Gräueltaten in der Ukraine

Gräueltaten in der Ukraine

Ist es Völkermord?

von Jonathan Leader Maynard

Viele Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen beschuldigen Russland, in der Ukraine einen Völkermord zu begehen. Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin bestätigte auch, dass er ein Verfahren gegen Russland wegen Völkermordes vorbereitet. Dies ist jedoch eine umstrittene Behauptung – und viele Genozidforscher*innen (den Autor eingeschlossen) und spezialisierte NGOs, die sich mit Völkermord befassen, haben sich mit dieser Formulierung zurückgehalten. Was spricht für welche Sichtweise? Ein Debattenbeitrag.

Das Jahr 2022 wird in die Geschichte eingehen, und zwar nicht nur wegen der Rückkehr des großen Landkrieges auf den europäischen Kontinent mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, sondern auch wegen der schlimmsten Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung in Europa mindestens seit den jugoslawischen Zerfallskriegen 1991-1995. Es gibt immer mehr Beweise dafür (vgl. UNOHCHR Ukraine 2022), dass die russischen Streitkräfte drei besondere Arten rechtswidriger Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ausgeübt haben: a) die wahllose und vorsätzliche Bombardierung ziviler Gebiete (vgl. Amnesty 2022); b) gezielte Tötungen, Vergewaltigungen und Folterungen von Zivilist*innen durch russische Streitkräfte (vgl. HRW 2022a); und c) die tatsächliche Zwangsdeportation von bis zu 1,6 Millionen Ukrainer*innen, viele davon nach Russland (siehe Reuters 2022, HRW 2022b). Es gibt auch Beweise für Verstöße gegen das Kriegsrecht durch ukrainische Truppen, insbesondere für die Misshandlung von russischen Kriegsgefangenen. Das Ausmaß dieser Verstöße scheint jedoch weitaus geringer zu sein, und im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine im Allgemeinen mit der Internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (siehe UNOHCHR 2022a), die Verstöße beider Seiten in dem Konflikt untersucht, sowie mit der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine zusammengearbeitet (UNOHCHR 2022b). Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat mit Stand vom 21. November 2022 6.595 in dem Konflikt getötete Zivilist*innen bestätigt (UNOHCHR 2022c), betont aber, dass die tatsächliche Zahl viel höher sein wird. Im März 2022 eröffnete der Internationale Strafgerichtshof eine Untersuchung wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in der Ukraine (siehe ICC 2022).

Wie sollten wir diese Gewaltakte der russischen Streitkräfte beschreiben? Regierungen, die Vereinten Nationen, andere internationale Organisationen und Wissenschaftler*innen bezeichnen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zunehmend gemeinsam als »Gräueltaten« (»atrocity crimes«, vgl. UN 2014). Wenn solche Verbrechen besonders umfangreich sind (in der Regel, wenn sie 1.000 oder mehr Opfer innerhalb eines Jahres betreffen), werden sie oft als »Massengräueltaten« (»mass atrocities«) bezeichnet. Anhand der schon vorliegenden Beweise scheint klar, dass die russischen Streitkräfte Gräueltaten in Form von Kriegsverbrechen begangen haben – Verstöße gegen das Kriegsrecht, wie es beispielsweise in den Genfer Konventionen verankert ist. Dies ist in der Regel die am leichtesten nachweisbare Kategorie von Gräueltaten – und die Ukraine behauptet, dass mindestens 34.000 mögliche Kriegsverbrechen von den russischen Streitkräften begangen worden sind (BBC 2022). Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die von den russischen Streitkräften verübte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt – was genauer gesagt eine Reihe von Verstößen bezeichnet, die nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 „Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs sind, der sich gegen eine Zivilbevölkerung richtet“ (Art.7 (1) Römisches Statut). Da die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen Verstöße „in allen Regionen, auf die sie sich bisher konzentriert hat“ (UNOHCHR 2022a, S. 7), festgestellt hat, scheint auch dieses Kriterium erfüllt zu sein.

Die Frage des Völkermordes

Viele Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen sind jedoch noch weiter gegangen. Im März 2022 beschuldigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij die russische Regierung öffentlich, in der Ukraine einen Völkermord begangen zu haben, und der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin bestätigte, dass er ein Verfahren gegen Russland wegen Völkermordes vorbereitet (BBC 2022). Dieser Vorwurf wurde im April 2022 von dem führenden Holocaust-Wissenschaftler Eugene Finkel, der selbst in der Ukraine geboren ist, in prominenter Weise bekräftigt (Finkel 2022). Im August 2022 rief eine der führenden Organisationen zur Verhinderung von Völkermorden, »Genocide Watch«, den Völkermord-Notstand in der Ukraine aus und erklärte, dass die russische Politik, die sie als »Urbizid« bezeichnete – d. h. Gewalt, die auf die Zerstörung ganzer Städte abzielt – einem Völkermord gleichkomme (vgl. Genocide Watch 2022). Genocide Watch ist eine von 21 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die jetzt einen offenen Brief unterzeichnet haben, in dem sie eine Resolution des US-Senats unterstützen, in der das Vorgehen Russlands in der Ukraine als »Genozid« bezeichnet wird (Razom 2022).

Dies ist jedoch eine umstrittene Behauptung – und viele Genozidforscher*innen (mich eingeschlossen) und spezialisierte NGOs, die sich mit Völkermord befassen, haben sich mit dieser Formulierung zurückgehalten. Es geht hierbei nicht um die Frage, wie schlimm die russischen Gräueltaten in der Ukraine sind. Auch wenn Völkermord manchmal als »das Verbrechen der Verbrechen« bezeichnet wird, ist es nicht gleichbedeutend mit wirklich schrecklichen oder groß angelegten Gräueltaten. Kein*e seriöse*r Wissenschaftler*in und keine angesehene Nichtregierungsorganisation bestreitet, dass die russischen Streitkräfte massive und entsetzliche Übergriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung begehen. Solche Gräueltaten sind Gräueltaten, ob sie nun völkermörderisch sind oder nicht. Aber Völkermord hat eine spezifischere rechtliche Bedeutung, die in der Völkermordkonvention von 1948 wie folgt definiert ist:

„Jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(a) Tötung von Mitgliedern
der Gruppe;
(b) Verursachung eines schweren körperlichen oder geistigen Schadens
bei Mitgliedern der Gruppe;
(c) die vorsätzliche Zufügung von Lebensbedingungen
, die darauf abzielen, die Gruppe ganz oder teilweise physisch zu zerstören;
(d) Auferlegung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb
der Gruppe;
(e) Zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in
eine andere Gruppe“.

Dies sind komplexe Kriterien, und was als „Absicht zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung“ gilt, ist Gegenstand umfangreicher juristischer und wissenschaftlicher Debatten. Einige, wie der einflussreiche Genozidforscher A. Dirk Moses (2021), schlagen sogar vor, dass das Konzept des Genozids nicht zweckmäßig ist und weitgehend aufgegeben werden sollte.

Wann gelten Gräueltaten als Völkermord?

Bei den Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Russland in der Ukraine einen Völkermord begeht, geht es daher nicht in erster Linie um die Art der verfügbaren Beweise, sondern darum, welche Art von Beweisen und welche Schwelle für die sichere Feststellung eines Völkermordes erforderlich sind. Viele Genozidforscher*innen halten es für das Beste, sich im Großen und Ganzen an die in der Völkermordkonvention festgelegte Bedeutung zu halten – da die Konvention dem Völkermord seine wichtigsten rechtlichen Implikationen verleiht, weil die Völkermordkonvention einer konsensualen Erklärung der internationalen Gemeinschaft zum Genozid am nächsten kommt und weil andere konkurrierende Definitionen von Völkermord oft leichter politisiert oder manipuliert werden können.

Völkermord in diesem Sinne beinhaltet zwei Schlüsselelemente: (i) „gruppenselektive Massengewalt“ und (ii) ein Ziel der „Gruppenvernichtung“ (um die Sprache des Politikwissenschaftlers Scott Straus (2015) zu verwenden). Erstens müssen Menschen mit Gewalt angegriffen werden, weil sie Mitglieder bestimmter nationaler, ethnischer, »rassischer« oder religiöser Gruppen sind – und nicht einfach nur wegen ihres Verhaltens, ihrer politischen Überzeugungen, ihres Widerstandes gegen militärische Operationen oder ihres Privatvermögens, das geplündert werden könnte. Zweitens muss die Gewalt als Mittel zur Zerstörung der Gruppe eingesetzt werden – im Gegensatz zum Beispiel zur Terrorisierung der Gruppe, damit sie sich ergibt, oder zur absichtlichen Tötung von Zivilist*innen in dem Bemühen, auch die in der Zivilbevölkerung eingebetteten militärischen Kräfte zu treffen. Viele Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit weisen diese beiden Merkmale nicht auf. Russland beispielsweise scheint eindeutig wahllose Bombardierungen von zivilen Gebieten vorzunehmen. Wenn diese Gewalt jedoch »lediglich« darauf abzielt, die Moral der Zivilbevölkerung zu untergraben und potenzielle Verteidigungsanlagen der Streitkräfte zu zerstören, handelt es sich zwar um ein Kriegsverbrechen, aber nicht um Völkermord.

Diese beiden Elemente des Völkermordes angemessen zu beurteilen, ist eine komplexe Herausforderung. Neben vielen anderen Problemen wird groß angelegte Gewalt oft von mehreren Motiven geleitet, so dass die Täter*innen beispielsweise zum Teil mit nicht völkermörderischen Absichten wie militärischer Vorteilsgewinnung oder Plünderung vorgehen und dennoch bereit sein könnten, eine ganze Zivilbevölkerung absichtlich auszulöschen, um diese Ziele zu erreichen – was einen Völkermord darstellen würde. In der Tat stellen Völkermörder*innen ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung oft als politische und militärische Notwendigkeit dar, weil sie die Zivilbevölkerung als Bedrohung ansehen – wie wahnhaft diese Vorstellung auch sein mag. Beispielsweise haben sowohl die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs als auch die »Hutu Power«-Regierung in Ruanda im Jahr 1994 solche Behauptungen über ihre Opfer aufgestellt.

Außerdem müssen die Täter*innen nicht versuchen, eine Gruppe vollständig auszulöschen, damit etwas als Völkermord gilt. Tatsächlich ist es nur wenigen Völkermörder*innen in der Geschichte gelungen, jedes einzelne Mitglied einer Gruppe auf diese Weise auszulöschen. Entscheidend ist, ob die Täter*innen dennoch versuchen, eine Gruppe physisch zu eliminieren, soweit sie dazu in der Lage sind.

Ein Völkermord in der Ukraine? Erste Einschätzungen

Es ist daher eine recht anspruchsvolle Mischung von Beweisen erforderlich, um zu der sicheren Schlussfolgerung zu gelangen, dass eine bestimmte Reihe von Gräueltaten als »Genozid« in diesem rechtlichen Sinne gelten. Ein wichtiges Element sind Beweise für die allgemeinen Einstellungen, Absichten und Ideologien der Täter*innen – sowohl der politischen und militärischen Befehlshaber*innen als auch der ihnen unterstellten »einfachen Leute«. Es gibt eindeutige Beweise für die Unterstützung einer völkermörderischen Ideologie durch die russische politische Elite. Am offensichtlichsten ist dies belegt durch die weitschweifige und historische Fakten verdrehende Rede, mit der Präsident Putin seine Invasion begann, in der er die Existenz der Ukraine als unabhängiger Nation effektiv leugnete. Am 3. April 2022 veröffentlichte die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti einen Leitartikel, in dem dazu aufgerufen wurde, das ukrainische Volk in großer Zahl zu töten, da es im Grunde genommen alle Nazis seien. „Entnazifizierung“, schrieb der Autor, ist unweigerlich auch Ent-Ukrainisierung.“ (zit. nach Brown 2022) Das ist klassische Völkermordideologie: Sie entspricht den Rechtfertigungen, die man beim Holocaust, dem Völkermord in Ruanda, dem Völkermord an den Armeniern und in allen anderen maßgeblichen Fällen findet.

Eine solche völkermörderische Rhetorik allein reicht jedoch nicht aus, um daraus schließen zu können, dass die Gräueltaten »vor Ort« tatsächlich völkermörderischer Natur sind. Die Rhetorik der Regierung könnte vor allem dazu dienen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren oder Verwirrung über den Konflikt zu stiften, während die Gewalt »vor Ort« von ganz anderen Beweggründen geprägt ist. Wir müssen daher auch das tatsächliche Muster der Gewalt untersuchen, die ausgeübt wird. Im Fall der Ukraine müssen wir untersuchen, ob die russischen Streitkräfte offenbar versuchen, die Ukrainer physisch zu vernichten, soweit dies für sie möglich ist, oder ob sie Zivilist*innen zu anderen, nicht völkermörderischen Zwecken ins Visier nehmen, etwa um die Bevölkerung durch Terror zur Kapitulation zu bewegen.

Das ist natürlich schwierig. Da der Konflikt in der Ukraine noch nicht beendet ist, gibt es kaum zuverlässige Daten über russische Gräueltaten. Die meisten Gewalttaten sehen jedoch eher nach terroristischen Bombardements, wahllosen Angriffen auf die zivile Infrastruktur und Angriffen aus, bei denen Zivilist*innen getötet werden, um auch ukrainische Streitkräfte zu töten oder um Städte als Rückzugsorte für ukrainische Militär­operationen unbenutzbar zu machen, als nach völkermörderischen Bemühungen, die Ukrainer*innen als nationale Gruppe physisch auszulöschen. Gegenwärtig gibt es nur wenige, wenn überhaupt bestätigte Fälle, in denen russische Streitkräfte ganze Städte oder Dörfer auslöschen oder auf andere Weise alle Ukrainer*innen in einem bestimmten Gebiet unter russischer Besatzung töten – die Art von Gewalt, die wir bei einem Völkermord erwarten würden.

Hier sind jedoch zwei wichtige Vorbehalte anzubringen. Erstens könnten weitere Beweise auftauchen, die diese Einschätzung verändern würden. Es gibt bereits bruchstückhafte Beweise für Handlungen wie z. B. die systematische Trennung ukrainischer Kinder von ihren Familien und ihre Deportation nach Russland, was als Völkermord im Sinne der Konvention von 1948 eingestuft werden könnte. Teilweise wurde berichtet, dass die russische Seite Zivilist*innen nur deshalb ins Visier nahm, weil sie ukrainisch sprachen – auch dies könnte als Völkermord gelten. Je mehr wir erfahren, desto klarer könnte es werden, dass tatsächlich ein Völkermord vorliegt. Es ist auch möglich, dass einzelne Akte des Völkermords im Rahmen breiter angelegter Muster von Gewalt gegen Zivilist*innen stattfinden, die nicht rein völkermörderisch sind.

Zweitens hängt diese Einschätzung von einer recht engen rechtlichen Definition von Völkermord ab, wie sie in der Völkermordkonvention von 1948 zum Ausdruck kommt. Einige Kommentator*innen bezeichnen das russische Vorgehen in der Ukraine im weiteren Sinne als Völkermord: nicht, weil die Gewalt darauf abzielt, das ukrainische Volk physisch zu vernichten, sondern weil Russlands weiter gefasste Ziele im Krieg darin bestehen, die Existenz der Ukraine als unabhängige Nation effektiv zu leugnen und Symbole und Institutionen der ukrainischen Nationalität zu zerstören. Diese Art von »kulturellem Völkermord« (Novic 2016) wird jedoch im Allgemeinen als nicht unter die Völkermordkonvention fallend betrachtet und ist nicht dasselbe wie der Versuch, eine Gruppe physisch zu vernichten, wie dies beim Holocaust, dem Völkermord an den Armeniern, dem Völkermord in Ruanda oder ähnlichen berühmten Genoziden der Fall war. Wenn Begriffe wie »Urbizid« – die Zerstörung von Städten – einen Völkermord darstellen, dann müssten wir zu dem Schluss kommen, dass die britischen und amerikanischen Luftangriffe auf Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg, die ausdrücklich auf die Zerstörung ganzer Stadtgebiete abzielten, einen Völkermord darstellten. Nur wenige akzeptieren dieses Verdikt.

Auch hier geht es keineswegs darum, die Schwere der russischen Gräueltaten herunterzuspielen. Gewalt muss nicht völkermörderisch sein, um abscheulich zu sein – und die internationale Gemeinschaft hat sich seit 2005 zu ihrer Verantwortung bekannt, Gräueltaten zu verhindern, auf sie zu reagieren und wiederaufzubauen, unabhängig davon, ob sie völkermörderisch sind oder nicht. Als Wissenschaftler, der sich mit Genozid und Massenverbrechen befasst, ist eine meiner größten Befürchtungen, dass die Menschen Völkermord als eine Art Schwelle betrachten, unterhalb derer Gewalt effektiv ignoriert werden kann. Es gibt einfach keinen Grund, warum uns die völkermörderische Ermordung von 8.000 Bosniaken durch serbische Streitkräfte in Srebrenica im Juli 1995 mehr beunruhigen sollte als die nicht völkermörderische Ermordung von einer halben Million angeblicher »Kommunist*innen« in Indonesien in den Jahren 1965-66 oder die Ermordung von über 1,5 Millionen Nordkoreaner*innen durch die staatlich verursachte Hungersnot in den 1990er Jahren.

Politiker*innen und Nichtregierungsorganisationen sollten daher innehalten, bevor sie vorschnell die Sprache des Völkermords als Mittel zur Anprangerung Russlands verwenden, wenn die wichtigsten Beweise für die tatsächlichen Absichten hinter der Gewalt vor Ort unklar bleiben. Eine solche Sprache ist nicht notwendig und verstärkt die fragwürdige Botschaft, dass nur Völkermorde und nicht die breite Palette anderer Gräueltaten wirklich von Bedeutung sind. Sie kann auch das Verständnis für den tatsächlichen Charakter der Gräueltaten verzerren und könnte die spätere Strafverfolgung erschweren. Wir täten besser daran, den Konsens darüber zu stärken, dass Gräueltaten, unabhängig von ihrer besonderen Form, eine dringende humanitäre Krise darstellen, die internationale Aufmerksamkeit und Maßnahmen erfordert.

Literatur:

Amnesty International (2022): Ukraine: Russia’s cruel siege warfare tactics unlawfully killing ­civilians – new testimony and investigation. News, 1.4.2022.

BBC (2022a): Ukraine conflict: What war crimes is Russia accused of? 14.11.2022.

Brown, Ch. (2022): A Kremlin paper justifies erasing the Ukrainian identity, as Russia is accused of war crimes. CBC News, 5.4.2022.

Finkel, E. (2022): What’s happening in Ukraine is genocide. Period. Meinungsbeitrag, Washington Post, 5.4.2022.

Genocide Watch (2022): Genocide Emergency: Russian Aggression and Genocide in Ukraine. August 2022, veröffentlicht 4.9.2022.

Human Rights Watch (HRW) (2022a): Ukraine: Apparent War Crimes in Russia-Controlled Areas. Summary Executions, Other Grave Abuses by Russian Forces. 3.4.2022, Warschau.

Human Rights Watch (HRW) (2022b): “We Had No Choice”. “Filtration” and the Crime of Forcibly Transferring Ukrainian Civilians to Russia. Forschungsbericht, 1.9.2022.

Internationaler Strafgerichtshof (ICC) (2022): Ukraine – Situation in Ukraine. Fall ICC-01/22. Eröffnet 2.3.2022, URL: icc-cpi.int/ukraine.

Moses, D. A. (2021): The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. Cambridge: Cambridge University Press.

Novic, E. (2016): The Concept of Cultural Genocide: An International Law Perspective. Oxford: OUP.

Razom for Ukraine (Razom) (2022): Letter Supporting Senate Recognition of Russia’s Genocide of Ukrainians. Brief, 25.11.2022.

Reuters (2022): More than 1 million Ukrainians may have been deported, U.S. envoy says. Agenturmeldung, 23.9.2022.

Straus, S. (2015): Making and unmaking nations. War, leadership, and genocide in modern Africa. Ithaca, NY: Cornell University Press.

United Nations Office on Genocide Prevention and the Responsibility to Protect (UN) (2014): Framework of analysis for atrocity crimes. A tool for prevention. New York.

UNOHCHR (2022a): Report of the Independent International Commission of Inquiry on Ukraine. A/77/533. Oktober 2022.

UNOHCHR (2022b): Press briefing notes delivered by Head of the UN Human Rights Monitoring Mission in Ukraine, Matilda Bogner. Ukraine / Russia: Prisoners of war, 15.11.2022.

UNOHCHR (2022c): Ukraine: civilian casualty update 21 November 2022. News, 21.11.2022.

UNOHCHR Ukraine (2022): Report on the human rights situatio in Ukraine. 1 February to 31 July 2022. Bericht, 27.09.2022.

Jonathan Leader Maynard (Twitter: @jleadermaynard) ist Dozent für internationale Politik am King‘s College London, wo er sich mit Völkermord, Gräueltaten und der ideologischen Dynamik politischer Gewalt beschäftigt. Sein erstes Buch »Ideology and Mass Killing: The Radicalized Security Politics of Genocides and Deadly Atrocities« erschien im Juni 2022 bei Oxford University Press.

