Formen urbaner Gewalt

Formen urbaner Gewalt

von Jürgen Oßenbrügge

Großstädte gelten seit Langem als Orte, in denen sich die Stadtbewohner und Besucher besonderen Gefahren und Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind. Diese reichen von Diebstahl und Raub, gewaltförmigen Demonstrationen zu Terrorakten und Bürgerkriegen. Entsprechend häufig werden Städte auch nach Sicherheitskriterien eingestuft, es werden »no-go-areas« ausgewiesen und besondere Verhaltensformen angemahnt. Inzwischen bestehen auch zahlreiche bauliche Vorsorgemaßnahmen und besondere Sicherheitsdienste, die als Schutz vor Gewalt von Seiten des Staates, zunehmend aber auch von privater Seite eingerichtet oder angeboten werden. Das Thema Stadt und Gewalt gerät damit immer stärker in die Diskussion über Sicherheit im Alltagsleben.

Wenn eine Beziehung zwischen Stadt und Gewalt hergestellt wird, ist es zunächst angebracht, näher zu beschreiben, um welche besonderen Erscheinungsformen der städtischen Gewaltverhältnisse es gehen soll. Denn es ist klar, dass physische oder strukturelle Eingriffe in die körperliche und mentale Integrität von Menschen überall vorkommen können, folglich auch in Städten. Häufungen finden wir in urbanen Räumen schon deshalb, weil Bevölkerungskonzentrationen vorliegen und sich Gewaltformen aus einer »kritischen Masse« heraus entwickeln können. Ausschlaggebend bleiben aber soziale, politische, ökonomische und kulturelle Determinanten für Gewalt, die sich in Städten manifestieren. In diesem Sinne erklärt der städtische Kontext per se keine Gewaltformen.

Daneben besteht aber auch die Auffassung, dass Städte schon aufgrund ihrer städtebaulichen Strukturen und ihrer Wirkung auf die Lebensweise zu Gewalt in unterschiedlichen Erscheinungsformen führen. Zwar wird auch hier mit »Stadt»« kein eigenständiger Akteur verbunden, urbane Materialitäten stehen aber sozusagen hinter den bereits erwähnten Determinanten der Gewaltformen, d.h. sie strukturieren Handlungen, die von Gewalt begleitet sind oder in Gewalttätigkeiten münden.

Wenn wir uns mit dem Thema Stadt und Gewalt auseinandersetzen, dürfen wir also nicht nur von einer raumbezogenen Statistik ausgehen, die lediglich das »Wo« der Gewalt beschreibt. Vielmehr müssen wir uns auf Gewaltformen konzentrieren, die durch die Stadt selbst produziert werden. Wenn dies gelänge, würden auch Interventionspotentiale sichtbar, also Hinweise darauf, wie durch einen Umbau der Stadt Beiträge zur Gewaltprävention entstehen könnten.

Diese eher methodologische Ausgangsüberlegung wird im Folgenden genutzt, um den Beitrag zu strukturieren. Im ersten Schritt werden dazu die bereits in der Literatur benannten Gewaltformationen beschrieben, die als »urban« gelten. Hierbei handelt es sich um eine aktualisierte Typologie, die bereits in Oßenbrügge (2011) verwendet wurde. Der zweite Schritt sucht nach den städtischen Erklärungen für Gewalt und bezieht sich auf Konzepte der soziologischen und geographischen Stadtforschung sowie auf die Architekturtheorie. Im abschließenden Fazit werden die typologischen und konzeptionellen Argumente in ihrer Relevanz für die Friedens- und Konfliktforschung besonders im Hinblick auf Gewaltprävention bewertet.

Sicherheit in Städten – zur Typologie urbaner Gewaltformationen

Die Diskussion über Sicherheit, Gewalt und Intervention in Städten wird häufig von einzelnen Ereignissen bestimmt. Aus deutscher und europäischer Perspektive gehören dazu etwa die in ihrer Intensität außergewöhnlichen Angriffe auf Frauen beim Jahresübergang 2015/16, besonders in Köln und Hamburg, oder terroristische Gewaltexzesse, wie in Paris zu Beginn und zum Ende des Jahres 2015. In der globalen Perspektive dreht sich die Diskussion seit 2000 sehr stark um die Dynamik der Verstädterung, die zunehmende Zahl so genannter Megastädte, die Urbanisierung der Armut sowie die Risiken von Stadtregionen im globalen Wandel. Entsprechend große Aufmerksamkeit fanden umfangreiche Bestandsaufnahmen, wie die Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2002), des UN-Habitat (2007) oder der Weltbank (The World Bank 2011).

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas und der folgende Entwurf einer Typologie beziehen sich besonders auf Moser (2004), Agostini et al. (2010) und Kasang (2014).

  • »Normalisierung« der Gewalt: Urbane Gewaltformationen wirken als Hinterlassenschaft politischer Repression über Jahre nach. Für diesen Aspekt steht die Situation der Großstädte in Südafrika in den 1990er Jahren. Auch nach der Überwindung der Apartheid im Jahre 1994 blieben Gewaltbeziehungen in vielen zusammenhängenden Stadtgebieten prägend. Ähnliche gewaltförmige Postkonfliktbeziehungen prägen auch San Salvador. Normalisierung der Gewalt ergibt sich weiterhin als Folge dauerhafter Machtkämpfe um Herrschaft (z.B. Kingston/Jamaika).
  • Territoriale Nischen im Kontext institutionell schwacher Staaten: In Weiterführung des obigen Punktes hebt dieser Aspekt auf gemischte Gewaltformationen auf lokaler Ebene ab, d.h. auf das »Verwischen« der Grenzen politischer, ökonomischer und krimineller Gewalt (z.B. PAGAD in Kapstadt/Südafrika, Cali-Kartell in Santiago de Cali/Kolumbien). Bedeutsam ist auch die Drogenwirtschaft, die in den Favelas der Großstädte Brasiliens oder in Ciudad Juarez/Mexiko auftritt. Gewalt zeigt sich hier als Medium des Geld-, Macht- und Prestigegewinns.
  • Staatsversagen und informelle Rechtsprechung: Dieser Aspekt fasst die Selbsthilfe im Klima der Rechtlosigkeit (Städte in Südafrika), Formen der Lynchjustiz (Nigeria) sowie polizeilichen Terror (Rio und Sao Paulo/Brasilien) zusammen.
  • Multiple soziale Exklusion und Jugendbanden: Das Beispiel der Maras in Städten Zentralamerikas verweist auf Gewalt als Sozialisationsinstanz, verbunden mit klaren Mustern der städtischen Segregation und der Ausübung territorialer Hegemonie.
  • Häusliche und geschlechtsspezifische Gewaltformen: Häusliche Gewalt wird häufig als Ausgangspunkt für andere Gewaltbeziehungen angesehen und damit zum primären Gegenstand der Gewaltprävention.
  • Konflikt um den Zugang zu Trinkwasser: Die Versorgung mit Trinkwasser ist in vielen Großstädten äußerst prekär. Dabei spielen die absolute Knappheit der Wasservorkommen und insbesondere die Verteilungsmodi eine Rolle. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt es vor allem, wenn es um die Privatisierungen des Trinkwassers geht (z.B. Bolivien, Südafrika).
  • Konflikte um Nahrungsmittel: Der rasante Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel in den Jahren 2007 und 2008 führte in vielen Städten zu Revolten. Ursachen war neben einer starken Nachfrage aus Schwellenländern die zunehmende Produktion von Agrotreibstoffen und die dadurch verursachte Flächenverknappung.
  • Konflikte um Slumsanierungen: Eine weitere städtische Gewaltformation basiert auf dem Umgang mit Wohnraum und der häufigen Praxis, über »Flächensanierungen« ungewünschte Siedlungsformen zu beseitigen. Entsprechende Auseinandersetzungen sind in lateinamerikanischen Städten seit Jahrzehnten bekannt und betreffen zunehmend auch asiatische und afrikanische Städte.
  • Gewalt als Folge internationaler Intervention: Nahrungsmittelhilfen und Flüchtlingslager können zur Etablierung von Gewaltformationen beitragen.
  • Privatisierte Sicherheit und fragmentierte Stadt: Sicherheitsprobleme befördern unterschiedliche Formen der privat finanzierten Sicherheit, die verstärkte Kontrolle öffentlicher Räume und die Errichtung von »Gated Communities« im Bestand oder als neue Quartiere.

Diese Auflistung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, macht nicht nur unterschiedliche Formen städtischer Gewalt deutlich, sondern verweist auch auf vielfältige Interaktionen. Urbane Gewaltformen sind multikausal und stehen zugleich in lokalen, nationalen und internationalen Kontexten. Daher sind einfache Lösungen, wie das vom ehemaligen Bürgermeister von New York propagierte Konzept der »zero tolerance« (null Toleranz) oder das von der Weltbank beförderte Konzept des »good urban governance« (gute Regierungsführung in der Stadt), nicht oder nur langfristig im Kontext anderer Transformationsprozesses vorstellbar. Allerdings scheint die von UN-Habitat konstatierte Zunahme urbaner Gewalt eher auf einen Rückzug des Staates zu deuten. Hingewiesen wird auf die institutionelle Schwäche der Staaten, sozialen Konflikten mit demokratischen und zivilen Mitteln zu begegnen. Formen städtischer Gewalt bedrohen nicht nur die Regierungsfähigkeit und demokratische Konsolidierungsprozesse, sondern werden vielmehr von ganz unterschiedlichen Akteuren immer häufiger eingesetzt, um gegen traditionelle Machtgruppen eigene Ziele zu verfolgen und durchzusetzen (Koonings and Kruijt 1999, S.11).

Verstädterung, Bevölkerungskonzentration und davon bestimmte Gewaltformen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückte das Phänomen der »Megastädte« in das Blickfeld der Risiko- und Konfliktforschung. Vor dem Hintergrund einer zwar nicht mehr so rasch, aber dennoch weiter wachsenden Weltbevölkerung und einer zunehmenden Verstädterung ist die Anzahl großer Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern stark gestiegen. Mit dieser Bevölkerungskonzentration gerieten Megastädte in einen »securitization move«, d.h. sie wurden als besondere Risiko- und Unsicherheitsräume konzipiert und beschrieben. Dies führt zur Frage, ob die Stadtgröße eine eigenständige Erklärung für Gewaltphänomene liefert bzw. ob sich aus der Anzahl und Dichte der Bevölkerung neuartige Erscheinungen ableiten lassen.

Liotta and Miskel (2012) trugen in ihrem Buch »The Real Population Bomb« diesbezüglich Argumente zusammen und illustrierten sie mit entsprechenden Stadtbeschreibungen. Für sie ist das 21. Jahrhundert als »urban century« verbunden mit Megastädten als „Häfen für Terroristen und kriminelle Netzwerke, genauso wie als Quelle erheblicher Umweltbelastungen“ (S.2). Diese Städte seien „natürliche Laboratorien“, in denen sich all jene Faktoren herausbilden, die die menschliche und internationale Sicherheit gefährden. Weiter würden die verdichteten Massen, in denen insbesondere junge Männer zwischen 15 und 29 Jahren eine entscheidende Rolle zukäme (youth bulge), zu Aufruhr und zur Destabilisierung bestehender Ordnungsansätze führen (ebd.). Nach dieser Auffassung befördert die Verstädterung Räume der Unsicherheit, der Gefahr und der Gewalt, die sich in den bevölkerungsreichsten Städten am stärksten ausprägen (Williams 2010).

Obwohl für diese Einschätzung weder eine theoretische Begründung noch eine systematisch angelegte empirische Evidenz vorliegt, können räumliche Konzentrationen durchaus Gewaltformen befördern. Bekannt ist in der Stadtforschung die Wirkung so genannter positiver oder negativer Agglomerationsfaktoren, dies sich aus der Bündelung von Einrichtungen und Aktivitäten sowie kurzen Wegen oder persönlichen Kontakten ableiten lassen. Von Agglomerationsfaktoren können sicher kriminelle Netzwerke und Terrorgruppen ebenso profitieren wie gewaltbereite Kleinkriminelle. Ein weiteres theoretisches Argument ließe sich aus der Global-City-Forschung ableiten, die die Bedeutung von Städtenetzwerken im Kontext der globalisierten Ökonomie anspricht. Die Verflechtungsintensität zwischen Städten ist sicherlich auch in illegalen Handels- und Transportbeziehungen wichtig. Damit dienen Städte mit ihrer Infrastruktur auch als Knotenpunkte in gewaltförmigen globalen Netzwerken.

Eine weitere Folge der Verstädterung und Bevölkerungskonzentration ist die Urbanisierung der Armut, die sich in einer unzulänglicher Wohnsituation, fehlender Infrastruktur, mangelnden Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichenden Sozialleistungen ausdrückt. Der UN-Habitat Bericht (2006/7) oder das Buch »Planet of Slums« von Mike Davis (2007) verweisen eindrücklich auf diese Seite des globalen Wandels. Die damit verbundenen Lebenslagen erzwingen geradezu kreative, häufig auch gewaltförmige Überlebensstrategien, um die eigene Reproduktion oder auch die der Familie, der Clans o.ä. in prekärer Form zu sichern.

Zusammengenommen haben also der Verstädterungsprozess und die damit verbundene Bevölkerungskonzentration grundsätzlich das Potential, neue Formen von Kriminalität und Gewalt hervorzubringen. Sicherlich ist diesbezüglich wegen unterschiedlicher Traditionen und kultureller Kontexte, unterschiedlicher Staatlichkeit oder wirtschaftlicher Verhältnisse von Stadt zu Stadt zu differenzieren. Auch ist keine lineare Abhängigkeit zwischen Stadtgröße und Gewaltintensität zu vermuten, weil Agglomerationsfaktoren komplex sind und unterschiedlich wirken. Mit zunehmender Größe einer Stadt nehmen aber auch die Möglichkeitsräume für Gewalt zu.

Fortgeschrittene Marginalität in urbanen Räumen und mangelnde soziale Kohäsion

Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der inzwischen umfangreichen Forschung über den Zusammenhang von städtischen Armutsquartieren und kriminellen Lebenswelten. Auch hier wird städtischen Räumen „eine eigenständige kausale Bedeutung für die Genese von Kriminalität“ und Gewalt zugestanden, und zwar „unabhängig von der Rolle der Individuen, die sich in ihnen aufhalten“ (Oberwittler 2013, S.46).

