Gehören Killerroboter vor ein Kriegsgericht?

Gehören Killerroboter vor ein Kriegsgericht?

von Hans-Jörg Kreowski

Seit einigen Jahren kann man in vielen Printmedien hin und wieder von Drohnen lesen, die im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan eingesetzt worden sind, um führende Mitglieder von Al Kaida und den Taliban aufzuspüren und mit Raketen anzugreifen. Dabei sind inzwischen Hunderte Menschen getötet worden, darunter viele Frauen und Kinder. Vorläufig werden die Einsatzbefehle noch aus der US-Kommandozentrale in der Wüste von Nevada gegeben. Aber es wird durchaus daran gedacht, solche Drohnen zukünftig autonom über den Waffeneinsatz und damit über die Tötung aller Personen im Zielbereich entscheiden zu lassen. Da dabei sicherlich nicht nur kämpfende Soldaten den Tod finden werden, nach dem geltenden Kriegsrecht aber Zivilpersonen von Kriegshandlungen verschont werden sollen, könnte man fragen, ob dann Killerroboter vor ein Kriegsgericht gehören.

Nach der »Unmanned Systems Roadmap 2007-2032« und der »Unmanned Systems Integrated Roadmap 2011-2036« plant das Department of Defense der USA, in den nächsten Jahrzehnten einen erheblichen Teil der Waffensysteme in der Luft, auf dem Land und zu Wasser auf unbemannte Vehikel umzustellen. Diese Geräte sollen ihre Aufgaben zu einem großen Teil autonom erfüllen. Und da sie keineswegs nur der Erkundung, Bewachung und Aufklärung dienen, sondern viele davon auch bewaffnet sind, handelt es sich um ein Programm für die Entwicklung und Verwendung von Killerrobotern. Aber solche Waffensysteme sind keine reine Zukunftsmusik, sondern seit einigen Jahren mit wachsender Tendenz bereits im Einsatz im Irak, Afghanistan, im Grenzgebiet von Pakistan und jüngst auch in Libyen. Zu den bekanntesten unbemannten Fluggeräten (Drohnen) gehören der Predator und der Reaper. Der Predator war ursprünglich für die Aufklärung gedacht, ist inzwischen aber mit zwei Hellfire-Raketen ausgestattet. Der Reaper war von Anfang an mit acht Hellfire-Raketen bewaffnet. Das bekannteste bewaffnete unbemannte Landfahrzeug ist das Talon Sword, ein kleines Kettenfahrzeug, das mit verschiedenen Waffen wie Maschinengewehr oder Granatwerfer bestückt werden kann. Auf dem Wasser schwimmt beispielsweise der Protector, unter Wasser der Swordfish. Aber nicht nur die USA, sondern auch viele andere Länder der Welt haben, kaufen, entwickeln und bauen inzwischen unbemannte Militärsysteme. Dazu gehört auch Deutschland, beispielsweise mit den unbemannten Fluggeräten Aladin, Luna, Mikado und KZO.

Kriegsvölkerrecht

Das Kriegsvölkerrecht hat zwei Seiten. Die eine betrifft alle rechtlichen Aspekte im Zusammenhang mit der Frage, welche Rolle Krieg und Frieden beim Zusammenleben der Völker spielen sollen (ius ad bellum). Hierzu gehört zum Beispiel die Aussage in der Präambel der UN-Charta, mit der sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, die zukünftigen Generationen von der Geißel des Krieges zu befreien, oder wie es im Artikel 2 heißt:

„ […] Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die zweite Seite tangiert alle rechtlichen Regeln, die im Krieg gelten sollen (ius in bello). Die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen sind bekannte Beispiele für völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen in diesem Zusammenhang. Zu denRegeln gehört, Opfer von Kriegen, Wehrlose und Unbeteiligte zu schützen, wobei insbesondere der Angriff auf Zivilpersonen verboten ist. Außerdem sollen kulturelle Güter geschont werden. Wer diese Regeln missachtet, kann als Kriegsverbrecher vor nationalen oder internationalen Gerichten angeklagt und verurteilt werden. Solche Prozesse hat es seit den Nürnberger Prozessen vereinzelt immer wieder gegeben. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass in allen Kriegen der letzten Jahrzehnte viele Kriegsverbrechen begangen worden sind, ohne dass sie einen Richter gefunden hätten. Als typische Beispiele, die hundertfach in den letzten Jahren passiert sind, kann man hier die Drohneneinsätze im Krieg gegen Al Kaida und die Taliban nennen, bei denen weit mehr Zivilpersonen, insbesondere Frauen und Kinder, getötet worden sind als feindliche Kämpfer. Typische Nachrichten, die in den letzten Jahren um die Welt gingen, belegen die Bedeutung und Problematik der fliegenden Killerroboter:

Chef der pakistanischen Taliban von Drohne getötet.

CIA lässt Todes-Drohnen nicht mehr von Blackwater bestücken.

30 Menschen von amerikanischen Drohnen getötet.

Einsatz von Drohnen statt neuer Truppen.

US-Drohne zerstört Haus mit sechs Taliban – 28 Tote insgesamt.

Und diese Liste der Meldungen ließe sich beliebig verlängern. Die meisten dieser Drohneneinsätze sind, soweit ich das sehe und verstehe, vom Kriegsvölkerrecht nicht gedeckt.

Es ist erklärte Absicht der Militärplaner und -entwickler, die Autonomie von Killerrobotern weiter voranzutreiben. In naher Zukunft werden bewaffnete Drohnen nicht erst schießen, wenn sie einen entsprechenden Befehl aus der Einsatzzentrale erhalten, sondern selbst darüber entscheiden. Die Entscheidung über Leben und Tod soll damit Maschinen überlassen werden. Killerroboter sollen selbsttätig töten, sobald sie einen generellen Einsatzbefehl erhalten. Daraus ergeben sich eine Reihe drängender Fragen:

Darf die Entscheidung über Leben und Tod Maschinen überlassen werden?

Können Maschinen das Kriegsvölkerrecht kennen und respektieren?

Können sie zwischen gegnerischen Kampftruppen einerseits und Unbeteiligten und Wehrlosen andererseits unterscheiden?

Können sie kulturelle Güter schonen?

Können sie in diesem Sinne ethisch korrekt funktionieren?

Maschinenethik und künstliches Gewissen!?

Es gibt viele Fachleute im Umfeld der Killerrobotik, die diese Fragen bejahen. Stellvertretend sei hier die Auffassung von Ronald C. Arkin vom Georgia Institute of Technology wiedergegeben. Er führt in seinem Buch »Governing Lethal Behavior in Autonomous Robots« (2009) aus, dass Maschinenethik nicht nur möglich, sondern wünschenswert sei. Als Gründe führt er an, dass Roboter im Gegensatz zu menschlichen Kriegern nie in Panik geraten und dass sie Befehle beurteilen und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen gegebenenfalls auch verweigern können.

Ein solcher Glaube in die nahezu unbegrenzte technische Machbarkeit ist bei den Ingenieurswissenschaften, dem Militär und der Politik weit verbreitet. Ein Grund dafür ist insbesondere auch, dass mit Versprechungen dieser Art gigantische Fördermittel locker gemacht werden können. Die Erbauer von Killerrobotern und ihre Auftraggeber machen da keine Ausnahme – eher im Gegenteil.

Ich dagegen bin überzeugt, dass die Vorstellung von Maschinen, die selbständig ethisch handeln können, völlig illusionär ist und dass ein künstliches Gewissen vor allem künstlich ist und mit Gewissen nichts zu tun hat. Insbesondere denke ich, dass alle Fragen am Ende des vorigen Abschnitts mit einem klaren und uneingeschränkten nein beantwortet werden müssen. Das möchte ich im Folgenden aus meinem wissenschaftlichen Verständnis von den Möglichkeiten und Grenzen der Informatik begründen.

Alles eine Frage der Modellierung und Programmierung

Wenn davon die Rede ist, dass Maschinen Entscheidungen treffen, dann ist damit gemeint, dass in die Maschinen Computer eingebettet sind, auf denen Programme laufen, die die so genannten Entscheidungen berechnen. Und alle solche Programme werden von Menschen erdacht, modelliert und entwickelt und berechnen, abgesehen von technischen Fehlfunktionen, nichts anderes als das Programmierte.

Nach der Turingschen These aus dem Jahr 1936 kann alles Berechenbare – egal mit welchem Programm auf welchem Computer – auch mit einer Turing-Maschine berechnet werden, die eine Art Buchhalter formalisiert. Wenn die These stimmt (und bisher spricht eigentlich nichts dagegen, aber vieles dafür), dann hat das einige interessante Konsequenzen:

Es gibt Probleme, die nicht berechenbar sind, für deren Lösung es also gar kein Programm gibt.

Es gibt Programme mit unbekanntem Verhalten.

Es gibt Programme, die zu viel Zeit und/oder Speicherplatz brauchen, die also länger brauchen, als ein Mensch warten kann, und für deren Datenhaltung die Atome im Universum nicht reichen.

Es gibt Programme, die unzuverlässig sind.

Es gibt berechenbare Probleme ohne bekannte Lösung, für die also kein Programm verfügbar ist.

Ob ein Problem von einem Programm exakt gelöst wird, ist fast nie bewiesen und im allgemeinen auch nicht beweisbar.

Was heißt das für ein Programmsystem, das »ethisches Verhalten« von Maschinen realisieren soll? Die obige Liste von Schwierigkeiten beim Umgang mit Berechenbarkeit lässt sich auf dieses spezielle Programmierungsproblem übertragen:

Es könnte nicht berechenbar sein.

Es könnte völlig undurchschaubar programmiert sein.

Es könnte zu viel Zeit oder/und Speicherplatz brauchen.

Es könnte unzuverlässig sein.

Es könnte berechenbar sein, aber niemand weiß wie.

Es könnte unbewiesen sein und bleiben, dass es richtig funktioniert.

Ich wäre nicht verblüfft, wenn sich ethisches Verhalten als unberechenbar erwiese, so dass sich eine maschinelle Realisierung auf den berechenbaren Teil beschränken müsste. Aber auch diese »berechenbare Ethik« ist in ihren Inhalten, Möglichkeiten, Gesetzmäßigkeiten und Charakteristika völlig unklar, und an einer operationalisierbaren Modellierung fehlt es gänzlich. Beispielsweise liegen die normativen Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts nur in natürlicher Sprache vor. Es gibt für sie keine eindeutigen Interpretationen, und sie stellen in keiner Weise präzise Handlungsanweisungen dar. Wie soll daraus ein ausführbares Programm werden, das tut, was es soll? Das ist hoffnungslos.

Killerroboter, unbemannte Vehikel und autonome Waffen sind nach diesen Überlegungen nicht in der Lage, nach ethischen Prinzipien zu funktionieren und das Kriegsvölkerrecht zu beachten. Es ist deshalb unverantwortlich und gefährlich, solche Systeme zu entwickeln und einzusetzen. Die Entwickler und Einsatzleiter machen sich zu potentiellen Mördern. Wie Landminen werden autonome Tötungsmaschinen keinen Unterschied machen können zwischen kämpfenden Soldaten und Zivilpersonen. Als Waffen, deren Einsatz praktisch unweigerlich im Widerspruch zum Kriegsvölkerrecht steht und ein Kriegsverbrechen darstellt, gehören sie wie biologische und chemische Waffen verboten. Spätestens an dieser Stelle erweist sich die Titelfrage als rhetorisch. Denn es sind nicht die autonomen Killerroboter, die die Kriegsverbrechen begehen werden, sondern wie auch jetzt schon beim Raketeneinsatz mit Drohnen die Befehlshaber, die solche Waffen einsetzen. Die Entwickler und Programmierer können aber ebenfalls nicht freigesprochen werden, denn sie werden wissen, was sie tun.

Künstliche oder echte Torheit

Wenn man postuliert, dass Maschinen mit ethischem Verhalten gebaut werden könnten und dass ein künstliches Gewissen programmierbar sei, und wenn man dann – wie in der Killerrobotik geplant ist – damit beginnt, solche Vorstellungen zu realisieren, gerät man aus meiner Sicht in ähnliche Kalamitäten wie die Künstliche Intelligenz (oder in noch schlimmere). Führende Vertreter des Fachgebiets wie McCarthy, Minsky, Kurzweil und Moravec behaupten und propagieren seit den 1950er Jahren, dass künftig Maschinen entworfen und gebaut werden können, die intelligent sein und besser denken werden als Menschen. Das ist glücklicherweise keine Mehrheitsmeinung in der Künstlichen Intelligenz. In dem Fachgebiet sind in den letzten Jahrzehnten sehr beachtliche Erkenntnisse gewonnen und viele bemerkenswerte Resultate erzielt worden. Aber alles, was hervorgebracht wurde, ist nach meinem Verständnis vergleichbar mit dem, was an wissenschaftlichen Fortschritten in der Informatik insgesamt erreicht wurde. Soweit es um »kognitive« Fähigkeiten geht, die von Maschinen und ihren Programmsystemen erbracht werden, handelt es sich um äußerst eng begrenzte Phänomene, die mit der Intelligenz von Lebewesen wenig bis gar nichts zu tun haben. Es sind – zugegebenermaßen teils sehr eindrucksvolle – technische Imitationen von Einzelleistungen, die bei Mensch und Tier Intelligenz erfordern. Aber wenn eine Maschine bellt, ist sie noch lange kein Hund.

Intelligenz, Denkvermögen, Gefühle, Moral, ethisches Verhalten und Gewissen sind vor allem auch deshalb nicht im Handumdrehen oder in wenigen Jahren als Programmsysteme realisierbar, wenn überhaupt je, weil niemand wirklich weiß, worum es sich dabei tatsächlich handelt und wie diese kognitiven Fähigkeiten vollständig, korrekt und algorithmisch machbar charakterisiert werden können. Auf kurzfristige Lösungen zu hoffen, ist aus meiner Sicht reine Torheit.

Hans-Jörg Kreowski ist Leiter der Forschungsgruppe Theoretische Informatik an der Universität Bremen. Er ist Gründungsmitglied des Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FifF) e.V. und war von 2003 bis 2009 dessen Vorsitzender. Dieser Artikel wurde für Heft 4-2011 der Zeitschrift »FifF-Kommunikation« geschrieben. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Frieden durch Recht?

Frieden durch Recht?

Die Bedeutung von Facts und Fakes

von Peter Becker

Nach der UN-Charta ist militärische Gewalt nur rechtmäßig, wenn der Sicherheitsrat sie erlaubt oder wenn das Selbstverteidigungsrecht in Anspruch genommen wird. Aber es wird auch behauptet, eine »humanitäre Intervention« wie im Fall Jugoslawien sei rechtmäßige Gewaltausübung. Die Antwort auf die Frage, ob Gewalt rechtmäßig ist, hängt immer von den »Kriegsgründen« ab, vom Sachverhalt. Auf diesem Feld wird viel gelogen – „im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“. Der Autor beleuchtet die Fakten, mit denen einige Kriege seit 1999 gerechtfertigt wurden, und plädiert für die Etablierung eines Factfinding-Instruments der Zivilgesellschaft.

Die deutsche IALANA1 vertritt die Rechtsauffassung, dass der Bürger aus dem Grundgesetz das Recht ableiten kann, von der Regierung die Unterlassung einer rechtswidrigen Kriegsführung oder der Unterstützung fremder Kriegsführung von deutschem Boden zu verlangen. Die Grundlage eines solchen Anspruchs ist Art. 25(1) Grundgesetz (GG): „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes.“ Ein Kernpunkt dieser allgemeinen Regeln ist das Gewaltverbot in Art. 2(4) der UN-Charta: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Diese allgemeinen Regeln „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für den Bewohner des Bundesgebiets“, heißt es in Art. 25(2) GG. Diese Vorschrift gehört zum Altbestand des Grundgesetzes. Das Mitglied des Parlamentarischen Rates Carlo Schmid hatte sich für diese Bestimmung mit dem Argument eingesetzt, es sei nach den Erfahrungen des Dritten Reiches erforderlich, dass der einzelne Bürger das Recht habe, sich gegen eine rechtswidrige Kriegsführung zu wehren.2 Die herrschende Meinung in der Staatsrechtswissenschaft geht dahin, dass die Vorschrift dem Bürger in der Tat eine Klagebefugnis gegen die Bundesregierung gibt.

Aber wann ist das Gewaltverbot verletzt? Wer verübt rechtswidrige Gewalt? Wann liegt die – legale – Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 der UN-Charta vor?3 Die UN-Charta sieht nur zwei Möglichkeiten vor, einen rechtmäßigen Krieg zu führen: mit Ermächtigung des Sicherheitsrats (Art. 42) oder unter Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51). Sie müßten in jedem Antrag der Bundesregierung an den Bundestag, mit dem dessen Zustimmung zu einer »Friedensmission« unter Bundeswehrbeteiligung reklamiert wird, und in jedem Beschluß des Bundestags abgehandelt werden. Genauso wichtig: Wie ist die Faktenlage? Die letztere Frage soll im Folgenden anhand einiger Kriege der letzten Jahre beleuchtet werden.

Der Irakkrieg: Streben nach »regime change«

Eine relativ klare Faktenlage besteht beim Irakkrieg 2003. Der damalige US-Präsident George W. Bush strebte ein Mandat des Sicherheitsrats an – vergeblich. Die Kriegsgründe waren vorgetäuscht: Der Irak hatte auf sein Atomwaffenprogramm längst verzichtet; die Dokumente, mit denen US-Außenminister Powell versuchte, die Zustimmung des Sicherheitsrats zu erreichen, waren gefälscht. Der Krieg hatte ein trauriges Ergebnis: Hunderttausende starben, und bis heute wehren sich die Iraker gegen die Usurpatoren mit Selbstmordattentaten.4 Es ging auch nicht um die Etablierung einer Demokratie, „es ging um Öl“, so der ehemalige Chef der US-Notenbank Alan Greenspan in seinem 2007 erschienenen Buch »The age of turbulence: adventures in a new world«. Der Krieg war nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.6.2005 im Verfahren des Majors Pfaff völkerrechtswidrig, wie auf 33 Seiten des Urteilsumdrucks aufgezeigt wird.5

Der eigentliche Grund für den Krieg war das Streben nach einem »regime change«, aus strategischen Gründen und um leichter an das irakische Öl heranzukommen.

Der Krieg gegen Jugoslawien: »regime change«

Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 diente angeblich dem Schutz der albanischen Kosovaren vor Völkermord und Massenvertreibungen. Die aber gab eine genaue Untersuchung der Fakten nicht her, die der deutsche Brigadegeneral Heinz Loquai als Berichterstatter der OSZE 2003 in einem Buch nachzeichnete.6 Der »Hufeisenplan« des damaligen deutschen Verteidigungsministers Scharping: eine Fälschung. Das »Massaker von Raèak«: eine Inszenierung der albanischen Rebellengruppe UÇK. Der Bundestag wusste, worauf er sich einließ. Der grüne Staatssekretär Ludger Volmer hatte in der Debatte auf das fehlende Mandat des Sicherheitsrats hingewiesen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Josef Fischer rechtfertigten den Krieg unter Berufung auf die »responsibility to protect« als »humanitäre Intervention«.7 Aber: Die humanitäre Intervention ist eine Selbstmandatierung von Militärbündnissen, die das Gewaltverbot der Charta verletzt.8

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer (CDU), der als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE gut informiert war, machte denn auch ganz andere Gründe für den Krieg aus, nämlich das amerikanische Streben nach einem Regimewechsel und den Bau einer Luftwaffenbasis, Camp Bondsteel.9 Als Ergebnis entstand ein selbst ernannter Staat, mit einem Präsidenten, den ein Ermittler des Europarats für einen korrupten Organhändler hält, ein Staat so groß wie Hessen, dem der serbisch besiedelte Norden nicht angehören will. Die EU bemüht sich seit zehn Jahren mit Rechtsstaatsmissionen um die Etablierung einer Demokratie – Tendenz kritisch.

Auch hier war also der eigentliche Anlass des Krieges der Wunsch nach einem »regime change«.

Der Krieg gegen Afghanistan

Die USA stützten ihre Invasion in Afghanistan nach »9/11« auf das Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta. Aber es gibt „turmhohe Zweifel an der offiziellen Version zum Hergang von 9/11“, kommentierte Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung.10 Die „turmhohen Zweifel“ bezogen sich darauf, dass die USA den Anschlag vorab nicht gekannt und sich daran in keiner Weise beteiligt hätten.

Die Faktenlage zu 9/11 ist nach wie vor höchst umstritten. Die amerikanische Regierung hat – allerdings erst unter dem Druck der Opfer – die 9/11-Kommission eingesetzt, die in ihrem über 540 Seiten starken Bericht11 zu dem Ergebnis kam, die Anschläge seien wegen einer Serie von Fehlern unterschiedlicher staatlicher Stellen nicht verhindert worden.12 Die best belegten Gegenargumente hat Paul Schreyer13 zusammengetragen. Die – für diesen Aufsatz interessanteste – Veröffentlichung stammt von Marcus Klöckner,14 der die »Wahrheitsbewegung« der USA beschreibt, ihren Kampf um eine neue unabhängige Untersuchung, und das »Deutungsmonopol« der Medien, die die Kritiker als »Verschwörungstheoretiker« abtun. Allerdings ist auch die offizielle Darstellung eine Verschwörungstheorie.15 Im September fand in Toronto eine Konferenz statt, die sich an der Vorgehensweise bei einer forensischen Untersuchung orientierte und demnächst einen ausführlichen Bericht vorlegen wird.16

Die Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts erfordert spezifische Fakten und ist nur unter engen Grenzen zulässig, insbesondere nur „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (Art. 51(1) UN-Charta). Diese Maßnahmen legte der Sicherheitsrat nach 9/11 in mehreren Resolutionen fest. Damit konnten sich die USA nicht mehr auf das Selbstverteidigungsrecht berufen; seither wird der »Krieg gegen den Terror« mit seiner Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan ohne völkerrechtlich tragfähige Ermächtigung geführt.

Die Bundeswehr musste sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 200717 – einem Verfahren, mit dem die Fraktion Die LINKE im Bundestag die Verletzung des NATO-Vertrags durch das Mandat für die International Security Assistance Force (ISAF) gerügt hatte – aus OEF zurückziehen. Das Bundesverfassungsgericht hatte aufschlussreich formuliert, dass sich OEF auf das Selbstverteidigungsrecht „berufe“. Der darin zum Ausdruck gekommene Zweifel äußerte sich in dem Gebot, die Beteiligungen an OEF und ISAF müssten sauber voneinander getrennt werden; nur ISAF beruhe auf einem Mandat des Sicherheitsrates. Ergebnis: wohl sechs Jahre völkerrechtswidrige Beteiligung an OEF.

Mit 9/11 und den Folgen befasst sich insbesondere Bernd Greiner.18 Sein Fazit: 9/11 hat 2003 dem Konzept des »preemptive strike« in der neuen Sicherheitsstrategie der USA den Weg bereitet; dieses Konzept erfuhr mit der Irak-Invasion seinen ersten Anwendungsfall. Daraus ergibt sich: 9/11 führte nicht nur zum »regime change« in Afghanistan, sondern wurde auch genutzt für die Schaffung eines Instruments zur weltweiten Intervention.

Vorbereitung eines »regime change« im Iran

Und schließlich kann auch der jüngste Bericht der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zum iranischen Atomprogramm als Auftakt zu einem »regime change« verstanden werden.19 Kern der Botschaft ist, dass der Iran (weiter) an einem Atomwaffenprogramm arbeite. Dem müsse vorgebeugt werden. Eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates scheitert derzeit allerdings am Widerstand von Russland und China.

Der Christian Science Monitor, eine amerikanische Wochenzeitung, machte am 9.11.2011 darauf aufmerksam, dass sich der Iran-Bericht vor allem auf ein Informationspaket von mehr als tausend Seiten stützt, das der IAEO bereits im Jahr 2005 von einem US-Geheimdienst übergeben wurde. Die Informationen sollen aus einem Laptop stammen, den der Geheimdienst ein Jahr zuvor erhalten haben will. Bereits damals stieß die Glaubwürdigkeit der Dokumente auf Skepsis. Heute kommentiert Robert Kelley, ein US-amerikanischer Atomingenieur und ehemaliger IAEO-Inspektor, das Material sei „sehr dünn“. Er gehörte zu den Ersten, die 2005 die Daten sichteten. „Das sind fast alles alte Informationen; es ist ziemlich erschütternd, wie wenig Neues sie gebracht haben.“ Die IAEO hatte die Laptop-Informationen durch Daten aus zehn Mitgliedstaaten, aus Interviews auf drei Kontinenten und aus eigenen Nachforschungen im Iran, in Libyen, Pakistan und Russland ergänzt. Jedoch gibt die IAEO zu, dass sich die meisten ihrer veröffentlichten Hinweise auf atomwaffenbezogene Arbeiten im Iran beziehen, die – nach übereinstimmender Einschätzung aller US-Geheimdienste – im Jahr 2003 eingestellt worden waren. Der Iran „scheint nicht vom gleichen Drang nach der Entwicklung von Atomwaffen besessen zu sein wie Nordkorea. Belege dafür lassen sich in dem IAEO-Bericht ebenfalls nicht finden“, sagte Shannon Kile, Chef des Atomwaffenprojekts von SIPRI, dem internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm.20

Der Grund für den Tenor des jüngsten Iran-Berichts könnte in dem Führungswechsel bei der IAEO von dem Ägypter Mohamed ElBaradei zu dem Japaner Yukiya Amano liegen, der im Juli 2009 stattfand. Amano sagte nach den vom »Guardian« am 2.12.2010 veröffentlichten WikiLeaks-Depeschen dem US-Botschafter Glyn Davis am 16.9.2009 zu, dass er „bei allen wichtigen strategischen Entscheidungen fest an der Seite der USA stehe“, auch bei solchen, die den Iran betreffen. Nach Einschätzung von Journalisten wurde Amano im Sommer dieses Jahres von den USA unter Druck gesetzt, endlich einen schärferen IAEO-Bericht vorzulegen, der belegen soll, dass der Iran auch heute noch mit der Entwicklung von Atomwaffen beschäftigt sei. Solche Beweise allerdings liefert der Bericht nicht.

Das wirft einige Fragen auf, die ElBaradei schon im Frühjahr 2011 in einem SPIEGEL-Interview21 benannte. Er habe sich seinerzeit zugetraut, den Atomkonflikt zwischen Iran und der Weltgemeinschaft zu lösen. 2003 seien die Iraner bereit gewesen, aber die Regierung von US-Präsident George W. Bush habe nicht gewollt. Als Präsident Obama seine Hand ausstreckte, konnten die Iraner sie aufgrund innenpolitischer Machtkämpfe nicht ergreifen. Der SPIEGEL bemerkt dann, ElBaradei habe in seinen Memoiren beschrieben, wie er bei seinen Vermittlungsversuchen getäuscht wurde. ElBaradei antwortete: „Ich halte mich streng an die Fakten, und dazu gehört eben auch, dass Amerikaner und Europäer uns wichtige Papiere und Informationen vorenthielten. Denen ging es nicht um einen Kompromiss mit der Regierung in Teheran, sondern um einen Regimewechsel. Dafür war ihnen so ziemlich jedes Mittel recht.“ Auf die Bemerkung des SPIEGEL, dass die „armen Iraner […] völlig unschuldig“ waren, sagte ElBaradei, „nein, auch die haben getrickst. Aber der Westen hat nie versucht zu verstehen, dass es Iran vor allem um Anerkennung, um eine Behandlung auf Augenhöhe ging.“ 22

Das wirft verschiedene Fragen auf: Gehören zu den von Mohamed ElBaradei genannten „jeglichen Mitteln“ für einen Regimewechsel in Iran auch

der Einsatz des Computervirus Stuxnet, der in der iranischen Anreicherungsanlage Natanz schwere Schäden hinterlassen hat,

die Ermordung einiger ranghoher iranischer Atomwissenschaftler,

die Explosion auf einem Raketenstützpunkt der Revolutionären Garden Irans unweit von Teheran, bei der am 12.11.2011 mit General Hasan Moghaddam – neben 16 weiteren Angehörigen der Revolutionären Garden – eine Schlüsselperson des iranischen Raketenprogramms getötet wurde? Das Raketen-Testgelände sei dem Erdboden gleich gemacht worden, heißt es in der New York Times am 5.12.2011.

Am 2. Dezember 2011 drang von Afghanistan aus eine Drohne in den iranischen Luftraum ein, die abstürzte (oder nach iranischen Angaben abgeschossen wurde). Die Mission soll die Aufgabe gehabt haben, iranische Militärbewegungen auszuspähen. Die Inszenierungen haben ihre Wirkung: „Erster deutscher Politiker spricht von Militärschlag“, war vor kurzem in einer Tageszeitung zu lesen.23

Diese Indizien für einen geplanten »regime change« gewinnen vollständige Aussagekraft erst, wenn die Faktenlage zu den anderen Kriegen der letzten Jahre mit in den Blick genommen wird. Es kommt daher darauf an, diese Fakten in einer geordneten Form und mit entsprechender Bewertung zusammenzustellen.