Ökozid

Ökozid

Zwischen Klimaklagen und Verbrechen gegen den Frieden

von Jürgen Scheffran

Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit werden durch Klimawandel und Umweltzerstörung bedroht, die friedensgefährdende Ökozide mit sich bringen können. Seit fünf Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, schwerwiegende Umweltverbrechen im Rahmen des Völkerrechts zu regulieren. Im Kontext der jüngsten Debatte über Klimaklagen und die Rechte der Natur eröffnen sich neue Perspektiven, um auf verschiedenen Ebenen des internationalen Systems mit rechtlichen Mitteln Umweltschutz und Friedenssicherung zusammenzubringen.

Anfang 2021 reichten die im Amazonas-Regenwald lebenden indigenen Völker der Kayapo und der Surui beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Klage gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ein. Sie werfen ihm Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit infolge brutaler Umweltzerstörung vor, insbesondere die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen (Mihetsch 2021). Mit Bolsonaros Amtsantritt 2019 löste er staatliche Umwelt-Institutionen auf, drohte Umweltaktivist*innen, bezeichnete Wissenschaftler*innen der Lüge und verfolgte indigene Völker. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden etwa 20 Prozent der Fläche des Amazonas-Regenwaldes, um Tropenholz, Bodenschätze, Soja und Fleisch zu gewinnen, auch für den Export nach Europa. Verstärkt durch die globale Klimakrise droht das Ökosystem des Regenwaldes zu kippen, ein Ökozid, der die Menschheit gefährdet. Doch wer ist für einen solchen Ökozid zu belangen?

Wurzeln der Ökozid-Debatte

Auslöser der Debatte über Ökozide war die Beobachtung, dass menschliche Aktivitäten im Anthropozän eine Ausbeutung natürlicher Ressourcen und massive Umweltzerstörungen zur Folgen haben. Die Globalisierung beschleunigt diese Prozesse, die menschliche Existenzgrundlagen untergraben können. Mögliche Auswirkungen sind Gewaltkonflikte und Vertreibung bis hin zum Genozid (Völkermord) oder Ethnozid (Verlust der kulturellen Identität) eines Volkes (vgl. Zimmerer 2014). Ohne geeignete Anpassungs- und Ausweichmöglichkeiten sind schleichende Ökozide durch langfristige ökologische Trends möglich, die sich zu komplexen Krisen verbinden können (vgl. auch den Begriff der »slow violence«, Nixon 2011).

Der Begriff Ökozid wurde 1970 auf der »Conference on War and National Responsibility« in Washington D.C. verwendet, wo der Botaniker und Bioethiker Arthur Galston eine internationale Vereinbarung zum Verbot von Ökoziden vorschlug (Zierler 2011). Anlass war der Einsatz von Agent Orange durch die USA im Vietnam-Krieg, um großflächig Wälder zu entlauben, mit massiven Schäden für Flora, Fauna und Mensch (Gray 1996, Watts 2019). Auf der Stockholmer UN-Konferenz über die menschliche Umwelt von 1972 nannte der schwedische Ministerpräsident Olof Palme den Vietnamkrieg einen Ökozid. Auch Indira Gandhi aus Indien und Tang Ke, der Leiter der chinesischen Delegation, kritisierten die Folgen des Krieges für Mensch und Umwelt und setzten sich dafür ein, den Ökozid als internationales Verbrechen einzustufen. Der Völkerrechtler Richard A. Falk entwarf 1973 eine Konvention gegen das Verbrechen des Ökozids, ein Protokoll gegen Umweltkrieg und eine Petition, nach der jede „Regierung, Organisation, Gruppe oder Einzelperson, die einen Ökozid verübt, plant, unterstützt oder befürwortet, für ein internationales Verbrechen schweren Ausmaßes verantwortlich ist, gegen die Gesetze der Menschlichkeit und das ökologische Gebot“ (Falk 1973, S. 26).

Eine Folge solcher Aktivitäten ist die ENMOD-Konvention von 1977, die militärische oder sonstige feindselige Nutzungen umweltverändernder Techniken verbietet. Sie erfasst vorsätzliche Umweltzerstörungen im Krieg, die weitreichend, langanhaltend oder schwerwiegend“ sind. Dem Abkommen gehören 78 Staaten an, darunter alle Atomwaffenbesitzer außer Frankreich und Israel. Im gleichen Jahr bekräftigte das Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen den Schutz der natürlichen Umwelt vor Kampfhandlungen, die schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen. Während damit die Umweltveränderung im Krieg geregelt ist, gibt es bislang kein internationales Recht zur Regulierung des Ökozids in Friedenszeiten.

1978 begannen im Rahmen der Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC) Diskussionen über internationale Verbrechen gegen Frieden und Sicherheit. Einige Staaten setzten sich dafür ein, auch den Schutz und die Erhaltung der menschlichen Umwelt einzubeziehen. Ökozid als Verbrechen wurde in den 1980er Jahre weiter thematisiert, unter anderem im Whitaker-Bericht (Whitaker 1985), der vorschlug, Ökozid als Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verbieten. Beispiele für schädliche, oft irreparable Veränderungen der Umwelt sind nukleare Explosionen, chemische Waffen, schwere Verschmutzung, saurer Regen oder die Zerstörung des Regenwaldes, die die Existenz ganzer Bevölkerungen bedrohen, vorsätzlich oder durch kriminelle Fahrlässigkeit. 1991 nannte die ILC als eines der 12 Verbrechen gegen Frieden und Sicherheit der Menschheit die vorsätzliche und schwere Schädigung der Umwelt (Artikel 26). Der Vorschlag wurde im Rahmen der Aushandlung des Römischen Statuts zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) diskutiert. Im finalen Statut wurde Ökozid aber nicht explizit erwähnt, außer im Rahmen von Kriegsverbrechen. 2016 hat der IStGH dann aber anerkannt, Straftaten durch Umweltzerstörung größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Entsprechende Klagen werden im internationalen Rahmen zunehmend relevant. So liegt seit einigen Jahren beim IStGH eine Beschwerde gegen Kambodscha vor, wo Hunderttausende von ihrem Land vertrieben wurden, das an wohlhabende Geschäftsleute verpachtet wurde (Embree 2015). Betroffen sind ethnische Minderheiten in bewaldeten Gebieten des tropischen Regenwaldes, der rund ein Drittel seiner Fläche verlor. Die kumulativen Menschenrechtsverletzungen über viele Jahre werden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen.

Rolle der Zivilgesellschaft

Die internationale Ökozid-Debatte wurde erheblich durch die Zivilgesellschaft beeinflusst. Neben dem Vorschlag von Gray (1996) zum Ökozid-Verbot spielte ein Entwurf der Umweltanwältin Polly Higgins von 2010 eine Rolle, das Römische Statut um den Straftatbestand des Ökozids als fünftes internationales Verbrechen gegen den Frieden zu erweitern (neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression). Ökozid wird hier definiert als „die weitreichende Schädigung, Zerstörung oder der Verlust von Ökosystemen eines bestimmten Territoriums, sei es durch menschliches Handeln oder durch andere Ursachen, in einem solchen Ausmaß, dass die friedliche Nutzung durch die Bewohner dieses Territoriums stark beeinträchtigt wird“ (Higgins et al. 2013, S. 257), wobei auch natürliche Ursachen in Betracht gezogen werden. Ein darauf basierender Gesetzesvorschlag wurde in einem Scheinprozess vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens getestet und auf verschiedenen Konferenzen im Umfeld des Erdgipfels »Rio +20« von 2012 vorgestellt. Unterstützt wurde dies 2019 auf der 18. Sitzung zum Römischen Statut von Vanuatu und den Malediven, die die Zeit reif sahen für eine Kriminalisierung des Ökozids. Ein von der »Stop Ecocide Foundation« einberufenes internationales Gremium legte im Juni 2021 einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vor. Derlei Impulse aus der Zivilgesellschaft führten zu Reaktionen und diplomatischen Initiativen der Regierungen von Frankreich und Belgien wie auch im Europäischen Parlament, um Ökozid als internationales Verbrechen im Römischen Statut anzuerkennen.

Umweltverbrechen und Rechte der Natur

Während die Anerkennung des Begriffs Ökozid im internationalen Recht zur Diskussion steht, sind damit verbundene Verbrechen in einem Dutzend Staaten (alles Nachfolgestaaten der Sowjetunion, bis auf Ecuador und Vietnam) bereits strafrechtlich relevant, entsprechend dem früheren Wortlaut von Artikel 26 des ILC-Entwurfs. So heißt es im russischen Strafgesetzbuch: „Die massive Zerstörung des Tier- oder Pflanzenreichs, die Vergiftung der Atmosphäre oder der Wasserressourcen sowie die Begehung anderer Handlungen, die eine ökologische Katastrophe verursachen können, werden bestraft.“

Als erstes Land machte Ecuador 2007/8 die Natur zu einem Subjekt mit starken verfassungsmäßigen Rechten und Garantien (vgl. Triml-Chifflard 2021). Vorsätzliche Umweltschädigungen, ob in Kriegs- oder Friedenszeiten, werden als Straftat eingestuft, ohne den Begriff Ökozid explizit zu verwenden. So hat das Verfassungsgericht Ecuadors am 07.12.2021 in einem langem Rechtsstreit mit dem nationalen Bergbauunternehmen Enami Pläne zum Kupfer- und Goldabbau im Nebelwald in Los Cedros gestoppt, einem der biologisch vielfältigsten Lebensräume der Erde (Rechte der Natur 2021). Dies ist Teil einer Entwicklung, die Rechte der Natur zu stärken (Adloff und Busse 2021).

Klimaklagen und höchstes Völkerrecht

Die Debatte über Ökozide gewinnt an Bedeutung durch die Klimakrise, die den Kontext für Klimaklagen eröffnet. So gelang es der Umweltorganisation Urgenda 2015, den Niederländischen Staat gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention erfolgreich vor dem Den Haager Gericht zu verklagen, die CO2-Emissionen um mindestens 25 % von 1990 bis Ende 2020 zu senken. Weitere Klimaklagen sind im Gange, darunter des peruanischen Bauern Saúl Luciano Lliuya 2015 gegen den Stromkonzern RWE, weil dessen CO2-Emissionen durch die globale Erwärmung seine Existenzgrundlagen gefährden (Steppat 2022). Zwar wies das Landgericht die Klage 2016 ab, weil es keine lineare Verursachungskette zwischen der Quelle der Treibhausgase und dem Schaden gebe, doch war eine Berufung beim Oberlandesgericht Hamm erfolgreich, das die Beweisaufnahme eröffnete.

Wie bei anderen Schadensersatzprozessen (etwa gegen die Tabak- und Chemieindustrie), sind Klimafolgen durch Betroffene gegenüber dem Verursacher einklagbar, sofern ein stichhaltiger Nachweis vor Gericht gelingt. Mit Fortschritten in der Attributionsforschung wird die kausale Zuordnung der CO2-Emissionen zu Klima-Schadensereignissen möglich, eine Voraussetzung für Schadensersatzklagen (Richter 2020; Stuart-Smith 2021).

Eine neue Ebene erreichte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, demzufolge das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung von 2019 insofern mit Grundrechten unvereinbar sei, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab 2031 fehlen. Die Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes „umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels, etwa vor klimabedingten Extremwetterereignissen wie Hitzewellen, Wald- und Flächenbränden, Wirbelstürmen, Starkregen, Überschwemmungen, Lawinenabgängen oder Erdrutschen, zu schützen“, was eine Schutzverpflichtung für künftige Generationen begründen kann (BVfG 2021).

Angesichts der planetaren Risiken des Klimawandels wird diskutiert, den Klimaschutz zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens) zu machen, das über völkerrechtlichen Verträgen (ius dispositivum) steht (Alt 2022; NatWiss 2022). Neben den Vorschlägen, Ökozid als Verbrechen gegen den Frieden einzuführen und Klimaschutz zum obersten Völkerrecht zu erheben, wird angeregt, einen Internationalen Umweltgerichtshof für den Schutz der Umwelt einzurichten (Riddell und Davies 2020).

Wieweit solche Vorschläge sich durchsetzen, hängt von der politischen Unterstützung ab, insbesondere durch die Zivilgesellschaft. Mit wachsenden Protesten gegen Umweltzerstörung, Artensterben und Ressourcenausbeutung wird der Ruf lauter, damit verbundene Verbrechen und ihre Täter*innen zu verurteilen. Die Frage ist jedoch, wer wen zur Rechenschaft ziehen kann, wenn alle zu CO2-Emissionen beitragen und zugleich davon betroffen sind, allerdings in sehr ungleichem Ausmaß. Werden Umweltstraftaten vor allem in ärmeren Ländern des Globalen Südens verfolgt, während die reicheren Länder im Norden sich aufgrund ihrer Macht vor Verfolgung schützen können, verschärft dies Ungerechtigkeiten. Fairer wäre es, wenn die reichen Hauptverursacher für die Vermeidung und Kompensation von Schäden zahlen – mit und ohne Klageweg.

Dabei darf die Frage von Krieg und Frieden nicht übersehen werden. Zum einen hat der Klimawandel das Potential, höchste Rechtsprinzipien zu verletzen und Gewaltkonflikte zu verstärken. Zum andern können auch Rüstung und Krieg Ökozide hervorbringen, allen voran Atomwaffen (Scheffran 2020). Ein Atomkrieg und besonders der Nukleare Winter gehören zu den schlimmsten Formen des Ökozids, die das Leben auf der Erde aufs Spiel setzen. Die komplexen Zusammenhänge aus nuklearen und klimabedingten Risiken (Scheffran et al. 2016) werden deutlich bei Inselstaaten wie den Marschall-Inseln, die durch Nuklearrüstung und Klimawandel doppelt bedroht sind und gegen beide Bedrohungen vor dem Internationalen Gerichtshof vorgehen.

Literatur

Adloff, F.; Busse, T. (2021): Warum die Natur Rechte braucht. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/21, S. 43-52.

Alt, F. (2022): Wird Klimaschutz oberstes Völkerrecht? Sonnenseite, 8.1.2022.

BVfG (2021): Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich. Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung 31/2021, 29.4.2021.

Rechte der Natur (2021): Ecuador: Verfassungsgericht setzt die Rechte der Natur im Fall Los Cedros durch. Rechte der Natur, online, 03.12.2021.

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Jürgen Scheffran ist Geographie-Professor für »Klimawandel und Sicherheit« im Klimacluster CLICCS an der Universität Hamburg und Redaktionsmitglied von W&F.

Das Investigative Commons

Das Investigative Commons

Aufarbeitung von Verbrechen durch zivilgesellschaftliche Organisationen

von Anne Schroeter

Mit der Gründung des »Investigative Commons« haben zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene eine neue Möglichkeit, Taten und Täter*innen zu ermitteln und Verbrechen aufzuarbeiten. Der multidisziplinäre Ansatz der Projekte erlaubt eine neuartige inhaltliche und visuelle Verzahnung der Beweissicherung. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des Investigative Commons und seinen Beitrag zur Ermittlung von Täter*innen.

Seit seiner Gründung sieht das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) sein Ziel darin, von Menschenrechtsverletzungen betroffene Menschen dabei zu unterstützen, dass die Verantwortlichen für diese Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das ECCHR arbeitet dazu in vier Programmen zu den Themen Völkerstraftaten, Wirtschaft und Menschenrechte, Migration sowie dem Institut für juristische Intervention. Primat all dieser Programmbereiche ist das »Kehren vor der eigenen Haustür« – das ECCHR nimmt sich vor allen Dingen der Handlungen europäischer Akteur*innen an oder stellt gemeinsam mit Betroffenen einen Bezug zu den jeweiligen europäischen Rechtsrahmen her. Dabei ist es sich der Ambivalenz des Rechts bewusst – einerseits als Ausdruck historischer Ungleichheiten und gleichzeitig als Mittel, um nun für die Überwindung eben jener Ungleichheiten zu streiten und eine entsprechende Rechts­praxis auszugestalten. Bei der Verfolgung von Täter*innen kommt auch das klassische nationale und internationale Strafrecht zum Einsatz. Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen kann aber ebenso von Staaten vor internationalen Gerichten und UN-Mechanismen sowie von Unternehmen vor zivilen Gerichten eingefordert und übernommen werden.

Einen ähnlichen Ansatz nutzt auch die Forschungseinrichtung »Forensic Architecture«, die mit marginalisierten und diskriminierten Individuen und Gruppen zusammenarbeitet, die von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in besonderem Maße betroffen sind. Die Forscher*innen von Forensic Architecture erstellen Sachverständigenberichte zur Verwendung in Gerichtsverfahren. Zusätzlich bedient sich Forensic Architecture weiterer öffentlicher Foren, um ihre Fallberichte vorzustellen und Fehlverhalten anzuprangern. Die Projektbeteiligten nutzen dafür beispielsweise künstlerische Aktionen, Medienberichte oder sogenannte Bürger*innen-Tribunale (Citizen-Tribunals).

Die Idee des »Investigative Commons«

Forensic Architecture und das ECCHR haben in den letzten Jahren gemeinsam eine Reihe von Projekten verwirklicht, unter anderem zu tödlichen Drohnenangriffen in Pakistan, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Syrien, tödlicher Fahrlässigkeit von Unternehmen in Pakistan sowie Gewalt gegen Migrant*innen an den Grenzen der EU.1 Daraus entstand eine Idee für eine neue Art der Menschenrechtsarbeit, die 2014 in der Ausstellung »FORENSIS« im Berliner Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wurde: gemeinsame Untersuchungen, vorgebracht im Rahmen von innovativen juristischen Strategien, die das Ziel haben, Verantwortung und Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Foren – beispielsweise den Medien, Kultureinrichtungen oder Gerichtssälen – einzufordern.2 Im Jahr 2020 eröffneten die beiden Organisationen dann ein gemeinsames Büro in Berlin, in dem diese interdisziplinäre Arbeit weiter ausgebaut werden soll. Es trägt den Namen »Investigative Commons«, um auszudrücken, dass Untersuchungen im menschenrechtlichen Bereich zwingend die gemeinsame Arbeit unterschiedlicher Fachleute innovativ kombinieren und ergänzen muss, wenn sie gegen post-faktische Narrative bestehen will.

Die Gründung des Investigative Commons sieht sich als Antwort auf die Entwicklungen der letzten Jahre, in denen rassistische und nationalistische Tendenzen und Diskurse genutzt werden, um gewaltvolle Handlungen und Wahrheiten zu verschleiern. Während das Wort „forensis ursprünglich einen öffentlichen Raum bezeichnete, in dem Fakten und Wissen von Interesse für die Gemeinschaft ausgetauscht wurden, ist die heutige Verwendung des Wortes oft auf das Vortragen von Beweismitteln in Form von staatlichen Ermittlungserkenntnissen und Sachverständigen im Rahmen von streng geregelten Gerichtsverfahren zugespitzt. Durch das Investigative Commons soll zu diesem staatlichen Monopol ein Gegengewicht gebildet werden. Es soll also auf Grundlage verschiedener Disziplinen und Fachwissen Wahrheit jenseits des Gerichtsverfahrens faktenbasiert aufbereitet, visualisiert und öffentlich kommuniziert werden. Diese Form der Menschenrechtsarbeit will es der Zivilgesellschaft ermöglichen, für die Wahrheit zu kämpfen – und es so als Gemeingut (»Commons«) verstanden wissen. Da die beiden Trägerorganisationen langjährige Erfahrung in der öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse haben, werden auch die vom Investigative Commons erstellten Fallstudien nicht nur in Gerichtssälen und bei Untersuchungskommissionen, sondern auch bei öffentlichen Aufarbeitungsbemühungen, in interaktiven Medien und bei Ausstellungen eingesetzt werden.

Interdisziplinäre Kooperation

Das Investigative Commons ist daher eine multidisziplinäre Zusammenarbeit, die ermittelnde Gruppen (NGOs, Investigativjournalist*innen und andere) mit Anwält*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen und Kultureinrichtungen zusammenbringt. Es fördert neben der konkreten Fallarbeit auch die konzeptionelle und technische Forschung, den Austausch von Fachwissen und den Aufbau von Kapazitäten. Um eine Kerngruppe von Mitarbeitenden herum werden befreundete Organisationen und Kolleg*innen Forschungs- oder Kooperationsaufenthalte absolvieren können und neue Untersuchungstechniken, neue Formen der Beweisführung und neue Foren der Interessenvertretung und Prozessführung erarbeiten. Die daraus resultierenden Veröffentlichungen sollen Wege zu neuen Methoden der Rechenschaftspflicht in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, Umweltgewalt und koloniale Hinterlassenschaften ebnen.

