»Reconciliation in Aceh«

»Reconciliation in Aceh«

Symposium des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg

von Ulrich Wagner, Johannes M. Becker und Johannes Herrmann

Nach Jahrzehnten von Bürgerkrieg in der indonesischen Provinz Aceh zwischen der lokalen Freiheitsbewegung und der indonesischen Zentralregierung kam es 2005 in Helsinki durch internationale Vermittlung zu einem Waffenstillstands- und Friedensabkommen. Ein wesentlicher Grund für die Kompromissbereitschaft der Bürgerkriegsparteien waren auch die Auswirkungen des Tsunami im Dezember 2004, der in Aceh besonders viele Todesopfer forderte.

Auf Einladung des Zentrums für Konfliktforschung der Universität Marburg und finanziert mit Mitteln der Volkswagen-Stiftung kamen vom 13.-17. März knapp 100 internationale FriedensforscherInnen und Mitglieder staatlicher und nicht-staatlicher Friedensinstitute zusammen, um am Beispiel Aceh die notwendigen Schritte von einem Waffenstillstand zu einer wirklichen Befriedung und Aussöhnung zu diskutieren. Das Anliegen der Konferenz war, wie der geschäftsführende Direktor des ZfK, Prof. Dr. Ulrich Wagner betonte, dem interkulturellen, interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaftlern und Praktikern zu dienen mit dem Ziel, für die Friedensforschung im Allgemeinen und für die Region Aceh im Besonderen zu Erkenntnissen zu kommen, die aus der Sicht einzelner Disziplinen, einzelner Länder oder aus der Sicht allein von Praktikern oder Theoretikern nicht erreicht werden könnten.

Zu Beginn der Tagung verlas Mr. William Ozkaptan, UN Beauftragter für Aceh, eine Grußbotschaft des neugewählten Gouverneurs der Provinz, der trotz Ankündigung seiner Anwesenheit wegen anderweitiger Verpflichtungen nicht an der Konferenz teilnehmen konnte.

Die inhaltliche Arbeit begann mit der Aufarbeitung der historischen Hintergründe des Konfliktes. Dazu gab es Einführungsreferate von Dr. Johannes Herrmann und Anne Kathrin Schäfer. Im folgenden Block wurden die ökonomischen Hintergründe des Konfliktes analysiert. Grundlage dazu waren Beiträge von Professor Dr. Jochen Röpke und Dr. Abdul Rachman Islahuddin (Aceh). Im Zuge dieses Blockes wurde sehr klar, dass der Konflikt zwischen der Provinz Aceh und der Zentralregierung wesentlich auf die Auseinandersetzung um Bodenschätze in der Provinz Aceh zurückgeht. Der letzte Block im Rahmen der Aufarbeitung der Konfliktursachen hatte religiöse Hintergründe zum Thema. Die Beiträge von Professor Dr. Edith Franke und Dr. Alef Teriah Wasim (Aceh) machten deutlich, wie die lange islamische Geschichte in Aceh und in Indonesien mit ihren unterschiedlichen Facetten den Konflikt sowohl verstärkt haben, aber zukünftig auch zu einer Beilegung des Konfliktes wichtig sein könnten.

Im zweiten Block des Symposiums wurden die Schritte zur Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen dokumentiert. Leider war der eingeplante Bericht des Gouverneurs von Aceh über die Friedensverhandlungen aus oben genannten Gründen nicht realisierbar. Joost Butenop als Vertreter von »Ärzte ohne Grenzen« machte die Bedeutung unmittelbarer medizinischer Versorgung deutlich. Jörg Meyer, langjähriger Vertreter von NGOs in Aceh und in Indonesien, schilderte die Situation der Hilfeleistung nach dem Tsunami. In diesem Zusammenhang wurde auch klar, wie die Rechtfertigung von NGOs ihren Spendern gegenüber zu zuweilen unsinniger Massierung von Hilfeleistungen führt. Dies kann bei den Empfängern Erwartungen wecken, die auf Dauer nicht eingehalten werden können, was erneute Konflikte nach sich ziehen kann. Augustin Nicolescou schließlich schilderte die Möglichkeiten des Einsatzes von Dialogverfahren zur Aussöhnung von vorher verfeindeten Bevölkerungsteilen.

Der dritte Block des Symposiums hatte zum Ziel, am Beispiel unterschiedlicher Konfliktregionen der Welt Möglichkeiten zur Befriedigung nach gewalttätigen Auseinandersetzungen und insbesondere zur Befriedigung von Aceh zu arbeiten. Am Beispiel der Entwicklung seines Heimatlandes machte der nordirische Sozialpsychologe Prof. Dr. Ed Cairns deutlich, dass Postkonflikt-Gesellschaften oft gar nicht so sehr darauf fixiert sind, Rache und Vergeltung am ehemaligen Gegner zu üben. Vielmehr kommt es zur ausschließlichen Fixierung auf die eigene Partei und die völlige Ignoranz und Vermeidung der anderen, mit jedoch auch fatalen Konsequenzen: Es kommt zu gegenseitiger Benachteiligung und Diskriminierung, etwa bei der Verteilung von Wiederaufbaumitteln, und damit zu einer erneuten Aufheizung der immer noch sehr gespannten Beziehungen.

Die Konferenz folgte in ihrem Aufbau den Schritten, die in Nachkriegs- oder Nach-Bürgerkriegsgesellschaften zur Aussöhnung sinnvollerweise durchlaufen werden sollten. Ein wesentlicher und oft erster Schritt ist die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Nürnberger Prozesse nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Prozesse vor dem internationalen Gerichtshofs in Den Haag und die Installierung von War Crime Tribunals in Kambodscha sind Beispiele für solche Tribunale. Wie der Marburger Jurist und Experte für internationales Recht, Privatdozent Dr. Christoph Safferling, deutlich machte, haben solche Prozesse eine doppelte Funktion: Sie führen zur Aburteilung von Kriegsverbrechern, aber auch zu Aufklärung und Aufarbeitung der Vergangenheit jenseits juristischer Fragen nach Schuld und Verurteilung. Der lokalen und internationalen medialen Begleitung solcher Prozesse kommt deshalb eine große Bedeutung zu.

Wahrheitskommissionen sind nach Schilderung des südafrikanischen Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Pierre du Toit ein weiterer Schritt. Ihr Ziel ist nicht die juristische Bearbeitung konkreter Verbrechen, sonder die öffentliche Aufarbeitung der kriegerischen Vergangenheit. Dies ist ebenfalls nur möglich, wenn die Kommissionen ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit sicherstellen können. Ziel der Wahrheitskommissionen ist die Rekonstruktion der Geschehnisse aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Motive. In Südafrika arbeiten Wahrheitskommissionen und Gerichte oft Hand in Hand: Schwere Verbrechen und Verfahren, in denen die Beteiligten keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommissionen zeigen, werden an die Gerichte weiter verwiesen.

Der israelische Sozialpsychologe und Pädagoge Prof. Dr. Gavriel Salomon konnte an zahlreichen Beispielen verdeutlichen, dass pädagogische Maßnahmen zum Abbau von Feindbildern gut geeignet sind und damit einen weiteren wichtigen Schritt der Aussöhnung darstellen. Solche Maßnahmen können etwa in den schulischen Unterricht eingebaut werden. Viele dieser Maßnahmen beruhen auf der konflikt-reduzierenden Wirkung von Kontakten zwischen Mitgliedern der Konfliktparteien. Diesen Aspekt betonte auch Privatdozent Dr. Johannes M. Becker in seiner Analyse des französisch-deutschen Verhältnisses nach 1945: Das breit angelegte Kontaktstiften insbesondere des Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW/OFAJ) wie auch der systematische Aufbau gemeinsamer supranationaler Institutionen im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses wurden als konflikt-reduzierende Faktoren aufgeführt.

Die Kontaktforschung kann die Bedingungen sehr genau spezifizieren, unter denen Kontakte zwischen Gruppen zur Verminderung von Spannungen und gegenseitiger Zurückweisung führen, wie die US-amerikanische Sozialpsychologin Linda Tropp in einer Zusammenfassung der mittlerweile fünfzigjährigen Forschung auf diesem Gebiet zeigen konnte. Allerdings sind die erzielten Effekte oft nur kurzzeitig, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an solchen Vermittlungs- und Aussöhnungsprogrammen wieder in ihre Bezugsgruppen zurückkehren, in denen oft massive Feindbilder gepflegt und tradiert werden.

Der Präsident der Philipps-Universität, Volker Nienhaus, und Jochen Röpke, Wirtschaftswissenschaftler an der Philipps-Universität, verwiesen auf die Notwendigkeit auch der ökonomischen Umgestaltung des Landes. Aceh verfügt über reiche Bodenschätze und Agrarprodukte, die in der Regel als Rohstoffe und damit ohne große Gewinne ausgeführt werden. Zur Anhebung der Einkünfte muss zumindest ein Teil der Weiterverarbeitung im Lande verbleiben. Dazu bietet gerade der islamische Hintergrund des Landes eine gute Basis, weil er ein Banken- und Kreditwesen begünstigt, das insbesondere auf die Förderung von Kleinunternehmen baut.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der betroffenen Regionen Aceh und Indonesien sahen gute Möglichkeiten, viele der diskutierten Aussöhnungsmaßnahmen auf Aceh zu übertragen. Darüber hinaus seien aber noch weitere Initiativen zu ergreifen. Beispielsweise ist die zukünftige Rolle der indonesischen Armee zu klären, die an dem Konflikt massiv beteiligt war. Und die religiösen Hintergründe des Konflikts sind weiter aufzuklären. Indonesien und Aceh sind gleichermaßen islamisch geprägt. Dieser gleiche religiöse Hintergrund sollte den Aussöhnungsprozess eigentlich begünstigen, gleichzeitig dienen feine religiöse Unterschiede aber immer wieder als Differenzierungskriterium, um zwischen Aceh und anderen Teilen Indonesiens unterscheiden zu können.

Die Marburger Konferenz konnte viele Fragen aufgreifen und Wege zur Aussöhnung aufzeigen. Gerade aus dem Konzert der Vielzahl von Empfehlungen, die sonst gewöhnlich nur jeweils einzeln in den Blick genommen werden, ergeben sich neue und umfassende Perspektiven der Koordination der unterschiedlichen Schritte. Manche Fragen sind aber auch noch offen und z. T. von der Forschung noch gar nicht hinreichend intensiv in Angriff genommen wurden. Dazu gehört beispielsweise die Frage, wann nach Einstellung von Kampfhandlungen Maßnahmen zur Aussöhnung sinnvoll eingeleitet werden sollen. Möglichst unmittelbar, um eine breite gesellschaftliche Diskussion auszulösen, oder mit Verzögerung, um gerade oberflächlich verheilte psychische Schäden nicht gleich wieder aufzureißen?

Der Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner ist Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Konfliktforschung (ZfK) an der Philipps-Universität Marburg.

Der Politologe PD Dr. Johannes M. Becker ist Geschäftsführer des ZfK.

Dr. Johannes Herrmann ist Politikwissenschaftler an der Justus Liebig-Universität Giessen.