Diese ursprünglich im Hinblick auf US-amerikanische Städte entwickelte Forschungsrichtung geht der Fragestellung nach, ob die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, ihre Interaktionen und kollektiven Vertrauensbeziehungen einen starken Einfluss auf Sicherheit haben. Diese sozialräumliche Perspektive betont einen Effekt, der als »kollektive Wirksamkeit« bezeichnet wird. Er beruht auf den in einem Quartier bestehenden Vertrauensbeziehungen und Verhaltensnormen sowie auf der Sichtbarkeit von Interventionen und Sanktionen, wenn schwerwiegende Normabweichungen auftreten. In verschiedenen empirischen Untersuchungen wurde für Nordamerika und Westeuropa eine enge Korrelation zwischen fehlender kollektiver Wirksamkeit und sozialräumlicher Marginalität festgestellt. Hinzu treten hohe Mobilitätskennziffern und – wenn auch umstritten – ethnisch-kulturelle Diversität (Oberwittler 2013). Beide Indikatoren verweisen auf Defizite, kollektive Wirksamkeit herzustellen, weil Nachbarschaften wegen einer hohen Umzugshäufigkeit instabil sind und möglicherweise gerade die aktiven Bewohner wegziehen oder weil wegen sprachlich-kultureller Distanz wenig soziale Interaktion stattfindet. Eine wichtige Rolle spielen auch Wahrnehmungs- und Zuschreibungspraktiken, die das Image benachteiligter Quartiere betreffen und einen negativen Rückkopplungseffekt auf das kollektive soziale Kapital ausüben. Die als kriminalitäts- und gewaltbelastet oder als »no go areas« stigmatisierten Stadträume geraten in einen sich selbst verstärkenden Prozess der Abwertung.

Wohnungsbau und öffentlicher Raum

Neben der sozialräumlichen Situation bieten auch der städtebauliche Kontext, die Architektur und die darüber strukturierte Qualität des öffentlichen Raumes einen Erklärungsansatz für Gewalt und Kriminalität. Aus der für jüngere Forschungsrichtungen sehr wichtigen stadtkritischen Diskussion der 1960er Jahre (für die Namen wie Henri Lefebvre, Jane Jacobs und Alexander Mitscherlich stehen) hat sich auch eine Perspektive etabliert, die vor allem durch das Buch »Defensible Space« von Oscar Newman (1972/73) bekannt wurde. Am Beispiel New Yorks und anderer Städte wird gezeigt, wie Effekte wie die eben angesprochene kollektive Wirksamkeit durch Städtebau befördert oder behindert werden können. Dazu gehören Bauformen »im menschlichen Maßstab«, eine gut interpretierbare Formsprache, die Zugehörigkeitsgefühl erzeugt, optimierte Sicht- und Blickkontakte zur Herstellung einer »natürlichen Überwachung« sowie eine gute Gestaltung der Verkehrswege, der Freiflächen und Gemeinschaftsräume, um das „Leben zwischen den Häusern“ (Gehl 2012) zu befördern. Ansatzpunkte wie die »broken windows«-These, die zu einer negativen Quartiersentwicklung beitragen können, sind zu vermeiden. Hier werden unmittelbare Übergänge zur Stadtplanung und auch zu solchen Formen der Quartierspolitik deutlich, wie sie in Deutschland unter der Bezeichnung »soziale Stadt« praktiziert werden.

Fazit

Gegenwärtige Tendenzen der Verstädterung, problematische Stadtstrukturen und Prozesse der sozialräumlichen Segregation weisen verschiedene Bezüge zu Gewaltformen und Kriminalität auf, die als typisch »urban« bezeichnet werden können. Es bedarf folglich auch besonderer Präventionsstrategien, die sich auf die Dezentralisierung von Megakonzentrationen, auf Formen der kollektiven Organisation, auf die Vermeidung zunehmender Marginalität und auf die Gestaltung der Stadt beziehen lassen. Wenn das 21. Jahrhundert eines der Städte wird, dann sollten entsprechende Konzepte intensiver diskutiert und auch umgesetzt werden. Dabei geht es weniger um die spektakulären Vorzeigeprojekte, die in vielen Großstädten im Vordergrund stehen, sondern um den alltagstauglichen Umbau des bestehenden Stadtraums, um die grundlegenden Bedürfnisse der Stadtbewohner einschließlich ihrer realen und wahrgenommen Sicherheit zu verbessern. Entscheidend ist dabei die Vermeidung der privatisierten Sicherheit, die in vielen Städten in Form so genannter »gated communities« und abgeriegelter Einzelhäuser sichtbar ist und in subtileren Formen auch in »Business Improvement Districts« wirksam wird; dort trennen Sicherheitsakteure die erwünschten von nicht erwünschten Besuchern und erteilen letzteren ein Zutrittsverbot. Problematisch ist auch die Ausweisung von Gefahrenzonen, in denen der Staat bzw. die Polizei mittels Sonderrechten agieren kann.

Lebensqualität in der Stadt entsteht nicht durch Sicherheitskräfte und Überwachungssysteme, sondern durch soziale Organisation, sensible Stadtplanung und die Reduzierung sozialer Ungleichheit.

Literatur

Giulia Agostini, Francesca Chianese, William French, Amita Sandhu (2010): Understanding the Processes of Urban Violence – An Analytical Framework. London: Crisis States Research Centre, Development Studies Institute, London School of Economics.

Mike Davis (2006): Planet of Slums. London: Verso. Die deutsche Fassung ist 2011 unter dem Titel »Planet der Slums« bei Assoziation A (Berlin) erschienen.

Jan Gehl (2012) Leben zwischen Häusern. Berlin: Jovis.

Felix Hoepner (2015): Stadt und Sicherheit – Architektonische Leitbilder und die Wiedereroberung des Urbanen: »Defensible Space« und »Collage City«. Bielefeld: transcript.

Nicholas Kasang (2014): Conceptual Underpinning of Violence Prevention. In: Kosta Mathéy, Silvia Matuk (eds.): Community-Based Urban Violence Prevention – Innovative Approaches in Africa, Latin America, Asia and the Arab Region. Bielefeld: transcript. S.24-41.

Kees Koonings and Dirk Kruijt (1999): Introduction. In: dies. (eds.): Societies of Fear – The Legacy of Civil War, Violence and Terror in Latin America. London: Zed Books.

P.H. Liotta and James F. Miskel (2012): The Real Population Bomb – Megacities, Global Security and the Map of the Future. Dulles: FreePress.

Carolyn Moser (2004): Urban Violence and Insecurity – An Introductory Roadmap. Environment & Urbanization, 16 (2), S.3-16.

Oscar Newman (1972/73): Defensible Space – Crime Prevention Through Urban Design. Macmillan: New York.

Dietrich Oberwittler (2013): Wohnquartiere und Kriminalität – Überblick über die Forschung zu den sozialräumlichen Dimensionen urbaner Kriminalität. In: ders., Susann Rabold und Dirk Baier (Hrsg.): Städtische Armutsquartiere – Kriminelle Lebenswelten? Studien zu sozialräumlichen Kontexteffekten auf Jugendkriminalität und Kriminalitätswahrnehmungen. Wiesbaden: Springer VS, S.45-96.

Jürgen Oßenbrügge (2011): Globale Verstädterung, Klimawandel und Konfliktlagen. In: Michael Brzoska, Martin Kalinowski, Volker Matthies, Berthold Meyer (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte, Versicherheitlichung versus präventive Friedenspolitik? Baden-Baden: Nomos, S.173-188.

The World Bank (2011): Violence in the City – Understanding and Supporting Community Responses to Urban Violence. Washington D.C.: The World Bank, Social Development Department – Conflict, Crime and Violence Team.

UN-Habitat (2006): State of the cities 2006/7. London.

UN-Habitat (2007): Enhancing Urban Safety and Security – Global Report on Human Settlements 2007. London: UN-Habitat.

World Health Organization/WHO (2002): World report on violence and health. Genf.

Phil Williams (2010): Here be dragons – dangerous spaces and international security. In: Anne L. Clunan and Harold A. Trinkunas (eds.): Ungoverned spaces – Alternatives to state authority in an era of softened sovereignty. Stanford: Stanford University Press, S.34-56.

Jürgen Oßenbrügge forscht und lehrt an der Universität Hamburg. Er ist Humangeograph und Stadtforscher mit regionalen Bezügen in Lateinamerika, Afrika und Europa.

Stadt und Frieden

Stadt und Frieden

Eine architektonisch-umweltpsychologische Betrachtung

von Nicole Conrad und Klaus Harnack

Die Stadt: Anregung, Abwechslung, Arbeitsplätze, Anonymität in der Masse, Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Eine Stadt, der gebaute Raum, ist das Spiegelbild der Gesellschaft, die sie gebaut und weitergebaut hat. Die Stadt ist ein interdependentes und dynamisches Konstrukt, dessen Wirkung ihre Strukturen und Werte rückkoppelnd verstärkt. Städte sind folglich materiell-räumlich fixierte Werte und gehören zu den grundlegenden Einheiten der menschlichen Zivilisation. Der Beitrag versucht, die Wirkungsweisen einiger neuralgischer Punkte, die die Strukturen und Werte der Stadt definieren, aufzuzeigen und mögliche Chancen und Entwicklungspotentiale für den Zivilisationsraum Stadt darzustellen.

Jede Stadt hat ihre eigene Logik, und häufig werden durch die Stadt Werte festgeschrieben, die nie beabsichtigt waren und weder zeitgemäß noch zukunftsweisend und nachhaltig sind. Betrachten wir beispielsweise die autogerechte Stadt mit ihren großen Um- und Neuplanungen in den 1960er Jahren: Hier wird der öffentliche Raum von motorisiertem Individualverkehr und dem geparkten Automobil dominiert. Ein öffentliches Leben findet dort nur begrenzt statt, und nicht selten leiden diese Städte inzwischen unter den Folgen von Umweltbelastung und sozialen Problemen, die aus den über ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Planungsentscheidungen resultieren. Die Bedürfnisbefriedigung der StadtbewohnerInnen, vor allem der sozial Benachteiligten, bezüglich Wohnen, Wohnumfeld und Stadtraum wird durch diese Lebensbedingungen oft stark eingeschränkt.

Ähnliche Fehlentwicklungen finden wir in Städten, in denen der öffentliche Raum fast exklusiv dem Konsum dient: Kein Sitzplatz ohne Verzehr, kein Vergnügen ohne Bezahlung, keine Flächen, die der Bevölkerung »einfach so« zur Verfügung gestellt werden, wie etwa Spielplätze, kleine Parks oder Sportflächen. Hier werden bestimmte Bevölkerungsschichten nicht mit Zäunen, sondern durch ihre fehlende Kaufkraft ausgegrenzt. Ähnlich verhält es sich mit Städten, deren Quartiere nach Einkommen oder ethnischer Zugehörigkeit der BewohnerInnen aufgeteilt sind. Segregation, Gentrifizierung, Gated Communities oder Slums sind Zeichen einer zu Stein gewordenen sozialen Ungleichheit.

Um das Potenzial von Städten als materiell-räumliche Vermittler von Werten ausschöpfen zu können, müssen Ziele definiert werden, die die Befriedigung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse fördern. Ein Positivbeispiel für die Abwendung der Autofixiertheit ist Kopenhagen: Hier wurde der innerstädtische öffentliche Raum Stück für Stück vom Verkehr befreit und der Bevölkerung wieder zur Verfügung gestellt. Eine solche stadtplanerischen Umorientierung ermöglicht auch die (Wieder-) Zurverfügungstellung von Lebensräumen für Pflanzen und Tiere, um die Biodiversität in der Stadt zu erhöhen und das Stadtklima zu verbessern. In diesem Zuge wird zunehmend auch die Bereitstellung von Flächen zur innerstädtischen Lebensmittelproduktion und Energiegewinnung thematisiert.

Bedürfnisse

Was also soll, muss und kann eine Stadt leisten? Welche Werte soll sie vermitteln? Wie sieht das menschliche Habitat Stadt aus, das seine BewohnerInnen möglichst konfliktfrei auf engem Raum miteinander leben lässt? Einen auf den ersten Blick skurrilen Denkanstoß lieferte der Zoologe Hinrich Sambraus mit folgender Äußerung: „Wenn alle Bedürfnisse befriedigt sind, läuft das Zusammenleben der Schweine äußerst harmonisch ab. So wie beim Menschen auch.“ (Greiner 2015)

Folgen wir diesem Bild der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse in Anlehnung an die vom US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (1943) beschriebene Bedürfnishierarchie, sind folgende Faktoren zu berücksichtigen:

  • Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und sauberem Wasser muss gewährleistet sein.
  • Es wird Wohnraum benötigt, der Privatheit, Rückzug, ruhigen Schlaf, Wärme, Sauberkeit, Schutz und Sicherheit bietet.
  • Die BewohnerInnen benötigen Arbeitsplätze und die Möglichkeit, dorthin zu gelangen.
  • Der Lebensraum muss Orientierung, Vertrautheit und Beständigkeit vermitteln und die Möglichkeit zu Kontakt, Teilnahme, Identifikation und Integration bieten.
  • Außerdem sollte der Lebensraum das Bedürfnis nach Anregung und Ästhetik befriedigen sowie Bildung und ein kulturelles Leben ermöglichen.

Mit der Frage, wie Städte diese Bedürfnisse befriedigen könnten und welche Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Aspekten bestehen, befassen sich u.a. Umwelt- und Architekturpsychologen. Ausgehend vom amerikanischen Mitbegründer der modernen Umweltpsychologie, Roger Barker, der den Begriff des »Behavior Setting« prägte, werden nachfolgend einige Zusammenhänge aufgezeigt.

