwert, und …«. In Yale habe ich dann viele Kurse in Geschichte und Amerikastudien belegt, aber eigentlich wollte ich nur Literatur lesen. Ich bin noch immer Mitglied in Lektüregruppen, wo wir gemeinsam Romane lesen … Ich glaube, nur wenn man die Dichtung einer Kultur, die Sprache einer Gesellschaft versteht, gewinnt man Einsicht in die »innere Landschaft« (inscape) einer Kultur oder eines Volkes. Vielen Leute auf dem Gebiet der Außenpolitik, die nur akademische Politikwissenschaft studiert haben, fehlt ein Gefühl für die wahre Realität eines Volkes oder einer Kultur. Seit ich beim CFR bin, haben wir begonnen, unsere Mitarbeiter rüber ins Metropolitan Museum of Art zu führen usw. Ich bin während des Vietnamkriegs aufgewachsen … und die Eltern vieler meiner Freunde spielten in diesem Krieg bedeutende Rollen. Ich erfuhr also auf negative Weise, wie wichtig Außenpolitik ist und was alles Schreckliche passieren kann, wenn die Dinge schief laufen. Deshalb wollte ich lange nichts von Außenpolitik wissen. Ich habe mich sozusagen rumgetrieben, alles Mögliche gemacht. Die Fortsetzung des Universitätsstudiums war nichts für mich. Ich wollte immer noch ein Generalist sein und Literatur lesen. Aber die möchten aus dir das Mitglied einer Profession machen …“7

Ein Think Tank für Laien-Denker

Nun also ist Mead einer der wichtigsten Intellektuellen des CFR. Schon sein erstes, 1987 erschienenes Buch, »Mortal Splendor: The American Empire in Transition«, hielt die »New York Times« für eine Muss-Lektüre für alle Präsidentschaftskandidaten und ihre Stäbe. Seine generalistische Expertise erstreckt sich nicht nur auf US-Außenpolitik im Allgemeinen und internationale politische Ökonomie im Besonderen, sondern auch auf das spezielle »Problem« Kuba, zu dem das CFR unter Meads Leitung eine bemerkenswerte Denkschrift vorgelegt hat. Außerordentlich umfangreich ist seine journalistisch-publizistische Tätigkeit geblieben. In gewisser Weise hat er schon jetzt dazu beigetragen, das alte CFR in das neue Medienzeitalter hinüber zu steuern.

Wie überhaupt hat sich das Council on Foreign Relations im letzten Jahrzehnt entwickelt? Aus den vielen US-amerikanischen Policy Planning Organizations und Think Tanks heben sich unter Machtgesichtspunkten neben dem Council on Foreign Relations noch immer die Trilaterale Kommission, das Committee for Economic Development, der Business Roundtable, die Brookings Institution, das American Enterprise Institute und die Heritage Foundation hervor. In diesen Organisationen werden die Mechanismen amerikanischer Politik koordiniert. In ihnen kommen Leute aus der Welt der Finanzen und der Konzerne, aus den Universitäten, den Medien, großen Rechtsanwaltskanzleien und aus dem Regierungsapparat zusammen und entwickeln Politiken und Programme, die dann dem Kongress, dem Präsidenten und schließlich der Öffentlichkeit unterbreitet werden. Das CFR beschreibt sich selbst als ein einmaliges Forum, das führende Menschen aus der akademischen, öffentlichen und »privaten« Welt zusammenbringt. Das CFR ist, wie gesagt, dazu bestimmt, unter den Eliten Konsens hinsichtlich außenpolitischer Fragen herzustellen. Neue außenpolitische Strategien werden initiiert, indem in einem ersten Schritt Wissenschaftler mit der Untersuchung bestimmter Fragen beauftragt werden. Die Ergebnisse werden sodann innerhalb des CFR in Seminaren und anderen Diskussionszusammenhängen unter Beteiligung von CFR-Mitgliedern, Spitzenpolitikern und führenden Regierungspolitikern evaluiert.

Das CFR gibt die Zeitschrift »Foreign Affairs« heraus, die lange Jahre als das inoffizielle Sprachrohr der amerikanischen Außenpolitik galt. Es gibt wenige wichtige Initiativen der US-Außenpolitik, die nicht zuerst in Artikeln dieser Publikation erörtert wurden. Die Liste früherer Mitglieder des CFR enthält sämtliche Personen, die in der amerikanischen Außenpolitik über Einfluss verfügten: von Elihu Root, Henry Stimson, John Foster Dulles, Dean Acheson, Robert Lovett, George F. Kennan, Averill Harriman und Dean Rusk bis zu Henry Kissinger, Cyrus Vance, Alexander Haig, George Schultz und dem früheren Präsidenten George Bush. Fast zwei Jahrzehnte lang war David Rockefeller, Chef der Chase Manhattan Bank, Vorsitzender des CFR. Gerade an dieser Person lässt sich zeigen, wie internationale Bank- und Investitionsaktivitäten sich nahtlos mit dem außenpolitischen Know-how des CFR verbinden (Dye 2002. 127 f.). Das Board of Directors des CFR stellte immer eine Konzentration von Macht und Einfluss dar, seine Zusammensetzung war und ist ein Paradebeispiel für das Prinzip der »interlocking directorates«, durch welches die Interessen des großen Geldes (das sich selbst als »Privatsektor« beschreibt) in die öffentlichen und akademischen Sphären hineingetragen werden.

Die soziale, informelle Verflechtung dieser Kreise wird deutlich, wenn man sich einige der wichtigsten Mitglieder dieses Aufsichtsrats und ihre Funktionen vor Augen führt: Peter G. Peterson, der jetzige Vorsitzende des CFR, ist ein früherer Chief Executive Officer der führenden Wall Street Investitionsfirma Lehman Brothers, außerdem war er Aufsichtsratsvorsitzender von Bell and Howell Co. sowie Handelsminister unter Richard Nixon, außerdem Direktor der Minnesota Mining & Mfg. Co., von General Foods und des Rockefeller Center und schließlich im Verwaltungsrat des Committee on Economic Development und des Museum of Modern Art. Cyrus R. Vance war Außenminister unter Jimmy Carter, Aufsichtsratsvorsitzender der Rockefeller Foundation und Senior Partner in der angesehenen Wall Street Rechtsanwaltfirma Simpson, Thacher & Bartlett. Lewis V. Gerstner, Jr. fungiert als Chairman und CEO von IBM und als ein Direktor von Bristol-Myers Squibb; er war außerdem Chairman und CEO von RJR-Nabisco und ist Mitglied des Business Roundtable, sitzt im Verwaltungsrat der New York Public Library und ist Regent der Smithsonian Institution. Carla A. Hills war unter George Bush Senior Hauptunterhändlerin für Handelsfragen und unter Gerald Ford Ministerin für Wohnungswesen und Stadtentwicklung, außerdem Direktorin bei IBM, Corning Glass, American Airlines und Chevron. Paul A. Volcker war Chairman des Federal Reserve Board. Diane Sawyer ist eine bekannte Fernsehjournalistin für ABC News. Paul A. Allaire ist Chairman und CEO von Xerox und ein Direktor von Sara Lee, J.P. Morgan, Smith Kline Beecham, Lucent Technologies und der Ford Foundation.

Hier wie in der gesamten Strukturschicht, in welcher der Einfluss der Geldmächtigen organisiert wird, spielt das Prinzip der »interlocking directorates« eine entscheidende Rolle. Dieses Vernetzen und Verweben von Positionsbesetzungen in der Industrie, in der Finanz, in kulturellen Einrichtungen und natürlich im Beratungs- und Strategieentwicklungswesen bildet sich dann auch dort ab, wo, wie etwa im CFR, nun tatsächlich Denkanstrengungen unternommen und Handlungskonzepte entworfen werden. Die Umstände und Kontexte, unter denen Meads letztes Buch entstand, bilden hier interessantes Anschauungsmaterial.

Die Genese eines Fürstenspiegels: Special Providence

Walter Russell Meads Buch »Special Providence. American Foreign Policy and How It Changed the World« erschien im September 2001, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt für einen Text, der sich mit historischem Blick den Grundzügen amerikanischer Außenpolitik zuwendet. Was ohne Frage auch als ein Lehrstück des CFR für die Bush-Administration gedacht war, ging in den Aufgeregtheiten nach dem 11. September unter und hat auf die Berater dieser Regierung sicher bis heute keinen Eindruck mehr gemacht. Dabei hatte Mead versucht, das Zusammenspiel unterschiedlicher außenpolitischer Sichtweisen, die sich in der amerikanischen Geschichte immer wieder abgelöst oder auch verwoben haben, darzustellen und damit den neokonservativen Extremismus, den er auf Andrew Jackson zurückführte, zu relativieren. Zu diesem Zweck hatte Mead auf lebendige Denktraditionen verwiesen, die sich mit der Außenpolitik weiterer Präsidenten verbinden lassen: Alexander Hamilton, Woodrow Wilson, Thomas Jefferson und Andrew Jackson.

Entstehung des Buchs

Mead beschreibt den langen Entstehungsprozess, der fast dem eines literarischen Werkes gleicht. Verschiedene Institutionen wie das World Policy Institute und unterschiedliche Geldgeber finanzierten die jahrelangen Recherchen, bis es ihm ermöglicht wurde, „das Leben der CFR-Gemeinschaft zu teilen“ und dort „von talentierten und hingebungsvollen jungen Profis“ und vor allem vom „unschätzbaren Bibliothekspersonal des CFR“ Unterstützung zu erfahren. Entscheidend aber war in der Endphase, dass er immer wieder Kapitelentwürfe Studiengruppen in New York, Washington und Los Angeles vorlegen konnte, die von einigen der „formidabelsten und erfahrensten Frauen und Männern auf dem Feld amerikanischer Geschichte und Außenpolitik“ besucht wurden, darunter z.B. Arthur Schlesinger, Jr. Außerdem war innerhalb des CFR für die Fertigstellung des Buchs eine »Schatten-Studiengruppe« gebildet worden. Zudem gab es Versuchsveröffentlichungen, beispielsweise des Jackson-Kapitels im ultrarechten Leitmagazin »The National Interest«, dessen Leserschaft, so Mead, auf die Darstellung des »Jacksonismus« enthusiastisch reagierte.

