Blockierte Weltorganisation


Blockierte Weltorganisation

Völkerrecht und Vereinte Nationen heute

von Hans-Joachim Heintze

Viele Hoffnungen, die mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes aufkamen, haben sich nicht erfüllt. Umso mehr braucht die Welt stabile Regeln, wie mit Konflikten umzugehen ist. Diese finden sich in der VN-Charta, in deren Zentrum die Friedenssicherung steht. Die Verfahren zur Durchsetzung dieses Normenkataloges bedürfen nach einem Dreivierteljahrhundert der Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Im Zentrum steht dabei das Völkerrecht, das sich von einem Recht der Souveränität zu einem Recht der Solidarität weiterentwickeln muss.

Die Idee und das Konzept der Weltorganisation der Vereinten Nationen (VN) entstand in den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges. Die erklärte Zielsetzung war es, angesichts der niederschmetternden Erfahrungen, künftige Generationen von der Geißel des Krieges zu befreiten. Mit der Charta der VN wurde die Rechtsgrundlage für die Weltorganisation und die Erreichung dieses Zieles geschaffen.

Vom Ursprung der Idee der »Welt«-organisation

Bereits im 1. Weltkrieg hatte US-Präsident Wilson in seinem 14-Punkte-Vorschlag zur Beendigung des Waffengangs den Gedanken einer Weltorganisation zur Friedenssicherung aufgebracht, der in der Folge mit der Schaffung des »Völkerbundes« auch umgesetzt wurde. Allerdings hatte der Völkerbund einen Geburtsfehler, denn er wurde nie zu einer »Welt«-Organisation der »Völker«. Vielmehr vereinte der Bund niemals alle Großmächte der damaligen Zeit und konnte damit in vielen Konflikten nicht tätig werden. Selbst die USA, die die Schaffung angeregt hatten, traten nicht bei, weil Präsident Harding, der Nachfolger Wilsons, einer solchen Organisation kritisch gegenüberstand. Damit war das Scheitern vorprogrammiert, denn der Völkerbund erwies sich als machtlos.

Der Zweite Weltkrieg hatte nun aber gezeigt, dass eine solche Herausforderung wie der Kampf gegen den Faschismus nur durch den gemeinsamen Kampf unter Führung der militärisch stärksten Staaten überwunden werden konnte. Aus diesen Erfahrungen heraus wählten die Autor*innen der VN-Charta eine neue Konstruktion für diese zweite »Weltorganisation«, die sicherstellen sollte, dass die Großmächte sich der Mitgliedschaft in der Organisation unterwerfen und zugleich ihre legitimen Interessen schützen können: das Einstimmigkeitsprinzip im Sicherheitsrat. Dieses Prinzip trägt dem Umstand Rechnung, dass zwar alle Staaten juristisch, aber nicht faktisch gleich sind. Die Konstruktion des Sicherheitsrates spiegelt den Gedanken der Gemeinsamkeit wider, die aufgrund unterschiedlicher Interessen sehr verschiedener Staaten nicht leicht herzustellen ist. Daher musste den wichtigsten Staaten die Möglichkeit gegeben werden, ein Veto einlegen zu können.1 Dieses Recht wurde aber mit der Verpflichtung verbunden, gemeinsam für die Friedenssicherung verantwortlich zu zeichnen und militärische wie wirtschaftliche Kapazitäten einem System kollektiver Sicherheit zur Verfügung zu stellen. Leider haben sich die Großmächte nicht immer dieser Verpflichtung unterworfen und oft genug ihre nationalen Interessen in den Vordergrund gestellt (vgl. Ipsen 2018, S. 296). Es schien den Autor*innen der VN-Charta aber so, dass die Weltgemeinschaft diesen Preis zahlen müsse, wenn sich die »Welt«-mächte einer »Weltorganisation« überhaupt unterwerfen sollten. Die USA haben seit Gründung der VN auch mehrfach bewiesen, dass sie bereit sind, andere Weltorganisationen wie die UNESCO oder die WHO zu verlassen, wenn sie ihre eigenen Interessen beeinträchtigt sehen. Dies musste bei einer vorrangig die Aufrechterhaltung des Weltfriedens garantierenden Organisation unbedingt vermieden werden. Schließlich kann der Weltfrieden nicht gegen die USA oder China gesichert werden, und die Weltorganisation ist eine Möglichkeit, sie überhaupt auf ihre Verpflichtungen hinzuweisen und zur Rechtfertigung zu bewegen.

Stärken und Schwächen des Sicherheitsrates

Eine grundsätzliche Schwierigkeit, die das gesamte System der VN fundamental prägt, ist der Umstand, dass Völkerrecht durch die Vereinbarung der Staaten untereinander zustande kommt und sich damit grundsätzlich vom nationalen Recht unterscheidet, das durch einen Gesetzgeber – in der Regel das Parlament – gesetzt wird. Die Vereinbarung von völkerrechtlichen Verträgen oder Konventionen ist daher oft ein langwieriger Prozess und von nationalen Eigeninteressen geprägt, wie viele umfassende Beratungen und Staatenkonferenzen gezeigt haben (bspw. dauerte die Dritte VN-Seerechtskonferenz mit Unterbrechungen von 1973 bis 1982, es nahmen zeitweise fast 5.000 Expert*innen teil). Das war auch bei der Ausarbeitung der VN-Charta 1944/45 der Fall. Schlussendlich wurde aber durch diese Verhandlungen ein sehr wichtiger Kompromiss erreicht, der die Souveränität der VN-Mitgliedstaaten erheblich einschränkt. Die VN-Charta verbietet mit Art. 2 (4) nicht nur die Anwendung militärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen, sondern schafft auch einen Mechanismus der Durchsetzung und Ausdehnung dieses Verbots (Kapitel VII der Charta).2

Nach Kapitel VII VN-Charta kommt dem Sicherheitsrat die Aufgabe zu, in Fällen der Bedrohung oder Verletzung des Friedens tätig zu werden. Der Rat muss dann nach Art. 39 der Charta entscheiden, ob ein solcher Fall vorliegt. Da es aber keine Legaldefinition der Bedrohung des Friedens gibt, entscheiden die 15 Mitgliedstaaten des Rates nach ihren politischen Überzeugungen. Damit wird ein rechtlicher Mechanismus – der mit einem völkerrechtlichen Vertrag geschaffen wurde – letztlich durch politische Entscheidungen in Gang gesetzt. Der Rat muss mit einer Stimmenmehrheit von neun Staaten entscheiden, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens vorliegt. Gemäß der neueren Praxis nach dem Ende des Kalten Krieges kann eine solche Situation nicht nur bei der schon erfolgten Anwendung von Waffengewalt vorliegen, sondern auch bei Menschenrechtsverletzungen und Katastrophen (vgl. Heintze 2019). Wichtig ist dabei, dass keines der fünf ständigen Ratsmitglieder (USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich) eine solche Einschätzung ablehnt (sog. Veto-Recht). Zu beachten ist aber auch, dass die Großmächte nicht allein zu einer Einschätzung kommen können, sondern immer zumindest die Zustimmung von vier der zehn Nichtständigen Ratsmitglieder brauchen.3

Wenn der Rat die Situation als »friedensbedrohend« einschätzt, so hat er die Pflicht, Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens und der Sicherheit zu ergreifen. Einzigartig in der Geschichte des Völkerrechts ist, dass der Rat nach Art. 41 und 42 VN-Charta Zwangsmaßnahmen gegen den Akteur ergreifen kann, der den Frieden stört. Dabei handelt es sich einerseits um nichtmilitärische Sanktionen, wie z.B. Handels- oder Kommunikationsunterbrechungen. Angesichts der Einbindung aller Staaten in die globale Wirtschaft können solche Maßnahmen durchaus Druck auf Friedensstörer ausüben. Allerdings haben die VN auch lernen müssen, dass eine totale Isolation eines Staates, wie der Boykott aller Wirtschaftskontakte mit dem Irak nach der Kuwait-Intervention 1990, auch verheerende Folgen für die gesamte Bevölkerung eines Landes haben können. Im Irak starben damals viele Kinder als Folge der Sanktionen, weil Lebensmittel und Medizin nicht mehr geliefert werden konnten. Angesichts dieser Erfahrungen wenden die VN heute oftmals gezielte Sanktionen an, wie z.B. das Einfrieren von Bankguthaben politisch Verantwortlicher, um diese zu einer Politikveränderung zu veranlassen. Führen die wirtschaftlichen Sanktionen nicht zum Erfolg, so kann der Rat auch militärische Maßnahmen ergreifen. Mit Waffengewalt soll dann der Friedensstörer zu einem rechtstreuen Verhalten veranlasst werden. So entsandte der Sicherheitsrat 1992 Truppen nach Somalia, um militärisch zu erzwingen, dass die humanitäre Hilfe auch die Opfer einer Hungerkata­strophe erreicht (Resolution 794 [1992], vgl. Wellhausen 2002, S. 115ff.). Zuvor hatten Warlords sich diese Hilfsgüter gewaltsam angeeignet. Ein zusätzliches Problem bei der militärischen Durchsetzung des Völkerrechts im Rahmen der VN besteht darin, dass die VN nicht über eigene Soldat*innen verfügt, sondern die Mitgliedstaaten bitten muss, Truppen zur Verfügung zu stellen. Dies ist zum einen kostspielig und führt zum anderen dazu, dass den VN nicht immer genügend Truppen mit entsprechender Ausbildung zur Verfügung stehen.

Gleichwohl, die VN verfügen über die Möglichkeit, das Völkerrecht mit allen Mitteln durchzusetzen. Das Völkerrecht ist nicht zahnlos. Freilich bedarf es dazu des politischen Willens, die Mechanismen zu nutzen, und gerade dieser ist im System der VN oft blockiert, wie einige Entscheidungen zum Syrien-Krieg auf traurige Art und Weise belegen. So wurden 2013 sowohl durch die Regierungs­truppen als auch durch die Aufständischen Chemiewaffen eingesetzt. Damit war eine »rote Linie« überschritten, die US-Präsident Obama als Ausgangspunkt für ein Eingreifen der USA in den syrischen Konflikt gesetzt hatte. Allerdings gestaltete sich dieses Eingreifen auf sehr vernünftige Weise, denn Obama stimmte sich direkt mit dem russischen Präsidenten Putin ab und beide veranlassten die syrische Regierung, außerhalb eines Rahmens von VN-Maßnahmen, dem Chemiewaffen-Übereinkommen beizutreten und sämtliche in seinem Besitz befindlichen Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle abzurüsten, was auch augenscheinlich erfolgte (vgl. Meier 2018).

Gleichwohl hatte der Kompromiss gerade darin seine Schwächen, dass der VN-Friedenssicherungsmechanismus nicht angewendet wurde. Die in den Sicherheitsrat eingebrachte Resolution 2118 (2013) wurde nicht unter Kapitel VII angenommen, was widersprüchlich ist, da die Präambel die von Chemiewaffen generell ausgehende Friedensbedrohung ausdrücklich nennt. Wenn der Sicherheitsrat das syrische Verhalten als Friedensbedrohung gemäß Art. 39 charakterisiert hätte, dann hätte er Maßnahmen zur Wiederherstellung der Sicherheit nach Kapitel VII VN-Charta ergreifen müssen, z.B. Sanktionen gegen die Regierung und die Aufständischen zu erlassen. Dazu konnte sich der Sicherheitsrat aber nicht entschließen, weil viele Ratsmitglieder (in)direkt in den Konflikt involviert waren. Dies erklärt das Zustandekommen der inkonsequenten Resolution 2118, die ohne Sanktionsmöglichkeiten auch Fehlentwicklungen bei der Abrüstung beider Seiten weder verhindern, noch ahnden konnte. Dies rächte sich wenige Jahre später. Als 2016 erneut Chemiewaffen in Syrien zum Einsatz kamen, die 2013 – offensichtlich wegen der Schwierigkeit der internationalen Kontrolle in einem laufenden Bürgerkrieg – doch nicht restlos vernichtet worden waren, erfolgte auch diesmal die Reaktion auf die erneute Anwendung außerhalb des VN-Systems und war völkerrechtlich und militärstrategisch höchst fragwürdig. Die USA, Großbritannien und Frankreich bombardierten einen Tag lang Ziele in Syrien als »Vergeltung«, ohne am Boden irgendetwas für die vom Kriege betroffenen Menschen zu verbessern. Der blutige und bis heute ungelöste Konflikt in Syrien legt die Schwächen des VN-Systems schonungslos offen.

Modernisierung der VN und des Völkerrechts?

Das System der VN und das Völkerrecht allgemein rufen daher nicht erst seit dem Konflikt in Syrien nach Veränderung. Das heutige Völkerrecht geht im wesentlichen vom Konzept souveräner Staatlichkeit aus. Staaten entscheiden demnach souverän, inwieweit sie sich an neue Verträge binden. Selbst der Austritt aus bestehenden Verträgen und die Betonung des Vorrangs nationaler Interessen bleibt den Staaten überlassen, wie die Trump-Regierung eindrucksvoll vorgeführt hat. Es ist aber offensichtlich, dass die Betonung souveräner Staatlichkeit nicht die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart sein kann. Einzelne Staaten, seien sie auch noch so machtvoll und hochgerüstet, können globale Probleme wie den Klimawandel nicht lösen oder verhindern. Es scheint daher ein Übergang vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität« notwendig. In Ansätzen ist dieses Konzept bereits erkennbar, beispielsweise indem hoheitsfreie Räume einer völkerrechtlichen Regelung im Interesse der gesamten Menschheit zugeführt wurden (vgl. Wolfrum und Kojima 2010). So legt der »Weltraumvertrag« (1967) eine solche Herangehensweise für das All fest. Der Tiefseeboden darf gemäß »Seerechtsübereinkommen« (1994) ebenfalls nur gemeinschaftlich genutzt werden, der Klimaschutz wurde im »Pariser Abkommen« (2015) unter den Vorrang einer weltweiten schrittweisen Reduzierung von Klimagasen gestellt. Der internationale Schutz der Menschenrechte hat dazu geführt, dass die Beachtung dieser Rechte Teil des Anspruchs auf Souveränität ist. Es wurde eine internationale Strafgerichtsbarkeit (IStGH/ICC 2002) geschaffen, die komplementär zur nationalen Strafverfolgung eingreift, wenn Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen national nicht geahndet werden. Immer stärker nehmen nichtstaatliche Akteure an der Schaffung und Durchsetzung völkerrechtlicher Regelungen Anteil. Das sind positive Entwicklungen, die mühsam erkämpft wurden und nicht widerspruchsfrei sind.

Ein schwerwiegender Widerspruch ist der Umstand, dass sich Großmächte wie die USA, Russland und China nicht bereitfanden, sich der Gerichtsbarkeit des ICC zu unterwerfen. ­Stattdessen beschäftigte sich der ICC bislang vor­rangig mit Fällen auf dem afrikanischen Kontinent, was zum Vorwurf der »Doppelstandards« führte. Zweifellos ist dieser Vorwurf unberechtigt, untergräbt jedoch die Glaubwürdigkeit des Völkerrechts als einer universellen Rechtsordnung. Auch deshalb sind weitere Schritte notwendig und erfordern eine rasche Umsetzung, wenn die Menschen angesichts brutaler Kriege, massiven Waffeneinsatzes gegen friedliche Demonstrant*innen, schamlosen Wahlbetruges und der Ungleichheit bei der Bekämpfung globaler Krankheiten nicht das Vertrauen in die internationale Rechtsordnung verlieren sollen. Dringend müssen endlich energische Schritte zur Beendigung von Kriegen wie dem in Syrien ergriffen werden. Auch sind Planungen für den Wiederaufbau solcher vom Kriege gebeutelten Gesellschaften erforderlich (vgl. Asseburg 2020).

Die VN müssen als moralisch-politische und rechtliche Instanz vorangehen. So ist es notwendig, die in ihr eingeschriebenen Strukturen der Nachkriegsordnung von 1945 aufzubrechen. Internationale Konflikte können heute nicht mehr überzeugend im Rahmen eines Sicherheitsrates mit einer Vorrangstellung der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges diskutiert werden. In diesem Gremium müssen mindestens alle Kontinente und großen Staaten als Ständige Mitglieder vertreten sein und Verantwortung übernehmen. Grundsätzlich scheint eine solche Reform aber nicht nur notwendig, sondern auch möglich. So gab um die Jahrtausendwende einen Ansatz zur Erweiterung des Sicherheitsrates, der allerdings nicht an einer Ablehnung durch die fünf ständigen Mitglieder scheiterte, sondern an der Uneinigkeit der fünf Regionalgruppen in den VN. Dies ist die Lehre, die aus dem bisherigen Scheitern einer Modernisierung der VN und des Völkerrechts im allgemeinen zu ziehen ist: Es bedarf immer wieder einer Überwindung nationaler Egoismen und der Einsicht eines kollektiven Vorgehens im Interesse der gesamten Menschheit.

Anmerkungen

1) Die Absprache wurde zwischen Roosevelt und Stalin in Jalta getroffen, deshalb wird sie in der Literatur als »Yalta-Formula« bezeichnet.

2) Das ist der große Unterschied zum 1928 abgeschlossenen Briand-Kellogg-Pakt, der zwar auch die Gewaltanwendung verbot, aber keinen Durchsetzungsmechanismus enthielt und so den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verhindern konnte.

3) Diese Nichtständigen Mitglieder werden durch die VN-Generalversammlung für zwei Jahre gewählt und repräsentieren die fünf Regionalgruppen der VN.

Literatur

Asseburg, M. (2020): Wiederaufbau in Syrien. Herausforderungen und Handlungsoptionen für die EU und ihre Mitgliedstaaten. SWP Studie 2020/S07, April 2020.

Heintze, H.-J. (2019): Frieden und Völkerrecht. In: Gießmann, H.J.; Rinke, B. (Hrsg.), Handbuch Frieden, 2. Aufl. Wiesbaden: Springer, S. 753-772.

Ipsen, K. (2018): Völkerrecht, 7. Aufl. München: C.H.Beck.

Meier, O. (2018): Chemiewaffenangriffe. Das Ende der Namenlosigkeit. SWP-Aktuell 2018/A39, Juli 2018.

Wellhausen, M. (2002): Humanitäre Intervention. Probleme der Anerkennung des Rechtsinstituts unter besonderer Berücksichtigung des Kosovo-Konflikts. Baden-Baden: Nomos.

Wolfrum, R.; Kojima, C. (Hrsg.) (2010): Solidarity: A structural principle of international law. Heidelberg: Springer.

Hans-Joachim Heintze ist Professor am Bochumer Institut für Friedensicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und Direktor des European Master Programme »Human Rights and Democratization«.

Neues atomares Wettrüsten?


Neues atomares Wettrüsten?

Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung am Scheideweg

von Götz Neuneck

In einer Zeit, in der die Covid-19-Pandemie das alles beherrschende Thema ist, scheinen Fragen von kooperativer Sicherheit, Frieden und Abrüstung sowie ihre völkerrechtliche Verankerung in den Hintergrund gerückt zu sein. Dabei benötigen existenzielle Risiken wie Pandemien oder die Klimaproblematik zusätzliche Ressourcen und Finanzen, um neue Gefahren für die menschliche Sicherheit abzuwenden. Stattdessen droht das Völkerrecht durch Blockrivalitäten, neue Rüstungskonkurrenz und Vertragskündigungen weiter zerrieben zu werden.

UN-Generalsekretär Guterres hat angesichts der Pandemie vergeblich zu einer weltweiten Waffenruhe aufgerufen, obwohl es offensichtlich geworden sein sollte, dass die alten, militärischen Instrumente nichts zur Lösung der aktuellen Herausforderungen beitragen. Vielmehr braucht es mehr Engagement für humanitäre Sicherheit (vgl. Brzoska et al. 2021). Stattdessen wachsen die Militärhaushalte, neue Waffensysteme werden angekündigt und getestet, und ein neuer Rüstungswettbewerb zeichnet sich ab (vgl. Wulf 2021). Begrenzende Rüstungskontrollverträge wie der INF-Vertrag oder das Open-Skies Abkommen wurden fahrlässig gekündigt.