Zum Beispiel werden im Moment Methoden zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen entwickelt, die bisher nicht angemessen forensisch untersucht wurden. Dabei werden zur Verfügung stehendes historisches Material und aktuelle Satellitenbilder in einem Kartierungsprozess übereinander gelegt und diese visuellen Ergebnisse in die Erinnerungen von Überlebenden und deren Nachfahren eingebettet. Außerdem arbeiten wir weiter an Techniken der Open-Source Recherche. Mit Hilfe von öffentlich (und häufig im Internet) zugänglichen Daten können Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung korrekt verortet werden. Mittels dieses Prozesses der Geolokalisierung können also Tatorte identifiziert und weitere Anhaltspunkte für mögliche Verantwortliche und Tatabläufe gewonnen werden.

Zu den Gründungsprojekten des Investigative Commons gehören Untersuchungen zur Verantwortung von europäischen Unternehmen für Kriegsverbrechen im Jemen (siehe dazu weiter unten), zum deutschen Völkermord an den Herero und Nama und zu den gewaltsamen »Push­backs« von Migrant*innen aus Griechenland in die Türkei.

Entwicklung neuer Methoden

Im Jahr 2012 kooperierten Forensic Architecture und das ECCHR zum ersten Mal – lange vor der Gründung des Investigative Commons. Damals, kurz nach dem Beginn des massiven Einsatzes bewaffneter Drohnen im sogenannten »War on Terror« der US-Regierungen, wurden bei solch einem Einsatz im pakistanischen Mir Ali am 4. Oktober 2010 ein deutscher Staatsbürger sowie vier weitere Personen getötet. Nachdem der Generalbundesanwalt zunächst Ermittlungen einleitete, kritisierte das ECCHR den schnellen Abschluss der Ermittlungen und die fortdauernde Straflosigkeit (vgl. ECCHR 2013). Forensic Architecture und das ECCHR konnten gemeinsam mit einer überlebenden Zeugin und ihren Erinnerungen den Vorfall detailliert rekonstruieren (vgl. Forensic Architecture 2013). Diese Fallstudie wurde anschließend in mehreren Ausstellungen gezeigt und war der Gründungsmoment einer seither von Forensic Architecture weiterentwickelten Interview-Methodik des „situated testimony“ (Weizman 2020). Die Untersuchung und das Ergebnis wurden außerdem vom UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten und Terrorismusbekämpfung in einem Bericht sowie vor der Generalversammlung der UN präsentiert (vgl. HRC 2014, S. 12f.). Er stellt damit ein erstes Beispiel der kollaborativen Menschenrechtsarbeit verschiedener NGOs vor verschiedenen Foren – Gerichten, UN-Organen und Kulturinstitutionen – dar.

Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Aufarbeitung des Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprise in Karachi im September 2011 bei dem 259 Personen starben. Gemeinsam mit und im Namen von Hinterbliebenen und Überlebenden reichte das ECCHR eine Schadensersatzklage gegen einen der Hauptabnehmer der Textilfabrik, den deutschen Textildiscounter KiK, beim Landgericht Dortmund ein (vgl. ECCHR 2019). Seinerzeit wurde Forensic Architecture beauftragt, den Brand selbst sowie die tödlichen Auswirkungen der zugestellten oder verschlossenen Fluchtwege nachzustellen (vgl. Forensic Architecture 2018). Basierend auf Untersuchungsberichten zum Fabrikbrand, offiziellen Unterlagen und gesetzlichen Bestimmungen zum Brandschutz in Pakistan, Zeug*innenaussagen sowie Satelliten- und Fotoaufnahmen des Fabrikgebäudes, zeigt die Untersuchung das Fehlen oder fehlerhafte Funktionieren von Treppen, Notausgängen, Alarmsirenen und Feuerlöschern im Fabrikgebäude. Forensic Architecture kommt zu dem Schluss, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Sorgfaltspflichten im Brandschutz eingehalten worden wären. Aus Sicht der beiden Organisationen zeigte die Untersuchung die Verantwortung von KiK als Hauptproduzent in der Fabrik auf, der seinen Einfluss nicht genutzt hatte, um auf bessere Arbeits- und Feuerschutzmaßnahmen zu bestehen. In Deutschland war dieser Fall wegweisend für die Bemühungen eines Bundesgesetzes zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten (das sogenannte »Lieferkettengesetz«), das 2021 verabschiedet wurde.

Völkerrechtsverbrechen im Jemen

Im Juni 2021 wurde das erste Projekt des neugegründeten Investigative Commons vorgestellt. Es basiert auf einer Strafanzeige, die das ECCHR gemeinsam mit Mwatana for Human Rights und weiteren europäischen Partnerorganisationen im Dezember 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hatte. Die Anzeige benannte die strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Stellen und Rüstungskonzernen in fünf europäischen Ländern für ihre Waffenexporte nach Saudi Arabien und für die mit diesen Waffen begangenen völkerrechtswidrigen Luftangriffe.

Die interaktive Online-Plattform, die in der Folge von Forensic Architecture und dem ECCHR gemeinsam mit den Organisationen Bellingcat und Yemeni Archive entwickelt wurde, zeigt den Fußabdruck eben dieser europäischen Waffenexporte im Krieg in Jemen.3 Sie stellt Luftangriffe zwischen 2015 und 2020 auf einer Landkarte und einem Zeitstrahl dar und setzt diese jeweils in Beziehung zu europäischen Rüstungsfirmen. Diese Beziehung ist entweder nachgewiesen, wenn am Tatort identifizierbare Trümmerteile der Waffen aufgefunden wurden, oder vermutet, da die die technische Ausstattung der saudischen Luftwaffe darauf hinweist, dass europäische Waffen eingesetzt wurden. Nutzer*innen der Plattform können die Frequenz der Luftangriffe mit anderen relevanten Ereignissen zum Export europäischer Waffen und der Verletzung des humanitären Völkerrechts abgleichen und dabei feststellen, dass (a) völkerrechtswidrige Luftangriffe im Jemen keine Seltenheit oder Einzelfälle sind; und dass (b) dies weithin bekannt war und weder zu einer Einstellung oder dem Widerruf von Exportgenehmigungen noch zu einem Aussetzen der Exporte aus Europa geführt hat.

Die Plattform visualisiert also die Beweisführung, die in der Strafanzeige zum Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wurde. Auf dem Zeitstrahl ist erkennbar, dass sowohl europäische Rüstungsfirmen als auch Regierungen von Anfang an von den Verbrechen Kenntnis hatten, daraus aber die einzig richtige Konsequenz nicht gezogen wurde: der Stopp der Waffenexporte an die saudisch geführte Koalition. Die Strafanzeige fordert daher Konsequenzen ein und will das System der europäischen Waffenexporte und die damit begangenen Kriegsverbrechen aufzeigen.

Identifizierung von Täter*innen

Inwiefern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen oben angesprochenen Methoden und der Kooperation im Rahmen des Investigative Commons zur besseren Identifizierung weiterer Täter*innen führen kann, die dann auch vor Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls zeigen die oben aufgeführten Beispiele schon jetzt, dass Täter*innen keinesfalls immer Individuen sein müssen. Auch wenn hinter Unternehmen im Endeffekt natürliche Personen stehen, können auch juristische Personen für Unrecht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Ähnlich auch staatliche Politiken, die zwar von Menschen gemacht werden, aber durch Verfahren der Staatenverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden können.

Außerdem ist ersichtlich, dass es sich bei vielen Tatkomplexen um arbeitsteilig organisierte und aufgeteilte Kriminalität handelt. Zum einen sollen natürlich Führungspersönlichkeiten dieser Systeme zur Anklage gebracht werden. Zum anderen sollen durch das Investigative Commons aber auch das jeweils dahinterstehende Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen und Strukturen bei der Begehung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen durchleuchtet, der Öffentlichkeit aufgezeigt und letztendlich zur Verantwortung gezogen werden. Beim Aufklären von systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Umweltgewalt geht es also nicht zwangsläufig darum, individuelle Täter*innen zu identifizieren und einem strafrechtlichen Verfahren zuzuführen. Vielmehr ist es notwendig, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Taten bekannt zu machen, aufzuklären und dann mit verschiedenen Mitteln Verantwortung einzufordern – vor Gerichten, in den Medien oder in Museen.

Ausblick

Neben der Fallarbeit wird das Investigative Commons auch öffentlich eine kritische Debatte über aktuelle politische Herausforderungen, Technologie, Menschenrechte, Medien und Ästhetik fördern – in offenen Seminaren für ein breiteres Publikum und in geschlossenen Workshops. Den ersten Anstoß dazu gab die Ausstellung »Investigative Commons« im Sommer 2021 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Darauf folgte im Oktober 2021 die Konferenz »Socializing Evidence«, die unterschiedliche forensische Analysemethoden und ihre Nutzbarkeit in verschiedenen künstlerischen und juristischen Interventionen diskutierte. Weitere werden folgen.

Anmerkungen

1) Alle geschilderten Beispiele sind über die Homepages von Forensic Architecture (forensic-architecture.org) und dem ECCHR (ecchr.eu) zu finden.

2) Die Ausstellung »Forensis« von 2014 ist immer noch über die Homepage des HKW abrufbar: hkw.de.

3) Die Plattform lässt sich unter yemen.forensic-architecture.org finden.

Literatur

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ECCHR (2019): KiK-Verfahren belegt: Deutschland muss Haftungspflichten von Unternehmen grundlegend reformieren. Pressemitteilung, 21.5.2019.

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Human Rights Council (2014): Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Ben Emmerson. A/HRC/25/59, 11.3.2014.

Weizman, E. (2020): The Architecture of Memory. Interview von Nick Axel. E-flux Architecture, November 2020.

Anne Schroeter ist Koordinatorin des Investigative Commons beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Mare Nostrum


Mare Nostrum

Die Konflikte um das Südchinesische Meer

von Uwe Hoering

Auch wenn Chinas Ansprüche auf große Teile der südostasiatischen Gewässer historisch und rechtlich auf wackligen Beinen stehen, verschärft die aktuelle US-amerika­nische Politik die nationalistische Haltung Beijings und trägt dazu bei, die Konfrontation und Militarisierung hochzuschaukeln. Insbesondere die kleineren Länder, die stets versucht haben, die Region aus Großmachtkonflikten herauszuhalten, werden gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Damit wird ein Forum für eine regionale Beilegung der Konflikte geschwächt.

Die Ankündigung einer besonderen »Sicherheitspartnerschaft« zwischen den USA, Australien und Großbritannien (AUKUS) ist der jüngste Schritt in der Internationalisierung des zunächst regionalen Konflikts im Südchinesischen Meer. Längst wurde er zum Treibsatz für die Eskalation des Streits zwischen den USA und China um die (Führungs-)Rolle in der globalen Ordnung. Die Entwicklungen schüren Warnungen vor einem Abgleiten in einen bewaffneten Konflikt. „Bündnistreue“ und eigene Interessen könnten dazu führen, dass auch weitere europäische Länder wie Deutschland in die Konfrontation hineingezogen werden.1

Stürmische See

Der Konflikt um das sogenannte Südchinesische Meer selbst ist alt. China hatte bereits 1947 historische Ansprüche auf den größten Teil der Gewässer geltend gemacht, die es sich unter anderem mit Vietnam, Indonesien, Taiwan, den Philippinen und Malaysia sowie der internationalen Seefahrt teilt. Seither kursieren unterschiedliche Versionen einer U-förmigen, recht freihändigen Demarkationslinie. So legte die Regierung in Peking 2009 eine Landkarte mit der »Nine-dash-line« (Neun-Striche-Linie) vor, die durch einen zehnten Strich östlich von Taiwan erweitert wurde. Aber auch andere Anrainerstaaten, beispielsweise Vietnam, Philippinen und (seit 1995) Taiwan, erheben mit ähnlichen Begründungen maritime Ansprüche.

Zunächst standen vor allem ökonomische Interessen im Vordergrund: Die Sorge um die wichtige Seehandelsroute, der Zugang zu reichen Bodenschätzen und Fischgründen. Bereits frühzeitig gab es darob auch immer wieder bewaffnete Konflikte, vor allem mit Vietnam und den Philippinen. Durch den Ausbau von Sandbänken und Felsriffen zu dauerhaften Stützpunkten wurden Ansprüche untermauert. Dieses Muster der Okkupation wird von fast allen Anrainerstaaten betrieben – doch von niemandem so konsequent wie von China“ (Seifert 2012, S. 15).2

Nach einem Scharmützel zwischen philippinischen und chinesischen Schiffen um das Scarborough-Riff im Frühjahr 2012, bei dem sich die US-Regierung um Vermittlung bemühte, strengte die Regierung in Manila dann eine Klage vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag an. Dessen Entscheidung vom Sommer 2016, dass Beijings Anspruch auf „unser Meer“ gegen UN-Seerecht (UNCLOS) und damit gegen internationales Recht verstößt3, weist die chinesische Regierung bislang brüsk zurück.

Henne oder Ei

Zwei politische Entwicklungen, die ungefähr zeitgleich erfolgten, brachten eine weitere Internationalisierung des Konflikts – das stärkere Engagement der USA in der Region angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Chinas (bekannt als Strategie des »Pivot to Asia«) und Beijings »Belt and Road Initiative« (BRI).

Die aktuelle Politik von US-Präsident Joe Biden, die US-amerikanische Außenpolitik stärker auf den Fernen Osten zu fokussieren, ist keineswegs neu. Bereits im August 2013 schrieben die US-amerikanischen Asienexperten Kurt Campbell und Brian Andrews über den außenpolitischen Kurs der Regierung von Barack Obama: „Die Regierung der Vereinigten Staaten befindet sich in der Anfangsphase eines bedeutenden nationalen Projekts: Sie richtet wesentliche Teile ihrer Außenpolitik auf den asiatisch-pazifischen Raum aus und ermutigt viele ihrer Partner außerhalb der Region, dies ebenfalls zu tun. Dieser vor vier Jahren eingeleitete »strategische Schwenk« beruht auf der Einschätzung, dass der Löwenanteil der politischen und wirtschaftlichen Geschichte des 21. Jahrhunderts im asiatisch-pazifischen Raum geschrieben werden wird.“ (Campbell und Andrews 2013, S. 2)

Dadurch wurden in Beijing Befürchtungen vor einer Einkreisungspolitik verstärkt. Zu den Reaktionen gehörte, die »Going Global«-Politik zu beschleunigen, vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft in Süd- und Südostasien sowie in Eurasien. Pläne für den Ausbau von Land- und Seewegen, die Intensivierung des Handelsaustauschs und die Sicherung der Versorgung mit Rohstoffen firmieren seit 2013 unter der Bezeichnung »One Belt One Road« beziehungsweise BRI als Markenzeichen von Präsident Xi Jinping (vgl. Hoering 2018, S. 136ff). Inzwischen wurden mit weit über 100 Ländern Kooperationen vereinbart. Angekündigt wurden Investitionen in Infrastruktur in mindestens dreistelliger Milliardenhöhe (US $), verbesserte Handels- und Finanzbeziehungen und enge politische Zusammenarbeit. Insbesondere in der westlichen Diskussion wurden diese »Neuen Seidenstraßen« schnell nicht nur als aggressives geoökonomisches, sondern als geostrategisches Projekt eingestuft – und damit als ein zentraler Bestandteil der politischen Herausforderung der globalen Führungsposition der USA durch die Wirtschaftsmacht China und der »Systemkonkurrenz«.

Unsicherheitspolitik

Damit einher gehen eine zunehmende Militarisierung auch des Seekonflikts und die Spirale eines Wettrüstens. Die mächtige Pazifik-Flotte der USA ist dort schon seit längerem im Einsatz und liefert sich Revierkämpfe mit der chinesischen Marine – die schnell durch einen »Zwischenfall« in eine bewaffnete Konfrontation eskalieren könnten.4 Verstärkt sind inzwischen auch europäische Kriegsschiffe, darunter die deutsche Fregatte »Bayern«, in den umstrittenen Gewässern unterwegs, um die »Freiheit der Schifffahrt« zu verteidigen, die durch die Gebietsansprüche Chinas im Südchinesischen Meer und die Nichtanerkennung internationaler Rechtsprechung (wie dem Spruch des Schiedsgerichts von den Haag) angeblich gefährdet sei. Selbst Japan lockert seine Beschränkungen für militärische Allianzen und erhöht ebenso wie Australien, Südkorea, Taiwan und Indien seine Militärausgaben.5

Umgekehrt rüstet China auf, insbesondere seine Marine, die bislang weit unterlegen ist (vgl. Unterseher in dieser Ausgabe). Die strategische Bedeutung der Militäranlagen im Südchinesischen Meer als Vorposten gegen einen möglichen Angriff der USA und deren Verbündeten wächst. Der renommierte Publizist und Politiker Walden Bello (2021) hat dafür durchaus Verständnis: Denn die 7. US-Flotte kontrolliere die Region seit dem Ende des 2. Weltkriegs, die USA verfügten über mehr als 50 größere Militärbasen von Japan bis Diego Garcia im Indischen Ozean.

Außerdem intensivieren beide Seiten ihre Bündnispolitik: China hat beispielsweise mit der 2001 gegründeten »Shanghai Cooperation Organisation« (SCO) eine sicherheitspolitische Allianz geschaffen, die Russland, zentralasiatische Länder, aber auch Pakistan und Indien umfasst.6 Im Rahmen einer »Nachbarschaftsdiplomatie« touren Außenminister Wang Yi und andere hochrangige Politiker regelmäßig in der Region. Angebote im Werkzeugkasten von Beijings »weicher Diplomatie« sind nicht nur BRI-Investitionen, sondern auch die Unterstützung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Aussicht auf eine digitalisierte »Seidenstraße der Gesundheit«.

Washington seinerseits sucht nach der kurzzeitigen »America First«-Unterbrechung durch Präsident Donald Trump, der vor allem den direkten Schlagabtausch zur Schwächung des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas suchte, unter Biden wieder seine historisch starken multilateralen Bündnisse in Ostasien und im Pazifik zu stärken. Heftig umworben werden dabei auch neue Kandidaten wie Vietnam, heftigster Kritiker von Chinas Ansprüchen, das in der ersten Jahreshälfte 2021 sowohl von US-Vizepräsidentin Kamala Harris als auch von Verteidigungsminister Lloyd Austin besucht wurde. Im Visier auch Indien7, dessen territoriale und politisch-ideologische Divergenzen mit China erst jüngst wieder zu Scharmützeln in der Himalaya-Region führten. Delhi fühlt seine regionale Vormachtrolle durch BRI bedroht, das sowohl seinen Erzfeind Pakistan fördert, als auch mit einer »Perlenkette« von Häfen im Indischen Ozean Chinas Präsenz stärken könnte.

Gefährdung einer delikaten Balance

Die von beiden Seiten als Bündnispartner umworbenen Nachbarn Chinas, insbesondere die kleineren Länder der südostasiatischen Regionalorganisation ASEAN, geraten zwischen die kämpfenden Elefanten. Die zehn Mitgliedsländer, darunter das reiche Singapur und das arme Laos, die Militärregime in Thailand und Myanmar und Demokratien wie Indonesien und Malaysia, haben in vielen wirtschaftlichen und politischen Fragen sehr unterschiedliche Interessen, was immer wieder eine Einigung erschwert hat.

Wirtschaftlich sind alle auf gute Nachbarschaft mit China angewiesen, die durch einen eskalierenden Konflikt gefährdet ist. Seit Jahren sind ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Volksrepublik immer enger geworden: Sie gehören zu den wichtigsten Nutznießern der »Neuen Seidenstraßen«, der Auslagerungen arbeitsintensiver Betriebe und von Chinas steigendem Appetit auf Agrarprodukte und andere Rohstoffe. Mit dem von der ASEAN konzipierten regionalen Wirtschaftsabkommen RCEP ist es Mitte November 2020 gelungen, China in eine breitere Wirtschaftsarchitektur einzubinden, an der auch enge militärische Verbündete der USA wie Japan und Südkorea beteiligt sind.

Sicherheitspolitisch jedoch sind einige von ihnen – wie Singapur und die Philippinen – langjährige Bündnispartner der USA, auch die anderen suchen gerne eine Rückendeckung durch die USA, in der Hoffnung, dass sich die beiden Kontrahenten gegenseitig in Schach halten. Denn angesichts des wachsenden Einflusses und der gefährlichen Abhängigkeit vom Großen Nachbarn im Norden herrscht sowohl bei vielen Regierungen, als auch in der Bevölkerung verbreitetes Misstrauen gegenüber chinesischen Absichten und Beteuerungen angeblich gemeinsamer Interessen.

Re-Regionalisierung der Konfliktlösung

Grundsätzlich sind die Regierungen Südostasiens allerdings eher bestrebt, Frieden, Freiheit und Neutralität in Südostasien zu erhalten und die Kontroversen mit der Regierung in Beijing zu verhandeln. Seit Jahren versuchen sie, eine interne Lösung des Konflikts um das Südchinesische Meer zu erreichen und eine Eskalation zu verhindern. Im November 2002 hatten China und die ASEAN-Länder bereits eine Rahmenerklärung für einen Verhaltenskodex vereinbart. Darin wird unter anderem die Einhaltung der UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) und die friedliche Beilegung von territorialen Streitigkeiten zugesagt. Seither gab es allerdings kaum substantielle Fortschritte.