Mechanismen

Ein Behavior Setting beschreibt, wie das Verhalten von Menschen über das Setting beeinflusst wird (Barker 1968). Das Setting stellt die Summe aller Einflussfaktoren dar: der Raum mit seinen Gestaltungselementen, die anwesenden Personen und deren Verhalten. Barker stellte fest, dass das Verhalten einer bestimmten Person sich vom Verhalten der anderen Personen im selben Setting weniger stark unterscheidet als von seinem eigenen Verhalten in einem anderen Setting. Betrachten man das Setting »Kirche« im Vergleich zum Setting »Bierzelt«, wird schnell klar, was Barker meinte: Die Umgebung kommuniziert über ihre Gestaltungsmerkmale einen Verhaltenskodex.

Ähnlich beschreibt die Anfang der 1980er Jahre entwickelte Broken-windows-Theorie den Einfluss der unmittelbaren Umwelt auf das menschliche Verhalten (Kelling and Wilson 1982). Die Theorie lässt sich vereinfacht am Beispiel weggeworfener Bonbonpapiere illustrieren: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ein Bonbonpapier einfach auf den Boden anstatt in den Papierkorb wirft, wird beeinflusst durch den Verschmutzungsgrad der unmittelbaren Umwelt. Liegen bereits Bonbonpapiere auf dem Boden, so sinkt die Hemmschwelle, ein weiteres fallen zu lassen. Im Kern verfolgt die Theorie also die Logik, dass es räumlich-strukturelle Kondensationskerne für friedensantagonistisches Verhaltens gibt. Weiteren gibt es Hinweise, dass Unordnung als Stressor wirkt sowie als Zeichen fehlender sozialer Kontrolle und damit als Sicherheitsdefizit wahrgenommen wird. Der holländische Umweltpsychologe Kees Keizer (2008) konnte mit seinem Team empirisch zeigen, dass Unordnung oder Graffiti weitere normverletzende Handlungen und damit letzten Endes auch Kriminalität begünstigt.

Ein weiteres Element, das besonders in unterprivilegierten Stadtteilen ein Problem darstellt und in der neueren Stadtplanung Berücksichtigung findet, ist die so genannte räumliche Ungerechtigkeit (spatial injustice). Sie ist gekennzeichnet durch eine räumliche Unausgewogenheit zwischen Stressoren und erquickenden Stadtelementen. So finden sich in unterprivilegierten Stadtteilen Kindergärten oder Schulen oftmals in der Nähe großer Durchgangsstraßen oder sogar in Einflugschneisen von Flughäfen. Dadurch wird die Benachteiligung der BewohnerInnen zusätzlich verstärkt.

Für die friedliche Stadt ist die Befriedigung elementarer Sozialbedürfnisse ein zentrales Element. In einer Studienreihe, die die Entwicklung von Sozialkontakten im gebauten Raum zum Inhalt hatte, untersuchte der Sozialpsychologe Matthew Easterbrook zusammen mit seinen Kollegen das Verhalten von Studierenden in Abhängigkeit von ihrer Wohnsituation. Es konnte gezeigt werden, dass die Wohnsituation einen Einfluss auf die Entstehung von Freundschaften hatte. Anhand der Anzahl zufälliger Begegnungen der BewohnerInnen untereinander konnte die Entstehung und Anzahl von Freundschaften vorhergesagt werden. Entscheidend war hierbei die Art der Wohnungsausstattung, z.B. Einzel- oder Gemeinschaftsbad oder Gemeinschaftsküche vs. individuelle Küchenzeile (Easterbrook and Vigonoles 2015). Eine weitere Studie (Ebbesen et al 1976), die sich mit der Lage der Wohnung (nahe bei oder entfernt von einer stark frequentierten Treppe) und den sozialen Beziehungen der BewohnerInnen beschäftigte, kam zu ähnlichen Ergebnissen: Je größer die Anzahl zufälliger Kontakte, umso größer die Zahl positiver sozialer Beziehungen.

Was tun?

Über Planungsvorgaben kann die Stadtverwaltung versuchen, eine ausgewogene Durchmischung herzustellen und in allen Stadtteilen Wohnraum für unterschiedliche Einkommensschichten zur Verfügung zu stellen. Im Interesse der Allgemeinheit wäre dies wünschenswert, um Segregationsprozessen entgegen zu wirken und die Spirale von Gewalt und Kriminalität in benachteiligten Gebieten zu unterbrechen. Solche Vorgaben sind derzeit aber nur schwer umzusetzen, denn häufig bestimmt der freie Markt über den Wohnraum. Als Alternative kann die Stadtverwaltung die Lebensqualität in den benachteiligten Gebieten durch Einrichtung von Parks, Spiel- und Sportstätten, mit Immissionsschutzmaßnahmen und der Pflege und Aufwertung des Straßenraums gezielt erhöhen. Dabei muss besonders darauf geachtet werden, dass über eine solche Aufwertung nicht ein Verdrängungsprozess der ursprünglichen Bewohner, also eine Gentrifizierung, in Gang gesetzt wird.

Im Stadtzentrum ist es wichtig, dass den BewohnerInnen frei nutzbare Flächen mit Stadtmobiliar zur Verfügung stehen und einer Kommerzialisierung dieser Flächen durch Stände, Cafés und vor allem Werbeflächen entgegen gewirkt wird. Im Zentrum sollte FußgängerInnen und RadfahrerInnen Vorrang gegeben werden. Der motorisierte Individualverkehr stellt gerade für Kinder und ältere Menschen ein enormes Sicherheitsrisiko dar und schränkt die Nutzung öffentlicher Flächen stark ein.

Die Stichworte Anregung, Kunst, Kultur, Bildung, Entwicklungsperspektiven, Anerkennung und Selbstwert beschreiben einen weiteren Bereich, über den die Ungleichheit mit Hilfe von Stadtplanungsmaßnahmen abgeschwächt und damit die Entstehung von Aggression eingedämmt werden kann. Hier sind konkrete Maßnahmen, wie der erleichterte Zugang zu Bildungseinrichtungen, Museen, Kunst und kulturellen Veranstaltungen, zu nennen. Ein erster Schritt: In vielen Städten wird ein freier Eintritt für Kinder, junge Erwachsene und Geringverdiener bereits gewährt. Die konsequentere Variante ist das Vorgehen Londons: Zahlreiche Museen und Galerien von Weltrang, wie die National Gallery oder Tate Modern, stehen allen BesucherInnen frei zur Verfügung.

Wichtig für die Prävention von sozialen Ungleichheiten und die daraus resultierenden Konflikte ist der Bereich der Ernährung. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob gesunde Lebensmittel leicht zu bekommen sind oder ob sich das Angebot in der Nachbarschaft auf den Discounter und die Fastfood-Kette beschränkt. In einer Studie des Gesundheitspsychologen Paul Rozin zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang von Übergewicht und den damit verbundenen Folgeerkrankungen zur räumlichen Nähe von Fastfood-Restaurants im Stadtquartier (Rozin et al. 2011). Angebote für eine gesunde Lebensweise im Stadtraum, wie die Nähe zu Parks, Urban-gardening-Initiativen oder Bewegungsangeboten für Kinder und Jugendliche, sind gleichfalls relevante Faktoren. Auch bezüglich der medizinischen Versorgung und des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen unterscheiden sich die Quartiere in einer Stadt oft deutlich.

Was zukünftig tun?

Die Stadt und der gebaute Raum beeinflussen also auf vielfältige Art und Weise das Verhalten und Empfinden der Menschen. Zugleich manifestiert die Stadt, wie wir als Gesellschaft zusammen leben möchten: In welchem Maß nehmen wir soziale Ungleichheit als gegeben hin, wie sehr legen wir Wert auf die Befriedigung der Bedürfnisse aller BewohnerInnen?

Städte, die zukunftsfähig sein wollen, müssen zukunftsweisende Ziele definieren und sich einem Wandel unterziehen, der nicht nur räumlicher, sondern auch gesellschaftlicher Natur ist. Trotz der Komplexität dieser Aufgabe kann jeder einzelne über kleine Interventionen im gebauten Raum einen Teil dazu beitragen, die Stadt zu einem besseren Lebensraum für alle BewohnerInnen zu machen und damit Konflikte zu vermeiden. Kleine Maßnahmen, wie die Gestaltung des Straßenraums mit Bepflanzungen oder dem Aufstellen einer Bank, die Einrichtung eines Stadtteilgartens oder Spielplatzes, das Anregen eines Quartierstreffpunkts, das Erkämpfen eines Radwegenetzes etc., können dabei durchaus wirkungsvoll sein.

Zahleiche Städte weltweit haben bereits begonnen, im Sinne einer umweltpsychologischen Stadtplanung das friedliche Zusammenleben zu fördern. Positivbeispiele sind die »laneways and arcades« in Melbourne/Australien, der anstehende Bau einer Stadtseilbahn in Bogotá, die fantasievolle farbliche Gestaltung von Favelas oder heruntergekommenen Stadtteilen (vgl. Haas&Hahn 2014), Urban-gardening-Projekte und der Aufbau von Stadtteilcafés.

Städte sind nur schwer planbar und sehr komplex. Dennoch muss geplant werden, denn die Struktur und die Werte einer Stadt beeinflussen Konflikte und Friedensprozesse regional und global. Entscheidende Faktoren dabei sind die Beziehung zum direkten Umland (Verkehr, Industrien), der Umgang mit Ressourcen und Naturraum (Wasser, Abfall, Energieverbrauch, Biodiversität im Stadtraum, öffentliche Verkehrssysteme, Klimagerechtigkeit), der Verbrauch und die Produktionsweisen (Nachhaltigkeit, Förderung regionaler Produkte, innerstädtische regenerative Energiegewinnung und Lebensmittelproduktion) und die Raumforderung (massive Urbanisierung vs. Stärkung von Unterzentren).

Um diese Wechselwirkungen besser modellieren zu können, muss die Stadt weiter untersucht und verstanden werden; Bedürfnisse müssen erkannt und Handlungsempfehlungen beschrieben werden. Hier bedarf es verstärkter inter- und multidisziplinärer Stadtforschung und einer Plattform, auf der Informationen zu »Best Practices« veröffentlicht und für die Praxis zugänglich gemacht werden.

Literatur

Roger Garlock Barker (1968): Ecological psychology – Concepts and methods for studying the environment of human behavior. Standford/California: Stanford University Press.

Kerstin Greiner (2015): Zurück zur Natur. Süddeutsche Zeitung Magazin, 24. September 2015.

Abraham A. Maslow (1943). A theory of human motivation. Psychological Review, 50(4), S.370-396.

Matthew J. Easterbrook and Vivian L. Vignoles (2015): When friendship formation goes down the toilet – Design features of shared accommodation influence interpersonal bonds and well-being. British Journal of Social Psychology, 54(1), S.125-139.

Ebbe B. Ebbesen, Glenn L. Kjos and Vladimir J. Konecni (1976): Spatial ecology – Its effects on the choice of friends and enemies. Journal of Experimental Social Psychology, 12(6), S.505-518.

Haas&Hahn (2014): How painting can transform communities. Transcript eines Vortrags der Künstler Jeroen Koolhaas and DreUrhahn vom 24. Oktober 2014; ted.com/talks.

Kees Keizer, Siegwart Lindenberg and Linda Steg (2008): The spreading of disorder. Science 322(5908), S.1681-1685.

George L. Kelling and James Q.F. Wilson (1982): Broken Windows -The police and neighborhood safety. The Atlantic, March 1982.

Paul Rozin, Sydney Scott, Megan Dingley, Joanna K. Urbanek, Hong Jiang and Mark Kaltenbach (2011): Nudge to nobesity I – Minor changes in accessibility decrease food intake. Judgment and Decision Making, 6(4), S.323.

Weitere Hinweise und Anregungen u.a. auf internationalcitiesofpeace.org und c40.org.

Dipl.-Ing.Nicole Conrad ist freie Architektin, Stadtplanerin und Lehrbeauftragte für Architektur an der Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung. Außerdem ist sie ausgebildete Sozialpsychologin.
Dr. Klaus Harnack arbeitet und lehrt am Psychologischen Institut der Westfälischen Universität Münster zum Thema Mediation und Verhandlung.

Spontan und gewaltsam?

Spontan und gewaltsam?

Riots als städtische Protestform

von Bettina Engels

Als Anfang 2008 weltweit die Nahrungsmittel- und Benzinpreise rasant stiegen, kam es in zahlreichen Städten, insbesondere in Afrika, zu Hungeraufständen und Demonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Burkina Faso ist hierfür ein Beispiel: Nach spontanen Riots in den größeren Städten des Landes griffen Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen das Thema auf und mobilisierten erfolgreich zu Streiks und anderen Protesten »gegen das teure Leben«. Riots erweisen sich als typische Proteste marginalisierter städtischer Bevölkerungsgruppen, die in etablierten Organisationen schwach vertreten sind.

Riots als spezifische Form des Protests marginalisierter sozialer Akteure treten besonders häufig in Städten auf. Sie wurden in den letzten Jahren intensiv diskutiert, etwa anlässlich der Riots in Großbritannien vom August 2011, in den französischen Banlieues im Oktober und November 2005 sowie in Stockholm 2013. Eine zentrale Kontroverse richtet sich auf die Frage, ob Riots als kollektives politisches Handeln zu verstehen sind oder ob sie potenziell kriminelle Akte ohne politische Ziele darstellen. Die Einstufung als »unpolitisch« oder »kriminell« delegitimiert Riots und legitimiert somit ein breites Spektrum repressiver und vermeintlich präventiver Maßnahmen. Riots als inhärent politisches Phänomen zu fassen betont hingegen ihre strukturellen Ursachen: ökonomische, politische und gesellschaftliche Prozesse, wie Marktliberalisierung, die Kommodifizierung sozialer Grundversorgung, Einschnitte im Bereich des Wohlfahrtsstaats und diskriminierende Praktiken von Verwaltung und Polizei.

In diesem Artikel argumentiere ich, dass Riots ein spezifisches Protestrepertoire marginalisierter sozialer Gruppen darstellen, die in Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen schwach repräsentiert sind. Die Mobilisierung dieser »organisierten« oppositionellen Akteure auf der einen Seite und Riots auf der anderen Seite lassen sich dabei als komplementär verstehen. Ich illustriere dies am Beispiel der Hungeraufstände und gewerkschaftlichen Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten in Burkina Faso.