Das zeigt die Grenzen der klassischen Rüstungskontrolle auf, die am Ende des Kalten Krieges so erfolgreich hohe Waffenstände verringert, eine Verifikationskultur geschaffen und konkret zur Risikoreduzierung beigetragen hatte. Mit dem Inkrafttreten des Atomverbotsvertrages und der Verlängerung des New-START-Vertrages in letzter Minute sind dennoch Hoffnungen auf weitere nukleare Abrüstungsschritte verbunden. Wie sind diese Entwicklungen zu deuten und welche Schritte zur Reaktivierung von Rüstungskontrolle und Abrüstung gibt es?

Unverzichtbares Instrument für Ordnungspolitik?

Die Internationalen Beziehungen sind volatiler, unvorhersehbarer und komplexer als in den letzten 30 Jahren. Die Bindekraft von völkerrechtlichen Normen und Institutionen erodiert sichtbar. Der ökonomische und technologische Wettbewerb zwischen den USA und China verschärft sich und ist längst auch auf den militärischen und technologischen Sektor übergesprungen. Die Konkurrenz um Position und Einfluss in der künftigen Weltordnung zwischen den USA, China und Russland hat begonnen. Domänen wie die Arktis, die Cybersphäre oder der Weltraum werden hiervon nicht ausgenommen. Sanktionen, hybride Kriegsführung und Cyber­operationen sind zu neuen Instrumenten der Außenpolitik geworden. Die USA geben dreimal so viel Geld für ihr Militär aus wie ihre Rivalen China und Russland, bleiben militärische Weltmacht und konzentrieren sich zuallererst auf den ökonomischen und technologischen Wettbewerb mit China, das sein Militärbudget in der letzten Dekade verdoppelt hat und insbesondere regional militärisch aktiv wird. Es setzt aber auch mit seiner »Belt and Road Initiative« global Akzente bis hin nach Afrika.

Russland möchte mit seiner nuklearen Erneuerung insbesondere militärisch punkten und ist auch im Mittleren Osten (z.B. Syrien) oder im ­Kaukasus militärisch tätig. Die NATO, das stärkste Militärbündnis der Welt, verkündet stolz, dass ihre Militärausgaben das sechste Jahr in Folge wachsen, und die Europäische Union strebt nach »strategischer Autonomie«. Sie wird immer stärker in den Wettbewerb zwischen China und den USA hineingezogen (Lodgaard 2020). Staaten wie die Türkei und Saudi-Arabien sind in lokale Kriege verwickelt. Mit der Abwahl von US-Präsident Trump ist zwar die Hoffnung verbunden, dass die neue Biden-Administration Völkerrecht und den »liberalen Multilateralismus« wieder stärkt sowie Rüstungskontrolle (New-START), Abrüstung und Nichtverbreitung (Nichtverbreitungsvertrag NVV, Iran-Abkommen JCPoA) aktiv wiederbelebt, aber dafür sind enorme Anstrengungen nötig. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob dies gelingt und ob Rüstungskontrolle ein „unverzichtbares Instrument internationaler Ordnungspolitik“ (Müller und Schörnig 2006, S. 15) bleibt.

Hybris auf vielen Ebenen?

Die problemlose Verlängerung des New-START-Vertrages nach dem Amtswechsel in Washington schenkt den beiden führenden Atommächten etwas Zeit, einen Nachfolgevertrag zur Reduzierung der strategischen Nukleararsenale auszuhandeln. Die Rückkehr der USA an den Verhandlungstisch und die Wiederbelebung des Iran-Abkommens wären wichtige Signale für die Gültigkeit des globalen Nichtverbreitungsregimes und damit für die nächste 10. NVV-Überprüfungskonferenz. Mit dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) am 22. Januar 2021 sind große Hoffnungen auf eine weitere Delegitimierung der Nuklearwaffen verbunden. Doch die Ankündigung Großbritanniens vom 16. März 2021, im Rahmen seiner außenpolitischen Neuorientierung »Global Britain« die Obergrenze seines Nuklearpotentials um 44 % zu erhöhen und seine Nukleardoktrin zu revidieren, verkompliziert die Abrüstungsdebatte, entfernt sich damit doch ein Nuklearwaffenstaat sichtbar von dem im Nichtverbreitungsregime akzeptierten Ziel, die nuklearwaffenfreie Welt anzustreben (vgl. Deep Cuts Commission 2021). Oft wird vergessen, dass der »International Court of Justice« 1996 in einem Gutachten bereits festgestellt hat, dass die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen im Allgemeinen gegen das Völkerrecht verstößt (ICJ Advisory Opinion 1996).1

Die Krise der Rüstungskontrolle wurde im Wesentlichen durch Lethargie, Unkenntnis und die geschichtliche Kurzsichtigkeit von Führungseliten ausgelöst (vgl. Arbatov 2020). Ihr „ordnungspolitischer Wert ist nicht mehr anerkannt bzw. geschätzt“ (Staack 2019, S. 167) und so werden zentrale Institutionen und Regelungen der Rüstungskontrolle sich selbst überlassen oder erodieren. Die dafür vorgebrachten Argumente sind: Zunahme der Akteure, Vertragsverletzungen der Gegenseite und die regionale Komplexität der Bedrohungslagen. Auch besteht die Tendenz dazu, die wahrgenommene Bedrohung technologisch zu lösen. Ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten ist die Folge. Übersehen wird, dass nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung eine Überlebensfrage der Menschheit sind. Prominente Stimmen aus der Politik verweisen darauf, dass die nuklearen Kriegsgefahren größer sind als während des Kalten Krieges, mit potentiell drastischen Folgen. Würde nur ein Prozent des militärischen Nukleararsenals in Städten zum Einsatz kommen, hätte dies neben den unmittelbaren katastrophalen regionalen Konsequenzen auch unabsehbare globale Folgen für Ernährung und Umwelt (vgl. Toon et al. 2017).

Es ist also an der Zeit, Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime zu stärken, denn die Geschichte der Rüstungskontrolle zeigt, welche großen Abrüstungserfolge möglich sind. Dazu braucht es jedoch weniger einseitige Rüstung und Hybris der verantwortlichen Politik allerorts, sondern energisches, kooperatives Handeln, bei dem sich auch das Rüstungsverhalten des Gegners ändert. Erfolgreiche Rüstungskontrolle trägt unmittelbar zur Kriegsverhütung, Eskalationskontrolle und Konfliktlösung bei. Sie schafft Berechenbarkeit, verändert politische Beziehungen und ermöglicht weitere Abrüstung. Dies verlangt hohe politische Aufmerksamkeit, Reziprozität beim Gegenüber, ein Minimalverständnis für den Verhandlungspartner und ressortübergreifende Expertise (Neuneck 2019).

Neue Hoffnungen, neue Verhandlungen?

Mit dem Antritt der Biden-Administration ist neue Hoffnung auf die Rückkehr effektiver Rüstungskontrolle verbunden. Die Verlängerung des New-START-Vertrages ermöglicht den Beginn eines kontinuierlichen Dialogs zur strategischen Stabilität zwischen den beiden Supermächten USA und Russland. Dies findet vor dem Hintergrund fortgesetzter Sanktionen gegen Russland und einem an Rüstungskontrolle kaum interessierten US-Kongress statt. Dennoch sind Verhandlungen für ein Nachfolgeregime New-START II notwendig, denn es müssen geerbte Probleme des New-START Regimes aber auch diverse neue und komplexe Probleme gelöst werden. Diese reichen von der weiterhin von Russland kritisierten strategischen Raketenabwehr über neue Trägersysteme, wie Hyperschallflugkörper, nuklearbestückte Marschflugkörper oder Unterwassertorpedos, bis hin zu Fragen neuer disruptiver Zukunftstechnologien aus den Bereichen Cybersphäre, Weltraum und Künstlicher Intelligenz, die eine strategische Wirkung entfalten könnten. Die Bedrohung durch Präzisionsangriffe mittels konventionell bestückter Trägersysteme (»Prompt Global Strike«) für einen Erstschlag stellen eine weitere zu regelnde Problematik dar.

Diese Faktoren werden nicht auf einmal gelöst werden können; deshalb ist ein kontinuierlicher Dialog zwischen den USA und Russland nötig, an dem aber auch die anderen Nuklearmächte beteiligt werden sollten, um ein möglichst umfassendes Kontrollregime zu schaffen. Dies betrifft vor allem China. Der ständig wiederholte Ruf in den USA, auch das Arsenal Chinas einzubeziehen, ist insofern berechtigt, als die Zahl der Atomsprengköpfe und das geplante Maximum des chinesischen Arsenals nicht bekannt sind und z.B. der Aufbau von ballistischen Mittelstreckensystemen im Indo-Pazifik drastisch zunimmt.2 Unbedachte Forderungen nach trilateraler Rüstungskontrolle verkennen aber die ungelösten Probleme multilateraler Abschreckung, z.B. wie strategische Stabilität zwischen drei Partnern überhaupt funktionieren kann.

Vorschläge für künftige Regelungen

Eine deklaratorische »No-First-Use«-Regel aller Nuklearmächte wäre ein wichtiger Schritt hin zur Begrenzung vorhandener Arsenale, die heute eher eine deutliche Kehrtwende in Richtung nuklearer Kriegsführung zeigen. Eine solche Erklärung der amerikanischen und russischen Präsidenten, beide Staaten würden Nuklearwaffen nicht im Erstschlag einsetzen, hätte erhebliche Konsequenzen für die Zahl, die Einsatzprofile und Doktrinen beider Kontrahenten (Pifer 2020). Ein Beispiel ist die gegenteilige Entwicklung in Richtung Kriegsführungsoptionen, z.B. von neuen nuklear bestückbaren Marschflugkörpern und zielgenauen ballistischen Raketen mit kleiner Sprengladung (low-yield ­nuclear weapons). Biden hat als US-Vizepräsident 2017 eine »No-First-Use«-Erklärung ins Spiel gebracht und Präsident Putin hat 2020 erklärt, dass Russland Nuklearwaffen nur bei einem Nuklearwaffeneinsatz gegen Russland einsetzen werde. Die Kündigung des INF-Vertrages kann zu einem Wettrüsten von neuen Mittelstreckensystemen gerade in und um Europa aber auch in Asien führen. Solch ein Stationierungswettlauf wie in den 1980er Jahren sollte unter allen Umständen verhindert werden, denn er würde seinerseits die Debatte um die Raketenabwehr neu entfachen.

Ein erster vertrauensbildender Schritt hin zu einer solchen Regelung wäre zunächst ein Moratorium für die Stationierung von neuen nuklearbestückten Trägersystemen in Europa zwischen der NATO und Russland. Mögliche Maßnahmen zur Deklaration von INF-relevanten Systemen und die Überprüfung und Verifikation der Einhaltung von deren Nichtstationierung könnten zwischen Russland und der NATO diskutiert und implementiert werden. Eine Studiengruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) hat jüngst vertrauensbildende Maßnahmen wie Besuche oder Inspektionen von umstrittenen Militärbasen vorgeschlagen, um die gegenseitigen Vorwürfe bezüglich der Stationierung von INF-Systemen zu klären (VDW 2020). Die konventionelle und die humanitäre Rüstungskontrolle sind mit den Themenbereichen nuklearer Rüstungskontrolle verbunden und bedürfen dringend der Erneuerung. Vorschläge dazu liegen vor (Zellner et al. 2020, Richter 2019). Sowohl die Wiener Dokumente im Rahmen der OSZE als auch die NATO-Russland Grundlagenakte bieten ein Potential dazu, werden aber weitgehend links liegengelassen.

Ein möglicher Ansatz für künftige nukleare Rüstungskontrolle wäre die stärkere Hinwendung zur Verifikation des Abzuges, der Lagerung und der Zerlegung vertragskonform abzurüstender Nuklearsprengköpfe auch im Rahmen eines völkerrechtsverbindlichen Regimes. Für eine solche nukleare Rüstungskontrollverifikation wären auch neue Initiativen der NATO erforderlich. Die Initiative der »International Partnership for Nuclear Disarmament Verification« (IPNDV) hat dazu eine erste Grundlage geschaffen, die ausgebaut und durch weitere wissenschaftliche Expertise ergänzt werden kann. In Bezug auf die Verifikation einer atomwaffenfreien Welt gibt es hier auch eine Überschneidung mit dem jüngst in Kraft getretenen AVV. Auch die Europäische Union könnte hier initiativ werden.

Der AVV ist eine ernste Erinnerung einer großen Zahl von Staaten, der im NVV-Vertrag vor über 50 Jahren festgeschriebenen Abrüstungsverpflichtung der Präambel und des Artikel 6 gerecht zu werden. Völkerrechtlich ist der Vertrag von großer Bedeutung, und er stärkt das Tabu eines Einsatzes von Nuklearwaffen. Die Bundesregierung sollte ihre ablehnende Haltung gegenüber dem AVV aufgeben und auf die Befürworter*innen des AVV zugehen. Sie könnte beispielsweise am Treffen der Vertragsstaaten im kommenden Jahr als Beobachterstaat teilnehmen oder einen Workshop zur Verifikation der Denuklearisierung abhalten.

In Deutschland stehen Wahlen an, und dies bietet Gelegenheit die Positionierungen der Parteien in Bezug auf Frieden, Völkerrecht und Rüstungskontrolle zu studieren, erkennbare Sackgassen zu hinterfragen und begehbare Pfade für die Umsetzung aufzuzeigen. An positiven Formulierungen in den Entwürfen der Wahlprogramme fehlt es nicht: Die Grünen sprechen sich für einen neuen Schub für Abrüstung und die Stärkung des Völkerrechts aus, die Sozialdemokraten wollen sich für Diplomatie und Dialog, zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen, die Liberalen sprechen sich für neue Impulse zur Erneuerung von Rüstungskontrolle und Abrüstung aus und die Linke fordert ein neues Friedenssicherungssystem. Interessant wird die Debatte, wenn nachgefragt wird, wie die Stärkung des Völkerrechts und eine atomwaffenfreie Welt konkret erreicht werden sollen. Die Problematik der nuklearen Bedrohung und der Gefahr durch konventionelle Kriege ist jedenfalls für Deutschland und Europa von zentraler und existenzieller Bedeutung.

Anmerkungen

1) Leider konnte der Weltgerichtshof nicht abschließend feststellen, ob der Einsatz von Atomwaffen im Falle eines „extremen Umstandes der Selbstverteidigung, bei dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht“, rechtmäßig oder unrechtmäßig wäre.

2) Ein Vorschlag der USA für diese Region lässt allerdings auf sich warten. Bezüglich China wäre ein eigenständiger, gut strukturierter strategischer Dialog mit den USA über mehr Transparenz und Risikoreduzierung im Indo-Pazifik ein Schritt vorwärts. Dabei könnten auch Regeln für nuklear-bestückbare ballistische Träger mittlerer Reichweite (Intermediate-Range Nuclear Forces, INF) für die Region vorgeschlagen werden.

Literatur

Arbatov, A. (2020): Saving strategic arms control. Survival Vol. 62 (5), S. 79-104.

Brzoska, M.; Neuneck, G.; Scheffran, J. (2021): Corona-Pandemie: Implikationen für die Sicherheitspolitik. IFSH-Policy Brief 2, 2021.

Deep Cuts Commission (2021): The United Kingdom’s damaging decision to build up its nuclear force and how to respond. Mitteilung, 31.03.2021.

International Court of Justice (1996): Advisory Opinion of July 1996; Legality of the threat or use of nuclear weapons.

Lodgaard, S. (2020): Arms control and world order. Toda Peace Institute, Policy Brief No. 87, August 2020.

Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle. Eine exemplarische Einführung in die internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

Neuneck, G. (2019): Kommentar zu dem Mythos „Rüstungskontrolle ist nicht mehr zeitgemäß“. Die Friedenswarte 92(3/4), S. 167-172.

Pifer, S. (2020): Nuclear weapons: it´s time for sole purpose. The National Interest, 15.09.2020.

Richter, W. (2019): Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Vom Gleichgewicht der Blöcke zur regionalen Stabilität in der Krise. SWP-Studie, Juli 2019.

Staack, M. (2019): Mythos „Rüstungskontrolle ist nicht mehr zeitgemäß“. Die Friedenswarte 92(3/4), S. 173-177.

Toon, O.B.; et al. (2007): Atmospheric effects and societal consequences of regional scale nuclear conflicts and acts of individual nuclear terrorism. Atmos. Chem. Phys. Discuss. 7, S. 1973-2002.

Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) (2020): Risikoreduzierung, Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Agenda zum Dialog mit der neuen Biden-Administration für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit. Erklärung von Mitgliedern der VDW-Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“, 27.01.2021.

Wulf, H. (2021): Globaler Rüstungsboom. Internationale Politik und Gesellschaft, 06.04.2021.

Zellner, W.; Pifer, S.; Oliker, O. (2020): A little of the old, a little of the new: A fresh approach to conventional arms control (CAC) in Europe, Deep Cuts Issue Brief #11, 2020.

Prof. Dr. Götz Neuneck war bis 2019 stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und ist deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.

Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss


Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss

Die Revolution der neuen Rechtssubjekte

von Daniela Triml-Chifflard

Bisher deklarierte das moderne Rechtssystem die Natur vor allem als Eigentum, als Objekt, das an seiner Nützlichkeit für den Menschen bemessen und gehandelt wird. Diese Konzeption basiert auf der westlichen Auffassung von Natur, die Menschen als von dieser getrennt und über ihr stehend ansieht. In einigen Staaten verändert sich allerdings in den letzten Jahren das rechtliche Verhältnis zur Natur – nicht zuletzt ein Erfolg vieler indigener Bewegungen. Dieser Artikel nähert sich der Anerkennung der Rechte der Natur am Beispiel des Whanganui-Flusses in Aotearoa (Neuseeland) und wirft einen Blick auf die möglichen globalen Chancen solcher Gesetzgebung für Umweltrecht, kulturelle Menschenrechte und ein verändertes Subjektverständnis im Recht.

Am 15. März 2017 nahmen mehr als 400 Whanganui Maori an der dritten Lesung des »Te Awa Tupua«-Gesetzesentwurfs (wörtlich: »Fluss als Ahne«) im Repräsentantenhaus in Wellington, Aotearoa (Neuseeland), teil. Die Maori wollten den historischen Moment persönlich miterleben, in dem der Whanganui-Fluss nach mehr als 140 Jahren andauerndernder Rechtsstreitigkeiten mit der britischen Krone offiziell als ihr Ahne anerkannt werden würde. Kurz nach Mittag erhielt der Gesetzes­entwurf, nach fünf Jahren intensiver Diskussionen im Parlament, endlich die langersehnte königliche Zustimmung.

Mit seiner parlamentarischen Verabschiedung wurde das »Te Awa Tupua«-Gesetz der erste rechtliche Rahmen der Welt, der einen Wasserlauf als „ein unteilbares und lebendiges Ganzes“ mit all „seinen physischen und metaphysischen Elementen“ und „intrinsischem Wert“ anerkannte und ihn als Persönlichkeit mit allen „Rechten, Befugnissen, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ ausstattete (Te Awa Tupua Act 2017).

Ein neues Naturverständnis im Recht

Vor diesem revolutionären Beispiel neuer Rechtssetzung in Aotearoa (Neuseeland) waren die eigenständigen Rechte der Natur weltweit kaum irgendwo umfassender in einen rechtlichen Rahmen eingebunden. Aufsehen erregte davor deren gesetzliche Verankerung in der Verfassung von Ecuador im Jahr 2008 und in der »Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde« (»Universal Declaration of the Rights of Mother Earth«), verabschiedet von der Konferenz indigener Gruppen zum Klimawandel im Jahr 2010 in Cochabamba, Bolivien (vgl. Earth Law Center 2021; siehe Tabelle).