Im August 2021 unternahmen sie jetzt einen neuen Anlauf, die Verhandlungen über einen Verhaltenskodex voranzutreiben. Doch die Positionen in zentralen Fragen sind weit auseinander. Aristyo Darmawan vom International Law Center for Sustainable Ocean Policy an der Universität von Indonesien nennt vier zentrale Streitpunkte (2021): die geographische Reichweite eines Abkommens, seine rechtliche Verbindlichkeit, die Etablierung von Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung und die Streit­schlichtung. Nach Auffassung der meisten Beobachter*innen wäre zudem eine Anerkennung des Schiedsspruchs des UN-Seegerichtshofs durch China und damit die Anerkennung internationalen Rechts notwendig. Trotz der schleppenden Fortschritte sieht der Publizist Bill Hayton (2021) aber auch Positives: Seit einem Jahrzehnt sei es weder zu bewaffneten Zusammenstößen noch zur Besetzung weiterer Sandbänke oder Riffe gekommen.

Zudem beansprucht die ASEAN für sich die zentrale diplomatische Rolle in Südostasien und dem westlichen Pazifik, unter anderem als Dialogforum zu sicherheitspolitischen Themen für die beteiligten Staaten. Dagegen würde in einem neuen Kalten Krieg ein »Sicherheitsdialog«, der von Industrieländern und Staaten außerhalb Asiens dominiert wird, die Position und Bedeutung der ASEAN schwächen – und damit den regionalen Multilateralismus entwerten. AUKUS ist ein aktuelles Beispiel für eine solche Spaltung der ASEAN-Länder: Malaysias Premierminister Ismail Sabri Yaakob und Indonesiens Außenministerium zeigten sich tief besorgt über den Beitrag zu einem Wettrüsten in der Region durch die Lieferung von atomar angetriebenen U-Booten, der Außenminister der Philippinen begrüßte den Schritt als Beitrag zur „Wiederherstellung und Erhaltung des Gleichgewichts“ (South China Morning Post vom 21. September 2021), Vietnam, Singapur und Thailand haben es weitgehend vorgezogen, dazu zu schweigen.

Walden Bello (2021) schlägt vor, angesichts der Eskalation, die die Einigungsbemühungen gefährdet, solle ­ASEAN die Initiative ergreifen, um zu erreichen, dass sich sowohl die USA als auch China militärisch zurückziehen. Dann könnten sich die unmittelbar Beteiligten untereinander zusammenraufen. Eine derartige Demilitarisierung würde, so die Hoffnung, die Möglichkeit für positivere Beziehungen zwischen China, den einzelnen Ländern und ­ASEAN eröffnen, um „gemeinsam die Ressourcen des Südchinesischen Meeres zu nutzen und das einmalige Ökosystem zu schützen.

Anmerkungen

1) Verteidigungsministerin Annegret Kramp-­Karrenbauer wird in der South China Morning Post vom 15. September 2021 zitiert, die Europäische Union sollte eine „dauerhafte Präsenz“ in der Region etablieren.

2) Der hier zitierte Text von 2012 gibt immer noch einen guten Überblick über die Lage der Konflikte allgemein.

3) Übrigens haben die USA, die sich zur Verteidigung des internationalen Rechts berufen fühlen, anders als China UNCLOS bislang nicht ratifiziert.

4) Beruhigend allerdings die Einschätzungen von Militärexperten in einem kürzlich erschienenen Bericht in der South China Morning Post vom 29. September 2021. Demnach bemühen sich die Einsatzkräfte vor Ort, den versehentlichen Ausbruch eines Konflikts zu vermeiden. Collin Koh von der S. Rajaratnam School of International Studies in Singapur meint, dass die Zusammenarbeit zwischen den Militärs beider Seiten „sicherheitsbewusst und professionell“ sei, so wie es im Verhaltenskodex für ungeplante Zusammenstöße auf See (Code for Unplanned Encounters at Sea), der 2014 vereinbart wurde, vorgesehen sei.

5) Siehe South China Morning Post vom 29.09.2021: As China strengthens military, Asia-Pacific governments go defence shopping.

6) Beteiligte Länder sind neben der Volksrepublik China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan, neuerdings ist eine Aufnahme von Iran im Gespräch.

7) Indien ist unter anderem Mitglied von QUAD (»Quadrilateral Security Dialogue«), gemeinsam mit Australien, Japan und den USA.

Literatur

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Uwe Hoering publiziert zu den Auswirkungen der Globalisierung vor allem in Asien und Afrika (www.globe-spotting.de) und kommentiert die Belt and Road Initiative auf seinem Blog www.beltandroad.blog.

Globales Unrecht, lokal ahnden?


Globales Unrecht, lokal ahnden?

Analyse und Kritik der Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch

von Alexander Benz

Gegen Ende des letzten Jahrtausends erreichte die Staatengemeinschaft mit der Einrichtung der Sondergerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda wichtige Meilensteine auf dem Weg zur weltweiten Ahndung von Völkerrechtsverbrechen. Dieser Weg gipfelte im Römischen Statut (Rom-Statut) und der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Seitdem hat sich das Stimmungsbild in der Staatengemeinschaft merklich geändert. Vielen scheint die Errichtung eines solchen Gerichtshofes heute nicht mehr möglich. Im Folgenden soll daher anhand der Analyse deutscher Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) der Frage nachgegangen werden, ob nationale Strafverfahren in Zukunft internationale Tribunale entlasten können.

Die grundlegende Idee einer Völkerstrafrechtsordnung ist, schwerste Menschenrechtsverletzungen nicht ungesühnt bleiben zu lassen. Damit auch Verbrechen mächtiger Regimemitglieder geahndet werden, die sich häufig mit politischen Mitteln der Strafverfolgung entziehen können, bedarf es eines Systems trans- und internationaler Strafrechtspflege (vgl. ECCHR 2016, S. 9f.). Dabei ist die Grundannahme, dass die juristische Aufarbeitung in den Staaten der Tatbegehung prinzipiell am besten dazu beitragen kann, dieses Ziel zu erreichen. Daran hat sich auch mit Schaffung des IStGH in Den Haag nichts geändert (vgl. ECCHR 2016, S. 17f.). Zwar hat er Gerichtsbarkeit über die „schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“ (vgl. Abs. 4 Präambel Rom-Statut). Diese sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Dabei wird aber der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich der Vorrang eingeräumt (Art. 17 Rom-Statut). Dem Grundsatz der Komplementarität folgend dient Strafverfolgung durch den IStGH lediglich ihrer Ergänzung, wenn nationale Rechtssysteme nicht fähig oder willens sind, ein faires Strafverfahren durchzuführen. Neben internationalen Tribunalen sind also zunächst die Nationalstaaten dazu angehalten, die oben genannten Verbrechen zu ahnden, sofern ihnen dies möglich ist.

Die deutsche Strafgerichtsbarkeit ist eines der nationalen Gerichtssysteme weltweit, welches nicht nur willens, sondern auch tatsächlich dazu in der Lage ist, solche Prozesse zu führen. Es ist somit ein wichtiger Bestandteil des eben beschriebenen Systems. Flankierend zum Rom-Statut wurde 2002 das deutsche VStGB geschaffen. Diesem kommt dabei eine Bedeutung zu, die weit über die Bundesrepublik hinausreicht: Auf seiner Basis können besonders schwere Menschenrechtsverletzungen weltweit, welche die Schwelle zu Völkerrechtsverbrechen überschreiten, von deutschen Behörden verfolgt werden (vgl. § 1 VStGB) und in Deutschland zur Anklage kommen.

2011: Der »FDLR-Prozess«

Das erste Verfahren auf Basis des VStGB fand ab dem 11. Mai 2011 vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart statt. Hier erging am 28. September 2015 das erstinstanzliche Urteil. Der Prozess gegen zwei ruandische Anführer der im Osten der Demokratischen Republik Kongo aktiven Rebellengruppe »Forces démocratiques de libération du Rwanda« (FDLR) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung war mit 320 Verhandlungstagen der längste Prozess, der bis dahin jemals vor dem OLG Stuttgart stattgefunden hatte (vgl. ECCHR 2016, S. 9). Im Urteilsspruch wurde der Angeklagte Ignace Murwanashyaka unter anderem wegen Beihilfe zu fünf Kriegsverbrechen gemäß § 8 VStGB i.V.m. § 27 StGB in Tateinheit mit Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129b Abs. 1 StGB i.V.m. § 129a Abs. 1, 4 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Der zweite Angeklagte Straton Musoni wurde am Ende nur wegen Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.

Probleme des Verfahrens

Die Durchführung dieses Prozesses bereitete dem OLG Stuttgart durchaus Probleme: So wurde dem Gericht vorgeworfen, die Öffentlichkeit nur unzureichend informiert zu haben, insbesondere da keine Informationen in den für das Verfahren relevanten Sprachen zur Verfügung gestellt wurden (vgl. ECCHR 2016, S. 129f.). Kritisiert wurden daneben der teilweise unzureichende Zeug*innenschutz im Verfahren (ECCHR 2016, S. 135) sowie die fehlende bzw. erschwerte Opferbeteiligung (ECCHR 2016, S. 134ff.). In den nachfolgenden Jahren kam es aufgrund dieser Erfahrungen immer wieder zu Reformforderungen im Hinblick auf Völkerstrafprozesse in Deutschland.1

2020: Das »Al-Khatib-Verfahren«

Auf diesen Prozess folgten mehrere Verfahren nach dem VStGB in Deutschland (bspw. Aria Ladjedvardi, § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB, OLG Frankfurt, Urteil vom 12.07.2016 und aktuell Jennifer W., § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB u.a., OLG München seit dem 09.04.2019). Ob bei deren Durchführung Lösungsansätze zu den in Stuttgart aufgetretenen Problemen entwickelt werden konnten, ist fraglich. Beispielhaft kann dies ein aktuelles Verfahren zeigen: Jüngst sorgte das sogenannte »Al-Khatib-Verfahren« vor dem OLG Koblenz für grenzüberschreitendes Interesse. Dieser Prozess begann am 23. April 2020 und ist weltweit der erste Prozess gegen ehemalige Mitarbeiter*innen des syrischen Geheimdienstes (vgl. OLG Koblenz 2020). Im Laufe des vergangenen Jahres gewährte er Einblicke in die staatlich organisierte Folter Syriens. Die Anklage gegen die zwei Geheimdienstmitarbeiter lautet im Fall von Anwar R. auf Kriegsverbrechen nach §§ 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, Nr. 9 VStGB, 25 StGB, bzw. im Fall von Eyad A. auf Teilnahme an diesen Verbrechen (§§ 7 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 9 VStGB, 27 StGB). Daneben stehen für Anwar R. Vorwürfe von Mord, Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung im Raum.

Der Fall »Branch 251«

Die Verbrechen sollen hauptsächlich in und um »Branch 251« begangen worden sein, ein Gefängnis unter direkter Kontrolle des syrischen Geheimdienstes. Hierin liegt ein großer Unterschied zu anderen Verfahren nach dem VStGB: Statt Angehörigen nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen den Prozess zu machen, stehen nun ehemalige Angestellte der syrischen Regierung vor Gericht. Eine Vorlage syrischer Fälle von Völkerrechtsverbrechen beim IStGH auf Basis einer Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat ist aufgrund der Blockade durch die Vetostimmen von Russland und China nicht möglich.2 Ein internationales Sondertribunal für Syrien existiert daneben (noch) nicht.

Vor diesem Hintergrund kommt dem Verfahren in Koblenz eine wichtige Bedeutung zu: Ein solcher Prozess bietet die Möglichkeit, schon in einem sehr frühen Stadium Beweise zu sichern und so als Teil von »Transitional Justice« das Geschehen vor Ort noch während der Fortsetzung des zugrundeliegenden Gewaltkonfliktes einer ersten Aufarbeitung zu unterziehen – wenngleich diese zwangsläufig auf den Verfahrensgegenstand beschränkt bleibt. Darüber hinaus sendet das Verfahren bereits in der Gegenwart eine wichtige Botschaft an alle noch aktiv am Konflikt beteiligten Parteien: Die Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts sind weder reine Symbolik noch bloße Empfehlungen; ihre Verletzung wird tatsächlich geahndet (vgl. Bock und Wagner 2020, S. 3148). Das »Al-­Khatib-Verfahren« bietet dabei neben dem individuellen Nachweis einzelner Taten der Angeklagten zudem die Chance, erstmals die systematische staatliche Folter in einer Gefängniseinrichtung wie »Branch 251« und die dahinterstehenden organisatorischen Strukturen aufzuzeigen. Wichtiges Beweismittel sind in diesem Kontext die sogenannten »Caesar Files«. Diese Dateien beinhalten Fotos von Toten, die in Krankenhäusern in Damaskus aufgenommen wurden. Ohne sie wäre es in Koblenz wohl nicht zu einer Anklage gekommen (vgl. Ritscher 2018, S. 543f.). Begleitet von detaillierten forensischen und technischen Analysen, beleuchten sie das Ausmaß der staatlich koordinierten Folter und systematischer Tötung in Syrien (vgl. Ritscher 2019, S. 600). Der Umgang mit dem Material kann dabei zugleich aufzeigen, wie solche digitalen Beweise in zukünftigen Prozessen um internationale Verbrechen eingesetzt werden können.

Wiederkehrende Probleme

Trotz des oben beschriebenen Unterschieds, vor allem im Hinblick auf die Angeklagten, ergeben sich im Prozess vor dem OLG Koblenz ähnliche Schwierigkeiten wie im Prozess vor dem OLG Stuttgart und anderen Prozessen nach dem VStGB in Deutschland. Immer wieder ist die Distanz zum Tatort ein zentrales Problem, welches sich auf die Möglichkeiten der Beweiserhebung auswirkt. Die »Caesar Files« können hier keine vollständige Abhilfe schaffen. Ähnlich wie im Stuttgarter Verfahren treffen in Koblenz erneut ein zuvor mit solchen Verfahren nicht befasster Senat und die Vertreter­*innen des mittlerweile deutlich besser ausgestatteten Generalbundesanwalts aufeinander. Letzterer wurde in Deutschland in den vergangenen Jahren personell und finanziell verstärkt (vgl. Ritscher 2018, S. 543). Zusammen mit weniger erprobten Anwält*innen kann dies zu einem deutlichen Ungleichgewicht zwischen den Prozessparteien führen. Daneben entstehen aufgrund kultureller und sprachlicher Unterschiede weitere Spannungsfelder. So gibt es im Verfahren vor dem OLG Koblenz immer wieder Probleme mit der Übersetzung, welche sich nachteilig auf den Verlauf des Prozesses auswirken und Verständnisprobleme festigen können (vgl. SJAC und ICWC 2021, Abschnitt 6 »Evidentiary Challenges«).

Immer wieder äußern Zeug*innen zudem erhebliche Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit und der ihrer Angehörigen. Letztere leben oftmals noch in Syrien, für ihre Sicherheit kann vonseiten der deutschen Behörden keinerlei Garantie übernommen werden. Da (ehemalige) Unterstützer*innen der beiden Angeklagten nach wie vor in Machtpositionen sind, wird hier eine besondere Gefährdungslage deutlich. Der Senat des OLG Koblenz nutzt die beschränkten Mittel des Zeug*innenschutzes soweit möglich aus. Nichtsdestotrotz kann den Zeug*innen kein vollständiges Gefühl von Sicherheit vermittelt werden, was im Prozess immer wieder deutlich wird. Zeug*innen berichteten während ihrer Vernehmungen mehrfach davon, dass sie sich trotz einer Anonymisierung und weiterer Maßnahmen nicht sicher fühlten (vgl. SJAC 2020a). Teilweise werden Aussagen, die sie vor dem Prozess bei den Ermittlungsbehörden getroffen haben, nicht mehr bestätigt oder widerrufen (vgl. SJAC 2020a). In einigen Fällen kam es (versehentlich) zur Offenlegung ihrer Identität (vgl. SJAC 2020b). Diese Probleme sind dabei in Prozessen nach dem VStGB keine neue Entwicklung (s.o.).

Bedingt durch die Covid-19 Pandemie stand der Senat daneben vor ganz neuen Herausforderungen: Das bereits eröffnete Hauptverfahren, welches von Anfang an große mediale Aufmerksamkeit erregte, musste kurzfristig so ausgestaltet werden, dass alle Beteiligten und auch die Zuschauer*innen vor einer Infektion mit Covid-19 geschützt wurden. Das Gericht wechselte zur Wahrung des Mindestabstandes die Räumlichkeiten und beschränkte die Zahl der zugelassenen Zuschauer*innen. Diese und weitere Hygienemaßnahmen waren notwendig und sinnvoll, führten auf der anderen Seite aber zu einer Zugangserschwernis für die allgemeine Öffentlichkeit und insbesondere für die syrische Gemeinschaft.

So bildeten sich täglich Warteschlangen vor dem Gericht und teilweise war es etwa für Betroffene bzw. Angehörige von Opfern unmöglich, dem Verfahren beizuwohnen. Daneben führten die Regelungen im Zuschauerraum dazu, dass Vertreter*innen arabischer Medien zunächst keine (sonst übliche) Flüsterdolmetscher*in hinzuziehen konnten. Ohne Zugriff auf die offizielle Übersetzungstonspur des Verfahrens verwehrte ihnen dies de facto die Möglichkeit, dem Verfahren effektiv folgen zu können. Um dem entgegenzuwirken beantragten die Betroffenen Zugang zum Signal der Übersetzungsanlage. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende Richterin abgelehnt. Sie verwies dabei auf die fehlende technische Ausstattung, den erhöhten Aufwand der dann täglich notwendigen Desinfektion sowie die fehlende Möglichkeit, unerlaubte Aufnahmen bei einem solchen System gänzlich auszuschließen (BVerfG 2020, S. 3166). Hiergegen erhoben die Betroffenen eine Verfassungsbeschwerde.

Über diese ist zwar zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch nicht entschieden, in einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts wurde dem Senat aber schon vorab aufgegeben, „geeignete Regelungen zu treffen, die es akkreditierten Medienvertretern mit besonderem Bezug zum syrischen Konflikt ermöglicht, das deutschsprachige Prozessgeschehen mithilfe eigener Vorkehrungen oder unter kostenpflichtiger Nutzung des gerichtlich für die Verfahrensbeteiligten bereitgestellten Übersetzungssystems oder auf andere Weise in arabischer Sprache zu verfolgen“ (BVerfG 2020, S. 3166). Das Bundesverfassungsgericht bejahte zur Begründung dieser Sichtweise das hohe grenzüberschreitende Interesse am Verfahren und berief sich explizit auf das »Universalitätsprinzip«, welches dem „besonderen, die internationale Gemeinschaft als Ganze berührenden Charakter der infrage stehenden Straftaten“ geschuldet sei (BVerfG 2020, S. 3166). Diese vorläufige Entscheidung ist zu begrüßen, lässt aber außer Acht, dass auch weitere Gruppen Interesse am Zugang zur Übersetzung haben (NGOs, Betroffene, u.a.) (Bock und Wagner 2020, S. 3148).

Zudem wird den Medienvertreter*innen hiermit eine Kostenpflicht auferlegt, welche diese zusätzlich zu den Kosten ihrer Anreise und ihres Aufenthaltes in Deutschland zu tragen haben. Wenn einerseits das Universalitätsprinzip betont wird, sollte gleichzeitig auch anerkannt werden, dass die internationale Kommunikation über das Verfahren von entscheidender Bedeutung ist. Jede Erschwernis dieser Kommunikation kann die internationale Signalwirkung eines solchen Verfahrens herabsetzen. Die oben genannte Rolle als Element des »Transitional Justice«-Prozesses wird ein solches Verfahren nur erfüllen können, wenn es der betroffenen Gesellschaft möglichst umfassend zugänglich ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn es keine offizielle Gerichtsberichterstattung oder etwa Livestreams gibt, wie es bei internationalen Tribunalen der Fall ist. Weder das Gericht in Koblenz noch der Generalbundesanwalt haben während der Verhandlung Informationen in englischer oder arabischer Sprache zur Verfügung gestellt. Hier scheint die oben ausgeführte Kritik am »FDLR-Prozess« kaum für ein Umdenken gesorgt zu haben.

Nach etwas weniger als einem Jahr der Hauptverhandlung erging im Verfahren vor dem OLG Koblenz im Februar 2021 das erstinstanzliche Urteil gegen einen der beiden Angeklagten, nachdem sein Verfahren zuvor abgetrennt worden war. Das Gericht bestätigte die Vorwürfe gegen Eyad A. und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (OLG Koblenz 2021). Ob die Anklage gegen den weiter vor Gericht stehenden Anwar R. Bestand hat, wird sich zeigen müssen.

Ergebnis

Die vorrangig nationalstaatliche Durchführung von Verfahren wegen Völkerrechtsverbrechen ist seitens der Staatengemeinschaft zunächst vorgesehen (vgl. Art. 17 Rom-Statut). Finden sich Staaten, die dies übernehmen, so gibt deren nationales Recht den Verfahrensablauf vor. Die in Deutschland gegebenen Rahmenbedingungen scheinen hier grundsätzlich dazu geeignet zu sein, Täter*innen auf Basis des Weltrechtsprinzips einer ihrer Taten entsprechenden Bestrafung zuzuführen.