Die Schwarzen Tiger

Ausgewählt für Selbstmordkommandos:

Die Schwarzen Tiger

von Dagmar Hellmann-Rajanayagam

Das nebenstehende Gedicht »Aus der Menschheit ein König« erschien 2001 in einer Broschüre der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE),1 der militanten Bewegung, die für einen unabhängigen Tamilenstaat im Norden Sri Lankas kämpft, zur Ehrung ihrer gefallenen Helden. Diese Broschüren – inzwischen auch mit den Namenslisten der Gefallenen versehen – werden jährlich vom Publikationsbüro der LTTE am »Heldengedenktag«, dem 27. November, herausgegeben. In Gedichten und Kurzgeschichten werden alle gefallenen Kämpfer und speziell die Schwarzen Tiger geehrt. Aber wer oder was sind die Schwarzen Tiger?

Die Schwarzen Tiger sind – wie in dem Gedicht angedeutet – die Selbstmordkommandos der LTTE, die in der sicheren Erwartung, selbst zu sterben, ausgewählte und als militärisch deklarierte Ziele des sri lankanischen Staates angreifen. Als erster Schwarzer Tiger gilt gemeinhin Hauptmann Miller alias Vasanthan, der am 05.07.1987 im Alter von 21 Jahren einen mit Sprengstoff beladenen LKW in ein sri lankanisches Militärlager in der High School in Nelliady steuerte und es völlig zerstörte.

Diese Tat wird jedes Jahr am 5. Juli als Tag der Schwarzen Tiger begangen. Es folgten weitere Selbstmordangriffe dieser Kommandos, wobei sich ihr Charakter allmählich änderte. Richtete sich der Angriff 1987 noch auf ein Armeelager, so wurden in der Folge zunehmend individuelle politisch-militärische Ziele und einzelne Personen – meist Politiker und hochrangige Militärs – angegriffen. Das Attentat auf Rajiv Gandhi 1991 ist das bekannteste und berüchtigste, dazu zählen aber auch der Angriff auf den Militärkommandanten Denzil Kobbekaduwa und der – fehlgeschlagene – Angriff auf Chandrika Kumaratunga 1999. Weitere Angriffe wurden auf wirtschaftlich-militärische Einrichtungen, wie den militärischen Teil des Flughafens Katunayake 2001 oder das World Trade Centre in Colombo 1996, durchgeführt.

Die Anschläge der Schwarzen Tiger sind solche einzelner oder – seltener – einer Gruppe von nicht mehr als 10 – 15 Personen. Sie finden außerhalb des Kampfgeschehens auf dem Schlachtfeld statt, sind aber nicht selten von diesem abhängig. Die Schwarzen Tiger bzw. die LTTE bekannten sich meist nicht unmittelbar – manchmal gar nicht – zu diesen Anschlägen. Der Anschlag auf Rajiv Gandhi wurde 2006 eindeutig zugegeben; bei anderen Anschlägen zweifeln auch die Experten, ob sie tatsächlich auf das Konto der Schwarzen Tiger gehen: so das Attentat auf Präsident Premadasa 1993 und auf Außenminister Lakshman Kadirgamar 2005.

Die Angriffsziele der Schwarzen Tiger richten sich demnach auf Ziele und Gegner, von denen man annimmt, dass sie auf andere Weise nicht auszuschalten seien, mit anderen Worten, schwer bewachte und geschützte menschliche und materielle Objekte, deren Zerstörung jedoch als wesentlich angesehen wird. Bei Personen handelt sich um solche, die die LTTE für die Unterdrückung oder Ermordung von Tamilen oder für eine fehlerhafte Politik persönlich verantwortlich macht.

Der Unterschied zu »normalen« Kriegern liegt darin, dass Soldaten im Kampf sterben können; Schwarze Tiger »müssen« sterben; Überleben ist keine Option.2 Die Kämpfer auf dem Schlachtfeld rechnen zwar jederzeit mit dem Tod, sie tragen sogar eine Zyankalikapsel um den Hals, um im Fall der Gefangennahme Selbstmord begehen zu können, aber die theoretische Möglichkeit des Überlebens ist immer gegeben. LTTE-Kämpfer verpflichten sich heute für mehrere Jahre, dann können sie ins zivile Leben zurückkehren, was sie zunehmend auch tun. Viele ehemalige Kämpfer sind heute in der zivilen Verwaltung tätig.

Anders die Schwarzen Tiger: sie sind speziell ausgewählt und ausgebildet; nicht jeder kann ein Schwarzer Tiger werden, selbst wenn er möchte. Sie werden nicht für den Krieg trainiert sondern für das Sterben, da nur durch dieses Sterben das gewünschte Ziel erreicht werden kann. Dieses Sterben geschieht allerdings nicht um seiner selbst willen, sondern weil damit etwas bewirkt werden soll. Die Tamilen waren zahlen- und ausstattungsmäßig lange der sri lankanischen Armee unterlegen und griffen zur Selbstverteidigung zu diesem letzten Mittel, ähnlich den »menschlichen Bomben« der Kamikazekämpfer. Die Schwarzen Tiger verwenden das »Leben als Waffe«, weil eine andere Waffe nicht geeignet oder wirkungslos ist.3

Der Beweggrund für solche Einsätze von Schwarzen Tigern ist – zumindest auf Seiten der Führung – ein durchaus pragmatischer, der Einsatz selbst aber immer etwas Besonderes: Er bleibt die Ausnahme. Schwarze Tiger werden eingesetzt für Aufgaben, die andere Krieger nicht erfüllen können. Weder sind ihre Aktionen willkürlich, noch sind die Opfer willkürlich gewählt: Ziele und Attentäter werden sorgfältig gewählt und letztere geschult.

Angriffe auf Cafés und Hotels, wie sie Hamas, oder auf Schulen und Kinderheime, wie sie die sri lankanische Armee zunehmend durchführt, kommen nicht vor. Wohl aber Angriffe auf Flugplätze, Banken, alles, was im weitesten Sinne als militärisch-ökonomisches Ziel bezeichnet werden kann. Es genügt also nicht, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch zu binden und los zu laufen, im Gegenteil, Schwarze Tiger sollen nicht wahllos Massaker anrichten, sondern genau bezeichnete Ziele zerstören. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Selbstmordattentäter der LTTE grundsätzlich von islamistischen Selbstmordattentätern.

Ihr Tod ist notwendig, aber nicht gewünscht, auch wenn er von den Aktiven oft nicht nur erwartet, sondern manchmal auch ersehnt wird. Schwarze Tiger operieren immer anonym. Ihre Namen sind nicht bekannt und ihre Gesichter im Leben und in Darstellungen immer vermummt. Namen erhalten sie erst nach ihrem Tod, wenn eine Aktion erfolgreich abgeschlossen wurde. Schwarze Tiger sind männlich oder weiblich, sie agieren zu Lande und zu Wasser, bisher aber noch nicht aus der Luft. Bekannt geworden ist die junge Frau, die angeblich Rajiv Gandhi in die Luft gesprengt hat. Beide Geschlechter müssen sich strengen disziplinarischen und moralischen Regeln unterwerfen.

In noch einem Punkt unterscheiden sich die LTTE-Kämpfer von islamistischen Selbstmordattentätern: Sie opfern sich nicht aus religiösen Gründen. Dies wird gleich noch näher erläutert, aber zuerst steht hier die Frage, welche Beweggründe die Schwarzen Tiger selbst antreiben. Was, salopp gesagt, versprechen sie sich von ihren Aktionen? Die Antwort lautet kurz und knapp: nichts für sich persönlich. Schwarze Tiger sterben, sie werden, wie auch Peter Schalk betont, nicht von der Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tod bewegt. Auch wenn die meisten LTTE-Mitglieder und demnach auch die Schwarzen Tiger sivaitische Hindus sind – mit einer substantiellen katholischen Minderheit – so findet sich weder in den Gedichten, von denen eines nebenstehend zitiert wird, noch in ihren Schriften ein Hinweis darauf, dass die Schwarzen Tiger mit der Hoffnung auf das Paradies oder eine günstige Wiedergeburt in den Tod gehen. Nicht nur die politische, auch die individuelle Motivation der Schwarzen Tiger ist eine durchaus säkulare.4

Ihre einzige Hoffnung ist die, dass durch ihre Aktionen das Land, die Mutter Tamil, das Mutterland, von Fesseln befreit unabhängig überleben wird. Das ist die einzige Genugtuung, derer sie sich in ihrem Sterben versichern können. Dies und die Gewissheit, dass sie in der Erinnerung ihres Volkes weiterleben werden, eine Gewissheit, die bisher nicht getrogen hat: Die Schwarzen Tiger werden in Reden, Geschichten und Gedichten besungen. In den Reden der LTTE-Führung, vor allem V. Prabhakarans, dominiert das Motiv des alles verzehrenden Feuers und des gerechten Zorns im Zusammenhang mit den Schwarzen Tigern: Schmerz und Trauer verwandelt sich in Zorn. Zum Heldengedenktag 2000 erklärte er z.B., dass das Feueropfer der Märtyrer das Land rein mache, die gefallenen Helden seien die Ecksteine Tamil Ilams, die das Land schützen, eine sehr alte tamilische Auffassung.5 Als Wegweiser auf dem Weg zur Freiheit brennen sie sich in die Erinnerung ein und werden dadurch unsterblich. Während das normale menschliche Leben mit dem Tod endet, leben die Helden weiter im Schoß der Tamilmutter.6

Das zitierte Gedicht nimmt dieses Motiv auf: der Kämpfer wird mythologisiert als Feuergestalt. Er richtet sich auf einen unendlichen Kampf ein, der Äonen andauert. Er ist durch das Böse nicht zu besiegen. Das Selbstopfer des Helden, die Verbrennung, Aschewerdung, macht die Erde fruchtbar. Auch das ist ein immer wiederkehrender Topos: Die Toten werden nicht verbrannt, sondern in die Erde als Saatkorn eingesät. Aus ihrem Opfer entsteht nicht unbedingt real, aber metaphorisch neues Leben, die Motivation für die Nachfolger. Sie werden zur Gabe an die Zukunft, wodurch sie zeitlos werden, und an den Tod, den sie dadurch besiegen. Der gerechte Zorn über das Unrecht, das den Tamilen, dem Volk angetan wurde, bestimmt die Beweggründe der Schwarzen Tiger genauso wie die Schuld, derer sie ihre Opfer bezichtigen. Ihr Lohn ist der Tod und das Überleben des Landes.

Das Bild erinnert an göttliche und menschliche Asketen der indischen Mythologie, die, in Meditation versunken, die Welt in Flammen aufgehen lassen können. Der Flammentod, die Selbstverbrennung, ist ein traditionelles und modernes Mittel der Wahl im religiösen und politischen Kontext: in der dravidischen Bewegung in Tamilnadu, die gegen Kastenunterdrückung und für kulturelle Autonomie kämpfte, finden wir Streiter, die sich aus Protest z.B. gegen die Einführung des Hindi als offizielle Sprache, also für ein säkulares Ziel, verbrannten. Hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung der Zurückgebliebenen, auch und gerade der überlebenden Kameraden, sich von der offiziellen Ideologie subtil unterscheidet.

In den Gedichten zur Ehrung der Schwarzen Tiger finden wir, wenn nicht eine religiöse, so doch eine stark sakrale Komponente: das Nationale, die Nation und ihr Überleben, werden religiös überhöht und symbolisiert: Erlösung für die Schwarzen Tiger bedeutet das Sterben im Kampf und das (Über-)Leben der Nation Tamil Ilam.7 Zwar ist auch hier weder vom Himmel noch von Wiedergeburt die Rede, wohl aber von einer geisterhaften Existenz bzw. der Verwandlung der Helden in Gestirne. Ganz aufgeben will man sie nicht, sondern sich ihrer Macht weiterhin bedienen können, auch dies eine sehr alte Vorstellung.