In der ecuadorianischen Verfassung heißt es seither in Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben reproduziert und existiert, hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“ Es war dieser Verfassungsartikel, der 2011 die Rechtsgrundlage für die erste erfolgreiche Klage gegen die Provinzregierung von Loja, Ecuador, für die Wiedergutmachung wegen der Beschädigung des Vilcabamba-Flusses lieferte (Earth Law Center 2021).

Umweltaktivist*innen weltweit und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« begrüßen die rechtliche Verankerung dieser Rechte der Natur und ihrer Wandlung von einem nutzbaren Objekt für Menschen zu einem Subjekt mit Eigenwert und Recht auf Leben. Diese revolutionären Gesetzesänderungen ermöglichen es nun Umweltorganisationen, Gemeinschaften sowie einzelnen Privatpersonen, das »Recht auf Leben« der Natur vor Gericht einzufordern.

Die durch Kolonialismus und Imperialismus geprägte, weltweit dominante Interpretation von Natur als vom Menschen dominierter Ressource kontrastiert stark zu vielen indigenen Weltverständnissen, die oftmals Menschen als Teil der Natur ansehen, die Natur als belebte Einheit wahrnehmen und sie als Teil der sozialen Gesellschaft definieren. Derartige indigene Verständnisse von Natur sind auch die Grundlage für die neuen Gesetzesentwürfe. Denn auch wenn Umweltschützer*innen und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« darin die Verwirklichung ihrer Forderungen sehen, den Eigenwert der Natur anzuerkennen und ihr das Recht zuzusprechen, „zu existieren, zu gedeihen und sich zu entwickeln“, so sind diese Gesetze nicht allein kreiert worden, um der Natur mehr Rechte zu verleihen, sondern vor allem um die Menschenrechte indigener Gruppen besser durchsetzen bzw. aufrechterhalten zu können.

Rolle der internationalen Menschenrechte

Seit dem »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen Arbeitsorganisation von 1989 (ILO-Übereinkommen 169), das von Regierungen weltweit forderte, die besondere Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Rechte auf Eigentum und Besitz von Land durch die betroffenen Völker anzuerkennen, sind Regierungen angehalten, sich den völkerrechtlichen Normen der Selbstverwaltung von Minderheiten und Indigenen anzupassen.

Es lässt sich beobachten, dass durch die Verpflichtung, indigene soziale und kulturelle Rechte und die damit verbundenen religiösen und spirituellen Werte und Praktiken, die für die jeweilige indigene Identität wesentlich sind, anzuerkennen und zu schützen, weltweit schrittweise konstitutionelle Neuordnungen zur gesetzlichen Gleichstellung indigener Gruppen mit anderen Bevölkerungsgruppen unternommen werden. Beschleunigt wurde dieses Bestreben durch die im Jahr 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete »Deklaration der Rechte indigener Völker« (UNDRIP), die für ein Überleben indigener Gruppen in Nationalstaaten entsprechende sozioökonomische, politische und kulturelle Zielsetzungen formulierte.

Te Awa Tupua – Ein Fluss als Ahne

Auch in Aotearoa (Neuseeland) tragen das ILO-Übereinkommen und die UNDRIP zu einer Transformation der Beziehungen zwischen der neuseeländischen Regierung und der Maori-Minderheit bei. Sie beeinflussen stark, wie seitdem mit den Anspruchsforderungen der indigenen Maori vor staatlichen Gerichten umgegangen wird. Seit diesen Abkommen ist die neuseeländische Regierung sichtbar bestrebt, die besondere Beziehung der Maori zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Eigentumsrechte und den Besitz von Land anzuerkennen. Doch es bedurfte auch der Formierung einer organisierten Maori-­Protestbewegung und kontinuierlicher Prozessführung durch Maori, um der Forderung nach Anerkennung Nachdruck zu verleihen. Als Reaktion auf die mannigfaltigen Proteste richtete die Regierung von Aotearoa (Neuseeland) das sogenannte »Waitangi-Tribunal« ein, das den Weg für die revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetzgebung und die Verankerung einer indigenen Kosmologie im modernen Staatsrecht ebnete. Der historische Moment der Implementation dieses Gesetzes markierte auch das Ende des am längsten andauernden Rechtsstreits in der Geschichte Aotearoas (Neuseelands). Rechtsstreitigkeiten, die auf die Unterzeichnung des Vertrags von Waitangi im Jahr 1840 folgten.

Der Vertrag von Waitangi: Konzeptionelle Missverständnisse

Der Vertrag von Waitangi ist ein Abkommen, das zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und den Maori-Chiefs geschlossen wurde, um die steigende Zahl europäischer Siedler*innen in Aotearoa (Neuseeland) und die indigene Maori-Bevölkerung unter einer Regierung zu vereinen. Die darin festgehaltenen Versprechen der britischen Krone wurden von dem Missionar Henry Williams und seinem Sohn Edward ins Maori übersetzt. Nur etwa 40 Maori-Häuptlinge unterzeichneten die englische Version am 6. Februar 1840. Bis September desselben Jahres unterzeichneten weitere 500 Maori-Häuptlinge »Te Tiriti«, die Maori-Version des Vertrags, die im ganzen Land verschickt wurde.1 Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages begannen Streitigkeiten über seinen Inhalt und die Eigentumsrechte an Land. Diese Streitigkeiten, die bis heute andauern, beruhten nicht nur auf der falschen Übersetzung der englischen Originalfassung ins Maori, sondern auch auf konzeptionellen Missverständnissen, da die Vorstellungen der Briten von Land und Besitz nicht mit den Vorstellungen der Maori übereinstimmten und umgekehrt (vgl. Ministry for Culture and ­Heritage 2017). Um 1840 war das britische Konzept des privaten Landbesitzes ein fremdes Konzept für die Maori, die ihren Anspruch auf Land durch gewohnheitsmäßige Nutzungen geltend machten. Land und andere natürliche Ressourcen konnten nicht besessen, sondern nur kontrolliert werden. Diese Autorität über Land, seine natürliche Umwelt und das Recht seiner Nutzung werden nach Ordnung der Maori bis heute durch Abstammung vererbt. Das System der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit bei der Kultivierung und der gemeinsamen Nutzung der natürlichen Ressourcen hemmt jeden Trend zum Individualismus und zum individuellen Besitz von Land, wie im westlichen Verständnis von Natur.

Entwicklungen der Verankerung autonomer Rechte der Natur weltweit

Jahr

Staat/Gremium

Gesetz bzw. Entscheidung

2008

Ecuador

Ecuadorianische Verfassung Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama (…) hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“

2010

Bolivien

Bolivianische Verfassung Gesetz der Rechte von Mutter Erde No.71 Artikel 3:

„Mutter Erde ist das dynamische lebende System, das aus der unteilbaren Gemeinschaft aller Lebenssysteme und Lebewesen besteht, die miteinander in Beziehung stehen, voneinander abhängig sind und sich gegenseitig ergänzen und ein gemeinsames Schicksal teilen.“

2010

Konferenz indigener Gruppen

»Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde«, Cochabamba, Bolivien anerkennt »Mutter Erde« als Lebewesen, das unveräußerliche Rechte besitzt.

2014

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Urewera Act« – Der Te Urewera Nationalpark wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

2016

Kolumbien

Verfassungsgericht verleiht dem »Atrato-Fluss« den Status einer juristischen Person mit Rechten auf Schutz, Erhaltung, Pflege und Erneuerung.

2017

Aotearoa (Neuseeland)

»Te Awa Tupua Act« – Der Whanganui Fluss wird als Lebewesen mit intrinsischem Eigenwert (all seine physikalischen und metaphysischen Elemente) anerkannt und als juristische Persönlichkeit ­tituliert.

2018

Kolumbien

Der kolumbianische Teil des amazonischen Regenwaldes wird als juristische Persönlichkeit anerkannt.

März 2017
bis
Juli 2017

Indien

Das Oberste Gericht von Uttarakhand spricht den Flüssen »Ganga« und »Yamuna« sowie den Gletschern von »Gangotri« und »Yamunotri« im Himalaya den Status von juristischen Personen für ihr Überleben, ihre Sicherheit, ihren Erhalt und ihr Wiederaufleben zu. Auf Einspruch der Regierung setzt der Oberste Gerichtshof im Juli 2017 die Verfügungen des High Court of Uttarakhand im Ganges- und Yamuna-Fall jedoch wieder aus.

2019

El Salvador

Anerkennung der staatlichen Wälder als lebende Entitäten.

2019

Bangladesch

»High Court Division Declaration in Writ Petition Nr.13989«: Der »Turag-Fluss« und alle Flüsse Bangladeschs werden als lebende Entitäten anerkannt.

Kulturelles Menschenrecht auf Te Ao Maori (Die Maori Welt)

Die Maori verstehen sich als Hüter*innen ihres Landes, das sie von ihren Vorfahren vererbt bekommen haben. Dieses Land wird wiederum von ihnen für zukünftige Generationen geschützt. Abstammung und Verwandtschaft definieren so die traditionellen Nutzungsrechte am Territorium. Dabei bezieht sich Verwandtschaft gemäß der Kosmologie der Maori nicht nur auf Familienbande zwischen lebenden Menschen, sondern auf ein breiteres Netz von Beziehungen zwischen Menschen, Land, Wasser, Flora, Fauna und die spirituelle Welt der Götter, da diese durch eine gemeinsame Lebensessenz miteinander verbunden sind. Dieses Verständnis geht auf den Ursprungsmythos der Maori zurück, die sich, ebenso wie alle natürlichen Elemente (Wind, Regen, Vögel, Wälder, Flüsse, Pflanzen…), als direkte Nachkommen von Ranginui (dem Himmels-Vater) und Papatuanuku (der Erd-Mutter) verstehen. Aufgrund dieser gemeinsamen Abstammung sind alle diese Elemente miteinander verwandtschaftlich verbunden und haben auf sich gegenseitig mit Respekt zu achten.

Speziell die Menschen einer Maori Gruppe, ihre »rangatira« (Häuptling/Stammesoberster), ihre »tipuna« (Ahnen) und ihr Land teilen alle das »hau« (den Wind des Lebens) der gemeinsamen Vorfahren. In Maori sprechen die Menschen von sich selbst als ahau (ich selbst), und rangatira sprechen von einem Vorfahren in der ersten Person, weil sie das »kanohi ora«, sein »lebendiges Gesicht« sind. Entsprechend werden sie auch als Elemente einer gemeinsamen Identität verstanden. So erwähnen die Maori, wenn sie nach ihrer Identität gefragt werden, nicht sich selbst, sondern beziehen sich auf ihren geschätzten Vorfahren, ihren Berg, ihren Fluss und andere natürliche Orientierungspunkte.

Maori der Gruppe Te Atihaunui-a-Paparangi (auch Atihaunui oder Ngati Hau genannt), die entlang des Whanganui-Flusses wohnen, sind eine relativ homogene Abstammungsgruppe. Sie sind durch den Whanganui-Fluss, der durch ihr Ahnenterritorium fließt, miteinander verbunden. Sie sehen den Fluss als ihren gemeinsamen Vorfahren, mit dem sie gemeinsames hau teilen und nennen ihn »tipuna awa« (Ahne Fluss).

Entsprechend ihres Verständnisses gemeinsamer Identität zitieren Whanganui-Maori den Spruch „Ko au te Awa, ko te Awa ko au“ („Ich bin der Fluß und der Fluß bin ich“), wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden (Salmond 2017, Waitangi Tribunal 1999). Seit Ankunft der europäischen Siedler*innen wurde dieses alternative Weltverständnis von der Kolonialmacht in der steten Aneignung von traditionell genutztem Maori-Territorium fortlaufend ignoriert und trotz unzähliger gerichtlicher Einsprüche nicht angehört und beachtet. Auf diesem Weg wurden den Maori nicht nur Land und Ressourcen entzogen, sondern auch ein wichtiger Teil ihrer Identität entrissen. Mit der Implementierung der »Te Awa Tupua«-Gesetz­gebung wurde der Whanganui River nun endlich als „eine spirituelle und physische Einheit, die sowohl das Leben und die natürlichen Ressourcen innerhalb des Whanganui-Flusses als auch die Gesundheit und das Wohlergehen der Maori-­Gemeinschaften am Fluss unterstützt und aufrechterhält“, anerkannt (Te Awa Tupua Act 2017). Dadurch wurde nach 140 Jahren kontinuierlicher Unterdrückung die Maori-Kosmologie erstmals rechtlich verankert und zu einem anerkannten Teil neuseeländischer Realität, geleitet von der Überzeugung, Gerechtigkeit für (post)koloniale Ungleichheiten und damit einhergehendes Leid zu üben, um Maori für erlittene Diskriminierungen zu entschädigen.

Das Waitangi-Tribunal

Doch diese Gesetzgebung wäre nicht ohne den unermüdlichen landesweiten Protest der Maori zustande gekommen. Die kontinuierlichen Landenteignungen aktivierten großen Widerstand aufseiten der Maori. Neben zahlreichen Klagen vor Gericht wurde die steigende Unzufriedenheit auch in der Formierung einer aktiven Maori-Protestbewegung zum Ausdruck gebracht. Der bemerkenswerteste Protest war der große »Maori hikoi« (Landmarsch) von 5.000 Maori von Te Hapua nach Wellington im Jahr 1975. Die Demonstrant*innen überreichten Premierminister Bill Rowling eine Petition mit 60.000 Unterschriften, um gegen die fortlaufende Landenteignung der Maori zu protestieren. Dieser Marsch lenkte landesweit die Aufmerksamkeit auf den Vertrag von Waitangi und damit einhergehende Klagen von Maori. Als Reaktion darauf richtete die neuseeländische Regierung noch am 10. Oktober des gleichen Jahres das »Waitangi-Tribunal« unter dem »Treaty of Waitangi Act Nr. 114« ein.

Das Waitangi-Tribunal ist eine Untersuchungskommission, die von Maori vorgebrachte Verletzungen des Vertrages von Waitangi durch die Britische Krone prüft und auf Basis ihrer Ergebnisse Empfehlungen an das neuseeländische Parlament ausspricht, wie mit den einzelnen Fällen zu verfahren ist. Die Errichtung des Tribunals war die erste institutionelle Veränderung nach mehr als 130 Jahren andauernder Proteste der Maori gegen die Verletzungen des Vertrages von Waitangi. Damit gestand die neuseeländische Regierung offiziell ein, dass der Vertrag von Waitangi in englischer Sprache von der Maori-Version abweicht und stellte mit dem Tribunal ein juristisches Verfahren bereit, durch das Maori Ansprüche an die Krone geltend machen konnten.

Zu Beginn löste das Tribunal die langjährigen Maori-Forderungen relativ ineffektiv und nicht zufriedenstellend ein, aufgrund seiner beschränkten Zuständigkeit auf Klagen, die nach dem 10. Juli 1975 eingereicht wurden. Dadurch hielt die Diskriminierung der Maori-Bevölkerung an. Als Reaktion auf anhaltende Proteste wurden 1985 die Befugnisse des Tribunals auf ausstehende Klagen ausgeweitet, die bis zum Jahr 1840 zurückreichende Vertragsbrüche anzeigten. Bis heute wurden mehr als 2.000 Klagen vor das Waitangi-Tribunal gebracht. Einer davon war der am 14. Oktober 1990 eingereichte Whanganui River Claim der Whanganui Maori.

Nach Prüfung der Klage veröffentlichte das Waitangi-Tribunal 1999 seine Untersuchungsergebnisse im Whanganui River Report (WAI 167): Es entschied zu Gunsten der Whanganui Maori und deklarierte den Whanganui-Fluss als ein unteilbares und metaphysisches Ganzes, das für die Whanganui Maori eine besondere Bedeutung als Ahne habe. Die Whanganui Maori besitzen demnach weiterhin die Verwaltungshoheit über den Whanganui Fluss und haben diese Interessen nie verkauft. Eingriffe in den Fluss durch die Krone, ohne Konsultation oder Entschädigung der Whanganui Maori, stehen nach den Ergebnissen des Tribunals im Widerspruch zu den Prinzipien des Vertrages von Waitangi und müssen adäquat entschädigt werden.

Auf Basis dieses Urteils erarbeitete das neuseeländische Parlament gemeinsam mit den Whanganui Maori in konflikt­reichen Verhandlungen, die sich über einen Zeitraum von 13 Jahren erstreckten, das revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetz (Hayward und Wheen 2004; Keane 2012).

Ein revolutionäres Umweltrecht

Die Maori-Umweltjuristen James Morris und Jacinta Ruru waren die ersten, die vorschlugen, neuseeländische Flüsse als juristische Personen anzuerkennen. Sie bezogen sich in ihrer Argumentation auf Christopher Stones rechtliche Konzeption für natürliche Entitäten. Stone, Professor am University of Southern California Law Center, hatte bereits 1972 seinen revolutionären, aber auch heftig diskutierten Aufsatz »Should trees have standing? Law, Morality and the Environment« (Stone 2010 [1972]) veröffentlicht. Seine Überlegungen basierten auf der Beobachtung, dass die juristischen Begriffe des Eigentums und der juristischen Person im modernen Staatsrecht im Laufe der Geschichte ständig verändert und angepasst wurden. Für Stone gab es eine kontinuierliche Entwicklung in der Überlegung, welche Dinge als »besitzbar« anerkannt wurden (z. B. Land, bewegliche Sachen, Ideen, andere Personen wie Sklav*innen), wer als besitzfähig galt (z. B. Individuen, verheiratete Frauen) und welche Befugnisse und Privilegien dieses Eigentum beinhaltete. In seiner Überlegung dazu, welche undenkbaren Entitäten in Zukunft zu juristischen Personen werden könnten, schlug Stone das Konzept der juristischen Persönlichkeit für natürliche Objekte vor.

Während Bryant (1975, S. 319) Stones Buch als „philosophisch gut durchdachter Vorschlag für neue rechtliche, ökonomische, politische und soziale Ansätze für die Probleme der Harmonisierung einer industrialisierten Gesellschaft mit einer sich rapide verschlechternden Umwelt“ bezeichnete und Huffman (1974) meinte, „Das vorgeschlagene System ist wahrscheinlich praktikabel und hätte den positiven Effekt, uns zu zwingen, die tatsächliche Schädigung der Umwelt zu betrachten. Es ist klar, dass Stone den ersten großen Schritt gemacht hat: Er hat das Undenkbare vorgeschlagen“, kritisierte Elder (1984) den Vorschlag mit der Begründung, „Menschen und Pflanzen sind nicht in der gleichen Kategorie, die notwendig wäre, um eine solche Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Selbst wenn das Gras und die Pflanzen Wasser ‘brauchen‘, in dem Sinne, dass sie ohne Wasser sterben werden, warum folgt daraus, dass wir die Pflicht haben, sie zu gießen? Haben sie irgendeine moralische Wichtigkeit?“, und Keeler (1975) meinte sogar, es sei „sehr schwierig, die Konsequenzen dieser These zu bedenken, ohne in Parodie zu verfallen.“

Trotz dieser Kontroversen wurde der Aufsatz schon kurz nach seinem Erscheinen von Umweltschützer*innen aufgegriffen, um ihre Bewegung und ihr politisches Engagement zu untermauern. Auch Morris und Ruru argumentierten, dass das Konzept der Rechtspersönlichkeit perfekt mit der Rolle der Flüsse im relationalen Universum der Maori Kosmologie übereinstimmt. „Sicher, Stones Idee ist radikal. Was er vorschlug, war ein neuartiger Ansatz zum besseren Schutz der Umwelt und der Ressourcen, die den Menschen erhalten. In gewisser Weise beabsichtigt seine Idee, die Lücke zwischen natürlichen Ressourcen und Menschen zu schließen und ihre Nähe zueinander zu betonen, die zwischen uns herrschen sollte. Aus der Perspektive der Maori (und vielleicht auch anderer indigener Gruppen) ist die Idee weniger radikal, da sie mit einer Weltanschauung übereinstimmt, in der es eine genealogische Verbindung zwischen allen Lebewesen gibt, einschließlich Flüssen und Menschen.“ (Morris und Ruru 2010, S. 58)

Soziale Gerechtigkeit in postkolonialen Nationalstaaten

Das tägliche Leben der Maori in Aotearoa (Neuseeland) ist in vielerlei Hinsicht noch immer von (post)kolonialen Strukturen und ungleichen Machtverhältnissen durchdrungen. Doch in dem Bestreben, Gerechtigkeit für vergangenes Unrecht zu erreichen, konnten (post)koloniale Rechtsstrukturen aufgebrochen und ein neues, gerechteres Recht entwickelt werden. Solche Veränderungen im Recht und in der politischen Praxis sind unerlässlich, um eine echte Gleichstellung zu erreichen und Machtverhältnisse dauerhaft verschieben zu können. Das Recht hat daher das Potenzial, in postkolonialen Staaten soziale Gerechtigkeit herzustellen und als »Brücke zwischen den Welten« zu dienen, um unterschiedliche Kosmologien und die damit verbundenen spezifischen Werte und Praktiken im nationalen staatlichen Recht zu vereinen (vgl. Geddis und Ruru 2019). Seit der Implementierung des »Te Awa Tupua Acts« in Aotearoa (Neuseeland) haben weitere Staaten wie Kolumbien, El Salvador oder die USA das Potential dieses juristischen Konzepts erkannt und angewandt (vgl. Earth Law Center 2021; vgl. Tabelle).