Vier außenpolitische Denktraditionen

Meads Stil hat hohe literarische Qualität und ist in seiner Klarheit, seinem Metaphernreichtum und nicht zuletzt wegen seines Rekurses auf kulturelle Traditionen perfekt auf den Denkhabitus seiner primären Klientel, des amerikanischen Establishments, abgestimmt. Diese Schicht eines kulturell ausgestalteten, d.h. sowohl der Massenkultur als auch der Hochkultur zugewandten Reichtums, diese Schicht des »alten Geldes« sitzt noch immer an den Schalthebeln der amerikanischen Machtstrukturen und umfasst das Bush-Lager ebenso wie das Kerry-Lager. Diese Spannweite – und diese Spannungen – versucht Mead mit seinem Modell der verschiedenen Varianten »amerikanischer Vorsehung« einzufangen:

„Die Hamilton-Schule hält eine starke Allianz zwischen Nationalregierung und Big Business für den Schlüssel zu innerer Stabilität und zu effektiver äußerer Aktion; sie hat sich immer auf das Bedürfnis der Nation konzentriert, zu vorteilhaften Bedingungen in die globale Ökonomie integriert zu werden. Die Wilson-Schule glaubt, dass die Vereinigten Staaten sowohl die moralische Pflicht als auch ein tiefes nationales Interesse haben, amerikanische demokratische und soziale Werte über die Welt zu verbreiten und dadurch eine friedliche internationale Gemeinschaft zu schaffen, welche die Herrschaft des Rechts akzeptiert. Die Jefferson-Schule meint, dass die amerikanische Außenpolitik sich weniger um die Verbreitung der Demokratie im Ausland und mehr um deren Sicherung zuhause kümmern sollte. Diese Schule stand den politischen Ansichten der Hamilton- und Wilson-Schule historisch immer skeptisch gegenüber, denn diese hatten die Vereinigten Staaten schließlich mit unappetitlichen ausländischen Alliierten in Verbindung gebracht und das Kriegsrisiko erhöht. Schließlich gibt es eine breite populistische Richtung, die ich die Jackson-Schule nenne, die glaubt, dass das wichtigste Ziel jeder US-Regierung sein muss, sowohl zuhause wie im Ausland für die physische Sicherheit und das ökonomische Wohlergehen des amerikanischen Volkes zu sorgen. »Hüte dich, auf mich zu treten!« warnte die Klapperschlange auf der Kriegsflagge der amerikanischen Revolution. Die Jackson-Schule glaubt, dass die Vereinigten Staaten nicht von sich aus Streit mit anderen Ländern suchen sollten. Wenn aber andere Nationen die USA angreifen, dann gilt für sie der Satz von General Douglas McArthur: »Zum Sieg gibt es keine Alternative«.“ (Mead 2001, xvii)

Das Unterstützerfeld

Die Danksagungen zu diesem Buch gestaltet Mead umfangreich, genau und die eigene »Karriere« reflektierend. Wenn er zunächst andeutet, dass das Buch im Wesentlichen durch Richard C. Leone und den Aufsichtsrat der Century Foundation (früher Twentieth Century Fund) gefördert wurde, so bringt er mit dem CFR-Mitglied Leone einen »Laien-Denker« ins Spiel, der in New York/New Jersey eine wichtige politische Figur war und ist (z.B. früherer Vorsitzender der Port Authority of New York and New Jersey sowie Finanzminister des Bundesstaates New Jersey), der aber zugleich als wirkungsvoller Publizist für die »New York Times«, die »Washington Pos«t, die »Los Angeles Times«, »Foreign Affair«s und »The Nation« geschrieben hat. Außerdem war Leone Präsident des New York Mercantile Exchange und ist managing director einer großen Investment-Firma, Dillon Read and Co. Diese soziale Durchmischung, diese Vernetztheit individueller Aktivitäten ist typisch für die Macht- und Geldeliten der USA und praktisch einzigartig im internationalen Vergleich. Eine zweite Figur diesen Zuschnitts ist Leslie Gelb, Ex-Präsident des CFR, der Mead – was eine ungewöhnliche Ehre ist – bereits 1997 einlud, Mitglied des CFR zu werden. Gelb war zu diesem Zeitpunkt zugleich in den Verwaltungsräten des Carnegie Endowment for International Peace, der Tufts University, der School of International and Public Affairs der Columbia University, des Center on Press, Politics and Public Policy der John F. Kennedy School of Government an der Harvard University usw. Zuvor hatte Gelb eine Karriere in der »New York Times« hinter sich gebracht, war einer der stellvertretenden Chefredakteure und gehörte zum Elite-Kreis der Kolumnisten dort. Auch war er in den 80ern Korrespondent von The Times in nationalen Sicherheitsfragen und davor in verschiedenen Regierungsämtern, darunter Berater des German Marshall Fund und Staatssekretär im Außenministerium unter Jimmy Carter. Und noch früher, in den 60ern (diese Schicht wird aktiv alt), war Gelb in der Planungsabteilung des Pentagon tätig und hatte unter anderem das Pentagon Papers Project geleitet.

Besonders aufschlussreich ist schließlich Meads Erwähnung einer Gruppe von Geldgebern, die im Kontext des CFR sein Gehalt und die Recherchekosten getragen haben (Mead 2001, 355). Wir blicken hier auf Partien eines Netzwerks, für dessen Untersuchung die Methoden und Instrumente des Power Structure Research entwickelt werden, wie sie mit Initiativen und Projekten wie Namebase, dem Government Information Awareness Project des MIT, They Rule usw. verbunden sind.

Die von Mead genannten finanziellen Unterstützer repräsentieren das Kraftfeld der Hamiltonians, Wilsonians, Jeffersonians und Jacksonians dort, wo es in der Gegenwart vermutlich am innigsten mit Geldmacht verwoben ist, nämlich im privaten Investment- und Finanzsektor, der inzwischen die Habitate des Establishments mehr als jeder andere prägt. Das jeweilige Ausmaß der finanziellen Zuwendungen seitens der von Mead genannten Personen lässt sich selbstverständlich nicht ermitteln, doch dass er sie für erwähnenswert hält, schließt ein Netzwerk auf, von dessen Existenz sonst wenig an die Öffentlichkeit dringt. Da ist zum Beispiel Allen R. Adler, der sich jetzt »Privatinvestor« nennt, früher aber Manager bei Columbia Pictures Industries und Paribas North America war und außerdem in den Aufsichtsräten des Simon Wiesenthal Center und des World Policy Institute sitzt; oder Frank W. Hoch von Brown Brothers Harriman & Co., einer Investmentfirma, die ungefähr 35 Mrd. Dollar verwaltet oder Robert Rosenkranz, Chief Executive Officer und später Chairman der Delphi Financial Group, Inc. Einen anderen Typus stellt Stanley S. Arkin dar, der seit 1968 Chef einer der innovativsten und effektivsten Wall Street Rechtsanwaltsfirmen ist, die sich vor allem, wie sie selber verkündet, mit der Investigation und Verfahrensführung besonders komplexer, ungewöhnlicher und sensibler Fälle hervorgetan hat. Daneben treten Mäzene wie Robert J. Chaves, Kimball Chen, Mary van Evera, Joachim Gfoeller Jr., John H.J. Guth, Frank W. Hoch und Winthrop R. Munyan auf, über die nach einer ersten Recherche wenig zu berichten ist, außer, dass sie auf vielen Spenderlisten im Milieu von Wissenschaft und Kunst auftauchen. Ganz anders ist es mit John H. Gutfreund und seiner Gutfreund Foundation bestellt. Gutfreund ist eine der zentralen Figuren der New Yorker Finpols, wie Ferdinand Lundberg (1968) die finanzpolitische Fraktion der Machteliten nennt. Erwähnenswert sind noch J. Tomilson Hill – Direktor der Blackstone Group L.P., innerhalb des CFR zuständig für Finanz- und Investitionsfragen und außerhalb in den Aufsichtsräten des Lincoln Center Theater, der Nightingale-Bamford School, der Milton Academy usw. – sowie Robert M. McKinney (1910-2001), Herausgeber der Zeitung New Mexican (Santa Fe), unter John F. Kennedy US-Botschafter in der Schweiz und laut Namebase, natürlich auch auf Grund seines Alters, eine der am stärksten vernetzten Figuren aus Meads Entourage.

Neue Zeiten für Generalisten

Die Beratungseliten wachsen nach, Mead hat sich auch dieser Aufgabe angenommen. Als Mitgründer der New America Foundation hilft er junge Generalisten auf den Weg in die elite media zu bringen, in jenen neuartigen Verständigungsraum der verschiedenen Gruppen der Machteliten und ihrer Hilfsklassen, wo mittels eigener medialer Netze Agenden bestimmt und Denk- und Wahrnehmungsmuster der Bevölkerung vorgeprägt werden (vgl. Chomsky 1969/2002; Herman u. Chomsky 1988). Wie man in diesem Raum der elite media Ratschläge formuliert und platziert, versteht Mead wie kaum ein anderer. The New America Foundation, die 1999 aus der Taufe gehoben wurde, ist inzwischen der „heißeste liberale Think Tank der ganzen Nachbarschaft. Mit einem Budget von jährlich nur 4 Millionen Dollar ist er in kürzester Zeit zu einem major player geworden.“8 Von den dort geförderten jungen Denkern – nur 20 Fellowships, auf jede freiwerdende Stelle gibt es 400 Bewerbungen – brachten es gleich drei auf eine Liste des »Esquire« Magazins von „Leuten und Ideen, die unser Leben künftig verändern werden“.9 Das Neue an dieser Stiftung ist, dass ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter (Fellows) gehalten sind, ihre Berichte und Abhandlungen nicht in den Schubladen irgendeines Senators oder Kongressabgeordneten verschwinden zu lassen, sondern auf den Meinungsseiten der nationalen Presse zu veröffentlichen. Zu diesem Zweck gibt es beispielsweise Vereinbarungen mit dem Magazin »Atlantic Monthly«, die Fellows gestatten, im Jahr 15 Artikel, einschließlich einer jährlichen cover story, zu publizieren. Manche sagen, The New American Foundation sei inzwischen von der Kerry-Kampagne vereinnahmt worden. Konzept und Perspektiven reichen aber weit über einen solchen unmittelbaren Zweck hinaus.

Die amerikanischen Generalisten bilden sich weiter, sie geben ihren superreichen Laien-Lesern Stoff zum Denken, sie bilden sich, bevor sie sich an jenen Höfen versammeln, unauffällig auf globalen Pfaden weiter, sie lesen Nietzsche und Max Weber, Luhmann und Habermas, Hardt und Negri – sie treffen sich mit Studenten in Wladiwostok und Riga, Caracas und Havanna, sie sind die wandernden Scholaren der Gegenwart, nett und bescheiden, fleißig und belesen – und wenn sie es auch nur in diesem umfassenden, generalistischen Sinne sind, so ist es doch gut so. Nur: es wäre ganz schön, gäbe es solche Denkräume auch noch woanders, gefördert von anderen Personen, die der Danksagung wert wären – jedenfalls, so lange es keine Alternative zu dieser Privatisierung des Wissens und der Macht zu geben scheint.

Literatur

Chomsky, N. (1969): American Power and the New Mandarins, New York 2002.

Dye, Th. R. (2002): Who’s Running America?, Seventh Edition, Prentice Hall.

Herman, E. S. u. N. Chomsky (1988): Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media, New York.

Krysmanski, H. J. (2001): Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne, Münster.

Mead, W. R.(2001): Special Providence: American Foreign Policy and How it Changed the World, New York.

Shoup, L. u. W. Minter (1977): Imperial Brain Trust: The Council on Foreign Relations and Foreign Policy, New York.

Anmerkungen

1) Angaben zur Zusammensetzung der Steuerungsgremien, einschließlich des International Advisory Board (u.a. mit den deutschen Mitgliedern Otto Graf Lambsdorf und Horst Teltschik), sind über die CFR-Website leicht zu eruieren: www.cfr.org

2) So schreibt Robert Scheer in einem Playboy-Interview über Nelson Rockefeller: „Rockefeller sagt von Henry (Kissinger), er sei klug, so wie man von einer Frau sagt, sie habe einen hübschen Hintern – es ist ein nützliches Attribut, es regt einen sogar an, aber es ist käuflich.“ (Playboy, April 1976)

3) einem kleinen linksliberalen, später mit der New School for Social Research verbundenen Think Tank

4) vgl. http://www.cfr.org/bio.php?id=3495

5) dazu z.B. die docu-fiction Die Tagebücher einer Nanny von Emma McLaughlin u. Nicola Kraus, München 2003

6) Groton hatte schon Franklin D. Roosevelt geprägt

7) vgl. http://globetrotter.berkeley.edu/people3/Mead/mead-con0.html

8) The Washington Post, Nov. 25, 2002, 3

9) Esquire, Nov. 2002

Dr. Hans Jürgen Krysmanski, em. Professor für Soziologie an der Universität Münster

Deutsche und amerikanische Think Tanks

Deutsche und amerikanische Think Tanks

Voraussetzungen für ihr Wirken

von Josef Braml

Think Tanks – fast ausschließlich privat finanziert – sind für die US-amerikanische Öffentlichkeit selbstverständlich. In Deutschland – weitgehend staatsfinanziert – stehen sie nur selten mal im Rampenlicht. Der Autor geht der Frage nach, wie verwoben die amerikanischen und deutschen Denkfabriken jeweils mit ihrer institutionellen, rechtlichen, finanziellen, arbeitsmarktspezifischen, technologie-/medienspezifischen, intellektuellen und zunehmend wettbewerbsorientierten Umwelt sind. Er vergleicht die unterschiedlichen Mittel und Wege, die deutsche und amerikanische Think Tanks nutzen, um bestmöglich in ihrem spezifischen Marktkontext zu operieren und auf diesen Einfluss zu nehmen.