Auch wenn ein Schwarzer Tiger mit dem Tod tot ist, so übt er doch Einfluss auf die Lebenden, vor allem auf den Gegner aus: Die geisterhafte Erscheinung ängstigt seine Feinde bis in ihre Träume, eine durchaus realistische Beschreibung der Angst der Sinhalesen vor den unvermutet und wirklich wie von Geisterhand zuschlagenden Selbstmordkommandos. Einige Armeekommandeure gingen so weit zu verlangen, dass die sri lankanische Armee ebenfalls Selbstmordbataillone gründe.8

Gedichte wie Prosatexte betonen die Menschlichkeit und die Normalität der Schwarzen Tiger. Eine Kurzbiographie Hauptmann Millers erwähnt seine Heiterkeit und seine Lausbubenstreiche, aber auch seine Hilfsbereitschaft und seine Liebe und Verehrung für seine Mutter. Letztere wird zitiert mit der Bemerkung, er sei so ein lieber Junge gewesen, den sie sehr betrauere, aber was er getan habe, sei zum Wohl des Landes gewesen.9

Der Schwarze Tiger bleibt ein Mensch, ein »König aus der Menschheit geboren«, der in gerechtem Zorn jede Überlegung aufgibt und nur noch handelt, ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn selbst.

Der oftmals als unerklärlich angesehene Erfolg der LTTE gründet sich auf drei Komponenten, die in der kollektiven Erinnerung immer noch starken Rückhalt haben: Die oben beschriebene dravidische Bewegung Tamilnadus sowie religiöse und militärische Traditionen der Tamilen. Während die religiöse Tradition national uminterpretiert wird, knüpft die militärische Tradition an die der Maravar, einer tamilischen Kriegerkaste und an die Texte des Purananuru, einer Sammlung alttamilischer Kriegsgedichte, an. Diese Mobilisierung gelingt allerdings nur über den Versuch, die Tradition innerhalb des alten Rahmens von Grund auf neu zu definieren. Alte und akzeptierte Werte werden nicht verworfen, sondern einfach völlig neu interpretiert und mit neuem Inhalt gefüllt. Der Tiger ist dabei nicht nur das Symbol der alten tamilischen Dynastie der Colas, sondern auch das der Indian National Army Subhas Chandra Boses, der im Zweiten Weltkrieg von Birma aus gegen die Briten um die Unabhängigkeit Indiens kämpfte.10

Die LTTE vertritt nicht nur die alten Symbole und Emotionen tamilischen Heldentums, sie stellt sich auch als Hüter und Wächter dieser Tradition dar, ein Konzept, das die Bevölkerung akzeptiert, weil es ihr aus unzähligen Lektionen und Erzählungen wohl bekannt ist.11 »Tamilische« Tugenden wie strikte Disziplin und absolut ehrenhaftes Verhalten finden sich bei der LTTE wieder: Wir schützen euch, euer Volk, eure Ehre und eure Frauen. Der Anspruch auf ein unabhängiges Ilam beruht auf dem Kampf gegen die rassische und nationale Unterdrückung genauso wie auf vergangenem Ruhm. Hierin besteht das programmatische und ideologische Geschick der Militanten, die genau die Traditionen aufgreifen, die bei der Bevölkerung auf Resonanz stoßen. In der Synthese ergeben sie etwas Neues, nur der LTTE Eigenes. Das dürfte der Grund sein, warum die Märtyrer – und besonders die Schwarzen Tiger – bei der Bevölkerung auf soviel Verehrung stoßen.

In der genannten Konstellation ist es nicht leicht, den Kampf vor dem endgültigen Erfolg aufzugeben, das Leiden der Helden darf ja nicht umsonst gewesen sein. Umso bemerkenswerter ist es, dass es 2002 tatsächlich zu einem Waffenstillstand kam, von dem ausdrücklich gesagt wurde, er sei gut auch deshalb, weil man jetzt keine Einsätze der Schwarzen Tiger mehr durchführen müsse. Es ist aber anzunehmen, dass die Schwarzen Tiger nach dem Zusammenbruch des Waffenstillstandes wieder auferstehen werden: Geister aus der Asche des Weltuntergangs. Der Angriff auf die Marinebasis Galle im November 2006 hat davon einen Vorgeschmack gegeben.

Anmerkungen

1) Curiyap Putalvar: Heldengedenktag 27. November 2001, S.19, Internationales Büro der Liberation Tigers of Tamil Eelam,

2) vgl. Dagmar Hellmann-Rajanayagam (2005): And Heroes Die – Poetry of the Tamil Liberation Movement in Northern Sri Lanka, in South Asia: Journal of South Asian Studies, n.s., XXVIII, 1, April 2005, SS.112-153.

3) Peter Schalk (2006): Cavilum Valvom (Auch im Angesicht des Todes werden wir leben), Dortmund, S.166.

4) Peter Schalk (1997): Resistance and Martyrdom in the Process of State Formation of Tamil Eelam in: Joyce Pettigrew (Hg.): Martyrdom and Political Resistance – Essays from Asia and Europe (Comparative Asian Studies, 18) VU University Press for Centre Asian Studies, Amsterdam, angesehen: http://www.tamilnation.org/ideology/schalkthiyagam.htm 28.12. 2006.

5) Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.1

6) Rede Prabhakarans zum Heldengedenktag 27. November 2006: „Im subtilen Wirbel von Geburt, Wandel, Tod vergeht die Zeit. Wie eine im pausenlos weiter drängenden Fluss der Zeit ab und zu Wasserblasen auftauchen und verschwinden, so beschließt und endet das unbeständige menschliche Leben mit dem Tod. Aber unserer großen Helden Leben und Geschichte entspricht dem nicht. Nach dem Tod geht ihr Leben weiter. Mit dem Tod ist ihr Leben nicht beschlossen. Sie leben ein ewiges Leben im Schoß der Tamilmutter. Als Zeugen der Wahrheit, als Entzünder des Feuers der Geistesstärke, als Wegweiser auf unserem Weg zur Unabhängigkeit gehen sie aufrecht voran.“ (Übersetzung: Dagmar Hellmann-Rajanayagam)

7) Des großen Helden Erlösung, in Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.37 .

8) Schalk: Cavilum Valvom, a.a.O., S.167.

9) Der Anbruch einer neuen Zeit, in Curiyap Putalvar (2001): a.a.O., S.34.

10) vgl. Alexander Werth: Der Tiger Indiens Subhas Chandra Bose, Ein Leben für die Freiheit des Subkontinents, München [u.a.]1971.

11) vgl. Satchi Sri Kantha: Homage to the Black Tigers – A Review of Sooriya Puthalvargal 2003, Memorial Souvenir, 22 June 2004, angesehen: http://www.tamilnation.org/forum/sachisrikantha/blacktigers2.htm 28.12.2006.

PD Dr. Dagmar Hellmann-Rajanayagam arbeitet zur Geschichte sowie den ethnischen und religiösen Konflikten in Süd- und Südostasien. Seit 20 Jahren lebt sie jährlich mehrere Monate in Sri Lanka und Südindien.

Osttimor – ein »failed state«?

Osttimor – ein »failed state«?

von Rainer Werning

Als am 20. Mai 2002 die Flagge des jüngsten Staates in Osttimors Hauptstadt Dili gehisst wurde, herrschte überschwängliche Freude. Unter den Ehrengästen befand sich auch UN-Generalsekretär Kofi Annan. Euphorisch verwies er darauf, dass die Welt noch nie so vereint gewesen sei, einer kleinen Nation als Taufpate beizustehen. Nur vier Jahre später erfüllt Osttimor eher die Kriterien eines »failed state«, obgleich dessen Bevölkerung nichts dringlicher verdient hätte, als endlich in Sicherheit und Frieden eine menschenwürdige Existenz zu fristen. Was lief schief?

Erstens: Für den »Westen« wurden gedeihliche Beziehungen zu Osttimors großem Nachbarn Indonesien stets höher bewertet als „Sorgen um das politische Schicksal (der portugiesischen Exkolonie; RW) Osttimors, eines winzigen, verarmten, nach Unabhängigkeit strebenden Territoriums von 800.000 Einwohnern.“ 1 Das bewies nicht nur die Haltung der »westlichen Wertegemeinschaft«, als sich General Suharto 1965 blutig an die Macht putschte und er eine Dekade später seine Soldateska in Osttimor ungestraft einmarschieren und dort bis 1999 ein Viertel der Bevölkerung massakrieren ließ. Das belegte überdies das viel zu späte Intervenieren seitens der UN im Sommer 1999, als die Osttimorer in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit von Indonesien optierten. Wenige Wochen zuvor hatte der Kommandeur der indonesischen Invasionstruppen in Dili, Oberst Tono Suratman, ebenfalls ungestraft gewarnt: „Wenn die Pro-Unabhängigkeitskräfte siegen, wird alles zerstört werden. Das wird schlimmer als vor 23 Jahren“, 2 als Indonesien Osttimor völkerrechtswidrig annektierte. Der Oberst behielt Recht. Tausende Westtimorer wurden von in den USA ausgebildeten Kopassus-Spezialeinheiten mit Wissen und Duldung des kommandierenden Generals Wiranto in Osttimor eingesetzt, um dort eine Politik der verbrannten Erde zu exekutieren.3

Zweitens: Die Verantwortlichen all dieser Massaker wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Der Drahtzieher der Verbrechen, der über drei Dekaden im Westen als ausgesprochener Darling geschätzte Ex-General Suharto, genießt heute das Privileg sattsam bekannter »Despoten-Krankheit«; Ärzte attestierten ihm, nicht vernehmungsfähig zu sein, während willige Justizschergen ihn schlichtweg exkulpierten. Der »Westen« überließ Indonesien die eigene »Vergangenheitsbewältigung«. Mit dem Resultat, dass sämtliche Hauptschuldigen der Osttimor-Massaker in Jakarta freigesprochen wurden oder ihre Haftstrafen nie antreten mussten. Die in Osttimor selbst eingesetzten Gerichte führten indes 70 Angeklagte einer Haftstrafe zu – allerdings nur eigene Staatsbürger.

Drittens: Wenngleich Osttimor mit Staatspräsident Xanana Gusmão und Außen- sowie Verteidigungsminister José Ramos Horta über integre Persönlichkeiten verfügt, die lange im Untergrund für die Freiheit gekämpft hatten, lehnte ausgerechnet dieses Tandem eine Wiederaufnahme der Strafverfolgung von Tätern strikt ab und betrieb in putativem Gehorsam die unbedingte »Normalität nachbarschaftlicher Beziehungen zu Jakarta«. Wer die Kultur der Amnesie und Straffreiheit predigt, darf sich nicht wundern, wenn das Gefühl für Recht, Sicherheit und persönliche Unversehrtheit in einer Kultur von Rechtlosigkeit und Rache verschüttet geht. Ein Desaster, das zuvörderst dem allseits gescholtenen Regierungschef und Hardliner der regierenden Fretilin-Partei, Mari Alkatiri, pässlich ist. Eine heillos zerstrittene Regierung und aus den Fugen geratene militärische und zivile Apparate des Staates haben es einem Mob (ob intern von Oppositionellen oder extern bzw. von indonesischen Militärs gelenkt, sei dahin gestellt) ermöglicht, zu brandschatzen und mindestens die Hälfte der etwa 180.000 Einwohner Dilis zu Flüchtlingen zu degradieren.