Fact-Finding durch eine Konferenz der Zivilgesellschaft

Ein entscheidendes Manko der Friedensbewegung, aber auch der Bürger, die Kriege – und die deutsche Beteiligung daran – verhindern wollen, liegt aber just in der Beschaffung der Fakten. Es dauert häufig Jahre, bis die Datenlage einigermaßen abgesichert ist. Eine Schwäche der Bewegung liegt auch im Wettbewerb um die »beste Version«. Das spricht dafür, dass die Friedensbewegung ein neues Instrument zur Beschaffung einer verlässlichen Datenbasis bereitstellen muss. Man braucht ein schnelles Verfahren nach Art des Russell-Tribunals, aber ohne dessen verkürzte Herangehensweise. Die Zivilgesellschaft muss vielmehr vorgehen, wie das auch in einem Strafprozess geschieht: Sie muss – wie oben am Beispiel der Toronto-Konferenz geschildert – versuchen, Befürworter und Kritiker einer »Friedensmission« aus der Bundesregierung, aus dem Bundestag, aus der Friedensbewegung und aus den Friedensforschungsinstituten zusammenzubringen, um dann einen »Richterspruch« herbeizuführen.

Eine Schwierigkeit könnte darin liegen, dass die Befürworter und Kritiker nicht gerne an einem Prozess mit unbestimmtem Ausgang teilnehmen wollen. Deswegen müsste ein Medium der Zivilgesellschaft mit hohem Ansehen – das es sich vielleicht erst im Lauf der Zeit erarbeitet – geschaffen werden, um eine solche Tatsachenbasis herbeizuführen. Dabei könnten die deutschen Friedensforschungsinstitute, die ohnehin in ihrem jährlichen Friedensgutachten zusammenarbeiten, entscheidende Beiträge liefern. Ein erstes Beispiel könnte der IAEO-Bericht zum iranischen Atomprogramm mit seiner strategischen Funktion zur Herbeiführung eines – mit den Worten ElBaradeis – »regime change« sein. Wer ergreift die Initiative?

Anmerkungen

1) International Association of Lawyers Against Nuclear Arms.

2) Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 5. Sitzung am 18.11.1948, S.66. Vgl. auch 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, 15.10.1948. In: Eberhard Pikart und Wolfram Werner (1993): Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 5/I. Boppart am Rhein: Boldt. S.313 ff., S.321. Eingehend: Peter Becker: Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Kriegführung. In: Peter Becker, Reiner Braun, Dieter Deiseroth (Hrsg.) (2010): Frieden durch Recht? Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag (BWV), S.223-231.

3) Art. 51 der UN-Charta lautet: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

4) Die letzten im Irak stationierten US-Kampftruppen wurden zwar am 18. Dezember 2011 aus dem Irak abgezogen, die USA bleiben aber im Land präsent. Die nach US-Angaben größte US-Botschaft der Welt in Bagdad soll künftig 17.000 Diplomaten, Zivilisten und Sicherheitsmitarbeiter beherbergen. Interessant wäre zum Vergleich, über wieviele Mitarbeiter die Regierung des Irak verfügt. Wer regiert den Irak wirklich?

5) Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, S.77. Das Urteil betraf den Fall eines Majors der Bundeswehr, der sich unter Berufung auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit geweigert hatte, an logistischen Maßnahmen zur Unterstützung des Irakkrieges der USA teilzunehmen. Vgl. auch: Dietrich Murswiek (2003): Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht. In: NJW, 2003, S.1014 ff.

6) Heinz Loquai (2003): Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt. Baden-Baden: Nomos. Dazu auch: Peter Becker, a.a.O., S.233 ff. Die deutsche IALANA hat zahlreiche Auskünfte des Auswärtigen Amtes für verwaltungsgerichtliche Asylverfahren vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass keine humanitäre Katastrophe vorlag; vgl. Becker, a.a.O., S.235 mit weiteren Nachweisen.

7) Vgl. dazu: Norman Paech (2010): Responsibility to protect. In: Becker/Braun/Deiseroth, a.a.O., S.175.

8) Dieter Deiseroth: »Humanitäre Intervention« und Völkerrecht. In: NJW 1999, S.3084 ff, mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Reinhard Merkel (Hrsg.) (2000): Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Berlin: Suhrkamp. Bruno Simma (2000): Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung – Rechtliche Aspekte. In: Reinhard Merkel (Hrsg.), a.a.O., S.9 ff.

9) Vgl. dazu ein Interview mit Willy Wimmer: »Die Amerikaner empfinden sich als Nachfolger Roms«. Strategische Konfliktmuster auf dem Balkan. Blätter für Deutsche und Internationale Politik 9/2001, S.1054.

10) Franziska Augstein: Turmhohe Zweifel an der offiziellen Version. Süddeutsche Zeitung, 25.7.2011.

11) www.9-11commission.gov.

12) Vgl. dazu die kritische Untersuchung: Mathias Bröckers/Christian C. Walther (2011): 9/11 – Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes. Frankfurt am Main: Westend. Ferner: Andreas von Bülow (2011), Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste. Neue Erkenntnisse 10 Jahre danach. München: Piper.

13) Paul Schreyer (2011): Inside 9/11. Neue Fakten und Hintergründe zehn Jahre danach. Werder (Havel): Kai Homilius Verlag.

14) Marcus B. Klöckner (2011): 9/11 – Der Kampf um die Wahrheit. Hannover: Heise.

15) Siehe dazu Albert Fuchs: Zu 9/11 – nur politisch-mediale Konstruktionen? In: W&F Dossier 68, »9/11 und die Folgen«, November 2011.

16) The Toronto Hearings. The International Hearings on the Events of September 11, 2001; torontohearings.org.

17) BVerfGE 118, S.224, S.266 ff. (2007).

18) Bernd Greiner (2011): 9/11: Der Tag, die Angst, die Folgen. München: CH Beck.

19) Implementation of the NPT Safeguards Agreement and relevant provisions of Security Council resolutions in the Islamic Republic of Iran. Report by the IAEA Director General for the IAEA Board of Governors, 8 November 2011, IAEA document GOV/2011/65.

20) Vgl. Scott Peterson: Iran nuclear report – why it may not be a game-changer after all. In: Christian Science Monitor, 9.11.2011.

21) Erschienen bei Spiegel Online am 19.4.2011.

22) Siehe dazu ausführlich: Mohamed ElBaradei (2011): Wächter der Apokalypse. Im Kampf für eine Welt ohne Atomwaffen. Frankfurt: Campus.

23) Philipp Missfelder (CDU) plädiert „für mehr Härte im Streit mit dem Iran“. Berliner Zeitung vom 2.12.2011.

Peter Becker ist Rechtsanwalt und Co-Präsident der Internationalen IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms).

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Trennung von Recht und Politik?

von Michael Haid

Auf einer Staatenkonferenz wurde am 17. Juli 1998 das Römische Statut1 verabschiedet, das am 1. Juli 2002 in Kraft trat und auf dessen Basis im niederländischen Den Haag der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) eingerichtet wurde. In der deutschen Rechtswissenschaft wird der IStGH mehrheitlich als eine grundsätzlich positive Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts angesehen.2 Der folgende Beitrag stellt dieser positiven Bewertung die Probleme und Grenzen der beiden Rechtsinstitute gegenüber.

Das Römische Statut und der IStGH gelten als der Beginn einer dritten Dimension in der Entwicklung des internationalen Strafrechts nach den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio nach 1945 und den Strafgerichtshöfen (International Criminal Tribunals) für Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) seit 1993 bzw. 1994. Aus Sicht von Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des ICTY und des ICTR, geben bei der Entscheidung, eine Strafverfolgung einzuleiten, allein juristische Fragen den Ausschlag, die Politik würde und dürfe dabei keine Rolle spielen.3 Für den IStGH wäre dies zwar wünschenswert, die beobachtbare Praxis sieht allerdings anders aus. So heißt es etwa in einer Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): „Wo bzw. wann Völkerstrafrecht angewandt wird, bleibt dabei auch eine Frage von politischen Interessen. Mächtige Staaten sind prinzipiell nach wie vor wenig daran interessiert, eine unabhängige internationale Strafgerichtsbarkeit nachdrücklich zu unterstützen. Deshalb werden schwerste Verbrechen noch immer nicht überall mit der gleichen Konsequenz verfolgt.“ 4

Nachrangigkeit statt Weltrechtsprinzip

Die internationale Strafgerichtsbarkeit soll es ermöglichen, die Täter von besonders schweren, völkerrechtlich relevanten Verbrechen zu verfolgen. Dabei handelt es sich um internationale Normen, „die unmittelbar die Strafbarkeit natürlicher Personen wegen einer Verletzung international geschützter Rechtsgüter begründen“.5 Bislang war es – abgesehen von den oben erwähnten zeitlich und geographisch eingegrenzten Ausnahmen – beinahe unmöglich, Tatverdächtige von Völkermorden oder von Kriegsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die in der Regel von Regierungen und Militärbefehlshabern angeordneten oder geduldeten Straftaten werden selten im eigenen Staat angeklagt. Und die Strafverfolgungsbehörden anderer Staaten werden wegen Verbrechen, die außerhalb des eigenen Staatsgebiets stattfanden, unter Verweis auf die Souveränität des Staates, in dem das Verbrechen geschah, im Normalfall nicht oder nur eingeschränkt aktiv (Territorialitätsprinzip). Zudem genießen Tatverdächtige aufgrund ihrer Regierungszugehörigkeit häufig Immunität vor Strafverfolgung im Ausland.6

Die Auseinandersetzungen und verschiedenen Interessenlagen im Vorfeld und während der vierwöchigen Konferenz zum IStGH in Rom im Juni und Juli 1998 waren komplex und können hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Nach dem letztlich gefundenen Kompromiss im Römischen Statut ist der Gerichtshof nach der Präambel und nach Art. 1 nachrangig zuständig, d.h. er „ergänzt die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit“ (Subsidiaritätsprinzip). Dies gilt allerdings nur, wenn das Verbrechen auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates verübt wurde oder der Tatverdächtige die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates besitzt (Art. 12 Abs. 2). Das Weltrechtsprinzip, das idealerweise eine Gerichtsbarkeit universell begründen würde, genauso wie das passive Personalitätsprinzip, das eine Gerichtsbarkeit schon dann begründet, wenn die Tatopfer (und nicht allein die Täter) Staatsangehörige eines Vertragsstaates sind, konnten aus Gründen der politischen Interessenlage nicht durchgesetzt werden.7

Zentral für das Völkerstrafrecht sind folgende Neuerungen, die das Römische Statut enthält: Es normiert erstmalig eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit (Art. 25 Abs. 2) für militärische Befehlshaber und andere Vorgesetzte (Art. 28) ohne Rücksicht auf ihre amtliche Eigenschaft (Art. 27 Abs. 1) und unter Ausschluss möglicher Immunitäten (Art. 27 Abs. 2).

Wie bereits erwähnt, erstreckt sich der Geltungsbereich der Gerichtsbarkeit grundsätzlich nur auf solche Staaten, die dem Statut beigetreten sind und es ratifiziert oder die Gerichtsbarkeit des IStGH für einen bestimmten Anklagepunkt anerkannt haben . Zum 1. Januar 2012 hat der 119. Staat das Statut ratifiziert. Damit verdoppelte sich die Anzahl seiner Mitglieder innerhalb weniger als einem Jahrzehnt. 32 weitere Staaten haben das Statut unterschrieben, aber noch nicht ratifiziert (darunter Russland, Ägypten und der Iran). Davon haben drei Staaten (USA, Israel und der Sudan) – rechtlich zwar zulässig, aber äußerst ungewöhnlich – ihre Unterschriften wieder zurückgezogen. 43 andere Länder (darunter China, Indien, Irak, Indonesien, Saudi-Arabien oder die Türkei) wollen ihr politisches Handeln lieber nicht einer internationalen Strafgerichtsbarkeit aussetzen und lehnen einen Beitritt ab.8

Kooperationsabhängigkeit

Der Gerichtshof wurde als eine ständige Einrichtung gegründet (Präambel, Art. 1) und besitzt Völkerrechtspersönlichkeit (Art. 4 Abs. 1). Er ist also kein Organ der Vereinten Nationen oder nicht von ihnen abhängig, wie es die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien oder Ruanda sind. Der Gerichtshof kann internationale Verträge, etwa mit den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder Interpol abschließen. Sein politisches Organ ist die Versammlung der Vertragsstaaten, die aber gegenüber der Anklagebehörde und der Richterschaft nicht weisungsbefugt ist; diese sind in ihren Entscheidungen unabhängig.

Wie die bisherige Praxis der Anklagebehörde zeigt, konzentriert sie sich auf nur wenige hauptverantwortliche Täter. Davon verspricht sich ihr Chefankläger, Luis Moreno-Ocampo, ein abschreckendes Signal für andere potentielle Täter.9 Ob diese Vorgehensweise tatsächlich die erhoffte Wirkung zeitigt, wird sich empirisch schwerlich überprüfen lassen und ist umstritten.10

Diese Festlegung sind wohl eine Konzession an die politischen Realitäten, denn der IStGH verfügt über keine eigenen Ermittlungskompetenzen oder gar Zwangsmittel zur Durchsetzung von Untersuchungen in den betroffenen Ländern. Er ist dabei immer auf die Unterstützung und Kooperationswilligkeit der jeweiligen Staaten angewiesen.11 Diese Tatsache dürfte bei der Entscheidung, ob und gegen wen die Anklagebehörde tätig wird, erheblich mitbestimmend sein.

Ohnehin reicht die Kapazität des IStGH aus personellen und finanziellen Gründen zur Behandlung von mehr als den aktuellen Verfahren – gegen insgesamt 26 Personen – bereits heute kaum aus. Zusätzliche Überweisungen würden das Gericht schnell überfordern.12 Offiziell ist es für Vorkommnisse in deutlich mehr als der Hälfte aller Staaten zuständig, seine Kapazitäten sind mit 18 Richtern und etwas mehr als 500 Angestellten jedoch eher begrenzt.

Vielmehr wird erwartet, dass die Vertragsstaaten das im Statut formulierte Völkerstrafrecht in ihre nationale Strafrechtsordnung übernehmen; eigene wie fremde Staatsangehörige, denen Verbrechen nach diesem Statut vorgeworfen werden, sollen sich dann vor den nationalen Gerichten verantworten. Bis Mai 2010 hatten 56 Staaten das Völkerstrafrecht in ihre nationale Rechtsordnung integriert und 48 weitere hatten Entwürfe dazu vorgelegt.13 Allerdings ist zu erwarten, dass diese Idealvorstellung in der Praxis nur eingeschränkt Anwendung finden wird; vor allem in Fällen, in denen die Anwendung des Völkerstrafrechts mit politischen Interessen kollidieren würde. So führte Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch bereits am 30. Juni 2002 ein; das erste Verfahren wurde gegen zwei Ruander Anfang Mai 2011 vor dem OLG Stuttgart eröffnet. Ein ebensolches Engagement wurde hingegen bei den Verantwortlichen des Luftschlags von Kundus oder den Vorwürfen im Zusammenhang mit Abu Ghraib vermisst.

Die „schwersten Verbrechen“

Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur für Taten ausüben, die nach dem 1. Juli 2002 begangen wurden (Art. 11 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1) und nur für folgende, abschließend aufgeführte Tatbestände, die als „schwerste Verbrechen“ bezeichnet werden: Völkermord (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), Kriegsverbrechen (Art. 8) und das Verbrechen der Aggression (Art. 5 Abs. 1d und Abs. 2). Über die Übergangsklausel kann durch eine entsprechende Erklärung eines Vertragsstaates die Zuständigkeit des IStGH für Kriegsverbrechen um sieben Jahre nach Vertragsbeitritt hinausgeschoben werden (Art. 124). Diese Klausel schränkt die Verfolgbarkeit dieses Tatbestandes enorm ein.

Für den Tatbestand der Aggression konnte in Rom keine Einigung erzielt werden, schließlich stand in dieser Frage die Machtposition der fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder auf dem Spiel. Denn wenn der IStGH über das Recht zum Krieg urteilen kann, verlieren sie ihr Monopol, darüber zu entscheiden, ob ein Krieg rechtmäßig ist oder nicht. Erst auf der ersten Überprüfungskonferenz des Statuts in Kampala (Uganda) im Juni 2010 konnte eine Definition gefunden werden, die im Wesentlichen auf eine rechtsunverbindliche Definition einer Resolution der UN-Generalversammlung von 197414 zurückgeht und sich durch eine nahezu vollständige Konturlosigkeit auszeichnet. Dies dürfte den Grund für die letztendliche Einigung darstellen, denn allzu scharfe rechtliche Konturen des Aggressionsbegriffs könnten die militärischen Handlungsspielräume von interventionsfreudigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern spürbar einengen.15

Vielleicht illustriert der Erklärungsversuch des Kölner Völkerrechtlers Claus Kreß, deutsches Delegationsmitglied bei der Überprüfungskonferenz in Kampala, am besten, welche Spielräume für Interpretationen in der Definition stecken können. Nach seiner Aussage sollen nur „klar völkerrechtswidrige schwere staatliche Gewaltakte“ unter den Tatbestand der Aggression fallen. Den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und den US-Angriff auf den Irak 2003 allerdings nimmt er von diesem Tatbestand aus.16

Die Sonderrolle des UN-Sicherheitsrats

Die Zuständigkeit des IStGH kann nur in vier Fällen begründet werden: Ein Vertragsstaat kann für sein eigenes Gebiet eine Situation an das Gericht überweisen (Art. 13(a) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1; Art. 12 Abs. 1). Dies geschah in drei von sieben Fällen, in denen der IStGH bislang förmlich Untersuchungen aufgenommen hat (DR Kongo, Uganda, Republik Zentralafrika). Weiterhin kann ein Nicht-Vertragsstaat ad hoc die Zuständigkeit des Gerichts anerkennen (Art. 12 Abs. 3). Schließlich kann die Anklagebehörde nach Art. 13(c) in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 selbst tätig werden (Kenia, Elfenbeinküste). Diese Möglichkeit wurde geschaffen, um Untersuchungen nicht allein den Interessen der Vertragsstaaten oder des UN-Sicherheitsrats zu überlassen. Allerdings wird die Anklagebehörde immer nur dann tätig werden, wenn der Tatortstaat seine (selten zu erwartende) Kooperationswilligkeit signalisiert, denn „ohne die Kooperation des Tatortstaates [ist] das Statut nicht einmal das Papier wert, auf dem es geschrieben steht“.17

Schließlich kann der UN-Sicherheitsrat nach Art. 13(b) auf Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta eine Situation an den IStGH überweisen (Sudan/Darfur, Libyen). Ob die betreffenden Staaten den Vertrag unterzeichnet haben, ist dann nicht von Belang. Allerdings besitzt der UN-Sicherheitsrat die Möglichkeit, die Strafverfolgung nach eigenem Ermessen für einen Zeitraum von zwölf Monaten auszusetzen und diese Aussetzung unbegrenzt oft zu erneuern (Art. 16). Dadurch wird es möglich, die Überweisung bzw. Aussetzung der Strafverfolgung als politisches Druckmittel einzusetzen. Diese Sonderrolle des UN-Sicherheitsrats stellt einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten und damit in das Souveränitätsrecht der Nicht-Vertragsstaaten dar.

Auffällig ist, dass sämtliche Überweisungen für afrikanische Länder vorgenommen wurden. Insbesondere wird es als kontrovers angesehen, dass in diesen konfliktgeladenen Regionen Haftbefehle für die amtierenden Staatsführer Libyens und des Sudans erwirkt wurden. Als Reaktion beschloss die Afrikanische Union, die Haftbefehle nicht zu befolgen. Speziell die widersprüchliche Rolle des UN-Sicherheitsrats in Libyen lässt erkennen, dass die Überweisung an den IStGH getätigt wurde, um den Krieg der NATO mit zu legitimieren. Folgende Aussage des Göttinger Strafrechtsprofessors Kai Ambos legt die Einflussnahme politischer Interessen auf die internationale Strafgerichtsbarkeit offen: „Wir sind derzeit Zeugen eines einzigartigen Schauspiels diplomatischer Doppelzüngigkeit aus völkerstrafrechtlichen Zeiten. Die gleichen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die […] die Situation in Libyen an den […] IStGH überwiesen, führen nun […] offenbar Geheimverhandlungen mit dem Diktator. Ihm sollen ein gesichtswahrender Abgang und Immunität vor Strafverfolgung ermöglicht werden. Allein die Tatsache solcher Verhandlungen untergräbt die Autorität des IStGH – ja die der ganzen internationalen Strafjustiz – und macht den Gerichtshof zum Spielball von (westlichen) Großmachtinteressen. So scheinen all diejenigen Recht zu behalten, welche die normativ klare Trennung von Recht (IStGH) und Politik (UN-Sicherheitsrat) schon immer nur für eine Schimäre gehalten haben.“ 18

Abschließend ist zur Klarstellung hervorzuheben, dass das Römische Statut keinesfalls eine quasi polizeiliche Ermächtigung für gewaltsames Eingreifen in fremde Hoheitsgebiete bietet, um dort per Haftbefehl Gesuchte festzunehmen oder gar um unter dem Stichwort der »responsibility to protect« eine Militärintervention zu legitimieren. Die Präambel des Statuts ist in dieser Frage unmissverständlich: „in Bekräftigung […] des Grundsatzes, dass alle Staaten jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben, in diesem Zusammenhang nachdrücklich darauf hinweisend, dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen […]“.

Anmerkungen

1) Alle in diesem Betrag genannten Artikel beziehen sich auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs; un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html.

2) Vgl. z.B. Gerd Seidel und Carsten Stahn: Das Statut des Weltstrafgerichtshofs. Ein Überblick über Entstehung, Inhalt und Bedeutung. JURA, 21. Jahrgang (1999) Heft 1, S.14 ff.

3) »Wir müssen Justiz und Politik trennen«. Kriegsverbrechen vor Gericht: Carla Del Ponte zieht Bilanz. Interview in: Internationale Politik, März/April 2011, S.84 f.

4) Kirsten Janssen-Holldiek: Verhaften oder verhandeln. Der Internationale Strafgerichtshof und seine Auswirkungen auf die politischen Handlungsoptionen am Beispiel Libyen. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., DGAPanalyse Nr. 4, Oktober 2011, S.1.

5) Bardo Fassbender: Der Internationale Strafgerichtshof: Auf dem Weg zu einem »Weltinnenrecht«? Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), B 27-28, Juli 2002.

6) Ulrich Fastenrath: Der internationale Strafgerichtshof. JuS – Juristische Schulung, 39. Jahrgang (1999), Heft 7, S.632.

7) Ulrich Fastenrath, a.a.O., S.634.

8) en.wikipedia.org/wiki/International_Criminal _Court.

9) Chefankläger Luis Moreno Ocampo im Interview: »Wir verändern gerade die Welt«. FR Online, 17. Februar 2011.

10) Abschreckungswirkung von Den Haag für Despoten gering. Detlev Mehlis im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann. Deutschlandradio, 24. August 2011.

11) David Kaye: Who’s Afraid of the International Criminal Court? Foreign Affairs, May/June 2011.

12) Ruanda-Verbrechen vor deutschen Richtern – Prozessauftakt in Stuttgart gegen Ignace Murwanashyaka. Gespräch mit Kai Ambos. Deutschlandradio, 4. Mai 2011.

13) Kai Ambos: Internationales Strafrecht. München: CH Beck, 3. Aufl., 2011, §6 Rn. 36.

14) Definition of Aggression. Resolution der UN-Generalversammlung 3314 (XXIX), 14. Dezember 1974.

15) Kirsten Schmalenbach: Das Verbrechen der Aggression vor dem Internationalen Strafgerichtshof: Ein politischer Erfolg mit rechtlichen Untiefen. JuristenZeitung, 65. Jg., 2010, S.745.

16) Thomas Darnstädt: Eine andere Welt. Interview mit Claus Kreß. Der Spiegel, 25/2010, S.110.

17) Kai Ambos: Weltgericht mit Schwächen. AI-Journal, Juli 2005.

18) Kai Ambos: Geben und Nehmen. FAZ Online, 10. August 2011. Ein weiteres Problem, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, ist der Konflikt zwischen einer Opfervermeidung einerseits und einer Strafverfolgung andererseits. So habe die Ausstellung des Haftbefehls in Libyen bei Gaddafi, mangels einer abnehmenden Chance, frei vor Strafverfolgung ins Exil gehen zu können, seine Bereitschaft gestärkt, den Krieg mit der NATO unter Inkaufnahme weiterer (vermeidbarer) Opfer fortzuführen. George Friedman: Libya and the Problem with The Hague. Stratfor Geopolitical Weekly, July 11, 2011. Vgl. auch Kirsten Janssen-Holdiek, a.a.O.

Michael Haid ist Politikwissenschaftler und studiert z.Z. an der Universität Tübingen Jura.

Ruinenfeld der Machtpolitik

Ruinenfeld der Machtpolitik

IGH-Gutachten zum Kosovo als Startschuss für neue Sezessionskriege

von Martin Hantke

Insbesondere seit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 ist der Status der Provinz hochgradig umstritten. Durch die offene Verknüpfung einer EU-Beitrittsperspektive mit der Anerkennung des Kosovo sieht sich die serbische Regierung einem extremen Druck ausgesetzt, ihre Position zu ändern und die Abspaltung als rechtskonform anzuerkennen. Auch die Mehrheit der UN-Mitglieder, darunter fünf EU-Staaten, erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Vor diesem Hintergrund hatte die UN-Generalversammlung im Oktober 2008 auf Betreiben Serbiens in Resolution 63/31 den Internationalen Gerichtshof (IGH) mit der Klärung der folgenden Frage beauftragt: „Steht die einseitige Unabhängigkeitserklärung der vorläufigen Selbstverwaltungsinstitutionen Kosovos im Einklang mit dem Völkerrecht?“

Am 22. Juli 2010 veröffentlichte der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zum Kosovo,2 das von der Mehrzahl der NATO-Staaten, so auch von der deutschen Bundesregierung, als Bestätigung ihrer Anerkennungspolitik gewertet wurde: „Gericht bestätigt Unabhängigkeit des Kosovo“, so die Bundesregierung. „Der Internationale Gerichtshof hat die Trennung des Kosovo von Serbien als rechtens anerkannt.“ 3 Diese Interpretation des Gutachtens spiegelte sich auch in der überwiegenden Mehrzahl der damaligen Medienberichte wieder: „Weg frei für den Kosovo!“ (Die Presse); „Kosovo ist unabhängig“ (Frankfurter Rundschau); „Abspaltung im Einklang mit dem Völkerrecht“ (Baseler Zeitung); „Kosovo’s independence was legal“ (Business Week); „Unabhängigkeit des Kosovo bestätigt“ (Die Welt); „Den Haag nennt Unabhängigkeit des Kosovos rechtens“ (Die Zeit).

Wie im Folgenden gezeigt werden soll, werden mit solchen Interpretationen die Kernaussagen des Gutachtens jedoch massiv verfälscht. Der Beitrag konzentriert sich also weniger auf die juristische Bewertung als vielmehr auf die politische Vereinnahmung und Umdeutung des Gutachtens. Diese dient nicht nur zur Legitimierung der Sezessionspolitik auf dem Balkan, sondern im schlimmsten Fall wurde hierdurch sogar ein Präzedenzfall geschaffen, mit dem sich die Teilung weiterer Länder rechtfertigen lässt.

Kein Plazet für die Zerschlagung Jugoslawiens

Die von der Generalversammlung vorgelegte Frage beantworteten die IGH-Richter mit einer Mehrheit von zehn zu vier Stimmen folgendermaßen: „Der Gerichtshof ist zu dem Schluss gekommen, dass die Annahme der Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 weder das Völkerrecht noch die Resolution 1244 (1999) des UN-Sicherheitsrats […] verletzt hat […].“ 4 Damit scheint die Lage auf den ersten Blick in der Tat eindeutig. Allerdings bestätigten die Richter gleichzeitig, dass die im Anschluss an den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien verabschiedete Resolution 12445 des UN-Sicherheitsrates vom Juni 1999 ebenfalls weiter Gültigkeit besitzt.6 Zwingend gilt also auch weiterhin die in der Resolution enthaltene „Bekräftigung des Bekenntnisses aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien und der anderen Staaten der Region“.