Die neuen Rechtssubjekte und ihre Transformation der Beziehungen

Eine Welt, in der indigene Konzepte und Praktiken zu einer anerkannten und realen Alternative zu den modernistischen Annahmen des Seins werden, könnte davon sogar transformiert werden: Gesetzesneuerungen wie der »Te Awa Tupua Act« werden die Art und Weise verändern, wie natürliche Entitäten in Zukunft konzipiert und wie mit ihnen interagiert werden wird. Indem sie als Lebewesen definiert werden, sind sie nicht mehr instrumentelle Dinge zum Nutzen der Menschen, sondern Personen, mit denen eine ständige Beziehung besteht (vgl. Geddis und Ruru 2019, S. 270f). Dieses neue Verständnis von belebter, dem Menschen nahestehender Natur kann in letzter Konsequenz auch zu einer nachhaltigeren Lebensweise führen, von der alle Lebewesen auf diesem Planeten profitieren.

Mit einem solchen Verständnis ist auch eine Diskussion darüber obsolet, ob dieses Recht eher den Eigenwert der Natur anerkennt oder die kulturellen Rechte der Menschen durchsetzt. Denn diese Diskussion basiert wiederum auf der modernen Trennung von Natur und Kultur und einer darauf begründeten Unterscheidung zwischen Umweltrecht und Menschenrecht. Sobald der Mensch als Teil seiner Umwelt verstanden wird, können die neuen Gesetze als ein gemeinsames planetares Recht für alle Lebewesen verstanden werden, in dem das Recht auf Leben für alle Entitäten des ganzen Planeten gesichert ist.

Anmerkung

1) Während einige Häuptlinge sich weigerten, den Vertrag zu unterzeichnen, hatten andere nicht die Möglichkeit, ihn zu unterzeichnen.

Literatur

Bryant P. (1975): Should trees have standing? Toward legal rights for natural objects by ­Christopher D. Stone (review). Western ­American Literature 9 (4), S. 319-320.

Earth Law Center (o.J.): Timeline. earthlawcenter.org

Elder, P. P. (1984): Legal rights for nature. The wrong answer to the right(s) question. Osgoode Hall Law Journal 22(2), S. 285-296.

Geddis, A.; Ruru, J. (2019): Places as persons: creating a new framework for Maori-Crown relations. In: Varuhas, J.; Stark, S.W. (Hsg.): The frontiers of public law. Oxford: Hart Publishing, S. 255–274.

Hayward, J.; Wheen, N. R. (2004): The Waitangi Tribunal. Te Roopu Whakamana i te Tiriti o Waitangi. Wellington: Bridget Williams Books.

Huffman, J. (1974): Trees as a minority. Environmental Law 5 (1), S. 199-202.

International Labour Organisation (ILO) (1989): Indigenous and Tribal Peoples Convention. No. 169.

Keane, B. (2012): Nga ropu tautohetohe – Maori protest movements. Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand. Homepage.

Keeler, D. (1975): Should trees have standing? In: Reason, November 1975.

Ministry for Culture and Heritage New Zealand (2017): The Treaty in brief. Homepage.

Morris, J.; Ruru. J. (2010): Giving voice to rivers: legal personality as a vehicle for recognising indigenous peoples’ relationships to water? Australian Indigenous Law Review 14(2), S. 49-62.

New Zealand Government (2017): Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act. Wellington.

Salmond, A. (2017): Tears of Rangi. Experiments across worlds. University of Auckland: Auckland University Press.

Stone, Ch. (2010 [1972]): Should trees have standing? Law, Morality and the Environment. 3. Edition. New York: Oxford University Press.

Waitangi Tribunal (1999): The Whanganui River Report. Wai167. Wellington: GP Publications.

Daniela Triml-Chifflard ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fach Sozial-und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Sie arbeitet im Bereich der Umweltanthropologie zu sozialen Klimawandelfolgen und zur Politischen Ontologie des Wassers.

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

Regelbasierte Weltordnung statt hegemonialem Wettstreit

von Paul Schäfer

Vor genau zwanzig Jahren widmete sich Wissenschaft und Frieden dem Thema »Recht ? Macht ? Gewalt« (Heft 2/2001). Die Bundeswehr hatte sich im Rahmen der NATO an einem Kriegseinsatz beteiligt. Der wurde 1999/2000 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, also völkerrechtswidrig, gegen Rest-Jugoslawien geführt, mit dem vorgegebenen Ziel, die Unterdrückung der kosovo-albanischen Minderheit zu beenden. Die Befürworter*innen des Krieges bemühten wahlweise einen übergesetzlichen Notstand (?Not kennt kein Gebot?) oder redeten nebulös von einem ?werdenden internationalen Recht?.

Wiederum genau zehn Jahre danach erschien das Schwerpunktheft »Schafft Recht Frieden?« (2/2011). Auch dieses Heft behandelte die strikte Beachtung des Gewaltverbots der UN-Charta. Zugleich rückte das Spannungsfeld zwischen einer friedenssichernden nationalstaatlichen Souveränität und international verankerten und durchzusetzenden staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten stärker ins Blickfeld. 2005 hatte die UN-Generalversammlung die sogenannte Schutzverantwortung beschlossen (»Responsibility to Protect«), die vorsah, dass der UN-Sicherheitsrat im Falle von Völkermord und schwersten Kriegsverbrechen auch militärische Mittel einsetzen könne. Zuvor wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH 2002) eine globale Strafgerichtsbarkeit etabliert.

Die Botschaft beider Hefte ist ziemlich klar: Recht entsteht nicht im luftleeren Raum, es hat auch mit gesellschaftlichen und internationalen Machtverhältnissen zu tun. Völkerrecht bewegt sich immer im Widerstreit zwischen dem Versuch der Staaten, ihre Machtinteressen und Privilegien zu sichern, und den elementaren Bedürfnissen der Menschen nach einer friedlichen und gerechten Welt. Gerade daher ist der »Kampf um das Recht« von elementarer Bedeutung, wenn es darum geht, die Prinzipien einer friedlichen Streitbeilegung und der internationalen Zusammenarbeit zum Wohle Aller dauerhaft und konsequent zu verankern.

Ausgangspunkt dieses Hefts und des beiliegenden Dossiers zur »Kooperativen Sicherheit« ist die Erosion einer regelbasierten Weltordnung, die aus den Fugen geratene Welt, die wir in den letzten Jahren verfolgen konnten. Mit den Fugen sind verbindliche Regeln und Normen gemeint, die in diplomatischen Aushandlungsprozessen zur Geltung gebracht werden sollen. Sie werden mit Recht auch als »zivilisatorische Leitplanken« bezeichnet. Viele dieser Institutionen der internationalen Ordnung (insbesondere das System der Vereinten Nationen) wurden zunehmend an den Rand gedrängt, internationale Verträge (nicht zuletzt im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung) ausgehebelt, verbindliche Regeln des Miteinander in der Staatenwelt missachtet. Auch der Blick in die Zukunft verheißt nicht unbedingt Gutes. Wir befinden uns im Übergang zu einer multipolaren Welt, in der der Wettstreit um globale und regionale Vorherrschaft die Gefahr militärischer Zusammenstöße beträchtlich erhöht. Die neuen hegemonialen Konflikte sind auch deshalb bedrohlich, weil sie die überlebenswichtige globale Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme gefährden bzw. beeinträchtigen. Die Erfordernisse dieser Kooperation sind immens: Klima- und Umweltkrise, mächtige transnationale Unternehmen, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entziehen, Covid-19-Pandemie, neue waffentechnologische Entwicklungen, digitale Überwachung und vieles mehr.

Die Weiterentwicklung und Reformierung der internationalen Rechtsordnung ist daher ein extrem wichtiger Bestandteil zukunftssichernder Politik. Neben der Erosion des Völkerrechts wendet sich das Heft daher auch den progressiven Entwicklungen zu. Mehr als dreißig Themenvorschläge hatten wir auf dem Tisch, als wir über dieses Heft beraten haben; Beleg für die vielfältigen Reformdiskussionen und -bestrebungen. Gemessen daran, kann uns das vorliegende Heft nur einen kleinen Einblick geben.

Hans-Joachim Heintze (der bereits 2001 zu den Autor*innen zählte) gibt eine Grundrichtung unserer Überlegungen vor: Vom »Völkerrecht der Souveränität« zum »Völkerrecht der Solidarität«. Damit ist die Messlatte hoch gelegt, die auch auf die Nachhaltigkeitsziele der UNO und deren Implementierung verweist. Andreas Schüller unterstreicht in seinem Beitrag die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft bei der Mobilisierung und Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

Alexander Benz befasst sich damit, wie deutsche Gerichte ? in der Umsetzung des Weltrechtsprinzips ? dazu beitragen können, dass schwere Verbrechen nicht länger straffrei bleiben, sondern auch an »entfernten Orten« geahndet werden können. Der Beitrag von Daniela Triml-Chifflard ist ein Beleg dafür, dass die künftige Rechtssetzung zur Bewahrung der Umwelt einen Horizont verlangt, der eurozentristisches Denken überschreitet und dabei auch Rechtsvorstellungen indigener Gemeinschaften würdigt. All dies zeigt: es ist vieles in Bewegung im Völkerrecht. Nicht nur aus diesem Grund sollten wir
nicht weitere zehn Jahre warten, um die Zusammenhänge von Recht, Friedenssicherung und ziviler Konfliktbewältigung erneut zu thematisieren,

Ihr Paul Schäfer

Mit Recht gegen den Klimakrieg


Mit Recht gegen den Klimakrieg

Klimakonflikte zwischen Sicherheit und Frieden

von Thomas Riddell und Kirsten Davies

Die Auswirkungen des Klimawandels gefährden weltweit betroffene Gemeinschaften und erhöhen die Wahrscheinlichkeit internationaler Spannungen. Da das bestehende Klimaschutzregime und andere Elemente des Völkerrechts diesen Folgen nicht wirksam begegnen können, besteht die Gefahr, dass damit verbundene Sicherheitsrisiken und Gewaltkonflikte das internationale System destabilisieren und den Weltfrieden bedrohen. Es ist an der Zeit, sich darauf vorzubereiten, neue Ansätze zur Beilegung klimabedingter Streitigkeiten zu entwickeln und einen Internationalen Umweltgerichtshof zu schaffen.

Der durch die Freisetzung von Treibhausgasen verursachte Klimawandel hat schwerwiegende Auswirkungen auf Wasser, Wälder, Ackerland und Biodiversität, auf Ozeane, Küsten, Polarzonen und andere Ökogebiete (IPCC 2014). Zunehmende Unsicherheiten und Risiken ergeben sich aus absehbar häufigeren und heftigeren Naturkatastrophen in Form von Stürmen, Dürren, Bränden und anderen Wetterextremen (IPCC 2012). Aufgrund seiner vielfältigen Auswirkungen bedroht der Klimawandel die Lebensgrundlagen der Menschen und das Leben auf der Erde, erhöht Verwundbarkeiten und verschärft das Risiko von Unsicherheiten und gewaltsamen Konflikten, insbesondere in Entwicklungsländern (WBGU 2008). Diese Folgen des Klimawandels könnten für den Planeten bedeuten, dass es zu einem »Klimakrieg« (Warming War) kommt (Davies und Riddell 2017). Dementsprechend müssen sowohl das Völkerrecht als auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Klimawandel als eine Frage des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit behandeln (United Nations 2009; Art. 39 UN-Charta). Dies kann zur Verhinderung von Konflikten beitragen, die durch die vom Klimawandel aufgeworfenen Probleme verstärkt werden, wie die Konkurrenz um Rohstoffe oder die Zwangsmigration von Menschen, die von der Umweltzerstörung betroffen sind. In diesem Artikel wird untersucht, inwiefern der Klimawandel Risiken für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt und wie das Völkerrecht und der UN-Sicherheitsrat derzeit auf diese Risiken reagieren können. Anschließend wird beleuchtet, wie die bestehenden rechtlichen und politischen Mechanismen verbessert werden können. Dazu werden neue Ansätze vorgeschlagen, mit denen den Sicherheitsrisiken des Klimawandels auf internationaler Ebene begegnet werden kann.

Die Funktion des Rechts zur Konfliktverhütung

Die bestehenden Rechtsinstrumente zur Konfliktverhütung wurden vor der Klimakrise ausgearbeitet. Das Völkerrechtssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg u.a. mit der Gründung der Vereinten Nationen eingeläutet wurde, versucht, Frieden und Sicherheit durch die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten zu bewahren (Art. 1 UN-Charta). Im System der Vereinten Nationen gibt es eine Reihe von Foren für die Streitbeilegung, darunter den Internationalen Gerichtshof (IGH), sowie vertragsbasierte Streitbeilegungsmechanismen, wie die im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (insbesondere Teil XV, Streitbeilegung). Außerdem ist der UN-Sicherheitsrat ermächtigt, zur Beilegung von Streitigkeiten und zur Lösung von Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit friedliche und Zwangsmaßnahmen zu beschließen, die die UN-Mitgliedstaaten akzeptieren und durchsetzen müssen (Art. 41 und 42 UN-Charta).

Diese Mechanismen stammen aus der Zeit vor der Klimakrise und sind nur begrenzt auf klimabedingte Streitigkeiten und Konflikte anwendbar. Sie decken nicht die Durchsetzung von Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel ab, die sich aus der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen von 1992, den nachfolgenden Beschlüssen seiner Vertragsstaatenkonferenzen und dem Pariser Abkommen von 2015 (in Summe das »Klimaschutzregime«) ergeben. Der Internationale Gerichtshof ist nicht für die Beilegung von klimabedingten Streitigkeiten zuständig, und der UN-Sicherheitsrat hat seine Befugnisse gemäß Artikel 39 der UN-Charta nicht eingesetzt, um den Klimawandel als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit anzuerkennen (Davies et al. 2020).

Dies ist problematisch, weil das Klimaschutzregime selbst über keinen wirksamen Streitbeilegungsmechanismus verfügt und seine Bestimmungen sich nicht auf die negativen Folgen des Klimawandels für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit erstrecken. Es besteht also eine Lücke im Völkerrecht, das keine konkreten Möglichkeiten zur Lösung grenzüberschreitender klimabedingter Konflikte vorsieht. Wie kann diese Lücke zwischen Konfliktlösung und der Rolle des Klimawandels bei der Auslösung und Verschärfung von Konflikten geschlossen werden?

Um den Geltungsbereich dessen, was eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit darstellt, auszuweiten und den Klimawandel in die Konfliktprävention mit einzubeziehen, sind viel Probleme zu überwinden, vom politischen Stillstand bis hin zur bürokratischen Komplexität. Es ist jedoch dringend erforderlich, das Völkerrecht so anzupassen, dass es angemessene Reaktionen auf neue klimabedingte Sicherheitsbedrohungen erlaubt. Trotz all der Herausforderungen schlagen wir daher die folgenden Reformen der internationalen Mechanismen zur Streitbeilegung und Konfliktverhütung vor.

Einsatz bestehender Verpflich­tungen auf bewaffnete Konflikte

In seinem Rechtsgutachten »Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen« stellte der Internationale Gerichtshof (IGH; engl. International Court of Justice, ICJ) fest, dass internationale Umweltverträge einen Staat zwar nicht daran hindern können, sich selbst zu verteidigen, dass aber bei der Überlegung, welche Mittel dafür notwendig und angemessen sind, Umweltbelange zu berücksichtigen sind (IGH 1996). Gut zwanzig Jahre später befand der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung über bewaffnete Aktivitäten auf dem Territorium des Kongo, dass die Staaten eine Sorgfaltspflicht haben, Plünderungen, Raubzüge und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen eines anderen Staates zu verhindern (ICJ 2005, S. 252, Abs. 246). Diese Entscheidungen lassen offen, ob völkerrechtliche Verpflichtungen zum Schutz von Klima und Umwelt auch in Zeiten bewaffneter Konflikte Geltung haben. Diese Frage ist wichtig, weil es etliche Umweltbestimmungen gibt, die den Ausbruch klimabedingter Konflikte begrenzen oder sogar verhindern könnten.

Der Internationale Gerichtshof ließ die Frage zwar unbeantwortet, eine gewisse Orientierungshilfe gibt aber der »Entwurf von Artikeln über die Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Verträge« (ILC 2011). Dieser enthält Grundsätze zur Feststellung, ob Vertragsbestimmungen während eines bewaffneten Konflikts Anwendung finden (ebenda, Art. 3-7): 1. Es ist davon auszugehen, dass das Bestehen eines bewaffneten Konflikts an sich nicht Verträge beendet oder aussetzt. 2. Ein Vertrag kann Verfahrensregeln enthalten, die vorgeben, welche Bestimmungen während eines bewaffneten Konflikts gelten. 3. Wenn ein Vertrag dazu nichts aussagt, sind die Regeln der Völkerrechts über die Auslegung von Verträgen anzuwenden sowie der Anhang des obigen Artikelentwurf. Dieser Anhang listet Vertragstypen auf, deren Gegenstand vermuten lässt, dass sie auch während eines bewaffneten Konflikts ganz oder teilweise weiter gelten, darunter Verträge über den internationalen Schutz der Umwelt.

Verträge zum Klimawandel, wie die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, sagen zwar nichts dazu aus, ob ihre Bestimmungen im Falle bewaffneter Konflikte ausgesetzt werden, wir plädieren aber dafür, dass Artikel 7 und der Anhang des Artikelentwurfs Anwendung finden und diese Verträge weiter gelten sollten. Dabei gehen wir davon aus, dass diese Verträge Verpflichtungen gegenüber der Völkergemeinschaft als Ganzes, nicht nur zwischen den an einem Konflikt beteiligten Staaten, festschreiben, und dass diese Verpflichtungen dem Schutz des Gemeinwohls unseres planetarischen Klimas dienen (siehe Voeneky 2000). Es bleibt jedoch die Frage, welche Umweltverpflichtungen zur Begrenzung oder gar Verhinderung von klimabedingten Konflikten beitragen können.