Viertens: Kolonialismus und Unterdrückung haben nicht nur einen hohen Blutzoll gefordert. So konnten kaum eigene Kompetenzen reifen, um ein Schul-, Berufs- und Gesundheitswesen aufzubauen sowie eine halbwegs funktionsfähige Verwaltung zu schaffen. Mangelnde Devisen, eine rückständig gehaltene Ökonomie und ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von nur 370 US-Dollar verdammten den jungen Staat dazu, anfangs vollständig auf ausländische Hilfe angewiesen zu sein. Die Crux: Tagtäglich erlebte die Bevölkerung Dilis einen Lebensstil ausländischer »Experten«, der sie gnadenlos mit der eigenen Wertlosigkeit konfrontierte.

Fünftens: Der frühere UN-Sondergesandte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, erklärte kürzlich, im Falle Osttimors hätten die UN „in zu kurzer Zeit zuviel erreichen wollen. Die Osttimorer haben uns selbst angefleht, sie länger zu unterstützen. Aber der Sicherheitsrat hatte es wie immer eilig. Sobald CNN keine dramatischen Bilder mehr zeigt, sagen die Mitgliedstaaten: Lasst uns heimgehen.“4 Doch durch die Hintertür kehrten sie zurück – diesmal in Gestalt von mittlerweile 2.300 ausländischen Soldaten unter Führung Australiens.

Anmerkungen

1) Elizabeth Becker & Philip Shenon (1999): With Other Goals in Indonesia, U.S. Moves Gently on East Timor, in: New York Times, 9. September.

2) Australian Financial Review, 14. August 1999, mit Bezug auf ein Radio-Interview.

3) Sydney Morning Herald, 8. Juli 1999 & Benedict Anderson (1999): The Promise of Nationalism, in: New Left Review 235, Mai/Juni.

4) „Wir verteilen unser Geld ohne Sinn und Verstand“, Lakhdar Brahimi im Interview mit der FAZ, 6. Juni 2006.

Dr. Rainer Werning, Politologe & Publizist, befasst sich seit 1970 intensiv mit der Region Südost- und Ostasien.

Indonesien: Krieg im Gewand des »Antiterrors« und Nationalismus

Indonesien: Krieg im Gewand des »Antiterrors« und Nationalismus

von Rainer Werning

Am 21. Mai 2003 jährte sich zum fünften Mal der Abgang des mit 32 Jahren dienstältesten Despoten in Südostasien, doch Freude über das Ende des Ex-Generals Suharto mochte in Indonesien nicht aufkommen. Eine politische Krise folgt der nächsten und die tiefgreifende Wirtschaftsmisere verursacht soziale und kommunale Unruhen Die Militärs, seit Suhartos Zeiten die eigentlichen Machthaber im Lande, demonstrieren ihre Macht, maßen sich an, nach Gutdünken darüber befinden, wer als »Staatsfeind« oder »Terrorist« abgestraft wird und setzten jetzt auch durch, dass über die im Norden der indonesischen Insel Sumatra gelegene Region Aceh das Kriegsrecht verhängt wurde. Notfalls wollen sie den Frieden herbeibomben – mit fatalen Folgen für die Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft.
Über die langjährig unruhige Region Aceh wurde am 19. Mai das Kriegsrecht verhängt. Präsidentin Megawati Sukarnoputri vollzog diesen drakonischen Schritt ohne parlamentarische Zustimmung auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 23/1959. Kurz zuvor war der als »zu wenig resolut« eingestufte Militärkommandeur Acehs, Generalmajor M. Djali Jusuf, von der Armeeführung durch einen Hardliner ersetzt worden. Der Krieg in Aceh hat verheerende Konsequenzen für die regionale Zivilbevölkerung und die nationale Wirtschaft. Die Militärs in Jakarta kalkulieren unverhohlen bis zu 200.000 interne Flüchtlinge als Kriegsopfer ein.

Ultimativ hatte Jakarta zuvor die Widerstandsorganisation Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka – GAM) aufgefordert, sich seinem Friedensdiktat zu beugen. Andernfalls drohe die seit der Osttimor-Invasion 1975/76 größte Militäroffensive auf dem Archipel. Kampfjets und Kampfhubschrauber wurden von ihrem Stützpunkt in Madiun (Ostjava) nach Medan (Nordsumatra) verlegt, Kriegsschiffe und über 40.000 Regierungssoldaten in die Region entsandt. Unbeeindruckt vom intensiven Krisenmanagement in letzter Minute seitens indonesischer und internationaler Vermittler in Tokio, setzte Jakarta schließlich auf die militärische Lösung des Konflikts und beendete damit einen Prozess »ziviler Konfliktlösung«. Gerade einmal fünf Monate vorher, am 9. Dezember 2002, hatte man in Genf ein Abkommen über die Beendigung von Feindseligkeiten für Aceh vereinbart. „Ein historischer Tag für das Volk von Aceh“, kommentierte damals Martin Griffiths, Direktor des Genfer Henri-Dunant-Zentrums für den humanitären Dialog (HDZ), den Vertragsabschluss zwischen indonesischen Regierungsvertretern und Emissären der GAM. Seit annähernd zwei Jahren hatte sich das HDZ für die Unterzeichnung dieses Abkommens und multilaterale Hilfsleistungen eingesetzt.

Indonesien ist ein zentralistisch regierter Inselstaat, dessen Präsidenten sich seit dem Abgang Suhartos mit dem Erbe des Ex-Diktators herumschlagen müssen. Noch Anfang 1998 zählte die Weltbank Indonesien zur zweiten Generation der ökonomisch erfolgreichen »Tigerstaaten«. Doch kein Land erlebte eine so rasche Pauperisierung so großer Bevölkerungsschichten, wie das seitdem in Indonesien der Fall ist. Über ein Fünftel der etwa 215 Millionen Einwohner Indonesiens, so der Australier Dr. Kevin O’Reilly, Leiter der Sektion Feldforschung und Analyse im Jakarta-Büro der Vereinten Nationen, ist gegenwärtig von Lebensmittelhilfen des UN-Ernährungsprogramms abhängig. Knapp 200 Bombenanschläge in verschiedenen Landesteilen, bewaffnete Konflikte sowie gesellschaftliche Spannungen unterschiedlicher Art erschütterten seit Mai 1998 das Vertrauen der Menschen in die öffentliche Ordnung. Die Attentate auf Bali am 12. Oktober 2002 mit 202 Todesopfern erheischten nur deshalb kurz mediale Aufmerksamkeit im Westen, weil das Gros der Opfer Weiße waren.

Alte Konfliktpotenziale

Aceh ist eines der ältesten Sultanate in Südostasien und gleichzeitig eine Konfliktregion mit einer Tradition von Widerstand gegen Kolonialisten, Besatzer und despotische Politiker. Während der holländischen Kolonialzeit von England zeitweilig als unabhängiger Staat anerkannt, verlor Aceh diesen Sonderstatus 1871, als die Engländer mit dem Vertrag von Sumatra Holland nun auch über Aceh freie Hand ließen. Unter dem Vorwand, gegen die Piraterie vorzugehen und das angebliche Machtvakuum nach dem britischen Verzicht von 1871 auszufüllen, schlugen die Holländer zu. Die Folge: Der holländisch-acehnesische Krieg (1873 bis 1903) war der längste und blutigste während ihrer Kolonialherrschaft. Selbst nachdem der Sultan von Aceh die Waffen gestreckt hatte und der Guerillakrieg 1912 endete, sah sich die holländische Militärregierung von Sabotageakten bedroht. Die Mehrheit der Acehnesen revoltierte gegen die Herrschaft der Europäer und begrüßte 1942 die japanische Okkupation Sumatras, was den holländischen Einfluss in diesem Teil ihres Imperiums beendete. Seine große Rolle im Unabhängigkeitskampf Indonesiens (1945-49) sah Aceh von der zentralistischen Politik Jakartas unzureichend gewürdigt: 1953 wurde eine unabhängige islamische Republik ausgerufen, die im Jahre 1961 erst aufgelöst wurde, nachdem Jakarta dem Territorium einen Sonderstatus zubilligte.

Das änderte nichts daran, dass Jakarta auch fortan die Politik in Aceh und über den Erlös seiner Ressourcen bestimmte. Aceh ist reich an Bodenschätzen inklusive der für Indonesien überaus wichtigen Öl- und Erdgasvorkommen, die seit Beginn der siebziger Jahre systematisch erschlossen wurden und wo Exxon-Mobil kräftig mitmischt. Ökonomisch wäre ein eigenständiges Aceh überlebensfähig. Würde auch der Rest Sumatras auf Distanz zu Jakarta gehen, wäre das für Indonesien aber ein Desaster, bräche dann doch einer seiner bedeutsamsten Exportzweige weg. Allein die Ölfelder in Zentral- und Südsumatra decken etwa achtzig Prozent des landesweiten Rohölbedarfs. Acehs Reichtum wurde zum Fluch, weil Jakarta zum Schutz der Förderanlagen immer mehr Sicherheitskräfte in die Region beorderte und damit das ohnehin vorhandene Protest- und Widerstandspotenzial gegen die Zentralregierung vergrößerte und zunehmend militanter werden ließ.

Am 4. Dezember 1976 formierten sich unter Führung des heute im schwedischen Exil lebenden Muhammad Hasan di Tiro die GAM und ihr bewaffneter Arm, die AGAM. Etwa 400 AGAM-Kämpfer sollen anfänglich in Libyen militärisch ausgebildet worden sein. Aktuell beziffert Jakarta die Gesamtstärke der AGAM mit 8.000 bis 10.000 Mann. Erklärtes politisches Ziel der GAM ist ein unabhängiges Aceh, eine Forderung, die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, doch von Jakarta abgelehnt wird. Die Konsequenz: Als die GAM den bewaffneten Kampf begann, holte Jakarta zum Gegenschlag aus. Von 1989 bis zum Ende der Ära Suharto währte die »daerah operasi militer« (DOM), das heißt, die Region war das Counterinsurgency-Terrain par excellence. Sämtliche Methoden der Aufstandsbekämpfung wurden dort praktiziert. Forderungen nach einem Referendum wurden erstickt, selbst wenn dafür in der Hauptstadt Banda Aceh weit über eine halbe Million Menschen friedlich auf die Straße gingen. Massive Menschenrechtsverletzungen waren die Folge, Bürgerrechtsgruppen gerieten ins Schussfeld und mindestens 12.000 Tote sind zu beklagen.

Die Lage schien sich während der Präsidentschaft von Abdurrahman Wahid (Herbst 1999 bis Sommer 2001) zu entspannen, als Wahid erwog, die Bevölkerung Acehs nun doch in einem Referendum über die Zukunft ihrer Region selbst abstimmen zu lassen. Das Militär vereitelte diesen Plan. Es befürchtete die Internationalisierung des Konflikts und eine ähnliche Sequenz der Ereignisse wie in Osttimor, dessen Weg in die Unabhängigkeit letztlich das Engagement der Vereinten Nationen ebnete. Während sich das Militär lediglich auf Gespräche über Autonomie, einen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe einließ, verstärkte es aufs Neue seine Präsenz in der Region. Mehreren Phasen koordinierter Militär- und Polizeioperationen folgte die Aufstockung der Truppenstärke auf etwa 40.000 Soldaten einschließlich Spezialeinheiten.