Damit besagt das IGH-Gutachten, dass auch die auf Basis von Resolution 1244 ins Leben gerufenen Institutionen und die unter deren »Obhut« liegenden Organe die territoriale Integrität Jugoslawiens (bzw. seines Rechtsnachfolgers Serbiens) respektieren müssen. Dies gilt insbesondere für die durch Resolution 1244 ins Leben gerufene United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK), der die Verwaltung des Kosovo übertragen wurde und die bindende Verordnungen (regulations) erlassen konnte, denen faktisch Gesetzescharakter zukam. Mit Verordnung 2001/09 erließ die UNMIK eine Übergangsverfassung für den Kosovo, auf deren Grundlage »Provisorische Institutionen der Selbstverwaltung« (PISG) sowie die »Kosovarische Versammlung«, also quasi ein Parlament, geschaffen wurden. Allerdings blieb der UN-Sondergesandte als Chef der UNMIK weiterhin die »letzte Autorität« im Kosovo, der auch die kosovarischen Institutionen unterstanden.

Somit waren auch die kosovarischen Behörden eigentlich zwingend zur Einhaltung der Resolution 1244 verpflichtet: „Die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung wurden von der Provisorischen Verfassung ins Leben gerufen, die wiederum der übergeordneten Autorität des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs unterworfen war. […] Wäre der Internationale Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass es die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung waren, die die Unabhängigkeit erklärt haben, wäre es unmöglich gewesen, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen, als dass die PISG ihre Kompetenzen im Rahmen der Provisorischen Verfassung übertreten und damit auch internationales Recht verletzt hätten.“ 7

Dennoch waren es Abgeordnete der Kosovarischen Versammlung, die mit 109 Stimmen (elf serbisch stämmige Abgeordnete boykottierten die Abstimmung) mehrheitlich für die Unabhängigkeit votiert hatten. Wie konnte der IGH vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis gelangen, die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo stelle keine Verletzung des Völkerrechts oder der Resolution 1244 dar? Die Antwort lautet: Indem die IGH-Richter die Auffassung vertraten, die Mitglieder des kosovarischen Parlaments hätten die Unabhängigkeitserklärung nicht in dieser Funktion angefertigt, sondern vielmehr „in ihrer Funktion als Repräsentanten der Bevölkerung des Kosovo, außerhalb des Rahmens der Übergangsverwaltung“.8

Gegen diese Wertung protestierte unter anderem der IGH-Richter Peter Tomka in seiner abweichenden Erklärung und wies darauf hin, es gebe eine Vielzahl von Quellen, die unmissverständlich belegen würden, dass die Unterzeichner der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung als Mitglieder des kosovarischen Parlaments einzustufen seien. Er zitierte hierfür etwa die damalige Erklärung des Präsidenten der Kosovarischen Versammlung: „Ich gebe hiermit bekannt, dass mit »Ja-Stimmen« aller anwesenden Mitglieder die Mitglieder der Kosovarischen Versammlung heute, am 17. Februar 2008, ihren Willen und den Willen der Bevölkerung des Kosovo für einen demokratischen, unabhängigen und souveränen Staat zum Ausdruck gebracht haben.“ 9

Zusammenfassend wird im Gutachten also folgende Position vertreten: „Laut IGH gibt es keine Norm des internationalen Rechts, die einer Gruppe verbietet, die Unabhängigkeit zu erklären, was etwas anderes sei, als die Unabhängigkeit in Kraft zu setzen. […] Die Autoren der Unabhängigkeitserklärung seien Repräsentanten der kosovarischen Bevölkerung und nicht der PISG, die unter Verantwortung eines UN-Organs agiert. Somit liegt auch keine Verletzung von Resolution 1244 oder der Übergangsverfassung vor.“ 10 Selbst mit diesem juristischen Kniff lässt sich aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, der IGH habe die Sezession des Kosovo von Serbien bzw. die Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung für völkerrechtskonform erklärt: „Was nicht geklärt wurde: Ist das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden? […] Dabei lagen hier die wesentlichen Probleme des Falls. […] Darauf geht der IGH nicht ein.“ 11

Richterliche Arbeitsverweigerung

Allen Beteiligten war klar, dass die Resolution der Generalversammlung vom IGH Stellungnahmen zu einer Reihe hochgradig umstrittener Fragen erwartete:12 Inwieweit ist die Annahme bzw. Verabschiedung (im Gegensatz zur bloßen Ausrufung) der Unabhängigkeitserklärung durch die Kosovarische Versammlung mit geltendem Recht vereinbar? Ist mit der Annahme der Unabhängigkeitserklärung ein neuer Staat entstanden? Kann somit die Anerkennung des Kosovo durch zahlreiche Staaten als völkerrechtskonform gelten?

Doch ausgerechnet für diese Kernfragen erklärten sich die IGH-Richter mehrheitlich für nicht zuständig. In Absatz 51 des Gutachtens heißt es, „die Frage der Generalversammlung ist eindeutig formuliert; […] sie fragt, nach der Meinung des Gerichtshofes, ob die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. Sie fragt nicht nach den rechtlichen Konsequenzen dieser Erklärung. Insbesondere fragt sie nicht danach, ob der Kosovo damit zum selbständigen Staat geworden ist. Noch fragt sie nach Bestandskraft und Rechtwirksamkeit der Anerkennung des Kosovo durch jene Staaten, die den Kosovo anerkannt haben.“ Weiter heißt es dann in Absatz 56: „Die Generalversammlung hat gefragt, ob die Unabhängigkeitserklärung dem internationalen Recht entspricht. […] Für die Beantwortung der gestellten Frage ist es nicht notwendig, dass der Gerichtshof zur Frage Position bezieht, ob dem Kosovo ein positiver Rechtsanspruch gewährt wurde, seine Unabhängigkeit zu erklären, und erst recht nicht, ob das Völkerrecht Entitäten innerhalb eines Staates generell den Rechtsanspruch gewährt, sich von diesem zu lösen. Tatsächlich ist es ja durchaus möglich, dass eine bestimmte Handlung – wie eine einseitige Unabhängigkeitserklärung – nicht gegen internationales Recht verstößt, selbst wenn sie nicht notwendigerweise in Ausübung eines durch internationales Recht gewährten Rechtsanspruches erfolgt. Der Gerichtshof wurde zu seiner Meinung zum ersten Punkt befragt, nicht zum zweiten.“

Durch die Fokussierung auf den Akt der Ausrufung, anstatt auf die manifesten Folgen dieser Handlung in all ihren Facetten, drückten sich die IGH-Richter also um entscheidende Aspekte, was in der abweichenden Stellungnahme des Richters Abdul Koroma scharf kritisiert wurde. Er betonte, dass der IGH zwar das Recht habe, die Frage zu „reformulieren und zu interpretieren“, er aber „nicht frei darin ist, die ihm gestellte Frage durch seine eigene Frage zu substituieren und dann einfach auf diese zu antworten“.13 Koroma erinnerte zudem daran, dass „das internationale Recht einer ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppe keinen Rechtsanspruch gewährt, sich ohne das Einvernehmen des Staates, zu dem sie gehört, von diesem abzuspalten, indem sie einfach erklärt, dies sei ihr Wille“. Er verwies zudem auf die Gefahr, dass hier ein sehr gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden sein könnte, der es jeder ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppe außerhalb des Kontexts der Entkolonisierung erlaube, ihre Unabhängigkeit zu erklären.

Eine neue Ära der Sezessionskriege?

Der Fall Kosovo ist u.a. deshalb so brisant, weil hier zum ersten Mal seit 1945 Grenzen in Europa gewaltsam und einseitig verändert wurden. Damit wurde einer der Grundsätze der UN-Charta (Artikel 2 Absatz 4) in gravierender Weise verletzt: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtet oder sonst mit den Zielen der vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die Instrumentalisierung von Minderheiten vor Beginn des Zweiten Weltkriegs war einer der Gründe dafür, dass die UN-Charta einer derartigen Praxis einen Riegel vorschieben sollte. 1945 waren die Zerschlagung der Tschechoslowakei und der vorgeschobene Kriegsgrund (Verfolgung deutscher Minderheiten in Polen) noch in frischer Erinnerung. Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien und die nachträglichen Versuche zur Verrechtlichung der Abspaltung des Kosovo durch die Umdeutung des IGH-Gutachtens sind somit schwere Schläge gegen die UN-Charta und das Völkerrecht. Aus der Asservatenkammer des Imperialismus, so scheint es, werden die klassischen Instrumente des »Teile und Herrsche« wieder hervorgeholt. Auf Konferenzen im Herzen Europas wie in Rambouillet oder auf dem Petersberg wird über das Schicksal ganzer Völker entschieden; dort zieht man die neuen Grenzen ohne Lineal, sondern unter Berücksichtigung von Rohstoffreserven und Marktzugängen.

Wie gefährlich dieses fahrlässige Spiel mit dem Feuer ist, zeigt sich schon daran, dass es im Jahr 2010 fast 100 Konflikte gab, in denen Sezessions- und Anerkennungsfragen eine entscheidende Rolle spielten.14 Vor diesem Hintergrund pochen die NATO-Staaten darauf, im Alleingang entscheiden zu können, wer das »Recht« auf eine Sezession erhält. So werden die Sezessionsansprüche der Serben und Kroaten in Bosnien, der Serben in Kroatien, der Armenier in Nagorni-Karabach sowie der Südosseten und Abchasen in Georgien schlicht für illegitim erklärt. Andererseits wird die Aufteilung anderer Länder mittlerweile in bis dato kaum gekannter Offenheit eingefordert. Als nächster Kandidat für eine westlich orchestrierte Abspaltung kam nach dem Kosovo der Südsudan an die Reihe, der sich am 9. Januar 2011 für die Sezession vom Norden aussprach. Dabei soll es sich aber, zumindest nach den Vorstellungen von Charles Tannock, ehemaliger Koordinator der konservativen EVP-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments, lediglich um den ersten Akt bei der Neuziehung afrikanischer Grenzen handeln: „Ein unabhängiger Südsudan würde den Westen zwingen, sich mit der etablierten Orthodoxie bezüglich Afrikas auseinanderzusetzen, besonders mit der Überzeugung, dass Länder wie Somalia und Nigeria als Ganzes stabiler seien, als sie es nach Aufteilung in zwei oder mehr Teilstaaten wären.“ 15

Auch wenn versucht wurde, den Kosovo zur einzigartigen und einmaligen Ausnahme, zum Fall sui generis zu erklären, wurde hier dennoch ein Präzedenzfall geschaffen, der für weitere Sezessionen als Vorbild taugt – zumindest dann, wenn sie den geopolitischen oder geostrategischen Interessen der NATO-Staaten dienen. Dies scheint auch die Auffassung der die Bundesregierung beratenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu sein: „Die internationale Anerkennung separatistischer Gebiete ist dann sinnvoll, wenn dies dem deutschen und europäischen Interesse am Aufbau effektiver Staaten dient. Das Völkerrecht ist dabei keine Hürde, solange eine effektive Staatsqualität besteht.“ 16

Anmerkungen

1) 63. Tagung der UN-Generalversammlung: Antrag auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zu der Frage, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos im Einklang mit dem Völkerrecht steht. Resolution 63/3 vom 8.10.2008; un.org/Depts/german/gv-63/band1/ar63003.pdf.

2) International Court of Justice. Advisory Opinion of 22 July 2010 – Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Eespect of Kosovo (Request for Advisory Opinion); icj-cij.org/docket/files/141/15987.pdf.

3) Gericht bestätigt Unabhängigkeit Kosovo. Pressemitteilung der Bundesregierung vom 23.07.2010.

4) International Court of Justice 2010, Absatz 122.

5) UN-Sicherheitsrat: Resolution 1244 (1999) vom 10 June 1999; un.org/Depts/german/sr/sr_99/sr1244.pdf.

6) Vgl. zur Gültigkeit von Resolution 1244 im IGH-Gutachten: Michael Bothe: Kosovo – So What? The Holding of the International Court of Justice is not the Last Word on Kosovo’s Independence. In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.837-840, S.840.

7) Robert Muharremi: A Note on the ICJ Advisory Opinion on Kosovo. In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.867-880, S.872f.

8) International Court of Justice 2010, Absatz 109.

9) Transcript of the Special Plenary Session of the Assembly of Kosovo on the Declaration of Independence held on 17 February 2008. In: Written Contribution of the Republic of Kosovo, 17 April 2009, Ann. 2, pp. 238-245. Zitiert bei Declaration of Vice-President Tomka; icj-cij.org/docket/files/141/15989.pdf.

10) Muharremi 2010, S.880.

11) Przemyslaw Nick Roguski: Was der IGH wirklich entschied. Legal Tribune Online, 23.07.2010.

12) Vgl. zur Intention von Resolution 63/3: Robert Howse /Ruti Teitel: Delphic Dictum: How Has the ICJ Contributed to the Global Rule of Law by its Ruling on Kosovo? In: German Law Journal, Nr. 11/2010, S.841-846, S.841.

13) Dissenting Opinion of Judge Koroma;www.icj-cij.org/docket/files/141/15991.pdf.

14) Conflict Barometer 2010: hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ConflictBarometer_2010.pdf.

15) Charles Tannock: Independence or War, Project Syndicate, 03.01.2011; project-syndicate.org/commentary/tannock24/English.

16) Dennis M. Tull: Separatismus in Afrika – Die Sezession des Südsudan wird nicht Schule machen. SWP-Aktuell 6 (2011).

Martin Hantke ist Diplom-Politologe und Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen.

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Verhindert oder legitimiert das Recht die Anwendung von Gewalt?

von Lothar Brock

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich eine große Transformation des Völkerrechts: die Transformation vom Kriegs- zum Friedensrecht. Kern dieser Entwicklung war die sukzessive Einschränkung des von den Staaten zuvor in Anspruch genommenen Rechts auf die Anwendung von Gewalt nach eigenem Ermessen (liberum ius ad bellum). Seit Oktober 1945 spricht die Charta der Vereinten Nationen ein allgemeines Gewaltverbot aus, das durch die Institutionalisierung der kollektiven Friedenssicherung flankiert wird und außer friedenssichernden Maßnahmen der UN nur eine Ausnahme vorsieht: die Selbstverteidigung. Dennoch ist es seither immer wieder zur nicht vom Sicherheitsrat autorisierten Anwendung von Gewalt oder ihrer Androhung gekommen, und zwar in einem Umfang, dass dadurch das allgemeine Erscheinungsbild der internationalen Beziehungen geprägt wird. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Ist die Transformation des Völkerrechts in ihren Anfängen stecken geblieben? Oder könnte es sogar sein, dass das Friedensvölkerrecht neue Möglichkeiten zur Legitimation einseitiger Gewalt bietet (Brock 2010)?

Bekanntlich hat Immanuel Kant die Vertreter des klassischen Völkerrechts (Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf, Emer de Vattel u.a.m.) als „leidige Tröster“ verspottet, deren Lehren immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs herangezogen würden, aber nie zur Unterlassung eines Krieges führten. Dieser Spott richtet sich gegen die schrankenlose Ausweitung von Gründen, die für die Rechtfertigung von Kriegen in Anspruch genommen wurden. Kant ging es darum, diese Rechtfertigungspraxis offenzulegen als eine, die sich aus der Logik des Naturzustandes ergibt (Niesen/Eberl 2011, S.151).

Die zwischenzeitliche Neuorientierung des Völkerrechts, die mit der Aufgabe seiner neutralen Haltung gegenüber dem von den Staaten beanspruchten »ius ad bellum« begann (Bothe 2010, S.646) und in das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta mündete, kann als Versuch interpretiert werden, in zumindest teilweisem Einklang mit Kants Agenda (wenn auch nicht unbedingt mit seiner Argumentation) der von Kant gegeißelten schrankenlosen Rechtfertigungspraxis Einhalt zu gebieten. Diese Neuorientierung liest sich wie eine Fortschrittserzählung, die aber an immer neue Kriegserfahrungen anknüpft und sich damit selbst zu dementieren scheint. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, soll weiter unten erörtert werden. Hier soll zunächst auf den zentralen Aspekt des Völkerrechts als Friedensrecht eingegangen werden: das UN-System der kollektiven Friedenssicherung.

Den Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts vom Kriegs- zum Friedensrecht markieren die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Zwar trugen diese Konferenzen ihrerseits zur Ausdifferenzierung des »ius in bello« bei (Haager Recht). In Wechselwirkung mit der ersten internationalen Friedensbewegung, die sich in Europa und den USA formierte, stießen sie aber eine weit darüber hinaus reichende Entwicklung an, die im Völkerbund, dem Briand-Kellog-Pakt und schließlich in der Charta der Vereinten Nationen konkrete Gestalt annahm. Das Ergebnis, wie es sich in der UN-Charta darstellt, ist beachtlich. Die Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten sich, „in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen (Art. 2, Ziff. 4). Da man die Anwendung von Gewalt aber nicht ersatzlos aus dem Repertoire zulässigen Verhaltens streichen kann, wurden die einschlägigen Ideen und Konzepte der Haager Friedenskonferenzen und des Völkerbunds aufgegriffen und zu einem System der friedlichen Streitbeilegung und der kollektiven Friedenssicherung ausgebaut (Kapitel VI und VII UN-Charta).

Das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UN Charta wird diesem System zu- bzw. untergeordnet. Zwar spricht Art. 51 vom „naturgegebenen Recht“ auf Selbstverteidigung, er knüpft die Wahrnehmung dieses Rechts aber an strikte Bedingungen (Vorliegen eines bewaffneten Angriffs; Verteidigung nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Sicherheitsrat mit geeigneten Maßnahmen tätig wird). Aus seiner Stellung im System der Charta folgt, dass es sich bei Art. 51 nicht um eine Bestimmung handelt, die ein Gegengewicht zur kollektiven Friedenssicherung schaffen soll, vielmehr soll deren Funktionsfähigkeit durch die Zulässigkeit der vorläufigen Gegenwehr eines Angegriffenen erhöht werden. Ähnlich wie die Notwehr (und Nothilfe) auf innerstaatlicher Ebene das Rechtssystem des Staates nicht unterminiert, sondern zur Geltung bringt, soll Art. 51 das System der kollektiven Friedenssicherung nicht unterlaufen, sondern in akuten Notsituationen stützen. Insofern kann man davon ausgehen, dass die UN-Charta keine Schlupflöcher für die eigenmächtige Anwendung von Gewalt lässt (O’Connell 2011, S.73).

Die Friedensregelungen der Charta sind durch entsprechende Resolutionen des Sicherheitsrates und der Generalversammlung bekräftigt und durch die Beschlüsse des Reformgipfels der Vereinten Nationen von 2005 erneut bestätigt worden. Der Internationale Gerichtshof (IGH, engl. International Court of Justice, ICJ) vertritt zudem die Einschätzung, dass eine restriktive Interpretation des Rechts auf Selbstverteidigung zum Völkergewohnheitsrecht zu zählen sei (Nicaragua vs. United States of America, ICJ Reports 1986, Ziffern 230-246). In diesem Sinne kann die Kernnorm des UN-Systems der kollektiven Friedenssicherung, das allgemeine Gewaltverbot, als unmittelbar geltendes Recht betrachtet werden (ius cogens), das alle Staaten bindet, und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglied der Vereinten Nationen sind bzw. den Briand-Kellog-Pakt ratifiziert haben (Geltung »erga omnes«). Die IGH-Entscheidung verweist zugleich darauf, dass der Umgang mit dieser Norm der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Das erfolgt zwar weitgehend ohne Sanktionsmöglichkeiten, mit den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg (1945-49) und Tokio (1946-48) sowie der Einrichtung von Sondertribunalen zu den Konflikten auf dem Balkan (seit 1993) und schließlich der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (2003) formiert sich aber ein internationales Strafrecht, das einzelne Personen für ihr Verhalten in kollektiven Auseinandersetzungen zur Verantwortung ziehen kann.

Das Recht als Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt

Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts erhöht jedoch seine Interpretationsbedürftigkeit. Das zeigt der schillernde Umgang mit dem Interventionsverbot in Theorie und Praxis.

Das Interventionsverbot gehört zu den Kern-Normen der UN-Charta (Art. 2, Ziff. 7). Es leitete seinen Stellenwert zunächst aus den post-kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd sowie aus dem Ost-West-Konflikt ab. Im Nord-Süd-Zusammenhang konnte ihm eine emanzipatorische, im Ost-West-Verhältnis eine friedenssichernde Funktion zugeschrieben werden. Indes verbarg sich hinter dem emanzipatorischen Anspruch in vielen Fällen die Neigung, Befreiung und Selbstbestimmung möglichst kostengünstig in ein System der Selbstbereicherung zu überführen. Und im Rahmen des Ost-West-Konflikts diente es der Legitimation einer Interventionspraxis, die die jeweiligen hegemonialen Räume gegeneinander abschirmte. Zwar hatten die USA bei Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten einer besonders weitreichenden Form des Interventionsverbots zugestimmt. Aber gerade das bot ihnen die Möglichkeit, ihr Eingreifen in die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Lateinamerika und der Karibik als Abwehr der Einmischung des internationalen Kommunismus zu konzipieren. Ähnlich verhielt es sich mit der hegemonialen Politik der Sowjetunion im »sozialistischen Weltsystem«, in dem Eingriffe der Sowjetunion als Abwehr westlicher Einmischung und Diversion gerechtfertigt wurden (Breschnew-Doktrin).

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde diese paradoxe Form einer auf das Interventionsverbot gestützten Interventionspolitik gegenstandslos. Stattdessen trat das Spannungsverhältnis zwischen der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Menschenrechte und dem Souveränitätsanspruch der Staaten in den Vordergrund der Interventionsdebatte, und zwar in Gestalt der »humanitären Intervention«. Über »humanitäre Intervention« war (anknüpfend an die historische Debatte des späten 19. Jahrhunderts) auch in den 1970er und 1980er Jahren schon viel gestritten worden. Dieser Streit gewann jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Dynamik. In den vorausgegangenen Debatten ging es vor allem um Ausnahmen vom Gewaltverbot oder dessen Neuinterpretation als ein Verbot, das sich nicht gegen den (notfalls gewaltsamen) Schutz von Menschenrechten richte (Téson 1988). Teilweise daran anknüpfend und zugleich darüber hinausgehend traten in den 1990er Jahren drei andere Ansätze zur Rechtfertigung unilateraler Gewalt zum Schutz der Menschenrechte in den Vordergrund: die Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum), die Förderung einer »good international citizenship« und die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung.

1. Die Wiederbelegung der Lehre vom gerechten Krieg sollte Kriterien für die Zulässigkeit kollektiver Gewaltanwendung auf internationaler Ebene bieten. Sie war nicht darauf gerichtet, den Sicherheitsrat als einzig rechtmäßige Entscheidungsinstanz auszuweisen. Im Gegenteil, der Sinn der Wiederbelebung der (historisch überholten) Lehre lag gerade darin, gewaltsames Handeln als Ersatzvornahme für ausbleibende Maßnahmen des Sicherheitsrates zu würdigen (Mayer 1999).

2. Die zentrale Annahme der »good international citizenship« war, dass sich auf Weltebene eine normativ integrierte »internationale Gesellschaft« herausgebildet habe bzw. herausbilde, in der einzelne Staaten oder Staatengruppen als Sachwalter der für die »internationale Gesellschaft« konstitutiven materiellen Normen fungieren könnten. Diese »solidaristische« Linie der »Englischen Schule« schloss von daher ebenfalls die Zulässigkeit eigenständiger militärischer Gewalt zum Schutz von Menschen in Konflikten nicht prinzipiell aus (Wheeler 2000).

3. Das wichtigste Projekt von fortdauernder Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Neudefinition von Souveränität als Verantwortung. Ein wichtiger Anstoß dazu kam vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali und seinem sudanesischen Berater Francis Deng. Seine Brisanz erlangte dieses normative Projekt dadurch, dass es auch für eine interventionistische Politik genutzt werden konnte, die sich nun nicht mehr auf Ausnahmen von der Regel der Nichtintervention berufen musste oder auf Zielkonflikte in der UN-Charta, sondern sich geradezu als Garantie einzelstaatlicher Souveränität (gegen deren Aushöhlung von innen) inszenieren konnte.

Offenbar treten in Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte weder das Gewalt- noch das Interventionsverbot als unüberwindliche Schranken der Gewaltanwendung in Erscheinung. Die einschlägigen Bestimmungen der UN-Charta sind folglich doch nicht ganz so wasserdicht, wie weiter oben behauptet wurde. Daran ändert auch die Schutzverantwortung nichts (s.u.). Aber die Möglichkeit, Interventions- und Gewaltverbot bei der Anwendung von Gewalt zu umschiffen, ist nur die eine Seite der Problematik. Ihre Verquickung mit der anderen wird im Folgenden angesprochen.

Zur Verschränkung von Gewaltlegitimation und Gewaltkritik

In dem oben erwähnten Zusammenhang schreibt Kant: „Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken lässt, […] ist es doch zu verwundern, dass das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können“ (Kant 1795/2011, S.26). Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Jeder politische Akteur steht unter Rechtfertigungsdruck (auch wenn er aufgrund seiner Macht irrtümlich glaubt, sich über alle Standards hinwegsetzen zu können). Das Völkerrecht bietet in diesem Sinne eine Arena für die allgegenwärtigen Rechtsfertigungspraktiken der internationalen Politik: Jeder Versuch, die Bedingungen zulässiger Gewalt zu definieren, um damit den willkürlichen Gewaltgebrauch einzuschränken, kann als normative Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden und auf diesem Wege zur Ausweitung des Gewaltgebrauchs beitragen, weil jede Regel bei Ihrer Anwendung interpretationsbedürftig ist und darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet, Ausnahmen von der Regel geltend zu machen.

Aber jede Nutzung des Rechts als Ressource der Rechtfertigung stellt immer auch eine Affirmation des Rechts dar (Fischer-Lescano/Liste 2005). Damit festigt die Rechtfertigungspraxis die Möglichkeiten ihrer Kritik (oder öffentlichkeitswirksamen Skandalisierung), die dann wiederum auf das politische Handeln zurückwirkt. Dabei dreht sich nicht alles notwendigerweise im Kreise, vielmehr handelt es sich um einen Kampf um das Recht, der genauso von bornierten Interessen wie von normativen Agenden befeuert wird, wobei sich beide wechselseitig durchdringen. Diese wechselseitige Durchdringung zeigt sich nirgends so deutlich wie im Kampf um die Einschränkung militärischer Handlungsfreiheit der Staaten. Hier geht es zum einen um funktionale Zusammenhänge (sowohl Einschränkung wie Aufrechterhaltung von Handlungsfreiheit als Eigeninteresse), zum andern um normative Dynamiken (Selbstbindung an das Recht und Recht als Fremdbestimmung).

Unter diesen Gesichtspunkten ist das Völkerrecht selbst Teil der Schlachten, die es regulieren und (zugunsten einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen) transzendieren soll. Das zeigt sich an den weiterhin nicht abgeschlossenen Bemühungen, das Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsschutz und Interventionsverbot mit Hilfe des Konzepts der Schutzverantwortung aufzulösen. Die von Kanada einberufene International Commission on Intervention and State Sovereignty sucht eine Lösung darin, dieses Spannungsverhältnis kleinzuarbeiten. Zum einen entwirft sie in ihrem Bericht von 2001 eine Stufenleiter von Zuständigkeiten (UN-Sicherheitsrat, UN-Generalversammlung, Regionalorganisationen), die den Einzelstaat bestenfalls als vierte Instanz und damit die unilaterale Intervention als unwahrscheinlichsten Fall erscheinen lässt. Zum andern wurde das Problem der militärischen Intervention durch die Ausdifferenzierung der Schutzverantwortung in die »responsibility to prevent«, »to react« und »to rebuild« relativiert (ICISS 2001).

Die Lösung des UN-Weltgipfels von 2005 bestand darin, die Schutzverantwortung (im Wege der erschöpfenden Aufzählung) auf vier Tatbestände zu begrenzen (Schutz vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und die Interventionsproblematik durch drei Spezifizierungen der Schutzverantwortung zu entschärfen: Zum einen liegt die Schutzverantwortung bei jeder Regierung. Zum zweiten hat die internationale Gemeinschaft in erster Linie die Pflicht, die betroffenen Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Zum dritten handelt die internationale Gemeinschaft in Gestalt des UN-Sicherheitsrates, wenn die betroffene Regierung ihrer Verantwortung nicht nachkommen kann oder will. Aber auch diese Regelung rief noch Misstrauen bei den potentiell betroffenen Staaten hervor – offenbar zu Recht; denn es bestand immer noch die Möglichkeit, die Beschlüsse von 2005 als eine Bekräftigung der Schutzverantwortung zu lesen, die vermeintlich umso mehr die Zulässigkeit unilateralen Handelns für den Fall bestätigte, dass der Sicherheitsrat sich als nicht handlungsfähig erweise (Bannon 2006).