Die Debatte um Riots

Eine Sicht in der Debatte um Riots versteht diese als unpolitische, kriminelle Handlungen, insbesondere, wenn sie mit Plünderungen und physischer Gewalt einhergehen. Die Riots in London 2011 beispielsweise wurden teilweise als kriminell und explizit unpolitisch gerahmt (Lamble 2013). Auch die Riots in den französischen Banlieues in den 1990er Jahren sowie 2005 wurden als „städtische Gewalt“ und Teil eines „Dualismus von Stadt versus Banlieue“ konstruiert (Dikeç 2004, S.205). Über diese Konstruktion wurden repressive Politiken und Praktiken von Verwaltung und Sicherheitskräften legitimiert (beispielsweise die Ausweitung von Polizeibefugnissen, verdachtsunabhängige Kontrollen etc.).

Dem steht eine andere Perspektive auf Riots gegenüber, welche sie als explizit politische Phänomene beschreibt. Sie hebt die politischen Bedingungen und Kontexte hervor, aus denen heraus Riots entstehen: wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen, die bestimmte Gruppen systematisch ausschließen und marginalisieren. Riots werden als Reaktion auf soziale und wirtschaftliche Missstände verstanden, gelten dabei aber als unorganisiert. Diese Argumentationslinie entspricht einer marxistischen Perspektive, derzufolge Riots aus ungleichen ökonomischen und politischen Verhältnissen entstehen und auf sie reagieren; dabei wird jedoch betont, dass die berechtigte Wut und Frustration der an Riots Beteiligten von formellen Organisationen kanalisiert und organisiert werden müsse (Harvie and Milburn 2013, S.561). In der akademischen Debatte um Riots wurde diese Position dafür kritisiert, dass sie Politik als linearen Prozess verstünde (etwa Balibar 2007).

In Teilen der europäischen Linken hat der klassische marxistische Dualismus von Revolution und Riot – wobei Erstere als intentional und geplant, Letzterer als spontan und »unorganisiert« gilt – an Bedeutung verloren. Die dominante Stellung des weißen männlichen Proletariats als vermeintlich wichtigstes und womöglich einziges Subjekt sozialer Kämpfe wurde politisch unter anderem durch Studierenden-, Frauen-, queere und migrantische Bewegungen infrage gestellt, theoretisch durch feministische und poststrukturalistische Perspektiven.

Es handelt sich dabei keineswegs um eine neue Frage. Zu den ersten und einflussreichsten Autoren, die sich damit befassten, zählt etwa E.P. Thompson. In seiner »Moral Economy of the English Crowd« (1971) argumentierte er gegen eine Sicht auf Riots als vermeintlich unpolitisches Phänomen. Er zeigte, dass sich die Food Riots in Großbritannien im 18. Jahrhundert, anders als im Mainstream der Geschichtsschreibung dargestellt, auf konkrete Vorstellungen von Legitimität und Gerechtigkeit gründeten – der Export von Getreide in Zeiten von Hunger und Nahrungsmittelknappheit wurde als zutiefst ungerecht und moralisch unvertretbar gesehen –, die der Entwicklung kapitalistischer Märkte zu dieser Zeit entgegen standen. Thompson kritisierte, dass die Food Riots in behavioristischer Weise als von Emotionen und Instinkten getrieben beschrieben wurden. Mit dieser Darstellung ginge einher, den Riotern den Status als aktiv und politisch Handelnde abzusprechen (Thompson 1971, S.77).

Häufig werden Riots als durch zwei charakteristische Merkmale gekennzeichnet beschrieben: Spontaneität und physische Gewalt (Lupsha 1969). Spontaneität impliziert das Fehlen strategischer Planung und Organisation sowie die offene Ansprache von Adressat_innen, potenziellen Anhänger_innen, Unterstützer_innen und Verbündeten. Infolge dessen werden physische Gewalthandlungen, die mit Riots in Verbindung stehen, selten als taktisches Repertoire gefasst, sondern als Ausdruck von Emotionen und fehlender rationaler strategischer Planung (Gamson 1975). Die meisten Ansätze gehen allerdings von einem Mindestmaß an organisatorischer Struktur als notwendiger Bedingung für Protest aus. Die prominenteste Kritik an dieser konzeptuellen Verknüpfung von Bewegung und Organisation formulierten Frances Fox Piven und Richard Cloward:

„Die Betonung der bewußten Intention […] spiegelt die Verwechslung von Massenbewegungen mit formalisierten Organisationen, die in der Regel auf dem Höhepunkt der Bewegung auftauchen, wider – die Verwechslung zweier zwar ineinander verwobener, aber dennoch ganz verschiedener Phänomene. […] Die Gleichsetzung von Bewegung mit ihren Organisationen – die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Banner haben müssen, bevor sie anerkannt werden – hat den Effekt, daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe abgelenkt wird und diese per definitionem den verschwommenen Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zugeordnet werden.“ (Piven and Cloward 1986 [1977], S.29-30).

Food Riots und Proteste »gegen das teure Leben« in Burkina Faso

Im Zuge des rasanten Anstiegs der Nahrungsmittel- und Benzinpreise protestierten 2008 in Dutzenden Städten weltweit – etwa in Kairo, Rabat, Mogadischu, Abidjan, Dakar, Nairobi, Port-au-Prince, Lima und Dhaka – Menschen mit Hungeraufständen, Demonstrationen und Streiks. Bei den Hungeraufständen handelte es sich meist um mehr oder weniger spontane, nicht angemeldete Demonstrationen. Vielerorts mobilisierten Gewerkschaften, Verbraucherverbände und Frauengruppen Tausende Menschen zu Demonstrationen, bei denen es teilweise zur Besetzung von Regierungsgebäuden oder zur Plünderung von Geschäften und Nahrungsmittellagern kam.

In Burkina Faso fanden Ende Februar 2008 innerhalb einer Woche in den meisten größeren Städten des Landes Hungeraufstände statt. Bei unangemeldeten bzw. nicht genehmigten Demonstrationen kam es zu umfangreichen Sachschäden an Tankstellen, öffentlichen und privaten Gebäuden. Bei Zusammenstößen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften wurden zahlreiche Menschen verletzt und Hunderte festgenommen. Die Protagonist_innen waren größtenteils marginalisierte urbane Jugendliche; mehrheitlich junge Männer, die ohne regelmäßiges Einkommen im informellen Sektor ihr Überleben zu sichern versuchten.

Ende Februar 2008, am Tag der Hungeraufstände in der Hauptstadt Ouagadougou, versammelten sich die Gewerkschaftsspitzen. Sie kritisierten die von der Regierung angekündigten Maßnahmen als ungenügend und riefen andere zivilgesellschaftliche Organisationen zu einem Treffen am 6. März 2008 und zu einer zentralen Kundgebung in der Folgewoche auf. Am 12. März schlossen sich die großen Gewerkschaften mit Konsument_innen- und Berufsverbänden, Menschenrechtsorganisationen sowie Vereinigungen von Schüler_innen und Studierenden zur »Nationalen Koalition gegen das teure Leben, die Korruption, den Betrug, die Straflosigkeit und für die Freiheiten« (Coalition nationale de lutte contre la vie chère, la corruption, la fraude, l’impunité et pour les libertés, CCVC) zusammen.

Ab März 2008 war die CCVC, angeführt von den Gewerkschaften, federführend bei den Protesten gegen die hohen Lebenshaltungskosten. In der Koalition und ihren Mitgliedsorganisationen waren vor allem Mittelschichtsangehörige aus den Städten vertreten: Studierende, Schüler_innen weiterführender Schulen und abhängig Beschäftigte. Hingegen waren an den Food Riots zahlreiche Angehörige sozialer Gruppen beteiligt, die in den Gewerkschaften und den etablierten Bewegungsorganisationen schwach vertreten sind. Die Mobilisierung zu den Riots verlief in den informellen Netzwerken dieser Jugendlichen über persönlichen Kontakt und SMS, kaum über formale Organisationsstrukturen. Riots als typisches Protestrepertoire dieser Gruppen haben in den burkinischen Städten eine Tradition aus früheren Konflikten (Alexander & Pfaffe 2013; Engels 2015). Im Jahr 2006 kam es beispielsweise in Ouagadougou zu Riots, als die Regierung versuchte, eine Helmpflicht für Mopeds und Mofas durchzusetzen.

Die CCVC und ihre Mitgliedsorganisationen stellten die Riots als unkontrolliert und potenziell gewaltsam ihren eigenen Protestaktionen als friedlich, kontrolliert, gut organisiert und konform mit den Regularien des Versammlungsrechts gegenüber. In der Konstruktion sowohl der Gewerkschaften und Bewegungsorganisationen als auch ihrer staatlichen Gegenspieler (Regierung, Verwaltung, Sicherheitskräfte) besteht ein Dualismus von Marsch (marche) gegenüber Aufstand (émeute). Marsch meint eine geplante, dem Versammlungsrecht entsprechend angekündigte Demonstration, die von identifizierbaren Akteuren organisiert wird und ohne Probleme verläuft. Dabei sind mit Problemen vor allem Sachschäden und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstrant_innen gemeint. Demgegenüber werden Riots als spontane und unorganisierte Aktionen dargestellt, die potenziell mit Sachschäden verbunden sind (unabhängig davon, ob diese intendiert sind oder nicht). „Ein Riot ist es, wenn die Leute einfach rausgehen, um etwas kaputt zu machen“, erklärte ein Aktivist im Interview mit der Autorin, „eine Demonstration ist es, wenn es klare Ziele gibt.“

Die Gewerkschaften verweisen darauf, dass es zu den Aufständen, die mit einigen Sachschäden einhergingen, nicht gekommen wäre, wenn die Regierung sich nach früheren Protesten auf größere Zugeständnisse hinsichtlich Preiskontrollen und einer Erhöhung der Kaufkraft eingelassen hätte. Durch den Verweis auf die Riots wurden die Aktionen der Gewerkschaften und anderer Organisationen argumentativ aufgewertet – und zwar ebenso durch diese Organisationen selbst wie durch ihre staatlichen Gegenspieler. Die CCVC bezieht sich strategisch auf die Riots, um sich selbst als relevante Verhandlungspartnerin der Regierung zu positionieren. Bis 2008 sei die Regierung gegen sie gewesen, erklärte einer der führenden Aktivisten des Bündnisses im Interview. Nach den „spontanen Aufständen“ hätten die Vertreter des Staates verstanden, dass mit der CCVC die Proteste „unter Kontrolle [sind], und man weiß, wer die Verantwortlichen sind. Wenn wir demonstrieren, haben wir klare Forderungen“.

Im Anschluss an Herbert Haines (1984) lässt sich diese Strategie als „Flankeneffekt“ beschreiben. Haines analysiert, welche Folgen es für eine Bewegung hat, wenn sich Teile von ihr radikalisieren. Als negativen Flankeneffekt bezeichnet er, wenn infolge radikaler Aktionen die externe Unterstützung auch für die moderaten Flügel einer Bewegung schwindet. Demgegenüber ist ein positiver Flankeneffekt zu beobachten, wenn die Existenz radikaler Gruppen und ihre Aktivitäten die Verhandlungsposition der Moderaten stärken. Ein solcher Effekt kann eintreten, weil radikale Aktionen eine Krise verursachen, die zum Vorteil der Moderaten gelöst wird, oder weil radikale Gruppen eine Kontrastfolie bieten, gegenüber der die Forderungen und Strategien moderater Akteure diskursiv normalisiert und als „vernünftig“ dargestellt werden können (Haines 1984, S.32).

Letzteres ist bei den burkinischen Hungeraufständen und Protesten »gegen das teure Leben« der Fall. Die Hungeraufstände 2008 haben die Position der Gewerkschaften und anderer etablierter Organisationen im Machtkampf mit der Regierung verbessert. Der positive Flankeneffekt wird im burkinischen Beispiel nicht durch eine Radikalisierung innerhalb einer Bewegung hervorgerufen, sondern durch Riots – Aufstände von Angehörigen sozialer Gruppen, die in den entsprechenden Bewegungen und Organisationen wenig vertreten sind.

Insgesamt ist es der CCVC jedoch kaum gelungen, die große Gruppe der erwerbslosen Jugendlichen und im informellen Sektor Tätigen zu integrieren, die in den Riots eine zentrale Rolle einnahmen. Das Problem der Repräsentation und Organisierung solcher gesellschaftlich marginalisierter Gruppen ist linken Bewegungen und Gewerkschaften in Europa und Nordamerika vertraut; ihr Klientel sind ebenfalls die abhängig Beschäftigten, Studierenden und städtischen Mittelschichten, und auch sie sind kaum im subproletarischen Milieu, bei Wohnungslosen oder Illegalisierten verankert. Die Gewerkschaften in Burkina Faso sind sich dieses Problems sehr bewusst: „Auch deswegen haben wir die CCVC gegründet“, erklärte ein Verantwortlicher des Bündnisses.

Schlussbemerkung

Die Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten in Burkina Faso sind ein Beispiel intensiver und erfolgreicher Mobilisierung durch ein breites Bündnis oppositioneller zivilgesellschaftlicher Gruppen. Sie sind aber auch ein Beispiel für die Ambivalenzen von Protest, insbesondere hinsichtlich der Frage von Repräsentation und Organisierung sowie des Verhältnisses von »organisiertem« und »unorganisiertem« kollektivem Handeln. Riots entziehen sich etablierten Mustern des Protests; in vielen Fällen verweigern Rioter entsprechende Interpretations- und Kommunikationsangebote, auch seitens linker Sympathisant_innen.

Im burkinischen Beispiel stellten die Riots eine Gelegenheit dar, welche die etablierten Protestakteure erfolgreich zur Mobilisierung nutzen konnten. Es gelang ihnen, über einen längeren Zeitraum hinweg ein hohes Maß an Mobilisierung aufrecht zu erhalten und die Regierung unter Druck zu setzen. Eine erfolgreiche Strategie war dabei die Konstruktion des Dualismus von Riots als unorganisiert, unkontrolliert und potenziell gewaltsam gegenüber den organisierten, kontrollierten und friedlichen Protesten der CCVC.