Zwei Prinzipien können die Prävention in der Vorphase eines Konflikts leiten: Das Vorsorgeprinzip, das auf die Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung von 1992 zurückgeht und in den meisten völkerrechtlichen Umweltverträgen verankert ist, besagt, dass von Handlungen abzusehen ist (Stefanik 2017, S. 106), die der Umwelt erheblichen Schaden zufügen können (siehe Trouwborst 2002; Wiener Übereinkommen 1985, Präambel; UNFCCC, Art. 3.3), auch wenn diesbezüglich gewissen wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen. Das Vormeidungsprinzip verpflichtet Staaten, „alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Aktivitäten zu vermeiden, die auf ihrem Hoheitsgebiet oder in einem Gebiet unter ihrer Gerichtsbarkeit stattfinden und der Umwelt eines anderen Staates erheblichen Schaden zufügen“ (IGH 2010, Abs. 101). Da ein bewaffneter Konflikt schwere und irreparable Umweltschäden verursachen kann, sollten in der Vorphase eines bewaffneten Konflikts beide Prinzipien gelten. Sie könnten staatliches Handeln einschränken oder vorschreiben, um schwerwiegende und irreparable Umweltschäden zu vermeiden. Sie könnten als Richtschnur für die Ausarbeitung vorläufiger Maßnahmen zur Begrenzung von Treibhausgasemissionen dienen und Ressourcen für Anpassungsmaßnahmen beisteuern, um die Anfälligkeit gegenüber Umweltstressfaktoren zu verringern, die zu Konflikten führen können. Ein Beispiel könnten vorläufige Maßnahmen sein, die den Industriestaaten auferlegen, Mittel in Dürregebiete zu lenken, um eine klimabedingt zunehmende Wasserknappheit und somit auch die Gefahr von Konflikten zu minimieren.

Klimawandel als Bedrohung des Weltfriedens

Der Auftrag des UN-Sicherheitsrats ist die Bewahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit (Art. 24 UN-Charta). Daher könnte man erwarten, dass er sich aktiv mit den sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels befasst. Das Gremium Sicherheitsrat verfügt zwar über weitreichende Befugnisse (insbesondere Art. 40-42 UN-Charta), kann diese aber nur ausüben, wenn er im Rahmen seinen großen Ermessensspielraum zur Entscheidung kommt, dass eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit vorliegt (Art. 39 UN-Charta).

Es mag überraschen, dass der UN-­Sicherheitsrat den Klimawandel bislang nicht als eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit anerkannt hat und somit nur eingeschränkt intervenieren kann. Dass sich aus den Konfliktpotentialen eine solche Bedrohung begründen lässt, ist Anstoß für eine Weiterentwicklung seiner Positionen. Im Jahr 2014 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, in der die Ebola-Krise zur Bedrohung des Friedens erklärt wurde, obwohl es keinen direkten Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten oder Gewaltanwendung gab (Resolution S/RES/2177 vom 18.9.2014). Der Konsens im Sicherheitsrat, dass der Klimawandel eine Bedrohung für den Frieden darstellt, nimmt ebenfalls zu. Der Präsident des Sicherheitsrates gab 2011 in einer Debatte des Gremiums zu diesem Thema eine Erklärung ab und äußerte die Besorgnis, dass der Klimawandel bestehende Konflikte verschärfen und durch den Anstieg des Meeresspiegels Gebietsverluste verursachen könnte (UNSC 2011). Die Erklärung spiegelte den kleinsten gemeinsamen Nenner der Debatte an diesem Tag. 2018 forderten zahlreiche Staaten eine stärkere Antwort des UN-Sicherheitsrats auf die klimabedingten Sicherheitsrisiken sowie die Schaffung eines institutionellen Forums im UN-Systems, das sich mit diesen Risiken befassen solle (UNSC 2018). Im Juli 2020 nutzte Deutschland seine einmonatige Präsidentschaft des Sicherheitsrates, um den Klima-Sicherheit-Nexus in den Fokus der Diskussionen zu rücken (UN News 2020; mehr dazu bei Hardt und Viehoff, Sicherheit im Klimawandel, auf S. 36 dieser W&F-Ausgabe.)

Mit der Erklärung, der Klimawandel sei eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, könnte der Sicherheitsrat etliche Mechanismen aktivieren, um klimabedingte Konflikte einzudämmen und zu verhindern. So könnte er beispielsweise gemäß Artikel 41 und 42 der UN-Charta militärische bzw. nichtmilitärische Interventionen beschließen. An Brennpunkten von Klimakonflikten könnten Friedenssicherungstruppen eingesetzt werden, und es könnte für diejenigen, die unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden, humanitäre Hilfe mobilisiert werden (Davies und Riddell 2017, S. 63).

Schaffung eines Streitbeilegungsgremiums

Die Einrichtung eines »Internationalen Umweltgerichtshofs« (IUGH; International Court for the Environment, ICE) ist eine Option für eine institutionelle Reform, die zu einer besseren Durchsetzbarkeit und Ausgestaltung von Rechtspflichten zum Schutz der Umwelt führen könnte (siehe z.B. Bruce 2016). Die Unterstützung für einen solchen Gerichtshof nimmt zu, und er könnte zusammen mit der »ICE Coalition« (Koalition für einen IUGH; icecoalition.org) erhebliche Lücken im geltenden Umweltvölkerrecht schließen. Der IUGH könnte ein Forum für die juristische Beilegung von Streitigkeiten bieten und den Staaten die Möglichkeit geben, Wiedergutmachung und Abhilfe für klimabedingte Schäden einzufordern.

Ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz der Staaten wird der Zuständigkeitsbereich eines IUGH sein. Es ist unwahrscheinlich, dass ein IUGH mit Zuständigkeit für alle Umweltstreitigkeiten bei den Staaten Unterstützung finden wird (Pedersen 2012, S. 549). Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Staaten einem IUGH mit Zuständigkeit für bestimmte Umweltabkommen und -bestimmungen, wie das bei anderen Fachgerichten wie dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Internationalen Seegerichtshof der Fall ist, aufgeschlossener gegenüberstehen würden.

Eine bessere Antwort auf klimabedingte Konflikte

Die Verhütung und Bewältigung von Klimakatastrophen ist ein globales Problem ohnegleichen, das in Politik und Recht in vielfältiger Weise berücksichtigt werden muss. Die Auswirkungen des Klimawandels auf gefährdete Gemeinschaften können die politischen, rechtlichen und staatlichen Systeme schwächen und die Wahrscheinlichkeit von internationalen Spannungen und bewaffneten Konflikten erhöhen. Da das Klimaschutzregime und die internationalen Rechts- und Verwaltungssysteme insgesamt nicht in der Lage sind, den Auswirkungen des Klimawandels wirksam zu begegnen, haben die Staaten kaum Möglichkeiten, klimabezogene Streitigkeiten juristisch beizulegen. Angesichts eines »Klimakrieges« (Warming War) mit seinen klimabedingten Sicherheitsbedrohungen für das menschliche Leben auf der Erde (Davies und Riddell 2017, S. 50) ist es jetzt an der Zeit, klimabedingte oder -verschärfte Konflikte vermehrt anzuerkennen und sich darauf vorzubereiten. Dazu müssen neue Ansätze zur Streitbeilegung, wie die Ausweitung von Umweltvereinbarungen auf bewaffnete Konflikte, die Erklärung des Klimawandels als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und die Schaffung einer spezialisierten IUGH, ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

Literatur

Bruce, S. (2016): The Project for an International Environment Court. In: Tomuschat, C.; Mazzeschi, R.; Thürer, D. (eds): Conciliation in International Law – The OSCE Court of Con­ciliation and Arbitration. Leiden: Brill | Nijhof.

Davies, K.; Riddell, T. (2017): The Warming War – How Climate Change is Creating Threats to International Peace and Security. The George­town Environmental Law Review, Vol. 30, Nr. 1, S. 47-74.

Davies, K.; Riddell, T.; Scheffran, J. (2020): Preventing a Warming War – Protection of the Environment and Reducing Climate Conflict Risk as a Challenge of International Law. Goettingen Journal of International Law, Vol. 10, Nr. 1, S. 307-343.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2012): Managing the Risks of Extreme Events and Disasters to Advance Climate ­Change Adaptation. Special Report. Genf.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2014): Climate Change 2014 – Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Fifth Assessment Report, Working Group II Report. Genf.

Internationaler Gerichtshof/IGH (1996): Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen. Rechtsgutachten vom 8.7.1996. Deutsche Übersetzung des Gutachtens in: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT.

International Court of Justice/ICJ (2005): Deci­sion on Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda). Entscheidung vom 19.12.2005. ICJ Reports 2005, S. 168,-283.

International Court of Justice/ICJ (2010): Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay). Entscheidung vom 20.4.2010. ICJ Reports 2010, S. 14-107.

International Law Commission/ILC (2011): Draft Articles on the Effects of Armed Conflicts on Treaties. 9.12.2011. Deutsche Übersetzung in der dt. Fasssung von Resolution 66/99 der UN-Generalversammlung, UN-Dokument A/RES/66/99; un.org/Depts/german.

Pedersen, O. (2012): An International Environmental Court and International Legalism. Journal of Environmental Law, Vol. 24, Nr. 3, S. 547-558.

Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982.

Stefanik, K. (2017): The Environment and Armed Conflict – Employing General Principles to Protect the Environment. In: Stahn, C.; Iverson, J.; Easterday, J. (eds.): Environmental Protection and Transitions from Peace – Clarifying Norms, Principles and Practices. Oxford: Oxford University Press, S. 93-118.

Trouwborst, S. (2002): Evolution and Status of the Precautionary Principle in International Law: Den Haag: Kluwer Law International.

United Nations (2009): Climate change and its possible security implications. Report of the Secretary-General. UN-Dokument A/64/350 vom 11.9.2009. New York.

United Nations Framework Convention on Cli­mate Change/UNFCCC vom 9.5.1992. Deutscher Text des oft als »Klimarahmenkonvention« bezeichneten »Rahmeneinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen« unter unfccc.int.

UN News (2020): Climate emergency ‘a danger to peace’, UN Security Council hears. 24.7.2020.

United Nations Security Council/UNSC (2011): Statement by the President of the Security Council on »Maintenance of Peace and Secur­ity – Impact of Climate Change von 29.7.2011; UN-Dokument S/PRST/1011/15.

United Nations Security Council/UNSC (2019): Maintenance of international peace and security – Understanding and addressing climate-related security risks. 11.7.2018; UN-Dokument S/PV.8307 (2018).

Voeneky, S. (2000): A New Shield for the Environment – Peacetime Treaties as Legal Restraints of Wartime Damage. Review of European Community & International Environmental Law, Vol. 9, Nr. 1, S. 20-32.

WBGU/German Advisory Council on Global Change (2008): World in Transition – Climate change as a Security Risk. London: earthscan. Deutsche Ausgabe: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2007): Welt im Wandel – Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin: Springer.

Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht, 22.3.1985. Text abrufbar unter eur-lex.europa.eu.

Thomas Riddell ist Jurist in der Ausbildung zum Master of Research an der juristischen Fakultät der Macquarie University in Sydney, Australien
Dr. Kirsten Davies ist Dozentin an der juristische Fakultät der Macquarie University. Sie hat in Nachhaltigkeitsmanagement und Umweltrecht promoviert.

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung rechtlicher Maßnahmen, die als Antwort auf den Klimawandel als Sicherheitsbedrohung vorgeschlagen wurden in Davies, Riddell und Scheffran 2020.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Drohnen und Völkerrecht


Drohnen und Völkerrecht

Heidelberger Salon digital, MPIL, Heidelberg, 11. Juni 2020

von Hannah Rainer

In die im Koalitionsvertrag vorgesehene Debatte über die Beschaffung einer Bewaffnung für Drohnen der Bundeswehr reiht sich ein Expert*innengespräch ein, zu dem das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) am 11. Juni 2020 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Heidelberger Salon digital: Bewaffnete Drohnen und das Völkerrecht« einlud. Im Folgenden werden ausgewählte Themenschwerpunkte und Kontroversen der Veranstaltung nachgezeichnet.

Ein Grundkonflikt besteht in der Frage, ob hinsichtlich der Beschaffung bewaffneter Drohnen bereits der Hinweis ausreicht, dass im Völkerrecht erlaubt sei, was nicht verboten ist. Diese Auffassung vertreten Stefan Sohm (Bundesministerium der Verteidigung), Philipp Dürr (Universität Bonn) und Wolff Heintschel von Heinegg (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder), die in der aktuellen Anschaffungsdebatte keine drohnenspezifischen Aspekte ausmachen.

Zumindest hinsichtlich des Einsatzes bewaffneter Drohnen müssen Christian Marxsen (MPIL) zufolge jedoch auch etwaige Langzeitfolgen bedacht werden, wie mögliche Wirkungen der Technologie auf die Rechtsordnung oder die Begünstigung verhinderungswürdiger Entwicklungen. Vom Standpunkt des völkerrechtlichen Gewaltverbots scheine es zwar gleichgültig, ob bewaffnete Drohnen eingesetzt würden, jedoch sei angesichts der neuen Einsatzmöglichkeiten eine sinkende Hemmschwelle abzusehen, wenn Einsätze ohne Gefahr für die eigenen Soldat*innen geführt werden können. Marxsen stellt eine nachweisbare Tendenz der Staatengemeinschaft fest, kleinere Völkerrechtsverstöße zu tolerieren. Deshalb sehen viele Völkerrechtler*innen die Gefahr, dass das Gewaltverbot ausgehöhlt werde, wozu die Bundesregierung durch eine »großzügige« Auslegung völkerrechtlicher Vorgaben mitunter beitrage. Ungeachtet ihrer militärischen Vorteile könne die Drohnenbewaffnung mittelfristig zur Eskalation von Krisen führen und somit der Friedensorientierung zuwiderlaufen.

Matthias Hartwig (MPIL) knüpft an diese Überlegungen an und befürchtet „Low-level-Kriege“ als Folge der Einführung bewaffneter Drohnen. Schließlich seien Drohnen die „ideale Waffe“, um einen Krieg nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich über Jahre zu perpetuieren, da die eigene Zivilbevölkerung emotional meist erst dann stärker involviert und protestbereit sei, wenn eigene Soldat*innen in die Gefahrenzone entsandt würden.

Zur Sicherstellung des völkerrechtskonformen Einsatzes bewaffneter Drohnen sind laut Florian Kriener (MPIL) effektive Kontrollmechanismen erforderlich. Sohm unterstrich, dass der Parlamentsvorbehalt eines der Instrumente zur Sicherstellung der Einhaltung von Völkerrecht sein soll. Marxsen attestiert hingegen einen Mangel an Rechtsschutz im gesamten Bereich der auswärtigen Gewalt. Es bestehe kein institutionelles Korrektiv, mit dem überprüft werden könne, ob sich ein Einsatzmandat aus materiellrechtlicher Perspektive im Rahmen von völker- und verfassungsrechtlichen Vorgaben halte. Das bedeutet, dass es keiner Überprüfung zugänglich ist, ob im Falle einer Mandatserteilung durch den Bundestag die völker- und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen militärischen Einsatz überhaupt erfüllt sind. Hierbei genüge der Verweis auf den Parlamentsvorbehalt gerade nicht, da der Preis einer Ablehnung des Mandats das Zerbrechen der Regierungsmehrheit wäre, was somit einer effektiven Überprüfung entgegenstünde. Ein guter Ansatz zur Kontrolle bestehe hingegen in der Einführung eines entsprechenden Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht.1 Letztlich bleibe es relevant, ob die konkreten Mandate rechtlich überprüfbar seien, da diese den Rahmen darstellten, in dem die bewaffneten Drohnen eingesetzt würden. Für Heintschel von Heinegg hat die Frage nach Rechtsschutz nichts mit der völkerrechtlichen Vereinbarkeit bewaffneter Drohnen zu tun. Zudem verwies er auf die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschrechte eine menschenrechtliche Einsatzüberprüfung zu erwirken. Kriener entgegnete diesem Argument, dass jahrelanges Warten auf Entscheidungen der internationalen Gerichte kaum zumutbar sei. Bis wirksame Kontrollmechanismen eingerichtet seien, rate er daher von einer Beschaffung bewaffneter Drohnen ab.

Andreas Schüller (ECCHR) hat die Einsatzpraxis anderer Staaten und die Reaktion der Bundesregierung unter diesem Aspekt beobachtet. In der Zusammenschau der letzten elf Jahre gebe es großen Anlass zur Skepsis, ob Drohneneinsätze der Bundeswehr rechtlich hinreichend überprüft werden können. Wo ausnahmsweise eine rechtliche Überprüfung der völkerrechtlichen Einschätzungen der Bundesregierung erfolgt sei, wie etwa vor dem OVG NRW,2 sei die Rechtsposition der Exekutive eingeschränkt worden. Die Fragen, wann ein bewaffneter Konflikt vorliegt und wer angegriffen werden darf, würden von der Exekutive und den Gerichten unterschiedlich beurteilt. Sofern sich die Rechtsschutzmöglichkeiten nicht verbessern und die Bundesregierung ihre Positionierung nicht offen und konkret artikuliere, solle daher von der Anschaffung von Drohnenbewaffnung abgesehen werden.

Diese bislang nicht eindeutige völkerrechtliche Positionierung der Bundesregierung stellt für viele der Referent*innen ein zentrales Problem dar. Unklar bleibe, so Leander Beinlich (MPIL), welche Leitlinien künftigen Drohneneinsätzen zugrunde liegen und in welchen rechtlichen Szenarien sie zulässig sein sollen. Zwar gebe es ausdrückliche Bekenntnisse der Bundesregierung zum Völkerrecht, jedoch bliebe sie eindeutige Erklärungen, was dies konkret bedeute, schuldig.

Carolyn Moser (Humboldt-Universität Berlin und MPIL) weist darauf hin, dass zudem der eigentliche »Elefant im Raum« und Gegenstand der Debatte die Drohnenpraxis des „Schwergewichts“ USA sei. Über den Bündnispartner USA sei Deutschland stets militärisch definiert, da in Deutschland sicherheitspolitische Themen immer transatlantisch gedacht würden. Moser sieht Deutschland aktuell an einem Scheideweg zur größeren Unabhängigkeit.

Hartwig verwies auf bisherige völkerrechtswidrige Einsätze der USA. Sobald bewaffnete Drohnen zur Verfügung stünden, bestehe die Gefahr rechtswidriger Einsätze. Auch Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, dass sich Deutschland mit der Beschaffung von Drohnenbewaffnung ohne deutliche Distanzierung von den USA in eine Tradition der Völkerrechtsverstöße stellen würde; dies führe zu einer Schwächung der Versicherung, Deutschland wolle sich völkerrechtskonform verhalten. Heintschel von Heinegg zeigt sich davon überzeugt, dass in Deutschland niemals die Geheimdienste die Kontrolle über Drohneneinsätze in den Händen halten werden, wie es bei den USA mit den überwiegend durch die CIA gesteuerten »signature strikes« der Fall ist.

Schüller sieht Deutschland bereits seit vielen Jahren mitten im Drohnenkrieg. Die USA nutzen seit 2009 extensiv Drohnen, und Deutschland habe beispielsweise durch die Erlaubnis gegenüber den USA, den Luftwaffenstützpunkt Ramstein zu nutzen, diese Praxis unterstützt. Dies spiele eine entscheidende Rolle im globalen Drohnensystem, weil über Ramstein riesige Datenmengen liefen, die in Angriffsentscheidungen miteinflössen.

Anne Peters (MPIL) hielt im Schlusswort fest, dass weiterer Bedarf zur Debatte bestehe. Dem ist wohl nicht nur aus völkerrechtlicher Perspektive nichts hinzuzufügen.

Die Videoaufzeichnung der Veranstaltung ist zu finden unter youtube.com/watch?v=nbv_GdmYuz4&feature=youtu.be. Die Liste aller geladener Expert*innen steht auf der Website des MPIL (mpil.de).

Anmerkungen

1) In die gleiche Richtung weise bereits ein aktueller Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, zu finden unter dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/140/1914025.pdf.

2) Urteil des OVG Münster v. 19.03.2019, zu finden unter openjur.de/u/2170527.html.