Aber selbst wenn sich handlungsfähige Staaten in Zukunft strikt an Entscheidungen des Sicherheitsrates hielten, bliebe das Problem, dass der Sicherheitsrat über keine eigenen Eingreifkapazitäten verfügt, es also bei der seit dem zweiten Golfkrieg 1990/91 geübten Praxis der Autorisierung der Einzelstaaten bliebe mit der möglichen Folge, dass sich Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung in Kriege der Einzelstaaten verwandeln. Das hat sich erneut bei der Libyen-Intervention gezeigt. Eine andere, tiefergehende Streitfrage betrifft das Verhältnis von Souveränität und Schutzverantwortung. Wie bereits angedeutet wird von einigen Befürwortern der humanitären Intervention argumentiert, die Souveränität eines Staates läge bei seinem Volk, folglich schütze eine humanitäre Intervention mit dem Volk zugleich die Souveränität (Reisman 2000). Dagegen steht das Argument, dass jeder von außen erfolgte Eingriff in das Verhältnis Staat-Gesellschaft gerade die Volkssouveränität in Frage stellt. Selbstbestimmung, so wird hier argumentiert, geht in Fremdbestimmung über, wenn sie zum Objekt externer Interessen gemacht wird (Cunliffe 2011, Maus 2008).

Folgerungen

Verhindert oder legitimiert das Recht also die Einhegung von Gewalt? In erster Linie bietet das Recht einen Referenzrahmen für den Kampf um die Rechtfertigung von Gewalt. Es dient dabei sowohl als Ressource für deren Legitimation als auch für ihre Kritik. Dabei gilt, dass jede Anwendung von Gewalt rechtfertigungsbedürftig ist – also derjenige, der Gewalt anwendet, unter stärkerem Rechtfertigungsdruck steht als derjenige, der auf Gewalt verzichtet. Diese Ausgestaltung der „Rechtfertigungsverhältnisse“ (Forst 2011) hat sich auf internationaler Ebene als Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht vollzogen, wird durch die Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben und durch die internationale Rechtsprechung bestätigt. Insofern wird die Fortschrittserzählung des Völkerrechts durch die Praxis der Gewaltanwendung nicht dementiert und wäre die dem Text vorangestellte Frage dahingehend zu beantworten, dass die politischen Kosten für einzelstaatliche Gewaltanwendung steigen.

Im Kontext der neuen Kriegsdiskurse ist nun aber die Frage aufgekommen, ob nicht eine erneute Transformation des Völkerrechts ansteht: vom Friedensrecht zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ansprüche (entitlements). Die »Subjektivierung« von Teilen des Völkerrechts, d.h. die Aufwertung des Individuums und seiner Lebensgemeinschaften als Subjekte des Völkerrechts (Fischer-Lescano/Hanschmann 2010), deutet in diese Richtung. Der UN-Sicherheitsrat baut in diesem Sinne den Schutz von Menschen schon routinemäßig in die von ihm beschlossenen Friedensmissionen ein. Aber er zögert, von der Bedrohung des internationalen Friedens (Art. 39 UN-Charta) zum Schutz von Menschen in Konflikten als Begründung von Zwangsmaßnahmen überzugehen. Dieses Zögern sollte man nicht unbedingt als Schwäche des UN-Systems auslegen, es liegt in der Erfahrung mit der bisherigen Praxis der Gewaltanwendung begründet – aber eben auch darin, dass die Staaten das Völkerrecht nutzen, um eine »heimliche Agenda« fortzuschreiben: nämlich den Schutz ihrer militärischen Handlungsfreiheit (Bothe 2010a, 69).

Zitierte Literatur

Bannon, Alicia (2006): Comment: The Responsibility to Protect: The UN World Summit and the Question of Unilateralism. In: The Yale Law Journal 115: S.1157-1164.

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Bothe, Michael (2010): Friedenssicherung und Kriegsrecht: Das rechtliche Verbot von Gewalt. In: Ders./Graf Vitzhum, Wolfgang (Hrsg.): Völkerrecht. Berlin: de Gruyter Recht, S.639-740.

Bothe, Michael (2010): An den Grenzen der Steuerungsfähigkeit des Rechts: Kann und soll es militärischer Gewalt Schranken setzen? In: Becker/Braun/Deiseroth, op.cit., S.63-70.

Brock, Lothar (2010): Frieden durch Recht. In: Becker/Braun/Deiseroth, S.15-34.

Cunliffe, Philip (Hrsg.) (2011): Critical Perspectives on the Responsibility to Protect. London/New York: Routledge.

Cunliffe, Philip (2011): A Dangerous Duty: Power, Paternalism and the Global »Duty of Care«. In: Cunliffe, op.cit. S.51-70.

Eberl, Oliver/Niesen, Peter (2011): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden und Auszüge aus der Rechtslehre -Kommentare. Frankfurt/Berlin: Suhrkamp.

Fischer-Lescano, Andreas/Hanschmann, Felix (2010): Subjektive Rechte und völkerrechtliches Gewaltverbot. In: Becker/Braun/Deiseroth, S.182-221.

Fischer-Lescano, Andreas/Liste, Philip (2005): Völkerrechtspolitik. In: Zeitschrift für internationale Beziehungen, 12:2, S.209-251.

Forst, Rainer (2011): Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Berlin: Suhrkamp.

Franck, Thomas (1992): The Emerging Right to Democratic Governance. In: American Journal of International Law 86: 1, S.46-91.

ICISS (International Commission on Intervention and State Sovereignty) (2001): The Responsibility to Protect. Ottawa: International Development Research Center.

Kant, Immanuel (1795/2011): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Eberl/Niesen, op.cit, S.11-66.

Liste, Philip (2011): Völkerrecht-Sprechen. Die Konstruktion demokratischer Völkerrechtspolitik in den USA und der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden: Nomos.

Mayer, Peter (1999): War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien moralisch gerechtfertigt? In: Zeitschrift für International Beziehungen 6:2, S.287-321.

Maus, Ingeborg (2008): Verfassung oder Vertrag? Zur Verrechtlichung globaler Politik. In: Herborth, Benjamin/Niesen, Peter (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt: Suhrkamp, S.350-382.

O’Connell, Mary Ellen (2011): Responsibility to Peace. A Critique of R2P. In: Cunliffe (Hrsg.), op.cit., S.71-83.

Tèson, Fernando (1988): Humanitarian Intervention. An Inquiry into Law and Morality. New York: Transnational Publishers.

Wheeler, Nicholas (2000): Saving Strangers. Humanitarian Intervention and International Society. Oxford: Oxford University Press.

Lothar Brock ist Gastprofessor an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt und arbeitet im Programmbereich »Herrschaft und gesellschaftlicher Frieden«.

An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«?

An der Schwelle zu einem »neuen Völkerrecht«?

von Manfred Mohr

Noch während des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien wurde die Frage aufgeworfen, ob sich das internationale rechtliche System nicht nunmehr radikal geändert hätte. Würde es mit und nach diesem Krieg nicht zu einem »neuen Völkerrecht« kommen, das bestehende UN-System der Friedenssicherung nicht durch eine neuartige NATO-Doktrin ersetzt werden?
Auf diese und ähnliche Fragen sind unterschiedliche Antworten gegeben worden. Dies geschah überwiegend in Form von (Tages-)Medienkommentaren; zunehmend aber auch in juristischen und politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.1 Eine Welle von Buchpublikationen ist im Anrollen. Der vorliegende Aufsatz zieht eine knapp gehaltene Zwischenbilanz.

Die Völkerrechtsordnung der Gegenwart hat sich seit 1945 auf der Grundlage der UN-Charta ausgeprägt. Ihre Prinzipien sind in der »Friendly Relations« -Deklaration von 1970 formuliert und authentisch interpretiert worden. Davor und danach ist dieses Rechtssystem in unzähligen Instrumenten – vom Vertrags- bis zum »soft law«-Charakter – näher ausgestaltet worden. Für Europa hat eine Regionalisierung auf der Basis dieser universellen Grundlagen stattgefunden.

Das Völkerrecht der Gegenwart existiert als Rechtsordnung, mit gewissen »konstitutionellen« und hierarchischen Strukturen, von denen nicht so ohne weiteres abgewichen werden kann. Es gibt zwingendes Recht (ius cogens), mit der Konsequenz, dass entgegenstehendes »einfaches« Recht nichtig ist. Hierzu rechnen vor allem jene in der 1970er Deklaration fixierten Völkerrechtsprinzipien – vom Gewaltverbot über die souveräne Gleichheit bis zum Prinzip der Vertragstreue. Dabei gilt der Grundsatz, dass diese Prinzipien als »Kette« wirken und nicht gegeneinander »ausgespielt« werden dürfen.

Neben reziproken haben sich Verpflichtungsstrukturen erga omnes (bezogen auf die Gemeinschaft der Normpartner) und entsprechender möglicher (Allgemein-)Betroffenheit herausgebildet. Beispielbereiche sind die Menschenrechte oder das Abrüstungsrecht, in gewisser Weise auch das Recht der Friedenssicherung oder das humanitäre Völkerrecht.

Entscheidend ist nicht – wie man in der aktuellen Kosovo-/Jugoslawien-Diskussion manchmal den Eindruck hat –, dass derartige besondere Strukturen und Konstruktionen existieren, sondern welchen normativen Gehalt man ihnen unterlegt. Und der muss zwischen den Staaten, bei ius cogens sogar von der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes, vereinbart werden.

Völkerrecht ist und bleibt Vereinbarungs- oder Konsensrecht; Formen (Quellen) sind das Vertrags- und das Gewohnheitsrecht. Über ihre generelle Akzeptanz haben auch »allgemeine Rechtsprinzipien« Eingang in die geltende Völkerrechtsordnung gefunden. Zu nennen sind hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit.

Alle drei können und sind zur Beurteilung des NATO-Luftkrieges gegen Jugoslawien herangezogen worden – überwiegend mit negativem Ergebnis. Dies geschah in Verbindung mit oder unabhängig von anderen rechtlichen Maßstäben. Für das offiziell von der NATO und der Bundesregierung erklärte Ziel der Abwendung bzw. Verhinderung einer humanitären Katastrophe waren die Luftoperationen von Anfang an ungeeignet. Sie waren in Anbetracht möglicher anderer (politischer, ökonomischer, ggf. auch militärischer) Sanktionierungs- und Druckmöglichkeiten auch nicht erforderlich.

Die »humanitäre Katastrophe« ist mit Beginn des NATO-Luftkrieges erst richtig ausgelöst worden – das Szenario war für alle »professionellen« politisch-militärischen PlanerInnen absolut vorhersehbar. In einem »Integrated Appeal« der – wohl über jede ideologische Einseitigkeit erhabenen – internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (v. 7.4.1999) heißt es: „Since 24 March, the impact in humanitarian terms has been devastating.“ Die deutsche IALANA hat mit einer Zusammenstellung von Lageberichten des Auswärtigen Amtes dokumentiert, für wie wenig bedrohlich die Lage im Kosovo noch bis ins Frühjahr 1999 hinein angesehen wurde.2 Im Kern wurde der Luftkrieg zum Erhalt der Glaubwürdigkeit der NATO begonnen und geführt. Das wird etwa in einem vom US-amerikanischen Außenministerium herausgegebenen »Fact sheet« (U.S. and NATO Objectives and Interests in Kosovo, v. 26.3.1999) eindeutig herausgestellt. Hieraus lässt sich aber keinerlei Legitimierung ableiten – im Gegenteil.

Und in jedem Fall waren Krieg und Kriegsführung unverhältnismäßig. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt beispielsweise – nach konkreter Aufzählung der angerichteten umfangreichen Schäden – auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Sie appelliert an die NATO, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu respektieren.3

Der Bezug auf allgemeine, in die internationale Rechtsordnung »transportierte« (Rechts-) Prinzipien muss aber auch begründet sein. Es muss sich tatsächlich um solche Grundsätze handeln, nicht aber um irgendwelche verschwommenen, dogmatischen Konstrukte wie den »Gemeinwohlzweck«, gekoppelt mit einem angeblichen Vorrang des Zwecks vor dem (versagt habenden) Mittel (hier: UN-System und Sicherheitsrat). Überzeugen kann auch nicht der Verweis auf allgemeine (letztlich naturrechtliche) Höherrangigkeit (Radbruch).4 Das alles hat mit der Realität der Völkerrechtsordnung der Gegenwart wenig zu tun.

Das UN-System der Friedenssicherung

Es ist grundlegender Bestandteil jener Ordnung. Eckpunkte sind das umfassende Gewaltverbot und das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung. Im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen bedürfen militärische Zwangsmaßnahmen der Anordnung oder zumindest der Autorisierung des UN-Sicherheitsrates. Kommt dies nicht zustande, fällt man zurück auf die Nothilfe-Ebene des Rechts auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff. Will und kann man die bestehende Völkerrechtsordnung nicht verlassen, muss man sich genau in diesem Rahmen bewegen.

Das System, in Gestalt des Agierens des UN-Sicherheitsrates, ist auch im Kosovo-Kontext operativ geworden. Es wurden Resolutionen – bis hin zur Verhängung eines Waffenembargos – gefasst (1160, 1199, 1203, 1239). Der Sicherheitsrat machte den Kosovo-Fall zu seiner eigenen Angelegenheit, womit ein Ausschluss der Kompetenz anderer (Regional-) Organisationen signalisiert wird; ab Res. 1239 erscheint sogar die Formel: „… remain actively seized…“.

Der Rat hat damit Handlungsfähigkeit bewiesen und ist durchaus seiner »primären Verantwortung« für die Wahrung des Weltfriedens gerecht geworden. Im engeren, eigentlichen Sinne (des Art. 24 UN-Charta) bedeutet diese Formel, dass dem Sicherheitsrat innerhalb des UN-Systems, gegenüber anderen UN-Organen, eine solche Hauptverantwortung (und entsprechende Primärkompetenz) zukommt, unbeschadet etwa des Uniting for Peace-Verfahrens, demzufolge sich ausnahmsweise auch die UN-Generalversammlung mit Maßnahmen der Friedenswahrung befassen kann. Hieran anknüpfend kann man ein Bekenntnis zu dieser Formel wie sie (bereits ab Nr. 1203) in den Kosovo-Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, aber auch in dem Neuen Strategischen Konzept der NATO (para. 15) enthalten ist als ein Bekenntnis zum UN-Friedenssicherungssystem insgesamt lesen (und nicht – nur – als Hintertürchen für die Annahme irgendwelcher Sekundär-Kompetenzen).

Durchbrochen und verlassen wurde dieses System durch den NATO-Luftkrieg. Der Krieg wurde vom Sicherheitsrat auch nicht – was z.T. noch als äußerste Möglichkeit angesehen wird5 – implizit bzw. nachträglich (post facto) autorisiert. In Res. 1239 v. 14.5.1999 deutet sich sogar eine Kritik des NATO-Vorgehens an ( 5: „… the humanitarian situation will continue to deteriorate in the absence of a political solution…“).

Immerhin gab es einen Resolutionsentwurf der – gestützt auf Kapitel VII und VIII (zu den Regionalorganisationen) der UN-Charta – die NATO-Aktionen verurteilt und deren Beendigung fordert. Aus seinem Scheitern (mit 3 zu 12 Stimmen) kann wohl nicht auf eine Akzeptanz dieser Aktionen durch die internationale Gemeinschaft geschlossen werden. Immerhin haben, wie Indien in der Debatte betonte, mit China, Russland und Indien 50% jener Gemeinschaft der NATO die Unterstützung versagt.

Eine Rückführung in das UN-System erfolgte mit Res. 1244 v. 10.6.1999, die aber keinerlei auch nur indirekten Hinweis auf die NATO-Luftoperation enthält. Es wird lediglich die Nichteinhaltung der früheren Sicherheitsratsresolutionen zum Kosovo bedauert. Eine Autorisierung (für die UN-Mitgliedsstaaten und die relevanten internationalen Organisationen) wurde im Hinblick auf die im Kosovo zu stationierenden internationalen Sicherheitskräfte gegeben. Im Unterschied zur Autorisierungsentscheidung im (zweiten) Golfkrieg, mit der die Vereinten Nationen alles aus der Hand gegeben hatten, erfolgt hier eine gewisse organisatorische Einbindung (vorläufige Zeitbeschränkung; Berichterstattung). Insoweit ist es unzutreffend, wenn US-Verteidigungsminister Cohen behauptet, es gäbe keinerlei UN-Kontrolle.6

Unter dem Strich hat das UN-System der Friedenssicherung, der UN-Sicherheitsrat, seine Unverzichtbarkeit demonstriert, und zwar in der Gestalt wie es gegenwärtig existiert, d.h. einschließlich des Veto-Prinzips, mit seiner (immer noch relevanten) Konsenswahrungsfunktion. Das hat – nach einer „holprigen (bumpy) Periode“ (Kofi Annan) – schließlich auch die NATO erkannt. Der UN-Generalsekretär war es auch, der noch während des NATO-Krieges einen eindringlichen offiziellen Friedensappell sowohl an die NATO als auch an die jugoslawische Seite richtete.7

Frieden und Menschenrechte

Auch diese Relation ist völkerrechtlich klar fixiert und bedarf aufgrund des Kosovo-Geschehens keiner grundlegenden Korrektur oder Veränderung. Der Einführung des Menschenrechtsthemas in das UN- und Völkerrechtssystem liegt die Erkenntnis eines elementaren Zusammenhangs zugrunde – der möglichen Friedensgefährdung durch schwere, systematische Menschenrechtsverletzungen. Es bedarf gar keiner Auslegung der UN-Charta, nach der neben den Frieden gleich-(oder gar höher-)rangig die Menschenrechte gesetzt werden. Vielmehr besteht von Anfang an zwischen beiden Zielen oder Rechtsgütern eine Verbindung, die sich im Zuge der Entwicklung des Völkerrechtssystems immer weiter ausgeprägt hat und in dem Satz gipfelt: Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit mehr.

Die Möglichkeit der gewaltsamen Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzungssituation setzt (allerdings) voraus, dass eine unmittelbar friedensbedrohende Dimension erreicht wurde. Dann aber kommt die Entscheidungs- und Handlungskompetenz des UN-Sicherheitsrates ins Spiel. Sie ist gerade hier unerlässlich, um eine klare, autoritative Position der internationalen Gemeinschaft zu markieren und Missbrauch auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund hat sich – zumindest begrifflich – eine gewisse Entwicklung in der Praxis des UN-Sicherheitsrates und damit der Staaten- und Völkerrechtspraxis vollzogen: Als friedensgefährdend und (folglich) kompetenzbegründend führt der Sicherheitsrat zunehmend auch Fälle menschlicher Tragödien, menschlichen Leids oder humanitärerer Not- und Katastrophenlagen an. Dahinter verbergen sich letztlich komplexe Zustände schwerer Menschenrechtsverletzungen, häufig gekoppelt mit Verletzungen des humanitären Völkerrechts, mit Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen.

Begonnen hat dieser Prozess mit der berühmten Resolution 688 (1991) zur »Kurdenfrage«. Hier wird die Friedensgefährdung noch über die Gefahr massiver Flüchtlingsströme sowie die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung entwickelt. Die Somalia-Resolution 794 (1992) nimmt als Einstieg dagegen nur noch die »menschliche Tragödie«. Auch die Kosovo-Resolutionen (1199, 1203, 1244) stellen für die Kompetenzbegründung des Sicherheitsrates (nach Kap. VII der UN-Charta) auf die drohende humanitäre Katastrophe, die ernste humanitäre Situation ab, da und soweit hierdurch eine Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gegeben ist. Gerade diese Verbindung oder Feststellung ist in NATO-Äußerungen nicht regelmäßig vorhanden. Was herausgestellt wird, sind häufig nur Leid und Not sowie das Erfordernis, dass man (irgend-)etwas dagegen tun müsse. Eine durchgängige Betonung der Friedensgefährdung hätte vielleicht auch mit größerem Nachdruck die Kompetenzfrage aufgeworfen und zu entsprechenden Schlussfolgerungen bzw. Begründungsversuchen führen müssen.

Oft ist nur generell von „Notstandsmaßnahmen“, dem „Schutz von Leib und Leben“, als entsprechenden „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ die Rede. Soweit es sich hier um Rechtfertigungsversuche für Militäraktionen wie die NATO-»Luftschläge« handelt, greifen diese aber im modernen Völkerrecht mit seinem umfassenden, gerade auch gegen Missbrauch gerichteten Gewaltverbot nicht mehr.

Etwas anderes galt im klassischen Vor-UN-Völkerrecht: Hier hatte die Doktrin der humanitären Intervention – der Befugnis für (zivilisierte) Staaten zu Militäraktionen zum Schutz eigener StaatsbürgerInnen im Ausland, bis hin zur Entsendung von Kriegsschiffen und militärischer Besetzung – ihren festen Platz. Heute kann, sollte und müsste dieses schon terminologisch fragwürdige Konzept ebensowenig wiederbelebt werden wie die spätscholastisch begründete »Bellum-Iustum-Lehre«.8 Weder allgemeine Werte-Konzepte (zur Abgrenzung von einem bloßen Interessenimpetus) sind angebracht oder erforderlich, noch das Betonen eines Extremfalls der alles außer Kraft setzt.9

Selbstbestimmungsrecht, Souveränität, Staatenverantwortlichkeit

Beim Selbstbestimmungsrecht handelt es sich ebenfalls um ein grundlegendes Prinzip oder Recht der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Verankert in der UN-Charta war es die Basis für den Dekolonialisierungsprozess und ist, auch darüber hinaus, das rechtliche Fundament jedweder Staatlichkeit wie der einzelnen Menschenrechte. Selbstbestimmungsrecht und souveräne Gleichheit bildeten ebenso den Ausgangspunkt für in der Tat neuartige Konzepte wie das von der »Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung« oder von der »Neuen Internationalen Informationsordnung«, die dann aber mangels universellen Konsenses (rechtlich) nicht zum Tragen kamen.10

Das Selbstbestimmungsrecht ist als so grundlegend angesehen worden, dass man hieraus – im Wege der Analogie – ein Selbstverteidigungsrecht des gewaltsam (von einer fremden oder der eigenen Regierung) unterdrückten Volkes abgeleitet hat. Dieses dogmatische Konzept (mit der Vorstellung einer »Dauer-Aggression«) ist besonders nachdrücklich von der »östlichen« Völkerrechtslehre vertreten worden.11 Es fanden und finden sich hierzu aber auch VertreterInnen der »westlichen Schule«.12

Im humanitären Völkerrecht gibt es einen Reflex in Gestalt der Behandlung des Befreiungskampfes der Völker als internationalen Konflikt (Art. 1 Abs. 4, I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen).

Das alles hat aber auf den Kosovo-Fall keine Anwendung gefunden. Man ging – zuletzt in Res. 1244 – stets von der Souveränität und territorialen Integrität Jugoslawiens aus. Den KosovarInnen (Kosovo-AlbanerInnen) wird weder eine Volks-Qualität noch das Recht auf (gewaltsame) Abtrennung zugestanden. Man bewegt sich letztlich im Bereich des Minderheitenschutzes oder bestenfalls einer gewissen föderalen Selbstbestimmung. Die Sicherheitsratsresolutionen (1160, 1199, 1244) sprechen von „substantial autonomy“ und „meaningful self-administration“. Die Konstruktion des Selbstverteidigungsrechts eines Volkes deutet allerdings (weiterhin) eine Potenz des modernen Völkerrechts an, wie man – einschließlich kollektiver Selbstverteidigung – gegen Regime vorgehen könnte die Völkermord begehen oder unterstützen.13

Zur Steuerung des Friedens-, Autonomie- und Verwaltungsprozesses ist eine UN-Missions-Struktur (UNMIK) mit weitreichenden Kompetenzen und Aufgaben eingesetzt worden. Unter Vermeidung der in Rambouillet angelegten militärischen Okkupation (durch die NATO) läuft das Ganze (dennoch) auf ein de-facto-Protektorat der UNO hinaus.

Die Etablierung eines sochen Regimes war sicherlich nur durch und über die UNO möglich. Unbeschadet der seitens Jugoslawien vorliegenden Zustimmung trägt das Vorgehen der UNO Züge der Sanktionierung, der Staatenverantwortlichkeit. Es hat aber – im Unterschied zum NATO-Luftkrieg – nicht den Charakter von Bestrafung oder etwa einer militärischen Repressalie. Beides ist nach gegenwärtigem Völkerrecht und seinem Friedens- und Souveränitätsverständnis ausgeschlossen.

Hiermit schwer zu vereinbaren ist auch der verkündete Politikgrundsatz, demzufolge Aufbauhilfe für Jugoslawien von einem Sturz Milosevics abhängig gemacht wird.14 Auch für das Institut der Staatenverantwortlichkeit, selbst im Hinblick auf schwerwiegende Rechtsfolgen für internationale Verbrechen, gilt, dass nach gegenwärtigem Völkerrecht nicht alles zulässig ist, eine gewisse Verfahrenseinbindung existiert. So bedürfen eben militärische Zwangsmaßnahmen gegen systematische Menschenrechtsverletzungen der Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat (der seinerseits an das Völkerrecht gebunden ist) und ist beispielsweise präventive Gewaltanwendung verboten.

Das humanitäre Völkerrecht

Gerade wenn es sich (angeblich) um Militäraktionen zur Menschenrechtsdurchsetzung handelt, sind die Regeln dieses in den Haager und Genfer Abkommen fixierten Rechts peinlich genau zu beachten.15 Es gilt uneingeschränkt, ohne jede Unterscheidung hinsichtlich Art und Ursprung des bewaffneten Konflikts. Selbst wenn man die Fragwürdigkeit des NATO-Luftkrieges nach geltendem UN-Friedensrecht außer Acht lässt, liegt hier ein entscheidender juristischer (und damit politisch neutraler) Kritikansatz.

Obwohl vorgeblich kein Krieg gegen Jugoslawien und dessen Volk, ist er dennoch bewusst gegen das Land geführt worden.16 Die Schäden und Opferzahlen im zivilen Bereich sind enorm. Bei der mit Stolz verkündeten Fehlerquote von 0,7%17 sind die betreffenden zivilen Ziele systematisch festgelegt und angegriffen worden. Das ist im 100. bzw. 50. Jahr der Annahme der ersten Haager bzw. der Genfer Abkommen von 1949 ungeheuerlich.

Man hat(te) den Eindruck, als wären die Grundregeln der Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen, des Verbots von Angriffen die Terror verbreiten sollen, der Nichtbeschädigung von medizinischen und kulturellen Einrichtungen, der Nichtbehinderung von Hilfsaktionen u.a.m. außer Kraft gesetzt worden. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Golfkriegführung. Damals sind immerhin, nach dem verheerenden Angriff auf den Zivilbunker in Bagdad, alle vergleichbaren Einrichtungen von den Ziellisten der US Air Force gestrichen worden.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)18 wie auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte haben sehr kritisch auf die großen zivilen Verluste hingewiesen und an die diesbezüglichen völkerrechtlichen Verpflichtungen der NATO-Staaten erinnert. Die Hochkommissarin hat z.B. die Angriffe auf Radio- und TV-Stationen ebenfalls als ernste Beeinträchtigungen des Rechts auf Informationsfreiheit gekennzeichnet.19

Schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts stellen Kriegsverbrechen dar. Sie können, neben Menschlichkeitsverbrechen, vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal (ICTY) zur Anklage gebracht werden. Gleiches gilt in noch umfassenderer Weise nach dem Statut des zu schaffenden Internationalen Strafgerichtshofes, der auch für Aggressionsverbrechen zuständig werden soll. Anklage gegen Milosevic ist bereits vor dem ICTY – noch während des Luftkrieges – erhoben worden. Gemäß den Nürnberger Prinzipien und den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit könnte er sich nicht auf Immunität als Staatsoberhaupt berufen.

Informationen über humanitäre Völkerrechtsverletzungen auf Seiten der NATO sind dem ICTY zugeleitet worden. Diese Frage wird auch bei den gerade anlaufenden »privaten« Tribunalaktivitäten (in USA und Europa) und in dem anhängenden (Hauptsache-)Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine große Rolle spielen, der auf Klage Jugoslawiens gegen etliche NATO-Staaten tätig geworden ist. Schon jetzt hat der IGH seine große Betroffenheit über die Gewaltanwendung in Jugoslawien erklärt, die sehr ernste Völkerrechtsfragen aufwirft und an die Verpflichtungen nach UN-Charta und Völkerrecht, einschließlich humanitärem Völkerrecht, erinnert.

Fazit

Kosovo-Konflikt und NATO-Krieg haben nicht zu einem neuen Völkerrecht geführt. Das bestehende Völkerrecht behält seine Gültigkeit und dient weiter als Maßstab für die Bewertung staatlichen, in Sonderheit militärischen Handelns. Besonders augenfällig wird dies anhand des tief verwurzelten humanitären Völkerrechts.