Allerdings kommt es zu wiederkehrenden Problemen innerhalb der Verfahren: nicht gewährter Zugang, fehlende Übersetzung und Mehrsprachigkeit, unzureichender Zeug*innenschutz, problematische Zeug*innenvernehmungen und Beweiserhebung auf Distanz. Diese scheinen zu großen Teilen im nationalen Recht bzw. dessen Umsetzung angelegt zu sein. Die nationale Durchführung von Strafprozessen mit internationalen Bezügen ist vor diesem Hintergrund weiterhin nur eine Ergänzung internationaler Strafgerichte (etwa des IStGH). Diese Prozesse müssen sich dabei an internationalen Maßstäben messen lassen können. Sie können – wie im Fall von Syrien – gerade dann gewinnbringend sein, wenn inter­nationale Prozesse nicht möglich sind.

Anmerkungen

1) Siehe etwa den Antrag der Bundestagsfraktion der Bündnis 90 / Die Grünen: „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen“, BT-Drucksache 18/6341 vom 14.10.2015.

2) Eine entsprechende Resolution (Security Council Draft Resolution S/2014/348) scheiterte am 22.05.2014 vor dem UN-Sicherheitsrat.

Literatur

Bock, S.; Wagner, M. (2020): Nationale Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen – in kleinen Schritten weitergedacht. Neue Juristische Wochenschrift, 2020, S. 3146-3148.

Bundesverfassungsgericht (2020): Beschluss vom 18.8.2020 – 1 BvR 1918/20, Eilantrag auf Zulassung von Übersetzungshilfsmitteln im „Syrien-Folterprozess“. Neue Juristische Wochenschrift, 2020, S. 3166-3168.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR, 2016): Weltrecht in Deutschland? Der Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Erstes Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch.

Oberlandesgericht Koblenz (2020): Anklage gegen zwei mutmaßliche Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit u.a. zugelassen. Pressemitteilung, 10.03.2020.

Oberlandesgericht Koblenz (2021): Urteil gegen einen mutmaßlichen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Pressemitteilung, 24.02.2021.

Ritscher, C. (2018): Aktuelle Entwicklungen in der Strafverfolgung des Generalbundesanwalts auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, 12, S. 543-545.

Ritscher C. (2019): Aktuelle Entwicklungen in der Strafverfolgung des Generalbundesanwalts auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2019, 12, S. 599-601.

Syria Justice and Accountability Center (SJAC, 2020a): Trial of Anwar Raslan and Eyad Al Gharib – Trial Monitoring Report 5, June 24 & 25, 2020.

Syria Justice and Accountability Center (SJAC, 2020b): Trial of Anwar Raslan and Eyad Al Gharib – Trial Monitoring Report 15, October 6, 7 & 8, 2020.

Syria Justice and Accountability Center; International Research and Documentation Centre for War Crimes Trials (SJAC und ICWC, 2021): Scratching the Surface: One Year into the Koblenz Trial, 22.04.2021.

Dipl. jur. Alexander Benz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Forschungs– und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) in Marburg. Aktuell promoviert er zur Frage der Reformbedürftigkeit der deutschen Strafprozessordnung im Hinblick auf völkerstrafrechtliche Verfahren. Das ICWC kooperiert mit dem Syria Justice and Accountability Center (SJAC) bei der Verfahrensbeobachtung vor dem OLG Koblenz.

Was und Wo ist Den Haag?


Was und Wo ist Den Haag?

Die Herstellung der »Neutralität« für Frieden und Konflikte international

von Cathie Traynor

Dieser Artikel untersucht, wie Den Haag, als Organisation und weniger als Stadt betrachtet, Auswirkungen darauf hat, wie Frieden und Gerechtigkeit (weltweit) praktiziert und wahrgenommen werden. Diese Erkenntnisse sind zentral für alle Arbeiten, die Alternativen zur internationalen (Straf-)Gerichtsbarkeit erforschen und für solche, die untersuchen, welche Auswirkungen es hat, wenn Den Haag als eine »Ausnahmeörtlichkeit« und nicht als der »natürliche« Ort solcher Gerichtsbarkeit verstanden wird.

Es ist unbestreitbar, dass Den Haag berühmt ist für seine Rolle bei Frieden und Gerechtigkeit. So lautet die Vision der Stadt selbst: „Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit. Wer denkt, dass dies nur ein cleverer Stadtmarketing-Slogan sei, erfunden von smarten Werbeagenturen, ist auf dem Holzweg. Sollten Sie nach Sarajevo, Nairobi oder Kabul reisen, würden Sie feststellen, dass in diesen Städten der Name der weit entfernten Stadt Den Haag für Hoffnung steht. Hoffnung […] dass die Übeltäter […] nicht ungestraft davonkommen. Heute ist Den Haag Standort von nicht weniger als 131 internationalen Instituten und Agenturen – sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch Regierungsinstitutionen […]. Den Haag arbeitet stark daran, weiterhin ein Leuchtfeuer der Hoffnung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zu sein.“ (Die Botschaft des Königreichs der Niederlande in London 2010)

Aber der Einwand der Botschaft, dass es sich nicht „nur um einen cleveren Stadtmarketing-Slogan” handele, deutet uns darauf hin, dass was auch immer »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« (»The Hague, International City of Peace and Justice«, HICPJ) wohl genau ausmacht, von Bedeutung sein muss. Es mangelt nicht an Expert*innen, die etwas zur politischen, wirtschaftlichen oder diplomatischen Entwicklung der Stadt sagen könnten (vgl. van der Wusten 2006), aber wir müssen tiefer blicken, was »Den Haag, Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit« darstellt und wie es sich anfühlt, wenn wir Chancen und Hindernisse für Frieden genauer ergründen wollen. Dieser Artikel basiert auf Feldforschungsdaten aus den 2010er Jahren und zeigt, wie die Nachbarschaft, die Stadt und das Land, in denen internationaler Frieden und Gerechtigkeit ihren Sitz haben, in eine mächtige, geopolitische Performance verwoben sind (vgl. Traynor 2017).

Ich behaupte, dass der Erfolg von Den Haag darauf beruht, dass es das »irgendwo anders« darstellt und verkörpert. Schon die frühe Geschichte Den Haags ist damit verbunden, dass es nicht so mächtig war wie Amsterdam oder Dordrecht. Es war ein Ort, an dem Machtkämpfe zwischen Stadtstaaten gelöst werden konnten (vgl. van Krieken und McKay 2005). Ein Gebäude aus dem 13. Jahrhundert, der Ridderzaal, war die »ursprüngliche« Versammlungshalle, und obwohl sich ihre Bauten und Strukturen verändert und weiter ausgedehnt haben, zog die Stadt weiterhin diejenigen an, die Probleme innerhalb und außerhalb der Niederlande zu bearbeiten hatten (vgl. Eyffinger 2005). Das »irgendwo-anders« zu sein, das nicht mächtig ist, sondern nur von glücklichen Zufällen und visionären, aus einer anderen Welt stammenden Gebäuden, Menschen und Praktiken geprägt ist, spielt eine Schlüsselrolle in der Erzählung, das die HICPJ aufrechterhält. Dies erfordert eine Erkundung von Den Haag nicht als Stadt an sich, sondern als Organisation mit einer gebauten Umwelt und Bedeutungen, Gefühlen und Verhaltensweisen, die über alle Maßstabsebenen hinweg miteinander interagieren.

Warum Den Haag?

Als ich 2017 Menschen fragte, weshalb Den Haag für Frieden und Gerechtigkeit stünde, war die Antwort in der Regel „aufgrund des Friedenspalastes“. Die Geschichte dazu beginnt im Jahr 1899, als die Stadt zum Tagungsort einer Friedenskonferenz auserkoren wird, die auf Initiative von Zar Nikolaus II angeregt wurde, der in finanziellen Schwierigkeiten steckte und dringend Frieden und nicht Krieg anstreben musste. Andere europäische Standorte wurden aus Gründen von Rivalitäten oder Ambivalenz abgelehnt. Den Haag funktionierte aus zwei zentralen Gründen. Erstens: „Die Niederlande wurden als ebenso neutral wie unbedeutend angesehen“ (Eyffinger 2003, S. 16). Zweitens hatte die Stadt international einen Ruf für ihr juristisches Fachwissen erworben, sowohl im Kriegsrecht als auch im Privatrecht. Den Haag war Heimatstadt zweier bedeutender Juristen, Hugo Grotius (frühes siebzehntes Jahrhundert) und Tobias Asser (spätes neunzehntes Jahrhundert). Beide wurden damals wie heute als Außenseiter und geradezu heiligengleiche Visionäre dargestellt, eingebunden in ein internationales professionelles Netzwerk, und nicht als Niederländer, die den Interessen ihres Staates dienten (vgl. van Ittersum 2010). Um die aktuelle Rolle zu erkunden, die Den Haag für die Herstellung von Frieden und Gerechtigkeit einnimmt, ist es daher notwendig, seine »Neutralität« und seine »abgehobenen Juristen« zu hinterfragen.

Die Rolle der »Neutalität«

Agius (2006) legt nahe, dass Neutralität als Konzept zu eng definiert worden sei, entweder als eine Verirrung (ein zartsinniger und unmoralischer Überlebensmechanismus) in einer kriegerischen, realistischen Welt oder als eine nicht notwendige Position im regelorientierten, liberalen Idealismus. Sie meint stattdessen, dass es sich oft um eine strategische Position handelt, die sich zwischen beiden Polen bewegt. Ein neutrales Land kann beträchtliche Anstrengungen unternehmen, eine umfassende und zwingende Autorität gegenüber Konfliktparteien zu errichten. Daher ist der liberale Idealismus seine realistische Strategie.

Neutralität bleibt dabei aber auch bestehen, beziehungsweise verändert sich, von Land zu Land, nicht nur im Verhältnis zur sich verändernden Natur globaler Konflikte, sondern auch abhängig davon, „was die Identität und die Handlungen des Nationalstaats ausmacht“ (Agius 2006, S. 5). Diese Feststellung hat wichtige Folgen. Erstens kann Neutralität nicht je nach außenpolitischen Entwicklungen ein- und ausgeschaltet werden. Zweitens stellen verschiedene, miteinander verwobene, interne und externe Elemente Neutralität über Raum hinweg her. Diese Neutralität hat eine performative Qualität, die Menschen und Orte als »neutral« bzw. »nicht neutral« definiert. Und schließlich kann ein neutrales Gemeinwesen jede Größe und jeden Maßstab annehmen, insbesondere im aktuellen politischen Klima (vgl. Agius 2011).

Wie das »neutrale« Den Haag konstruiert wird

Zur Zeit der Friedenskonferenz 1899 koexistierten und interagierten zwei Versionen der Neutralität, um dieses einzigartige und im Entstehen begriffene neutrale Gemeinwesen auf der organisatorischen Ebene zu etablieren: Die Internationale Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit Den Haag. Die eine Art der Neutralität, die sich in der niederländischen Außenpolitik ausdrückte, war eine realistische Abweichung, die die Machtlosigkeit und das Desinteresse des Landes betonte. Den Haag mit seiner ganz eigenen Wissensgemeinschaft von externen, visionären Jurist*innen und ihren kosmopolitischen Anhänger*innen vertrat dagegen eine dynamischere, moralische und selbstlose Neutralität. Es bestand der Wille, »gute Dienste« zu leisten: ein diplomatischer Standort mit Expertise in der Mediation. Indem es einerseits seine als notwendig markierte, regelbasierte Autorität pflegte und gleichzeitig unnahbar und unbedeutend erschien, erwuchs Den Haag als eine Organisation, die als Produkt und Schöpfer von »irgendwo anders sein« gedieh; durch die Kombination von beinahe heiligengleichen Rechtsgelehrten, symbolischer Architektur, und niederländischer Außenpolitik. Paradoxerweise führte diese einzigartige Form der (un)organisierten Neutralität des HICPJs zum weiteren Bedeutungsverlust der Niederlande und stärkte aber gleichzeitig sowohl ihre Handlungsfähigkeit als auch ihre Macht.

Konferenzen verweben Menschen, Orte, ganz spezifisches Erkenntniswissen und politische Vorgaben nachhaltig miteinander. Orte und Kulturen formen Konferenzergebnisse, während Konferenzergebnisse die gebaute Umwelt, Werte und Verhaltensweisen prägen (vgl. Craggs und Mahony 2014). Die Haager Friedenskonferenz von 1899 und ihre Nachfolgekonferenzen brachten den Internationalen Gerichtshof, den Ständigen Schiedshof und, als konkretere Verkörperung, den Friedenspalast eines Philanthropen hervor. Die willkürlich und ungeplant wirkende Pflege, die Funktion und die Belegung dieses Gebäudes und der umliegenden Nachbarschaften spiegeln dabei bis heute die wechselhafte Rolle Den Haags in der globalen Ordnung wider. Auch wenn diese Organisierung einer übergreifenden Autorität zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg nicht verhindern konnte und der Friedenspalast für eine lange Zeit lediglich als Bibliothek überlebte (vgl. van der Wusten 2006), gipfelte diese Entwicklung ein Jahrhundert später in der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit seinem ganz eigenen architektonischen Wahrzeichen. Heutzutage betreibt die HICPJ den Justizzweig des gegenwärtigen, weltumspannenden Systems des liberalen Friedens (vgl. Richmond 2011), in dem internationale Organisationen hinterherhinkende Staaten beim Aufholen unterstützen wollen, indem sie Friedenssicherung (»peacekeeping«) betreiben, demokratische Normen und Gesetze installieren und eine globale freie Marktwirtschaft aufrechterhalten. Die HICPJ lässt die Niederlande weiterhin als unbedeutend und neutral erscheinen (aber verwoben mit ihrer eigenen dynamischeren, strategischen Art der Neutralität), im Gegensatz zu anderen enthusiastischen Mitgliedern der NATO oder Befürworter*innen von Peacekeeping-Missionen, denen es nichts ausmachen würde, wenn die internationalen Justizorgane versagen würden.

Doch neben den endogenen Faktoren erhalten auch „ihre Identität und ihre Handlungen“ die einzigartige Form der Neutralität eines Systems aufrecht und werden in das Selbst und die Subjektivität von Menschen eingebettet (vgl. Agius 2006, S. 5). Diejenigen, die in der »World Forum Area« und der internationalen Zone von Den Haag, dem physischen Gegenstück zur HICPJ, leben und arbeiten, tragen zusammen mit ihren Nachbar*innen in anderen Teilen Den Haags und der Welt zu seiner Darstellung und Verkörperung als einem von Außenseitern bevölkerten »Irgendwo anders« bei, das wider Erwarten eine über allem stehende Autorität bewahrt. Wie Grotius und Asser erlangen zahlreiche Jurist*innen, die sich auf ihr Handwerk verstehen, diesen Außenseiterstatus durch ihre explizite Loslösung vom nationalen und politischen Hintergrund. Viele von ihnen, die wie mit dem Fallschirm eingeflogen kamen, um das internationale Strafrecht zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, zeigen sich überrascht, dass sie sich gegen die Ambivalenz der mächtigen Nationalstaaten durchsetzen. Auch sie sind von der Stadt und dem Land abgeschnitten, indem sie als »Internationale« (»expats«) gelten, die vom „städtischen Gefüge abgetrennt“ in einer „Blase“ leben.

Eine Anwältin, die ich 2017 interviewte, war nach ihrer Ankunft schockiert, als sie feststellte, dass Den Haag überhaupt eine Stadt ist, da sie sich den Friedenspalast zuvor in einem ummauerten Gebiet mitten im Nirgendwo vorgestellt hatte. Doch diese »expats« müssen sich eine Stadt teilen und viele kommentierten, dass das Fortbewegen mit dem Fahrrad zum »herumschnüffeln« einlade, als ob sie unbekannte Regeln brechen würden. Diese zwischenmenschlichen Begegnungen in der Nachbarschaft spiegeln die Durchsetzung der Prinzipien der HICPJ innerhalb ihrer Friedens- und Gerechtigkeitsinstitutionen wider. Sie praktizieren passive Aggression im Gegensatz zu physischer Gewalt (wie der Anwendung von militärischer Gewalt in Konfliktregionen) und sind greifbare Beispiele für die in ihnen eingebetteten Kulturen der Neutralität Den Haags, der Niederlande und des Rechts an sich.

Wenn Den Haag eine mächtige geopolitische Darbietung der Neutralität ist, dann benötigt diese in gewissem Maße immer auch eine »Marketingstrategie«, die es vor Kritik an den Ergebnissen von Prozessen und deren Durchführung abschirmt. Die »Andersartigkeit« von Den Haag ist grundlegend für die Darbietung der internationalen Gemeinschaft, dass diese Gerechtigkeit gerecht sei, da neutrale Menschen und Orte als Bekräftigung der Gerechtigkeit zu agieren scheinen und nicht umgekehrt. Neutralität als ein kulturspezifischer Wert oder ein Artefakt, das durch pazifizierende juristische Schiedsgerichtsbarkeit oder Strafprozesse erzeugt wird, ist in dieser Funktion ernsthaft problematisch. Doch täuscht sie jemanden? Ob diese einen »Leuchtturm der Hoffnung« darstellt, hängt davon ab, wo man positioniert ist in einer Welt, die nach dem je spezifischen Erfolg in Demokratie und Kapitalismus stratifiziert ist.

Ein positiver Moment in all dem ist, dass die HICPJ ein kontinuierlicher Organisierungsprozess ist, mit Prinzipien und Praktiken, die aus dem Nichts heraus entstanden sind. Das bedeutet auch, dass alternative emanzipatorische, post-liberale Gerechtigkeitsprojekte überall entwickelt werden können und dass auch diese über Zeit, Raum und Skalen hinweg ihre ganz eigene Macht und Schwung gewinnen können (vgl. Richmond 2011).

Literatur

Agius, C. (2006): The social construction of ­swedish identity. Manchester: Manchester University Press.

Agius, C. (2011): Transformed beyond recognition? The politics of post-neutrality. Cooperation and Conflict, 46(3), S. 370-395.

Craggs, R.; Mahony, M. (2014): The geographies of the conference: Knowledge, performance and protest. Geography Compass 8(6), S. 414-430.

Eyffinger, A. (2003): The Hague International Centre of Justice and Peace. The Hague: Jongbloed Law Booksellers.

Eyffinger, A. (2005): Living up to a tradition. In van Krieken, P.J.; Mackay, D. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 29-45.

Richmond, O.P. (2011): Critical agency, resistance and a post-colonial civil society. Cooperation and Conflict, 46(4), S. 419-440.

The Embassy of The Kingdom of The Netherlands to the United Kingdom (2010): The Hague. Webpage.

Traynor, C. (2017): Mapping neutralities: Critical geographies of The Hague. Dissertation.

van der Wusten, H. (2006): Legal capital of the world: Political centre-formation in The Hague. Tijdschrift voor Economische en Social Geografie, 97(3), S. 253-266.

van Ittersum, M. (2010): The wise man is never merely a private citizen: the Roman Stoa in Hugo Grotius De Jure Praedae (1604-1608). History of European Ideas, 36, S. 1-18.

van Krieken, P.J.; Mackay, D. (2005): Introduction. In: dies. (Hrsg.): The Hague Legal Capital of the World. The Hague: TMC Asser Press, S. 2-28.

Cathie Traynor arbeitet am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Universität Nottingham und forscht zur Mehrebenenregulation von Gefängnissen für sicherere Gesellschaften. Das steht im Einklang mit ihrem Wunsch nach post-liberalen Gerechtigkeit(en).

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing

Zivilgesellschaft im Völkerrecht


Zivilgesellschaft im Völkerrecht

Wenn die Anklage von »unten« kommt

von Andreas Schüller

Soziale Bewegungen haben sich immer wieder das Recht zu eigen gemacht und dafür genutzt, Veränderungen zu erkämpfen. Zwar spiegelt das Recht allzu häufig vergangene oder bestenfalls bereits erkämpfte gesellschaftliche Verhältnisse wider. Dennoch liegt in der Schaffung neuen Rechts sowie in der Auslegung und Anwendung des bestehenden Rechts auf im Wandel begriffene gesellschaftliche Verhältnisse ein Potential, das gesellschaftliche Akteur*innen für ihre Anliegen nutzbar machen können. Dies gilt auch oder gerade für das Völkerrecht, in dem es an einer alleinigen höchstrichterlichen Instanz mangelt und das durch eine Vielfalt von gerichtlichen Entscheidungen, staatlicher Praxis und wissenschaftlichen Ausführungen stetiger Veränderung unterliegt.

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind sehr vielfältig und verfolgen in ihrer Diversität ihre Ziele mit den unterschiedlichsten Methoden und Herangehensweisen. Dies gilt ebenso für die Art, in der sie Recht mobilisieren. Soziale Bewegungen, die ihre Veränderungskraft vor allem durch die Mobilisierung von Mitstreiter*innen in Protesten im öffentlichen Raum erlangen, nutzen das Recht oftmals, um einzelnen Forderungen durch gerichtliche Entscheidungen Nachdruck zu verleihen (so beispielsweise die Eilentscheidungen zur Rodung des Hambacher Forsts zugunsten der dort aktiven Protestierenden).