Hannah Rainer

Nukleare Teilhabe ist völkerrechtswidrig


Nukleare Teilhabe ist völkerrechtswidrig

Ein Widerspruch zur anderslautenden Behauptung der Bundesregierung

von Bernd Hahnfeld

Die gegenwärtige Debatte über die Neuanschaffung von Trägerflugzeugen für den Einsatz der in Büchel stationierten US-amerikanischen Atomwaffen führt erneut zu der Frage, ob die nukleare Teilhabe überhaupt mit dem Völkerrecht und dem deutschen Recht im Einklang steht. Diese Frage ist zu trennen von dem wiederholt vorgebrachten Argument, dass Völkerrecht nur eine geringe politische Relevanz hat, weil seine Durchsetzung nur erzwungen werden kann, wenn der UN-Sicherheitsrat entsprechende Maßnahmen anordnet. Das geschieht dann nicht, wenn nur einer der Vetostaaten seine Interessen gefährdet sieht. Nach dem Grundgesetz bindet jedoch das Völkerrecht die Bundesregierung und die Bundeswehr und setzt ihrem Handeln deutliche Grenzen, die auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden können.

Das in Büchel stationierte Jagdbombergeschwader 33 der Bundeswehr hat im Rahmen der nuklearen Beihilfe der NATO die Aufgabe, mit den Tornado-Flugzeugen die Beförderung und den Abwurf der dort stationierten Atombomben zu üben und diese im Kriegsfall zu den Zielgebieten zu fliegen und dort abzuwerfen, nachdem der US-Präsident sie freigegeben und das vor Ort anwesende US-Militär sie einsatzbereit geschaltet hat. Damit erlangen die Bundeswehrsoldaten im Kriegsfall unter dem Schutz der NATO die Verfügungsgewalt über Atomwaffen – unabhängig davon, dass seit Herbst 2019 die Freischaltung der Waffen lediglich für den Abwurf an den von den USA vorgesehenen Zielen wirksam ist (vgl. Nassauer 2020, S. 45). Hinweise dafür, dass in Friedenszeiten Atombombenabwürfe nicht nur mit Übungsbomben, sondern mit realen Atombomben stattgefunden haben, gibt es nicht.

Als Vertragspartei des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) ist der Nichtatomwaffenstaat Bundesrepublik Deutschland nach Art. 2 NVV verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“. Die USA wiederum sind nach Art. 1 NVV verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben“.

Die Bundesregierung behauptet, dass diese Verpflichtungen nicht uneingeschränkt gelten, weil die nukleare Teilhabe bereits bestanden habe, bevor der NVV am 1.7.1968 zur Unterzeichnung ausgelegt wurde.1 Tatsächlich hatte die Bundesrepublik bereits in den 1950er Jahren eigene Trägersysteme für die in Deutschland stationierten Atomwaffen der USA und des Vereinigten Königreichs bereit gehalten. Dabei ist von Bedeutung, dass die nukleare Teilhabe keine völkervertragsrechtliche Basis hat. Im NATO-Vertrag ist die nukleare Teilhabe nicht geregelt. Sie ist lediglich ein Teil der NATO-Strategie. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass für die Abänderung dieser Strategie kein Vertrag erforderlich ist (BVerfG 2001, BVerfGE 104,151-214). Die nukleare Teilhabe könnte durch eine Erklärung der Bundesregierung aufgegeben werden.

Der Wortlaut des NVV ist eindeutig. Eine Ausnahme für die im Rahmen der nuklearen Teilhabe stationierten Atomwaffen ist nicht vorgesehen. Damit stellt sich die Frage, ob die Bundesrepublik bei der Unterzeichnung bzw. bei der Ratifizierung des NVV einen förmlichen Vorbehalt erklärt hat, durch den sie sich im Kriegsfall das Recht auf die Verfügungsgewalt über Atomwaffen vorbehalten hat.

Erklärungen der Bundesregierung 1969 und 1975

Die Bundesregierung erklärte am 28. November 1969 anlässlich der Unterzeichnung des NVV u.a. (Deutscher Bundestag 1973, S. 23):

„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland […]

(4) geht davon aus, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch die NATO gewährleistet bleibt; sie bleibt ihrerseits den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO uneingeschränkt verpflichtet; […]“

Bei derselben Gelegenheit erklärte die Bundesregierung in einer auch den damaligen Vertragspartnern des NVV übermittelten Note u.a.:

„Die Bundesregierung geht davon aus, […]

daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verbündeten weiterhin durch die NATO oder ein entsprechendes Sicherheitssystem gewährleistet bleibt, […]“

In einer Erklärung der Bundesregierung vom 2. Mai 1975 anlässlich der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum NVV heißt es erneut:

„Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland […]

2. geht davon aus, daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch die NATO gewährleistet bleibt; die Bundesrepublik Deutschland bleibt ihrerseits den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO verpflichtet.“

All diese Erklärungen bezeichnen die Waffen nicht, mit denen nach den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO der Schutz der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte. Obwohl das besondere Interesse der Bundesrepublik der Fortexistenz der nuklearen Teilhabe und der Sicherung der »Europäischen Option« galt (Küntzel 1992, S. 143), sind Atomwaffen in den Erklärungen nicht ausdrücklich genannt. Nach dem Wortlaut der Erklärungen ist nicht ausgeschlossen, dass die NATO die Bundesrepublik ausschließlich mit konventionellen Waffensystemen verteidigen sollte. Auch ergibt sich aus den Erklärungen nicht, dass die seinerzeit bereits praktizierte nukleare Teilhabe nach dem Inkrafttreten des NVV fortgesetzt werden sollte.

Dennoch behauptet die Bundesregierung, dass der NVV der nuklearen Teilhabe nicht entgegensteht. Sie beruft sich dabei auch auf die bei der Unterzeichnung und der Ratifizierung abgegebenen Erklärungen.

Keine wirksamen Vorbehalte

Ob es sich bei diesen Erklärungen um völkerrechtlich wirksame Vorbehalte handelt, ist im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK – BGBl 1985 II, S. 927) völkerrechtlich verbindlich geregelt. Ergibt die Auslegung, dass mit den Erklärungen der Bundesrepublik der Inhalt des NVV einseitig geändert (z.B. eingeschränkt) werden sollte, liegt nach Art. 2 Absatz 1 lit d WVK ein Vorbehalt vor. Dabei hängt die Feststellung, ob es sich um einen Vorbehalt handelt, nicht von der Bezeichnung der Erklärung ab, sondern ausschließlich von deren Inhalt (Heintschel von Heinegg 2014, §15 RdNr. 2).

Bei der Auslegung ist laut Art. 31 WVK der Wortlaut maßgeblich, entgegen dem, was die Parteien bei Abschluss des Vertrages eventuell subjektiv mit den verwendeten Formulierungen meinten (Graf Vitzthum 2019, 1. Abschnitt RdNr. 123; Heintschel von Heinegg 2014, §12 RdNr. 12). Die auch als Gewohnheitsrecht geltende Schlüsselbestimmung Art. 31 Abs.1 WVK lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“

Zulässig sind nach Art. 19 lit c WVK nur Vorbehalte, die mit Ziel und Zweck des Vertrages nicht unvereinbar sind. Das von der Bundesregierung angesprochene Sicherheitssystem der NATO sieht im Kriegsfall im Rahmen der nuklearen Teilhabe die Übergabe von Atomwaffen an Bundeswehrsoldaten, die deutsche Hoheitsträger sind, vor. Mit der Übergabe der Atomwaffen würde der NVV praktisch ausgehebelt, weil dessen Sinn und Zweck darin besteht, dass Atomwaffenstaaten keine Atomwaffen an Nichtatomwaffenstaaten übergeben und diese keine Verfügungsgewalt über Atomwaffen ausüben dürfen. Weitere Regelungen sind in Art. 1 und 2 NVV nicht enthalten. Die Fortgeltung der nuklearen Teilhabe (d. h. die Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen im Kriegsfall) auch nach Beitritt zum NVV würde den Wortlaut und den Sinn und Zweck des NVV in sein Gegenteil verändern. Sie kann gemäß Art. 19 lit c WVK nicht Inhalt eines völkerrechtlichen Vorbehalts sein und ist als Vorbehalt unwirksam.

Die Erklärungen der Bundesregierung können lediglich als Interpretationserklärungen angesehen werden. Diese unterscheiden sich von einem Vorbehalt dadurch, dass sie nicht den Ausschluss oder die Änderung einer Vertragsbestimmung bezwecken, sondern lediglich eine Klarstellung (Heintschel von Heinegg 2014, §15 RdNr. 4). Mehr noch als ein Vorbehalt darf eine Auslegung nicht dem unmissverständlichen Wortlaut oder dem Ziel und Zweck des gesamten Vertrages widersprechen. Das wäre jedoch bei der Klarstellung der Bundesregierung der Fall, die im Kriegsfall eine Übertragung der Verfügungsgewalt über Atomwaffen bedeutet. Sie ist nach Art. 31 Abs.1 WKV und entsprechend Art. 19 lit c WVK unzulässig und damit ohne Rechtswirkung. Möglicherweise übereinstimmende bilaterale Interpretationen der Bundesregierung und der USA (»Rusk-Brief«),2 die im Kriegsfall die Kernvorschriften des NVV gegenstandslos machen würden, stellen die Wirksamkeit des NVV nicht infrage und berechtigen die beiden Staaten nicht, den Vertrag zu brechen.

Auch das seit Bestehen der nuklearen Teilhabe praktizierte Üben des Abwurfes von Atombomben verlangt keine andere Bewertung. Zwar ist gemäß Art. 31 Abs.3 lit b WVK „jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages“ zu berücksichtigen. Die gilt jedoch nur, wenn aus ihr „die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“. Die Proteste zahlreicher Nicht-Atomwaffenstaaten gegen die nukleare Teilhabe sprechen dagegen.

Festzuhalten ist: Einen völkerrechtlich wirksamen Vorbehalt über die Fortgeltung der nuklearen Teilhabe hat die Bundesrepublik weder bei der Unterzeichnung noch bei der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden erklärt. Auch durch eine Vertragsauslegung lässt sich die nukleare Teilhabe nicht völkerrechtlich rechtfertigen.

Zwar nehmen alle NATO-Staaten nach wie vor den so genannten »Kriegsvorbehalt« in Anspruch. Danach soll der NVV dann nicht mehr gelten, wenn „eine Entscheidung, Krieg zu führen, getroffen wird“ („in welchem Zeitpunkt der Vertrag nicht mehr maßgebend wäre“) (»Rusk-Brief«; vgl. Fußnote 2). Wenn dieser öffentlich verschwiegene Kriegsvorbehalt völkerrechtlich wirksam wäre, würde er den NVV und das in ihm enthaltene Verbot der Weitergabe von Atomwaffen an Nicht-Atomwaffenstaaten im Spannungs- und Kriegsfall praktisch gegenstandslos machen.

Belege für das völkerrechtlich wirksame Zustandekommen eines förmlichen Vorbehalts zu Art. II des NVV sind der Öffentlichkeit bislang nicht vorgelegt worden. Es bestehen gewichtige völkerrechtliche Einwände gegen seine Wirksamkeit, und zwar sowohl hinsichtlich des Verfahrens (fehlende nachgewiesene Kenntnisgabe des »Rusk-Brief« an die NVV-Vertragspartner gem. Art. 23 WVK) als auch in materieller Hinsicht (Vereinbarkeit im Sinne von Art. 19 WVK mit Ziel und Zweck des NVV).

Die Übergabe der entsperrten Atomwaffen im Kriegsfall an Soldaten der Bundeswehr verletzt den NVV. Wenn der Transport und der Abwurf von einsatzbereiten Atomwaffen durch Bundeswehrsoldaten rechtswidrig sind, lässt sich auch das Üben insoweit nicht mit dem Völkerrecht rechtfertigen.

Atomwaffeneinsatz wäre ein Völkerrechtsverbrechen

In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von Bedeutung, dass nach einem verbindlichen Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) jeglicher Einsatz von Atomwaffen völkerrechtswidrig ist (IGH 1996). Die Drohung mit dem Einsatz und der Einsatz von Atomwaffen, so der Gerichtshof, verstoßen generell gegen die Regeln des Völkerrechts, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts. Auch Notwehr mit Atomwaffen ist grundsätzlich völkerrechtlich verboten, weil diese nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen unterscheiden, vor allem durch ihre radioaktive Strahlung unnötige Qualen verursachen und neutrale Staaten grenzüberschreitend in Mitleidenschaft ziehen. Der IGH erklärte, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta durch das humanitäre Völkerrecht eingeschränkt ist, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden“ (IGH 1996, Ziff. 40, 41, 42, 78).3 Eine abweichende Regel für extreme Notwehrlagen, in denen das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ist dem Völkerrecht nicht zu entnehmen. Das bedeutet, dass für Staaten Notwehr nur mit Waffen zulässig ist, welche die Bedingungen des humanitären Völkerrechts erfüllen. Diese Bedingungen können die im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Deutschland stationierten Atomwaffen nicht erfüllen. Dementsprechend untersagte das Bundesministerium der Verteidigung in der Ausgabe 2006 der »Taschenkarte« den Soldaten der Bundeswehr ausdrücklich den Einsatz von Atomwaffen (BMVg 2006).

Die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts gehören laut IGH zum internationalen Gewohnheitsrecht (IGH 1996, Ziff. 79). Sie sind nach Art. 38 IGH-Statut geltendes Völkerrecht und in Deutschland als allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art. 25 GG vorrangiger Bestandteil des Bundesrechts. Der NVV selbst gilt in der Bundesrepublik seit der Ratifizierung nach Art. 59 Abs. 2 GG als innerstaatlich anzuwendendes Völkervertragsrecht.

Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die Bundesregierung und alle Soldat*innen der Bundeswehr ausnahmslos an dieses Recht gebunden. Sie könnten ihre Teilnahme an einem Atomwaffeneinsatz nicht rechtfertigen. Alle für den Atomwaffeneinsatz Verantwortlichen wären in diesem Fall wegen Völkerrechtsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Anmerkungen

1) Die Bundesrepublik unterzeichnete den Vertrag am 28. November 1969 und ratifizierte ihn am 2. Mai 1975.

2) Vgl. dazu die dem Deutschen Bundestag von der Bundesregierung für die Beratung des Zustimmungsgesetzes vor der Ratifizierung des NVV vorgelegte »Denkschrift« des Auswärtigen Amtes (in: Deutscher Bundestag 1973). In dieser wird die entsprechende US-amerikanische »Interpretationserklärung« des US-Außenministers Rusk (»Rusk-Brief«) wiedergegeben (S. 17).

3) Ziff. 42 wörtlich: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann allein für sich genommen die Anwendung von Atomwaffen in Notwehr nicht unter allen Umständen ausschließen. Aber gleichzeitig muß eine Gewaltanwendung, die nach dem Notwehrrecht verhältnismäßig ist, um rechtmäßig zu sein auch die Forderungen des für bewaffnete Konflikte verbindlichen Rechts erfüllen, was insbesondere die Grundsätze und Regeln des humanitären Völkerrechts umfaßt.“

4) Dieses Dokument enthält den Gesetzesentwurf der Regierung Brandt, den Text des NVV, die »Denkschrift zum Vertrag«, die »Erklärung der Bundesregierung bei der Unterzeichnung des NV-Vertrages«, die »Note der Bundesregierung zur Unterzeichnung des NV-Vertrages«, eine Erklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vom 28.11.1969 und etliche weitere Dokumente von historischer Relevanz.

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2006): Druckschrift Einsatz Nr. 03 – Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten – Grundsätze. August 2006, Dokument DSK SF009320187.

Bundesverfassungsgericht/BverfG (2001): Zustimmung der Bundesregierung zum neuen strategischen Konzept der NATO – Urteil des Zweiten Senats vom 22. November 2001; BverfGE 104, 151-214.

Deutscher Bundestag (1973): Gesetzesentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Bundestag-Drucksache 7/994 vom 10.9.1973.4

Graf Vitzthum, W. (2007): Die Rechtsquellen des Völkerrechts. In: derselbe: Völkerrecht. Berlin: De Gruyter, 4. Auflage.

Heintschel von Heinegg, W. (2014): Die Rechtswirkungen von Vorbehalten und Widersprüchen. In: Ipsen, K.: Völkerrecht. München: C.H. Beck, 6. Auflage.

Internationaler Gerichtshof/IGH (1996): Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen. Rechtsgutachten vom 8.7.1996, Allgemeine Liste 95. In: IALANA (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Münster: LIT. Deutsche Übersetzung des Rechtsgutachtens durch IALANA.

Küntzel, M. (1992): Bonn und die Bombe – Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt. Frankfurt/M.: Campus.

Nassauer, O. (2020): Weniger Sprengkraft, aber mehr Risiko – Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen. W&F 2-2020, S. 43-46.

Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen – NVV. Offizielle deutsche Übersetzung auf auswaertiges-amt.de.

Bernd Hahnfeld, Richter i.R., ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (­IALANA) und war viele Jahre im Vorstand von W&F aktiv.

Erosion der UN-Charta


Erosion der UN-Charta

von Andreas Zumach

Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]

Mit diesem friedenspolitischen Bekenntnis beginnt die Präambel der Gründungscharta der Vereinten Nationen (United Nations, UN). Die Charta wurde nach achtwöchigen Verhandlungen im Opernhaus von San Francisco am 26. Juni 1945 verabschiedet von Delegierten aus 50 Staaten, die rund 80 Prozent der damaligen Weltbevölkerung repräsentierten. Vor Inkrafttreten der Charta am 24. Oktober 1945 kam als 51. Gründungsmitglied noch Polen hinzu.

Zur konkreten Umsetzung dieses friedenspolitischen Bekenntnisses wurden erstmals in der Geschichte des Völkerrechts das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt (Art. 2,4) – mit Ausnahme der Selbstverteidigung gegen einen militärischen Angriff (Art. 51) – sowie Entscheidungsstrukturen, Regeln und Institutionen für kollektive Maßnahmen zur Bewahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit vereinbart (Art. 39-50).

Gemessen an dem Anspruch, „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, sind die UN – oder besser: sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten – gescheitert. Fast 280 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten 75 Jahren statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.

Doch ohne die UN und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UN wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen, möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand, wie im Oktober 1962 während der Krise um die sowjetischen Atomraketen auf Kuba, wurden im UN-Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UN und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 70 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich boten die UN den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards sowie zahlreichen anderen Themen. Diese Vereinbarungen haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt, sie trugen aber immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner*innen zu verbessern. All das ist auch von friedenspolitischer Bedeutung.

Zu den friedenspolitischen Defiziten gehört, dass einige der in Art. 39-50 der UN-Charta (Kapitel VII, Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) vorgesehenen Strukturen, Maßnahmen und Institutionen nie realisiert wurden. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die fünf ständigen Mitglieder (und Vetomächte) des Sicherheitsrats.

Darüber hinaus wird seit dem Ende des Kalten Krieges von vielen Staaten das zwischenstaatliche Gewaltverbot (Art. 2,4) ausgehöhlt, indem sie das Recht zur Selbstverteidigung (Art. 51) immer stärker ausweiten.

In den 1990er Jahren reklamierte zunächst die NATO in ihrer neuen Strategie das »Recht« auf weltweite militärische Intervention, gegebenenfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. Seit den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992 macht auch die deutsche Bundesregierung Auslandseinsätze nicht mehr von einem Mandat des UN-Sicherheitsrates abhängig. 1999 markierte der völkerrechtswidrige Luftkrieg der NATO gegen Serbien/Montenegro einen gravierenden Bruch. Dieser Krieg und die nach dem Sieg der NATO durchgesetzte Abspaltung des Kosovo von Serbien schufen einen Präzedenzfall, auf den sich seitdem andere Völkerrechtsbrecher, wie Russland im Krimkonflikt, berufen.

Nach den Terroranschlägen vom 11.9.2001 wurde das Recht zur Selbstverteidigung von der US-Administration bemüht, um im »Krieg gegen den Terror« militärische Interventionen, Folter und Drohnenmorde zu rechtfertigen. Inzwischen sind andere Länder dem schlechten Vorbild gefolgt; aktuelles Beispiel ist die völkerrechtswidrige Besatzung der Türkei in Syrien.