Think Tanks sind praxisorientierte Forschungsorganisationen des Dritten Sektors,1 deren erklärte Zielsetzung es ist, auf den politischen Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen, indem sie mehrere, für sie charakteristische Kommunikationsrollen ausüben:

•Rolle der politikrelevanten Forschung: Ein Think Tank ist gut beraten, einen sowohl wichtigen als auch unterscheidbaren Kommunikationsbeitrag zu leisten; das heißt, ein Think Tank sucht sich mit Hilfe von Beiträgen, die auf eigenen oder synthetisierten wissenschaftlichen Expertisen beruhen, von anderen Organisationen und konkurrierenden Think Tanks abzugrenzen, und nicht zuletzt damit auch einen (wahrgenommenen) Einfluss auf die Politikgestaltung auszuüben.

•Rolle der Transmission und Interpretation: Dafür ist es notwendig, dass die Kommunikation über private oder öffentliche Kanäle wirksam wird, dass also eine Interpretation sowie eine Transmission in zentrale politische Entscheidungen erfolgt.

•Konvokationsrolle, Netzwerksrolle, Rekrutierungsrolle und Elitentransferrolle: Wegen der spezifischen Beschaffenheit der Kommunikationskanäle – Stichwort »Gatekeeper« – sind Think Tanks oftmals genötigt, ihre eigenen Kommunikationsforen und -netzwerke zu etablieren sowie Emissäre für ihre Expertisen zu rekrutieren, auszubilden und in die politische Welt zu senden.

Empirische Befunde legen den Schluss nahe, dass ihre »Raison d’être«, ihre auszuübende Rolle, vom jeweiligen Kontext abhängt. Aus vergleichender Perspektive betrachtet, erweist sich die strategische Orientierung von amerikanischen und deutschen Think Tanks jeweils als verwoben mit ihrer institutionellen, rechtlichen, finanziellen, arbeitsmarktspezifischen, technologie-/medienspezifischen, intellektuellen und zunehmend wettbewerbsorientierten Umwelt.

Die Verbundenheit von Think Tanks mit ihrer spezifischen Umwelt bedeutet, dass nicht jede erfolgreiche Strategie amerikanischer Think Tanks problemlos auf den deutschen Kontext übertragen werden kann. Das heißt jedoch nicht, dass deutsche Think Tanks nichts aus den Erfahrungen anderer Länder lernen können. Vielmehr dürfte es ausgesprochen lehrreich sein, sich den Einfluss von externen Kräften auf das spezifische Verhalten amerikanischer Think Tanks vor Augen zu halten. Umgekehrt können auch deutsche Erfahrungen als Referenzrahmen dienen, um die Besonderheiten, Chancen und Gefahren des sich verändernden US-Kontextes auszumachen und mögliche Alternativen zum »American way of think tank business« aufzuzeigen.

Tatsächlicher Einfluss versus Einfluss des wahrgenommenen Einflusses

Wissenschaftliche Beobachter und Praktiker stimmen darin überein, dass es sehr schwierig ist, den wirklichen Einfluss von Think Tanks zu ermessen. Für R. Kent Weaver „ist es genuin schwierig, den Einfluss zu beurteilen, den Think Tanks einzeln oder generell auf den legislativen Entscheidungsprozess ausüben; die meisten Belege dafür sind eher anekdotenhaft. Es ist schwierig, den Ursprung von Ideen mit Sicherheit nachzuweisen, weil der legislative Prozess meistens sehr langwierig ist und eine Vermengung verschiedener Vorschläge beinhaltet. Erfolgreiche Vorschläge haben viele Väter; Misserfolge sind Waisen. Es ist noch schwieriger, den Einfluss eines Think Tank im Vergleich zu einem anderen zu bestimmen, weil die verschiedenen Mittel und Wege der politischen Einflussnahme nicht miteinander vergleichbar sind, sowohl hinsichtlich der Art des Einflusses als auch was den Zeitrahmen angeht, in dem sich das Wirken von Think Tanks erwartungsgemäß manifestieren könnte.“2 Winand Gellner wiederum verweist auf Gespräche, die er im Frühjahr/Sommer 1990 in Berkeley, Kalifornien mit Nelson Polsby führte. Dabei habe Polsby deutlich gemacht, „dass er es für zwecklos halte, nach direkten Auswirkungen von Think-Tank-Aktivitäten zu fragen. Solche Fragen könne nur stellen, wer die Komplexität des politischen Prozesses nicht in Rechnung stelle. In Einzelfällen, »case studies« eben, seien Nachweise durchaus möglich, systematisch überzeugende Erklärungen wohl eine Illusion.“3

Demnach erscheint es ergiebiger, den wirklichen Einfluss von Think Tanks fallweise nachzuzeichnen.4 Während einige Fallstudien diese Forschungslücke bereits schließen helfen, bleibt ein weiteres Forschungsdesiderat bestehen: eine Antwort auf die Frage nach wahrnehmungsbedingten Auswirkungen auf Verhalten und Organisationsmuster von Think Tanks, die Einfluss anstreben und ihn auch demonstrieren wollen. Im Folgenden soll es deshalb vornehmlich darum gehen, den Einfluss des wahrgenommenen Einflusses systematisch zu erklären. Denn nicht minder wichtig als der eigentliche, »wahre« Einfluss, den ein Think Tank ausübt, ist der tatsächlich perzipierte Einfluss, der die spezifischen Chancen auf den Marktplätzen für Ideen und Finanzierung bestimmt und damit eine Wirkung auf das Organisationsverhalten der verschiedenen Think-Tank-Typen in beiden Ländern zeitigt.

Marktplätze für finanzielle Ressourcen und für Ideen

Eine empirische Analyse des jeweiligen Verhältnisses zwischen dem Marktplatz für finanzielle Ressourcen und dem Marktplatz für Ideen5 ermöglicht es aufzuzeigen und zu erklären, inwiefern bzw. warum Think Tanks unterschiedliche Mittel und Wege nutzen, um bestmöglich in ihrem spezifischen Marktkontext zu operieren und auf diesen Einfluss zu nehmen. Unter institutionellen Gesichtspunkten erscheint das Verhältnis zwischen Think-Tank-Ressourcen und ihrem Output, graphisch vereinfacht, wie in Abbildung 1 dargestellt.

  • In Deutschland führt die überwiegend öffentliche/staatliche Finanzierung in der Regel zu einem »privaten«, eliteorientierten Output;
  • die hauptsächlich private Finanzierung in den USA hingegen zeitigt tendenziell einen zivilgesellschaftlich orientierten Output, der einer breiteren Öffentlichkeit »zugänglicher« ist.

Nicht zuletzt das asymmetrische Verhältnis zwischen der überwiegenden Staatsfinanzierung deutscher Think Tanks und ihrer tendenziell privaten bzw. vertraulichen Beziehung zum politischen Entscheidungsprozess liefert häufig Anlass zur Kritik: Während ihre üppigen staatlichen Zuwendungen weithin bekannt sind und von den Medien oftmals kritisch kommentiert werden, sind ihre wissenschaftlichen Dienstleistungen der Öffentlichkeit weniger vertraut. Angesichts zunehmend engerer staatlicher Finanzierungsspielräume sind Think Tanks gefordert, ihre »Raison d’être« zu behaupten, indem sie ihre Rolle (neu) definieren und zum Ausdruck bringen. In dieser Situation wird gerne das amerikanische Vorbild bemüht und die Tradition des amerikanischen Pragmatismus als Referenzrahmen herangezogen.

Vorbild Amerika?

Die entscheidende Frage: „Warum ist in Amerika Politikberatung selbstverständlich, während sie bei uns als Luxus gilt?“ stellte Roman Herzog in seinem Vortrag bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).6 Als Ursachen wurden genannt die „Kurzatmigkeit“ der deutschen Tagespolitik auf der einen Seite und das „Problem der Umsetzung“ von Erkenntnissen der deutschen Wissenschaft auf der anderen.

Doch auch in den Vereinigten Staaten ist – ungeachtet der ihnen zugebilligten Vorbildfunktion – nicht alles Gold, was glänzt: „Es ist offensichtlich, dass in den vergangenen Jahrzehnten grundlegende Veränderungen der Eigenschaften und Arbeitsweisen von Think Tanks stattgefunden haben, was sich in einer Politisierung der Beratung amerikanischer Politik widerspiegelt. In den ersten Jahrzehnten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Think Tanks allgemein als objektive und sehr glaubwürdige Produzenten von Expertisen für politische Akteure angesehen. In der heutigen, viel dichter besiedelten Think-Tank-Landschaft werden sie zunehmend zu streitsüchtigen Advokaten in balkanisierten Debatten über politische Richtungsentscheidungen, oder werden zumindest so wahrgenommen.“7 Anders ausgedrückt, mit der stärkeren Betonung der Konkurrenz auf den so genannten Marktplätzen für Ideen und für finanzielle Ressourcen haben sich auch die Kommunikations- bzw. Finanzierungsmittel und -wege amerikanischer Think Tanks grundlegend verändert.

Die vorliegende Zusammenfassung von Forschungsergebnissen8 will einen Beitrag dazu leisten, die unterschiedlichen Mittel und Wege zu verstehen, welche deutsche und amerikanische Think Tanks nutzen, um bestmöglich in ihrem spezifischen Marktkontext zu operieren und auf diesen Einfluss zu nehmen.

Intellektueller Nährboden für Unabhängigkeit

Verschiedene intellektuelle Nährböden legen amerikanischen und deutschen Think Tanks unterschiedliche Arten der Alimentierung nahe. Privatfinanzierung von Stiftungen, Wirtschaftsunternehmen und Einzelpersonen gilt amerikanischen Think Tanks als Garant für ihre »Unabhängigkeit« – vom Staat. Deutschen Think Tanks hingegen geht es vorrangig darum, als von der Wirtschaft bzw. vom privaten Sektor »unabhängig« wahrgenommen zu werden, was durch eine überwiegende Staatsfinanzierung von Bund und Ländern sichergestellt wird. Diesseits des Atlantiks gilt es also, sich dem korrumpierenden Einfluss privaten Geldes zu erwehren, auf der anderen Seite sieht man seine Unabhängigkeit eher durch den dirigistischen Einfluss des Staates gefährdet.

Finanzierung

Die Finanzierungspraktiken deutscher und amerikanischer Think Tanks entsprechen diesen Wahrnehmungsmustern. In den USA nehmen nur vier von zehn Instituten überhaupt staatliches Geld an. In der Bundesrepublik hingegen bestätigen neun von zehn Think-Tank-Managern, dass sie staatliche Finanzierung erhalten. Mit anderen Worten: Verglichen mit den 60% der amerikanischen Think Tanks, die grundsätzlich keine staatliche Finanzierung annehmen, ist die Zahl rein privat finanzierter Think Tanks in der BRD sehr gering: Nur knapp 10% der deutschen Think Tanks nehmen überhaupt kein staatliches Geld.9

Die dominante Staatsfinanzierung deutscher und die überwiegende Privatfinanzierung amerikanischer Think Tanks wird um so deutlicher, wenn man die absoluten Zahlenverhältnisse betrachtet: Der durchschnittliche Finanzierungsmix deutscher Think Tanks beträgt zwei drittel staatliche und ein drittel private Mittel. Amerikanische Think Tanks beziehen im Schnitt 86% ihrer Einnahmen aus privaten Mitteln und nur zu 14% vom Staat.10

Zwischenfazit: Viel mehr deutsche als amerikanische Think Tanks beziehen überhaupt staatliche Mittel, und deren Umfang ist in Deutschland auch wesentlich höher als in Amerika.