Nichtregierungsorganisationen dagegen setzen zum einen auf rechtliche Interventionen, um Denkmuster aufzubrechen und mit voller Wucht Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen (wie etwa die Strafanzeige des ECCHR beim Internationalen Strafgerichtshof gegen mehrere europäische Rüstungskonzerne wegen Kriegsverbrechen im Jemen). Zum anderen führen sie strategische Prozesse, um einzelne Veränderungen in der Rechtsprechung herbeizuführen, die dann wiederum zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen beitragen sollen.

Gesellschaftliche Akteur*innen arbeiten also ebenso mit am Recht und mit dem Recht, sei es durch ihre Kampagnenarbeit, um neue völkerrechtliche Verträge zu schaffen (z.B. die Schaffung des Atomwaffenverbotsvertrages durch ICAN), sei es durch Klagen, Beschwerden und Strafanzeigen. Mit letzteren sollen staatliche und internationale Gerichte, Ausschüsse und Staatsanwaltschaften dazu angehalten werden, sich mit bestimmten Sachverhalten zu befassen, diese aufzuarbeiten und Entscheidungen herbeizuführen. Über diese konkreten juristischen Mittel hinaus dienen zudem Veranstaltungen (wie wissenschaftliche Symposien) dazu, konkrete Rechtsfragen diskutieren und weiterentwickeln zu lassen.

Mobilisierungsmöglichkeiten des Völkerrechts

Das Völkerrecht diente im 16./17. Jahrhundert als Recht zwischen Staaten, um etwa Handelsbeziehungen zu regeln oder um in den Folgejahrhunderten ganze Völker zu Zeiten des Kolonialismus vom Recht auszuschließen und auszubeuten. Nach den zwei Weltkriegen kam dann die Aufgabe hinzu, Frieden und Sicherheit zwischen Staaten zu gewährleisten. In den letzten Jahrzehnten hat das Völkerrecht jedoch Öffnungen erfahren, die gesellschaftliche Akteur*innen gezielt nutzen können. Dazu haben Nichtregierungsorganisationen beigetragen, die durch Kampagnen auf die Schaffung neuer völkerrechtlicher Abkommen hingewirkt haben.

Vor etwa 150 Jahren begann die Rotkreuzbewegung, Staaten dazu zu bewegen, sich Regeln auf dem Schlachtfeld zum Schutz Verwundeter zu geben. Ergebnis dieser Arbeit war die erste Genfer Konvention (1864). Das darin ausgedrückte Bestreben wurde von erfolggekrönten zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Verbot der Folter oder bestimmter Waffen (wie Landminen) fortgesetzt, bis hin zum Einsatz für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in den 1990er Jahren. Zuletzt lässt sich diese Arbeit der gezielten Schaffung internationalen Rechts bei Initiativen zu menschenrechtlichen Verpflichtungen transnationaler Unternehmen sowie Initiativen zur Kriminalisierung des Ökozids beobachten. Es sind also immer wieder gesellschaftliche Akteur*innen, die neue Themen auf die Agenda bringen und im besten Falle Staaten dazu bewegen, neue völkerrechtliche Regeln zu verhandeln und zu schaffen.

Dabei findet sich das Völkerrecht mittlerweile nicht nur in zwischenstaatlichen Abkommen wieder, sondern häufig auch in staatlichen Umsetzungsgesetzen. So ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, durch das nach dem Weltrechts­prinzip Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der deutschen Justiz strafrechtlich verfolgt werden können, ein nationales Gesetz. Die völkerrechtlichen Bezüge, insbesondere zum »Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« sind jedoch unübersehbar. Auch die dem deutschen Grundgesetz immanente Völkerrechtsfreundlichkeit in den Artikeln 25 und 59 GG (vgl. BVerfG 2004, Rn. 93) bindet deutsche Gerichte jeder Instanz an das Völkerrecht und eröffnet Möglichkeiten, Völkerrechtsverletzungen einzuklagen, sofern ein Bezug zu Deutschland besteht.

Es gibt daher eine Vielzahl von Foren, vor die völkerrechtliche Streitigkeiten gebracht werden können. Von nationalen zu internationalen Gerichten, von Verwaltungs- zu Strafgerichten und Staatsanwaltschaften bis hin zu UN-Ausschüssen, Sonderberichterstatter*innen und anderen internationalen Mechanismen.

All dieser völkerrechtlichen Rechtsetzung und nationalen Implementierung bedarf es jedoch auch, um Völkerrecht zivilgesellschaftlich überhaupt nutzbar und gerichtlich durchsetzbar zu machen. Denn nur dann können gesellschaftliche Akteur*innen das Recht für sich beanspruchen und in ihre Arbeit aufnehmen, um gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. In einer globalisierten Welt gibt es kaum mehr Bereiche, in denen es keine internationalen, grenzüberschreitenden Bezüge gibt. Doch das Recht ist nicht immer für die Regelung wirklich transnationaler Sachverhalte gemacht. Lücken, die den transnationalen Zugang zum Recht erschweren, sind oftmals von Staaten in den Vertragsverhandlungsprozessen bewusst offengelassen worden (wie weiter unten zum Römischen Statut näher ausgeführt). Einzelne Zusatzprotokolle, die den Zugang zu Rechtsdurchsetzungsmechanismen vorsehen, ratifizieren Staaten nicht (wie Zusatzprotokolle zum UN-Zivilpakt und zum UN-Sozialpakt) oder sie erklären Vorbehalte gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens zu völkerrechtlichen Verträgen, der die Rechtswirksamkeit einzelner Vorschriften aussetzt.

Dennoch gibt es Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Akteur*innen, über eine internationale Vernetzung und Zusammenarbeit, das Recht transnational nutzbar zu machen. So konnten etwa pakistanische Textilarbeiter*innen Zugang zu Gerichten am Hauptstandort eines Unternehmens in Deutschland bekommen, wie im »KiK-Fall« des ECCHR vor dem Landgericht Dortmund, um dort auf Entschädigung für den Tod ihrer Angehörigen durch den Fabrikbrand an einer der Produktionsstätten zu klagen (vgl. ECCHR Fallbeschreibung 2020).

Fälle von Rechtsmobilisierung von unten

Der KiK-Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie Betroffene in einer globalisierten Welt ihre Stimme erheben und durch eine Klage am Hauptstandort des Unternehmens – oft weit entfernt von den eigentlichen Produktionsstätten – die Geschäftspraktiken sichtbar machen können. Diese Klage im spezifischen hat der Politik zudem drastisch vor Augen geführt, wie schutzlos diejenigen am Anfang der Lieferkette sind und dass die Unternehmensverantwortung rechtlich verbindlich geregelt werden muss, um fairere Bedingungen in der gesamten Lieferkette zu schaffen. Die momentan stattfindende Beratung eines entsprechenden Gesetzes in Deutschland, nach dem Unternehmen rechtlich verbindlich ihre Tätigkeiten und die ihrer Zulieferer auf die Einhaltung von Menschenrechten hin überprüfen müssten, verdeutlicht die teils konträren Positionen von Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Vor allem macht sie den Widerstand sichtbar, den Teile der Wirtschaft und wirtschaftsnahe Verbände gegen rechtlich verbindliche Regelungen zu Haftung und Klagemöglichkeiten hegen.

Ein anderes Beispiel betrifft den globalen Einsatz bewaffneter Drohnen durch die USA, der ohne ein weitgespanntes Netz von Datenströmen, Analysezentren und Drohnenstartplätzen nicht möglich wäre. Von Drohnenangriffen Betroffene wie Familie Bin Ali Jaber aus Hadramaut im Jemen klagten nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland (aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht, vgl. ECCHR 2021), da ohne Fernmeldepräsenzpunkte sowie das Analysezentrum der US-Streitkräfte in Ramstein Drohneneinsätze im Jemen nicht möglich wären (vgl. BVerwG 2020). Dadurch, dass deutsche Behörden über das Grundgesetz an das Völkerrecht gebunden sind, kann gegen völkerrechtswidrige Handlungen vor deutschen Verwaltungsgerichten geklagt werden. Diese Klagemöglichkeit können auch Kläger*innen aus dem Ausland beanspruchen, die primär einer rechtswidrigen Handlung eines dritten Staates, hier der USA, ausgesetzt sind, aber eben unter Mitwirkung deutscher Behörden. Letztere müssen sich vorhalten lassen, völkerrechtswidrige Praktiken Verbündeter mitzutragen und es nicht zu schaffen, innerhalb des Bündnisses für die Respektierung und Stärkung des Völkerrechts wirksam einzutreten. Die USA wiederum schaffen es zwar, solche Fälle aus dem eigenen Rechtssystem herauszuhalten (mit der Begründung, dies gefährde die nationale Sicherheit), sehen sich aber mit Gerichtsentscheidungen aus anderen Ländern konfrontiert, die ihre Handlungen als völkerrechtswidrig einstufen.

Solche Entscheidungen können es Staaten erleichtern, auf zwischenstaatlicher Ebene eine rechtliche Position gegen einen mächtigen Staat zu beziehen, da gerade in den zwischenstaatlichen Beziehungen und den UN-Gremien um die Einhaltung des Völkerrechts gerungen wird. Aus einem strategischen Blickwinkel gesehen geht es in diesen Fällen aber auch um die Klärung, ob und inwiefern Gerichte exekutives Handeln überprüfen müssen. In außenpolitischen Entscheidungen können Gerichte insgesamt nur sehr zurückhaltend prüfen. Wenn es aber um Eingriffe in höchste Rechtsgüter wie Leib und Leben geht, muss eine Überprüfbarkeit gewährleistet sein und der außenpolitische Entscheidungsspielraum der Exekutive entsprechend gerichtlich eingeengt werden.

Ähnliches, wenn auch gänzlich anders gelagert, betrifft die Strafanzeigen nach dem Weltrechtsprinzip, wonach die deutsche Justiz Völkerstraftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit verfolgen kann. Hintergrund für dieses Prinzip ist die Feststellung, dass diese Taten die Weltgemeinschaft als Ganzes betreffen, wie in völkerrechtlichen Abkommen wie dem Römischen Statut festgehalten. Die deutsche Justiz führt hier stellvertretend für eine internationale Justiz die Verfahren. Dies ist nur bei einem sehr eingeschränkten Kreis von Straftaten möglich; nicht jede Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzung kann so vor deutschen Gerichten strafrechtlich verfolgt werden.

Was aber möglich ist, zeigen die Verfahren zu Folter und sexualisierter Gewalt in Syrien, wie etwa das »Al-Khatib Verfahren« vor dem OLG Koblenz (vgl. ibid. 2021). Überlebende von Folter und sexualisierter Gewalt haben Anzeigen erstattet und ihre Zeugenaussagen beim Bundeskriminalamt getätigt sowie später im Prozess ausgesagt. Zusammen mit weiteren Beweismitteln, wie etwa den Fotos eines ehemaligen syrischen Militärfotografen, der unter dem Pseudo­nym »Caesar« bekannt ist, hat dies im Februar 2021 zu einer ersten Verurteilung eines ehemaligen Mitarbeiters des syrischen Regimes geführt. Vor allem aber hat es auch viel Licht auf die Verbrechen des Assad-Regimes geworfen. Weitere Urteile und Verfahren sind zu erwarten, nicht nur in Deutschland, da sich syrische Überlebende zusammen mit syrischen Nichtregierungsorganisationen, Rechtsanwält*innen und europäischen Partnern (wie dem ECCHR) an Strafverfolgungsbehörden in vielen Ländern gewandt haben, um Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip zu initiieren. Diese Strafverfahren sind von höchster Bedeutung für die mittel- und langfristige Zukunft Syriens, da auch jetzt schon staatliche Verbrechen aufgearbeitet werden. Diese Aufarbeitung kann dann in der Zukunft eine wichtige Rolle für die innergesellschaftliche Aushandlung in Syrien spielen, in der Bestimmung von schwerstem Unrecht und dem Umgang damit.

Herausforderungen und Begrenzungen der Völkerrechtsmobilisierung

Gesellschaftliche Akteur*innen handeln in dem rechtlichen Rahmen, der ihnen vorgegeben ist. Wie oben beschrieben, gibt es zwar Möglichkeiten, die Schaffung von völkerrechtlichen Abkommen zu beeinflussen, letztlich verhandeln, verabschieden und ratifizieren jedoch Staaten diese Abkommen. Darin arbeiten Staaten immer wieder Klauseln ein, die es ihnen ermöglichen, sich der Bindung völkerrechtlicher Abkommen zu entziehen – wie im Folgenden anhand des Römischen Statuts ausgeführt werden wird. Hierin zeigt sich der Kompromiss­charakter, der jeder multilateralen Entscheidung zu Grunde liegt und es häufig erschwert, das Recht gegen Staaten zu erkämpfen und durchzusetzen.

Als Beispiel hierfür kann das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs dienen. An mehreren Stellen ist die Handschrift von Staaten sichtbar, die in der Absicht handelten, die Wirkung des Statuts und die Handlungsmöglichkeiten des IStGH einzuschränken. Der Gerichtshof ist in Folge dessen nicht dem Weltrechtsprinzip unterworfen, obwohl gerade für die Straftaten des Statuts (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) die Staatengemeinschaft unabhängig von Tatort und Herkunft der Täter*innen zu Gericht sitzen sollte. Die Zuständigkeit des IStGH beschränkt sich auf das Staatsgebiet der Mitgliedsstaaten sowie deren Staatsangehörige. Dem UN-Sicherheitsrat ist es zudem erlaubt, bestimmte Situationen gesondert zu überweisen. Letzterer steht bekanntlich unter Vetovorbehalt der fünf Ständigen Mitglieder. Art. 16 des Römischen Statuts ermöglicht es dem Sicherheitsrat darüber hinaus, Ermittlungen des Strafgerichtshofs für ein Jahr auszusetzen. Diese Resolution kann beliebig oft erneuert werden.

Als drittes Einfallstor in das Statut dient das sogenannte »Komplementaritätsprinzip«, nach dem der IStGH nur zuständig ist, wenn Staaten nicht in der Lage oder willens sind, die Ermittlungen selbst zu führen. Was es dabei heißt »nicht willens zu sein« hat Ende 2020 eine Entscheidung der Anklagebehörde des IStGH in Bezug auf Kriegsverbrechen britischer Streitkräfte im Irak gezeigt (IStGH 2020). Obwohl es in Großbritannien keine einzige strafrechtliche Verurteilung einer Täter*in oder einer*eines Vorgesetzten gegeben hat, befand die Anklagebehörde des IStGH, dass Großbritannien seine Soldat*innen nicht absichtlich vor internationaler Strafverfolgung schütze und stellte das Vorverfahren ein. An dieser Stelle scheiterte die Zivilgesellschaft, die zwar über Jahre Druck auf britische Behörden und die IStGH-Anklagebehörde aufbauen konnte, letztlich aber diese internationale Behörde nicht dazu bewegen konnte, einen couragierten und rechtlich durchaus möglichen Schritt nach vorne zu machen.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Begrenzungen der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung des Völkerrechts. Zum einen ist es von großer Bedeutung, rechtliche Verfahren anzustoßen und Fälle vor Gerichte und Behörden zu bringen, um diese zur Beschäftigung mit den Sachverhalten zu zwingen. Auf der anderen Seite müssen dem aber auch Richter*innen und Staatsanwält*innen gegenüberstehen, die das Völkerrecht entsprechend auszulegen und anzuwenden bereit sind. Da viele solcher transnationalen Verfahren neue Rechtsfragen betreffen, die höchstrichterlich bislang nicht entschieden sind, sind meistens mehrere juristische Argumentationen vertretbar, so dass es durchaus Spielräume gibt, die gesellschaftliche Akteur*innen ausschöpfen können.

Globales Netz

Letztlich spielen der Zeitgeist und gesellschaftliche Veränderungen auch in rechtliche Entscheidungen hinein. Neue Entwicklungen technischer oder gesellschaftlicher Natur können über die Zeit durch rechtliche Spielräume bei der Auslegung einzelner Normen unter bestehendes Recht subsumiert werden. Für eben diese Veränderungen ist die (strategische) Mobilisierung des Rechts durch gesellschaftliche Akteur*innen unabdingbar. Diese sollten das Recht als Vehikel in ihrem Aktivismus mitdenken und nutzen, allerdings nicht als einziges Mittel und nicht losgelöst von anderweitiger Arbeit an Kampagnen, Protest oder Kunst. In einer zu starken Fokussierung auf die Mobilisierung des Rechts liegt auch immer die Gefahr, dass Ressourcen zu einseitig eingesetzt werden. Da juristische Verfahren immer auch Verzögerungen und Rückschläge erfahren können, müssen sie parallel durch andere (Aktions-)Formate begleitet werden. Nur so kann eine Kontextualisierung der dem Rechtsstreit immanenten gesellschaft­lichen und sozialen Probleme gelingen.

Die globale Vernetzung heutiger Gesellschaften kann dazu wirkungsvoll genutzt werden: Gerade das Völkerrecht kann rechtliche Entwicklungen beeinflussen, durch Entscheidungen auf internationaler Ebene oder in einem Drittstaat mit entsprechender rechtlicher Zuständigkeit, die zivil­gesellschaftliche Akteur*innen in ihrem jeweiligen Umfeld oder Land bislang nicht erreichen konnten. Um dieses Potential zu nutzen, ist eine globale Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen enorm wichtig, damit rechtliche Interventionen an einem Ort Wirkungen an einem ganz anderen Ort erzielen und entfalten können. Darin liegt die große Chance der Mobilisierung des (Völker-)Rechts von unten.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (26. Oktober 2004), Beschluss Zweiter Senat, Aktenzeichen 2 BvR 955/00 und 2 BvR 1038/01.

Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) (2020): Urteil zu US-Drohneneinsätzen. Aktenzeichen 6 C 7.19. Pressemitteilung 68/2020.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (2020): Fallbeschreibung Fabrikbrand in Pakistan: Billige Textilproduktion, lebensgefährliche Arbeit. ECCHR.eu

ECCHR (2021): Ramstein vor Gericht: Deutschlands Rolle bei US-Drohnenangriffen im Jemen. ECCHR.eu

Oberlandesgericht Koblenz (2021). Verfahren zu syrischer Staatsfolter. Aktenzeichen 1 StE 3/21.

Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) (2020). Abschlussbericht zu Vorermittlungen in der Situation UK/Irak.

Andreas Schüller ist Rechtsanwalt und Programmdirektor für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin.

Covid-19 vor dem IStGH


Covid-19 vor dem IStGH

Zivilgesellschaftliche Ermittlungsersuchen zur brasilianischen Gesundheitspolitik

von Tobias Römer

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen nutzen nicht selten das Mittel der strategischen Prozessführung. Dabei werden gezielt juristische Verfahren eingeleitet, deren Wirkung über den eigentlichen Prozess hinausgeht. Jüngstes Beispiel im Völkerstrafrecht ist der Versuch brasilianischer Organisationen, Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen den Präsidenten des Landes aufgrund seiner Covid-19 Politik zu erreichen. Der folgende Artikel bemüht sich um eine rechtliche Verortung einiger mit den Vorwürfen verbundener Problematiken. Sie offenbaren das Potential strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts sowie das Risiko für die Initiator*innen.

Während die meisten Staaten weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie ergreifen, spielt die brasilianische Regierung die Gefahr bis heute herunter und spricht sich öffentlich gegen Schutzmaßnahmen aus. Nachdem die nationalen Behörden die Einleitung von Strafverfahren gegen Jair Bolsonaro ablehnten, erreichten mehrere als »Klageschriften« bezeichnete Schreiben die Chefanklägerin des IStGH. Darin heißt es, sie solle eigeninitiativ Ermittlungen aufnehmen, weil die brasilianische Justiz nicht willens oder in der Lage sei, ein entsprechendes Verfahren durchzuführen. Die Gesundheitspolitik Bolsonaros habe zu einer unkontrollierten Ausbreitung des Virus sowie zu zahlreichen Todesfällen geführt und stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die bekanntesten Schreiben stammen von der »Brazilian Association of Jurists for Democracy« (ABJD 2020) sowie einem Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften (UNI Global Union et al. 2020).

Formale Verfahrens­voraussetzungen

Gemäß Art. 15 Abs. 1 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGHSt) kann die Ankläger*in eigeninitiativ, auf Grundlage von Informationen über Verbrechen, die unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen, Ermittlungen einleiten. Jedermann ist zur Übermittlung der Informationen berechtigt, wodurch auch solche Verbrechen vor Gericht gelangen können, deren Aufklärung nicht im staatlichen Interesse liegt. Die Ermittlungen hängen jedoch von einer richterlichen Genehmigung ab (Art. 15 Abs. 3 IStGHSt). Hierfür muss die Ankläger*in darlegen, dass ein hinreichender Verdacht für das Vorliegen von Verbrechen innerhalb der Zuständigkeit des Gerichts besteht (IStGH 2020, Rn. 34).