Der NATO-Luftkrieg war ein Übertretungs- und kein Präzedenzfall.20 Aus gutem Grund enthält das moderne Völkerrecht Regeln über Zulässigkeit und Verfahren militärischer Gewaltanwendung. Sie sind Ausdruck des erreichten zivilisatorischen Entwicklungsstandes und binden auch die NATO. Diese bekennt sich, in ihrem Gründungsvertrag und auch im Neuen Strategischen Konzept, zu solchen Grundsätzen wie dem der friedlichen Streitbeilegung. Ihre praktische Politik – »Friedensverhandlungen« unter permanenter Bombardierungsdrohung und der Luftkrieg selbst – läuft dem jedoch zuwider. Sie hat zu einer Verschärfung des Konflikts, weiteren unschuldigen Opfern, unermesslichen Schäden und der Verzögerung einer Konfliktlösung geführt.

Das alles ist jedoch kein Grund, die NATO oder ihren Gegenspieler Milosevic aus dem Völkerrecht zu entlassen. Es enthält ausreichende normative und prozeduale Rahmenbedingungen für die Bewältigung von Extremsituationen. Hierzu muss weder auf eigene Faust Krieg geführt, noch ein Katalog von Regeln für die »humanitäre Intervention« aufgestellt werden. Die Völkerrechtsordnung hat sich trotz Kalten Krieges und verkündeter »neuer Weltordnungen«, trotz krasser Interventions- und Verletzungsfälle (Grenada, Libyen usw.) gefestigt. Auch jetzt besteht kein Anlass, sie in Frage zu stellen, sondern die Notwendigkeit, sie zu stärken und weiterzuentwickeln.

Anmerkungen

1) Vgl. z.B. Simma, B., NATO, the UN and the Use of Force: Legal Aspects, in : European Journal of International Law, 10(1999)1, S. 1-23; Cassese, A., Ex iniura ius oritur: Are We Moving towards International Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community?, in: ebenda, S. 23-31; Ronzitti, N., Raids aerei contro la Repubblica federale di Iugoslavia e Carta delle Nazioni Unite, in: Rivista Di Diritto Internazionale, 82(1999)2, S. 476-482; Köck, H.F., Legalität der Anwendung militärischer Gewalt. Betrachtungen zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und seinen Grenzen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, 54(1999)2, S. 133-160; Rodman, P.W., The Fallout from Kosovo, in: Foreign Affairs, 78(1999)4, S. 45-51; Hintersteiniger, M., Der Kosovo-Konflikt und die Rennaissance der Bellum Iustum-Doktrin, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung, 1999/2, S. 24-42.

2) Vgl. (z.B.) IALANA-Presseinformation v. 22.4.1999: »Bundesregierung täuschte Parlament und Öffentlichkeit«.

3) Vgl. Report by the High Commissioner for Human Rights on the Situation of Human Rights in Kosovo, 31.5.1999, S. 12.

4) Vgl. (so) Köck, Anm. 1, S. 141, 154 bzw. 157f.

5) So zumindest die US-amerikanische Auffassung, vgl. Frowein, J.A., Der Schutz des Menschen ist zentral. Der Krieg im Kosovo und die völkerrechtliche Regelung der Gewaltanwendung, in: Neue Zürcher Zeitung, 17./18.7.1999; vgl. (so) auch Simma, Anm. 1, S. 10f.

6) (Vgl.) Defense Secretary Cohen Testifies on Lessons of Kosovo, 20.7.1999, S. 6.

7) Vgl. Schreiben v. 9.4.1999, S/1999/402.

8) Vgl. (einen solchen Versuch bei) Hintersteiniger, Anm. 1.

9) Vgl. (s.o.) nach einer ansonsten klaren und ausgewogenen Darstellung (»plötzlich«) Frowein, Anm. 5.

10) In Anbetracht vielfach beschworener Globalisierungsgefahren wäre es zumindest theoretisch einmal reizvoll, diese Konzepte und die betreffenden Prinzipien und Dokumente (erneut) zu analysieren und auf »Aktualität« zu überprüfen.

11) Vgl. Völkerrecht, Berlin 1988, S. 87.

12) Vgl. (auch schon in Anwendung auf die Kosovo-Situation) Fastenrath, U., Es wird ein Präzedenzfall geschaffen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1998; (bejahend) Köck, Anm. 1, S. 153.

13) Ein Beispielfall aus der jüngeren Geschichte ist das militärische Eingreifen Vietnams zum Sturz des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha.

14) Vgl. z.B. die Rede Clintons (»Wir haben im Kosovo das Richtige getan“), 11.6.1999, S. 4.

15) Vgl. ähnlich (überzeugend) auch Frowein, Anm. 5.

16) Vgl. etwa Cohen, Anm. 6, S. 3: „… to generate sufficient concerns about future damage to… his (Milosevic's) country…“.

17) Vgl. die Angaben von US-Luftwaffengeneral Ch. Wald (99,3% Treffergenauigkeit der eingesetzten Bomben und Raketen), Kosova-Info-Line, 10.5.1999, S.2.

18) Vgl. z.B. das IKRK- Statement v. 23.4.1999 (»The Balkan conflict and respect for International Humanitarian Law«), unter der Überschrift »Civilian victims of airstrikes«; Statement des IKRK-Präsidenten C. Sommaruga v. 6.4.1999 (»Humanitarian Issues Working Group of the Peace Implementation Council«).

19) Vgl. Anm. 3, S.7.

20) Als Einzel-(und kein Präzedenz-)Fall – des Handelns außerhalb des Rechts (aufgrund einer „Notlage“) sieht ihn auch Simma, Anm. 1, S. 22; Cassese, Anm. 1, S. 27ff., erkennt hier jedoch „nascend trends“ einer künftigen Völkerrechtsentwicklung und stellt einen entsprechenden Katalog von „Bedingungen“ auf.

Prof. Dr. Manfred Mohr, Berlin, ist Völkerrechtler und Mitglied des deutschen Vorstandes und des Academic Council der IALANA.

Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder

Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder

Deutsche Asylpraxis entspricht nicht dem Völkerrecht

von Heiko Kauffmann

Sie kommen z.B. aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus der Türkei, dem Libanon, Irak, aus dem Kosovo, Rumänien oder einem der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aus Angola, Iran oder Vietnam. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst oder Verfolgung, vor Hunger, ökologischen und ökonomischen Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen: Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind – die sogenannten U.M.F., wie es in der Behördensprache heißt: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Weltweit sind nach Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen sechs bis zehn Millionen Kinder allein auf der Flucht, und ihre Zahl wird jährlich größer. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl der Flüchtlingskinder geschätzt, die zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland leben.

Die überwiegende Zahl der alleinstehenden Kinder und Jugendlichen kommt im Zustand des Schocks, der Verzweiflung und des Stresses hierher. Sie leiden besonders an dem Trauma der Trennung, herausgerissen aus allem, was ihnen vertraut ist: der gewohnten Umgebung, der Obhut von Mutter und Vater, der Großfamilie, der Schule und Gemeinschaft und ihrem kulturellen und sozialen Umfeld. Viele von ihnen haben die Situation von Krieg, Bedrohung und Verfolgung erfahren.

Die UN-Kinderrechtskonvention Menschenrechte für Kinder

Die »Charta des Kindes« von 1959 enthielt den Satz: „Die Menschheit schuldet den Kindern das Beste, das sie zu geben hat.“ Dies war eine Willensbekundung, aber kein verbindliches Recht.

Um der massiven Verletzung von Lebenschancen und -perspektiven einer immer größeren Zahl von Kindern in vielen Ländern der Welt wirksam zu begegnen, verabschiedeten die Vereinten Nationen am 20. November 1989 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention). In ihr sind die Menschenrechte für Kinder in sehr präziser Weise formuliert. Dies gilt gerade auch für die Kinder und Gruppen von Kindern, die aufgrund besonderer Umstände und außerordentlicher Gefährdungen und Belastungen besonderer Schutz- und Hilfsmaßnahmen bedürfen. Zu ihnen zählen auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge.

Ihnen gilt die spezielle Regelung in Artikel 22 der Kinderrechtskonvention (KK), nach der jeder Vertragsstaat verpflichtet ist, „geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß sowohl Kinder, die erst die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehren, als auch jene, die bereits den Status nach völker- und innerstaatlichem Recht besitzen, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ erhalten.

Artikel 22 Absatz 2 KK erwähnt die Verpflichtung der hiesigen Behörden, Eltern oder andere Familienangehörige des Kindes ausfindig zu machen, bzw. dann, wenn dies nicht möglich ist, dem Kind denselben Schutz zu gewähren „wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“.

Wichtig für die Anwendung der KK auf die Personengruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist auch Artikel 1, wonach die in dem Übereinkommen verbürgten Rechte für alle Menschen gelten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Gemäß Artikel 3 Absatz 1 KK ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, „das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Aus Artikel 6 Absatz 2 KK folgt, daß die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes (gewährleisten)“. Den besonderen Respekt vor dem Willen und den Bedürfnissen des Kindes drückt Artikel 12 aus, in welchem einem dazu fähigen Kind zugesichert wird, seine eigene Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei äußern zu können und diese Meinung angemessen und entsprechend dem Alter und der Reife zu berücksichtigen.

Nach Artikel 20 KK hat ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird, einen Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Beistand.

Gemäß Artikel 37 KK ist eine Inhaftierung von Kindern – und damit auch Abschiebungshaft bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskindern – grundsätzlich zu vermeiden.

Wir heben diese Artikel besonders hervor, weil Deutschland denjenigen ausländischen Kindern, die ohne die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung deutschen Boden betreten, die Rechte aus der Kinderrechtskonvention vorenthalten möchte.

Die Kinderrechtskonvention wurde 1992 von der Bundesregierung ratifiziert – allerdings mit Vorbehalten: Danach soll keine Bestimmung der Kinderrechtskonvention dahin ausgelegt werden können, daß sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen. Mit anderen Worten: Das deutsche Ausländer- und Asylrecht soll durch die Konvention nicht berührt werden, obwohl das besonders restriktive deutsche Ausländer- und Asylrecht weit hinter den Maßgaben der Konvention zurückbleibt. Mit dieser Vorbehaltserklärung und der derzeitigen Praxis steht Deutschland im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention.

Seit der Ratifizierung der KK durch die Bundesregierung hat sich die Lage der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskinder durch die Verschärfung des Asylrechts und die Änderung des Grundgesetzes weiter verschlechtert: In Deutschland gilt nicht das »Kindeswohl« (the best interest of the child) gemäß der KK als maßgeblich und vorrangig, sondern das restriktive Ausländer- und Asylrecht.

Asyl- und Ausländerrecht werden der besonderen Schutzbedürftigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht.

Hierfür einige Beispiele aus der Praxis:

  • Die Drittstaaten-Regelung,

nach der jede Person, die aus einem sicheren Drittstaat kommt, an der Grenze zurückzuschicken ist, wird unterschiedslos auch auf unbegleitete Flüchtlingskinder angewandt. Ohne Prüfung, ob und welchen Bedarf an Betreuung, Beratung und Hilfe das Kind benötigt, kommt es immer wieder zu Zurückschiebungen von Kindern in Drittstaaten – ebenfalls ohne Prüfung und Garantie, daß dort die Inobhutnahme des Minderjährigen mit den erforderlichen Schutzmaßnahmen und Leistungen nach dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA) gesichert ist.

  • Das sogenannte Flughafenverfahren

ist ein Asyl-Schnellverfahren für alle Asylsuchenden, die über einen Flughafen einreisen wollen und kein gültiges Visum besitzen oder aus einem »sicheren« Herkunftsstaat kommen. Dieses Schnellverfahren wird seit dem Erlaß des Innenministers vom Juli 1994 auch auf Kinder und Jugendliche angewandt. Für die Dauer dieses Verfahrens sind die Flüchtlinge im Transit des Flughafengebäudes untergebracht, das sie nicht verlassen dürfen. Die Umstände der nicht kindgerechten Unterbringung, die Überforderung, Verunsicherung und Verängstigung zum Teil traumatisierter Kinder durch das Schnellverfahren und die Art der Befragung, sowie die Inobhutnahme durch nicht kompetente Personen, Grenzschutzbeamte, widerspricht diametral der Schutzbedürftigkeit und dem Kindeswohl.

  • Die Handlungsfähigkeit von Kindern im Asylverfahren.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren werden im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Ist das Verfahren schon für Erwachsene ohne Hilfe kaum durchschaubar und nicht zu bewältigen, unterstellt der Gesetzgeber Kindern, deren hinreichende Einsichts- und Artikulationsfähigkeit aufgrund vorangegangener Flucht- und Verlusterfahrungen gerade in dieser Situation anzuzweifeln ist, »Handlungsfähigkeit«. Dies bedeutet, daß sie im Asylverfahren keinen Vormund bekommen und zusammen mit Erwachsenen untergebracht werden.

  • Altersbestimmung.

Bei Minderjährigen, die weder einen Paß noch einen Identitätsnachweis besitzen, ist häufig die Frage des Alters ungeklärt. Gegen alle Grundsätze des Kinder- und Jugendschutzes praktizieren bundesdeutsche Behörden zweifelhafte und umstrittene Methoden zur Altersbestimmung, um nach Möglichkeit durch fiktive Altersfestsetzungen (auf 16 Jahre) die Kinder »asylmündig« zu machen. Die umstrittene Methode der Praxis des Zwangsröntgens (des Handwurzelknochens) wurde am Frankfurter Flughafen und in den Bundesländern weitgehend eingestellt, nachdem ein Gutachten von PRO ASYL und dem Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte diese Praxis als rechtswidrig und gesundheitsgefährdend nachwies, deren Anwendung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Bundesgrenzschutz, Polizei und Ausländerbehörden sind dazu übergegangen, eine Altersfeststellung nach bloßer »Inaugenscheinnahme« vorzunehmen, obwohl sie dazu weder geschult noch von ihrer Aufgabenstellung her geeignet sind.

  • Abschiebungshaft.

Immer wieder kommt es auch vor, daß Kinder und Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, denen der Aufenthalt in der Bundesrepublik aufgrund des Asyl- und Ausländerrechts verweigert wird, in Abschiebungshaft genommen werden. Diese Praxis und auch die nicht kindgerechte Unterbringung von Kindern unter haftähnlichen Bedingungen während des Flughafenverfahrens verstößt gegen das Gebot des besonderen Schutzes, der freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern vom Prinzip her ausschließt.

  • Einschränkungen der Entwicklungschancen von Kindern.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder, die den ausländer- und asylverfahrensrechtlichen Regelungen unterliegen, sind auch hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung und notwendiger psychosozialer Betreuung schlechter gestellt als deutsche Kinder und Jugendliche. So werden »asylmündige« Minderjährige zwischen 16 und 18 Jahren verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft mit erwachsenen Asylsuchenden zu wohnen. Die Bedingungen dort entsprechen in der Regel nicht den Anforderungen an eine kind- und jugendgerechte Entwicklung. Die Kinder werden hier wie Erwachsene behandelt, sie erhalten in der Regel keine besondere soziale Betreuung; die Förderung zum Erlernen der deutschen Sprache ist nicht vorgesehen; die besondere Schutzbedürftigkeit zum Beispiel junger Mädchen vor Belästigungen und Übergriffen bleibt genauso unberücksichtigt, wie die Notwendigkeit und der große Bedarf an psychosozialer Betreuung für viele Kinder und Jugendliche, die mit ihren traumatischen Erlebnissen, dem Verlust ihrer Heimat und allem Vertrauten sowie der Konfrontation mit der fremden Umgebung und auch der Erfahrung der Ablehnung nicht fertig werden. Auch in der Gesundheitsfürsorge und im Bereich von Erziehung und Bildung unterliegen minderjährige Flüchtlingskinder gravierenden Einschränkungen, die den Grundsatz des Kindeswohls verletzen.

Die Bundesrepublik hält ihre Verpflichtung zur Schutzgewährung gegenüber Flüchtlingskindern nicht ein. Das innerstaatliche deutsche Recht und die Rechtspraxis stehen nicht im Einklang mit den Bestimmungen der Kinderrechtskonvention. Über 90 Verbände und Institutionen, die sich im Rahmen der »National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland« zusammengeschlossen haben, fordern deshalb u.a.:

  • Uneingeschränkte Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und Rücknahme der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung abgegebenen Erklärung.
  • Aussetzung der »Drittstaaten-Regelung« und des »Flughafenasylverfahrens« für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
  • Kinderschutz bis zur Volljährigkeit.
  • Bestellung kompetenter Vormünder für alle Kinderflüchtlinge unverzüglich nach der Einreise. Vorrangige Bestellung von Einzel-, nicht Amtsvormündern.
  • Einrichtung von Clearingstellen in allen Bundesländern, in denen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sofort nach der Einreise Aufnahme und Unterkunft erhalten und in denen die persönlichen Lebensverhältnisse der Kinder (Identität, Herkunft, Verbleib der Eltern) und die Fluchtumstände unter kindgerechten Bedingungen ermittelt werden können. Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für die Dauer dieses Verfahrens.
  • Regelunterbringung von unbegleiteten Minderjährigen in Jugendhilfeeinrichtungen und nicht in Sammellagern zusammen mit Erwachsenen.
  • Verbot der Abschiebungshaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
  • Berücksichtigung der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen bei der Durchführung des Asylverfahrens.

Der Artikel ist ein Vorabdruck. Er erscheint auch in einer Broschüre von PRO ASYL zum »Tag der Flüchtlings 1998«. Weitere Informationen bei: »National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland« Geschäftsstelle: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, Haager Weg 44, 53127 Bonn, Tel.: 0228 / 91024-0, Fax: 0228 / 91024-66.

Heiko Kauffmann ist Sprecher von PRO ASYL

50 Jahre internationale Strafgerichtsbarkeit

50 Jahre internationale Strafgerichtsbarkeit

von Nürnberg über Den Haag zu einem Ständigen Internationalen Strafgerichtshof

von Bernhard Graefrath

Im Dezember 1996, 50 Jahre nach der Verkündung des Nürnberger Urteils, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, 1998 eine Staatenkonferenz einzuberufen, die das Statut für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (StIStGH) beraten und verabschieden soll.1 An dem Entwurf dieses Statuts wurde in der UNO seit 50 Jahre gearbeitet. Die Arbeiten begannen mit der Kodifizierung der Nürnberger Prinzipien 1948, wurden dann aber zeitweilig unterbrochen, bis man sich auf eine Definition der Aggression verständigen konnte. Insbesondere seit 1992 sind die Beratungen über ein Statut für einen StIStGH in der Völkerrechtskommission wieder intensiv betrieben worden. Beschleunigt durch die Einsetzung von ad hoc Gerichten durch den Sicherheitsrat für das ehemalige Jugoslawien2 und Ruanda3 haben sie nun zu einem Ergebnis geführt, von dem angenommen wird, daß es als Grundlage für eine Einigung auf einer Staatenkonferenz dienen kann.

Häufig wird Unverständnis, Enttäuschung und Kritik geäußert, daß ein halbes Jahrhundert nach Nürnberg noch immer kein StIStGH eingerichtet worden ist. Um jedoch zu ermessen, wie gewaltig der Schritt war, der in der Entwicklung des Völkerrechts durch Nürnberg gemacht wurde und welch Stellenwert in diesem Prozeß dem vorliegenden Entwurf für einen StIStGH zukommt, muß kurz an die Rechtslage vor Nürnberg erinnert werden.

Bis zum ersten Weltkrieg war eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen im Völkerrecht im Grunde unbekannt. Völkerrecht war als Recht zwischen den Staaten nur mit diesen als Subjekten befaßt. Nur Staaten konnten völkerrechtliche Regeln schaffen und verletzen. Das Völkerrecht kannte daher im Prinzip nur eine Verantwortlichkeit von Staaten für Völkerrechtsverletzungen. Personen, die in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten des Staates gehandelt hatten, konnten zwar eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Staates begründen, persönlich aber nicht haftbar gemacht werden.

Zur Zeit des I. Weltkrieges war weder die koloniale Unterdrückung eines Volkes noch das Führen eines Krieges eine Völkerrechtsverletzung. Das Recht zum Kriege wurde geradezu als Kriterium der Souveränität eines Staates betrachtet.4 Der Krieg galt in der herrschenden Lehre als notwendig, als sittliches Ideal und von „Gottes Weltordnung gewollt.“ 5 Zwar kannte man bereits Kriegsverbrechen, Verletzungen der Regeln, die während eines Krieges zwischen den Staaten zu beachten waren, aber die strafrechtliche Verfolgung solcher Verletzungen oblag ausschließlich dem Landesrecht.

Allerdings gab es in der Völkerrechtsliteratur, besonders der französischen, bereits Bemühungen, die für den Krieg Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen. Was von diesen Bemühungen nach zähen Verhandlungen 1919 Eingang in den Versailler-Vertrag fand, spiegelt den politischen Charakter der Strafforderungen deutlich wider. Der deutsche Kaiser sollte nach Artikel 227 des Versailler-Vertrages „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ gestellt werden. Es sollte ein Gerichtshof, bestehend aus fünf Richtern (USA, UK, Frankreich, Italien und Japan), eingesetzt werden, der „urteilt auf der Grundlage der erhabensten Grundsätze der internationalen Politik.“ Auch das Auslieferungsersuchen an Holland vom 16. Januar 1920 betont ausdrücklich, daß es sich „um einen Akt der internationalen Politik handelt, der vom Weltgewissen inspiriert“ ist. Die holländische Regierung fand nicht, daß sich aus dem Weltgewissen rechtliche Verpflichtungen ergeben und brauchte keine acht Tage, das Auslieferungsersuchen abzulehnen, weil es eben politischer Natur und rechtlich unbegründet war. Damit war dieses Kapitel internationaler Strafgerichtsbarkeit beendet.6

Alle Versuche, im Rahmen des Völkerbundes einen internationalen Gerichtshof mit Strafkompetenz zu schaffen, blieben in den Ansätzen stecken. Kein Staat war an einem solchen Strafgericht interessiert. Immerhin versuchte der Völkerbund, den Krieg einzudämmen und zu ächten. 1928 kam es zum Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg als Mittel der nationalen Politik verbot, jedoch keine Sanktionen für die Verletzung des Verbotes vorsah. Auf diesem Hintergrund ist der Nürnberger-Prozeß am Ende des zweiten Weltkrieges zu sehen, in dem zum ersten Mal die verantwortlichen Personen aufgrund des Völkerrechts für die Planung und Führung eines Angriffskrieges und damit verbundener Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden.

Nürnberg war ein Wendepunkt

Sowohl die Organisation der Vereinten Nationen als auch das Nürnberger Tribunal beruhten auf den Ergebnissen des Sieges der Alliierten im Kampf gegen den deutschen Faschismus, der Ächtung des Völkermordes und der Aggression, des menschenverachtenden Terrors nach innen und der imperialistischen Eroberungspolitik nach außen. Daraus erwuchsen die entscheidenden Rechtssätze des Völkerrechts unserer Zeit, die in Nürnberg als geltendes Völkerrecht angewandt wurden. Obgleich 1945 in der UN-Charta verankert, gelang es der Generalversammlung erst 1970 in der Resolution 2625 (XXV) die grundlegenden Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts, das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das Gewalt- und Interventionsverbot, das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, zur friedlichen Zusammenarbeit und zur Erfüllung der Verträge nach Treu und Glauben zusammenfassend zu formulieren.7 Um ihre Einhaltung und Durchsetzung wird noch immer gerungen.

Das Nürnberger Tribunal wurde aufgrund des Abkommens zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse vom 8. August 1945 errichtet, ihm schlossen sich in der Folgezeit 19 andere Staaten an. Es diente der Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher in Europa.8 Ein entsprechender Gerichtshof für den Fernen Osten wurde durch General McArthur in Tokyo eingesetzt.9 Im Nürnberger-Prozeß standen 22 Naziführer und Generäle vor Gericht. Das Gericht hatte keine Schwierigkeiten, der Angeklagten habhaft zu werden10 und die notwendigen Beweismittel zu sichern. Angeklagt wurde wegen Verbrechens gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tatbestände, die im Artikel 6 des Statuts des Tribunals definiert worden waren.

Bald nach dem Urteil, das am 1. 10. 1946 erging, bekräftigte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 95 (I), vom 11.12. 1946 die dem Statut und Urteil zugrunde liegenden Rechtsgrundsätze und beauftragte die Völkerrechtskommission, diese Grundsätze für eine allgemeine Kodifizierung zu formulieren. Schon 1950 legte die Völkerrechtskommission einen entsprechenden Text vor, 11 der seitdem sowohl für die Arbeiten am Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit12 als auch am Statut für einen StIStGH eine entscheidende Rolle gespielt hat.13 Jedoch war es bisher nicht möglich, einen solchen Kodex oder ein Statut für einen StIStGH zu verabschieden.

Die Nürnberger Grundsätze, die von der Völkerrechtskommission in Form von sieben Prinzipien dargestellt wurden, lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen:

  • Personen können für internationale Verbrechen aufgrund des Völkerrechts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
  • Weder Landesrecht noch die Immunität von Staatenvertretern oder Handeln auf Befehl können eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen hindern.
  • Als internationale Verbrechen sind nach Völkerrecht strafbar: das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Damit waren für eine internationale Gesellschaft, die sich aus gleichberechtigten souveränen Staaten zusammensetzt, elementare Grundwerte für eine Friedensordnung abgesteckt. Der unmittelbare Zugriff auf die verantwortlichen Einzelpersonen markierte eine grundlegende Veränderung im Völkerrecht. Es war ein kompliziertes Geflecht von staatlicher Souveränität, völkerrechtlicher Verantwortlichkeit und individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei internationalen Verbrechen geschaffen worden. In Nürnberg wurden nicht nur einzelne kriminelle Handlungen bestraft, sondern bloßgelegt, daß diese Verbrechen nach innen und außen Systemcharakter hatten, planmäßig mit Hilfe des Staates begangen wurden und sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richteten. In Zukunft Verbrechen zu verhindern bzw. zu ahnden, die sich gegen das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Völker richten, war der normative Auftrag der Nürnberger Prinzipien.

<>Koordinierung nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit<>

Die internationale Strafgerichtsbarkeit hat dort ihre Berechtigung und Notwendigkeit, wo Rechtsgüter der internationalen Gemeinschaft zu schützen sind und dies durch die nationale Gerichtsbarkeit nicht oder nicht wirksam gewährleistet werden kann. Das gilt vor allem bei Straftaten, die in der Regel vom Staat selbst angeordnet, gefördert oder geduldet werden, die mit Hilfe der Machtmittel des Staates begangen werden. Grundlage der Koordinierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit in den Nürnberger Prinzipien ist deshalb die Definition derjenigen internationalen Verbrechen, die dem Völkerstrafrecht zugeordnet werden. Zwar wird der Schutzwall der staatlichen Souveränität durchbrochen und die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums hergestellt, aber eben nur für bestimmte Verbrechen. Es wird ein sorgfältig ausgewogenes Gleichgewicht hergestellt, indem einerseits ausgeschlossen wird, daß staatliche Souveränität, Gesetzeshoheit oder Immunität zur Deckung von internationalen Verbrechen geltend gemacht werden können, andererseits die strafrechtliche Verantwortlichkeit aber nicht auf Völkerrechtsverletzungen im allgemeinen, sondern nur auf bestimmte, sehr sorgfältig definierte und begrenzte internationale Verbrechen erstreckt wird.

Diese Rechtslage wurde kürzlich in einem Gutachten des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte eindeutig dargestellt: „Der Erlaß eines Gesetzes, das offensichtlich Verpflichtungen verletzt, die ein Staat bei der Ratifikation oder dem Beitritt zur (Menschenrechts)Konvention eingegangen ist, stellt eine Verletzung dieses Vertrages dar und begründet die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Staates… eine individuelle Verantwortlichkeit kann gegenwärtig nur für Verletzungen geltend gemacht werden, die in internationalen Dokumenten als Verbrechen nach Völkerrecht definiert werden: wie das Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord… Die Durchsetzung eines Gesetzes, das offensichtlich die (Menschenrechts) Konvention verletzt, durch Beauftrage oder Beamte des Staates führt zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates. (Nur) wenn diese Durchsetzung ein internationales Verbrechen darstellt, begründet sie zugleich auch die internationale (strafrechtliche) Verantwortlichkeit des Beauftragten oder Beamten, der es ausführt.“ 14

Es ist außerordentlich aufschlußreich, daß alle Versuche der Völkerrechtskommission und internationaler Organisationen, die Anzahl der internationalen Verbrechen zu erweitern, gescheitert sind. So fanden sich z.B. noch 1991 in dem Entwurf zum Kodex für Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit Verbrechen wie die Drohung mit Aggression, Intervention, Apartheid, gewaltsame Aufrechterhaltung von Kolonialherrschaft, Söldnertum, Terrorismus, Drogenhandel, schwere Menschenrechtsverletzungen und schwere Umweltschädigungen.15 In zweiter Lesung sind diese Tatbestände aufgrund der Einwände vieler Staaten, insbesondere aber unter dem Einfluß der USA, alle wieder gestrichen worden. Nur mühselig gelang es, die Nürnberger Prinzipien mit ihren Tatbeständen, Verbrechen der Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließlich Völkermord und Kriegsverbrechen im wesentlichen aufrecht zu erhalten. Hinzu genommen wurden nur Verbrechen gegen UN-Personal.16

Das zeigt sehr deutlich, wie stark nach wie vor der Widerstand vieler Staaten gegen eine Ausweitung internationaler Straftatbestände ist, eben weil damit die Durchbrechung des Souveränitätsgrundsatzes verbunden wird. Das gleiche Bild ergibt sich notwendig bei den Bestrebungen um die Errichtung eines StIStGH, denn es stellen sich die gleichen Probleme, die Abgrenzung bzw. Komplementierung von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit, die Bestimmung der Grenzen staatlicher Souveränität.