Eine solche Strategie muss nicht notwendigerweise auf der Annahme beruhen, dass jegliches politisches Handeln kollektiv und intentional, organisiert und kontrolliert ist sowie identifizierbare Akteure und offen formulierte Ziele und Forderungen aufweist. Die Food Riots von 2008 bestätigen vielmehr, was E.P. Thompson für jene feststellt, die mehr als 200 Jahre zuvor stattfanden: dass sie nicht notwendigerweise eines hohen Grads an Organisierung bedürfen. Riots und der organisierte Protest oppositioneller Organisationen stellen zwei Seiten derselben Medaille dar: unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Protestrepertoires, die sich gegen das gleiche strukturelle Problem wenden.

Literatur

Peter Alexander und Peter Pfaffe (2013): Social Relationships to the Means and Ends of Protest in South Africa’s Ongoing Rebellion of the Poor: The Balfour Insurrections. Social Movement Studies, 13(2), S.204-221.

Etienne Balibar (2007): Uprisings in the Banlieues. Constellations, 14(1), S.47-71.

Mustafa Dikeç (2004): Voices into noises – Ideological determination of unarticulated justice movements. Space andd Polity, 8(2), S.191-208.

Bettina Engels (2015): Different means of protest, same causes – Popular struggles in Burkina Faso. Review of African Political Economy, 42(143), S.92-106

William A. Gamson (1975): The Strategy of Social Protest. Homewood, IL: Dorsey.

Herbert H. Haines (1984): Black Radicalization and the Funding on Civil Rights – 1957-1970. Social Problems,(32), S.31-41.

David Harvie und Keir Milburn (2013): The Moral Economy of the English Crowd in the Twenty-First Century. The South Atlantic Quarterly, 112(3), S.559-567.

Sara Lamble (2013): The Quiet Dangers of Civilized Rage – Surveying the Punitive Aftermath of England’s 2011 Riots. The South Atlantic Quarterly, 112(3), S.577-585.

Peter A. Lupsha (1969): On Theories of Urban Violence. Urban Affairs Review, (4), S.273-296.

Frances Fox Piven and Richard A. Cloward (1986 [1977]): Aufstand der Armen. Frankfurt am Main: suhrkamp.

Edward Palmer Thompson (1971): The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. Past and Present, 50, S.76-136.

Bettina Engels ist Juniorprofessorin für Empirische Konfliktforschung mit Schwerpunkt Subsahara-Afrika am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Kristina Dietz leitet sie die Nachwuchsgruppe »Global Change – Local Conflicts?« (GLOCON; land-conflicts.net).

Soziale Konflikte in Ägypten

Soziale Konflikte in Ägypten

Schnittstellen zwischen Land und Stadt

von Sascha Radl

Im Artikel wird dargelegt, wie wirtschaftliche Strukturanpassungen in Ägypten seit Mitte der 1970er Jahre die abhängigen Klassen der Städte und des Umlands zunehmend marginalisieren und Hauptursache für deren Unzufriedenheit und die anhaltenden Unruhen sind. Beispielhaft soll dies an informellen Siedlungen im Großraum Kairo und der Situation in Oberägypten erläutert werden. Dabei interpretiert der Autor beide Räume, Stadt und Land, nicht als voneinander getrennt, sondern vielmehr als symbiotisch, und zeigt ihre diesbezüglichen Schnittstellen auf.

Ägyptens Aufstand 2010/11 bewies der Weltöffentlichkeit, welche enorme Unzufriedenheit die Politik der seit 1981 andauernden Diktatur Husni Mubaraks mit sich brachte. In ihren Hintergrundanalysen konzentriert sich die Mehrheit der WissenschaftlerInnen und JournalistInnen allerdings auf die urbane Mittelklasse und greift insbesondere die Sichtweise ägyptischer Studierender oder UniversitätsabsolventInnen auf. Das führt zum Ausschluss der Perspektiven Subalterner, vor allem die der IndustriearbeiterInnen, Gelegenheitsbeschäftigten und Fellahin.1 Werden diese Gruppen mitberücksichtigt, so waren die Proteste auf dem Tahrir-Platz 2010/11 nur ein – wenngleich sehr heftiger – Aufstand von vielen, welche ihre Ursachen hauptsächlich in der neoliberalen Transformation der ägyptischen Ökonomie und damit des urbanen wie auch ländlichen Raumes haben.

Polit-ökonomischer Kontext

Ein erster Schritt der ägyptischen Neoliberalisierung lässt sich mit der Infitah-Politik (arab. Öffnung) des damaligen Präsidenten Anwar al-Sadat auf das Jahr 1975 zurückdatieren. Langfristig nahm al-Sadat damit Abschied vom staatszentrierten Entwicklungsmodell seines Vorgängers Gamal Abdel Nasser; damit einher ging die Umorientierung weg von der Bewegung Blockfreier Staaten und dem Panarabismus, hin zu einer starken Anlehnung an die USA. Für das Akkumulationsregime2 bedeutete die neue Strategie vor allem eine herausragende Rolle des sich im Aufbau befindenden Privatsektors, unterstützt durch die Zulassung ausländischer Investitionen und die Übernahme »westlicher« Technologien, beispielsweise im Ölsektor.

In der Folge vertieften die nun wichtiger werdenden neuen Wirtschaftseliten ihre Allianz mit den Eliten des Machtapparats al-Sadats bzw. seiner Nachfolger Husni Mubarak und später Abdel Fatah el-Sisi. So etablierte sich der bis heute existente »Crony Capitalism« (vgl. El-Sayed El-Naggar 2009, S.35-36), der sich neben der engen, teilweise auch nepotistischen3 Verzahnung durch eine neoliberale Wirtschaftsausrichtung auszeichnet. 1976 wurden erste Strukturanpassungsmaßnahmen umgesetzt, aufgrund des Ölpreisverfalls und der gestiegenen Staatsverschuldung gefolgt von einer weiteren Reformwelle Mitte der 1980er Jahre (vgl. Beinin 2009, S.70-72). 1991 unterschrieb Mubaraks Regierung den ersten »Letter of Intent«, um sich Finanzmittel des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu sichern. Der 2004 neu angetretene Premierminister Ahmad Nazif intensivierte die Umsetzung der von den internationalen Finanzinstitutionen geforderten Strukturanpassungsprogramme, gleiches gilt für die Kabinette el-Sisis ab 2013/14.

In Summe waren und sind die Reformen ausgerichtet auf die für den Neoliberalismus weltweit typische Unterordnung „jegliche[r] Institutionen und gesellschaftliche[r] Handlungen“ unter die „Werte des Marktes“ (Brown 2003, S.39-40, vgl. Harvey 2005, S.2). Im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme steht die Annahme, dass Staatshaushalte der Austerität verpflichtet sind, d.h. Sozialausgaben gekürzt und öffentliche Betriebe, einfache Dienstleistungen oder Ressourcen privatisiert werden müssen. Derweil sollen Deregulierung, die Liberalisierung des Handels, Exportorientierung, Währungsabwertungen, starke Eigentumsrechte und Steuerreformen zum Wirtschaftswachstum beitragen (vgl. Roy-Mukherjee 2015, S.144).

Subventionen auf Grundnahrungsmittel oder Elektrizität und ähnliche Maßnahmen, die vor allem den Subalternen nützen, können innerhalb des Neoliberalismus als rein „technische Fragen“ entpolitisiert werden (el Mahdi 2012, S.113). In diesem Sinne herrscht über Reformen, welche auf Wirtschaftswachstum (und dabei zumeist gegen untere Klassen) gerichtet sind, ein gewisser Konsens innerhalb der übrigen Gesellschaft. Nicht zuletzt aufgrund der Austeritätsvorgaben sind die Subalternen also nicht länger Teil des nasseristischen, herrschaftsstabilisierenden Klassenkompromisses. Die wachsende Unzufriedenheit äußert sich in Protesten und Auseinandersetzungen mit der Regierung.

Nachfolgend werden die Auswirkungen der Strukturanpassungsprogramme auf erstens die Fellahin in Oberägypten und zweitens die Gelegenheitsbeschäftigten und ähnlich Geringverdienende in den urbanen informellen Siedlungen am Beispiel Ezbet Khairallahs aufgezeigt. Wegen der relativ gut erfassten Situation der industriellen ArbeiterInnen (u.a. Alexander and Bassiouny 2014, Beinin 2015) sind jene hier nicht berücksichtigt.

Oberägypten: Landnahme und Armut

Das ländliche Ägypten gilt bei den meisten ÄgypterInnen als unmodern und ärmlich. Dies trifft insbesondere auf Oberägypten (arab. said masr), das Gebiet südlich von Kairo, zu. Die Mehrheit der dort lebenden Menschen identifiziert sich als Saidi (d.h. aus Oberägypten stammend) und grenzt sich damit klar von den Städten der Mittelmeerküste oder des Großraums Kairo (Greater Cairo Region) ab. Im Jahr 2006 lagen die urbanen relativen Armutsraten Oberägyptens bei 18,6% und die ländlichen bei 39,1%. In Unterägypten (arab. masr al-sofla) standen diese bei verhältnismäßig geringen 9% urban und 16,7% ländlich (vgl. World Bank 2007, S.10). Parallel dazu lagen 1996 95% der ärmsten Dörfer in den südlichen Provinzen Minya, Sohag, Asyut und Beni Suef sowie zum Teil in Fayoum und Quena – eine Situation, welche sich bis zur nächsten Datenerhebung im Jahr 2006 kaum veränderte (vgl. ebd., S.25-26).

Die für einen Großteil der Fellahin spürbarsten Strukturanpassungen sind jene, welche auf eine möglichst umfassende, kapitalistische Verwertung der landwirtschaftlichen Ressourcen abzielen. Dabei spielt die modernisierte Agrarindustrie eine Hauptrolle, da große Farmen aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel einen guten Zugang zu Fachwissen haben sowie über ausgezeichnete Marketing-Kanäle und internationale AbnehmerInnen verfügen. Sie können tief liegende Wasserressourcen erschließen und selbstständig Landgewinnung betreiben.

Die modernisierten Großfarmen tragen über die Anpflanzung teurer Produkte erheblich zu einer verbesserten Handelsbilanz des Staates bei. Nach Auffassung der Weltbank soll sich die Agrarpolitik jeweils auf Erzeugnisse spezialisieren, die international besonders »wettbewerbsfähig« sind, d.h. auf jene mit möglichst geringen Input-Kosten bei hohen Verkaufspreisen. Durch die positive Handelsbilanz kann der betroffene Staat dann Grundnahrungsmittel wie Weizen importieren, ohne der Wirtschaft zu »schaden« (vgl. Ayeb 2012a, S.5-6).

Vorausgesetzt, dass die neoliberale Strategie tatsächlich versucht, eine Form von Nahrungsmittelsicherheit zu erreichen, wurde das Scheitern jener Politik spätestens ab 2007/08 offensichtlich. U.a. Nahrungsmittelspekulationen lösten eine weltweite Preissteigerung von Weizen aus (vgl. Bass 2011, S.30), wodurch auch die ägyptische Regierung große Schwierigkeiten hatte, die Bevölkerung zu ernähren: Die Farmen produzierten nur noch unzureichende Mengen Weizen, und der Staat verfügte lediglich über geringe finanzielle Rücklagen für den Import. Schon vorher, zwischen 2000 und 2005, stieg die Zahl der unterernährten Kinder unter fünf Jahren im nicht-urbanen Oberägypten von 6,8% auf 7,8% (vgl. Weltbank 2007, S.14). Die Umstellung der Landwirtschaft auf teure Exportprodukte führt also bei internationalen Preisanstiegen zu erheblichen Versorgungsengpässen.

Aber auch langfristig scheint sich eine steigende Zahl von im ländlichen Raum lebenden Menschen nicht mehr ausreichend versorgen zu können – unabhängig von globalen Krisen. Die Erklärung liegt in der zunehmenden Verarmung der Fellahin. Denn gerade sie sind ein wichtiger Faktor bei der Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Weizen (vgl. Ireton 2013), werden aber seit den 1980er Jahren ganz im Sinne der modernisierten Agrarindustrie und den ländlichen GroßgrundbesitzerInnen strukturell verdrängt. Mit Gesetz 96/1992 schuf Mubarak die Grundlage zur Expansion der Großfarmen und damit für die langfristige Landumverteilung: Bis 1997 sollten Pacht- und Halbpachtlandwirtschaft sowie Bodenmärkte liberalisiert werden. Schon vorher stiegen die Pachtpreise erheblich an; ab Oktober 1997 liefen die zuvor gültigen Verträge aus, und anstatt auf Lebenszeit durften die Folgeverträge nur noch für eine Dauer von bis zu fünf Jahren abgeschlossen werden. Oftmals wurden die neuen Verträge aber nur informell vereinbart und wiesen Laufzeiten von einer Saison oder sogar nur einer Ernte auf (vgl. Ayeb 2012b, S.80-81).

Infolge der veränderten Gesetzgebung verringerte sich alleine zwischen den Jahren 1990 und 2000 die Zahl der mittelgroßen Farmen (zwei bis fünf Feddan)4 um 9,2%, während die der kleinsten (unter ein Feddan) um 34,1% und die der größten (mehr als zehn Feddan) um 17,3% anstieg. Habib Ayeb spricht diesbezüglich einerseits von einer „Fragmentierung“ der kleineren Farmen, anderseits von einer „Neuanordnung landwirtschaftlich nutzbaren Landes, vor allem zum Vorteil der Zehn-Feddan-Farmkategorie“ (ebd., S.84). Durch die Zerstückelung, fehlende Planungssicherheit und extrem steigende Gebühren konnten viele Fellahin ihre Familien nicht mehr ausreichend ernähren oder sich Grundlegendes, wie die Schulbildung, leisten. Somit waren zwischen 1992 und 1997 45% der Fellahin gezwungen, das vormals gepachtete Land armutsbedingt zu verlassen (vgl. ebd., S.82-85).

Ezbet Khairallah: Marginalisierung in den informellen Siedlungen

Im Zuge der neoliberalen Neuordnung der ländlichen Regionen zogen also immer mehr Menschen in die urbanen Gebiete am Nil, am Suezkanal, an der Mittelmeerküste und im Großraum Kairo. Gizas Bevölkerung wuchs von 1986 bis 1996 um 29,18% und von 1996 bis 2006 noch einmal um 31,23%. In der gleichen Zeit galten für das restliche Ägypten Raten von nur knapp 23% (vgl. Statoids 2015).