Brasilien ist Mitglied des Statuts, weswegen der IStGH potentiell Gerichtsbarkeit ausüben kann. Bolsonaros Immunität als Staatsoberhaupt steht dem nicht im Weg (Art. 27 Abs. 2 IStGHSt). Allerdings übt der IStGH seine Gerichtsbarkeit gegenüber allen Verantwortlichen völkerrechtlicher Verbrechen einer Situation aus und nicht bloß gegenüber vorbezeichneten Einzelpersonen (vgl. dazu Rastan 2008, S. 442). Die Bezeichnung der Informationsübermittlung durch die Gewerkschaften und den Verband der Jurist*innen als »Klageschrift« ist daher irreführend.

Ein Verfahren ist nur zulässig, wenn die Sache ausreichend schwer ist und der zur Verfolgung zuständige Staat kein Verfahren führt oder nicht willens oder in der Lage dazu ist (vgl. Stegmiller 2011, S. 279). Will ein Staat dem Vorwurf entgehen, nicht willens oder in der Lage zur Strafverfolgung zu sein, muss er selbst tätig werden. Das Übermitteln von Informationen über mutmaßliche Verbrechen an den IStGH kann auf diese Weise internationalen und innenpolitischen Druck für die betroffene Regierung erzeugen.

Nichtergreifen von Schutz­maßnahmen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Im Fall von Brasilien stellt sich die spannende Frage, ob das Verhalten der Regierung überhaupt als mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen ist. Andernfalls kann die Chefanklägerin mangels Zuständigkeit kein Verfahren einleiten. Art. 7 Abs. 1 IStGHSt erfordert, dass eine oder mehrere dort genannte Handlungen im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ begangen wurden. Ein solcher Angriff kann zwar außerhalb eines bewaffneten Konflikts geführt werden (vgl. JStGH 1999, Rn. 251). Er setzt aber voraus, dass mehrere der im ersten Absatz genannten Einzeltaten vorliegen (vgl. IStGH 2014, Rn. 23). In Kurzform sind dies: »vorsätzliche Tötung«, »Ausrottung«, »Versklavung«, »Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung«, »Freiheitsentzug«, »Folter«, »sexuelle Gewalt von besonderer Schwere«, »Verfolgung«, »zwangsweises Verschwindenlassen«, »das Verbrechen der Apartheid« und »andere unmenschliche Handlungen«.

Die in den Schreiben gegen Bolsonaro erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf die Tatbestände »vorsätzliche Tötungen«, »Ausrottung« und »andere unmenschliche Handlungen«. Ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen hierunter fällt, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig. Nähere Informationen liefern die bei der Auslegung und Anwendung der Tatbestände heranzuziehenden »Verbrechenselemente« (Art. 9 IStGHSt). Demnach ist der Begriff des Tötens weit zu verstehen und meint „jedes Hervorrufen des Todes“ (Fn. 7 der Verbrechenselemente). Dabei kommt es aber darauf an, dass der Tod gerade durch das Verhalten der Täter*in hervorgerufen wurde und nicht etwa durch das Pandemieverhalten der Menschen selbst (vgl. Ackermann 2020). Ausrottung umfasst darüber hinaus das vorsätzliche Auferlegen von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, etwa durch das Vorenthalten des Zugangs zu Medikamenten. Ob es sich tatsächlich nachweisen lässt, dass die brasilianische Gesundheitspolitik darauf abzielt, einen Teil der Bevölkerung zu vernichten, scheint zweifelhaft.

Strategische Prozessführung

  • Strategische Prozessführung ist ein Mittel zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, um über die jeweilige gerichtliche Einzelklage hinaus nachhaltige politische, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen anzustoßen und das Recht fortzubilden (vgl. ECCHR o.J.).
  • In Klagekollektiven organisierte Individuen kontrollieren im Idealfall mittels Gerichtsverfahren staatliches, wirtschaftliches und politisches Handeln (vgl. Hahn und v. Fromberg 2020, S. 14).
  • Unter den Begriff fallen antidiskriminierungsrechtliche Prozesse, Schadensersatzklagen gegen Unternehmen, aber auch Verfahren, die sich mit Gesetzen oder Regierungshandeln befassen (vgl. Hahn 2019, S. 8f.).
  • Besonders öffentlichkeitswirksam ist das Initiieren von Strafprozessen zur Aufklärung und Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen (vgl. auch Schüller in dieser Ausgabe, S. 23ff.).

Die vergleichsweise unbestimmten »anderen unmenschlichen Handlungen« erfassen Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden. Dies schließt Menschenrechtsverletzungen ein, die eine zu den übrigen Einzeltaten vergleichbare Schwere aufweisen (vgl. IStGH 2008, Rn. 269). Denkbar erscheint ein Verstoß gegen die in Art. 12 Abs. 2c des »Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« (1975) genannte Verpflichtung zur Pandemiekontrolle (vgl. Ackermann 2020). Gleichzeitig ist der Tatbestand aufgrund seiner Unbestimmtheit jedoch eng auszulegen, um eine unkritische Ausweitung des strafbaren Bereichs zu unterbinden (IStGH 2012, Rn. 269). Mit Blick auf die genannten Einzeltaten ist eine juristische Beurteilung nicht eindeutig, sodass ein gerichtliches Verfahren zur Klärung dieser Frage durchaus zu einer Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts beitragen könnte.

Besonders problematisch ist die Frage, ob das sogenannte »Politikelement« des Art. 7 Abs. 2a IStGHSt erfüllt ist. Demnach muss der Angriff gegen die Zivilbevölkerung „in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staats oder einer Organisation [erfolgen], die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. Ausnahmsweise kann das vorsätzliche Unterlassen von Maßnahmen, das bewusst darauf abzielt, einen Angriff zu fördern, eine derartige Politik darstellen (Fn. 6 der Verbrechenselemente). Solange der Angriff allerdings nicht das Ziel seiner Politik ist, hat ein Staat weite Einschätzungsprärogativen. Er ist grundsätzlich nicht verpflichtet, eine Gefahr, die er nicht als solche erkennt, mit Mitteln zu bekämpfen, von deren Wirkung er nicht überzeugt ist.

Ähnlich gestaltet sich die Frage des Vorsatzes. Art. 30 Abs. 2 IStGHSt verlangt, dass die Täter*in ihr Verhalten setzen und die Folgen des Verhaltens herbeiführen will, oder ihr zumindest bewusst ist, dass die Folgen „im gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse“ eintreten werden. Das Ergebnis eines unkontrollierten Verlaufs einer erst seit wenigen Monaten bekannten Pandemie lässt sich erahnen. Erahnen stellt aber noch kein Bewusstsein über den gewöhnlichen Verlauf der Ereignisse dar. Daher ist zu bezweifeln, ob der Bolsonaro unterstellte Vorsatz überhaupt ernsthaft in Betracht kommt.

Ergebnis

Bei einigen Merkmalen des Art. 7 Abs. 1 IStGHSt ist bislang unklar, ob das Nichtergreifen von Schutzmaßnahmen gegen eine Pandemie hierunter fallen kann. Dass sich die Chefanklägerin ohne Informationen aus der Zivilgesellschaft vermutlich nicht mit dieser Konstellation befassen würde, zeugt von der potentiellen Relevanz strategischer Prozessführung für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts. Die Situation in Brasilien offenbart jedoch enge Grenzen. Sind die Voraussetzungen eines für alle Begehungsvarianten erforderlichen Merkmals, wie beispielsweise das Politikelement, ersichtlich nicht erfüllt, kann die Chefanklägerin auch dann keinen hinreichenden Verdacht bilden, wenn die Rechtslage an anderen Punkten unklar ist.1 Es ist auch immer zu beachten: Bleibt strategische Prozessführung erfolglos, kann sie das Gegenteil der gewünschten Wirkung entfalten. So könnte Bolsonaros Position gestärkt werden, indem er die Ablehnung der Ermittlungen als rechtliche Legitimation seiner Politik heranzieht. Dass dem nicht unbedingt so ist, zeigen andere Versuche aus der brasilianischen Zivilgesellschaft zur Einleitung eines Strafverfahrens, bei denen es vor allem um Umweltpolitik und die Behandlung indigener Gruppen geht (vgl. Grisafi 2020, S. 46ff.).

Anmerkung

1) Ermittlungen auf Grundlage der Informationen von ABJD wurden laut Medienberichten bereits abgelehnt (vgl. UOL 2020).

Literatur

Ackermann, T. (2020): Covid-19 at the International Criminal Court – Brazil’s health policy as a crime against humanity? Völkerrechtsblog, 14.08.2020.

Brazilian Association of Jurists for Democracy (ABJD) (2020): Bolsonaro denounced for a crime against humanity before the International Criminal Court. 03.04.2020.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (o.J.): Glossar: Strategische Prozessführung. ecchr.eu.

Grisafi, L. (2020): Prosecuting international environmental crimes committed against ­indigenous peoples in Brazil. Columbia Human Rights Law Review Online, 5, S. 26-59.

Hahn, L. (2019): Strategische Prozessführung – Ein Beitrag zur Begriffserklärung. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 39(1), S. 5-32.

Hahn L.; von Fromberg, M. (2020): Kollektive als „Watchdogs“: Zu Chancen strategischer Prozessführung für den Rechtsstaat. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16.11.2020.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Katanga and Chui, ICC-01/04/01/07, Confirmation of Charges, 30.09.2008.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Muthara et al., ICC-01/09-02/11, Confirmation of Charges, 23.01.2012.

Internationaler Strafgerichtshof, Prosecutor v. Ntaganda, ICC-01/04-02/06, Confirmation of Charges, 09.06.2014.

Internationaler Strafgerichtshof, Situation in the Islamic Republic of Afghanistan, ICC-02/17 OA4, Judgement on the Authorization of an Investigation, 05.03.2020.

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JIStGH), Prosecutor v. Tadic, IT-94-1-A, Judgement, 15.07.1999.

Rastan, R. (2008): What is a ‘case’ for the purpose of the Rome Statute? Criminal Law Forum, 19(3-4), S. 435-448.

Stegmiller, I. (2011): The pre-investigation stage of the ICC – criteria for situation selection. Berlin: Duncker & Humblot.

UNI Global Union et al. (2020): Criminal complaint against Jair Messias Bolsonaro. 27.07.2020.

UOL (2020): Denúncias contra Bolsonaro são suspensas no Tribunal Penal Internacional. uol.com.br, 15.09.2020.

Tobias Römer promoviert am Institut für Kriminalwissenschaften in Marburg zu den Rechtsgrundlagen einer »Completion Strategy for Situations« am IStGH (Prof. Dr. Bock). Er ist MA Student der Friedens- und Konfliktforschung.

Hunger, Folter, Apartheid


Hunger, Folter, Apartheid

Die völkerstrafrechtliche Herausforderung struktureller Gewalt

von Felix Boor

Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs enthält mit den vier Straftatbeständen des Kriegsverbrechens, des Völkermords, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Angriffskriegs gleich mehrere Begehungsformen, die systematisch verübte staatliche Gewalt erfassen können. Dabei reicht das Spektrum vom Apartheid-Regime über systematische Folterungen, dem Aushungern ganzer Städte bis hin zur Vernichtung ganzer Gruppen im Rahmen eines Völkermords. Der Artikel erkundet die Möglichkeiten der Ahndung dieser schwersten Verbrechen.

Strukturelle Gewalt, im Sinne einer systematisch und von einer Vielzahl von Täter*innen durchgeführten Gewalt, ist im Rahmen des Völkerstrafrechts am ehesten innerhalb des Tatbestandes des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« (Art. 7 Römisches Statut) zu verorten. Die Strafrechtswissenschaft hat dabei Schwierigkeiten, Formen der abstrakteren Gewalt zu erfassen, da das Strafrecht stets darauf ausgerichtet ist, die individuelle Schuld natürlicher Personen zu ermitteln, die mit ihrer Einzeltat einen Tatbeitrag zu einem der vier »Kernverbrechen« geleistet haben. Aus strafrechtlicher Sicht steht also die Ermittlung des individuellen Tatbeitrags und der Vorwerfbarkeit im Vordergrund, obschon es gerade im US-amerikanischen Raum Ansätze gibt, beispielsweise Unternehmen und damit juristische Personen selbst strafrechtlich zu verfolgen.1

Dabei zielt das Völkerstrafrecht, wie es insbesondere durch den Internationalen Strafgerichtshof betrieben wird, grundsätzlich zunächst darauf ab, die Haupttäter*innen einer notwendigerweise großen Täter*innengruppe einer Strafe zuzuführen. Die sogenannten völkerrechtlichen Kernverbrechen des »Völkermords« (Genozid), des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« oder des »Angriffskriegs« sind letztlich nur im Zusammenwirken mit einer Vielzahl anderer Täter*innen begehbar, die aber von einem gemeinsamen Vorsatz getragen werden. Nur die Verwirklichung des vierten völkerrechtlichen Tatbestands des »Kriegsverbrechens« ist auch in Allein­täter*innenschaft möglich.

Indem es sich bei den Angeklagten vor den internationalen Strafgerichten regelmäßig um Staats- und Regierungschef*innen, hohe Regierungsmitglieder oder oft auch um Armee- und Milizenführer*innen handelt, lässt sich gemäß aktueller Auslegung völkerrechtlicher Straftheorien auch systematisch begangene und in diesem Sinne »strukturelle Gewalt« im Rahmen individueller Verantwortlichkeit verorten.

Systematischer Rassismus: Apartheid und ihre Ahndung

Apartheid-Regime werden häufig als typisches Beispiel für strukturelle Gewalt herangezogen. Bereits seit den 1960er Jahren haben sowohl der Sicherheitsrat als auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Apartheid-Regime in Südafrika und dem damaligen Süd-Rhodesien (heutiges Simbabwe) verurteilt. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte 1965 in seinen Resolutionen 216 und 217 die Fortsetzung des „illegalen rassistischen Minderheitsregimes ausdrücklich als eine „Bedrohung des Weltfriedens“, die er zunächst mit einem Waffenembargo sanktionierte. 1970 kam ein vollständiges Handels­embargo hinzu. Das Ergebnis dieser Bemühungen war nicht nur die internationale Ächtung dieser schwersten Form rassistischer Diskriminierung, sondern vor allem auch das »Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung«, das 1965 verabschiedet wurde.

Wenig überraschend ist daher auch der Tatbestand des »Verbrechens der Apartheid« in Art. 7 Abs. 1 lit. j) Römisches Statut eingeflossen und zwar als mögliche Begehungsart eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«, das dort wiederum als „ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ legaldefiniert wird. Belangt werden können für solche Verbrechen grundsätzlich alle natürlichen Personen, die einen Tatbeitrag geleistet haben, also die (vermeintlichen) Organisator*innen wie auch grundsätzlich alle weiteren tatrelevanten Personen.

Da vom Römischen Statut nur Straftaten erfasst werden können, die nach dem 1. Juli 2002 begangen worden sind, sind bisher keine Fälle zur Apartheid vor den internationalen Strafgerichten verhandelt worden. Daher kann nur vermutet werden, dass für die Begehung einer Straftat als Tathandlung ein aktiver Beitrag zur Errichtung oder Aufrechterhaltung eines solchen Systems der diskriminierenden Rassentrennung, also beispielsweise ein erheblicher politischer Anstoß, gesetzt werden müsste. Dabei wird man für ein vorwerfbares Verhalten eine entsprechende bedeutsame politische Position im System feststellen müssen, da zumindest eine gewisse Tatherrschaft vorhanden sein muss. Problematisch ist insbesondere eine Strafbarkeit der sogenannten »Mitläufer*innen«. Da ein solches staatliches System regelmäßig die ganze Gesellschaft erfasst, ist der Tatbeitrag anderer Einzelpersonen nur sehr schwer und regelmäßig nicht zweifelsfrei auszumachen. Die Einzeltat verblasst angesichts des gesamtstaatlichen Unrechtssystems.

Das Aushungern ganzer Städte als Waffe

Im syrischen Bürgerkrieg wurden im Oktober 2016 zeitweise 17 Städte gleichzeitig von unterschiedlichen Konfliktparteien belagert. Die eingeschlossenen Zivilpersonen dienten dabei oftmals als politisches Druckmittel, um die Interessen der Belagernden durchzusetzen. Betroffen waren zwischen 750.000 und 1,2 Mio. Menschen.2 Viele der Eingeschlossenen litten nicht nur an Unterernährung, sondern starben aufgrund fehlender medizinischer Behandlung oder der Stromunterbrechungen, die lebenserhaltende Geräte, Wärme u.a. ausfallen ließen. Die Sterblichkeitsrate von Säuglingen war besonders hoch, da die Mütter aufgrund ihrer eigenen Unterernährung nicht ausreichend stillen konnten. Die Lage der Betroffenen wurde weltweit publik durch Videotagebücher, die sich über das Internet verbreiteten und in denen vom verzweifelten Verzehr von Haustieren, aber auch von nicht nahrhaften Objekten wie Baumwurzeln, Gräsern und Erde berichtet wurde (»siege meals«).

Auch wenn das geltende humanitäre Völkerrecht kein generelles Belagerungsverbot kennt und sogar explizit die Seeblockade als zulässig erachtet, muss dennoch seitens der Parteien sichergestellt werden, dass solche kriegerischen Maßnahmen nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. Aus Art. 49 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 54 Abs. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen (ZP I) von 1977 ergibt sich unmittelbar, dass mittels einer Seeblockade die Zivilbevölkerung weder ausgehungert, noch von lebenswichtigen Gütern ausgeschlossen werden darf. Die Blockade darf nur dazu dienen, die feindlichen Streitkräfte von kriegswichtigem Nachschub zu trennen. Nach Art. 14 Genfer Konvention IV (1949) sind in solchen Fällen die Belagernden verpflichtet, den Eingeschlossenen Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähren. Art. 54 ZP I schließlich enthält ein umfassendes Verbot des Aushungerns von Zivilist*innen als Mittel der Kriegsführung.

Das beinhaltet auch das Verbot, Lebensmittelquellen bzw. -lager zu entziehen. Geschützt werden auch landwirtschaftliche Flächen, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen, sofern diese Versorgungseinrichtungen nicht ausdrücklich militärischen Zwecken gewidmet sind. Eine weitere Ausnahme betrifft die weiterhin zulässige »Politik der verbrannten Erde«, im Zuge derer eigenes Territorium verwüstet wird, um den vorrückenden feindlichen Streitkräften den Nachschub zu erschweren (vgl. Art. 54 Abs. 5 ZP I).

Wie so häufig wird eine Bürgerkriegssituation, wie sie beispielsweise in Syrien 2016 gegeben war, von den genannten Vorschriften nicht erfasst. Die Regelungen des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen (sog. »Mini-Konvention«) und des Zweiten Zusatzprotokolls (ZP II) für die nicht-­internationalen bewaffneten Konflikte bleiben weit hinter dem Schutzstandard der Genfer Konventionen zurück. Dem Tadic-Urteil des ICTY3 folgend, gibt es jedoch inzwischen eine starke Strömung in der Rechtswissenschaft, Regelungen aus dem Recht der zwischenstaatlichen Konflikte aufgrund ihrer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung auf die nicht-internationalen Konflikte anzuwenden.4 Insbesondere das »Internationale Komitee des Roten Kreuzes« hat dazu eine – von staatlicher Seite oftmals abgelehnte – Völkergewohnheitsrechtsstudie veröffentlicht, die viele Regelungen des ZP I als Völkergewohnheitsrecht identifiziert hat (vgl. Henckarts und Doswald-Beck 2005, zur Ablehnung: Fleck 2009, Heintschel v. Heinegg 2018, § 61 Rn. 32). Die Regelungslücken im Bereich des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts sollen dabei über den Nachweis der von einer Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis mit Völkergewohnheitsrecht aufgefüllt werden.

Im Römischen Statut konnten daher auch nur Straftatbestände gegen das Aushungern kodifiziert werden, die zumindest den Bereich der Kriegsverbrechen für den zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt (Art. 8 Abs. 2 lit. b) xxv) Römisches Statut) erfassen. Nicht ganz von der Hand zu weisen wäre allerdings die Möglichkeit, sofern der Vorsatz nachweisbar wäre, dass eine spezifische Gruppe zerstört werden sollte, das Aushungern als versuchten Völkermord anzusehen, gemäß Art. 6 lit. b) Römisches Statut (Verursachung eines körperlichen oder seelischen schweren Schadens). Ebenso kann von einem ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung im Sinne eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. k) Römisches Statut ausgegangen werden, denn dieser Tatbestand erfasst „unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden“.

Täter*innen müssen generell auch fürchten, in einem der Mitgliedstaaten des IStGH strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. In der Präambel des Römischen Statuts ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorgesehen, die vier Kernverbrechen in ihren nationalen Rechtsordnungen unter Strafe zu stellen und unabhängig vom Ort der Begehung von den eigenen Strafverfolgungsbehörden verfolgen zu lassen (sogenanntes »Weltrechtsprinzip«). So sieht beispielsweise § 11 Abs. 1 Nr. 5 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) eine Strafbarkeit des Kriegsverbrechens des Aushungerns sowohl für den zwischenstaatlichen Konflikt wie auch für Bürgerkriegssituationen vor, geht also über die entsprechenden Vorschriften des Römischen Statuts sogar hinaus. Neben der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die letztlich nur die natio­nale Strafgerichtsbarkeit des Tatstaates komplementiert, treten also im letzten Schritt die Strafgerichte in den Mitgliedstaaten des Römischen Statuts hinzu.