Ein noch differenzierteres Bild der jeweiligen Finanzierungspraktiken ergibt sich, wenn man die Art und Weise der Zuwendungen vergleicht. Im deutschen Kontext fallen schnell die Kategorien staatlicher Finanzierung durch Bund und Länder ins Auge. Anders in den USA, wo private Finanzierungsformen dominieren (Abbildung 2). Hier sind Zuwendungen von Stiftungen an erster Stelle, gefolgt von Spenden von Unternehmen und Privatpersonen.

Orientierung

Die verschiedenen Finanzierungsformen korrespondieren mit unterschiedlichen institutionellen Orientierungen. Der breitere Fokus amerikanischer Think Tanks, der sowohl den engeren politischen als auch den nichtstaatlichen Bereich umfasst, reflektiert deren Verbundenheit mit dem privaten Sektor. Hingegen weisen überwiegend staatlich finanzierte deutsche Think Tanks eine engere Ausrichtung auf zentrale (politische) Entscheidungsträger auf, die in der einen oder anderen Form mitbestimmend sind für ihre Finanzierung. Die Graphik (Abbildung 3) illustriert die verschiedenen Zielgruppen deutscher und amerikanischer Think Tanks:

Vor diesem Hintergrund erscheint die deutlich stärkere Hinwendung amerikanischer Think Tanks zu Wirtschaft und Medien um so plausibler. Das Datenmaterial in Abbildung 4 verdeutlicht, wie unterschiedlich deutsche und amerikanische Think-Tank-Manager die Bedeutung ihrer Mediensichtbarkeit für ihre Finanzierung bewerten.

Eine gute Beziehung zu den Medien zahlt sich für US-Think-Tanks im wahrsten Sinne des Wortes aus. Denn eine Symbiose mit den Medien erhöht nicht nur die Sichtbarkeit eines Think Tanks, sondern seine Chancen auf private Weiterfinanzierung.

Deshalb sind Think Tanks in den USA den Medien gegenüber generell aufgeschlossener und um Medienpräsenz bemüht; auch investieren sie mehr finanzielle und personelle Ressourcen in medienbezogene Aktivitäten und managen ihre »Public Relations« professioneller, was sich nicht zuletzt in einer spektakuläreren Produkt- und Servicepalette zeigt (siehe Abbildung 5).

Humankapital

Die unterschiedlichen Orientierungen (und nicht zuletzt auch Mobilitätsmuster bei der Karriereplanung) spiegeln sich auch in den Qualifikationsanforderungen und -profilen der wissenschaftlichen Mitarbeiter wider. Amerikanische Think Tanks legen im Vergleich zu deutschen Instituten deutlich höheren Wert auf praktische Erfahrung (government experience), politische Orientierung, Fähigkeiten im Umgang mit den Medien und spezifische Politikfeldkenntnisse. Deutsche Think Tanks wiederum benennen die akademische Qualifikation und Reputation als wichtigste Kriterien bei der Einstellung und Beurteilung/Beförderung von Mitarbeitern im Forschungsbereich (siehe Abbildung 6).

Diese unterschiedlichen Qualifikationskriterien passen zum jeweils vorherrschenden Selbstbild. Während sich amerikanische Forscher eher zur praxis- und politikorientierten Zunft rechnen, sehen sich viele deutsche Sozialwissenschaftler als akademische Freiheit genießende Theoretiker. Deutsche Sozialwissenschaftler sind in erster Linie auf ihre akademische Reputation bedacht, die nicht zuletzt häufig dafür ausschlaggebend ist, ob eine staatliche Finanzierung gewährleistet werden kann (Stichwort DFG-Mittel und finanziell relevante Beurteilungen durch den Wissenschaftsrat).

Erforderliche Umorientierung?

Vor dem Hintergrund der angespannten öffentlichen Haushaltslage in der Bundesrepublik Deutschland gewinnt jedoch die Frage besondere Bedeutung, inwiefern es auch deutschen Think Tanks gelingen könnte, fehlende staatliche Unterstützung mit privaten Mitteln zu kompensieren. Was wären mögliche (unbeabsichtigte) Wirkungen einer derartig grundlegenden Veränderung der Rahmenbedingungen?

In der Bundesrepublik Deutschland wurden bereits gesetzliche Regelungen verabschiedet, um philanthropische Aktivitäten im privaten Sektor anzuregen.11 Das Potenzial hierfür wäre enorm: „Zum erstenmal in diesem Jahrhundert wurde privater Wohlstand weder durch Krieg noch durch Inflation zerstört, sondern kann ungeschmälert auf die nachfolgende Generation übertragen werden. Allein das private Geldvermögen [betrug Ende der 90er Jahre] etwa 5 Billionen DM und [war] damit so hoch wie nie zuvor.“12 Für das Jahr 2002 errechnete die Bundesbank einen Betrag von 3,7 Billionen Euro Geldvermögen. Auch nach Abzug der Verbindlichkeiten bleiben den privaten Haushalten 2,1 Billionen Euro Nettogeldvermögen zur Verfügung.13

Die Änderung des rechtlichen Rahmens hat optimistische Erwartungen geweckt, in Deutschland könne eine philanthropische Kultur entstehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die steuerlichen Anreize zur Gründung und Förderung privater Stiftungen sich auch für politikrelevant forschende Think Tanks auszahlen.

Um dieses Potenzial an privaten Mitteln zu nutzen, müssten sich auch deutsche Think Tanks verstärkt auf die Zusammenarbeit mit den Medien einlassen und ihre PR-Arbeit professionalisieren. Sie sollten sich wie ihre Kollegen in den USA verstärkt um Symbiose mit den Medien bemühen, um ihre Sichtbarkeit – und damit auch ihre Aussichten auf Privatfinanzierung – zu verbessern.

Extrem politisiert wie das private Finanzierungs- und auch das Medienumfeld in der Bundesrepublik Deutschland ist, böte es – so die generelle Einschätzung deutscher Think-Tank-Manager (vgl. Abbildung 7) –, advokatischen Think Tanks mit eindeutiger politischer Positionierung auch hierzulande eine wesentlich bessere Ausgangslage: sowohl im Hinblick auf ihre Attraktivität bei potenziellen Sponsoren als auch hinsichtlich ihrer Medienpräsenz, die wiederum ausschlaggebend für die Finanzierungsaussichten ist. Mit anderen Worten: Eine Umstellung der finanziellen Rahmenbedingungen von überwiegend öffentlicher auf stärker private Finanzierung würde auch in der Bundesrepublik eine Politisierung der Think-Tank-Expertisen zur Folge haben – wenn nicht sogar einen ähnlichen Grad an Ideologisierung hervorrufen wie sie in Amerika vorherrscht.

Europäische Zukunftsperspektiven

Auch im Zuge der europäischen Integration verändern sich die Bedingungen für deutsche Think Tanks. Nicht nur ist die D-Mark in einer gemeinsamen europäischen Währung aufgegangen; in dem dadurch veränderten Umfeld ist es auch denkbar, dass die Think-Tank-»Währung« eine andere Denomination annimmt. Im bisherigen nationalen Kontext gelten staatliche Mittel als Garant für »Unabhängigkeit« der Think Tanks von privaten Ressourcen und deren Einfluss. Doch in einem sich ändernden geopolitischen Umfeld können Partikularinteressen schnell als nationale und damit als »öffentliche Güter« deklariert und wahrgenommen werden und wären insofern nicht denselben argwöhnischen Vermutungen ausgesetzt wie es etwa finanzielle Mittel von organisierten Partikularinteressen im nationalen Kontext sind.

Ferner vermögen in einem sich wandelnden geopolitischen Umfeld neue Themen- und Politikfelder durchaus dazu beizutragen, dass bestehende nationale Verkrustungen aufbrechen – im US-Kontext auch »iron triangles« genannt. Interessengruppen und andere Akteure sind auf der supranationalen Ebene in ihrem Manövrierraum weniger durch die potenzielle Machtrolle politischer Parteien – der traditionellen Türsteher (gatekeepers) – eingeschränkt und haben einen leichteren Zugang zu einer steigenden Zahl (mit)entscheidender Akteure. Anstatt sich wie bisher nur auf etablierte direkte und private Kommunikationskanäle zu »ihren« Regierungen zu verlassen, könnte – was durchaus vorstellbar ist – ein erweiterter Kreis von Akteuren versuchen, eine steigende Anzahl von politischen Entscheidungsträgern auf den verschiedenen, sich weiterhin differenzierenden Entscheidungsebenen über die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch in diesem zunehmend komplexen und unübersichtlichen Umfeld steht zu erwarten, dass der wahrgenommene Einfluss wichtiger ist als der »wahre«, wirkliche Einfluss, den Think Tanks ausüben. Zweifelsohne wird sich aber der Einfluss der wahr-genommenen Einflüsse in neuen organisatorischen Strukturen manifestieren. Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen erhöhen demnach die Bedeutung der Medien und rücken Think Tanks stärker ins öffentlichkeitswirksame Rampenlicht. In einem sich solcherart wandelnden (institutionellen) Umfeld erscheint eine Symbiose zwischen Think Tanks und Medien als plausible Option auch für deutsche Think Tanks, wollen sie ihre kommunikative Nische auf dem europäischen Ideen- und Finanzierungsbasar behaupten.

Anmerkungen

1) Think Tanks sind Organisationen des Dritten Sektors, welche in rechtlicher Hinsicht einen Gemeinnützigkeitsstatus genießen und vom zentralen politischen Entscheidungssystem »unabhängig« sind. Diese flexible Definition ist besonders brauchbar für vergleichende Analysen, denn je nach nationalem Kontext können Think Tanks entweder mehr mit dem zentralen politischen Entscheidungssystem verbunden oder stärker im privaten Sektor verwurzelt sein. Zudem kann sich die jeweilige Anbindung im Laufe der Zeit verändern. Während die Definition von Think Tanks ein breites Spektrum – vom privaten Sektor bis hin zum politischen Entscheidungssystem im engeren Sinne – umspannt, ermöglicht sie gleichzeitig auch Abgrenzungen. An den beiden Endpunkten des Kontinuums schließt die Definition einerseits Organisationen aus, welche privatrechtlich organisiert sind und keinen Gemeinnützigkeitsstatus geltend machen können; andererseits gelten auch Organisationen nicht als Think Tanks, die einen integralen Teil des zentralen politischen Entscheidungssystems darstellen bzw. allgemein als von diesem nicht ausreichend unabhängig wahrgenommen werden.

2) Vgl. R. Kent Weaver (1995): Think Tanks. In The Encyclopedia of the United States Congress, Vol. 4. Donald C. Bacon, Roger H. Davidson, and Morton Keller (Hrsg.), 1957-1959, New York, Simon & Schuster, S. 1959.

3) Vgl. Winand Gellner (1995): Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 22.

4) Winand Gellner führt folgende Arbeiten im deutschen Sprachraum an, die sich um empirische Nachweise bemühen: Martin Müller (1988): Politik und Bürokratie – Die MBFR-Politik der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1967 und 1973. Mit einer Einführung von Uwe Nerlich, Baden-Baden, Nomos; Gerhard Timm (1989): Die wissenschaftliche Beratung der Umweltpolitik. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Wiesbaden, Deutscher Universitäts-Verlag; Matthias Küntzel (1992): Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Frankfurt/Main, New York, Campus. Für den amerikanischen Kontext erarbeitete Andrew Rich ausführliche Fallstudien zum Einfluss von Think Tanks in der Gesundheits- und Telekommunikationspolitik: Andrew Rich (1999): Think Tanks, Public Policy, and the Politics of Expertise, Dissertation, Yale University.