Das gilt jedenfalls für den eigentlich interessanten und wichtigen Bereich der Fälle, in denen ein StIStGH auch ohne Zustimmung oder gegen den Willen des betroffenen Staates anklagen und verhandeln kann. Natürlich können Staaten jederzeit vereinbaren, die Strafverfolgung bestimmter Straftaten einem internationalen Gericht zu übertragen. Das kann aus mancherlei Gründen zweckmäßig erscheinen, z.B. um Rachejustiz zu verhindern, einheitliche Strafmaßstäbe herauszubilden, einen fairen Prozeß zu garantieren etc. Das aber würde kaum den mit der Schaffung eines StIStGH verbundenen Aufwand rechtfertigen. Wirklich notwendig wird der StIStGH für die internationale Staatengemeinschaft erst da, wo die nationale Strafgerichtsbarkeit keine adäquate Strafverfolgung mehr gewährleistet. Das hat die Einsetzung der ad hoc Tribunale für Jugoslawien und Ruanda deutlich gemacht.

Den Haag – Wegbereiter oder Umweg

Die Problematik fängt mit der Einsetzung des Gerichts an. Die ad hoc Gerichte sind durch Beschluß des Sicherheitsrates, gestützt auf Kapitel VII der Charta, mit verbindlicher Wirkung gegenüber allen Staaten geschaffen worden. Der Sicherheitsrat hat die Jurisdiktion der Gerichte im einzelnen zeitlich und sachlich begrenzt definiert und angeordnet. In Bezug auf die in den Statuten definierten Straftaten, die sich im Unterschied zu Nürnberg auf Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen beschränken, das Verbrechen gegen den Frieden deutlich ausklammern, greift die Jurisdiktion dieser Gerichte nicht nur in die Gerichtshoheit der Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens und Ruandas sondern auch in die Gerichtshoheit aller Staaten ein. In jedem Staat können diese ad hoc Gerichte Ermittlungen durchführen, ihre Haftbefehle und sonstigen Anordnungen sind in allen Staaten der Welt durchzuführen, ihre Auslieferungsersuchen gehen jedem Auslieferungsvertrag vor. Sie können selbst die Auslieferung von Staatsbürgern des ersuchten Landes verlangen und in schwebende Verfahren eingreifen. Selbst ein vor einem nationalen Gericht abgeschlossenes Verfahren können sie wiederaufnehmen, wenn sie der Meinung sind, daß es aus irgendeinem Grunde nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Diese schwerwiegenden Kompetenzen, die weit über Nürnberg hinausgehen, unterstreichen den Ausnahmecharakter dieser Sondergerichte. Eine so weitreichende internationale Gerichtsbarkeit für Den Haag konnte im Sicherheitsrat nur beschlossen werden, weil sie auf zeitlich und räumlich eng beschränkte Straftaten begrenzt war und man sicher sein konnte, daß sich keinerlei Anklagen oder Beschuldigungen gegen Mitglieder des Sicherheitsrates richten konnten.

Zweifellos hat bei der Schaffung der Charta und der Definition der Kompetenzen des Sicherheitsrates nie jemand auch nur im entferntesten daran gedacht, daß der Sicherheitsrat einmal im Rahmen von Sanktionen ad hoc Strafgerichte mit so weitreichenden Vollmachten in Form von Hilfsorganen des Sicherheitsrates einsetzen könnte. Er hat es getan, obgleich die UNO keinerlei Personalhoheit hat und kein Staat ihr eine solche Kompetenz übertragen hat. Die Staaten haben es – angesichts der Greueltaten über die berichtet wurde – als eine mögliche Maßnahme zur Friedenssicherung hingenommen. Welche Wirksamkeit und Bedeutung diese Gerichte haben werden, ist noch nicht abzusehen. Bislang beschäftigen sie sich mit einzelnen Greueltaten. Ob sie je zu denjenigen vorstoßen werden, die die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda ausgelöst oder ermöglicht haben, scheint in hohem Maße fraglich. Trotzdem sind ihre Statuten nicht ohne Einfluß auf den Entwurf für einen StIStGH geblieben.

Die übergroße Mehrheit der Staaten ist gegen die Einsetzung von ad hoc Gerichten oder die Schaffung eines StIStGH durch Beschluß des Sicherheitsrates. Sie besteht darauf, daß ein StIStGH, da eine Ergänzung der Charta zur Zeit nicht realisierbar erscheint, nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffen werden kann.17 Auf diese Weise wollen die Staaten sichern, daß nicht nur das Statut und die Einsetzung des StIStGH, sondern auch der Umfang seiner Jurisdiktion und sein Tätigwerden von ihrer Zustimmung abhängt.

Der Entwurf geht davon aus, daß mit der Zustimmung zum Statut nicht automatisch der Umfang der Jurisdiktion des StIStGH bestimmt ist. Dazu bedarf es einer besonderen Erklärung der Staaten, in der sie festlegen, für welche Verbrechen sie die Zuständigkeit des StIStGH akzeptieren wollen. Lediglich für Völkermord sollte der Gerichtshof bereits aufgrund der Beschwerde eines Staates tätig werden können.18 In allen anderen Fällen, also auch bei Aggression, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen sollte ebenso wie bei Verbrechen, die in internationalen Verträgen definiert sind, wie Geiselnahme, Luftpiraterie, Verbrechen gegen Diplomaten, Folter19 mindestens die Zustimmung des Staates erforderlich sein, in dem sich der Beschuldigte befindet, sowie des Staates, auf dessen Territorium die Straftat begangen wurde. Hinzu käme noch die Zustimmung des Staates, der gegebenenfalls ein Auslieferungsersuchen gestellt hat. Schon dieser Zustimmungsmechanismus ist kompliziert. Viele Staaten, darunter auch die USA, fordern aber, daß außerdem jedenfalls der Staat, gegen den das Verbrechen gerichtet war oder der Opfer des Verbrechens geworden ist und gegebenenfalls auch der Staat, dessen Nationalität der Beschuldigte hat, zustimmen müssen. Weiterhin fordern die USA, daß jedenfalls bei Kriegsverbrechen immer das zuständige nationale Gericht Vorrang vor einem internationalen Gericht haben sollte.20 Damit soll sichergestellt werden, daß die Jurisdiktion des StIStGH nicht an die Stelle der nationalen Gerichtsbarkeit tritt, sondern nur ergänzend zu ihr tätig werden kann. Darüber hinaus bestreiten die USA nach wie vor, daß das Verbrechen der Aggression als individuelles strafrechtliches Verbrechen genügend definiert ist. Dahinter steckt im Grunde natürlich die Scheu zu akzeptieren, daß z.B. ein amerikanischer Präsident für militärische Aktionen wie die gegen Vietnam, Laos, Grenada oder Panama vor einen StIStGH gestellt werden könnte. Überhaupt sind die USA im Prinzip dagegen, daß jeder Staat den StIStGH wegen Kriegsverbrechen anrufen kann. Sie würden dieses Recht am liebsten nur dem Sicherheitsrat zugestehen, weil dann die Zuständigkeit des StIStGH für Kriegsverbrechen nie gegen das Veto eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates begründet werden könnte.

Das Veto bleibt ein ernstes Hindernis

In Anlehnung an die Entstehungsgeschichte der ad hoc Gerichte räumt der Entwurf des Statuts für einen StIStGH dem Sicherheitsrat eine sehr fragwürdige Sonderstellung ein. Erstens kann der Sicherheitsrat, wenn der StIStGH einmal geschaffen ist, sich jederzeit dieses Gerichts bedienen und ihm eine Jurisdiktion für bestimmte Situationen oder Angelegenheiten erteilen. Er brauchte dann keine ad hoc Gerichte mehr zu schaffen, sondern könnte das gleiche über die Begründung einer ad hoc Jurisdiktion für einen bereits existierenden StIStGH erreichen und zwar selbst für Staaten, die das Statut des StIStGH nicht ratifiziert haben. Diese Variante hätte den Vorteil, daß man jedenfalls für Situationen, in denen das für notwendig gehalten wird, eine internationale Strafgerichtsbarkeit hätte, ohne von der Zustimmung des in die Verbrechen verwickelten Staates abhängig zu sein. Das Problem liegt darin, daß eine solche Entscheidung vom Sicherheitsrat im Rahmen eines Verfahrens gefällt wird, in dem jedem ständigen Mitglied ein Veto zusteht. D. h. niemals könnte durch den Sicherheitsrat eine Zuständigkeit des StIStGH begründet werden, wenn ein ständiges Mitglied sein Veto einlegt.

Die Idee, dem Sicherheitsrat für bestimmte internationale Verbrechen die Möglichkeit zu geben, eine Zuständigkeit des StIStGH ohne Zustimmung der unmittelbar betroffenen Staaten zu begründen, ist an sich gut. Sie wird sich jedoch nur dann als nützlich erweisen und eine Chance haben, durchgesetzt zu werden, wenn eine solche Entscheidung nicht dem Vetorecht unterliegt, sondern im Sicherheitsrat mit einfacher Mehrheit gefällt werden kann. Das wäre wirklich ein Fortschritt und würde den StIStGH von vornherein in eine starke Position im System der kollektiven Friedenssicherung versetzen. Leider sieht es z. Zt. nicht so aus, als gäbe es für eine solche Lösung gute Aussichten.

Der Entwurf sieht außerdem vor, daß eine Anklage vor dem StIStGH wegen des Verbrechens der Aggression nicht erhoben werden kann, solange der Sicherheitsrat nicht das Vorliegen einer Aggression festgestellt hat. Zusätzlich wurde auf Druck der USA sogar eine Regel aufgenommen, die dem StIStGH untersagt, Ermittlungen ohne Zustimmung des Sicherheitsrates aufzunehmen, solange eine Angelegenheit im Rahmen des Kapitels VII beim Sicherheitsrat anhängig ist. Zu Recht haben viele Staaten gegen eine solche Regelung Bedenken geäußert, weil damit der StIStGH in eine unmittelbare Abhängigkeit von der politischen Entscheidung eines Organs der UN kommt, noch dazu eine Entscheidung, die dem Veto unterliegt. D. h., eine solche Entscheidung wäre niemals gegen ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates denkbar. Der StIStGH käme damit in die gleiche mißliche Lage, in der die vom Sicherheitsrat eingesetzten ad hoc Gerichte sind. Sie sind Gerichte, die der Sicherheitsrat gegen andere eingerichtet hat, die er nie akzeptieren würde, wenn sie auch gegenüber den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates eine Zuständigkeit hätten. Die Aussichten, daß eine Mehrheit der Staaten, sich freiwillig unter eine Strafjustiz begibt, die auf einer institutionalisierten Ungleichheit und Diskriminierung von Mitgliedstaaten der UNO aufbaut, ist gering.

Auch im Zusammenhang mit Fragen wann eine Auslieferung an den StIStGH erfolgen muß und wann der StIStGH an ein Urteil eines nationalen Gerichts gebunden ist, entstehen ähnliche Probleme der Abgrenzung von nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit. Sie sind im Entwurf zugunsten des StIStGH geregelt. Diese Regelung, die sich an entsprechende Bestimmungen im Statut für das Jugoslawien-Tribunal anlehnt, findet aber noch keineswegs die Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates oder der Mehrheit der Staaten. Sie würde sehr weitreichende Eingriffe in die nationale Strafgerichtsbarkeit zur Folge haben.

Bislang war nur von prinzipiellen Fragen der Abgrenzung die Rede. Hinzu kommen aber viele praktische Fragen, die nicht weniger schwierig sind. Hierzu gehören die Voraussetzungen für die Aufnahme von Ermittlungsverfahren, die Kompetenzen der internationalen Staatsanwaltschaft, die Finanzierung des StIStGH, das Verfahren, insbesondere das Beweisrecht etc. In all diesen Fragen gibt es noch große Divergenzen zwischen den Staaten. Klar ist jedenfalls, daß ein Statut für einen StIStGH keine Chancen auf Annahme hat, wenn nicht zugleich die Verfahrens- und Beweisregeln wenigstens in ihren Grundzügen vorliegen. Das Beispiel der ad hoc Gerichte, die die Vollmacht hatten, ihre Verfahrens- und Beweisregeln selbst auszuarbeiten und zu beschließen, wird auf den StIStGH nicht übertragbar sein.

Bemerkenswert an der jüngsten Entwicklung ist, daß man sich plötzlich wieder auf Nürnberg beruft. Das war über mehr als 35 Jahre nicht üblich. Vielfach und vielerorts – nicht zuletzt in der Bundesrepublik – war Nürnberg durchaus als Siegerjustiz verpönt, die gegen das Rückwirkungsverbot für Strafgesetze verstoße.21 Freilich ist die Berufung auf Nürnberg noch sehr selektiv. Sie klammert das Verbrechen gegen den Frieden aus und versucht, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nur für einige internationale Verbrechen zu instrumentalisieren. Noch gibt es starke Kräfte, die zu verhindern suchen, daß ein internationales Strafgericht prinzipiell die Chance erhält, die Nürnberg hatte und auch wahrgenommen hat, nämlich in einem Strafprozeß gegen die Hauptschuldigen des Krieges, nicht nur einzelne Verbrechen abzuurteilen, sondern den kriminellen Charakter des Systems bloßzulegen, mit dessen Hilfe allein diese Verbrechen möglich waren und damit ein Stück staatlicher Verantwortlichkeit zu realisieren.

Trotz all der offenen Fragen ist es ein großer Fortschritt, an den vor fünf Jahren noch niemand geglaubt hätte, daß zum ersten Mal der Entwurf für einen StIStGH einer Staatenkonferenz vorgelegt wird, noch dazu ein Entwurf, der in vielen wichtigen Fragen auf den Nürnberger Prinzipien aufbaut. Es geht darum, einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, der zu einem wichtigen Element der internationalen Sicherheit werden könnte und nicht für die politischen Zwecke eines Staates oder einer Staatengruppe manipuliert werden kann.

Literatur

Bassiouni, M. Cherif (1992): Crimes Against Humanity, in International Law, Dordrecht/Boston/London.

Hankel, Gerd /Gerhard Stuby (1995): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg.

Heintschel v. Heinegg, Wolff (1996): Zur Zulässigkeit der Errichtung des Jugoslawien-Strafgerichtshofes durch Resolution 827 (1993), in: 9 Humanitäres Völkerrecht, S. 75.

Jescheck, Hans-Heinrich (1952): Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, Bonn.

Taylor, T. (1992): The Anatomy of the Nuremberg Trials, New York.

Triffterer, Otto (1994): Möglichkeiten und Grenzen des internationalen Tribunals zur Verfolgung der Humanitätsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ÖJZ, S. 825.

Anmerkungen

1) Resolution der Generalversammlung 51/207 vom 17.12.1996. Zurück

2) Resolution des Sicherheitsrates 827 vom 25. Mai 1993, dt. Text des Statuts in: G. Hankel/G. Stuby, Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S. 525. Zurück

3) Resolution des Sicherheitsrates 955 vom 8. November 1994. Zurück

4) Daran erinnern heute Aussprüche von Politikern, die den Besitz von Kernwaffen als Kriterium der Souveränität bezeichnen. Zurück

5) Lüder in Holtzendorffs Handbuch des Völkerrechts, Hamburg 1889, S. 198 f.; vgl. Liszt-Fleischmann, Das Völkerrecht, Berlin 1925, S. 466. Zurück

6) Vgl. zu dieser Periode H-H. Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht, Bonn 1952, S. 29 ff. Zurück

7) Deutscher Text der Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, in: Völkerrecht, Dokumente Teil 3 Berlin 1980, S.709. Zurück

8) Vgl. die Dokumentation in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Nürnberg 1947, Bd. I S. 7 ff. Andere Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen wurden aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und landesrechtlicher Strafbestimmungen verfolgt. Zurück

9) Während in Nürnberg nur die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion die Richter stellten, gehörten in Tokyo auch Richter aus Australien, China, Kanada, den Niederlanden, Neuseeland und den Philippinen dem Gericht an. Zurück

10) Wenn man von Martin Bormann absieht, der in Abwesenheit verurteilt wurde. Vgl. das Nürnberger Urteil in: Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. I, Nürnberg 1947, S. 189. Zurück

11) Vgl. Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal, in: The Work of the International Law Commission, New York 1988, S. 140. Zurück

12) Report of the International Law Commission 48th Session 1996, in Official Records of the General Assembly, A/51/10, Chapter II. Zurück

13) Report of the International Law Commission 46th Session 1994, in Official Records of the General Assembly, A/49/10, Chapter II, B I,5. Auch bei der Ausarbeitung des Statuts für das Jugoslawientribunal waren die Nürnberger Prinzipien eine wesentliche Grundlage, vgl. den Bericht des Generalsekretärs in: S/25704 vom 3. Mai 1993. Zurück

14) Inter-American Court of Human Rights: Advisory Opinion on International Responsibility for the Promulgation and Enforcement of Laws in Violation of the American Convention on Human Rights, in: 34 International Legal Materials (1995) 1188 (1201). Zurück

15) Vgl. den Text in: Report of the International Law Commission 43rd Session, Official Documents of the General Assembly A/46/10, Chapter IV. Zurück

16) Vgl. Anm. 12. Zurück

17) Seine enge Beziehung zu den Vereinten Nationen sollte durch besondere Vereinbarungen oder Regeln gesichert werden. Zurück

18) Dabei beruft man sich darauf, daß bereits in der Völkermord-Konvention die Möglichkeit eines Internationalen Strafgerichtshofes ins Auge gefaßt wird. Ein wenig überzeugendes Argument, das auch von vielen Staaten in Zweifel gezogen wird. Zurück

19) Vgl. A/49/10, S. 66 ff., die Artikel 20, 21, 22 sowie die Liste der in Betracht kommenden Verträge im annex II, S. 147. Zurück

20) Vgl. die ausführlichen Stellungnahmen der USA in: A/CN. 4/458/Add. 7 vom 24. Juni 1994 S. 20 und A/AC. 244/1 Add. 2 vom 31. März 1955, S. 7. Zurück

21) Aus diesem Grunde hat die Bundesrepublik einen Vorbehalt gegen Artikel 7, Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend gemacht, der die Verurteilung von Personen für Handlungen nicht ausschließt, die im Zeitpunkt ihrer Begehung zwar nicht nach Landesrecht, wohl aber nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren. Es wurde erklärt, daß diese Regelung mit Art. 103 Abs. 2 des GG unvereinbar sei.(Bulletin 1952,S. 1022) In seinem Beschluß vom 26. Oktober 1996 hat das BVerfG die Beschwerde über eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers u. A. zurückgewiesen. Darin wird die Aufhebung des Rückwirkungsverbotes gerechtfertigt, wenn die Handlungen gegen allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise verstoßen. Damit geht das BVerfG weit über das hinaus, was aufgrund des Artikels 7, Abs. 2 der Menschenrechtskonvention gerechtfertigt werden könnte, ohne den Vorbehalt der Bundesrepublik zu Artikel 7 Absatz 2 auch nur zu erwähnen. Diese Rechtsprechung verstößt sowohl gegen Artikel 7, wie auch gegen Artikel 15 Abs. 1 des Paktes über politische und Bürgerrechte der UN. Zurück

Prof. em. Dr. Bernhard Graefrath lehrte Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war von 1986 bis 1991 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.

Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts

Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts

Möglichkeiten des Völkerrechts zur Eindämmung von Gewalt1

von Dieter Deiseroth

Moderne Gesellschaften sind aus einer Vielzahl von Gründen – nach innen wie nach außen – konflikt- und gewaltträchtig. Gewaltarme oder gar gewaltfreie Formen der Konfliktaustragung stellen sich nicht naturwüchsig ein. Vielmehr bedarf eine Zivilisierung der Art und Weise der Bewältigung und Lösung von Konflikten sowohl innerhalb von Gesellschaften als auch zwischen Großkollektiven (Volksgruppen, Völkern, Staaten, Staatengruppen) zahlreicher Bedingungen und Voraussetzungen.

Blick auf eine erfolgreiche Zivilisierung des Zusammenlebens von Menschen innerhalb moderner Gesellschaften hat Dieter Senghaas auf der Grundlage früherer Untersuchungen insbesondere von Norbert Elias, Johan Galtung und Hanna Newcombe sechs notwendige »Bausteine« und »Komponenten« für »inneren Frieden« herausgearbeitet („zivilisatorisches Hexagon“)2:

(1) Entprivatisierung von Gewalt (Entwaffnung der Bürgerinnen und Bürger) – staatliches »Gewaltmonopol«

(2) Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit zur Kontrolle des (staatlichen) Gewaltmonopols

(3) Affektkontrolle als Grundlage von Aggressionshemmung und Gewaltverzicht und darauf aufbauend von Toleranz und Kompromißfähigkeit

(4) demokratische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger

(5) Deckung der wirtschaftlichen und sozialen menschlichen Grundbedürfnisse; soziale Gerechtigkeit (Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit)

(6) konstruktive politische Konfliktkultur (faire Chancen für die Artikulation und den Ausgleich von unterschiedlichen Interessen)

Diese Voraussetzungen müssen – sollen sie wirksam sein – verläßlich gelten und damit institutionalisiert sein; sie sollen nicht in jeder neuen Auseinandersetzung stets zur Disposition stehen und jeweils erneut erkämpft werden müssen. Dies bedingt ihre rechtliche Verankerung und Gewährleistung durch Mechanismen des innerstaatlich geltenden Rechts.

Gilt dies auch für Konflikte zwischen Völkern, Staaten und Staatengruppen, also für die internationalen Beziehungen? Welche Bedingungen und Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit auch zwischen menschlichen Großkollektiven (Ethnien, Völkern, Staaten und Staatengruppen) Konflikte zivilisiert, d.h. gewaltarm und möglichst gewaltfrei ausgetragen werden können? Friedensforscher werden mit Recht nicht müde herauszustellen, daß man vor allem an den Lebensbedingungen menschlicher Gesellschaften ansetzen muß, wenn es darum geht, unerwünschtes Verhalten und damit auch Gewalt und Krieg seltener zu machen. (…)

In den internationalen Beziehungen existiert unbestreitbar vor allem seit 1945 ein weites Spektrum an Regelungen des Völkerrechts, die auf die Vermeidung und Verhinderung von Gewaltanwendung und Krieg zwischen den Staaten und Völkern ausgerichtet sind.

Dennoch: Von 1945 bis heute hat es mehr als 170 Kriege in der Welt gegeben, mehr als 160 davon allein in der sog. Dritten Welt.3 Rund zwei Drittel aller Kriege in der »Dritten Welt« haben mit aktiver ausländischer Beteiligung an den Kämpfen stattgefunden. In mindestens 78 Fällen ist eine offene und direkte Intervention von Industriestaaten (des Nordens) in den militärischen Konflikten der »Dritten Welt« nach 1945 nachgewiesen worden.4 Insgesamt haben zwischen 25 und 35 Millionen Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen seit dem Ende des 2. Weltkrieges ihr Leben verloren.

Daß Kriege in diesem Ausmaße nach wie vor an der Tagesordnung sind, hat nicht erst heute beständige Zweifel an der Funktion und an der Bedeutung des Völkerrechts für das humanitäre Ziel der Verhütung von Krieg und Gewalt zwischen Staaten und Völkern genährt.

Die Skepsis beschränkt sich nicht allein auf die Effektivität des gegenwärtigen Völkerrechts, sondern schließt die generelle Frage ein, ob und ggf. in welcher Hinsicht das Völkerrecht überhaupt einen konstruktiven Beitrag zur Sicherung von Frieden und zur Verhütung gewaltförmiger Auseinandersetzungen in den internationalen Beziehungen und zur Eindämmung von Gewalt leisten kann. (…)

Was leistet das Völkerrecht, was kann es leisten?

Der deutsche Begriff »Völkerrecht« ist mißverständlich. Denn Völkerrecht regelt nicht (unmittelbar) die Rechtsverhältnisse zwischen »Völkern«. Es ist vielmehr die Rechtsordnung der (internationalen) Beziehungen zwischen den sogenannten Völkerrechtssubjekten. Diese sind:

  • die Staaten
  • die internationalen Organisationen (z.B. die Vereinten Nationen)
  • die neben den Staaten traditionell anerkannten Völkerrechtssubjekte (der Heilige Stuhl, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, der Malteserorden)
  • Individuen, soweit ihnen durch (völkerrechtliche) Regelungen durchsetzbare Rechte eingeräumt worden sind (streitig)
  • Menschengruppen, soweit sie als Träger von Rechten und Pflichten im völkerrechtlichen Rechtsverkehr anerkannt und bestimmbar sind (z.B. völkerrechtlich anerkannte Befreiungsbewegungen).

Völkerrecht ist – wie alles Recht – »geronnene Politik«. Der Umschlag von »Politik« zum Völkerrechtssatz erfolgt entweder durch den in der Rechtsform des Vertrages ausgedrückten Konsens der Beteiligten (völkerrechtlicher Vertrag), durch die allgemeine, als Recht anerkannte Übung (völkerrechtliches Gewohnheitsrecht) oder mittels spezieller Rechtsetzungsakte durch dazu ermächtigte Organe internationaler Organisationen.

Das Völkerrecht verdankt seine Entstehung der Regelungsbedürftigkeit der internationalen Beziehungen.

Völkerrechtliche Regelungen resultieren in aller Regel aus dem Streben der an ihrer Entstehung Beteiligten, eine einmal erreichte Interessenkonvergenz durch Rechtssätze zu fixieren und dadurch mit einer gewissen Beständigkeit auszustatten. Sie sind Ausdruck der Vorstellungswelt(en) und Interessenlagen ihrer Urheber und mithin »Waffenstillstandslinien« in einem Kontinuum vielfältiger nationaler und internationaler Interessenkonflikte.

Völkerrechtliche Regelungen erfüllen als Rechtsnormen mit ihrem Anspruch auf Befolgung eine Ordnungsfunktion in den internationalen Beziehungen und gewährleisten damit zugleich eine gewisse – von zahlreichen Faktoren abhängige – Berechenbarkeit und Rechtssicherheit.

Das Völkerrecht stellt zudem zur Regelung der internationalen Beziehungen Instrumente zur Verfügung, und zwar

  • die erforderlichen formellen Verfahren zur Rechtserzeugung5 sowie
  • Verfahren und institutionalisierte Formen für die Kooperation und Konfliktaustragung der an den internationalen Beziehungen beteiligten Völkerrechtssubjekte6. Außerdem statuiert es in zunehmendem Maße materielle Verhaltensnormen, also Rechte und Pflichten der Völkerrechtssubjekte7.

Effektivität und Durchsetzung des Völkerrechts

Die Entstehung sowohl von Völkervertragsrecht als auch von Völkergewohnheitsrecht ist auf den Konsens der am Normbildungsprozeß beteiligten Völkerrechtssubjekte, d.h. vor allem der Regierungen der nationalen Einzelstaaten angewiesen. Es gibt keinen von den Völkern direkt gewählten und damit kontrollierten demokratischen unmittelbaren Normgeber (»Weltparlament«). Das Tempo der Veränderung des Völkerrechts wird angesichts dieser »Konsenserfordernisse« zwischen den Nationalstaaten vielfach vom »Letzten im Geleitzug« bestimmt. Es ist mithin nicht verwunderlich, wenn sich in nicht wenigen völkerrechtlichen Vorschriften überkommene tradierte Machtstrukturen aus der Zeit ihrer Entstehung wiederfinden und dennoch bis heute weiterhin Geltung beanspruchen.

Die vor allem nach dem 2. Weltkrieg erfolgte Schaffung internationaler Organisationen hat freilich für den Prozeß der völkerrechtlichen Normbildung insofern zu Neuerungen geführt, als daß einzelne von ihnen ermächtigt worden sind, völkerrechtlich verbindliche Entscheidungen zu treffen und damit letztlich (mittelbar) auch Normsetzungen vorzunehmen.