Systematische Folter in syrischen Gefängnissen

Auch die Folter wird vom Völkerstrafrecht erfasst. Im Bürgerkriegssituationen ist diese über den gemeinsamen Art. 3 Genfer Konventionen verboten und fällt gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. c) i) Römisches Statut unter die verfolgbaren Kriegsverbrechen. Unabhängig von der Konflikt­situation kann unter der Voraussetzung eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung Folter gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. f) Römisches Statut ebenso den Tatbestand eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« erfüllen.

Das deutsche VStGB sieht eine Strafbarkeit als Kriegsverbrechen in § 8 Abs. 1 S. 3 für den internationalen wie nicht-internationalen bewaffneten Konflikt vor. Darüber hinaus erfüllt die systematische Folter von Zivilpersonen in einer Gewahrsamssituation gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB die Tatbestandsvoraussetzungen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«.

Ein Beispiel für die Verfolgung solcher Verbrechen durch Deutschland als Mitgliedstaat des Römischen Statuts ist die jüngst erfolgte Verurteilung eines ehemaligen Mitarbeiters des syrischen Geheimdienstes durch das Oberlandesgericht Koblenz. Nach Angaben von Amnesty International wurde in den Jahren 2011 bis 2016 in den Gefängnissen des syrischen Geheimdienstes systematisch misshandelt, gefoltert und vergewaltigt. Der Bericht spricht von mindestens 17.723 Personen, die dabei bis 2016 ums Leben gekommen sind (vgl. Amnesty International 2016). Das Oberlandesgericht Koblenz sah es als erwiesen an, dass der Beschuldigte Eyad A. 2011 an einem Transport von 30 Gefangenen beteiligt gewesen war, die bereits auf dem Weg zu einem syrischen Geheimdienstgefängnis körperlich misshandelt wurden. Das Oberlandesgericht verurteilte ihn am 24. Februar 2021 unter anderem wegen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Für einen weiteren Beschuldigten, dem die Staatsanwaltschaft noch schwerwiegendere Taten vorwirft, wird ein Urteil im Laufe dieses Jahres erwartet (vgl. Benz in dieser Ausgabe, S. 33ff.).

In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Einzeltat der schweren Körperverletzung im Ausland ohne weitere Anknüpfung an die deutsche Rechtsordnung nicht von den deutschen Strafverfolgungsbehörden verfolgbar gewesen wäre. Das »Weltrechtsprinzip« kommt erst dadurch zur Anwendung, dass die Tat Bestandteil eines täterübergreifenden systematisch begangenen »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« war.

Am Anfang einer langen Entwicklung?

Die genannten Beispiele sollen vor allem vor Augen führen, dass eine Strafbarkeit immer schwieriger wird, je abstrakter sich der individuelle Tatbeitrag innerhalb der Gesamtstraftat darstellt. Am deutlichsten tritt das zutage, wenn das »Verbrechen der Apartheid« mit dem der Folter verglichen wird. Beide Straftaten sind im Rahmen eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit«, also struktureller Gewalt in Form eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung, international verfolgbar. Während aber bei der Folter eine klare individuelle Tathandlung vorhanden ist, ist im Falle der Apartheid die Einzeltat nur schwer mit einem Gesamtvorsatz zu verbinden und oftmals nur über politische Erklärungen herauszufiltern.

Eine Strafbarkeit durch ein bestimmtes Verhalten wird dann besonders schwierig sein, wenn eine ganze Gesellschaft die rassistische Diskriminierung unterstützt oder sich mit ihr abgefunden hat. In diesem Zusammenhang ist es zwar begrüßenswert, dass der Tatbestand überhaupt Eingang in das Römische Statut gefunden hat, aber die Tatbestandsvoraussetzungen sind dabei noch nicht ausreichend herausgearbeitet worden. Der im Gefängnis folternde Polizist im Apartheid-Regime wird sicher eher und viel leichter wegen der Folter international zur Rechenschaft gezogen werden können als aufgrund des Verbrechens der Apartheid, obschon er augenscheinlich einen Teil eines solchen Systems darstellt. Andererseits könnte eine Beihilfehandlung zur Apartheid schon darin liegen, dass man eine politische Partei in diesem System unterstützt, als Lehrer*in an einer Schule mit Rassentrennung arbeitet oder einfach nur als Beamt*in ein Rad im Getriebe eines solchen System darstellt. Es fehlt daher gerade in solchen Bereichen der klassischen »strukturellen Gewalt« an der erforderlichen Tatbestandsschärfe, die den Nachweis von Schuld im Sinne einer persönlichen Vorwerfbarkeit nicht unerheblich erschwert.

Anmerkungen

1) Siehe U.S. Supreme Court, New York Central & Hudson River Railroad v. United States, 212 U.S. 481 (1909); Egan v. United States, 137 F.2d 369 (8th Cir. 1943).

2) Siehe dazu insbesondere den Bericht des stellvertretenden UN-Untergeneralsekretärs für humanitäre Angelegenheiten S. O’Brien am 29.10.2016 in der Sitzung des UN-Sicherheitsrats.

3) ICTY, Chamber of Appeals, Decision on the Defense Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, 02.10.1995, Rn. 71ff.

4) Zur rechtswissenschaftlichen Debatte siehe zusammenfassend Boor 2016.

Literatur

Amnesty International (2016): It breaks the human. Torture, disease and death in Syria‘s prisons. MDE 24/4508/201. London.

Boor, F. (2016): Menschenrechte im nicht-inter­nationalen bewaffneten Konflikt: Ist die Isayeva-Rechtsprechung des EGMR situationsgerecht? Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 29(1), S. 29-35.

Fleck, D. (2009): Die IKRK-Gewohnheitsrechtsstudie: polarisierend oder konsensbildend? Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 22(3), S. 120-124.

Henckarts, J.-M.; Doswald-Beck, L. (Hrsg.) (2005): Customary International Humanitarian Law. Cambridge: CUP.

Heintschel von Heinegg, W. (2018): § 16 Recht des bewaffneten Konflikts. In: Ipsen, K. (Hrsg.), Völkerrecht. 7. Auflage. München: C.H.Beck.

Felix Boor, Dr. iur., arbeitet als Akademischer Rat a.Z. an der Universität Hamburg, ist korrespondierendes Mitglied des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und zurzeit Vertretungsprofessor für Öffentliches Recht an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg.

Antidiskriminierung umfassend denken


Antidiskriminierung umfassend denken

Eine globale Bewegung für Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung

von Claude Cahn

Eine wachsende Zahl von Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen empfiehlt die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes, um den Schutz der Menschenrechte auf nationaler Ebene zu verbessern. Viele Staaten haben in der Tat umfassende Antidiskriminierungsgesetze erlassen, andere befinden sich in verschiedenen Stadien der Vorbereitung solcher Gesetze. Es besteht jedoch Bedarf an einer globalen Bewegung für den umfassenden Schutz der Rechte von Minderheiten und anderen stigmatisierten oder marginalisierten Gruppen vor allen Formen der Diskriminierung. Der Artikel veranschaulicht die Entwicklungen der letzten Jahre und gibt einen Ausblick auf die Zukunft.

Um die Jahrtausendwende hatte nur eine handvoll Staaten auf der ganzen Welt umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet. Mittlerweile sind es einige mehr. Das hat mit der Arbeit einer Reihe von Menschenrechtsmechanismen der UN zu tun. Hier formiert sich seit einigen Jahren eine Bewegung zur Schaffung globaler Maßstäbe zum umfassenden Schutz vor Diskriminierung.

Das »Verbot der Diskriminierung« ist das einzige Recht, das sich in allen neun zentralen internationalen Menschenrechtsabkommen findet. Artikel 2 sowohl des »Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte« als auch des »Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« verpflichtet jeden Vertragsstaat, die dort anerkannten Rechte für alle Personen in seinem Hoheitsgebiet und unter seiner Gerichtsbarkeit zu achten und zu gewährleisten. Dies soll geschehen, ohne einen Unterschied, etwa nach rassistischen Kriterien1, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Weltanschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status zu ziehen. Das Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen hat zudem spezifische Verträge in Bezug auf rassistische Diskriminierung, der Diskriminierung von Frauen und von Menschen mit Behinderungen geschaffen. Zudem hat es die oben erwähnte Bedeutung des »sonstigen Status« noch detaillierter ausgearbeitet, um einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung basierend auf Gründen wie beispielsweise sexueller Orientierung und der Geschlechtsidentität zu gewährleisten.

Hierauf berufen sich die Akteure der Bewegung für ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht2, die derzeit eine zügige und dynamische Verbreitung findet. Dabei hilft: Grundsätzlich haben alle Staaten der Welt international gültige, rechtliche Voraussetzungen akzeptiert, die sie auf die Notwendigkeit der Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze zur Unterstützung eines wirksamen Rechtsschutzes von Betroffenen hinweisen. Alle relevanten UN-Vertragsorgane3 haben zudem die Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsrechts empfohlen. Staaten aus allen Regionen der Welt empfehlen mittlerweile regelmäßig und systematisch die Verabschiedung und Umsetzung umfassender Antidiskriminierungsgesetze an weitere Staaten, sowohl an Staaten aus ihrer eigenen Region als auch an Staaten aus anderen Regionen.

In den abschließenden Beobachtungen ihrer Überprüfungen von Staaten haben die UN-Vertragsorgane mehrfach anerkannt und betont, dass die Einhaltung der Nichtdiskriminierungsverpflichtungen der Staaten unter anderem die Etablierung spezifischer, umfassender Antidiskriminierungsgesetze erfordert.4

Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung zu empfehlen hat und hatte zudem eine hohe Priorität im »Universal Periodic Review« (UPR, »Allgemeiner regelmäßiger Überprüfungsprozess«), einem Prozess des UN-Menschenrechtsrats, bei dem Staaten anderen Staaten Menschenrechtsempfehlungen geben. Länder aus allen Regionen der Welt haben Empfehlungen erhalten, Antidiskriminierungsgesetze zu erlassen. Einige Beispiele seien an dieser Stelle zu nennen: Bei der Überprüfung der Republik Moldau im Jahr 2011 forderten Algerien, Brasilien, Kanada, Estland, Frankreich, Israel, Nepal, Norwegen, die Russische Föderation, die Slowakei, Spanien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und/oder zur Stärkung der Toleranz, während Argentinien, Mexiko, Polen, Rumänien und Schweden ausdrücklich ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz forderten. Bei der jüngsten UPR-Überprüfung von Burkina Faso empfahlen Chile, Honduras und Serbien, dass Burkina Faso ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verabschieden solle. Im Rahmen der 35. Sitzung der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung des UPR erhielt Kirgisistan Empfehlungen von sieben Staaten, während Armenien Empfehlungen von zehn Staaten erhielt, umfassende Gleichstellungsgesetze zu verabschieden. Im Ergebnisdokument der jüngsten UPR-Überprüfung Japans taucht der Begriff »Diskriminierung« nicht weniger als 75 Mal auf. In ähnlicher Weise enthält die jüngste UPR-Überprüfung der Republik Korea 80 Verweise auf den Begriff »Diskriminierung«.5 Es scheint also eine gewisse »Kultur« der Anerkennung umfassender Antidiskriminierung zu geben.

Nationale Entwicklungen 2000-2021

In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es jedoch in Bezug auf die Entwicklung nationaler Antidiskriminierungsgesetze erhebliche Fortschritte. Im Jahr 2009 war Tschechien der letzte EU-Mitgliedstaat, der ein spezifisches Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete (vgl. ERT 2009). Deutschland hat ein solches natio­nales Gesetz (vgl. Antidiskriminierungsstelle o.J.), auch wenn es bei einer Reihe von Diskriminierungsgründen, wie etwa der Bildung, nur begrenzt anwendbar ist. Zudem ist Deutschland eine von zwei EU-Regierungen, gemeinsam mit Polen, die im letzten Jahrzehnt weitere Entwicklungen in diesem Bereich auf europäischer Ebene blockiert haben.

Zusätzlich zu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben zwischen 2009 und 2013 acht Staaten auf dem europäischen Kontinent (zuerst Kroatien, danach Bosnien und Herzegowina, Serbien, Albanien, Montenegro, Nordmazedonien, die Ukraine und Moldau) umfassende (oder nahezu umfassende) Antidiskriminierungsgesetze erlassen. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Kanada, Neuseeland und Australien wurde ein umfassender Rahmen von Antidiskriminierungsgesetzen geschaffen, der eine Reihe spezifischer oder umfassender Rechtsvorschriften beinhaltet.6

In der Zwischenzeit hat sich das Tempo der Veränderungen außerhalb Europas stetig erhöht, angetrieben durch die Zivilgesellschaft sowie durch besser aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Vereinten Nationen. Das hat zum Entwurf und der Verabschiedung von entsprechenden Gesetzen auf jedem Kontinent geführt, die – obwohl noch unvollkommen – vordergründig darauf abzielen, ein umfassendes Schutzniveau zu schaffen. Beispielsweise wurde im Jahr 2010 in Kenia eine neue Verfassung verabschiedet, die direkte und indirekte Diskriminierung aus einer offenen Liste von Gründen verbietet, die Chancengleichheit von Männern und Frauen vorsieht und schädliche Ausnahmen vom Recht auf Nichtdiskriminierung beseitigte, die in der vorherigen Verfassung enthalten waren. Letztere hatten unter anderem dazu geführt, dass Ungleichheiten gegenüber Frauen in Bezug auf ihre Rechte auf Heirat, Scheidung und Erbschaft verfestigt wurden.7

In Lateinamerika haben Argentinien, Mexiko, Chile, Bolivien und Guyana kürzlich solche Gesetze verabschiedet. Am 2. Mai 2014 hat Georgien das Gesetz zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung verabschiedet.

In einigen Ländern befinden sich umfassende Gleichstellungsgesetze in der Entwicklung. Auf den Philippinen, in Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan gibt es laufende Diskussionen über die Entwicklung umfassender Antidiskriminierungsgesetze.

In einigen Staaten wurde eine Reihe spezifischer Rechtsvorschriften erlassen, die in der Gesamtschau einen nahezu umfassenden Schutz für Überlebende von Diskriminierung bieten. In Hongkong beispielsweise wurde eine Reihe von Antidiskriminierungsverordnungen verabschiedet, darunter die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (SDO) und die Verordnung gegen die Diskriminierung von Behinderten (DDO) im Jahr 1995, die Verordnung gegen die Diskriminierung aufgrund des Familienstands (FSDO) im Jahr 1997 und die Verordnung gegen rassistische Diskriminierung (RDO) im Jahr 2008.

Erfahrungen und Erfolge

Die Erfahrungen der Länder, die bereits umfassende Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet haben, bestätigen den Ansatz: Gesellschaften erleben eine bereicherte Diskussion über die Komplexität und Diversität der Menschheit und damit neue Grundlagen für Toleranz und gegenseitiges Verständnis; Regierungsbeamt*innen fällt es leichter, bisher »schwierige« oder »sensible« Themen anzugehen. Antidiskriminierungsgesetze unterstützen also den gesellschaftlichen Fortschritt und den positiven sozialen Wandel.

Der zentrale Grund für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz ist jedoch, den Opfern einen wirksamen Schutz zu bieten. Die Staaten sind demnach verpflichtet, echten Schutz vor Diskriminierung zu bieten und praktikable, zugängliche und sichere Rechtsmittel zu schaffen, wenn Menschen diskriminiert wurden. In allen Gesellschaften der Welt wird es jährlich viele solcher Menschen geben. Ohne wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung lassen Regierungen die Menschen im Stich, denen sie dienen.

Menschen aus extrem ausgegrenzten Gruppen – oft unzufrieden und entfremdet von der breiteren Gesellschaft – können so plötzlich erfahren, dass auch sie Rechte haben. Um ein Beispiel zu nennen: Der erste Fall, der Anfang der 2000er Jahre unter dem umfassenden bulgarischen Antidiskriminierungsgesetz verhandelt wurde, betraf eine Roma-Frau, der in einem Kurzwarenladen die Bedienung verweigert worden war. Die bulgarische Antidiskriminierungsbehörde erkannte an, dass die Handlung diskriminierend war und ordnete an, dass sich das Geschäft entschuldigen und Schadenersatz zahlen muss. Die Summe des Schadenersatzes war nicht groß, aber die Auswirkungen der Entscheidung waren in sozialer Hinsicht weltverändernd. „Die Menschenrechte werden in den unbedeutenden Orten [»small places«] ausgehandelt“, wie Eleanor Roosevelt es ausdrückte (1958).

Wie weiter?

In den Jahren 2020 und 2021 entwickelten die Abteilung für Indigene Menschen und Minderheiten des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen (IPMS, OHCHR) und der im Vereinigten Königreich ansässige Equal Rights Trust (ERT) ein Handbuch mit dem Titel »Die Rechte der Minderheiten schützen: Ein Handbuch für die Schaffung umfassender Antidiskriminierungsgesetze«. Die Publikation füllt eine Lücke, da es Bedarf für ein solches Handbuch für OHCHR-Mitarbeitende, Regierungen, Parlamente, nationale Menschenrechtsinstitutionen (NHRIs), Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsaktivist*innen gab. In diesem Handbuch werden die wichtigsten konzeptionellen und inhaltlichen Elemente des Antidiskriminierungsrechts dargestellt, so wie sie in den internationalen Menschenrechtsverträgen und in der Rechtsprechung festgelegt sind. Zusätzlich zur Zusammenfassung der normativen Inhalte wird die Publikation konkrete länderbezogene Praktiken und praktische Anleitungen bieten.8

Die Covid-19-Pandemie und insbesondere die drastischen Ungleichheiten hinsichtlich der Auswirkungen auf Minderheiten, über die weltweit berichtet wird, haben die Dringlichkeit zur Erstellung eines solchen Leitfadens nochmal verdeutlicht. Denn es ist wahrscheinlich, dass es in der Zeit nach der Pandemie zu einer dramatischen Verschärfung der Ausgrenzung sowie zu langfristigen sozio­ökonomischen Auswirkungen kommt, da vielen Menschen der Verlust der Lebensgrundlage, der Krankenversicherung und anderer Dimensionen sozialer Schutzsysteme droht. Es bleibt zu hoffen, dass der Beitrag der Antidiskriminierungsgesetzgebungen dazu führt, dass Gesellschaften auf einer starken Menschenrechtsbasis zukünftig noch stärker ihre Resilienz entwickeln.

Anmerkungen

1) Anm. d. Übersetzung: Im englischen Original »race«. Forscher*innen fordern, diese Kategorie im deutschen Fachgebrauch durch die alternative Formulierung »rassistische Diskriminierung« oder »rassistische Kriterien« zu ersetzen.

2) Englisches Äquivalent: »Comprehensive Anti-Diskrimination Law«. Anmerkung d. Übersetzung: Ein wissenschaftlicher Diskurs zu einem umfassenden Antidiskriminierungsrecht hat sich in Deutschland bis dato nicht etabliert. Im Rahmen der Übersetzung steht der Begriff »umfassendes Antidiskriminierungsrecht« als Pendant zum englischen Begriff, der einen holistischen Ansatz verfolgt.

3) Anmerkung d. Übersetzung: Spezifisch in diesem Sinne gemeint, die »UN Treaty Bodies« des Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR).

4) Beispielsweise: Human Rights Committee, ­Concluding Observations: Korea, UN Doc. CCPR/C/KOR/CO/4, 3 December 2015, Paras 12-13. Anmerkung d. Übersetzung: Das aufgeführte Dokument ist über die OHCHR Datenbank Online abrufbar und frei zugänglich.

5) vgl. unter anderem A/HRC/WG.6/12/L.16, A/HRC/39/4 sowie /HRC/37/11.

6) vgl. hierzu Equality Act (2010), Canadian Human Rights Act (1985) und New Zealand Human Rights Act (1993).

7) vgl. Constitution of Kenya (2010, Article 27 (3) und (4)), sowie Fitzgerald (2010, S. 60).

8) Der Leitfaden erscheint im Jahr 2022, pünktlich zum 30. Jahrestag der »Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören« (1992).

Literatur

Antidiskriminierungsstelle (o.J.): Homepage. antidiskriminierungsstelle.de

Equal Rights Trust (ERT) (2009): Czech Republic becomes last EU state to adopt anti-discrimi­nation law. 25 June 2009.

Fitzgerald, J. (2010): The road to equality? The right to equality. Equal Rights Review, Vol. 5, S. 55-69.

Roosevelt, E. (1958): “The Great Question,” remarks delivered at the United Nations in New York. 27.03.1958.

Claude Cahn ist Human Rights Officer beim Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen (OHCHR) in der Abteilung für Indigenen- und Minderheitenrechte.

Aus dem Englischen übersetzt von Franziska Benz und David Scheuing.