Wie machtlos die UN häufig sind, zeigt der verzweifelte Appell von Generalsekretär Guterres, die Waffen mögen doch wenigstens während der aktuellen Coronapandemie ruhen. Bleibt mehr Hoffnung als die, dass uns die Regierungen, die für die Erosion der friedenspolitischen Normen des Völkerrechts verantwortlich sind, wenigstens mit verlogenen Reden zum 75. Geburtstag der UN-Charta verschonen?

Andreas Zumach ist Journalist und lebt in Berlin.

50 Jahre NVV


50 Jahre NVV

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag – (k)eine Erfolgsgeschichte?

von Rebecca Johnson

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) gilt als »Eckpfeiler« des Völkerrechts in puncto Atomwaffen. Er wurde 1968 vereinbart und trat nach der Ratifizierung durch die USA, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion sowie 40 weitere Staaten 1970 in Kraft. Damals gab es fünf Atomwaffenstaaten mit etwa 40.000 Atomwaffen, die meisten in den Arsenalen der Sowjetunion und der USA. Heute, fünfzig Jahre später, hat der Vertrag mit 191 Mitgliedstaaten fast universelle Gültigkeit erlangt1 und die Zahl der Atomwaffen ist unter 14.000 gesunken. Lässt sich das als Erfolgsgeschichte bezeichnen, auch wenn es jetzt neun Atomwaffenstaaten gibt? Dazu gibt es ganz unterschiedliche Einschätzungen, die bei der nächsten Überprüfungskonferenz von 27. April bis 22. Mai 2020 in New York aufeinanderprallen werden.

Als die USA, die Sowjetunion und 15 weitere Länder 1965 beschlossen, einen Vertrag auszuarbeiten, der die Verbreitung von Atomwaffen in immer mehr Länder verhindern soll, stand im Raum, dass ohne völkerrechtliche Regelung bald einige Dutzend Staaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnten. Auch Deutschland schien – nur 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Ambitionen auf ein eigenes Atomwaffenprogramm zu haben. Der Stopp dieses Trends lässt sich durchaus auf der Habenseite des NVV verbuchen, auch wenn neun Atomwaffenstaaten fast doppelt so viele sind wie 1970. Allerdings kommen faktisch fünf weitere Staaten hinzu, da im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« US-Atomwaffen in fünf NATO-Mitgliedstaaten stationiert sind. Diese Rechtslücke ist eine von mehreren Hinterlassenschaften aus der Entstehungszeit des Vertrages, dem Kalten Krieg. Die nukleare Teilhabe wird von Russland und von Blockfreien Staaten häufig kritisiert. Die NATO argumentiert hingegen, die USA würden die Kontrolle über diese Atomwaffen nur im Kriegsfall an Piloten anderer Länder übertragen, und im Kriegsfalle verlöre der NVV ohnehin seine Gültigkeit. Dieser Zirkelschluss ist nur möglich, weil der Vertrag weder für alle Mitgliedstaaten einheitliche Regeln definiert noch den Einsatz von Atomwaffen untersagt, wie das im Humanitären Völkerrecht sonst üblich ist.

Stärken und Schwächen des Nichtverbreitungsvertrags

Der NVV umfasst nur elf Artikel und regelt im Wesentlichen drei Bereiche:

  • Die damals fünf Atomwaffenstaaten (China, Frankreich, Sowjetunion [Russland], Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten) werden als solche akzeptiert (Artikel IX-3), dürfen ihre Atomwaffen aber nicht weitergeben (Artikel I); die Nicht-Atomwaffenstaaten verzichten auf die Annahme und den Besitz von Atomwaffen (Artikel II).
  • Allen Mitgliedstaaten wird das „unveräußerliche Recht“ auf „die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke“ zugestanden (Artikel IV), obwohl schon damals absehbar war, dass die zivile und die militärische Nutzung von Kernenergie nicht sauber voneinander zu trennen sind. Im Gegenzug verpflichten sich die Nichtatomwaffenstaaten, Sicherungsmaßnahmen nach Maßstäben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zuzulassen, „damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird“ (Artikel III). Die Befugnisse der IAEO sind im Wesentlichen auf die Überwachung der waffentauglichen Spaltmaterialien begrenzt.
  • Alle Mitgliedstaaten verpflichten sich, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung (Artikel VI).

Nicht verboten wird den Atomwaffenstaaten (im Folgenden NVV5) der Besitz, die Herstellung oder der Einsatz von Atomwaffen, obwohl in der Präambel betont wird, der Vertrag habe die „Abwendung der Gefahr eines [nuklearen] Krieges“ zum Ziel.

Was heißt das in Bezug auf Sicherheit?

Im vergangenen Jahrzehnt zeigten Klima­forscher auf, dass der Einsatz von 100 Atomwaffen von der Größe der Hiroshima-Bombe außer zu immenser Zerstörung, menschlichem Leid und radioaktiver Verseuchung der Umwelt auch zu einem nuklearen Winter und einer weit verbreiteten Hungersnot führen würde (siehe dazu den Text von Jürgen Scheffran auf S. 13). Der NVV konnte die elementaren Ziele – Sicherheit, Nichtverbreitung und Abrüstung – nur bedingt erreichen, da er den NVV5 einen Sonderstatus zuschreibt; diese räumen Atomwaffen in ihrer jeweiligen Sicherheitspolitik nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Solange die NVV5 Tausende Atomwaffen unterhalten und neue, leistungsfähigere Sprengköpfe und Trägersysteme bauen, untergraben sie die Rolle und die Glaubwürdigkeit des NVV als Nichtverbreitungs- und Abrüstungsvertrag.

Das ist dennoch kein Grund, den NVV abzuschreiben, sondern sollte Anlass sein, ihn zu stärken. Trotz der genannten Schwächen, die sich aus seiner Entstehungsgeschichte, seiner strukturellen Widersprüche und den gegensätzlichen politischen Zielsetzungen seiner Mitgliedstaaten ergeben, leistet der Vertrag einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Sicherheit: Er ist Eckpfeiler eines viel umfassenderen Nichtverbreitungsregimes, das ein ganzes Bündel von Abkommen, Rechtsinstrumenten und Institutionen einschließt und flexibel genug ist, um auf sich wandelnde geopolitische Verhältnisse und Bedürfnisse zu reagieren. Genauso wichtig ist die unbestrittene Tatsache, dass die überwältigende Anzahl von Mitgliederstaaten den Vertrag fraglos einhält und keine Atomwaffen anstrebt.

Die in der Präambel des NVV formu­lierten Ziele waren u.a. Grundlage für den »Vertrag über das umfassende Verbot von Atomtests« (im Folgenden »Test­stoppabkommen«) von 1996 und den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (im Folgenden »Verbotsvertrag«) von 2017. Beide Verträge sind von höchster Bedeutung, aber umstritten.

Eine Handvoll Staaten, die Atomwaffen besitzen oder bauen können, weigern sich, das Teststoppabkommen zu ratifizieren, weshalb seine Rechtskraft vorläufig eingeschränkt bleibt. Dabei hat die Implementierungsorganisation in Wien bereits ein eindrucksvolles Überwachungssystem aufgebaut, das auch weitergehenden humanitären und Sicherheitsbelangen gerecht wird (z.B. Detek­tion von Erdbeben oder Atomkraftwerksunfällen) und nach Inkraft­treten des Verbotsvertrags eine noch weitergehende Rolle bei der Abrüstung und Verifikation spielen kann.

Der Verbotsvertrag, der alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Erwerb, Einsatz, Besitz und Herstellung von Atomwaffen verbietet und ihre vollständige Beseitigung vorschreibt, wurde so formuliert, dass er die meisten, wenn nicht alle wesentlichen Lücken des NVV schließt. Bei den Verhandlungen wurden aus den bisherigen Verträgen, einschließlich dem NVV und dem Teststoppabkommen, Lehren gezogen: Der neue Vertrag wurde als Übereinkommen im Rahmen des Humanitären Völkerrechts konzipiert. Er umfasst klare, universell gültige Verbote und Gebote sowie anpassungsfähige Regeln, auf die noch auszuhandelnde Regularien zur Umsetzung, Durchsetzung und Verifikation aufsetzen können. Für das Inkrafttreten müssen 50 Staaten dem Vertrag beitreten; Zweidrittel der nötigen Ratifizierungsurkunden wurden bereits hinterlegt.

Die Atomwaffenstaaten und praktisch alle NATO-Verbündeten hatten die Vertragsverhandlungen boykottiert, meist mit dem Argument, ein Verbotsvertrag würde den NVV untergraben. Dieser Vorwurf zieht aber nicht, da der Verbotsvertrag ausdrücklich auf die „entscheidende Rolle“ des NVV „bei der Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ verweist.

Versagen im Nahen und Mittleren Osten

Der NVV sieht ausdrücklich vor, dass sich Staaten zu atomwaffenfreien Zonen zusammenschließen können; auch das trug zu seinem Erfolg bei. Inzwischen erstrecken sich atomwaffenfreie Zonen über die gesamte südliche und beträchtliche Teile der nördlichen Hemisphäre.

Im Kontext des NVV bereitet der Nahe und Mittlere Osten die größten Sorgen. Bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV im Jahr 19952 wurde erst dann ein Konsens über die unbefristete Verlängerung erzielt, als alle Mitgliedstaaten u.a. einer Resolution zustimmten, die zur Schaffung einer »Zone frei von Atomwaffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« aufrief. Dieses Thema war seither alle fünf Jahre bei den Überprüfungskonferenzen von zentraler Bedeutung; aufgrund fehlender Fortschritte in diesem Bereich scheiterten die Konferenzen 2005 und 2015. Das kann auch bei der Überprüfungskonferenz 2020 passieren.

Der Nahe und Mittlere Osten ist von Kriegen sowie von politischen und Sicherheitsproblemen geplagt; dazu gehören u.a. der Besitz von Atomwaffen durch Israel und der Einsatz von Chemiewaffen durch andere Länder der Region. Diese Gemengelage lässt sich nicht einfach auflösen. Solange es aber keine Fortschritte dabei gibt, diese Re­gion von allen Atomwaffen zu befreien, bleibt die Glaubwürdigkeit des gesamten Nichtverbreitungsregimes beeinträchtigt. Nicht hilfreich sind in dieser Situation die konkurrierenden militärisch-industriellen Interessen anderer Staaten, insbesondere der USA und Russlands, im Nahen und Mittleren Osten. Dies macht sich bei den Überprüfungskonferenzen des NVV ebenso wie in anderen Zusammenhängen bemerkbar.

Positiv wirkt sich im Nahen und Mittleren Osten aus, dass das Nichtverbreitungsregime inzwischen um etliche Abkommen zur Sicherung von Nuklearmaterialien und zum Handel mit kerntechnischen Gütern ergänzt wurde. Resolution 1540 des UN-Sicherheitsrates von 2004 weitet den Wirkungsbereich von (nationalen) Nichtverbreitungsgesetzen und -institutionen auf Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure aus. Anfangs war dieser Ansatz umstritten, nun wurde beim UN-Sicherheitsrat aber das »1540-Komitee« eingerichtet, das sich gezielt mit der Umsetzung dieser Resolution befasst.

Das 2015 von Iran, den Vereinigten Staaten, China, Russland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland und der Europäischen Union vereinbarte »Iranabkommen« wurde zu Recht als erhebliche Schärfung des Nichtverbreitungsregimes begrüßt. Seither ist viel passiert: Präsident Trump ordnete den Rückzug der USA von dem Abkommen an; die iranische Regierung entschied daraufhin, das Urananreicherungsprogramm wieder zu intensivieren und andere Beschränkungen des Nuklearabkommens nicht länger einzuhalten; der iranische General Soleimani wurde von einer US-Drohne ermordet, was zu einer militärisch-politischen Krise führte. Welche Gefahr solche Konfliktsituationen bergen, wurde nur allzu deutlich, als die iranischen Revolutionsgarden in der Nähe des Teheraner Flughafens versehentlich ein ukrainisches Passagierflugzeug abschossen und den Tod von 176 Zivilist*innen verursachten. Das Thema Iran wird im April und Mai in New York ein zentraler Streitpunkt sein.

Die Überprüfungskonferenz 2020 in New York

Der Wert eines Vertrags misst sich an seiner politischen Relevanz, normativen Wirksamkeit und Vertragstreue. Der NVV schneidet relativ gut ab in puncto politischem und normativem Wert. Die mangelnden Abrüstungsbemühungen und die proliferationsträchtigen Aktivitäten der Atomwaffenstaaten werden aber regelmäßig kleingeredet.

Wenn sich Ende April 2020 im UN-Hauptquartier in New York die Vertreter*innen der 191 NVV-Mitgliedstaaten treffen, müssen sie die negativen wie die positiven Entwicklungen unter die Lupe nehmen. Ganz oben auf der Tagesordnung werden die Abrüstungsverpflichtungen stehen, die sich aus Artikel VI des Vertrags ergeben. Die atomwaffenfreien Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen wiesen im letzten Jahrzehnt verstärkt auf die Auswirkungen von Atomwaffen und die humanitären Folgen eines Einsatzes sowie auf die Gefahr von Missverständnissen, Unfällen und Fehleinschätzungen hin (zu diesem Punkt siehe den Text von Karl Hans Bläsius auf S. 10 dieser W&F-Ausgabe) und untermauerten damit ihre Argumente gegen Atomwaffen.

Es reicht nicht aus, wenn die Diplomat*innen Erfolg oder Misserfolg der Überprüfungskonferenz 2020 daran messen, ob sie einen Konsens über ein Abschlussdokument erzielen können. Die Geschichte des NVV zeigt paradoxerweise, dass ein »erfolgreicher« Konferenzabschluss nicht automatisch echte Fortschritte bei der Abrüstung und der Nichtverbreitung in der Welt außerhalb des Konferenzsaals mit sich bringt.

  • Die Verlängerung des Vertrags auf unbegrenzte Zeit im Jahr 1995 schwächte das Vertragsregime eher, da die NVV5 den Eindruck bekamen, sie könnten ihre Atomwaffenarsenale auf unbegrenzte Zeit aufrecht erhalten.
  • Die eindrucksvolle Liste von »13 Schritten« zur Abrüstung und Nichtverbreitung, die am Ende der Konferenz 2000 stand, war von vielen Staaten ernsthaft gewollt. Dann aber verwarfen zunächst die USA und in ihrer Folge die anderen NVV5-Staaten diese hart erkämpften Abrüstungsschritte, und die Konferenz 2005 scheiterte grandios.
  • 2010 gab es eine Einigung auf deutlich schwächere »Aktionspunkte«, die vor allem von den NVV5 gleich wieder miss­achtet oder untergraben wurden. Der wichtigste »Erfolg« von 2010 war die Zusage, in Kürze eine Regionalkonferenz über eine »Zone frei von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten« abzuhalten. Die Konferenz kam nicht zustande, was zum Scheitern der Überprüfungskonferenz 2015 beitrug.

Je nach politischen Vorgaben der einzelnen Staaten an ihre Diplomat*innen werden die Diskussionen bei der Überprüfungskonferenz 2020 von Belang sein – oder belanglos. Ein positives Signal wäre es, die weiterführenden Schritte von 2000 und 2010 mit Nachdruck wieder aufzugreifen. Einige weitere Faktoren könnten tatsächlich zu einer rascheren Abrüstung beitragen und den vermeintlichen Wert und Status von Atomwaffen verringern:

  • das Inkrafttreten des Verbotsvertrages sowie des Teststoppabkommens,
  • konkrete Maßnahmen zur Verhinderung eines Atomwaffeneinsatzes sowie
  • ein Ende der Aktivitäten, die die Demontage von Abrüstungsverträgen und -verpflichtungen bewirken.

Das funktioniert aber nur, wenn die Schritte von allen Parteien, einschließlich der NVV5, ernst genommen und in reale Politik überführt werden.

Anmerkungen

1) Nicht Vertragsmitglied sind die faktischen Atomwaffenstaaten Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan. Ebenfalls noch nicht beigetreten ist der neu geschaffene und jeglicher Atomwaffenaktivitäten unverdächtige Staat Südsudan. Die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete den Vertrag kurz nach Amtsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt am 28.11.1969. Die Ratifizierung erfolgt wenige Tage vor der ersten Überprüfungskonferenz am 2. Mai 1975. [die Übersetzerin]

2) Der NVV war ursprünglich auf 25 Jahre befristet (Artikel X). [die Übersetzerin]

Dr. Rebecca Johnson ist feministische Friedensaktivistin, Mitbegründerin der International Campaign to Abolish ­Nuclear Weapons (ICAN), Sprecherin der Green Party von England und Wales für Sicherheit, Frieden und Verteidigung und Gründungsdirektorin des Acronym Institute (acronym.org.uk).

Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

»Hybride« Konflikte im Völkerrecht


»Hybride« Konflikte im Völkerrecht

von Michael Bothe

»Hybrid« ist eine gern gebrauchte Bezeichnung für einen Gegenstand oder eine Situation, die sich der Einordnung in eine einzelne Kategorie entzieht. Ein hybrides Automobil wird weder allein durch einen Verbrennungsmotor noch durch einen Elektromotor angetrieben, sondern je nachdem durch den einen oder den anderen Antrieb. Der Begriff des hybriden Konflikts wirft im Hinblick auf die völkerrechtliche Regelung ein grundlegendes Problem auf: Wenn das Recht auf Dichotomien aufbaut, unterschiedliche Regeln für die Situation A und die Situation B aufstellt, so muss eine »hybride« Situation Schwierigkeiten bereiten. Die internationalen Beziehungen sind in ihrer aktuellen Unübersichtlichkeit geradezu gekennzeichnet durch hybride Situationen. Das gilt insbesondere für die völkerrechtlichen Regeln für die Ausübung organisierter Gewalt.

Der Beginn der modernen Völkerrechtswissenschaft ist bei dem klassischen Werk von Hugo Grotius anzusetzen: »De iure belli ac pacis«, das Recht in Krieg und Frieden. Der Titel beschreibt eine klassische Dichotomie: Es gibt zwei unterschiedliche Rechtsbereiche, nämlich einmal das Recht, das die friedlichen Beziehungen zwischen Staaten regelt, zum andern das Kriegsrecht, das die Beziehungen der Staaten im Falle eines Krieges zum Gegenstand hat. Das führte natürlich zu der Frage der Unterscheidung zwischen der einen und der anderen Situation, zur Diskussion darüber, was eigentlich völkerrechtlich »Krieg« ist, bzw. zu einer Debatte über den »Kriegsbegriff«. Aus heutiger Sicht war das eine der unsinnigsten Streitigkeiten der Völkerrechtsgeschichte. Während der allgemeine Sprachgebrauch gerne noch nach der Unterscheidung zwischen Krieg und Nichtkrieg sucht, etwa in Bezug auf die Situation in Syrien, hat das moderne Völkerrecht an die Stelle des Kriegsbegriffs den des »bewaffneten Konflikts« gesetzt. Dieser Begriff soll die Unterscheidung, die von der immer noch gegebenen Dichotomie erfordert wird, vom Ballast unnötiger juristischer Spitzfindigkeiten befreien und näher an die Fakten bringen. Die neuere Formulierung der Dichotomie »bewaffneter Konflikt – alle anderen Beziehungen« (Bothe 2019, Rdn. 62; Crawford 2015, Rdn. 2; Kotzsch 1956) hat die praktische Bestimmung des anwendbaren Rechts sachgerechter gemacht. Aber die Dichotomie, die unterschiedliche Regelungskomplexe für die eine oder andere Situation erfordert, bleibt bestehen.

Die folgenden Zeilen haben zum Ziel, die völkerrechtliche Regelung einiger Situationen organisierter Gewalt­ausübung zu beleuchten, in denen etablierte rechtliche Dichotomien problematisch geworden sind. Für sie hat sich die Bezeichnung »hybride Konflikte« eingebürgert (Milanovic 2019, S. 33 ff.; Kahn 2019, S. 191 ff.; War Report 2018, S. 20 ff.).