Nach dem 11. September 2001 wurde die Situation noch prekärer. Neue »Antiterrorgesetze« ermächtigen jetzt die Sicherheitskräfte, verdächtige Personen allein aufgrund geheimdienstlicher Erkenntnisse bis zu sechs Monate festzuhalten. Außerdem wurde auch in Aceh ein Territorialkommando eingerichtet, welches das Militär als Teil der staatlichen Verwaltung auf lokaler Ebene strategisch positioniert und dem Kommandeur mindestens dieselben Rechte einräumt wie der zivilen Exekutive. Wer unter solchen Bedingungen noch immer zu den Waffen greift oder den bewaffneten Widerstand propagiert, gerät zwangsläufig in den Verdacht des »Terrorismus«. Das U.S. State Department hat angekündigt, die GAM auf seine Liste internationaler terroristischer Organisationen zu setzen, sollte diese ihre Attacken gegen Bohranlagen, Raffinerien und andere Einrichtungen von Exxon-Mobil nicht einstellen.

Ein zweites Osttimor?

Die in Genf im Dezember 2002 getroffene Vereinbarung sah ein Waffenstillstandsabkommen, einen besonderen Autonomiestatus und eine intensive Dialogphase mit Beteiligung internationaler Beobachter vor, der 2004 freie Wahlen folgen sollten. Binnen eines halben Jahres, spätestens bis zum 9. Juli 2003, sollten die GAM-Kämpfer ihre Waffen in eigens designierten Depots abgegeben und sich die Regierungssoldaten in vorgeschriebene Defensivstellungen zurückgezogen haben. Außerdem sollten die in Aceh verübten Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt sowie die Opfer und deren Hinterbliebene entschädigt werden. Ein 150-köpfiges »Gemeinsames Sicherheitskomitee« (JSC) unter Vorsitz eines thailändischen Generals mit einem philippinischen Kollegen als Stellvertreter sollte diesen Prozess überwachen und befugt sein, Sanktionen zu verhängen.

Bereits um die Jahreswende warf man sich gegenseitig Vertragsbrüche vor. Die GAM kritisierte das JSC wegen Befangenheit: Der philippinische General könne nicht neutral sein, da Jakarta 1996 als Makler zwischen einer südphilippinischen muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Nationalen Befreiungsfront – MNLF) und Manila aufgetreten sei und Manila gegenwärtig mit einer rivalisierenden muslimischen Widerstandsorganisation (der Moro Islamischen Befreiungsfront – MILF) in den Südphilippinen Friedensgespräche führe. (Diese hat die philippinische Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo jedoch torpediert und nun auch der MILF mit der »Eliminierung« gedroht.) Jakarta hingegen warf der GAM vor, die JSC-Sitzungen zu verschleppen, seine Waffen nicht niederzulegen und auf Sezession statt auf Autonomie zu drängen. Nichtregierungsorganisationen vor Ort beklagten, die indonesischen Streitkräfte beziehungsweise Segmente des Militärs stünden hinter dem Aufbau von Milizen, die – wie 1999 im Falle Osttimors – Furcht und Schrecken säten und bereits mehrfach internationale Beobachterteams angegriffen und deren Posten niedergebrannt hätten. Dabei soll es sich im Wesentlichen um vom Militär protegierte Milizen in Zentralaceh handeln, wo ein Großteil Javaner siedelt, die es dorthin im Rahmen des von Jakarta einst ehrgeizig betriebenen »Transmigrationsprogramms« verschlagen hat.

Seit Ende April/Anfang Mai 2003 eskalierte der Konflikt. „Entscheidet man sich schließlich für ein militärisches Vorgehen“, schrieb Wiryono Sastrohandoyo, Chefunterhändler der indonesischen Regierungsseite, in der Jakarta Post, „sollten die Operationen sorgsam geplant sein, so dass kein Krieg im traditionellen Sinne, sondern ein »humanitärer Krieg1« geführt wird, der außerdem berücksichtigt, dass die zunehmend komplexe politische Situation in Aceh nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln lösbar ist.“ Unter »humanitärem Krieg« versteht Jakarta zuvörderst einen Krieg für Nationalismus und gegen »den Terror« – möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus dem Irakkrieg hat man von den USA das Konzept eigener »eingebetteter« und zensierter Journalisten übernommen, und die Einreise internationaler Beobachter und Medienleute ist strikt reglementiert.

Bilanz des Krieges bis Ende August: Weit über 500 Menschen kamen ums Leben, und nach den ohnehin spärlichen Regierungsangaben sind bereits annähernd 45.000 Personen zu internen Flüchtlingen geworden. Etwa 550 Schulen und andere öffentliche Einrichtungen gingen in Flammen auf. Beteiligt an dieser blutigen Offensive sind auch Kriegsschiffe der ehemaligen NVA-Flotte, die die Bundesrepublik zu Beginn der neunziger Jahre an Jakarta lieferte. Zwar sollten sie nur zum Küstenschutz, der Sicherung der Seewege sowie zur Bekämpfung von Schmuggel eingesetzt werden. Doch mittlerweile dienen einige der Korvetten dem Transport von Kampfbataillonen und Kriegsmaterial in das Krisengebiet.1

Vom Nutzen des »Kampfes gegen den Terror«

Der seit Juli 2001 amtierenden Präsidentin Megawati Sukarnoputri, Tochter des Staatsgründers und ersten Präsidenten Indonesiens, wurde bereits wenige Wochen nach ihrem Amtseid ein politischer Spagat abverlangt. Einerseits ist Indonesien traditionell ein enger Verbündeter Washingtons. Zum anderen prangerten verschiedene muslimische Organisationen im Lande die imperiale Selbstherrlichkeit der USA nach den Anschlägen in New York und Washington an und organisierten während der Kriegführung in Afghanistan in allen größeren Städten des Landes machtvolle anti-US-amerikanische Demonstrationen.

Vor diesem Hintergrund müssen die häufigen Besuche hochrangiger US-amerikanische Politiker nach den Anschlägen vom 11. Septemb in Jakarta gesehen werden. Den Chefs von CIA und FBI sowie Außenminister Colin Powell und Kriegsminister Donald Rumsfeld ging es vor allem um die Küstensicherung des Archipels, der sich mit 17.000 Inseln von Ost nach West über eine Länge von immerhin etwa 5.000 Kilometern erstreckt. Eine ideale Rückzugsmöglichkeit für Mitglieder von al-Qaida oder der in mehreren südostasiatischen Ländern operierenden panislamischen Jemaah Islamiyah, die hinter den Anschlägen von Bali und Jakarta stecken soll. Gegenwärtig, da die letzten Prozesse des Ad-Hoc-Menschenrechtstribunals abgeschlossen sind und das indonesische Militär wieder zur »Tagesordnung« übergehen kann, verstärken die USA ihren Initiativen um Indonesiens Generalität als verlässlichen Verbündeten dauerhaft in den »Feldzug gegen den internationalen Terrorismus« einzubinden. Einen ersten (eher symbolischer denn pekuniär bedeutsamer) Betrag in Höhe von 400.000 US-Dollar stellt Washington bereit, um die Teilnahme Indonesiens am »Internationalen Militärischen Ausbildungs- und Trainingsprogramm« (IMET) zu gewährleisten.2Die Präsidentin nutzt diesen Feldzug entgegen ihrer früheren öffentlichen Beteuerung, einen Waffengang in Aceh unter allen Umständen zu vermeiden,3 offensichtlich auch als Wahlpropaganda. Im nächsten Jahr ist Präsidentschaftswahl, da will sie sich im Vorfeld als eiserne Wahrerin des nationalen Zusammenhalts empfehlen. Eine Politik, die deckungsgleich ist mit den Ambitionen des Militärs, das jetzt – jenseits weiterer Gerichtsverfahren und fernab vernehmbarer Kritik seitens der »westlichen Wertegemeinschaft« – erneut als Hüter von öffentlicher Ordnung und nationaler Sicherheit paradiert und ganz im Geiste seines langjährigen Mentors Suharto in Aceh wieder Krieg führt.

Anmerkungen

1) Ausführlich berichtete darüber und über das Schweigen der Regierung in Berlin das ARD-Fernsehmagazin Monitor in seiner Sendung vom 19. Juni 2003.

2) Jim Lobe (Washington/IPS), Hilfe aus dem Pentagon, in: Junge Welt v. 19. Juli 2003.

3) M. Sukarnoputri hatte vor Anhängern ihrer Demokratischen Partei für den Kampf (PDI Perjuangan) in einer politischen Grundsatzrede am 28. Juli 1999, wenige Wochen nach ihrem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen, feierlich versprochen, den Aceh-Konflikt friedlich zu lösen, sollte sie jemals Präsidentin werden.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet seit 1970 schwerpunktmäßig zu Südost- und Ostasien

Morden im Namen von Freiheit

Morden im Namen von Freiheit

Kesseltreiben gegen Linke in den Philippinen

von Rainer Werning

Vor zwanzig Jahren stürzte in den Philippinen die Marcos-Diktatur, die über den Inselstaat am 21. September 1972 das Kriegsrecht verhängt hatte. Anlässlich des 34. Jahrestages dieses Ereignisses versammelten sich Zehntausende von Demonstranten in den Philippinen sowie in einigen europäischen und US-amerikanischen Großstädten, um gegen die Regierung von Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo lautstark zu protestieren. Die nämlich hat seit Beginn ihres Amtsantritts im Januar 2001 mit Methoden des einstigen Diktators Front gegen missliebige Kritiker gemacht und das Land tief gespalten.

Die „Menschenrechtslage unter Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo“, schrieb Girlie T. Padilla, Generalsekretärin der Ökumenischen Bewegung für Gerechtigkeit und Frieden in den Philippinen, zum Jahreswechsel, „ist mit Abstand die schlechteste in der Post-Marcos-Ära. Alle diese Morde gehen auf das Konto des Staatsapparates und geschahen im rechtsfreien Raum; weder wurden Anklagen erhoben, noch Verdächtige in Gewahrsam genommen. Wer heute gegen die Regierung protestiert, kann bereits unter dem Terrorverdacht festgenommen und auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden“.

Die engagierte Bürgerrechtlerin sollte leider Recht behalten. Auch in diesem Jahr setzen Schergen der staatlichen »Sicherheitskräfte« ihr Kesseltreiben gegen Kritiker des Arroyo-Regimes fort. Dabei verfahren sie fast immer nach ein und demselben Muster: Maskierte Personen auf Motorrädern erschießen ihre Opfer aus kurzer Entfernung, um dann unerkannt davon zu preschen. In erster Linie trifft es vermeintliche Mitglieder und Sympathisanten der Kommunistischen Partei (CPP) und ihrer Guerilla, der Neuen Volksarmee (NPA), Aktivisten der im Kongress vertretenen linken Gruppierungen Bayan Muna (Das Volk zuerst) und Anakpawis (wörtlich: Kinder des Schweißes) sowie Bürgerrechtler, Kirchenleute, Gewerkschafter, Arbeiter- und Bauernführer. Insgesamt sind seit dem Amtsantritt von Präsidentin Arroyo im Januar 2001, so Marie Hilao-Enriquez, Generalsekretärin der Menschen- und Bürgerrechtsorganisation Karapatan, bis Mitte September dieses Jahres 650 Personen aus politisch motivierten Gründen ums Leben gekommen – darunter knapp 70 Journalisten, mehr als während der Kriegsrechtsära unter Marcos (1972-86). Damit rangieren die Inseln hinter Irak zum gefährlichsten Land für investigative Medienvertreter.