5) Diese für die vorliegende Analyse grundlegende Unterscheidung wurde von James McGann und R. Kent Weaver vorgeschlagen: „Damit Think Tanks ihre Aufgabe erfüllen können, den politischen Entscheidungsprozess zu bereichern, müssen sie auf zwei unterschiedlichen Märkten operieren: auf einem Finanzmarkt und auf einem Markt für politische Beratung. Manchmal überlappen sich diese Märkte. […] Häufiger jedoch sind Sponsor und Adressat der Politikberatung nicht identisch.“ Vgl. James G. McGann und R. Kent Weaver (2000): Think Tanks and Civil Societies in a Time of Change. In Think Tanks and Civil Societies. Catalysts for Ideas and Action. James G. McGann und R. Kent Weaver (Hrsg.), S. 1-35. New Brunswick, NJ und London, Transaction Publishers. (S. 13; Übersetzung J.B.).

6) Roman Herzog: Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Ansprache des Bundespräsidenten am 13.3.1996 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen. SWP Paper (Mai 1996, S. 25). Vgl. auch Süddeutsche Zeitung: Mehr Wissenschaft für die Politik, Süddeutsche Zeitung, 15.3.1996. Oder Frankfurter Allgemeine Zeitung: Herzog setzt sich für Denkfabriken ein, FAZ, 15.3.1996, S. 4.

7) Andrew Rich und R. Kent Weaver (1998): Advocates and Analysts: Think Tanks and the Politicization of Expertise. In Interest Group Politics,Allan J. Cigler und Burdett A. Loomis (Hrsg.), S. 235-254, Washington, DC: Congressional Quarterly Press. (S. 250; Übersetzung J.B.).

8) Ausführlicher dazu Josef Braml: Think Tanks versus „Denkfabriken“? U.S. and German Policy Research Institutes‘ Coping with and Influencing Their Environments; Strategien, Management und Organisation politikorientierter Forschungsinstitute (dt. Zusammenfassung), Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 68, Stiftung Wissenschaft und Politik, Baden-Baden, Nomos, 2004.

9) n = 116, 63 US, 53 BRD. Erwähnt sei die Tatsache, dass auch »rein privatfinanzierte« Think Tanks von staatlichen Steuerungsmechanismen in Form ihrer Steuerbegünstigung oder den Steuererleichterungen ihrer Sponsoren profitieren.

10) n = 106, 59 US, 47 BRD.

11) Ausführlicher dazu siehe Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) (2004): Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts, Berlin, Maecenata Verlag.

12) Siehe Einleitung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (1998): Handbuch Stiftungen. Ziele – Projekte – Management – Rechtliche Gestaltung, Wiesbaden; Gabler, S. 3-4. Vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Mai 1997, S. 29-41.

13) Siehe Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Juni 2003, S. 42.

Dr. Josef Braml ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin. Davor war er Projektleiter des Aspen Institute Berlin, Consultant der Weltbank, Gastwissenschaftler der Brookings Institution in Washington, DC sowie Congressional Fellow der American Political Science Association (APSA) und legislativer Berater im amerikanischen Abgeordnetenhaus

Trojanische Pferde des Westens?

Trojanische Pferde des Westens?

Russlands »Denkfabriken« – Masse statt Klasse

von Peter Linke

In den letzten Jahren schossen sie wie Pilze aus dem Boden – politische »Denkfabriken« verschiedenster Coleur: politologische Forschungszentren, die den innen- und außenpolitischen Gegebenheiten Russlands intellektuell Gestalt und Struktur verleihen möchten; Meinungsforschungsinstitute, die behaupten zu wissen, was Russlands »große« und »kleine« Leute wirklich denken; Consulting-Agenturen, die mit vermeintlichem Insider-Wissen das große Geld verdienen wollen.

Denkfabriken sind in, gelten als anstrebenswerte Karriere-Option: Allein in den letzten fünf Jahren hat sich der »Ausstoß« von Aspiranten und Doktoranten im Fachbereich Politologie verdreifacht; entsprechend zugenommen hat die Zahl erfolgreich verteidigter Dissertationen.1 Selbst für viele Politiker und Manager gehört es inzwischen zum guten Ton, ein »Doktor der Gesellschaftswissenschaften« zu sein.

Vor allem westliche Beobachter feiern Russlands neue »Denkfabriken« als Keimzellen wahrhaft pluralistisch-demokratischer Umgangsformen zwischen den Menschen nach Jahrzehnten totalitärer Gleichschaltung.2

Rückblick: Die sowjetischen Denkfabriken

»Denkfabriken« gab es freilich schon in der Sowjetunion. Und Außen- bzw. Wirtschaftspolitik war ihr bevorzugter Arbeitsgegenstand: Konfrontiert mit Nikita Chruschtschows Forderung nach Koexistenz und Wettbewerb mit dem kapitalistischen Westen, kam die Partei- und Staatsführung nicht umhin, sich für die konkreten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs zu interessieren. Der wachsenden Nachfrage nach entsprechenden Analysen entsprach das Sekretariat der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Frühjahr 1956 mit der Gründung eines »Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen« (IMEMO).

Die zunehmende Globalisierung der sowjetischen Außenpolitik und daraus resultierende Konfrontation mit den USA veranlasste die Akademie der Wissenschaften in den späten fünfziger und sechziger Jahren, eine Reihe regionalspezifischer Forschungseinrichtungen ins Leben zu rufen, darunter 1959 ein Afrika-Institut (IA), 1961 ein Lateinamerika-Institut (ILA), 1961 ein Institut zur Erforschung der Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS) sowie 1966 ein Fernost-Institut (IDW). 1967 kam es zur Gründung eines speziellen Instituts für USA- und Kanada-Studien (ISKAN). Zunächst befasst mit komplexen Untersuchungen zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Nordamerikas, avancierte es später in enger Zusammenarbeit mit dem IMEMO zur zentralen sowjetischen »Denkfabrik« für strategische und konventionelle Rüstungsangelegenheiten, Umweltfragen sowie »Nord-Süd«-Beziehungen. Schließlich und endlich reagierte die Akademie auf die wachsende wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas mit der Schaffung eines so genannten Europa-Instituts (IEAN) im Jahre 1988.

Während sich all diese Institute ausschließlich Forschungsaufgaben widmeten, kümmerte sich das 1944 gegründete Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) um die Ausbildung des außenpolitischen Nachwuchses, versorgte aber auch seinen Arbeitgeber, das sowjetischen Außenministerium (MID), regelmäßig mit aktuellen Analyse-Papieren, die in einem so genannten Problem-Laboratorium erarbeitet wurden.

„Die Rolle der sowjetischen Denkfabriken bei der Formulierung innen- und außenpolitischer Leitlinien sollte weder über- noch unterschätzt werden“, resümiert Mitte der neunziger Jahre ein langjähriger Mitarbeiter des IDW. „Führende Forschungsinstitute nahmen sowohl im akademischen als auch politischen Leben eine prominente Stellung ein. Die Direktoren des IMEMO und ISKAN waren Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU und verbrachten viel Zeit damit, Veränderungen in der Politik und daraus resultierende »heiße« Forschungsthemen auszumachen. Sie gehörten hochrangigen offiziellen Delegationen an. Die meisten Direktoren von Forschungsinstituten unterhielten persönliche oder berufliche Beziehungen zu altgedienten ZK-Mitgliedern. Die staatliche Entscheidungsfindungsmaschine war jedoch so ungeheuer groß und rigide, dass es eher schwer fällt, von einer direkten Einflussnahme selbst führender »Denkfabriken« auf den Prozess der Entscheidungsfindung zu sprechen.“3

Den Anfang vom Ende der Dominanz akademischer »Denkfabriken« bei der Erarbeitung außen- und wirtschaftspolitischer Konzepte läutete Michail Gorbatschows Perestrojka ein. Angesichts des ungeheuren Problemdrucks erschienen dem neuen Kreml-Herrn die überkommenen Forschungseinrichtungen als Dinosaurier: zu groß, zu langsam, zu wenig anpassungsfähig. Gefordert wurden schlanke und geschmeidige Strukturen, in denen nicht Hunderte, sondern einige wenige Analysten, nicht langfristig, sondern kurzfristig, nicht akademisch komplexe, sondern praktisch verwertbare Studien auf den Tisch packen.

1990: Tendenz zu nichtakademischen Denkfabriken

Zu den ersten »Denkfabriken«, die versuchten, politische Analyse-Arbeit jenseits der etablierten akademischen Strukturen zu organisieren, gehörten das 1990 von Ex-Premier Jegor Gajdar gegründete Institut für wirtschaftliche Probleme der Übergangsperiode (IEPPP), das im gleichen Jahr von JABLOKO-Chef, Grigorij Jawlinskij, initiierte Zentrum für wirtschaftliche und Politische Studien (EPIzentr) sowie die 1991 von Ex-Außenminister Eduard Schewardnadse ins Leben gerufene Außenpolitische Assoziation (WA), unter dessen Dach eine Reihe lose miteinander verbundene Analysten-Gruppen zu sicherheitsstrategischen, ethnopolitischen und ökologischen Problemen zu arbeiten begannen.

Diese und weitere, insbesondere nach dem Ende der Sowjetunion entstandene nicht-akademische »Denkfabriken« – allen voran das 1992 von Präsident Boris Jelzin per Dekret gegründete Russische Institut für Strategische Studien (RISI)– sollten den traditionellen Forschungsinstituten das Leben merklich erschweren.

Unterfinanzierung der Akademien

Hinzu kamen erhebliche finanzielle Probleme: Waren bis Ende der achtziger Jahre 97 Prozent aller Forschungsmittel aus dem Staatshaushalt gekommen, sollten es 1999 nur noch 49 Prozent sein.4 Im Jahre 2000 standen der Russischen Akademie der Wissenschaften knapp 300 Millionen US-Dollar zur Verfügung, was rund 18 Prozent der Budgetmittel der Akademie der Wissenschaften der UdSSR entsprach. Von diesen 300 Millionen kamen 29 Prozent aus nicht-staatlichen Quellen, 6,7 Prozent aus Mieteinnahmen und 12,1 Prozent aus diversen Ministerien.5 Mit anderen Worten: dem Russischen Staat war seine Akademie der Wissenschaften nicht mehr als 150 Millionen US-Dollar wert.

Die chronische Unterfinanzierung der Akademie der Wissenschaften bewirkte in den letzten Jahren eine nachhaltige Fragmentierung großer Forschungsinstitute in diverse Forschungszentren, deren Handvoll Mitarbeiter eher »Projekt-Manager« denn Forscher sind.

Wachsende Auslandsabhängigkeit

Beschleunigt wird diese Entwicklung durch diverse ausländische Geldgeber, die es in der Regel vorziehen, mit kleinen, überschaubaren Analyse-Strukturen zusammenzuarbeiten. Einige Studien beziffern den Anteil ausländischer Investitionen in russische Forschungsprojekte für das Jahr 1999 mit 16,9 Prozent.6 Andere unterstreichen das besondere Engagement US-amerikanischer Finanziers, die seit Mitte der neunziger Jahre Russlands Wissenschaftler mit jährlich 350 Millionen US-Dollar unterstützt haben sollen.7

Auf alle Fälle unbestritten ist die hohe Abhängigkeit vieler, insbesondere in den neunziger Jahren entstandener politologischer Forschungszentren von ausländischen Geldgebern.8 Nur wenige, wirklich etablierte »Denkfabriken« wie das RISI werden großzügig aus dem Staatshaushalt finanziert oder aus den Töpfen der russischen Privatwirtschaft, wie das Anfang 2002 von Michail Chodorkowskij aus der Taufe gehobene Institut für Angewandte Internationale Studien (IPMI).

Präsident Wladimir Putin hat wiederholt klargestellt, dass Russlands Reformbemühungen ohne Spitzenleistungen auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zum Scheitern verurteilt sind. Mit der unlängst erfolgten Gründung eines Ministeriums für Wissenschaft und Bildung sollen die personellen Voraussetzungen für derartige Spitzenleistungen geschaffen werden. Allerdings: Über den Zusammenhang zwischen erfolgreicher Reformpolitik und humanwissenschaftlicher Forschung hat Russlands Staatsoberhaupt bisher kaum ein Wort verloren.