In der Zeit des sogenannten »klassischen« (europäischen) Völkerrechts, d.h. bis zur Schaffung des Völkerbundes am Ende des 1. Weltkrieges, vollzog sich die Sicherung und Durchsetzung des Völkerrechts fast ausschließlich durch einzelstaatliche Maßnahmen der Selbsthilfe, d.h. durch Intervention, Repressalien und Krieg. Dieses internationale Faustrecht gab in der Praxis dem Stärkeren gegenüber dem Schwächeren Möglichkeiten an die Hand, die dem Schwächeren gegenüber dem Stärkeren verwehrt waren. Es legitimierte aber nicht nur die gewalttätige Durchsetzung der politischen, ökonomischen und rechtlichen Interessen des jeweils Stärkeren, sondern durch eine entsprechende Praxis auch die Herausbildung ungeschriebenen Gewohnheitsrechts im Sinne dieser Interessen.

Sowohl nach dem 1. Weltkrieg als auch vor allem nach dem 2. Weltkrieg wurde deshalb versucht, an die Stelle der einzelstaatlichen »Selbsthilfe«, also letztlich des Faustrechts des Stärkeren, eine kollektive Organisation zur Stärkung des Rechts aller zu setzen, die – wie in der Satzung der Vereinten Nationen dann geschehen – die einzelstaatliche Gewaltanwendung zur Durchsetzung einzelstaatlicher Interessen jedenfalls grundsätzlich verbietet, ohne freilich ein wirksames umfassendes kollektives System zur Wahrung und Durchsetzung des Völkerrechts auf der Basis der souveränen Gleichheit aller Staaten zur Verfügung zu stellen.

Was vermag unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen die Effektivität des Völkerrechts, namentlich zum Zwecke der Eindämmung von Gewalt, zu gewährleisten und zu sichern, wo liegen die Schwachstellen ?

Erwartung der Gegenseitigkeit

Die Beachtung und damit die Effektivität des Völkerrechts hängen in starkem Maße davon ab, daß der betreffende Staat, dessen politische Zielvorstellung in einem konkreten Konfliktfalle in Widerspruch zu einer völkerrechtlichen Norm gerät, sein Interesse an der Einhaltung dieser Norm höher einschätzt als die Durchsetzung seiner völkerrechtswidrigen Intentionen.

Dennoch vermag dieses allgemeine, für alle Staaten letztlich unabweisbare Interesse an der wechselseitigen Beachtung völkerrechtlich festgelegter Gebote und Verbote nicht in jedem Falle die Einhaltung der in Frage stehenden völkerrechtlichen Norm(en) zu garantieren.

Beispiele dafür sind etwa die militärischen Interventionen der früheren Sowjetunion in der Tschechoslowakei im Jahre 1968, der USA in der Dominikanischen Republik (1965), in Grenada (1975) und in Panama (1988) sowie des Iraks in Kuweit (1990).

Wirkung der »öffentlichen Meinung«

Seit dem 2. Weltkrieg läßt sich innerhalb der Vereinten Nationen und in den internationalen Beziehungen der Staaten ein Prozeß wachsender Rücksichtnahme auf weltweite Reaktionen erkennen. Man scheut in offenbar zunehmendem Maße, mit dem Odium des Rechtsbrechers belastet zu werden.

In dieser »Rücksichtnahme« auf weltweite Reaktionen liegt letztlich eine konkludente Anerkennung der Bedeutung der öffentlichen Meinung (»Weltgewissen«) für die Beachtung und damit die Effektivität des Völkerrechts.

Daran ändert auch nichts, daß Staaten dieser »Gefahr«, nämlich mit dem Odium des Rechtsbrechers belegt zu werden, vielfach dadurch zu begegnen suchen, daß sie sich zur Rechtfertigung ihres eigenen Verhaltens gerade auf völkerrechtliche Normen beziehen. Bei der Anwendung militärischer Gewalt wird vor allem das Recht auf »Selbstverteidigung« (Notwehr und Nothilfe) bemüht. Aber auch solche völkerrechtlichen Rechtfertigungsstrategien implizieren zumindest mittelbar die prinzipielle Anerkennung des Völkerrechts und belegen eine inhärente Rücksichtnahme auf die potentiellen Reaktionen der Weltöffentlichkeit.

Diese Erkenntnis vermag zugleich alle diejenigen zu bestärken und zu ermutigen, die an einer Schärfung des »Weltgewissens« arbeiten und auf vielfältigen Feldern engagiert sind.

Allgemeine Regelungen und Verfahren

Die rudimentär vorhandenen allgemeinen Mechanismen und Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung und zur Durchsetzung des Völkerrechts umfassen ein breites Spektrum von Maßnahmen: gute Dienste (good offices), Konsultation (consultation), Verhandlung (negotiation), Untersuchung (inquiry), Vermittlung (mediation), Vergleichs- und Schlichtungsverfahren (conciliation), Schiedsspruch (arbitration), gerichtliche Entscheidung (judicial settlement), die Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen (resort to regional agencies or arrangements) sowie andere friedliche Mittel (other peaceful means). Diese Konfliktlösungsmechanismen werden unterschiedlich häufig angewandt, vielfach jedoch nur unzureichend genutzt.

Die Hauptprobleme und -defizite der genannten Formen der Konfliktbearbeitung liegen international freilich darin, daß sie keine Antwort auf die Frage geben, wie die Durchsetzung der Ergebnisse von Vermittlungsbemühungen, von Vergleichs- und Schlichtungsverfahren und von Schiedssprüchen sichergestellt werden kann. Mit anderen Worten: Was soll geschehen, wenn sich eine oder mehrere Konfliktparteien weigern, ausgehandelte Empfehlungen und Kompromisse zu akzeptieren sowie ergangene Entscheidungen zu befolgen?

Im innerstaatlichen Rechtsbereich bemißt sich die Effektivität rechtlicher Regelungen in hohem Maße nach der Effektivität des Rechtsschutzes, vornehmlich des gerichtlichen Rechtsschutzes.

Die Zuständigkeit der Internationalen Gerichtsbarkeit(en), namentlich des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, ist an sehr enge Voraussetzungen geknüpft, so daß die Einschaltung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zur Klärung und Entscheidung von Streitfällen nach wie vor recht selten ist. Dies ist freilich keine Schuld »des Völkerrechts«, sondern eine Frage der mangelnden Bereitschaft sehr vieler Staaten – bisher auch der BR Deutschland – sich der obligatorischen Zuständigkeit des IGH zu unterwerfen.

Auch weisen die Regelungen über die Vollstreckung Schwächen auf, was sich in jüngerer Zeit etwa bei den IGH-Entscheidungen im Fall der Geiselnahme von US-Bürgern im Iran (1979/80) und auch (»umgekehrt«) im Falle der US-Aggressionen gegen Nicaragua (1985 ff) gezeigt hat. Die Vollstreckung obliegt dem UN-Sicherheitsrat, dessen Entscheidungsstrukturen jedoch sehr unzureichend sind. Die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (USA, Rußland, China, Frankreich, Vereinigtes Königreich) dürfen bei Beschlüssen im Rahmen des Kapitels VII der UN-Charta auch in eigenen Angelegenheiten mit abstimmen und haben auch in diesem Fall ein Veto-Recht, mit dem sie alle gegen sie selbst oder enge Verbündete gerichteten Beschlüsse – und damit auch die Vollstreckung eines Urteils des IGH – verhindern können.

Das völkerrechtliche Gewaltverbot

Das sogenannte »klassische« (europäische) Völkerrecht gewährleistete und legitimierte seit dem Aufkommen souveräner Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert den Trägern staatlicher Souveränität das »Recht zum Krieg« (ius ad bellum), wann immer die Herrscher bzw. die zur politischen Entscheidung Befugten dies für richtig hielten. Die Herrscher bemühten sich zwar, ihre Entscheidung, Krieg zu führen, zu rechtfertigen; rechtlich bestand dafür freilich keine Notwendigkeit.

Das massenhafte Sterben und die Greuel des 1. Weltkrieges führten zu einem gewissen Umdenken, das sich zunächst in der Gründung des Völkerbundes und der in seiner Satzung verankerten Abschaffung des »ius ad bellum« und dann in dem ausgehandelten, aber niemals in Kraft getretenen Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 (Protokoll für die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten) niederschlug.

Mit dem Abschluß des Briand-Kellogg-Paktes vom 27.August 1928 gelang die Ausweitung des partiellen Kriegsverbotes der Völkerbundsatzung zu einem generellen völkerrechtlichen Verbot des Krieges als Werkzeug nationaler Politik. Das Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes erlangte durch den Beitritt fast aller Staaten innerhalb kurzer Zeit allgemeine Geltung und war dann auch Basis der Kriegsverbrecher-Prozesse nach dem 2. Weltkrieg und der Herausbildung und Anerkennung der sogenannen »Nürnberger Prinzipien« des Völkerrechts. Es illegalisierte und ächtete – trotz seines Wortlautes – nach überwiegender Auffassung nur den Angriffskrieg, nicht die Führung von Verteidigungskriegen und nicht die Anwendung von militärischer Gewalt schlechthin.

Die von der großen »Weltbürger-Koalition« gegen die Achsenmächte (Deutschland, Japan und Verbündete) erarbeitete Charta der Vereinten Nationen suchte nach 1945 die Schwächen und Defizite der Völkerbundssatzung und des Briand-Kellogg-Paktes auszugleichen.

Die UN-Charta normiert nunmehr zur Friedenssicherung und Kriegsverhinderung 1. ein striktes Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta), 2. Vorschriften über die friedliche Streitbeilegung (Kap. VI der UN-Charta) und 3. Regelungen über die kollektive Sicherheit (Kap. VII der UN-Charta). Dies war und ist ein großer historischer Fortschritt. Dennoch finden – wie die Erfahrung zeigt – weiter Krieg und zwischen Staaten und Völkern statt.

Kann man also auch das in der UN-Charta verankerte und zudem als Völkergewohnheitsrecht, ja als unabdingbar geltendes zwingendes Völkerrecht (ius cogens) anerkannte Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt »vergessen«, weil ineffektiv und in der Praxis letztlich frucht- und nutzlos?

Die Beantwortung unserer Frage setzt eine Auseinandersetzung mit der Reichweite des völkerrechtlichen Verbots der Androhung und Anwendung von Gewalt sowie seinen Lücken und Ausnahmen voraus. Denn es ist in der Tat an seinen Rändern unscharf und unpräzise.

Normativer Inhalt des Durchsetzung des Völkerrechts

Das in Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta verankerte Gewaltverbot lautet in dem gemäß Art. 111 UN-Charta authentischen englischen Text8: „All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any manner inconsistent with the purposes of the United Nations.“

Ausnahmen von diesem völkerrechtlichen Gewaltverbot sind nach der UN-Charta (abgesehen von den zwischenzeitlich obsolet gewordenen gegen Nazi-Deutschland und Japan gerichteten Feindstaaten-Klauseln) nur vorgesehen

  • im Rahmen des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts im Falle eines bewaffneten Angriffs (Art. 51 UN-Charta),
  • bei kollektiven Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen (Art. 42 UN-Charta) nach einer durch den UN-Sicherheitsrat erfolgten förmlichen Feststellung einer „Bedrohung oder eines Bruchs des Friedens oder einer Angriffshandlung“ oder
  • bei Zwangsmaßnahmen nach Art. 53 UN-Charta „aufgrund von regionalen Abmachungen oder Einrichtungen“ im Falle einer ausdrücklichen Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat.

Der zentrale Begriff der zitierten Vorschrift des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta ist »force«. In der im Bundesgesetzblatt veröffentlichten Textfassung, die auf der Übersetzung des Sprachendienstes des Auswärtigen Amtes beruht, wird er mit dem Ausdruck »Gewalt« wiedergegeben. Welche Formen der Gewalt werden davon erfaßt?

Anwendung von staatlicher Waffengewalt

Dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterfällt unstreitig jede Art der Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet oder die Streitkräfte eines anderen Staates.

Aus der in Art. 2 Nr. 4 UN-Charta gewählten Formulierung („in ihren internationalen Beziehungen“) ergibt sich, daß das völkerrechtliche Gewaltverbot dagegen nicht die Gewaltanwendung durch einen Staat innerhalb seiner eigenen Grenzen erfaßt. Gewaltförmige Bürgerkriegsauseinandersetzungen innerhalb eines Staates verstoßen damit nicht gegen Art. 2 Nr. 4 UN-Charta. (Sie können jedoch unter Umständen eine »Bedrohung« oder einen »Bruch des Friedens« im Sinne des Art. 39 der UN-Charta darstellen und dann ggf. Veranlassung für entsprechende Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates im Rahmen des Kapitel VII der UN- Charta geben.)9

Entsendung von bewaffneten Banden und Söldnern

Durch Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verboten sind auch, wie der IGH in seinem Nicaragua-Urteil entschieden hat, die mit Waffengewalt durchgeführten Handlungen bewaffneter Banden oder Gruppen von Söldnern oder Freischärlern, die ein Staat in einen anderen entsendet (sog. indirekte Aggression).

Duldung von bewaffneten Interventionen

Völkerrechtlich nicht völlig geklärt ist jedoch, ob gegen das Gewaltverbot verstoßen wird, wenn ein Staat bewaffnete Schädigungshandlungen gegen einen anderen Staat von seinem Territorium aus zwar nicht fördert, aber auch nichts zur Unterbindung der Aktionen unternimmt.

Ein Beispiel dafür ist etwa die Duldung US-amerikanischer völkerrechtswidriger Luftangriffe gegen Libyen am 14./15. April 1986, die von auf dem Boden der BR Deutschland gelegenen Militäreinrichtungen aus vorbereitet, geleitet und gesteuert worden sein sollen.10

Bewaffnete Interventionen in Bürgerkriegen

Strittig ist auch, inwiefern das Eingreifen dritter Staaten in innerstaatliche Auseinandersetzungen gegen das Gewaltverbot verstößt.

Dabei geht es einmal um den Fall, daß eine Regierung einen ausländischen Staat um bewaffnete Hilfe bei der Bekämpfung von Aufständischen bittet, d.h. um die sog. Intervention auf Einladung durch die jeweilige Regierung. Auf eine solche Rechtfertigung ihres gewaltsamen Eingreifens in innerstaatliche Konflikte haben sich etwa – politisch und völkerrechtlich sehr umstritten – die frühere Sowjetunion beim Einmarsch in Afghanistan, die USA bei der Besetzung Grenadas und auch Frankreich und Belgien bei verschiendenen Interventionen in Afrika berufen. Ferner geht es um die völkerrechtlich umstrittenen Fälle bewaffneter »Hilfeleistungen für Aufständische«. Nach der Rechtsprechung des IGH fällt die Finanzierung von Aufständischen nicht unter das Gewaltverbot.

Umstritten ist die Frage, ob die logistische Unterstützug von Aufständischen durch einen Drittstaat mit Art. 2 Nr. 4 UN-Charta unvereinbar ist. Meines Erachtens ist dies zu bejahen; an einer Gewaltanwendung ist auch derjenige beteiligt, der bewußt Beihilfe leistet oder gar als Mittäter handelt; Gewaltanwendung ist Einzelstaaten aber nur im Rahmen und in den Grenzen des Art. 51 der UN-Charta (als Notwehr oder als Nothilfe gegen einen bewaffneten Angriff) erlaubt; bei einer Bedrohung und dem Bruch des Friedens ist nach Art. 39 ff UN-Charta grundsätzlich allein der UN-Sicherheitsrat für Gegenmaßnahmen zuständig; jenseits dessen gibt es kein einzelstaatliches Faustrecht mehr. Der IGH hat es deshalb (Nicaragua-Urteil 1986) zu Recht jedenfalls für möglich gehalten, daß die Unterstützung bewaffneter Banden und Rebellengruppen durch Waffenlieferungen, logistische Maßnahmen oder andere Hilfemaßnahmen als Gewaltausübung im Sinne des Gewaltverbotes angesehen werden kann.

Selbst wenn man davon ausgehen würde, »Hilfeleistungen für Aufständische« verstießen nicht gegen Art. 2 Nr. 4 UN-Charta, dürfte dann jedenfalls ein Verstoß gegen das allgemeine völkerrechtliche Interventionsverbot11 vorliegen.

Rettung oder Schutz eigener Staatsangehöriger

In der Staatenpraxis und auch im Fachschrifttum ist versucht worden, als Rechtfertigung für militärische Rettungsaktionen zum Schutz eigener Staatsangehöriger auf dem Territorium eines anderen Staates die etwas unklare textliche Formulierung des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta („gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete …. Gewalt“) heranzuziehen (z.B. Indien im Goa-Konflikt, Argentinien im Falklandkrieg, Irak im Golfkrieg).

Eine solche Auffassung läuft letztlich auf eine Umgehung des umfassenden Gewaltverbotes des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta hinaus; die Charta kennt aber, wie in anderem Zusammenhang oben erwähnt, als Ausnahmen vom Gewaltverbot nur das in Art. 51 verankerte Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff auf das Hoheitsgebiet oder die Streikräfte eines Staates und die kollektiven UN-Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII und nach Art. 53 UN-Charta, die aber allein vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden können.

Gewaltverbot und politischer und wirtschaftlicher Zwang

Ob der Einsatz wirtschaftlicher Machtmittel (z.B. die Beschränkung von Im- und Exporten, die Kontenblockierung, die Vorenthaltung von Entwicklungshilfe etc.) vom völkerrechtlichen Gewaltverbot erfaßt wird, ist seit Jahren vor allem zwischen den sog. Entwicklungsländern und den Industriestaaten höchst umstritten.

Der IGH hat im Nicaragua-Fall die Völkerrechtswidrigkeit wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen der USA gegen Nicaragua (Beschränkung der Import-Zuckerquote für Produkte aus Nicaragua, Handelsembargo, Unterbrechung der wirtschaftlichen Hilfen) nicht unter dem Gesichtspunkt des Gewaltverbots geprüft.

Die überwiegende Auffassung im völkerrechtlichen Schrifttum geht davon aus, daß nichtmilitärische, insbesondere wirtschaftliche Zwangsakte nicht dem Gewaltverbot, sondern allenfalls dem sogenannten Interventionsverbot (Gebot der Nichteinmischung) unterliegen.

»Strukturelle Gewalt«

Die in der Friedens- und Konfliktforschung diskutierte Form der »strukturellen Gewalt«12, also die Aufrechterhaltung und Absicherung sozialer Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse mit ungleicher Macht- und Chancenverteilung, wird vom Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta nicht erfaßt. Der Gewaltbegriff der genannten völkerrechtlichen Bestimmung verbietet nur die Androhung oder Anwendung von Waffengewalt.

Reichweite des Verbots der »Androhung« von Gewalt

Allgemeingültige Kriterien für die Abgrenzung verbotener Gewaltandrohung von zulässigen Drohgebärden in zwischenstaatlichen Beziehungen haben sich bis heute nicht entwickeln können.

Die Ankündigung »brüderlicher Hilfe« durch die Regierung der früheren Sowjetunion gegenüber Polen im Jahre 1981 dürfte sicherlich eine verbotene Androhung von Gewalt dargestellt haben.

War auch die Ankündigung der gewaltsamen Durchsuchung von sowjetischen Schiffen durch die US-Regierung in der Kuba-Krise im Jahre 1962 eine verbotene Gewaltandrohung?

Ist das Bereithalten startklarer Atomraketen, die zum Beispiel durch ein menschliches Versehen oder durch ein technisches Versagen in Bewegung gesetzt werden können und dann binnen weniger Minuten auf gegnerischem Territorium explodieren und katastrophale Verwüstungen und Greuel anrichten, nur eine objektive Bedrohung oder zugleich auch eine völkerrechtlich verbotene Androhung von Gewalt?

Hier herrscht im Völkerrecht viel Unklarheit. Aus dem Nicaragua-Urteil des IGH läßt sich lediglich entnehmen, daß erst eine Gesamtbewertung aller Umstände, zum Beispiel einer Truppenkonzentration an der Grenze oder sonstiger Vorbereitungshandlungen, die Entscheidung ermöglicht, ob eine verbotene Androhung von Gewalt vorliegt.

Ausnahmen vom Gewaltverbot

Gewaltanwendung durch die Vereinten Nationen

Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta

Bei Friedensbedrohungen, Friedensbrüchen und Angriffshandlungen ist der UN-Sicherheitsrat durch die UN-Charta ermächtigt, Zwangsmaßnahmen nicht-militärischer Art und militärischer Art zu beschließen und durchzuführen (Kapitel VII der UN-Charta).

Grundlage für solche militärischen Zwangsmaßnahmen ist Art. 42 UN-Charta. Die Vorschrift lautet: „Wenn der Sicherheitsrat der Meinung ist, daß die in Artikel 41 bezeichneten Maßnahmen (= solche nicht-militärischer Art) unzureichend sind, oder daß sie sich als unzureichend erwiesen haben, kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.“

Zur Unterstützung des Sicherheitsrates bei der Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen ist in Art. 47 UN-Charta ein aus den Generalstabschefs (oder ihren ständigen Vertretern) der ständigen Ratsmitglieder (USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und China) gebildeter Generalstabsausschuß eingesetzt. Nach Art. 47 Nr. 3 UN-Charta ist dieser Generalstabsausschuß unter der Autorität des Sicherheitsrates verantwortlich für die strategische Leitung aller den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellten Streitkräfte. Die Pläne für die Anwendung von Waffengewalt werden vom Sicherheitsrat mit Unterstützung des Generalstabsausschusses festgelegt (Art. 46 UN-Charta), also nicht von den Staaten, die den Vereinten Nationen Streitkräfte zur Verfügung stellen.

Militärische Zwangsmaßnahmen dieser Art sind bisher vom UN-Sicherheitsrat für Einsätze in Somalia (1992/1993) und in Bosnien-Herzegowina (1992 ff) beschlossen worden.

Gewaltanwendung durch »UN-Peacekeeping-Maßnahmen«

Die UN-Charta kennt weder den Begriff »Peacekeeping« noch enthält sie insoweit Verfahrensregelungen. Das Instrumentarium der »Blauhelme« ist aber zwischenzeitlich völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Das Spektrum der UN-Peacekeeping-Aktionen reicht von der Entsendung zahlenmäßig kleiner Beobachtermissionen bis zum Einsatz sog. UN-Friedenstruppen. Es gibt polizeiähnliche (deeskalierende), aber auch eher militärähnliche UN-Blauhelme. Sie sind jedoch prinzipiell völkerrechtlich strikt von den in Art. 42 und 43 der UN-Charta zur Durchsetzung militärischer Zwangsmaßnahmen vorgesehenen Land-, Luft- und Seestreitkräften zu unterscheiden: Während militärische Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 und 43 der UN-Charta gegen einen Staat ausgeübt werden sollen, den der UN-Sicherheitsrat gemäß Art. 39 der UN-Charta förmlich zum Aggressor erklärt hat, setzt der Einsatz von »Blauhelm-Kontingenten« das Einverständnis des Staates, in dem sie stationiert werden sollen, zumindest aber der dort agierenden Konfliktparteien voraus.

Deeskalierende UN-Blauhelm-Einsätze (ohne Kampfauftrag), die häufig mit dem Begriff »friedenserhaltende Maßnahmen« (»peacekeeping«) belegt werden, zeichnen sich durch spezifische Merkmale aus:

  • Zustimmung der in den Konflikt verwickelten Parteien zu der Operation, ihrem Mandat und ihrer Zusammensetzung,
  • keine Anwendung von militärischen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta,
  • Verantwortung und Leitung beim UN-Sicherheitsrat,
  • offene demonstrative Präsenz (keine Tarnung wie bei Kampf-Einsätzen),
  • Neutralität gegenüber den Konfliktparteien
  • Nichtanwendung von Gewalt außer zur Selbstverteidigung (»self defence«) mit eigenen leichten Waffen. Allerdings ist eine hinreichende völkerrechtliche Klärung der Grenzen zwischen zulässigem und unzulässigem Waffengebrauch bislang nicht erfolgt.

Bei der Diskussion um präzise Grenzen für den Waffeneinsatz konkreter UN-Blauhelm-Einsätze muß darauf geachtet werden, daß diese erstens in den vom UN-Sicherheitsrat jeweils ad hoc festzulegenden Einsatzrichtlinien (»rules of engagement«), zweitens in den zwischen dem Entsendestaat einerseits und dem UN-Sicherheitsrat bzw. dem UN-Generalsekretär andererseits abzuschließenden Abkommen, drittens in dem nationalen Entsende-Gesetz und viertens in den Einsatzrichtlinien des Inhabers der nationalen Kommandogewalt (Bundesministers der Verteidigung) berücksichtigt werden.

Gewaltanwendung »im Auftrag« des UN-Sicherheitsrates

Im Golfkrieg 1991 gegen den Aggressor Irak war es nicht der UN-Sicherheitsrat, der dort mit „mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen die erforderlichen Maßnahmen“ (unter Einschluß von Streitkräften der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen) durchführte.

Vielmehr erfolgte die Anwendung von militärischer Waffengewalt aufgrund einer Ermächtigung, die der UN-Sicherheitsrat allen Mitgliedsstaaten, die mit dem Aggressionsopfer Kuwait kooperierten, zur Anwendung »aller notwendigen Mittel« erteilt hatte. Der Golfkrieg war kein UN-Krieg. Denn der Militäreinsatz erfolgte nicht durch die UN, nicht einmal unter deren Kontrolle.13

Ob diese Form der Gewaltanwendung nach der UN-Charta zulässig ist, ist völkerrechtlich umstritten14.

Gewaltanwendung durch Regionalorganisationen

Nach Art. 53 UN-Charta kann der UN-Sicherheitsrat „regionale Abmachungen oder Einrichtungen“ zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch nehmen. Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates dürfen Zwangsmaßnahmen aufgrund „regionaler Abmachungen oder seitens regionaler Einrichtungen“ nicht ergriffen werden (Art. 53 Nr. 1 Satz 2 UN-Charta).

Was unter »regionalen Abmachungen oder Einrichtungen« zu verstehen ist, ist im Völkerrecht nicht völlig geklärt. Es dürfte aber davon auszugehen sein, daß es sich dabei um eine Staatenverbindung oder Internationale Organisation handeln muß, die auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruht, deren Hauptaufgabe in der Erhaltung von Frieden und Sicherheit unter Kontrolle und im Rahmen der Vereinten Nationen bestehen muß; zudem muß sie »binnengerichtet« sein und sich damit von den nach außen (d.h. gegen ein Nicht-Mitglied der Organisation) gerichteten Systemen kollektiver Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta unterscheiden.15 Beispiele sind die »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS), die »Organisation Afrikanischer Einheit« (OAU) und die »Liga der Arabischen Staaten«, nicht aber die Westeuropäische Union (WEU), der frühere Warschauer Pakt oder die NATO, die Verteidigungsbündnisse im Sinne von Art. 51 UN-Charta sind.

Ein konkretes Fallbeispiel: Soweit im Konflikt zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens davon gesprochen wird, der UN-Sicherheitsrat habe »die NATO« zu bestimmten militärischen Einsätzen ermächtigt (z.B. Bombardierung von serbischen Stellungen bei Sarajewo oder Luftangriffe gegen serbische Flugzeuge), kann Art. 53 UN-Charta nicht als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden. Denn die NATO ist keine Regionalorganisation im Sinne des Art. 53 UN-Charta. Auf Einzelheiten kann hier ebensowenig näher eingegangen werden wie auf die Frage, ob der NATO-Vertrag »NATO-Einsätze« der genannten Art »deckt«.16

Gewaltanwendung durch Einzelstaaten –Die »große Achillesferse«

„Im Falle eines bewaffneten Angriffs“ gegen einen Staat erlaubt Art. 51 UN-Charta die Inanspruchnahme des „naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“, also zur Notwehr des angegriffenen Staates und zur (erbetenen) Nothilfe durch andere Staaten. Für diesen Fall wird also die Anwendung militärischer Gewalt, also ein Verteidigungskrieg, ausdrücklich erlaubt. Diese Regelung ist die traditionelle Grundlage aller Militärbündnisse (auch der NATO).

Die Regelung ist mißbrauchsgefährdet. Ihre Schwachstellen liegen auf der Hand.

Definitionsmacht

Es ist mit einem hohen Risiko verbunden, Einzelstaaten (und ihren Verbündeten) eine Art erster Definitionsgewalt zur Beurteilung der Frage einzuräumen, ob ein zur einzelstaatlichen reaktiven Gewaltanwendung berechtigender »bewaffneter Angriff« vorliegt. Bricht ein Krieg aus, berufen sich meist alle Beteiligten darauf, nur »zurückgeschossen« zu haben. Die zahlreichen Kriege im Nahen Osten zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, der Vietnam-Krieg, der Falkland-Krieg, der erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak etc. belegen dies.

Präventivkrieg

Nicht völlig geklärt ist, ob Art. 51 UN-Charta auch die sogenannte präventive Selbstverteidigung (Präventivkrieg) erlaubt. Im völkerrechtlichen Schrifttum und von einzelnen Staaten wird behauptet, dieses Recht sei völkerrechtlich garantiert. Angesichts der modernen Waffentechnik und des Rüstungsstands sei es unzumutbar, daß ein Staat seine Zerstörung, die bereits aufgrund des ersten Einsatzes der Waffen durch den Gegner drohe, in Kauf nehme, bevor er selbst militärisch aktiv werde.