Unterstützt wird diese Kritik an Arroyo mittlerweile auch von der staatlichen Menschenrechtskommission (CHR) und amnesty international (ai). Bereits zwei Mal in diesem Jahr, im Mai und September, legte ai Berichte vor, in denen vor allem der starke Anstieg außergerichtlicher Hinrichtungen, das Klima von Straffreiheit und der Täterschutz kritisiert werden. Selbst die CHR-Vorsitzende Purificacion Quisumbing schloss sich dieser Einschätzung an – ungewöhnlich für eine Organisation, die sonst stets die Regierungsseite verteidigte. Im Mittelpunkt der Kritik stehen namentlich Personen wie (der mittlerweile in den Ruhestand getretene) Generalmajor Jovito Palparan, Generalstabschef Hermogenes Esperon, Exekutivsekretär Eduardo Ermita und der Nationale Sicherheitsberater Norberto Gonzales. Sie seien die Hauptarchitekten von »Oplan Bantay Laya«, dem staatlichen Aufstandsbekämpfungsplan »Freiheitswacht«, der sich ausdrücklich gegen exponierte Aktivisten im Hinterland und in den Städten richte. Palparan, ein in Manila hochgeschätzter Offizier, ist erklärtermaßen ein glühender Befürworter des »kurzen Prozesses«, wenn es gilt, »Aufständische, Terroristen und Kommunisten« zu jagen. Er befehligte zuletzt Infanterieeinheiten im Zentrum der Hauptinsel Luzon, auf der auch Manila liegt. Das Treiben von Palparan und Co. genießt seit Ende Mai zudem besonderen Rechtsbeistand aus Manila und Washington, da der zwischen beiden Parteien geschlossene so genannte »Security Engagement Board« über normale militärische Aspekte hinaus auch und gerade Sonderaufgaben wie „die Bekämpfung des Terrorismus“ und „die Hilfestellung im Falle von Naturkatastrophen“ u.ä. vorsieht. Das alles weckt böse Erinnerungen an die einst in Vietnam exekutierte Operation Phönix, bei der es darum ging, faktisch die Zivilbevölkerung in »Unruhegebieten« als Geiseln zu nehmen, um so der Guerilla den Nährboden zu entziehen.

Aus seinem Exil im niederländischen Utrecht meldete sich in den vergangenen Wochen gleich mehrfach José Maria Sison zu Wort, der einst Mitbegründer der CPP war und heute als Chefberater des Nationalen Demokratischen Front (NDFP) fungiert, der Dachorganisation der illegalisierten philippinischen Linken. „Geblendet von Hybris“, so Sison kürzlich in einer Presseerklärung, „überschätzt das Regime maßlos seine Fähigkeit, sich mittels schierer Gewalt und Betrug an der Macht zu halten. Tatsächlich trägt es aktiv dazu bei, dass sich die Masse der Bevölkerung und verschiedene politische Kräfte einen und vielfältige Formen des Kampfes entwickeln“. Sison ist selbst in einen delikaten Rechtsstreit verwickelt. Nach der letzten Anhörung am 30. Mai soll in Kürze vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg über seine Klage befunden werden, seinen Namen von der»Terroristen-Liste« des Rates der Europäischen Union zu streichen.

Dr. Rainer Werning, Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, ist u.a. Ko-Herausgeber des jüngst erschienenen »Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur« (Unkel/Bad Honnef: Horlemann Verlag).

Osttimor: Trial and Error

Osttimor: Trial and Error

Anderthalb Jahre nach der Unabhängigkeit laboriert das kleine Land an großen Problemen

von Rainer Werning

„Was die Vorgänge in Osttimor 1999 betrifft, so war ich anfänglich der Meinung, dass wir selbst in der Lage seien, diese massiven Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Auch andernorts, von Aceh bis Papua, geschahen Menschenrechtsverletzungen, von denen ich bis zum Jahr 2000 glaubte, wir könnten sie eigenständig ahnden. Doch seitdem das Ad-Hoc-Tribunal zu Osttimor in den vergangenen Monaten nichts bewegt hat und von ihm verkündete Urteile nur demonstrierten, wie parteiisch letztlich unsere Justiz ist, bin ich mehr denn je von der Dringlichkeit überzeugt, dass zumindest im Falle Osttimors internationale Mechanismen greifen müssen und ein internationales Tribunal stattfinden sollte. Denn was in Osttimor geschah, war ein gigantisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, was allen die Verpflichtung auferlegt, sich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.“ Mit diesen Worten charakterisierte Ende November 2002 der indonesische Menschenrechtsanwalt und bis Oktober 2002 amtierende Generalsekretär der Nationalen Menschenrechtskommission, Asmara Nababan, die Lage in Osttimor.1 Das vielzitierte Positivbeispiel für erfolgreiches internationales Eingreifen wirft immer noch viele Fragen auf.

Trial and error – Versuch und Irrtum – mag ja in relativ friedfertiger Umgebung, zumal in einer Zivilgesellschaft eine probate Methode sein, um aus Irrungen oder Rückschlägen zu lernen und daraus Positives zu filtern. Nicht so in der früheren portugiesischen Kolonie Osttimor, die schließlich am 20. Mai 2002 als jüngster Staat der Erde ihre Unabhängigkeit zelebrierte, sich damit gleichzeitig auch in die Kategorie der weltweit ärmsten Länder einreihte. Es gibt Siege, um die sind die Gewinner nicht zu beneiden.

Unbeachtete Massaker und staatsterroristische Räson

Schon einmal hatte Osttimor seine Unabhängigkeit ausgerufen, was ihm allerdings teuer zu stehen kam. Gerade mal neun Tage dauerte sie, als indonesische Truppen am 7. Dezember 1975 die damals noch von Portugal beherrschte Kolonie überrannten. Ein Jahr später erklärte sie Jakarta völkerrechtswidrig zur 27. Provinz Indonesiens. Diese Invasion und anschließende Okkupation führten zu den schlimmsten Massakern an der Zivilbevölkerung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Amnesty International, Human Rights Watch sowie andere Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen gehen davon aus, dass von der Jahreswende 1975/76 bis zum Frühjahr 1999 über 200.000 der etwa 800.000 Einwohner zählenden Bevölkerung Osttimors infolge der indonesischen Besatzung ums Leben kamen.

Inszeniert und exekutiert wurde dieser Genozid von den Sicherheitskräften eines Regimes, dessen Oberhaupt der ausgesprochene Darling des Westens in Südostasien war: Ex-General Suharto. Fernab einer ernst zu nehmenden Kritik seitens der »westlichen Wertegemeinschaft« setzte sich der starke Mann in Jakarta ungestraft über UN-Resolutionen hinweg, bis letztlich das Suharto-Regime die politischen und sozialökonomischen Auswirkungen der so genannten Asienkrise (1997) einholten und der Diktator im Mai 1998 von der politischen Bühne abtrat. Die Amtsgeschäfte übertrug er unzeremoniell seinem langjährigen Vertrauten Dr. Bacharuddin Jusuf Habibie.

Den Hintergrund der ersten Osttimor-Massaker beleuchten deklassifizierte Dokumente des State Department, die am 6. Dezember 2001 dankenswerterweise das National Security Archive der George Washington University unter Federführung von William Burr und Michael L. Evans veröffentlichte. Hauptakteure während der Zeit der Osttimor-Invasion 1975/76 waren auf US-amerikanischer Seite Präsident Gerald R. Ford und sein Außenminister Henry A. Kissinger. Nicht nur, dass das Ford-Kissinger-Tandem über die geplante Invasion Jakartas in Osttimor informiert war, es hatte Indonesien zuvor auch reichlich mit Waffen eingedeckt. Buchstäblich wenige Stunden vor der Invasion besuchten Ford und Kissinger Diktato und Kissinger drängte auf einen »quick fix« – sprich: alles sollte sehr schnell, in Form eines »chirurgischen Eingriffs« ablaufen. Er hatte lediglich darauf bestanden, die Invasion erst dann zu beginnen, wenn er und der Präsident wieder in Washington gelandet seien. So geschah es. Unmittelbar nach dem Suharto-Besuch parierte der machtbesessene Kissinger kritische Nachfragen in seinem eigenen Stab mit den Worten, es widerspräche dem nationalen Interesse der USA, den „Indonesiern die Zähne einzuschlagen“.

Beachtete Massaker und internationales Krisenmanagement

Als Habibie im Mai 1998 Suharto beerbte, schien sich die Lage in Osttimor kurzfristig zu entspannen. Immerhin stellte Habibie angesichts der desolaten Wirtschaftslage Indonesiens in Aussicht, Osttimor könne binnen weniger Monate in einem Referendum eigenständig über Autonomie, Unabhängigkeit oder den Verbleib zu Indonesien abstimmen. Damit wurde erstmalig die Osttimor-Frage internationalisiert. Sehr zum Verdruss der Streitkräfte, die stets als Wahrer nationaler Einheit und öffentlicher Ordnung paradierten und unbedingt die Erhaltung des Zentralstaates im Visier hatten. Das Militär opponierte nicht offen gegen Habibie. Doch gezielt störten – zumindest bedeutende Segmente der Armee – hinter den Kulissen einen friedlichen Ablauf des Referendums.

Ein Jahr später, im Sommer 1999, entfesselten indonesische Soldaten, diesmal von pro-indonesischen Milizen unterstützt, ein erneutes Massaker in Osttimor, nachdem knapp 80 Prozent seiner Bevölkerung am 30. August 1999 bei einem von der UNO verantworteten Referendum für die Unabhängigkeit votiert hatten. Binnen weniger Tage wurden weit über 1.000 Personen Opfer einer Orgie von Gewalt und Zerstörung, etwa 300.000 Menschen mussten – zumindest zeitweilig – nach Westtimor fliehen. Die Vereinten Nationen sahen dieser Entwicklung zunächst hilflos zu. Makaber war, dass ausgerechnet das indonesische Militär mit der ordnungsgemäßen Überwachung des Referendums betraut worden war, obgleich bereits internationale Beobachter der UN-Mission in East Timor (Unamet) in der Hauptstadt Dili Quartier bezogen hatten. Erst am 15. September – 18 Tage nach Beginn der Massaker – entschloss sich der UN-Sicherheitsrat zum Eingreifen und genehmigte die Mission einer aus 15 Staaten zusammengesetzten, australischem Kommando unterstellten, »International Force in East Timor« (Interfet). Deren Vorhut landete am 20. September 1999 in Dili, wo nur mehr Leichen zu beschauen waren.