Die offensichtliche präsidiale Geringschätzung humanwissenschaftlicher Forschung manifestiert sich nicht zuletzt in der Tätigkeit russischer politischer »Denkfabriken«.

Natürlich gibt es einige, die meinungsbildend bis in »höchste Kreise« wirken und deshalb zu recht als sichere »Karriere-Bank« gelten, etwa das bereits erwähnte RISI, aber auch die Ende 1999 von Handels- und Wirtschaftsminister German Gref gegründete Stiftung »Zentrum für strategische Studien« (F-ZSR).

Auch scheinen einige der neu gegründeten quasi-akademischen »Forschungszentren« den Sprung ins pralle Leben geschafft zu haben, wie das 1992 aus dem IMEMO hervorgegangene Zentrum für geopolitische und militärische Prognosen (ZGWP) oder das unter dem Dach des Afrika-Instituts operierende Zentrum für Strategische und Globale Studien (ZSGI).

Selbst das MGIMO hat dank geschickter Kommerzialisierung seiner Lehrangebote seine Stellung als führende außenpolitische Kaderschmiede gegen eine Reihe neu gegründeter IP-Lehrstühle, insbesondere an den Universitäten Moskau, Sankt Petersburg und Nishnij Now-gorod, behaupten können.

Gleichzeitig bleibt die Abhängigkeit dieser und vieler anderer »Denkfabriken« von westlichen, vor allem US-amerikanischen Geldgebern enorm, was sich alles andere als positiv auf die intellektuelle Qualität ihrer »Produkte« auswirkt: „Russlands Wissenschaftler“, grollt der bekannte Politologe Alexej Bogaturow, „ beschränken sich darauf, unsere lokalen Realitäten in eine für westliche Sponsoren und ausländische Leser verständliche Sprache zu übersetzen.“9 Die „westliche Politikwissenschaft“ sei gut für den Westen; das „russische Material“ ließe sich damit nur bedingt bearbeiten. Nötig wäre eine „russische Theorie“, von deren Erarbeitung Russlands Wissenschaftler allerdings nichts wissen wollten. Bogaturow: „Zehn Jahre lang haben wir ausländische Konzepte übernommen. Nun wissen wir, dass westliche Theorien wenig dazu taugen, die in Russland laufenden Prozesse zu erklären. Die westlichen Theorien erwuchsen einem anderem Material, erklärten erfolgreich Realitäten, die für andere politische und geographische Areale charakteristisch waren. Im russischen Kontext konnten sie nur als Ausgangspunkt für eigene Ausarbeitungen dienen. In diesen Ausarbeitungen hätten die Ideen westlicher Kollegen kritisch verarbeitet, der Anwendungsbereich ihrer theoretischen Konstrukte erkundet und revidiert werden müssen, um neues theoretisches Wissen zu generieren. Die Pflicht der russischen Intellektuellen bestand nicht darin, westliches Wissen zu übernehmen und zu propagieren, sondern dem Westen zurückzugeben, was sie ihm intellektuell schuldig waren. Durch Einspeisen originärer (wenngleich, erkenntnistheoretisch betrachtet, durchaus westlicher) Ausarbeitungen in den westlichen Diskurs hätten wir uns nicht nur Klarheit darüber verschafft, inwieweit sich die russische Erfahrung mit den intuitiven Erwartungen des politischen Denkens verträgt, sondern auch Erklärungsvarianten für das geliefert, was in Russland bzw. zwischen Russland und der Welt an realer Entwicklung passiert. An dieser Aufgabe ist unsere Wissenschaft gescheitert. Und sie wird an ihr solange scheitern, bis sie aufhört zu glauben, nur fremde Erfahrungen aufnehmen zu können, Erfahrungen, deren Studium zum Selbstzweck politologischen Eiferns geworden ist. In Wissenschafts- und Bildungszentren der Hauptstadt und der Provinz erweist es sich als prestigeträchtiger, leichter und materiell vorteilhafter, westliche Bücher nachzuerzählen und Studenten zu zwingen, diese auswendig zu lernen, anstatt sich am lebendigen Material der russischen Wirklichkeit die Zähne auszubeißen.“10

Einige gehen noch weiter: Aufgabe russischer Wissenschaftler sei nicht, »westliche Theorie« mit »russischer Theorie« zu verfeinern, sondern zur Herausbildung einer wirklichen »Weltwissenschaft« beizutragen. Bogaturow gehe es lediglich um das lockere Miteinander zweier partikularer, lokaler Varianten wissenschaftlichen Bewusstseins. Nach Meinung des renommierten Historikers und Politikwissenschaftlers Marat Tscheschkow sei dies ebenso kurzsichtig wie gefährlich: Bogaturow reduziere die „westliche Wissenschaft“ auf eine „lokale Erfahrung“, während er die „russische Wissenschaft“ auf die Analyse des „Eigenen“ als das „Besondere“ festnagele. „Im »Eigenen« müssen sich jedoch nicht nur besondere, sondern auch allgemeine Eigenschaften widerspiegeln. Nur so wird das russische wissenschaftliche Bewusstsein die Welt als Ganzes verstehen – oder anders ausgedrückt – die Welt an sich, und nicht nur sich in der Welt verstehen.“11 Bogaturows intellektueller Provinzialismus, sein Insistieren auf die Etablierung einer »russischen Wissenschaft« parallel zur »Wissenschaft des Westens« offenbare einen Autarkismus- und Selbstgenügsamkeitskomplex, an dem das russische wissenschaftliche Denken lange genug gelitten habe.

Während die Gelehrten streiten, machen westliche Sponsoren Nägel mit Köpfen, etwa in Form eines Programms für »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Studien«.12 Von russischen Beobachtern als Versuch gefeiert, in Russland eine „aktive, schöpferische und nicht rein »vermittelnde« Wissenschaft“ zu entwickeln,13 ist dieses im April 2000 von der Washingtoner Carnegie-Stiftung initiierte und inzwischen neun »zwischenregionale gesellschaftswissenschaftliche Institute« oder »Centers for Advanced Studies and Education« (MION) umfassende Programm nicht mehr und nicht weniger als der arrogante Versuch einer nachhaltigen Westernisierung der in Russland laufenden gesellschaftswissenschaftlichen Debatte.

Dass sie auch künftig nicht davon abrücken werden, die Güte russischer Gesellschaftsanalysen am Grad ihrer Westernisierung festzumachen, daran lassen insbesondere US-amerikanische Geber-Institute keinen Zweifel. Wie formulierte es doch unlängst die Präsidentin der Carnegie-Stiftung, Jessica Tuchman Mathews: „Ganz allgemein verbessert sich die Qualität russischer Politik-Analysen, da sich die Forscher zunehmend westlicher/internationaler Forschungs- und Politik-Analyse-Mittel bedienen …“14

Anmerkungen

1) Siehe Andrej Jurewitsch: Retransljator sapadnych konzepzij. In: Nesawisimaja Gaseta, Moskwa, 09.06.2004.

2) Siehe z.B. Jessica Tuchman Mathews: Russian Think Tanks. In: Vedomosti, February 16, 2004 (http:// www.ceip.org/files/publications/2004-02-16-mathews-vedemosti.asp).

3) Vladimir Yakubovsky: A Short History of Russian Think Tanks. In: NIRA Review, Tokyo, Winter 1995 (http:// www. nira.go.jp/publ/review/95winter/yakubo.html).

4) Katri Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks in 2002. UPI Working Papers 38, Helsinki 2003, p. 2.

5) Irina Sandul: A time of self-discovery for the Academy. In: The Russian Journal, June 14-20, 2002, p. 9 – zitiert nach ebenda.

6) Siehe z.B. Irina Dezhina, Loren Graham: Russian Basic Science After Ten Years of Transition and Foreign Support. Carnegie Endowment Working Papers, Number 24, Washington DC, February 2004, p. 29.

7) Pynnöniemi: Russian Foreign Policy Think Tanks…, p. 4.

8) Ebenda.

9) Alexej Bogaturow: Desjat let paradigmy oswoenija. In: Pro et Contra, Moskwa, Bd. 5, No. 1, Winter 2000, S. 198.

10) Ebenda, S. 200.

11) Marat Tscheschkow: Bolesn serjosneje, tschem kashetsja. In: Ebenda, Bd. 5, No. 3, Sommer 2000, S. 199.

12) Siehe Andrej Kortunow, Irina Laktionowa: Gumanitarii objedinjajutsja po setewomu prinzipu. In: Nesawisimaja Gaseta, 14.04.2004.

13) Jurewitsch: s.o.

14) Tuchman Mathews: s.o.

Peter Linke arbeitet als freier Journalist in Berlin

Think Tanks für Abrüstung und Frieden?

Think Tanks für Abrüstung und Frieden?

von Andrew Lichterman

Als Think Tank – Denkfabrik – werden in den USA alle Organisationen bezeichnet, die sich schwerpunktmäßig mit der Erforschung und Analyse von Politik befassen. Die meisten Think Tanks sind angetreten um mit ihrer Arbeit vor allem die Regierung zu informieren und – entweder direkt oder indirekt – zu beeinflussen. Versorgt ein Think Tank auch eine breitere Öffentlichkeit mit Informationen, so beliefert er diese entweder mit abgespeckten Versionen der Materialien, die er zur Beeinflussung von Regierungen erstellt hat, oder er nutzt moderne Techniken der »Public Relations« – ein höflicher Begriff für Propaganda –, um die »öffentliche Meinung« für sich zu gewinnen. Nur wenige sind angetreten, um als Experten sozialen Bewegungen zur Seite zu stehen. Andrew Lichterman über den Einfluss US-amerikanischer Think Tanks auf Rüstung / Rüstungskontrolle und die Friedensbewegung.

Die großen Think-Tanks in den USA konzentrieren sich auf die Lieferung von Informationen mit hohem Gebrauchswert für Regierungsforen, in denen Entscheidungen fallen, und auf Analyseformen, die dort besonders gut ankommen. Nur wenige Think Tanks kümmern sich um Informationen und Unterstützung für soziale Bewegungen.

Dieses Grundmuster ist bei den Themen Rüstungskontrolle und Abrüstung und nationale Sicherheit besonders ausgeprägt. Unter diesen Schlagworten wird in den Vereinigten Staaten der professionelle Diskurs der politischen Mitte über Krieg und Frieden geführt. Allerdings ist hier inzwischen von Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht viel übrig geblieben. Bei dem Thema Abrüstung geht es fast nur noch um die Abrüstung des einen oder anderen potentiellen Gegners und unter Rüstungskontrolle wird vor allem die Sicherung des militärischen Vorteils mit anderen Mitteln verstanden; es geht um die Nutzung von Verträgen und Diplomatie zur Beibehaltung möglichst vieler eigener militärischer Fähigkeiten bei gleichzeitiger Begrenzung derer anderer Länder. Die meisten Rüstungskontrollexperten der USA arbeiten im Inland, aber auch im Ausland, direkt für die Regierung oder für Organisationen, die sich explizit oder implizit als Berater der Regierung verstehen. Abrüstung und Frieden brauchen aber Menschen auf der ganzen Welt, die die zur Gewaltanwendung neigenden Eliten und bewaffneten Bürokratien in ihren jeweiligen Ländern unter Kontrolle bringen.

In den Vereinigten Staaten ist aber der Abstand größer geworden zwischen denjenigen, die in sozialen Bewegungen aktiv sind, und denen, die behaupten, sie in den Machtzentren bei Themen wir Krieg und Frieden, Rüstungskontrolle und Abrüstung zu vertreten. Teilweise ist das auf die immer geringere politische Mobilisierung in den Vereinigten Staaten zurückzuführen. Sichtbar wird das auf jeder Ebene, vom lokalen Engagement der ehrenamtlich Aktiven bis hin zur Wahlbeteiligung. Die neuen sozialen Bewegungen, die sich in den 1960ern herausbildeten, bewirkten in den Vereinigten Staaten erhebliche soziale Reformen, die Ausweitung von Bürgerrechten, zahlreiche Umweltschutzmaßnahmen und eine gewisse Begrenzung der militärischen US-Interventionen rund um den Globus. Im Rückblick muss man wohl sagen, dass diese Bewegungen etwa Mitte der 1980er ihren Höhepunkt überschritten haben.