Beispiele sind der Angriff Israels auf Ägypten im 6-Tage-Krieg sowie der israelische Angriff auf den im Bau befindlichen irakischen Atomreaktor Tamuz I im Jahre 1981.

Nach (meines Erachtens zutreffender) überwiegender Auffassung rechtfertigt Art. 51 UN-Charta jedoch keinen Präventivschlag oder Präventivkrieg. Denn unverzichtbare Voraussetzung einer Gewaltanwendung durch einen Einzelstaat ist nach dem Wortlaut der Regelung jedenfalls der »Fall« eines »bewaffneten Angriffs«, d.h. also daß ein solcher zuvor bereits erfolgt ist. Die Ausnahmevorschrift des Art. 51 UN-Charta ist einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich.

Sicherheitsrats-Vorbehalt

Häufig wird übersehen, daß die Inanspruchnahme des völkerrechtlichen Notwehr- und Nothilferechts nach Art. 51 UN-Charta nicht nur an die durchaus interpretationsfähige Voraussetzung anknüpft, daß ein »bewaffneter Angriff« vorliegt, also zuvor erfolgt ist, sondern daß das Recht aus Art. 51 UN-Charta auch mit einem zeitlichen Vorrang ausgestattet ist: Das Notwehr- und Nothilferecht steht dem angegriffenen Opfer und seinen Helfern so lange zu, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“.

Wer beurteilt nun und legt fest, ob der UN-Sicherheitsrat die „… erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“? Was gilt, wenn der angegriffene Staat und seine Nothelfer die Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats nicht für ausreichend erachten? Dürfen der angegriffene Staat und seine Nothelfer dann »auf eigene Faust« weiterhin oder erstmals militärische Maßnahmen ergreifen?

Hier bleibt ein nicht unerheblicher Spielraum für den einzelstaatlichen Gewalteinsatz.

In dieser Grauzone erfolgte zum Beispiel – am UN-Sicherheitsrat vorbei – nach der Aggression des Irak gegen Kuwait im Sommer 1990 die Entscheidung des damaligen US-Präsidenten George Bush zur Verhängung einer Seeblockade gegen den Irak und zur Stationierung einer riesigen amerikanischen Streitmacht an den Grenzen zum Irak, ohne daß hierfür zunächst eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates vorlag.

Problemfall Veto-Recht

Ist an dem militärischen Konflikt ein »ständiges Mitglied« des UN-Sicherheitsrates unmittelbar oder mittelbar über einen Verbündeten beteiligt, kann es mit seinem Veto-Recht jede ihm nicht genehme Entscheidung und Maßnahme des UN-Sicherheitsrates verhindern und damit den »Freiraum« für den Einsatz einzelstaatlicher Gewalt unter Berufung auf Art. 51 UN-Charta letztlich nach seinem Gutdünken »erhalten« und zeitlich ausdehnen.

Anschauungsmaterial dafür bieten u.a. die US-Kriegsführung in Vietnam (1962 bis 1972), die sowjetische Invasion in die Tschechoslowakei (1968), die sowjetischen Militäraktivitäten in Afghanistan (1979 ff) sowie der Falkland-Krieg Großbritanniens.

Vollendete Fakten

Es besteht zudem das hohe Risiko, daß der sich auf Art. 51 UN-Charta berufende Staat durch den Einsatz militärischer Gewalt zunächst einmal Fakten schafft, die einer späteren Konfliktlösung im Wege stehen. Das langjährige negative Verhalten Israels gegenüber den zahlreichen späteren Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates zur Rückgabe der besetzten Gebiete in Palästina bietet dafür illustrative Beispiele.

Umfang und Art des Waffeneinsatzes

Umstritten ist bis heute nach wie vor die Frage: Rechtfertigt Art. 51 UN-Charta jede Art und jeden Umfang des Waffeneinsatzes, namentlich auch von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen, sofern nur ein bewaffneter Angriff vorausgegangen ist und der UN-Sicherheitsrat noch nicht alle erforderlichen Maßnahmen getroffen hat ?

Hier könnte das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beim Internationalen Gerichtshof im Jahre 1993 angeforderte Rechtsgutachten zu der Frage der Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen eine gewisse Klärung bringen.

Schlußbemerkungen

Die Bewältigung dieser Aufgaben, vor allem die Bekämpfung der Ursachen gewaltförmiger Konflikte, muß sicherlich in erster Linie mit politischen Mitteln angegangen werden.

Das Völkerrecht in seinen vielfältigen Dimensionen erfüllt hierbei jedoch eine wichtige Funktion. Auch hier gilt: Erreichte Interessenkonvergenzen müssen in Rechtssätzen fixiert werden. Institutionalisierte Formen und Verfahren für die Kooperation und Konfliktaustragung auf der Basis der Gleichheit und Nichtdiskriminierung müssen genutzt und geschaffen werden. Ohne völkerrechtliche Regelungen geht dies nicht. Auslegung und Anwendung des Völkerrechts müssen den zentralen Geboten der UN-Charta verpflichtet sein, den Weltfrieden zu wahren, Konflikte und Streitigkeiten durch friedliche Mittel zu bereinigen und beizulegen, freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln sowie die Geltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache, der Herkunft oder der politischen oder religiösen Überzeugung zu fördern.

Nur so wird es Fortschritte geben, hin zu dem Ziel, das Faustrecht des Stärkeren zurückzudrängen und zur Stärkung des Rechts (auch) in den internationalen Beziehungen beizutragen.

Ein Prozeß der verstärkten Nutzung des Völkerrechts zur Eindämmung von Krieg und Gewalt im hier skizzierten Sinne bedarf freilich sowohl im Hinblick auf die Formen und Verfahren als auch hinsichtlich der materiellen Inhalte der »Demokratisierung«, also der verstärkten Einmischung »von unten«, gerade auch durch »Nichtregierungsorganisationen« (NGOs) und ihre Mitglieder.

Dabei sind wir und unsere Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland mit unserem berufsspezifischen juristischen Know-how, aber auch mit unserem Engagement gefordert – und zwar sowohl als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als auch in unseren juristischen Berufen, vor allem auf den Feldern des Strafrechts, des Verwaltungsrechts, des Zivilrechts und des Verfassungsrechts.

  • Können etwa Opfer irakischer Kriegshandlungen in Israel vor deutschen und anderen Gerichten Ersatz für Schäden verlangen, die sie im letzten Golfkrieg im Jahre 1991 durch den völkerrechtswidrigen Beschuß mit irakischen Scud-Raketen erlitten haben? Können sie diese Schadensersatzforderungen mit Erfolg gegenüber deutschen Unternehmen mit der Begründung erheben, diese Unternehmen hätten dem irakischen Staat wichtige Bestandteile für die (Fort-)Entwicklung und Produktion der Scud-Raketen geliefert und damit die entstandenen Schäden unter Verstoß gegen geltendes nationales und internationales Recht zumindest mitverursacht? Haften (auch) deutsche staatliche Stellen für erteilte Ausfuhrgenehmigungen oder für die fahrlässige Nicht-Unterbindung solcher Exporte?
  • Ist z.B. die Abschiebung desertierter oder wehrpflichtiger Männer durch deutsche Ausländerbehörden in den Machtbereich serbischer Behörden oder serbischer Militär-Einheiten völkerrechtlich zulässig, wenn zu befürchten steht, daß diese Männer durch die serbischen Militärs (erneut) als Soldaten rekrutiert und zu völkerrechtswidriger Unterstützung der serbischen Kriegsseite entgegen den nach Art. 25 UN-Charta verbindlichen Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates eingesetzt werden? Bestehen insoweit rechtlich relevante Abschiebungshindernisse?
  • Ist die BR Deutschland gegenüber kurdischen Bürgern in der Türkei haftungsrechtlich für Schäden verantwortlich, die diesen Bürgern oder ihren Angehörigen durch die türkische Armee mit Waffen zugefügt worden sind, die durch deutsche Organe aus NVA-Beständen an die türkische Regierung geliefert worden sind?
  • Können EG- oder Nicht-EG-Bürger, denen die Einfuhr von ihnen gehandelter Waren an den Außengrenzen der EG durch Kontingentierungsvorschriften oder ähnliche Handelshemmnisse versagt worden ist (z.B. Bananenimporte aus Mittelamerika oder Lieferung von landwirtschaftlichen Produkten aus Polen), wegen Verstoßes gegen völkerrechtliche Vorschriften dagegen mit Erfolg vor deutschen oder europäischen Gerichten klagen oder bewegen sich – wie viele meinen – solche Maßnahmen der »Festung Europa« in einem rechtsfreien Raum?
  • Inwiefern ist das Menschenrecht auf Asylgewährung völkerrechtlich geschützt? Welche Anforderungen ergeben sich etwa aus den völkerrechtlichen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention für die Anwendung des seit Mitte 1993 in der BR Deutschland geltenden neuen Asylrechts?
  • Ist die Weigerung der zuständigen Organe der BR Deutschland, sich der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag gemäß Art. 36 des IGH Status zu unterwerfen, mit Art. 24 Nr. 3 des Grundgesetzes vereinbar, der vorsieht, daß die BR Deutschland zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten »Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten« wird?

Wer gibt die Antworten?

Dr. Dieter Deiseroth ist Richter am Oberverwaltungsgericht.

Macht Macht Völkerrecht?

Macht Macht Völkerrecht?

Die Änderung des Völkerrechts durch die mächtigen Staaten

von Gerhard Stuby

Es sind die Schwachen in unserer Gesellschaft, die die meisten Hoffnungen ins Recht setzen. Sie sind am meisten enttäuscht, wenn sie unterliegen. Vor Gericht und auf Hoher See ist man in Gottes Hand, kommentiert der zynische Realist. Das herrschende Recht ist eben das Recht der Herrschenden, sagt derjenige, der Durchblick beansprucht. Nicht anders beim Völkerrecht. Die Schwachen in der asymmetrischen Staatenwelt verweisen auf Art. 2 Ziff. 1 der Charta der UN. Von „souveräner Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ ist dort die Rede. Wenn ihr uns ebenbürtig wäret, meinten die Athener den Meliern gegenüber, könnten wir über manches sprechen. So bieten wir euch Unterwerfung statt Vernichtung. Führt nicht das Gebaren der amerikanischen Supermacht oder der fünf offiziellen Atommächte, die von den anderen fordern, atomwaffenlos zu sein, zum einzig logischen Schluss: Auch heute bestimmen die Großen die Melodie? Souveräne Gleichheit, ein frommer Wunsch?

Als Anspruch souveräner Staaten ist der Wunsch erst zu Beginn der Neuzeit zu hören. Jetzt sind sie Subjekte des Völkerrechts (law international, droit public international), und zwar sowohl was das Setzen als auch das Exekutieren von Völkerrecht anlangt. Hervorgegangen sind sie aus dem Zerfall der mittelalterlichen Welt. Die Bezüge zwischen ihnen sind zunächst sporadisch. Nur in kurzen Intervallen zwischen langen Kriegen ist friedlicher Güteraustausch möglich. Hobbes sprach vom Naturzustand, in dem Anarchie und die Faust des Stärksten herrschen.

Um Ruhe und Ordnung in einem neuen Imperium zu schaffen, war kein staatlicher Souverän stark genug. Dennoch der »Urwuchs« der bestehenden Asymmetrie stand den neuen Bedürfnissen (necessitas) entgegen. Sie verlangten nach verlässlichen, nämlich rechtlichen Umgangsformen (Karl Marx, Max Weber u.a.). Mit dem Entstehen der »Bürgergesellschaft«, dem Anwachsen kapitalistischer Produktionsformen und Marktbedingungen, machten sich immer mehr Interdependenzen über die Grenzen hinweg bemerkbar. Raub, gestützt auf militärischer Kraft, wirkte zunehmend kontraproduktiv. In den Zeiten des »Friedens« muss der Andere als Gleicher anerkannt werden, um zu vereinbartem Austausch (Vertrag) zu gelangen. Der Grundkonsens war gefunden, auf dem sich die »Dogmatik« des Völkerrechts schrittweise entwickeln konnte. Die überkommene Lehre vom gerechten Krieg, noch verhaftet im alten Autoritätsgebäude (bei Hugo Grotius z. B.), wird zugunsten des ius belli aufgegeben. Kriegerischer und friedlicher Zustand mit jeweils unterschiedlichen Rechtsregeln (Kriegs- und Friedensrecht) werden begrifflich voneinander getrennt. Differenzierte Instrumente des Friedensvölkerrechtes: Vertrag, Gewohnheit, Rechtsgrundsätze etc. bilden sich aus und werden verfeinert (bis zur ausgefeilten Skala des Art. 38 IGH-Statut). Globalabsprachen zwischen den europäischen Großmächten für die Kolonialexpansion werden möglich und notwendig.

Diese Entwicklung bedurfte einiger axiomatischer Vorgaben wie den Satz: pacta sunt servanda. Sobald am zwischenstaatlichen Verkehr mehr als zwei Rechtssubjekte beteiligt sind, werden weitere Sätze erforderlich. Welten klaffen zwischen den handelnden Staaten (Groß-Mittel-Kleinmächte). Ein Zustand der Symmetrie stellt sich nicht von selbst ein. Die Rechtsfiktion, nämlich der jeweils andere sei ebenso »souverän und gleich« wie man anerkannt zu sein von ihm beansprucht, soll die faktischen Ungleichheiten überbrücken. Sie ist kein Phantasiegebilde. Sie spiegelt die internationale Realität, das prekäre Gleichgewicht zwischen den Großmächten.

Mit der Kategorie Gleichgewicht hat das Mächtekonzert des Wiener Kongresses von 1815 dem klassischen Völkerrecht den letzten Schliff gegeben. Gleichgewicht entsteht nicht allein, wenn die Kapazität der einzelnen Faktoren übereinstimmt. Auch verschieden gewichtige Faktoren können im Gleichgewicht sein, wenn die Hebelwirkung »manipuliert« wird. Im Wiener System tun dies die Pentarchen. Ihre Konkurrenz untereinander fechten sie mittels der Mittel- und Kleinmächte aus, die sich jeweils in »Höfen« (mehr oder weniger feste Allianzen) um sie lagern. Das zumindest latent vorhandene Streben jeder Großmacht um die Hegemonie über die anderen, verbunden mit Versuchen, die Satelliten des Partners abzuwerben oder in vereinbarte Äquidistanz zu allen zu bringen (Neutralität), gab den Kleineren einen gewissen Spielraum. Sie wurden so, wenn auch in abhängiger Position, Mitgestalter des Gleichgewichts zwischen den Großmächten. Diese benötigten sie als Subjekte vertraglicher, also völkerrechtlicher Beziehungen. Dieses komplexe Geflecht eines Mächteparallelogramms, Gleichgewicht genannt, ist die soziologische Basis des Prinzips der »souveränen Gleichheit« als juristische Fiktion. Sie ist der in »Übereinstimmung gebrachte Wille« (Konsens), alle an der Normsetzung zu beteiligen. Dem widersprachen Bereiche normativer Zweitklassigkeit für die Mittel- und Kleinmächte. Die latente Radikalität der Gleichheitsforderung soll durch den »Trick« der «double standard«-Argumentation gebremst werden. Die Großmächte wechseln nicht nur ständig die Ebenen Krieg und Frieden, sondern regulieren die enge Eintrittsschneise zur jeweils anderen Ebene, das ius belli. Je nach Stärke bzw. Schwäche des Partners ist es ihnen erlaubt, den Konsens mit gewünschtem Inhalt zu füllen bzw. von nicht gewünschtem zu entleeren.

Mit der Aufnahme der Pforte 1856 ins Europäische Konzert wird deutlich, dass an die Stelle eines einheitlichen (christlichen, zivilisatorischen etc.) Grundverständnisses eine Pluralität von Weltsichten (von Werteordnungen würden wir heute sagen) getreten ist. Nicht von ungefähr beziehen sich von nun an die positivistischen Völkerrechtslehrer dieser Periode auf das römische Recht, um den fehlenden Basiskonsens auszugleichen. Es war in allen europäischen Staaten unbestritten.

Die ersten internationalen Organisationen entstehen und münden in den letztlich gescheiterten Versuch, eine Organisation universalen Charakters zu bilden, den Völkerbund. Die Architekten der UN-Charta griffen auf das traditionelle völkerrechtliche Instrumentarium zurück. Die souveräne Gleichheit aller Mitglieder als Grundlage der UN in Art. 2 Ziff. 1, findet als Selbstläufer Eingang in die Charta. Die Formel stärkt die Position der Mittel- und Kleinstaaten. Ihren Repräsentanten erschien das Vetorecht der Großmächte im Sicherheitsrat als diesem Prinzip widersprechend. Einige von ihnen opponierten. Überraschend signalisierten Vertreter der amerikanischen Administration Entgegenkommen. Im Vertrauen auf ihre faktische Hegemonieposition glaubten sie ohne Vetorecht auskommen zu können. Realistischere Einschätzungen halfen ihnen, sich schnell den Sowjets anzuschließen. Bei der Aufnahme Frankreichs in den Kreis der ständigen Mitglieder – von einer realen Großmachtposition konnte kaum gesprochen werden, selbst wenn man den kolonialen Besitzstand einbezog – kalkulierten sowohl USA als auch UdSSR auf einen Neutralisierungseffekt. Die Bipolarität zwischen USA und UdSSR ist von Beginn an prekär. Schon im Kreis der ständigen Mitglieder sind beide auf Allianzen angewiesen. Dies wiederum gab den nichtständigen Mitgliedern und darüber hinaus den »einfachen« UN-Mitgliedern einen gewissen Spielraum für politische Aktionen im eigenen Interesse. Der Grundsatz der souveränen Gleichheit bestand seinen Test vor der Realität des neu eingependelten Gleichgewichts. Die Kritik, dynamisiert durch den Treibsatz Gleichheit, rieb sich nicht nur am Vetorecht.

Kap. VII der UN-Charta räumt dem Sicherheitsrat weitgehende Kompetenzen zur Friedenssicherung ein. Neben einem breiten Katalog von Maßnahmen, einschließlich militärischer Gewalt, obliegt es letztlich ihm, den Grund seiner Aktion zu bestimmen (Art. 39 gibt eine Art Kompetenz-Kompetenz). Voraussetzung ist allerdings der Konsens der Vetomächte. Dissens und damit Konstellationen der Gewaltanwendung außerhalb des Kollektivmechanismus konnten von den Architekten der Charta nicht ausgeschlossen werden.

Das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 entsprach der bisherigen gewohnheitsrechtlichen und vertraglichen Entwicklung in der Völkerbundsatzung von 1919 und dem Briand-Kellog-Pakt von 1928. Die restriktive Fassung der Selbstverteidigung (nur bei bewaffnetem Angriff) richtete sich gegen die präventive Praxis mancher Staaten (allemal gegen die amerikanische Doktrin der Preemption). Zudem ist die Selbstverteidigung als lediglich subsidiäres Instrument gestaltet. Damit entsteht ein »Legalitätsrisiko« für jedes ständige Mitglied, sobald es eigenmächtig Gewaltmaßnahmen ergreifen will, nachdem es Kraft seines Vetorechtes den Kollektivmechanismus ausgeschaltet hat.

Es war weniger dieses Legalitätsrisiko als das »Gleichgewicht des Schreckens«, das die beiden Supermächte zur »friedlichen Koexistenz« zwang. Durch bilaterale Vertragsgestaltung ihre exklusive Position zu erhalten und eine Art Kondominium zu errichten, gelang selbst auf dem Gebiet der Rüstungsbeschränkung und der Abrüstung nicht. Andere Bereiche der völkerrechtlichen Vertragsgestaltung waren noch stärker der bipolaren Exklusivität entzogen und mussten dem Primat der souveränen Gleichheit unterworfen werden. Komplexe wie Menschenrechte, Seerecht, Weltraumrecht u.a. wurden positivrechtlich d.h. durch multilaterale Verträge ausgestaltet. Noch nie in der Völkerrechtsgeschichte war ein so großer Kreis in ihrem faktischen Gewicht völlig unterschiedlicher Staaten – also in einem Zustand gesteigerter Asymmetrie – an der Entstehung von Völkerrecht beteiligt. Selbstverständlich hatten die Großmächte, allen voran die Supermächte, in allen wesentlichen Fragen ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Sie hatten auch die Macht, eine vor allem gewohnheitsrechtliche Entwicklung, die eine überwiegende Mehrheit der Staaten anstrebte, zu blockieren, Tendenzen auszuschalten (bei den sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten oder beim Tiefseebergbau z. B.), die eine allzu starke kollektive Kontrolle privater Verfügungsmacht über Ressourcen anstrebten.

Ein Beispiel dafür, dass Sonderrechte der Großmächte nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden, ist Art. VI des Nichtweiterverbreitungsvertrages von 1968, der eine Verpflichtung zur „allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“ enthält, die sich in erster Linie an die Kernwaffenstaaten richtet. Ihr privilegierter Status wird durch diese wenn auch vage Abrüstungsverpflichtung als vorläufig eingestuft. Dieser Trend wird besonders deutlich bei völkerrechtlichen Normierungen, die das faktisch »schwache« Völkerrechtssubjekt im bilateralen oder multilateralen Vertragsverhältnis schützen sollen. Nach Art. 52 WÜV v. 1969 ist ein Vertrag nichtig, wenn sein Beschluss durch Androhung oder Anwendung von Gewalt unter Verletzung der in der UN-Charta niedergelegten Grundsätze herbeigeführt wurde, und Art. 53 lässt einen Vertrag nichtig sein, wenn er im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Ius cogens ist „eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“Die Formulierung bestätigt das Prinzip der souveränen Gleichheit und des Konsensprinzips. Allerdings erhält jetzt eine bestimmte Schicht von Völkerrecht außerhalb der Charta eine Art Ewigkeitsgarantie. Die Frage, welche Normen dies sind, welche Reichweite sie haben, wer vor allem die Interpretationshoheit und Sanktionskompetenz besitzt, die Staaten im üblichen Prozess der Gewohnheitsrechtsfeststellung (opinio und Praxis) oder in irgendeiner Form institutionalisiert (vor allem durch ein wie auch immer gewichtetes Stimmrecht) in Internationalen Organisationen (UNO etc.), ist damit noch nicht entschieden.

Auch wenn hiermit nur ansatzweise die schlimmsten Folgen der Asymmetrien in der Staatenwelt angesprochen sein mögen, die normativen Bemühungen, dass eine lediglich formale Handhabung grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien wie die souveräne Gleichheit nicht mehr ausreicht, machen deutlich, dass von einem unverzichtbaren »materiellen« Schutzbereich der souveränen Gleichheit, vergleichbar mit den Grenzen des Grundrechtsverzichtes im innerstaatlichen Verfassungsrecht, auszugehen ist. Seine Funktion besteht darin, der faktischen Ungleichheit zwischen den Staaten entgegenzuwirken.

Das Verschwinden des ehemaligen Supermachtspartners hat seit den neunziger Jahren die Asymmetrie der Staatenwelt zugunsten einer Macht allein, den USA, wachsen lassen. Manche sehen schon ein neues Imperium entstehen.

In bestimmten Bereichen von multilateralen Verträgen, z. B. des internationalen Handels, wozu auch das wissenschaftliche Know How (Patente etc.) gehört (WTO), des Ressourcenregimes im Seerecht u.a.m. konnten die USA ihre schon in den achtziger Jahren starke Position ausbauen. Der »ungleiche« Konsens als Abstimmungsmodus breitet sich aus. Alle schwachen Ansätze einer »Neuen internationalen Wirtschaftsordnung« zugunsten ehemaliger, sich von kolonialer Beherrschung emanzipierender Länder sind inzwischen beseitigt. Schwieriger ist eine Änderung der UN-Charta, um eine Relativierung des Gewaltverbotes zu erreichen. Hier sind auch dem faktisch stärksten Mitglied der UN wegen des geforderten Quorums einschließlich aller ständigen Mitglieder des SR (Art. 109 UN-Charta) kaum zu übersteigende Grenzen gesetzt. Eine direkte Änderung der Charta, des positiven Rechts, und damit eine Anpassung oder gar Beseitigung des Prinzips der souveränen Gleichheit ist unwahrscheinlich. Wie sieht es aber im gewohnheitsrechtlichen Kontext aus?

Für »Realisten«, die Völkerrecht als Photographie des vor allem militärischen und wirtschaftlichen Kräfteparallelogramms behandeln, jedenfalls ihm selbständige und regulierende Funktion absprechen, erledigt sich das Problem von selbst. Die Normänderung erfolgt »automatisch«. Schwieriger haben es Strömungen, die an Vorläufern der Zwischenkriegszeit anknüpfen. Sie gehen von einem unverfügbaren substantiellen, quasi naturrechtlichen Substrat eines Normengefüges der internationalen Staatengesellschaft aus. Es wird jetzt als Internationale Rechtsgemeinschaft, Weltverfassung oder relativ neu als Werteordnung bezeichnet. Die Parallele zur deutschen Verfassungsdiskussion – Werteordnung, deren Ausdruck die Grundrechte sind – wird ausdrücklich angesprochen. Diese Werteordnung bestehe aus zum Teil antagonistischen Prinzipien (hie absolutes Gewaltverbot, dort Menschenrechte, ausgeliefert der egoistischen Staatensouveränität z.B.). Sie ständen untereinander in einem Spannungsverhältnis, das in eine Einheit des Ganzen gebracht werden müsse.

Wir haben also im Wesentlichen zwei Diskussionsstränge. Einen, in erster Linie bei Politikwissenschaftlern zu finden, der auf die realen Veränderungen in den internationalen Beziehungen hinweist, und einen zweiten, mehr unter Völkerrechtlern anzutreffen, der im Kontext von »Werteabwägungen« mit Vorschlägen zur normativen Anpassung im Wege der Interpretation mit Blick auf das Gewohnheitsrecht und eine Institutionsreform (Sicherheitsrat u.a.) hervortritt. Beide Tendenzen lehnen sich stark an den wissenschaftlichen Diskurs in den USA an. Denn ohne Bezug auf das Völkerrecht, vor allem in der angedeuteten einheitsstiftenden Interpretation, lässt sich die »kulturell-ideologische« Hegemonie nicht halten. Je mehr andere Faktoren militärischer und wirtschaftlicher Art durch Verschleiß und andere Gründe relativiert werden, umso mehr rückt die kulturell-ideologische und damit die völkerrechtliche Legitimation in den Vordergrund. All diese »ideologischen« Bemühungen spiegeln die Geschwindigkeit des Wachstums einerseits der Interdependenzen anderseits der Tendenzen einer Desintegration wider, die sich im aktuellen System der Internationalen Beziehungen oft in gewaltsamen Formen vollzieht. Im Unterschied zu vorhergehenden Epochen ist allerdings ein verhältnismäßig komplexer kollektiver Mechanismus der Regulierung in Form der UNO vorhanden. Er wird auch – und dies im Unterschied zur Völkerbundzeit – von keiner Seite grundsätzlich bestritten, auch nicht von den USA.

Unsere Welt ist pluralisiert und global. Weder ein mächtiger noch ein »guter« Hegemon kann und sollte sie »einen«. Der Preis wäre hoch! Die Asymmetrie der Staatenwelt war nie größer in der Weltgeschichte. Starke Staaten zerlegen schwächere. Sie suchen sie nach dem Zerfall (failed states) wieder zusammenzusetzen. Die gewaltsame Einheitsstiftung funktioniert so wenig wie die manipulative. Im Gegenteil, derartige Versuche beschleunigen die globale Desintegration (internationaler Terrorismus – unter welcher ideologischen Fahne auch immer).

Ist die Alternative ein mafios strukturiertes globales Chaos? Gespeist aus den historischen Erfahrungen der beiden Weltkriege ist das »Westfälische System« (Wiener Kongress, Völkerbund) nicht abgeschafft, sondern ins UN-System überführt worden. Einheit trotz bestehender Asymmetrie durch Konsens in souveräner Gleichheit gegen Imperien gleich welcher Art, war die Devise. Die Großen hatten zwar die Macht, Völkerrecht zu machen. Sie mussten aber die »Kleinen« in den Konsens der Verträge einbeziehen. Die »Schwachen« haben ein existentielles Interesse, die Totenglocke anzuhalten, die der »souveränen Gleichheit« vielerorts geläutet wird.

Literatur:

Norman Paech, Gerhard Stuby: Völkerrecht und Macht in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001.

Michael Byers and Georg Nolte (ed.): United States Hegemony and the Foundations of International Law, Cambridge University Press 2003.

Herfried Münkler: Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.

Erik Wolf: Griechisches Rechtsdenken Bd. III, 2, Frankfurt a. M. 1956, S.113 ff. (Zum Melierdialog).

Dr. Gerhard Stuby, Prof. i.R. für Öffentliches Recht und wissenschaftliche Politik der Universität Bremen