Am 15. September 1999 schrieb der indonesische Historiker John Roosa in der New York Times: „Da das Pogrom vorauszusehen war, hätte man es leicht verhindern können. Aber in den Wochen vor der Abstimmung weigerte sich die Clinton-Regierung, mit Australien und anderen Ländern über eine internationale Truppe zu diskutieren. Selbst nach dem Ausbruch der Gewalt zögerte die Regierung noch mehrere Tage lang“. Derweil hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan Indonesien gemahnt, seinen Pflichten nachzukommen. Das angekündigte Grauen nahm seinen Lauf, und die vom Westen favorisierte »quiet diplomacy« nannte Anthony Lewis mit bitterem Unterton eine Neuauflage von „Kissinger-Realismus“.2

Von der Übergangsregierung zur Selbstverwaltung

Die UN-Verwaltung für Osttimor (Untaet) – am 25. Oktober 1999 gemäß UN-Resolution 1272 als provisorische Verwaltung eingerichtet – sah sich von Anfang an mit vielfältigen Schwierigkeiten konfrontiert. Ihre Aufgaben hatte sich der stellvertretende UN-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Untaet-Chef, der Brasilianer Sergio Vieira de Mello (er hatte bis zu seiner Ermoderung 2003 die gleiche Funktion im Irak), leichter vorgestellt. Sein administrativer Apparat bestand aus 400 internationalen Experten sowie 700 Zivilpolizisten der Civpol, die in erster Linie aus Staaten Asiens, Ozeaniens und Afrikas kamen. Während seiner Amtszeit räumte de Mello selbstkritisch ein, dass mit zu viel Improvisation zu viel Zeit verloren gegangen und beträchtliche Summen an Hilfsgeldern für den Unterhalt des eigenen – häufig inkompetenten – Stabs aufgesogen worden sei. Zoll, Grenzschutz, ein Finanzministerium, eine Zentralbank, eine zivile Luftfahrtbehörde, ein Hafenamt sowie eine Justizverwaltung galt es aufzubauen. Wiederholt hatten Osttimoresen beklagt, zu wenig oder zu spät in diesen Aufbauprozess eingebunden worden zu sein.

Die Finanzierung der Untaet-Mission war einer Geberkonferenz vorbehalten, die Ende Dezember 1999 in Tokio tagte. Bis 2001 standen demnach 522 Millionen Dollar zur Verfügung – 149 Millionen für humanitäre Aufgaben und 373 Millionen für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Mittel wurden vor allem von Japan, Australien, Portugal und Neuseeland aufgebracht – in zweiter Linie von den USA, Kanada und Deutschland. Ein Problem war die Entscheidung über die Verteilung der Ressourcen, ein anderes die Entwaffnung der pro-indonesischen Milizen, die sich größtenteils als intakte militärische Einheiten nach Westtimor abgesetzt hatten. Auf Kritik stieß mehrfach das Gebaren der zahlreichen – vornehmlich in der Hauptstadt Dili konzentrierten – Mitarbeiter der UN-Übergangsregierung. Zwar managte sie einen Gutteil des öffentlichen Lebens, doch dies vielfach auf eigene Faust, ohne entsprechende Ausbildung lokaler Kader. Was Osttimor damals an Zuwendungen erhielt, floss nahezu ausnahmslos durch die Hände von Untaet. Von der maroden Infrastruktur und akuten Mängeln in der Logistik profitierten ausländische Schnäppchenjäger; vorrangig Geschäftsleute aus Thailand und der portugiesischen Ex-Kolonie Macao; sie kontrollierten das Wirtschaftsleben vom Handel bis hin zum Fremdenverkehr.

Ziel des Untaet-Chefs de Mello war es, bis zum Frühjahr 2001 die Übergangsverwaltung auf Osttimors größte Partei, die Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit Osttimor (Fretilin), zu übergeben. Von Anfang an wurde seitens der Untaet auf eine Koordination mit dem Nationalen Timoresischen Widerstandsrat (CNRM) Wert gelegt – ein Gremium, das sich als Zusammenschluss aller für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien und der katholischen Kirche verstand. An der Spitze stand mit Xanana Gusmão der Vorsitzende der Fretilin, sekundiert von den Friedensnobelpreisträgern José Ramos Horta und Carlos Belo, dem Bischof von Dili. Als Scharnier zwischen Untaet und CNRM fungierte der Beratende Nationale Rat (CNC), dem 15 Mitglieder sektoraler Organisationen angehörten. Formal klappte diese Koordination, doch solange Untaet präsent war und die Entscheidungsbefugnis hatte, bestimmte letztlich deren Stab über inhaltliche Konzepte.

Unabhängigkeit & Abhängigkeiten

„Wir waren schon unter den Portugiesen arm“, zitierte der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Osttimoresen anlässlich der Unabhängigkeitsfeiern, „dann waren wir arm unter den Indonesiern, und jetzt sind wir immer noch arm, aber unter uns selber“3. Was zähle, sei »libertade«, die Freiheit. Angesichts der langjährigen Unterdrückung und grausamen Zurichtung der Osttimoresen ein wahrer Grund zum Jubeln und zur Freude.

Was bleibt sind schwerwiegende soziale, wirtschaftliche und außenpolitische Probleme. Die Arbeitslosigkeit grassiert, die Perspektive unter vielen Jugendlichen und Studenten ist getrübt. Nicht gänzlich gebannt ist die Gefahr, dass aus dem indonesischen Westtimor gezielt oder sporadisch Aktionen erfolgen, um das Land zu destabilisieren. Desolat ist der Umgang mit den zahlreichen Opfern von Gewalt und deren – teils schwer – traumatisierten Hinterbliebenen. Denn anders als in Ruanda und Ex-Jugoslawien wurde der politischen und militärischen Elite Indonesiens das Privileg eingeräumt, ihre Blutspuren selbst zu verwischen, nach der Devise: Amnesie statt Aufklärung. Bereits Ende September 2000 wurde Expräsident Suharto ärztlich attestiert, nicht vernehmungs- und haftfähig zu sein, faktisch genießt er damit Immunität.

Erst ab Mitte März 2002 mussten sich in Jakarta Milizionäre und Soldaten wegen der Massaker vom Sommer 1999 vor einem Ad-Hoc-Tribunal verantworten. Vor den Kadi zitiert wurden lediglich 18 Personen, zumeist »kleine Fische«, von denen die meisten wieder auf freiem Fuß sind. General Wiranto, Ex-Oberbefehlshaber der indonesischen Streitkräfte und Ex-Verteidigungsminister, sowie andere verantwortliche hochrangige Offiziere wurden nicht einmal angeklagt. Auch internationale Prozessbeobachter bemängeln, dass da eher Scheinverfahren inszeniert wurden, als Recht nach internationalem Standard zu sprechen. Der höchstrangige Angeklagte, Generalmajor Adam Damiri, der Übergriffe der indonesischen Streitkräfte in Osttimor nicht gestoppt hatte, erschien nicht einmal vor dem Tribunal. Durch seinen Sprecher ließ der General auf eine Vorladung hin erklären, er sei dienstlich verhindert, da er jetzt die Kampfhandlungen in Aceh dirigiere. (Dort, im Norden der Insel Sumatra, führt Jakarta seit Jahren einen erbitterten Krieg gegen die für Unabhängigkeit kämpfende Bewegung Freies Aceh, GAM, welche die Regierung als »terroristisch« brandmarkt. Am 19. Mai verhängte die seit Juli 2001 amtierende Präsidentin Megawati Sukarnoputri erneut das Kriegsrecht über die Region.) Am 5. August – zeitgleich mit dem Bombenanschlag gegen das Marriott Hotel in Jakarta – wurde Damiri vom Ad-Hoc-Tribunal zwar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, ob ein solches Urteil allerdings rechtskräftig und umgesetzt wird, ist sehr fraglich.4

Seit den Osttimor-Massakern 1999 bestand für Jakarta ein Problem darin, dass Washington eine weitere Unterstützung der indonesischen Militärs vom Ausgang eben des Ad-Hoc-Tribunals abhängig macht. Nun hat dieses seine Arbeit verrichtet. Also spricht nichts dagegen, dass sich die US-amerikanisch-indonesische Militärkooperation so eng gestaltet, wie das während der Suharto-Diktatur (1966-98) der Fall war. Schließlich gilt die Region Südostasien nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Sicht Washingtons erklärtermaßen als „neue Zufluchtstätte für Terroristen“ und „zweite Front im Kampf gegen den weltweiten Terrorismus“. Und da erweist es sich als vorteilhaft, wenn von Schuld befreite Sicherheitskräfte in eben diesen Kampf bedingungslos einbezogen werden können. Für Osttimors Opfer ist das ein Desaster.

In Dili blieben auch Probleme mit dem anderen großen Nachbarn – Australien. Früher, als Jakarta Osttimor noch als seine Provinz verwaltete, waren die von Indonesien und Australien gemeinsam erschlossenen Öl- und Gasquellen im so genannten Timor Gap, der Wasserscheide, die Osttimor von Australiens Northern Territory trennt, für beide Seiten lukrativ. Mit der Unabhängigkeit Osttimors verloren die zuvor bilateral ausgehandelten Verträge zwischen Jakarta und Canberra ihre Gültigkeit. Bereits Anfang Juli 2001 unterzeichneten für die australische Regierung Außenminister Alexander Downer und der Minister für Bodenschätze, Nick Minchin, gemeinsam mit dem designierten Wirtschaftsminister Osttimors, Mari Alkatiri, und dem amerikanischen UN-Gesandten Peter Galbraith einen Vertrag zur Aufteilung der Offshore-Öl- und Gasvorkommen im Timor Gap. Bis heute schwelt ein Rechtsstreit über die endgültige Zuordnung der »Greater Sunrise Fields«. Osttimor mit seiner vorwiegend subsistenzbäuerlichen Bevölkerung ist von cash crops wie Kaffee, Kakao, Cashewnüssen und Sandelhölzern kaum überlebensfähig. Für den Aufbau einer Bekleidungs-, Zement- und Tourismusindustrie wären jene Finanzmittel nötig, die sich Dili von einem neuen Timor Gap-Vertrag verspricht – im besten Fall Jahreseinnahmen von umgerechnet gut 80 Millionen US-Dollar.

Anmerkungen

1) Ausführlich dazu: Rainer Werning: Indonesien – Ein Archipel in Aufruhr, Deutschlandfunk – Hintergrund Politik, Sendemanuskript vom 17. Juli 2003.

2) International Herald Tribune vom 8. September 1999.

3) Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 2002.

4) Kai Ambos/Mohamed Othman (Eds.): New Approaches in International Criminal Justice: Kosovo, East Timor, Sierra Leone and Cambodia, Freiburg i. Br. 2003: edition iuscrim des Max-Planch-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien, lebt in Königsdorf bei Köln.

Verlierer und Gewinner im Geiselpoker

Verlierer und Gewinner im Geiselpoker

von Rainer Werning

Fünfeinhalb Monate – von Ende April bis Mitte September dauerte die Geiselnahme auf der philippinischen Insel Jolo. Doch so grell das Geiseldrama auch medial ausgeleuchtet wurde, so unterbelichtet blieben die wahren Hintergründe, der Krieg der Regierenden gegen die Bevölkerung in dieser Region und das desaströse Verhalten der Krisenstäbe in den Heimatländern der ursprünglich 21 von der ostmalaysischen Ferieninsel Sipadan Entführten. Rainer Werning mit einem Rückblick auf Gewinner und Verlierer des Geiselpokers.
Während Manilas Chefunterhändler Roberto Aventajado wochenlang lavierte und wiederholt die „alsbaldige Freilassung der Geiseln“ suggerierte, setzten die Krisenstäbe in Berlin, Paris und Helsinki auf die Friedfertigkeit und das Verhandlungsgeschick von Präsident Joseph Ejercito Estrada. Beide Rechnungen gingen nicht auf. Stattdessen schraubten die Kidnapper der Abu Sayyaf ihre Lösegeldforderungen in die Höhe, ermuntert durch die Zahlungsbereitschaft malaysischer Geschäftsleute und westlicher Verleger. »Hilfsprojekte« und »Entwicklungsgelder« – angeblich für Orangen, Mango und Kaffeeplantagen – sollten locker gemacht werden, dann, hieß es von offizieller Seite, seien die Kidnapper bereit, „schon am nächsten Tag“ weitere Geiseln freizulassen.