Zu ihrem Niedergang trugen viele Faktoren bei, nicht zuletzt eine starke und selbstbewusste Gegenbewegung der Rechten. Außerdem wurden in den letzten zwei Jahrzehnten nur wenig Geld und fast keine systematischen Überlegungen in die lokale Organisation und den Aufbau von Institutionen investiert, die Voraussetzung für sozialen Wandel sind. Am progressiven Ende des politischen Spektrums wurden, insbesondere im Zusammenhang mit Frieden und Abrüstung, die Mittel überwiegend in solche Initiativen gelenkt, die kurzfristig die Gesetzgebung und Wahlpolitik beeinflussen sollten. In den späten 1980ern und frühen 1990ern zogen sich etliche große amerikanische Friedensorganisationen von lokalen und regionalen Aktivitäten zurück und schlossen ihre lokalen Büros, setzten aber gleichzeitig die Arbeit in Washington fort und »professionalisierten« sie zunehmend. Einen deutlichen Umbruch erzwang auf jeden Fall das Ende des Kalten Krieges, mit dem auch die Angst verschwand, die für viele Amerikaner die Triebfeder zur Unterstützung von Friedens- und Abrüstungsinitiativen gewesen war.

Mehr Lobbyarbeit aber weniger vor Ort

Die meisten Organisationen setzten jetzt zwar ihre professionalisierte Forschungs- und Lobbyarbeit in den Machtzentren fort, das hatte aber zur Folge, dass sie weniger zur Organisation von Aktivitäten in der breiten und vielfältigen politischen Landschaft der USA beitragen konnten.

Bis zu einem bestimmten Grad war diese Entwicklung seit Anfang der 1980er Jahre unausweichlich. Die Freeze-Kampagne war der gezielte Versuch, dem Kongress und der Öffentlichkeit nukleare Abrüstung »zu verkaufen«, ohne in die Diskussion Fragen wie Militarismus und Empire einzubeziehen. Gemeinnützige amerikanische Stiftungen drängten die Friedens- und Abrüstungsgruppen noch weiter in diese Richtung, indem sie erhebliche Mittel an solche Gruppen vergaben, die ihre Arbeit auf den zunehmend professionalisierten Diskurs über Rüstungskontrolle und Abrüstung beschränkten. Die Gruppen wurden an den Rand gedrängt, die eine Verbindung herstellten zwischen den astronomischen Militärausgaben der USA und der wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit innerhalb und außerhalb der USA. Das nukleare und konventionelle Wettrüsten wurde von der politischen Mitte größtenteils so dargestellt, als ginge es vor allem darum, die »sowjetische Bedrohung« mit Abschreckung zu kontern. Folglich verschwand für die Allgemeinheit mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die »Bedrohung« – obwohl weiterhin Tausende Atomwaffen stationiert waren und die gigantische Militärmaschinerie der USA weiterrollte. So war es nicht verwunderlich, dass die »Graswurzel«-Unterstützung für die großen Friedens- und Abrüstungsorganisationen schwand. Experten, die jahrelang Rüstungskontrolle nur zur Eindämmung des gefährlichen Wettrüstens mit der Sowjetunion gefordert hatten, blieb jetzt höchstens noch die Kritik an unnötig hohen Rüstungskosten.

Alternative Think-Tanks reduzierten ihre Ziele

Während die Aktivitäten auf lokaler und regionaler Ebene verkümmerten, stellten sich die professionalisierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen auf das sinkende Interesse an Abrüstungsthemen ein und bewegten sich immer mehr im engen Rahmen der politischen Alternativen und Methoden, die in Washington als »glaubwürdig« gelten. Sie beschränken sich inzwischen weitgehend auf die äußerst begrenzten Versuche, die eine oder andere extreme Erscheinungsform eines außer Kontrolle geratenen militärisch-industriellen Komplexes zu verhindern. Selten nur hinterfragen sie die vorherrschende Mär von der »nationalen Sicherheit« und die Definition »nationaler Interessen« der USA. Statt dessen konzentrieren sie sich auf technische Bedenken und die Kostenfrage.

Damit nicht genug: Die allermeisten Think Tanks, Lobbyorganisationen und PR-Agenturen, die sich in den Metropolen des Empire tummeln, repräsentieren konzentrierten Reichtum und Macht. Das American Enterprise Institute, die Heritage Foundation, das National Institute for Public Policy und Dutzende andere üppigst finanzierte rechte Think Tanks und Institute bieten amerikanischen Militärideologen auch dann ein exponiertes Podium und eine institutionelle Heimat, wenn diese gerade keine Machtposition halten. Sind diese wieder in Amt und Würden, verfügen sie mittels der Think-Tanks über einen fast unbegrenzten Nachschub von »Experten« zur Untermauerung ihrer Politik. In der Kapitale des mächtigsten Empires, das die Welt je gesehen hat, sind heute alle diejenigen, die auch nur für einen moderateren Einsatz der Waffen plädieren, in der entschiedenen Minderheit. Kaum jemand spricht sich noch öffentlich gegen das Projekt der globalen militärischen Dominanz im Dienste des Empires aus.

In diesem Klima haben nicht nur die Intellektuellen der Think Tanks sondern auch die Experten der meisten in Washington angesiedelten Friedens- und Abrüstungsorganisationen zunehmend weniger gefordert, weil dies angeblich die einzige »praktische« Strategie zu sein schien. Absichtlich oder unabsichtlich entsteht durch das Ausbleiben einer breiteren, fundamentaleren Politikkritik der Eindruck, die globale militärische Vorherrschaft der USA sei akzeptabel, könnte aber billiger, effektiver und vielleicht mit weniger Risiko erreicht werden. Unfähig oder unwillig, einer alternativen Vision von menschlicher Sicherheit in den USA – und auf der Welt – eine Stimme zu verleihen, bieten die »professionalisierten« Gruppen im Bereich Rüstungskontrolle und Abrüstung wenig, dass zur Inspiration und Mobilisierung der potentiellen Unterstützer von Abrüstungsbemühungen eingesetzt werden könnte. Und schon gar nicht ist dies der Fall, wenn es um Fragen der sozialen, ökonomischen und ökologischen Wurzeln globaler Konflikte geht.

Kompromissstrategien ohne Erfolg …

Daraus resultierten seit dem Ende des Kalten Krieges etliche Kompromiss-Strategien, von denen keine viel mit Abrüstung oder Frieden zu tun hatte. Für vorgeblich »gewinnträchtige« Positionen, beispielsweise zum Umfassenden Teststoppvertrag für Kernwaffen (CTBT) oder zur Raketenabwehr, wurden von Anfang an große Konzessionen gemacht, aber auch sie konnten sich letztlich nicht durchsetzen. Der CTBT und Raketenabwehr gehörten zu den wichtigsten Abrüstungsthemen, um die sich die Rüstungskontroll- und Abrüstungsgruppen in Washington in den 1990ern kümmerten, und dennoch hinterfragte kaum eine der Gruppen die grundsätzliche Legitimation oder den wirklichen Zweck dieser Waffen.

… beim Teststoppvertrag

In der Diskussion über den CTBT und die Zukunft der Kernwaffen stellten sich die meisten Organisationen dem »Stockpile Stewardship-Programm« der Regierung nicht entgegen. Dieses wurde dem Kongress und der Öffentlichkeit als Voraussetzung dafür verkauft, dass die »Sicherheit und Zuverlässigkeit« der Kernwaffenarsenale der USA auch ohne unterirdische Atomwaffentests garantiert werden könnte. In Wirklichkeit entpuppte sich das Programm als Antriebsmotor für die technische, ökonomische und ideologische Neukonsolidierung des Kernwaffen-Establishment, und ermöglicht somit die Neubestückung des Kernwaffenarsenals für die neuen Militärmissionen der Ära nach dem Kalten Krieg. Die Abrüstungsgruppen hielten still, weil sie daran glaubten, dass »Stockpile Stewardship« der politische Preis für die Ratifizierung des CTBT durch die USA sei. Folglich wurden weder die massive Modernisierung des Kernwaffenkomplexes noch die Legitimität von Kernwaffen in Frage gestellt. Und das schon direkt nach dem Ende des Kalten Krieges, als die Zeit für entsprechende Kritik so günstig war wie nie zuvor. Wer eine umfassende Diskussion einforderte, wurde in der Community kritisiert und marginalisiert. Und heute gibt es keinen CTBT, das Kernwaffen-Establishment hat an wirtschaftlicher und politischer Macht gewonnen, die Budgets wurden um Milliarden Dollar erhöht, und wir steuern unaufhaltsam auf die Produktion neuer Kernwaffen mit neuen Fähigkeiten zu.

… bei der Raketenabwehr

Zur Raketenabwehr gibt es zwei Argumentationslinien. Die erste und am häufigsten vertretene kritisiert die Pläne aus technischen Grünen: Die Abwehr strategischer ballistischer Raketen in der Flugphase funktioniert nicht, kostet zu viel und kann von einem einigermaßen ernstzunehmenden Gegner mit einfachen Mitteln getäuscht oder überwältigt werden. Die zweite betont, dass Raketenabwehrsysteme die Stabilität der »nuklearen Abschreckung« bedrohen – ein Argument, das implizit die Legitimität von Abschreckung billigt. Die Behauptung, dass Raketenabwehr lediglich zum Schutz von US-Territorium und –Bevölkerung vor einem überraschenden Angriff mit Kernwaffen dient, wurde kaum jemals angezweifelt. Nur wenige Kritiker wiesen bisher darauf hin, dass die USA mit der Raketenabwehr dem eigentlichen Ziel näher kommen wollen, nämlich auf jeder Ebene in jedem Krieg über »Eskalationsdominanz« zu verfügen, auch in den Kriegen, die von den Vereinigten Staaten selbst ausgehen. Raketenabwehrsysteme mit kürzerer Reichweite zum Schutz von Militärkräften und –basen der USA im Ausland fanden kaum Beachtung. Zusätzlich ermöglichte die Zuspitzung auf die Frage, ob Raketenabwehr überhaupt funktionieren wird, im Parlament den Kompromiss, auf den sich die Demokraten und die damalige Regierung festlegten: Keine Stationierung von Raketenabwehr, aber Milliarden Dollar für die weitere Forschung. Dieser »pragmatische« Ansatz schlug komplett fehl, und heute haben wir zwar keinen Raketenabwehrvertrag mehr aber Forschungsprojekte für zahlreiche Technologien einer mehrschichtigen globalen Raketenabwehr sowie ein rasant wachsendes neues Geschäftsfeld des militärisch-industriellen Komplexes, das wiederum die technologische und politische Basis für die weitere Militarisierung und höchstwahrscheinlich sogar Bewaffnung des Weltraums ist.

Professionalisierter Rüstungs- kontrolldiskurs wenig hilfreich

Diese trostlosen Aussichten verweisen auf eine weitere Konsequenz dessen, dass der professionalisierte Rüstungskontroll-Diskurs die Überlegungen und Aktionen stark einengt. So wie diese Sicht der Welt keinen Platz hat für das transformative Potential sozialer Bewegungen, hat sie auch keinen Platz für systematische Überlegungen über die Folgen die es hat, wenn ein erheblicher Teil der Gelder einer Gesellschaft in Institutionen gepumpt wird, die Waffen entwickeln, herstellen und stationieren. Es ist kein Zufall, dass sich einerseits die Abrüstungsexperten in den Vereinigten Staaten professionalisiert haben und andererseits keine Forschung und Analyse mehr stattfindet zu den Folgen des wissenschaftlich-technisch-militärisch-industriellen Komplexes, einem gängigen Thema der Friedensbewegung von den 1960ern bis zu den 1980ern. Heute gibt es nur wenig Daten zu den strukturellen Auswirkungen eines halben Jahrhunderts High-Tech-Militarismus auf die Wirtschaft und Gesellschaft des mächtigsten Staats der Erde.