Ein großer Teil der BinnenmigrantInnen aus Oberägypten lebt in den sich seit den 1950er Jahren ausdehnenden informellen Siedlungen (arab. Ashawiyyat) des Großraums Kairo. Die dortigen Verhältnisse sind eng verknüpft mit der Neoliberalisierung des urbanen Raums. Ein Beispiel unter vielen ist das Kairoer Viertel Ezbet Khairallah, welches unweit des Nils an der Ring Road südlich von Fustat liegt. Durch die seit Sadats Reformen ansteigenden Mieten im Zentrum Kairos bauten insbesondere ab den 1970er Jahren neu ankommende MigrantInnen aus ländlichen Gebieten Gebäude auf dem wüstenartigen Plateau am Rande der Hauptstadt. Die Menschen besetzten also ungenutztes Land und bauten ihre Häuser mit geringen statischen Kenntnissen und ohne größere Planung; später wurden die einzelnen Gebäude oft mehrstöckig erweitert.

1972 und 1974 vergab Sadat das in absehbarer Zeit zentrumsnahe und damit teure Land an die Maadi Company for Development and Reconstruction, welche das Gelände für neue Bauprojekte nutzen wollte. 1999 urteilte der zuständige Gerichtshof, dass die informellen BewohnerInnen ein Vorkaufrecht besäßen und die Regierung dies nicht übergehen dürfe, die Umsetzung des Urteils blieb allerdings bisher aus (vgl. Tadamun 2013, S.6). Stattdessen vernachlässigt der Staat das Gebiet, wodurch es an Infrastruktur wie asphaltierten Straßen, einer ausreichenden Strom-, Wasser und Gesundheitsversorgung oder nahe gelegenen Schulen mangelt. Gute Arbeitsgelegenheiten sind schwer zu erreichen, da das Viertel keinen Anschluss an die Hauptstraßen besitzt (vgl. ebd., S.11-13). Ein großer Teil der EinwohnerInnen arbeitet also gezwungenermaßen in den kleineren Werkstätten, Kiosken und ähnlichem vor Ort oder in nahe gelegenen Fabriken (vgl. ebd., S.8).

Zwar existieren keine genauen Statistiken zur Verteilung der Erwerbstätigkeiten in Ezbet Khairallah, die Politikwissenschaftlerin Diane Singerman erhob aber Daten in einer informellen Siedlung in Misr al-Qadima. Die meisten der knapp 300 befragten Frauen und Männer gingen gleichzeitig zwei oder drei Jobs nach. Der Erstberuf lag bei 26% der Männer im öffentlichen Sektor und bei weiteren 27% in kleineren Familienunternehmen. Bei den Frauen arbeiteten zwar ebenfalls 18% im öffentlichen Sektor, 39% aber vornehmlich als Hausfrau, was neben den Tätigkeiten im Haushalt oftmals auch die Aufzucht von Nutztieren und ähnliches einschließt. Für den Zweitberuf der Männer stach mit 60% klar die Bedeutung der generellen Privatwirtschaft, darunter vor allem Selbstständigkeit und eine Beschäftigung in Familienunternehmen, heraus. Insgesamt überwogen Arbeitstätigkeiten als Fachkräfte, Industrie- und WerkstattarbeiterInnen, (Klein-) Transporteure, VerkäuferInnen und Hausfrauen. 38% der Ersteinnahmequellen waren informell, 87% der zweiten und 71% der dritten (vgl. Singerman 1995, S.181-198).

Obwohl die untersuchte informelle Siedlung im Vergleich zu Ezbet Khairallah älter, weniger exkludiert und wahrscheinlich im Durchschnitt wohlhabender ist, lassen sich die Hauptaussagen übertragen: Es dominieren die unteren Klassen und Berufe, welche mit geringen Qualifikationen verbunden sind. Der seit Sadats Infitah-Politik schrumpfende öffentliche Sektor reicht genauso wenig als alleinige Einkommensquelle aus wie die erreichbaren Tätigkeiten im Privatsektor. Zusammengenommen lässt die Ausdehnung der informellen Siedlungen also Rückschlüsse auf die Folgen der Strukturanpassungsprogramme zu: Der liberalisierte Wohnungsmarkt, die Kürzung von Sozialausgaben, der Abbau des öffentlichen Sektors, der ausbleibende Aufbau von Arbeitsalternativen sowie Währungsabwertungen, die wiederum zu Lohnsenkungen führten, ließen den Menschen keine andere Möglichkeit, als in der verhältnismäßig billigen, aber prekären Informalität zu leben. Als Folge davon genießen sie auch keinen ausreichenden juristischen Schutz vor Übergriffen von Seiten des Vermieters/der Vermieterin, des Staates oder der Unternehmen.

Seit den 1990er Jahren stellen die internationalen Finanzinstitutionen, die Regierung und diverse Medien informelle Siedlungen zudem verstärkt als Sicherheitsrisiko oder sogar als Hort der Kriminalität und des Terrorismus dar. So wird auch Ezbet Khairallah als »unsicher« für die dort lebende Bevölkerung klassifiziert. Dies geschieht zu einer Zeit, in der der Großraum Kairo komplett nach neoliberalen Maßstäben umgestaltet werden soll. Ein erster Schritt war das mittlerweile mehrmals umbenannte Projekt »Cairo 2050«, welches einen Bevölkerungstransfer aus den zentrumsnahen informellen Siedlungen in die Wüstensiedlungen am heutigen Stadtrand vorsieht, die Errichtung von Finanz- und Tourismuszentren, wie den Bau groß angelegter Park- und Wohnanlagen für die einkommensstarken Klassen in vormals informell bewohnten Gebieten. In diesem Kontext soll die Bevölkerung Ezbet Khairallahs in die in der Wüste liegenden Randbezirke verlagert werden und dort vor allem in der exportorientierten, gering entlohnten Industrie Arbeit finden (vgl. GOPP 2009, S.48-58, ausführliche Analyse vgl. Radl 2015).

Zusammenfassung und Ausblick

Die neoliberale Strukturanpassung zwingt also die verarmten Fellahin, in die urbanen Gebiete zu migrieren. Hier ist ein Großteil von ihnen nicht fähig, mit den über Lohnsenkungen verringerten Einkommen die aufgrund der Liberalisierung gestiegenen Mieten formeller Wohnungen zu bezahlen. Der an Austeritätsvorgaben gebundene Staat investiert immer weniger Geld in Sozialprogramme. Als Ergebnis eignen sich die Subalternen selbstständig Land an, bauen dort informelle Häuser und kommen durch ebenso informelle Jobs für ihre Familien auf. Doch auch der alternative Wohnraum ist nun aufgrund von neuen Investitionen in den Bausektor und damit einhergehender Enteignung bedroht.

Vor diesem Hintergrund protestierten ab Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Fellahin gegen die Neoliberalisierungspolitik der Regierung Mubarak. Die Demonstrationen blieben erfolglos und setzten sich in islamistischen Aufstandswellen, welche gerade in verarmten, ländlichen Regionen und informellen Siedlungen Rückhalt fanden, fort. Die 2000er Jahre waren erneut von Protesten der Subalternen durchzogen und mündeten schließlich, verstärkt durch Bewegungen der unzufriedenen Mittelklasse, 2010/11 auf dem Tahrir. Doch bisher wurden weder unter Mohammed Mursi noch unter el-Sisi grundlegende Probleme angegangen, stattdessen verschlimmert sich die Lage durch neue neoliberale Reformprogramme immer weiter. Die nächsten Aufstände sind abzusehen.

Anmerkungen

1) Fellahin (sing. mask. Fellah) ist die arabische Selbstbezeichnung von Klein- bzw. Mittelbauern und -bäuerinnen sowie von ErntehelferInnen.

2) Ein Akkumulationsregime bezeichnet die „in einem bestimmten historischen Zeitraum (relativ) stabile[n] sozioökonomische[n] und politisch-institutionelle[n] Strukturen, innerhalb derer sich die Akkumulation, also der ökonomische Wachstumsprozess, vollzieht“ (Overbeek 2008, S.172).

3) Beispielhaft stehen hierfür die Brüder Ahmed Heikal (Investmentgesellschaft Citadel Capital bzw. heute Qalaa Holdings) und Hassan Heikal (Investmentbank EFG-Hermes; wahrscheinlich Berater der ägyptischen Regierung) sowie ihr Vater Mohamed Hassanein Heikal (ehemaliger Chefredakteur der Staatszeitung al-Ahram; enge Beziehungen zu el-Sisi).

4) Ein Feddan entspricht umgerechnet 0,42 Hektar.

Literatur

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Sascha Radl studiert Politik der MENA-Region am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) der Universität Marburg und arbeitete für Tadamun – The Cairo Urban Solidarity Initiative.

Stadt – Land – Krieg

Stadt – Land – Krieg

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

von Jürgen Scheffran

Dem Wechselspiel zwischen Stadt und Land kam und kommt in Kriegen oftmals eine wichtige Rolle zu. Aufgrund der Bevölkerungsdichte, Versorgungsinfrastruktur und Machtkonzentration sind Städte verwundbare Ziele von Gewalthandlungen, die erhebliche Schutzmaßnahmen erfordern. Ausgehend von der zunehmenden Urbanisierung und damit verbundener Dynamiken der Unsicherheit, analysiert der Beitrag Trends von Stadtkriegen und militärischen Interventionen sowie der Abwehr, Abschottung und Überwachung, um Metropolen vor gewaltinduzierten Sicherheitsrisiken zu bewahren.

„Welch eine Stadt haben wir der Plünderung und Verwüstung ausgeliefert!“, soll der osmanische Sultan Mehmed II gemäß der Legende nach der Eroberung von Konstantinopel am 29. Mai 1453 ausgerufen haben. Nach fast zweimonatiger Belagerung durch das weit überlegene osmanische Heer konnte der Widerstand der christlichen Verteidiger unter Kaiser Konstantin XI überwunden werden. Auch wenn Konstantinopel mit etwa 21 km Stadtmauern eine der am besten befestigten Städte ihrer Zeit war, gab es nicht genug Personal, um diese gegen das gigantische »Konstantinopel-Geschütz« und andere Belagerungstechniken zu halten. Obgleich große Nahrungsvorräte in die Stadt geschafft und innerhalb der Mauern angebaut wurden, kam es zu Lebensmittelengpässen, die die Widerstandskraft schwächten (Runciman 1990).

Die Eroberung von Konstantinopel markiert den Untergang des Byzantinischen und den Aufstieg des Osmanischen Reiches zur Großmacht. In der türkischen und der westeuropäischen Rezeption hat die Eroberung einen hohen symbolischen Wert und wird mit dem Übergang vom europäischen Mittelalter in die Renaissance verbunden.

Stadt und Land im Krieg

Seit Menschen in Städten zusammenlebten, waren diese ebenso Orte der Herrschaft wie Ziele kriegerischer Gewalthandlungen. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte entstanden neue Formen sozialer Interaktion und Produktion, die Städte zu wertvollen Objekten machten, für die sich ein hoher Einsatz lohnte. Mit dem Übergang von der landwirtschaftlichen zur industriellen Produktion verschob sich das Verhältnis zwischen Land und Stadt. Während die Versorgung von Städten mit Wasser, Nahrung, Energie und anderen Ressourcen von ländlichen Gebieten abhing, boten Städte für die Landbevölkerung Arbeitsplätze und Märkte für ihre Produkte. Die in Städten konzentrierten Strukturen von Macht, Kapital und Gewalt dienten zur Kontrolle der im Land verfügbaren Ressourcen und zur Ausbeutung der dort lebenden Menschen, vor allem durch Einzug von Abgaben und die Rekrutierung von Söldnern. Beides wurde von den Herrschern benötigt, um kostspielige Heere zu unterhalten, die in Landschlachten aufeinander prallten. Demgegenüber ging es in Kriegen um Städte darum, Machtzentren zu sichern bzw. zu erobern, wobei die Unterbrechung der städtischen Versorgung durch das Land ein wesentliches Element von Belagerungskriegen war.

Die Eroberung befestigter Städte war oft mit erheblichem Aufwand verbunden, konnte sich über Jahre hinziehen und wurde auch durch die Verfügbarkeit vitaler Ressourcen entschieden. In einigen Fällen bedeutete die Einnahme oder Zerstörung der Hauptstadt das Ende eines Imperiums (wie im Falle Karthagos), war aber nicht immer kriegsentscheidend (wie im Fall der Eroberung Moskaus durch Napoleon, die seine Niederlage einleitete). Immer wieder gingen die Besatzer mit äußerster Grausamkeit vor und töteten die Einwohner (wie bei der Eroberung Jerusalems 1099 durch christliche Kreuzzügler).

Die Form des Stadt-Land-Krieges wandelte sich mit den gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Rahmenbedingen. Im Mittelalter war die Stadt Zentrum kleinräumiger Strukturen; mit steigender Wirksamkeit und Reichweite der Waffentechnik (besonders der Feuerwaffen) waren Städte immer schwerer zu schützen. Der Raum zwischen den Städten wurde enger, die politischen Einheiten vergrößerten sich von feudal geprägten Städten, Burgen und Palästen zu den Stadtstaaten und Nationen der Neuzeit, in denen Städte zu Schlüsselpunkten der industriellen Produktion und des Konsums und zu Schaltzentren der bürgerlichen Gesellschaft wurden.

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hinterließen eine Spur der Verwüstung in den urbanen Räumen und vermittelten der Stadtbevölkerung die Erfahrung existentieller Verwundbarkeit. Die strategischen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg eröffneten ein neues Kapitel des totalen Krieges, dessen Terror gegen die Zivilbevölkerung zwar nicht kriegsentscheidend war, aber ganze Städte dem »Urbizid« auslieferte (Henkel 2013), ihrer systematischen Vernichtung.