Internationale oder nicht-internationale bewaffnete Konflikte

Eine fundamentale Dichotomie des Konfliktrechts ist die Unterscheidung zwischen internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, da für beide Kategorien von Konflikten unterschiedliche Regelwerke gelten. Der Krieg der frühen Neuzeit war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten. Bewaffnete Konflikte im Innern eines Staates waren vom Völkerrecht nicht geregelt. Es stellte sich aber heraus, dass die Regelungs- und vor allem Schutzfunktion des Kriegsvölkerrechts auch bei solchen inneren Konflikten gefragt war. So entwickelte sich ein besonderes Recht nicht-internationaler Konflikte, das die Souveränität der Staaten stärker berücksichtigt als das Recht des internationalen Konflikts und dessen Schutzniveau, dementsprechend niedriger (Bothe 2019, Rdn. 121).

Wesentliche Schritte der Entwicklung des Vertragsrechts waren der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Konventionen von 1949 (eine Art Mini-Konvention zum Schutz der Opfer nicht-internationaler Konflikte) und das Zusatzprotokoll II zu diesen Konventionen aus dem Jahr 1977. Seitdem lässt sich feststellen, dass sich das Recht des nicht-internationalen Konflikts gewohnheitsrechtlich sehr stark dem Recht der internationalen Konflikte angenähert hat. Es hat also eine Annäherung des Schutzniveaus stattgefunden (ICRC 2005, Bd. I, S. XXIX), und die Relevanz der Dichotomie ist geringer geworden. Sie bleibt aber bestehen, denn eine wesentliche Unterscheidung bleibt: Im internationalen Konflikt genießen die Angehörigen der Streitkräfte im Falle ihrer Gefangennahme den besonders geregelten Status eines Kriegsgefangenen. Das bedeutet nicht nur eine menschenwürdige Behandlung, sondern es verbietet auch eine Bestrafung dieser Personen für eine Teilnahme an den Kampfhandlungen, soweit sich diese im Rahmen des Kriegsrechts gehalten haben. Eine solche Teilnahme ist rechtmäßig: Soldaten sind keine Mörder!

Strafrechtlich ist das ein völkerrechtlich vorgegebener Rechtfertigungsgrund, das so genannte »combatant privilege« (Bothe 2019, Randnotiz 67). Für die Kämpfer und Kämpferinnen im nicht-internationalen Konflikt gibt es das nicht. Darum ist die Unterscheidung zwischen internationalem und nicht-internationalem Konflikt von zentraler Bedeutung für die Behandlung von Gefangenen. Allerdings gilt auch im nicht-internationalen Konflikt der gezielte Angriff auf die Kämpfer der anderen Seite als erlaubt (im Gegensatz zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung), wenngleich die Tötung nicht durch das »combatant privilege« gedeckt ist. Das ist ein gewisser Wertungswiderspruch. Dennoch: Die Rechtslage ist so.

Die Einordnung bestimmter Konflikte in die eine oder andere Kategorie bereitet Probleme, und damit ist man bei der Frage hybrider Konflikte. Es sind insbesondere drei Konstellationen, in denen die Dichotomie unsicher wird: erstens der Streit um den Status einer Konfliktpartei, zweitens der nicht-internationale Konflikt mit ausländischer Beteiligung, eine sehr häufige Konstellation, und drittens ein grenzüberschreitender Angriff nicht-staatlicher Kämpfer.

Es gibt immer wieder bewaffnete Konflikte, bei denen eine oder mehrere Parteien von der jeweils anderen Seite nicht als Staat anerkannt sind. Sollte ein bewaffneter Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan ausbrechen, so wäre Taiwan jedenfalls aus der Sicht der Volksrepublik China eine abtrünnige Provinz, deren Streitkräfte also »Verräter« und als solche zu bestrafen. Sieht man Taiwan hingegen als einen Staat an, so genießen seine Streitkräfte das »combatant privilege«. Ein hybrider Konflikt wäre dies insofern, als die Parteien über ihren jeweiligen Status und damit über die Anwendung relevanter Rechtsnormen uneins sind. Völkerrechtlich wird diese Problematik mit der Konstruktion eines »De-facto-Regimes« aufgefangen, das zum Zwecke der Anwendung bestimmter Rechtsnormen einem Staat gleich zu achten ist (Frowein 2013, Rdn. 3). Ein solches wäre Taiwan jedenfalls.

Eine weitere und häufige Konstellation ist, dass auswärtige Staaten in unterschiedlicher Weise in einen Konflikt eingreifen („internationalisierter nicht-internationaler Konflikt“, Bothe 2019, Rdn. 127 ff.). Wenn ausländische Streitkräfte auf der Seite von Aufständischen gegen die Streitkräfte der etablierten Regierung kämpfen, entsteht ein internationaler Konflikt. Besonders problematisch ist diese Konstellation, wenn das Eingreifen der ausländischen Macht nicht offen erfolgt und nicht zugegeben wird, wie im Fall des Konflikts in der Ost-Ukraine. Der Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und den aufständischen Entitäten Donezk und Luhansk ist am ehesten dahingehend zu qualifizieren, dass es ein nicht-internationaler ist. Das russische Eingreifen stellt wohl eine rechtswidrige Intervention in die inneren Angelegenheiten der Ukraine dar, macht aber die Russische Föderation noch nicht zur Konfliktpartei.

Für den umgekehrten Fall, dass ausländische Streitkräfte auf der Seite der etablierten Regierung gegen Aufständische kämpfen, bestehen theoretisch drei Möglichkeiten: 1. der ganze Konflikt wird international; 2. der ganze Konflikt wird immer noch als nicht international angesehen; 3. der Konflikt teilt sich in einen internationalen (Beziehung zwischen ausländischem Intervenienten und Aufständischen) und einen nicht-internationalen (Beziehung zwischen etablierter Regierung und Aufständischen). Völkervertraglich ist eine solche Situation in den oben genannten Verträgen nicht geregelt; die gewohnheitsrechtsbildende internationale Praxis geht dahin, den ganzen Konflikt, d.h. auch die Beziehung zwischen dem ausländischen Intervenienten und dem lokalen nicht-staatlichen Akteur (den »Aufständischen«), als nicht international zu qualifizieren. Der U.S. Supreme Court entschied dies für das Verhältnis zwischen US-Truppen und Taliban in Afghanistan und erklärte den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen für anwendbar.1 Dies ist nunmehr auch die Auffassung der Bundesrepublik zur Lage in Afghanistan.2 Das bedeutet u.a., dass deutsche oder US-Streitkräfte gefangene nicht-staatliche Kämpfer den afghanischen Behörden zum Zwecke der Strafverfolgung überlassen dürfen, da diese Kämpfer nicht das »combatant privilege« genießen. Ob das aus praktischen Gründen unterbleibt, ist eine andere Frage.

Eine damit verwandte Konstellation ist die, dass nicht-staatliche Kämpfer vom Ausland aus die Regierung eines anderen Staates bekämpfen. Dabei entsteht zunächst auf dem Gebiet des bekämpften Staates ein nicht internationaler Konflikt. Wenn jedoch die nicht-staatlichen Kämpfer von einem ausländischen Staat, sei es der Nachbarstaat oder ein dritter Staat, in einer Weise kontrolliert werden, dass die von den nicht-staatlichen Akteuren ausgeübte Gewalt diesem ausländischen Staat zuzurechnen ist, so entsteht ein internationaler Konflikt zwischen dem letzteren und dem ersteren Staat. Der Grad von Kontrolle, der diese rechtliche Bewertung auslöst, ist in der Praxis und auch in der internationalen Rechtsprechung streitig.

Bewaffnete Konflikte oder sonstige Formen organisierter Gewalt

Die Anwendung des Rechts des nicht-internationalen Konflikts setzt voraus, dass eben ein solcher bewaffneter Konflikt vorliegt, d.h. Kampfhandlungen eines gewissen Ausmaßes, an denen Kämpfer oder Kämpferinnen beteiligt sind, die zu einer Partei gehören, die einen gewissen institutionellen Organisationsgrad aufweist. „Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen“ (Art. 1 Abs. 2 Genfer Zusatzprotokoll II) sind keine bewaffneten Konflikte. Die Feststellung dieser Schwelle zwischen einfacher Gewalt und Kampfhandlungen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bereitet erhebliche Schwierigkeiten.

Den Regeln des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, mit der Folge, dass die Bekämpfung von Kämpfern der anderen Seite zulässig ist, unterliegen nur solche Handlungen, die einen Zusammenhang (nexus) mit dem Konflikt haben. Zwei Beispiele mögen die Problematik verdeutlichen: Bei der Besetzung eines Musical-Theaters in Moskau 2002 durch tschetschenische Rebellen setzten die russischen Streitkräfte einen chemischen Kampfstoff ein, um die Besetzer zu überwältigen. War dies eine Kampfhandlung im Rahmen des vorliegenden nicht-internationalen Konflikts in und um Tschetschenien, so war es der Einsatz einer chemischen Waffe, völkerrechtlich als solcher verboten. Verneint man diesen Nexus, so war es der Einsatz physischer Gewalt im Rahmen der Sicherung der Ordnung, was ganz anderen, insbesondere menschenrechtlichen, völkerrechtlichen Regeln unterliegt. Zum Zweiten: Als dem Generalbundesanwalt eine Strafanzeige wegen eines US-Drohnen­einsatzes in Pakistan vorlag, bei dem ein deutscher Staatsangehöriger getötet worden war, der als Al-Qaeda-Kämpfer galt (»Mir-Ali-Fall«), prüfte er gleichfalls diesen Konflikt-Nexus.3 Er stellte fest, dass der Einsatz im Rahmen zweier verbundener nicht-internationaler Konflikte in Afghanistan und Pakistan geschah, an denen die USA als Partei beteiligt waren und die deshalb nach dem Recht des nicht-internationalen Konflikts zu beurteilen waren. Danach war es eine erlaubte Kampfhandlung. Man kann diese Konstruktion kritisieren – sie ist jedenfalls in sich konsequent und sozusagen systemimmanent, weil sie die Dichotomie zwischen dem Recht des bewaffneten Konflikts und Situationen, die nicht bewaffneter Konflikt sind (Geiß 2009, 127 ff.), aufrechterhält. Sie erlaubte es dem Generalbundesanwalt, die Tötungshandlung als im Rahmen eines bewaffneten Konflikts erlaubt anzusehen, ohne auf andere, völlig unvertretbare Thesen zur Rechtfertigung im Kampf gegen den Terrorismus einzugehen, von denen sogleich noch zu reden ist.

Terrorismus

Die Art und Weise, wie von manchen Staaten, nicht nur den USA, die pauschale Rechtfertigung von Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus vertreten wird, läuft auf eine grenzenlose Lizenz zum Töten hinaus. Die immer wieder aus den USA zu hörende These geht dahin, dass sich die USA in einem internationalen Konflikt mit »dem Terrorismus« befinden, in dem das Töten der gegnerischen Kämpfer, wo immer man sie antrifft, erlaubt ist. Das soll gezielte Tötungen und insbesondere Drohneneinsätze überall auf der Welt rechtfertigen.

Diese These setzte sich in der internationalen Gemeinschaft aber nicht durch. Sie fand hinreichenden Widerspruch, sodass ein Wandel des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, der durch diese Praxis wohl angestrebt wurde, nicht festzustellen ist (Bothe 2019, Rdn. 128). »Der Terrorismus« ist keine Organisation, die als Konfliktpartei rechtlich taugen würde. Gezielte Tötungen und Drohneneinsätze sind allenfalls dann völkerrechtlich zulässig, wenn sie als Kampfhandlungen gegen Kämpfer oder Kämpferinnen in einem wirklich bestehenden bewaffneten Konflikt charakterisiert werden können, wie das der Generalbundesanwalt im Mir-Ali-Fall vorgeführt hat. Gezielte Tötungen ohne diesen Konflikt-Nexus bedürften einmal der Zustimmung durch den Staat, auf dessen Gebiet sie stattfinden, zum anderen müssten sie den menschenrechtlichen Maßstäben für zulässige Formen der physischen Gewalt im Rahmen der polizeilichen Verbrechensbekämpfung entsprechen. Hinsichtlich beider Voraussetzungen bestehen angesichts der über viele Jahre geübten amerikanischen Praxis ganz erhebliche Bedenken. Hier gilt es, die besagte Dichotomie zwischen bewaffnetem Konflikt und einer Situation, die keinen solchen Konflikt darstellt, aufrecht zu erhalten. Der Kampf gegen den Terrorismus ist keine generelle »license to kill«.

»Drogenkrieg«

Eine ähnliche Problematik stellt sich bei der Bekämpfung des Drogenhandels. Auch wenn die Organisationen des illegalen Drogenhandels insbesondere in Mexiko Methoden anwenden, die in dem Ausmaß der Gewalt einem bewaffneten Konflikt gleichkommen, so bleiben diese Organisationen doch Verbrecherbanden, die eben nicht als vom Völkerrecht zu adressierende Konfliktparteien angesehen werden können. Auch hier gibt es also keine »license to kill« nach dem Recht des bewaffneten Konflikts. Die daraus folgenden menschenrechtlichen Grenzen staatlicher Gegengewalt können hier nicht im Einzelnen ausgelotet werden.

Neue Formen der Schädigung: analog oder digital

Eine weitere, früher kaum problematisierte Dichotomie spielt heute im Recht bewaffneter Konflikte eine große Rolle, nämlich die zwischen kriegerischen Schädigungshandlungen (insbesondere Tötung und Verwundung von Menschen, Schädigung und Zerstörung von Sachgütern), die das humanitäre Völkerrecht eingehend regelt, und anderen konfliktbezogenen Handlungen einer Konfliktpartei (z.B. die Anlage einer Festung), die keiner solchen Regelung unterliegen. Erstere Schädigungshandlungen definiert das Genfer Zusatzprotokoll I von 1977 als »Angriff«. Durch den Einsatz von Computern in bewaffneten Konflikten (Cyberwar) ist diese Dichotomie fraglich geworden (Bothe 2019, Rdn. 76). Im Cyberwar werden von Computern Signale oder Schadsoftware elektronisch an andere Computer, die sich im Bereich einer Konfliktpartei befinden, übermittelt. Die militärische Wirksamkeit dieses Vorgangs beruht auf der Tatsache, dass die angegriffenen Computer wesentliche Funktionen der Infrastruktur einer Konfliktpartei steuern. Wird z.B. durch die Übermittlung von Schadsoftware die elektronische Steuerung eines Elektrizitätswerkes außer Funktion gesetzt, dann ist die Wirkung zumindest vorübergehend genauso, als sei das Werk durch einen Bombenangriff zerstört: Es wird lebenswichtiger Strom nicht mehr geliefert. Es gibt also im Cyberwar eine neue Art von Schädigungshandlungen, bedingt durch eine neue Art von Verwundbarkeit. Aber nicht jede Übermittlung von Schadsoftware ist in besagtem Sinne ein »Angriff«. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Wirkung dieser Übermittlung der Schädigung mittels kinetischer oder Wärmeenergie gleichwertig ist (Tallinn Manual 2.0, S. 415 ff.). Mit diesem Abstellen auf den »equivalent effect« wird die traditionelle und sinnvolle Dichotomie zwischen Angriff und anderen militärischen Handlungen aufrechterhalten.

Das wesentliche und eigentlich neue Problem des Cyberwar liegt in der mangelnden Identifizierbarkeit und Lokalisierbarkeit der Schädiger. Die Urheber der Schadsoftware sind möglicherweise unbekannte Privatpersonen, die irgendwo in einem privaten Anwesen arbeiten. Für solche Schädigungshandlungen bedarf es nur eines Computers mit Internetanschluss. Das Völkerrecht, einschließlich des humanitären Völkerrechts, adressiert aber nur Staaten (und andere Völkerrechtssubjekte) sowie Personen, die als Organe dieser Rechtssubjekte handeln oder deren Handlungen aus besonderen Gründen diesen Rechtssubjekten zuzurechnen ist. Aktionen des Cyberwar, die von Staatsorganen, etwa Geheimdiensten, durchgeführt werden, unterliegen völkerrechtlichen Regeln wie oben erläutert. Hinsichtlich unbekannter nicht-staatlicher Schädiger hat das Völkerrecht noch keine klaren Regeln bereit. Es ist insbesondere an staatliche Kontrollpflichten zu denken, die mit der gebotenen Sorgfalt (due diligence) zu erfüllen wären (Tallinn Manual 2.0, S. 30 ff., S. 80). Sie werden vertraglich oder in der gewohnheitsrechtbildenden Praxis zu entwickeln sein.

Hybride Konfliktsituationen als Herausforderung für das Völkerrecht

Es wurde gezeigt, dass in heutigen Situationen der Ausübung organisierter Gewalt traditionelle Dichotomien, die die Anwendung bestimmter Rechtsmassen bestimmen, schwieriger anzuwenden sind. Dieser Befund wird mit dem Ausdruck »hybrider Konflikt« beschrieben. Es wurde des Weiteren gezeigt, dass es rechtliche Argumentationslinien gibt, die sinnvolle Unterscheidungen auch in solchen Situationen erlauben. Die Betonung liegt auf »sinnvoll«. Diese regulatorischen Dichotomien sollen sicherstellen, dass faktisch unterschiedliche Situationen jeweils einem sachgerechten Regelungsregime unterworfen sind. Sachgerechte Regelungen sind nicht ohne sachgerechte Differenzierungen zu haben. Deshalb bezeichnet der Begriff des »hybriden Konflikts« nicht einen neuen Regelungsbereich, eine neue Rechtsmasse zur Regelung dieses besonderen, neuen Konflikttypus, sondern die Notwendigkeit, die Definitionen vorhandener Kategorien zu überdenken und gegebenenfalls Unterscheidungsmerkmale oder inhaltliche Regelungen zu prüfen oder zu korrigieren. Nur so kann und muss das Völkerrecht seine Funktion, organisierte Gewalt in Schranken zu halten, mit Aussicht auf Erfolg erfüllen.

Anmerkungen

1) Urteil des U.S. Supreme Court, Hamdan v. Rumsfeld, 29.6.2006, 548 U.S. 557 (2006).

2) Bundesminister Westerwelle vor dem Deutschen Bundestag zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. 10.2.2010; auswaertiges-amt.de.

3) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Betr: Drohneneinsatz vom 4. Oktober 2010 in Mir Ali/Pakistan – Verfügung des Generalbundesanwalts vom 20. Juni 2013 – 3 BJs 7/12-4. 23.7.2013; generalbundesanwalt.de.

Literatur

Bellal, A. (ed.) (2019): The War Report – Armed Conflicts in 2018: Geneva: Geneva Academy of International Humanitarian Law and Human Rights.

Bothe, M. (2019, 8. Aufl): Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum, W. Graf; Proelß, A. (Hrsg.): Völkerrecht. Berlin: DeGruyter.

Crawford, E. (2015): Armed conflict, international. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Frowein, J.A. (2015): De Facto Regime. In: Wolfrum, R. (ed.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law.

Geiß, R. (2009): Armed violence in fragile States – low intensity conflict, spillover conflict, and sporadic law enforcement operations by third States. International Review of the Red Cross, Vol. 91, Nr. 873, S. 127 ff.

ICRC (ed.) (2005): Customary International Humanitarian Law. Edited by Henckaerts, J.-M.; Doswald-Beck, L. Cambridge: Cam­bridge University Press.

Kahn, J.: Hybrid conflict and prisoners of war – the case of the Ukraine. In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Milanovic, M. (2019): Accounting for the complexity of the law applicable to modern armed conflicts, In: Ford, C.M.; Williams, W.S. (eds.): Complex Battlespaces. Oxford: Oxford University Press.

Tallinn Manual 2.0 on the International Law Applicable to Cyber Operations. Prepared by the International Group of Experts at the Invitation of the NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence; edited by Schmitt, M.N. Cambridge: Cambridge University Press.

Michael Bothe, Dr. iur., Prof. emeritus für öffentliches Recht, J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main.