Eine Haltung, die klar die Legitimität von Kernwaffen angefochten, das Verhältnis zwischen nuklearer Angriffsfähigkeit, Raketenabwehr und der Rolle von Raketenabwehr und Kernwaffen zur Unterstützung der konventionellen Streitmacht deutlich angesprochen, und sich vernehmbar gegen das Streben nach globaler militärischer Dominanz der USA nach dem Kalten Krieg gestellt hätte, wäre vielleicht auch nicht erfolgreich gewesen. Aber zumindest hätte sie einen erheblichen Beitrag geleistet zur Aufklärung der amerikanischen Bevölkerung über die wirkliche Rolle des US-Militärs und seiner verheerendsten Waffen. So hätte es eine viel bessere Möglichkeit gegeben, Menschen, die an eine gerechtere und friedlichere Welt glauben, zur Arbeit an diesen Themen zu inspirieren, sie in die Bewegung einzubinden, die entsprechenden Organisationen zu stärken und eine große, aktive Gemeinschaft für den Frieden aufzubauen. Wir hätten nebenbei etwas Neues geschaffen. Statt dessen haben wir praktisch alles verloren und stehen mit nichts da. Wir sind konfrontiert mit einem wiederauflebenden nuklear gerüsteten nationalen Sicherheitsstaat und kaum noch unabhängigen lokalen oder regionalen Institutionen oder Organisationspotentialen, um die Friedensbewegung neu zu beleben.

Geld für alternative Think-Tanks oder für Aktionen

Dennoch plädieren immer mehr einflussreiche Organisationen vom links-liberalen Ende des politischen Spektrums in den USA dafür, Methoden nachzuahmen, mit denen die Rechte bei den meisten Wahlen den Kurs bestimmt. Es wird vorgeschlagen, noch mehr Geld in den Ausbau schlagkräftiger »progressiver« Think Tanks und in gezieltere und effektivere Werbe- und Öffentlichkeitskampagnen zu stecken. Solche Aktivitäten dürfen aber nicht mit Organisation verwechselt werden, und wer glaubt, dass auf diese Art wirklich progressive und demokratische Programme vorangetrieben würden, ignoriert die grundlegenden Unterschiede zwischen progressiven Zielen und den Zielen der Geldgeber und Institutionen der Rechten. Eine soziale Bewegung lässt sich nicht mit einer Anzeigenkampagne aufbauen. Sie erfordert vielmehr echtes Engagement – von jedem. Sie kann nur mit der Qualifikation und dem Einsatz Millionen normaler Bürger getragen werden. Grundsätzlich geht es bei einer sozialen Bewegung nicht darum, eine bestimmte Botschaft zu »verkaufen«, sondern Menschen anzuleiten, dass sie selbst denken lernen, effektiv miteinander arbeiten, ihre eigenen Institutionen aufbauen und so nach und nach politische Macht gewinnen und behalten. Beim Organisieren geht es darum, Wissen zu teilen und Koalitionen zu formen, zunächst auf lokaler und regionaler Ebene. Es geht eben nicht um Manipulation und Indoktrination oder, wie manche Befürworter des neuen verwässerten Top-Down-Progressivismus uns glauben machen wollen, darum, ein attraktives liberales Markenzeichen zu entwickeln.

Werden Ressourcen der lokalen und regionalen Organisationen umgelenkt in immer noch professionelle Propagandaaktivitäten, führt dies zudem nur noch schneller zu fundamentalen Strukturverschiebungen, die sowohl die sozialen Bewegungen als auch die Demokratie untergraben. Zu den Verschiebungen gehört der Niedergang autonomer Institutionen mit menschlichen Dimensionen, in denen auch Durchschnittsmenschen eine Stimme haben und gegenseitige Unterstützung finden können, sowie der Ersatz echter Diskussionen durch immer noch ausgefeiltere Techniken zur Manipulation des menschlichen Bewusstseins.

Und zu guter Letzt ignoriert der Anspruch, dass mit Hilfe solcher Methoden die Chancen auch nur moderater Reformen in Bereichen mit Relevanz für progressive Menschen steigen, einen weiteren Unterschied zwischen dem progressiven und dem rechten Projekt. Die modernen Techniken zur Massenbeeinflussung sind extrem kostspielig. Mit wenigen Ausnahmen lehnen aber die reichsten Organisationen und Menschen in dieser Gesellschaft jegliche Initiativen ab, die wegführen würden von einer militarisierten Ökonomie und Gesellschaft hin zur einer faireren Verteilung von Reichtum im Inland oder auf globaler Ebene, hin zu ökologisch rationaleren Technologien und Formen der sozialen Organisation und zu einer demokratischen Kontrolle des Arbeitsplatzes. Sie geben für solche Ziele auch nicht ansatzweise das Geld aus, das sie bereitwillig in Kampagnen für weniger Gewerkschaften, weniger Vorschriften, »freie Märkte« (allerdings mit angemessenen staatlichen Hilfen für die Unternehmen), mehr Waffen und mehr »innere Sicherheit« zur Verfügung stellen. Sie wollen nicht Demokratie fördern, im Gegenteil, sie fürchten Demokratie. Sie sind mit einer reinen Propagandapolitik zufrieden, weil die am ehesten der Herrschaft weniger über viele gerecht wird.

Eine neue Vision

Diejenigen, die wirklich in den Machtzentren für Frieden arbeiten, und diejenigen, die breitere soziale Bewegungen mobilisieren wollen, brauchen einander. Angesichts des konzentrierten Reichtums der Verteidigungsindustrie und der Profiteure einer aggressiven, militarisierten Außenpolitik kann es im US-Kongress oder anderen Regierungsforen keinen Fortschritt geben, solange nicht große und stabile soziale Bewegungen etwas vollständig anderes einfordern. Diese Bewegungen brauchen zuverlässige Informationen darüber, was die Regierung und das Militär vorhaben, sowie fähige und aufgeschlossene Repräsentanten, die ihre Anliegen in Regierungsforen vertreten. Neues Denken und neue Visionen werden aber nicht von denen entwickelt, die auf die enge Welt in Washington fokussiert sind und sich selbst beschränken auf Optionen und Argumente, die heutzutage bei Kongressabgeordneten ankommen. Dieses ganze Gefüge schlittert schließlich seit Jahrzehnten nach rechts.

Eine neue Vision braucht eine ganz andere Art von Beziehung zwischen den entstehenden Bewegungen, die Frieden und Abrüstung mit globaler wirtschaftlicher Gleichberechtigung und ökologischer Nachhaltigkeit verknüpfen, und den Mainstream-Think Tanks und konventionell organisierten Lobbygruppen, die in diesem Land nach wie vor die »progressive« Debatte bestimmen. Dass sich trotz der unerbittlichsten Propagandaschlacht in der US-Geschichte ein überraschend breiter Graswurzel-Widerstand gegen den Irakkrieg formierte, macht Hoffnung, dass dies möglich ist.

Andrew Lichterman ist seit langem in der Friedens- und Umweltbewegung der USA aktiv. Er lebt und arbeitet in der Nähe von San Francisco in Kalifornien. Kontakt: http://www.marginalnotes.org Übersetzt von Regina Hagen

Militärische oder friedenspolitische Think Tanks

Militärische oder friedenspolitische Think Tanks

von Tobias Pflüger

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Think Tanks – nicht nur der englische Begriff lässt uns hier zuerst an die USA denken. Zwar nutzen die Regierungen aller Industriestaaten das Expertenwissen aus »ihren« Denkfabriken, jedoch dürfte in keinem anderen Land der Einfluss der Think Tanks auf die Regierungspolitik so groß sein wie in den USA. Und das nicht erst seit Bush jr., bei dessen Machtantritt zahlreiche Hardliner aus den Denkfabriken direkt in die Administration wechselten. Hans-Jürgen Krysmanski und Rainer Rilling beleuchten in dieser Ausgabe die Geschichte und den gegenwärtigen Einfluss dieser Intellektuellen-Zirkel auf die US-Regierung, Jürgen Wagner beraubt uns der Illusion, ein möglicher Präsident John Kerry würde Wesentliches anderes machen, und Andrew Lichtermann zieht eine negative Erfolgsbilanz der alternativen »friedenspolitischen« Forschungsinstitute in den USA.

Russland – ein Kontrast dazu? Peter Linke geht ein auf die alten »Denkfabriken« der Sowjetunion und untersucht die neuen – zum Teil mit US-Dollar finanzierten – Institutionen.

Und Deutschland? Josef Braml vergleicht die Grundstrukturen US-amerikanischer und deutscher Think Tanks, verweist auf die Kernfrage: In den USA weitestgehend privat finanziert, in Deutschland im Wesentlichen staatlich.

Martin Thunert zieht in der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte« (51/2003) die Bilanz, dass „der deutsche Think-Tank-Sektor im europäischen Maßstab quantitativ führend ist und auch weltweit keineswegs deutlich hinterherhinkt.“

Offen bleibt in W&F, welche deutschen Think Tanks es gibt und wie sie was beeinflussen.

Deshalb im Editorial dazu ein paar kurze Bemerkungen.

Für die rot-grüne Bundesregierung am wichtigsten ist zweifelsohne die Stiftung Wissenschaft und Politik. Ursprünglich in Ebenhausen angesiedelt, wurden in sie die Mitarbeiter des früheren Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln (BIOst) sowie der gegenwartsbezogenen Abteilung des Münchner Südost-Instituts (SOI) integriert. Ebenfalls wesentlich sind die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und das eng mit der Bertelsmann-Stiftung kooperierende Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) in München. Auch die Vorgängerregierungen nutzten das Fachwissen dieser Institute. Dazu kommen Stiftungen der verschiedenen Parteien, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Kirchen.

Es gibt aber auch – etablierte – friedenswissenschaftliche Think Tanks in Deutschland, z.B. die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Hamburger Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik (IFSH), das Bonner Konversionszentrum (BICC) oder das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), alle mit einem ebenfalls stark regierungsberatenden Ansatz. In W&F 4-2003 haben wir die Schwerpunkte dieser Institute beleuchtet. In der Januar Ausgabe 2004 von W&F (S. 35f.) informierte die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung über beabsichtigte umfangreiche Mittelkürzungen für diese Friedenswissenschaft.

Im militärischen Bereich findet sich in Deutschland die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), nach Angaben der Homepage der Bundeswehr „Einer der wichtigsten »Informationslieferanten« für den Bundessicherheitsrat.“ Sie ist „eine selbstständige Dienststelle im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung“.

Hinzu kommt in Waldbröl ein Zentrum für Transformation der Bundeswehr. Für den Stellvertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Generalleutnant Dirk Böcker, ist dieses Zentrum der Think Tank der Bundeswehr: „Es entsteht eine Denkschmiede, die
das Bundesministerium für Verteidigung in Berlin und Bonn mit entscheidungsrelevanten Informationen und Analysen zu den immer schneller ablaufenden politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt auch technologischen Umwälzungen unterstützt … Wir stehen vor der Aufgabe, die gesamte Bundeswehr dazu zu befähigen, rascher auf Herausforderungen reagieren und den dynamischen Anforderungen gerecht werden zu können.“

2006 wird diese Denkfabrik der Bundeswehr ihren Hauptsitz nach Strausberg verlegen. Dort wird das Zentrum „zusammen mit der Akademie für Information und Kommunikation (AIK) und dem Sozialwissenschaftlichen Institut (SoWi) Teil eines Forschungs- und Wissenschafts-Campus werden, der die zielgerichtete Weiterentwicklung der Bundeswehr unterstützt.“ Man kann davon ausgehen, dass diese militärischen Think Tanks vielfach direkt und indirekt Einfluss auf politische und militärische Prozesse nehmen.

Tobias Pflüger