Städtenamen wie Guernica und Coventry, Dresden und Hamburg, Stalingrad und Tokio, schließlich Hiroshima und Nagasaki wurden zu Symbolen einer Verrohung der Kriegführung. Im Ost-West-Konflikt gerieten die Großstädte der beiden Blöcke auf die Ziellisten von Massenvernichtungswaffen. Auch wenn der Fall der Berliner Mauer dem Kalten Krieg ein Ende setzte, bleibt der nukleare Overkill die größte Gefahr für urbane Zentren. In der komplexen Weltlage nach Ende des Ost-West-Konflikts sind Städte weiter der Geißel des Krieges ausgesetzt, wie im Falle Sarajewos, ebenso Terrorangriffen.

Die Zerstörungen von Städten im Krieg sind spektakuläre und prägende Ereignisse, neben anderen Katastrophen wie Erdbeben, Bränden, Stürmen, Überschwemmungen und Terroranschlägen. Sie werden in Literatur und Medien inszeniert, von der Zerstörung Trojas bis zu Hollywood-Epen, wie »Independence Day« oder »The Day After (Tomorrow)«. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 wurde eine neue Qualität der Live-Berichterstattung über eine urbane Katastrophe erreicht.

Urbanisierung und Landflucht

Im Jahr 2008 lebte weltweit die Hälfte aller Menschen in Städten, davon fast ein Drittel in Slums und viele in Krisenherden. Mitte dieses Jahrhunderts dürfte die Stadtbevölkerung schon zwei Drittel ausmachen. Liegt der Grad der Verstädterung derzeit bei mehr als 80% in Nord- und Lateinamerika, so sind es in Asien und Afrika momentan noch weniger als 50%, allerdings mit stark wachsender Tendenz (DESA 2014). Von den 27 Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern im Jahr 2020 werden bis auf vier alle in Entwicklungsländern liegen, zwölf allein in Asien.

Herkömmliche Differenzen zwischen »moderner« Stadtbevölkerung und »traditioneller« Landbevölkerung werden überlagert durch Trennlinien zwischen Kapital und Arbeit, arm und reich, industriellen Zentren und landwirtschaftlich geprägten Entwicklungsperipherien. So leben einkommensstarke Bevölkerungsteile nicht immer in städtischen Zentren, sondern oftmals an ihrer Peripherie und in »Gated Communities«, abgeschottet durch aufwändige Sicherheitsapparate. Die weltweite Urbanisierung beschleunigt Transformations- und Austauschprozesse, Interaktionen und Netzwerke zwischen Stadt und Land, die eingebettet sind in lokal-globale Mehrebenenstrukturen.

Urbane Zentren sind aus vielen Gründen attraktiv: Aufgrund ihrer Größe und Siedlungsdichte sind sie Wachstums- und Entwicklungsmotoren, können Absatzmärkte erschließen, Produkte und Dienstleistungen effizient bereitstellen und verteilen, die Versorgungsinfrastruktur mit Wasser, Nahrung, Energie, Bildung und Gesundheit organisieren. Sie bieten Entwicklungschancen, am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilzuhaben, gerade auch für Frauen, und tragen damit zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums bei.

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

Andererseits schafft die explosive Verstädterung Unsicherheiten, die mit Risiken und Destabilisierungspotentialen verbunden sind. Hierzu gehören Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit und Einkommensunsicherheit, Ungerechtigkeit und soziale Konflikte, Kriminalität und Terrorismus, Massenflucht und Gewalt. Als Produktionsorte und Absatzmärkte sind Städte mit den Prozessen der Globalisierung eng verknüpft. Güter- und Ressourcenflüsse belasten Stadt und Umland. Dem Urbanisierungsdruck ausgesetzt sind städtische Arbeitsmärkte und Versorgungssysteme, was zu Ressourcenknappheit, Umweltbelastung und dem Verlust von Ökosystemdienstleistungen führen kann. Der Klimawandel wird durch wachsende Emissionen städtischer Zentren mitverursacht und macht diese zugleich verwundbar, insbesondere in Risikozonen an Flussufern, Küsten und Überschwemmungsgebieten, die vom Meeresspiegelanstieg betroffen sind (Garschagen and Romero-Lankao 2013). Andererseits sind Städte für die Transformation der Produktions- und Konsummuster in eine nachhaltige Gesellschaft von zentraler Bedeutung.

Merkmale urbaner Räume sind die räumliche Nähe von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen, ethnischen Zugehörigkeiten, kulturellen Identitäten und sozioökonomischen Vermögenswerten, was zu Spannungen beitragen kann. Widersprüche und Grenzen der Stadtentwicklung zeigen sich in der Entwurzelung, Ausgrenzung und Marginalisierung vieler Menschen, der Segregation in den Städten, der Formierung von illegalen Siedlungen, Slums und Elendsgürteln, die Ausdruck einer höchst ungleichen und instabilen urbanen Welt und von sozialen Fronten der Globalisierung sind (Davis 2007). Hier verdichten sich die Widersprüche zwischen dem permanenten Wirtschaftswachstum, der Wohlstandsakkumulation in den Händen weniger auf Kosten vieler, der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und den natürlichen und sozialen Grenzen. Die Randzonen und Brennpunkte großer Städte bilden einen Resonanzboden für Extremismus, Gewalt und Konflikte und verstärken politische Instabilitäten und soziale Unruhen.

In Städten gibt es vielfältige Möglichkeiten, Gewalthandlungen durchzuführen und sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Existenzgefährdung und Unzufriedenheit fördern Strömungen, die sich über Netzwerke der Gewalt zusammenschließen. Verbrecher- und Terrornetze agieren weltweit aus und in urbanen Räumen; der Drogen- und Waffenhandel ist über eine Schattenwirtschaft mit der globalen Ökonomie verknüpft. Die in US-Städten, wie New York oder Los Angeles, beobachteten Gewaltspiralen (Drogenkrieg, Krieg der Gangs, ethnische Unruhen) finden sich auch in Megastädten anderer Erdteile, etwa in Mexico City, wo die Gewaltexzesse von Drogenkartellen polizeiliche Möglichkeiten überfordern.

Städte sind mit den heutigen komplexen Krisen und Konflikten eng verknüpft, die sich zu schwer lösbaren vernetzten Kriegen und Gewaltspiralen aufschaukeln können. Hierzu gehören auch die Konflikte im Gefolge des Ost-West-Konflikts im ehemaligen Jugoslawien (Sarajewo, Belgrad) und der Sowjetunion (Grosny), ebenso die Konflikte in Nahost (Bagdad, Aleppo). In vielen Ländern wurden städtische Plätze zu Bühnen des Protests, durch Politik und Medien verstärkt: in den Aufständen des Arabischen Frühlings (Tunis, Kairo), bei der Spaltung der Ukraine (Kiew), bei den Protesten in der Türkei (Istanbul), in Brasilien (Rio de Janeiro) und den USA (Occupy Wall Street). Städte wurden auch zum Nährboden für Islamismus und Terrorismus, die in den betroffenen Regionen (Nairobi, Bagdad, Beirut, Jerusalem) wie auch in westlichen Zentren (New York, London, Madrid, Paris, Brüssel) Angst und Schrecken verbreiteten. Dies provoziert weitere militärische Interventionen ebenso wie rechtspopulistische Strömungen (Alternative für Deutschland, Pegida, Front National).

Städte sind nicht nur Brennpunkte systemimmanenter Gefährdungen, sondern auch Handlungsräume für Interventionen von Polizei, Militär und Geheimdiensten, um eine Stabilisierung des Systems nach innen mit einer Abgrenzung nach außen zu erreichen. Solche Interventionen sind selbst wiederum mit negativen Begleiterscheinungen verbunden, wie Demokratieabbau und Ausspähung, Ausgrenzung und Abschottung, Versicherheitlichung und Militarisierung, die zum Problemkomplex beitragen. Überwachungssysteme zur Abwehr von Terroristen oder Migranten sind Teil eines Sicherheitsapparates, der nicht nur an nationalen Grenzen eine Kontrolle herstellen soll, sondern auch innerhalb der urbanen Gesellschaften.

Vernetzte urbane Kriegführung

Im Unterschied zum Kampf auf dem offenen Gefechtsfeld, bei dem schwere Waffen wie Kampfpanzer zum Einsatz kommen, geht es beim Stadtkrieg um den Kampf in dicht bebautem Gelände über kurze Entfernungen, oft Mann gegen Mann. Ziel ist meist die Kontrolle der Hauptverkehrsachsen und die Besetzung von Schlüsselobjekten der Infrastruktur, wie Wasser- und Gaskraftwerke, Anlagen des Stromnetzes oder der Schwerindustrie. Aufgrund der Behinderungen und Versteckmöglichkeiten in urbanen Strukturen ist ein hoher und gezielter Kräfteeinsatz des Angreifers erforderlich, will er zivile Schäden und »Friendly Fire« vermeiden. Rücksichtslose Kriegsparteien nehmen dagegen die weitgehende Zerstörung der Stadt in Kauf, um den Widerstand zu brechen, auch durch Luftangriffe, und führen zu massenhafter Flucht, Vertreibung und Tod.

Der Irakkrieg eröffnete ein neues Kapitel des Stadtkriegs. Nach der Eroberung Bagdads und dem Sturz des Saddam-Regimes wurde das Land für Militärs und aufständische Gruppen zu einem blutigen Übungsfeld für neue Strategien, um Städte zu kontrollieren oder einzunehmen. In der Schlacht um Falludscha 2004 hatten die US-Streitkräfte die Stadt mit einem Wall vom Umland abgeschlossen und die Einwohner aufgefordert, diese zu verlassen, um dann die verbliebenen Kämpfer zu eliminieren, wobei Falludscha weitgehend zerstört wurde. Diese Strategie wurde auch in anderen Städten, wie Tal Afar oder Samara, angewandt, sowie bei den jüngsten Kämpfen im Irak gegen den »Islamischen Staat«, um Städte, wie Tikrit oder Ramadi, abzuschotten und die Bevölkerung vor einem Angriff mit Luftwaffe und Artillerie zu evakuieren. Zurück blieben »befreite«, aber zerstörte Geisterstädte (Rötzer 2016).

Demgegenüber erschien Bagdad mit neun Millionen Einwohnern und einer Fläche von mehr als 200 Quadratkilometern zu groß, um die Stadt mit einer Mauer einzuschließen und so quasi zu einem Gefängnis zu machen, aus dem Gegner nicht mehr ausbrechen bzw. in das sie nicht mehr eindringen können. In der weitgehend »ethnisch gesäuberten« und von zahllosen Anschlägen heimgesuchten Metropole konzentrierte sich die militärische Kontrolle vor allem auf die »Green Zone« mit Regierungsinstitutionen und internationalen Einrichtungen. Zeitweise wurden Stadtviertel mit drei Meter hohen Betonmauern abgetrennt, deren Durchlässe von Pentagon-finanzierten Milizen kontrolliert wurden, um die Aufständischen von hier fern zu halten. Als der »Islamische Staat« nach dem Abzug der US-Truppen wieder in die Nähe von Bagdad vorrücken und Anschläge ausführen konnte, wurde der mittelalterlich anmutende Plan wieder aus der Schublade geholt, Bagdad mit einer Stadtmauer zu umgeben, mit Gräben und Überwachungssensoren (Rötzer 2016).

Ein anderes Beispiel ist die im syrischen Bürgerkrieg heftig umkämpfte Millionenmetropole Aleppo, die zwischen vier sich überschneidenden Fronten steht: Regime gegen Rebellen, Iran gegen Saudi-Arabien, Russland gegen USA, PKK gegen Türkei (Salloum 2016). Durch den jahrelangen Bürgerkrieg wurde Aleppo zur Geisterstadt, mit entvölkerten Straßen und durch Granaten- und Raketeneinschläge schwer beschädigten Wohngebäuden und zerstörten Kulturdenkmälern. Hunderttausende Menschen sind aus der umkämpften Stadt geflohen, zu Verwandten aufs Land, in die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien oder nach Europa. Die verbleibenden Menschen saßen in der Falle, Lebensmittel wurden knapp, der Strom abgeschaltet, Güter und Treibstoff nicht durchgelassen, Ambulanzfahrzeuge und improvisierte Lazarette beschossen (dpa 2012). Viele Menschen haben sich in Schulen, Studentenwohnheime, Moscheen und andere öffentliche Gebäude geflüchtet.

In der heutigen vernetzten urbanen Kriegführung verschwimmen herkömmliche Grenzen des Krieges (Scheffran 2015). So kommen nicht nur reguläre und aufständische Truppen zum Einsatz, sondern auch private Sicherheitsdienste und Söldnerheere, durch die die Grenzen zu militärischen Einsätzen verwischen. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen macht die Zivilbevölkerung in Städten nicht nur zum Ziel, sondern auch zu möglichen Kombattanten. Die Vernetzung des Krieges mit der Gesellschaft in urbanen Zentren betrifft auch die Vorbereitung, Planung und Durchführung von Gewalteinsätzen, unter Nutzung der fließenden Übergänge zwischen zivilen und militärischen Infrastrukturen, die in urbanen Zentren ihre Hauptknotenpunkte haben. Dabei nutzt das Militär die zivil-militärische Zusammenarbeit zur Unterstützung bewaffneter Streitkräfte, ebenso wie die Einbindung der Streitkräfte in die Zivil- und Katastrophenschutzplanung, die besonders in urbanen Zentren relevant ist. Das Militär bedient sich ziviler Ressourcen (etwa des Polizeiapparats) und unterwirft sie seiner eigenen Logik. Im Kontext von Krisenreaktionskräften und Antiterrorkrieg kann eine gesellschaftliche Mobilisierung unter militärischem Kalkül eine Totalisierung von Konflikten befördern und Gewalteinsätze legitimieren. Damit einher geht die »hybride« Kriegführung, die komplexe und synergetische Kombination konventioneller und irregulärer Kampfweisen, in Verbindung mit terroristischen Aktionen und kriminellem Verhalten (Tamminga 2015).

Trotz aller Versuche der Abgrenzung und Ausgrenzung findet der Krieg in den Randzonen des Systems das Gegenstück eines entgrenzten Krieges in den westlichen Industrienationen und ihren urbanen Zentren. Terrorangriffe konzentrieren sich auf große Städte, wie Paris, da sie hier den größten Schaden anrichten und die stärkste symbolische Wirkung erzielen können. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, bei denen zivile Passagierflugzeuge umgelenkt wurden, um zivile Ziele inmitten einer Großstadt zu treffen, und dem von George Bush ausgerufenen »Krieg gegen den Terrorismus« wurden Städte zum Kriegsschauplatz, wurden Koffer in einem Flughafen oder Bahnhof, Cyberattacken und Sabotage-Akte gegen Knotenpunkte der Infrastruktur Teil kriegerischer Gewaltakte. In dem Kontext erscheinen die Flüchtlinge aus den Krisengebieten, die in Europas Städte »vordringen« und sich mit potentiellen Terroristen vermischen könnten, ebenfalls als Sicherheitsbedrohung an einer »Heimatfront«, an der innere und äußere Sicherheit verschmelzen.

Der neue militärische Urbanismus

Angesichts komplexer Krisen und Sicherheitsrisiken und der Schwierigkeit, Städte mit Mauern zu schützen, entstehen Phantasien, in denen der Westen seine scheinbar unangreifbare technologische Macht nutzt, um die in Frage gestellte militärische, wirtschaftliche und politische Vorherrschaft wiederherzustellen. Ein Jahr nach den Attacken von 9/11 beschrieben die US-Sicherheitstheoretiker Mark Mills und Peter Huber in dem konservativen »City Journal« eine Zukunftsvision von Systemen zur Überwachung und Verfolgung in einer Hightech-Welt, die das Leben in den von fundamentalistischen Strömungen gefährdeten westlichen Städten durchdringt. Sie entwerfen einen neuen Krieg Stadt gegen Land: „Wir sind dazu bestimmt, eine nie endende Abfolge von mikro-skaligen Gefechten zu führen, weswegen wir unsere militärischen Ressourcen über große Flächen leeren Landes ausbreiten müssen […]. Klein und hoch mobil, sie können weit und breit gestreut werden – über Manhattan, dem reichsten Ort der Erde, und auch über dem Hindukusch, dem ärmsten.“ (Mills and Huber 2002)

Mills und Huber träumen von permanenter automatisierter und robotisierter Kriegführung, Terrorabwehr und Aufstandsbekämpfung, mit Überwachungssystemen, wie sie in Flughäfen eingesetzt werden. In seinem Buch »Cities Under Siege – The New Military Urbanism« beschreibt Graham (2011) kritisch, wie mit riesigen Datenbanken und Suchalgorithmen der Künstlichen Intelligenz in den Räumen und Infrastrukturen der Stadt, die potentiell durch Terroranschläge gefährdet sind, alle Personen und Ereignisse durch Überwachungssysteme automatisch verfolgt werden, um »vertrauenswürdige und kooperative« Objekte von »gefährlichen und nicht kooperierenden« zu unterscheiden. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich eine Grenze finden lässt, die Gefährder und Gefährdete so klar trennt, dass unbeabsichtigte Schäden und Fehlalarme vermieden werden. Da praktisch alle Komponenten urbaner Systeme (Behörden, Post, Strom, Internet, Finanzen, Produktionsstätten, Flug- und Transportsysteme, Sportanlagen, Konzertstätten, Restaurants, usw.) Ziel von Angriffen werden können und potentiell jeder Bürger ein Angreifer ist, wird hier der Traum von technologischer Allwissenheit und umfassender Militarisierung anvisiert.

Ein weiterer Schritt in diesem andauernden und überall geführten Krieg ist das Bestreben, nicht nur alles automatisch zu überwachen, sondern auch autonom töten zu können. Um die US-Truppen von dem schmutzigen Job zu verschonen, innerhalb von Städten zu kämpfen und zu töten, sollen Schwärme kleiner, bewaffneter Drohnen, ausgestattet mit modernen Sensoren und miteinander kommunizierend, eingesetzt werden, um permanent die Straßen, Wüsten und Autobahnen auszuspähen. Mills und Huber träumen von einer Zukunft, in der solche Schwärme von Roboter-Kriegern unermüdlich daran arbeiten, „die zerstörerische Macht präzise, umsichtig und aus sicherer Entfernung zum Einsatz zu bringen – Woche für Woche, Jahr für Jahr, so lange wie notwendig“.

Die Vision, technische Sicherheits- und Überwachungssysteme auf ganze Städte und Gesellschaften auszuweiten, hat zum Teil Einzug in die Sicherheitsplanung gehalten. Das von Raytheon konzipierte und umstrittene britische Programm »E-Borders«, mit dem durch hoch entwickelte Computer-Algorithmen und Data-mining-Techniken beim Grenzübertritt »illegale« oder »bedrohliche« Personen oder Verhaltensweisen aufgrund von »Ziellisten« und »biometrischen Visa« gescreent und identifiziert werden sollen, ist ein Beispiel für eine Überwachung in urbanen Räumen. Zwischen 2003 und 2015 wurden für das Programm mehr als 830 Mio. £ ausgegeben, ohne die volle Vision zu realisieren (NAO 2015).

Schwerer wiegt das Satellitensystem »Skynet« der US-amerikanischen National Security Agency, das Mobilfunkdaten von 55 Millionen Menschen in Pakistan auswertet, um den Aufenthaltsort möglicher Terroristen zu bestimmen, die dann per Knopfdruck eliminiert werden können (Grothoff and Porup 2016). Der Schritt zur Automatisierung der Tötung ist dann nicht mehr groß.

Foucaults Bumerang

Überwachungssysteme und technische Gewaltprojektionen in den Krisenregionen der Welt lassen sich auch auf die westlichen Kernzonen ausweiten. Statt Mauern aus Beton um europäische Städte zu errichten, werden die neuen Mauern an die Außengrenzen verlagert, um die Zentren gegen Bedrohungen der Peripherie zu schützen. Der neue militärische Urbanismus benutzt koloniale Kriegsgebiete, wie Gaza oder Bagdad, als »Testgelände« für Technologien, die dann auf den weltweit wachsenden Märkten für Heimatverteidigung verkauft werden. Damit werden auf den Straßen des Globalen Südens Modelle der Befriedung, Militarisierung und Kontrolle geschaffen, die sich auf die Städte kapitalistischer Kernländer im Globalen Norden übertragen lassen. Diese Synergie zwischen der äußeren und der nationalen Sicherheit ist ein Element des neuen militärischen Urbanismus (Graham 2011).

In der heutigen »postkolonialen« Periode ist das Aufleben von Konzepten aus der Kolonialzeit, die Techniken aus auswärtigen Kriegsgebieten zur Versicherheitlichung des westlichen urbanen Lebens benutzen, bemerkenswert. Michel Foucault hat dies als „Bumerang-Effekt“ bezeichnet: „Es sollte nie vergessen werden, dass zwar die Kolonisation mit ihren Techniken und ihren politischen und juristischen Waffen offensichtlich europäische Modelle in andere Kontinente transportiert hat, dies aber auch einen erheblichen Bumerang-Effekt auf die Mechanismen der Macht im Westen hatte.“ (Foucault 2003, S.103)

Es scheint nicht möglich, die Metropolen vor den Rückwirkungen ihrer Politik zu schützen, ohne neue Mauern zu errichten. Dass diese unüberwindbar sind, ist wenig wahrscheinlich, trotz des von Mills und Huber (2002) geäußerten Optimismus über die eigene Unbesiegbarkeit: „Kann die andere Seite die selben Technologien gegen uns wenden? Keine Chance. Sie herzustellen und zu nutzen bedarf einer digitalen Infrastruktur und einer digitalen Denkweise. Schon die Vorstellung, dass jemand einen »digitalen Jihad« führt, ist ein Widerspruch in sich.“ Im Kampf „ihrer Söhne gegen unser Silizium“ sind sich die Autoren sicher: „Unser Silizium wird gewinnen.“ Sie konnten damals noch nicht wissen, dass Gegner wie der IS den digitalen Jihad auf ihre Fahnen schreiben, was einen Teil ihres Einflusses ausmacht.

Die Überwindbarkeit christlicher Mauern war schon beim osmanischen Sieg über Konstantinopel deutlich geworden. Dies machte sich der türkische Staatspräsident Recep Erdogan 2015 anlässlich einer Kundgebung zum 562. Jahrestages der Eroberung Konstantinopels in Istanbul zu eigen: „Eroberung heißt Mekka. Eroberung heißt Sultan Saladin, heißt, in Jerusalem wieder die Fahne des Islams wehen zu lassen.“ (Yücel 2015) Demgegenüber wird Wladimir Putin zitiert: „Falls Erdogan nicht aufhört, Terroristen in Syrien zu unterstützen, werde ich […] Konstantinopel (Istanbul) wieder christlich machen.“ (AWDnews 2016) Was davon satirisch gemeint ist, sei dahingestellt.

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Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden.

Städte als Ziele kriegerischer Gewalt

Städte als Ziele kriegerischer Gewalt

von Regina Hagen

Die vorliegende Ausgabe von W&F mit ihrem Schwerpunkt » Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume« enthält Artikel zu ganz unterschiedlichen Aspekten von Krieg, Konflikt und Gewalt im Zusammenhang mit Städten. Aktuell sind wir in den Medien fast täglich konfrontiert mit Bildern zerstörter Städte oder Stadtteile in Syrien, im Irak oder im türkischen Kurdistan. Aus gutem Grund sagt Alfred Marder in seinem Artikel über die Friedensbotschafter-Städte: „Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Städte und die Menschen in den Städten sind die Ziele der modernen Kriegsführung mit all ihren Schrecken. Wenn Krieg herrscht, können Städte ihren Dienst an den Bürgern nicht mehr erbringen – und sie können ihre Bürger nicht schützen.“

Dies gilt für den konventionellen, auch den asymmetrischen, Krieg, aber erst recht für den Einsatz von Atomwaffen. Hiroshima und Nagasaki wurden im August 1945 jeweils von nur einer, nach heutigen Maßstäben »kleinen«, Bombe zerstört. Nicht auszumalen wären die Folgen, würde eine nukleare Bombe mit hoher Sprengkraft über einer Stadt wie New York, Moskau, New Delhi oder Shanghai gezündet. Die internationale Städteorganisation Mayors for Peace (Bürgermeister für den Frieden) organisierte vor diesem Hintergrund vor knapp zehn Jahren die Petition »Cities Are Not Targets« – Städte sind keine Ziele. Mit dem Aufruf konnten die Bürgermeister weltweit mehr als eine Million Bürger aktivieren, Gehör bei den Atomwaffenstaaten fanden sie nicht.

US-Präsident Obama wird Ende Mai 2016 zum G7-Gipfel in Japan sein. Wäre es nicht an der Zeit, dass er bei dieser Gelegenheit auch nach Hiroshima reist, um dort noch vor Ende seiner Amtszeit den Opfern der Atombombe(n) die Ehre zu erweisen? Dies wäre ein richtiger und längst überfälliger Schritt, auch wenn er an der grundsätzlichen Lage nichts ändern würde: Sämtliche Atomwaffenstaaten rüsten kräftig auf, alleine die USA planen für die nächsten 30 Jahre mehr als eine Billion US$ dafür ein. Dabei hatten doch zumindest die fünf anerkannten Mitglieder des nuklearen Clubs im Nichtverbreitungsvertrag versprochen, zügig über die vollständige Abrüstung von Atomwaffen zu verhandeln. Der Vertrag trat vor 46 Jahren in Kraft, auf die Verhandlungen warten wir heute noch.

Das erzürnt nicht nur FriedensaktivistInnen, sondern auch die Regierungen zahlreicher Staaten, und animierte die Marshall Islands vor zwei Jahren dazu, vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klageverfahren einzureichen (mehr unter nuclearzero.org). Dabei geht es keineswegs um finanzielle Kompensation für die immensen Schäden, die die Marshall Islands durch 67 Atombombentests über ihrer Inselgruppe erlitten. Vielmehr soll der IGH alle Atomwaffenstaaten zur Rechenschaft ziehen, weil sie ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Abrüstung aus dem Nichtverbreitungsvertrag bzw. dem sich daraus ergebenden Völkergewohnheitsrecht seit fast fünf Jahrzehnten nicht nachkommen. Genau dies hatte der IGH in einem wegweisenden Rechtsgutachten bereits 1996 festgestellt: „Es gibt eine Verpflichtung, Verhandlungen […] fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“ Ob der IGH die Klage der Marshall Islands annehmen wird, ist offen; eine siebentägige Anhörung zum Fall fand im März 2016 statt.

In den vergangenen Jahren wurde in mehreren Studien detailliert untersucht, was eine Atombombenexplosion konkret für eine Stadt bedeuten würde, z.B. für Bombay, Rotterdam, Lyon oder München. Mithilfe der einfach zu bedienenden Website nuclearsecrecy.com/nukemap können Sie die Folgen eines Atombombeneinsatzes auf Ihre Stadt selbst erkunden. Ich habe das für Den Haag getan, und zwar mit 170 Kilotonnen, das entspricht der maximalen Sprengkraft des US-Bombentyps B61-4, von dem bis heute knapp zwei Dutzend in den Niederlanden vorgehalten werden (so wie in Deutschland auch). Das Ergebnis lautet 284.180 Tote und 269.240 Verletzte. Den Haag beherbergt neben dem im Friedenspalast untergebrachten IGH zahlreichere andere mit dem Völkerrecht verbundene Institutionen, u.a. den Internationalen Strafgerichtshof, den Ständigen Schiedshof und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. All diese mühsam erkämpften Einrichtungen würden mit den BewohnerInnen hinweggefegt, ebenso wie alles andere, was städtisches Leben lebenswert macht: Infrastrukturen, Museen und Konzertsäle, Fußballstadien und Parks, Kinderspielplätze und, ja, die auch, Krankenhäuser.

Es besteht also kein Zweifel: Städte sind höchst verwundbare Ziele. Dazu braucht es keine Atomwaffen, wie die jüngsten Terrorangriffe in Brüssel und Paris zeigen, und urbane Gewalt wirkt, wie im diesem Heftschwerpunkt beschrieben, auch in ihren »alltäglichen« Ausprägungen fatal. Es gibt also viele Betätigungsfelder für ForscherInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen, um für friedliche Städte zu sorgen und ihre BewohnerInnen zu schützen – und die in ländlichen Regionen natürlich auch.

Ihre Regina Hagen