Eine Sprachregelung, die verschleiern sollte, dass die – zumindest zeitweilig vom philippinischen Geheimdienst durchsetzte – Abu Sayyaf-Gang Lösegelder in zweistelliger Millionenhöhe kassierte. Von Anfang an war klar, dass die Kidnapper, je länger ihr aufwendiges »logistisches Unternehmen« dauerte, Bares sehen wollten. In der Vergangenheit war das nicht anders, wollten die Opfer – meist betuchte Geschäftsleute – nicht Kopf und Kragen riskieren. Der einzige Unterschied: Solche Geiselnahmen verliefen jenseits offizieller Kanäle und Publizität und wurden nach Freilassung der Opfer von deren ausgeschickten Häschern ebenso diskret geahndet.

Damit drehte sich die Spirale der Gewalt in einer von Massenarmut geprägten Region, in der die Zentralregierung ihre Präsenz vorrangig durch Uniformierte zeigt und wo geschäftsmäßig betriebener Terrorismus zur (Überlebens-)Strategie der Marginalisierten gehört. Wer, wie die unpolitische Desperadotruppe der Abu Sayyaf, chronisch nichts besitzt und sich als nutzlos empfindet, misst seine Macht am Grad der Zerstörung, die er bewirken kann. Patronengurte, Granatwerfer und Sturmgewehre sind da begehrlicher als das Pflanzen von Orangenbäumchen.

Der für Manilas sogenannte »Flagship Projects« verantwortliche Herr Aventajado prägte das Wort vom »Geiselpoker« und traf damit, ob beabsichtigt oder ungewollt, ins Schwarze. In mehrfacher Hinsicht glich das Geiseldrama einem Poker, bei dem geblufft, unterschiedlich hoch gereizt und eine Menge verspielt wurde. Es gibt mehr Verlierer als Gewinner, wobei auch unter letzteren nicht alle zu beneiden sind.

Mehr Verlierer als Gewinner

Hauptverlierer ist die Zivilbevölkerung auf der südlichen Hauptinsel Mindanao. Während sich alle Augen auf Jolo richteten, führte die Regierung in Manila zeitgleich mit dem sich hinziehenden Geiseldrama Krieg gegen die heute bedeutsamste und stärkste muslimische Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegung der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) unter Führung des an der angesehenen Kairoer Al-Azhar Universität ausgebildeten Hashim Salamat. Seit seinem Amtsantritt vor gut zwei Jahren hat Estrada den »Moro-Separatisten« den »totalen Krieg« erklärt und, politisch verantwortungslos, bewusst die Abu Sayyaf mit der MILF gleichgesetzt. Zum einen sitzt Estrada die Angst im Nacken vor einem »Osttimor« im eigenen Land, zum anderen war seine Popularität in den Keller gesunken.1 Zahlreiche Korruptionsaffären, schlechte Wirtschaftsdaten und Kabalen in seinem Beraterstab ramponierten sein Image. Da besann sich Estrada auf die Taktiken seines einstigen Mentors: Marcos beschwor immer dann die »kommunistische Subversion« und den »MoroSezessionismus« als nationale Gefahr herauf, wenn es darum ging, seine Macht zu sichern.

Nichts anderes tat Estrada. Statt den friedlichen Ausgleich mit den Moros zu suchen, blies er am 5. März zum letzten Gefecht gegen die Hauptbastion der MILF auf Mindanao. In einem als »Top Secret« klassifizierten Papier mit dem Titel »Oplan Mindanao II/Black Rain« (Operationsplan Mindanao II/Schwarzer Regen) wird als oberstes Kriegsziel die Zerstörung des MILF-Hauptquartiers Camp Abubakar (Provinz Maguindanao) genannt. Am 9. Juli wurde das Lager von knapp 40.000 Regierungssoldaten, unterstützt von über 10.000 paramilitärischen Citizen Armed Force Geographical Units (CAFGU), eingenommen, nachdem sich die Verbände der MILF zurückgezogen hatten um zur Guerillataktik zurückzukehren.

Auf den Trümmern zerschossener Häuser hisste Präsident Estrada die Nationalflagge und um seine Soldateska bei Siegeslaune zu halten, ließ er Bier und gebratenes Schweinefleisch herankarren. Kalkulierter Nebeneffekt: Die Orgie beleidigte die religiösen Gefühle der muslimischen Bevölkerung. Hunderte von Zivilisten sind seitdem in Evakuierungszentren verhungert und bei Militärgefechten getötet worden. Sechzig Prozent der insgesamt über 500.000 Bürgerkriegsflüchtlinge sind Kinder, deren Lebensperspektive ebenso leichtfertig verdüstert wurde wie die seit 1994 gehegte Hoffnung, das an natürlichen Ressourcen überaus reiche Mindanao gemeinsam mit Nordsulawesi (Indonesien), dem ostmalaysischen Sabah sowie dem erdölreichen Sultanat Brunei in ein regionales Wachstumsdreieck einzubinden.

Zweiter Verlierer sind all jene säkularen und religiösen Bewegungen, die sich um einen dauerhaften Frieden und den so genannten Tri-People-Approach bemühten – den Ausgleich zwischen Christen, Moslems und Lumad (den indigenen Völkern Mindanaos). Gegenwärtig ist Zentralmindanao die höchstmilitarisierte Zone im Land – wie zu Marcos' Zeiten. Seitdem Estrada Mitte August auch noch Kopfgelder in Höhe von umgerechnet jeweils 250.000 US-Dollar auf die Führungskader der MILF aussetzte, erklärte diese die seit Oktober 1999 laufenden Friedensverhandlungen mit Manila endgültig für gescheitert.

Das Kabinett Estradas sattelt noch drauf: Jetzt will es Zentralmindanao mit Notstandsmaßnahmen regieren und im Rahmen eines kurzfristig aus der Taufe gehobenen Mindanao-Koordinationsrates (dem übrigens kein Politiker aus Mindanao angehört) um in- wie ausländische Wiederaufbauhilfen buhlen. Investoren scheuen jedoch Mindanao; die staatliche Investitionsbehörde (BOI) registrierte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Rückgang ausländischer Investitionen um mehr als 80 Prozent. Bereits in Aussicht gestellte Gelder, beispielsweise vier Milliarden Pesos (ca. 100 Mio. Dollar) an offizieller Entwicklungshilfe Japans, sind storniert worden. Somit ist Manila trotz seines militärischen Pyrrhussieges der dritte Verlierer; politisch und diplomatisch verlor es sein Gesicht und muss nunmehr schwere wirtschaftliche Einbußen verkraften.

Vierter Verlierer ist Nur Misuari und die von ihm geführte MNLF. Misuari war Manilas erster Chefunterhändler im Geiseldrama, den die Abu Sayyaf jedoch von Anfang an strikt als »Verräter« ablehnte. Tatsächlich ist Misuari eine schillernde Figur: Er ist Mitbegründer der Ende der sechziger Jahre entstandenen MNLF, war stets darauf erpicht, zum »Arafat der Moros« zu avancieren, schloss im September 1996 endgültig Frieden mit der Regierung und bekam, jetzt voll ins System integriert, im Gegenzug die Posten des Gouverneurs der lediglich vier Provinzen umfassenden Autonomen Region in Muslim Mindanao (ARMM) und des Vorsitzenden des Südphilippinischen Rates für Frieden und Entwicklung (SPCPD), um seit der Eskalation des Bürgerkrieges erneut zur Regierung auf Distanz zu gehen. Nach einer für Manila wenig schmeichelhaften Rede im Vorfeld der 27. Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), polterte Estrada, man werde eventuell gegen Misuari wegen Verrat und Veruntreuung von Regierungsgeldern ermitteln lassen. Jetzt hat sich Misuari, der eigentlich im nächsten Jahr Senator werden wollte, samt Familie und Tross ins Ausland abgesetzt.

Düpierte Krisenmanager

Fünfter Verlierer sind die ausländischen Krisenstäbe, die anfänglich erfolgversprechende inoffizielle Kanäle, wenn überhaupt, zu spät in Betracht zogen und ohne beziehungsweise nur mit rudimentärer Kenntnis der historischen und aktuellen Lageeinschätzung kostbare Zeit damit verplemperten, die Estrada-Regierung zu hofieren. Besonders grotesk war in diesem Zusammenhang der Vermittlungsversuch des EU-Beauftragten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana. Nicht nur wurde die Ankunft des Spaniers an Bord eines Jets der deutschen Luftwaffe durch das zeitgleiche Eintrudeln des früheren libyschen Botschafters in Manila, Rajab Assarouq, »überschattet«. Als knapp 350-jährige Ex-Kolonie Spaniens hatten die Filipinos das historische Pech, allzu lange und zu viele Spanier im Lande gehabt zu haben. Zudem wussten zahlreiche philippinische Medienleute nur zu gut um die Rolle Solanas als NATO-Generalsekretär im Krieg gegen Jugoslawien, als dass sie ihm die Rolle eines ernsthaften Friedensbrokers in Manila abgenommen hätten. Solana fühlte sich mehrfach brüskiert, gar bespöttelt ob der aus Europa mitgeschleppten Decken für die Geiseln in Jolo. Der beharrliche »Kein Kommentar«-Gestus von Bundeskanzler Schröder und Vertretern des Auswärtigen Amtes am Tag der Freilassung von Frau Wallert (17. Juli) tat ein Übriges, um die bis dahin kategorisch bestrittene Zahlung von Lösegeldern noch vehementer anzunehmen. Kurz darauf gaben in Manila Polizeichef Panfilo Lacson und Estradas Executive Secretary Ronaldo Zamora unumwunden zu, dass Lösegelder geflossen seien, und heute pfeifen es die Spatzen von den Dächern.

Schließlich fand sich neben den Geiseln auch das Gros westlicher Medien auf der Verliererseite. Viele ihrer Vertreter, darunter einige als Kriegsberichterstatter über den Kosovo und aus Tschetschenien in die Südphilippinen geeilt, inszenierten ihre Ereignislosigkeit oder schwadronierten über den Gesundheitszustand weißer Geiseln, ohne auch nur mit einem Hinweis der tatsächlich und massenweise traumatisierten Kriegsopfer in Zentralmindanao zu gedenken. Da geriet Recherche zur Reklame für erhöhte Einschaltquoten und Auflagen, wurde Plattitüde zum Programm und verkam vordergründige Anteilnahme zu hinterhältigem »Big Brother«-Voyeurismus.

Pluspunkte für Libyen

Ein Gewinner ist Libyen, dessen Emissär Rajab Assarouq Pluspunkte sammeln und sein Land wenigstens teilweise vom Makel eines »Schurkenstaates« befreien konnte. Dass die zunächst sechs und am 9. September nochmals vier freigekauften westlichen Geiseln an Bord eines eigens in die Philippinen geschickten libyschen Jets ausgerechnet in Tripolis Zwischenstation machten, um erst nach einer zeremoniellen Danksagung von dort aus in ihre Heimatländer zu fliegen, war für Staatschef Muammar al-Ghadafi ein Selbstgeschenk zum 31. Jahrestag der Revolution. Mittlerweile lobte selbst der stellvertretende Missionschef der US-amerikanischen Botschaft in Manila, Michael Malinowski, ausdrücklich Libyens Engagement auf Jolo.

Libyen spielte schon deshalb eine gewichtige Rolle, weil es Pate beim ersten Abkommen zwischen Manila und der MNLF gestanden hatte. Das am 23. Dezember 1976 in der libyschen Hauptstadt Tripolis unterzeichnete Abkommen war insofern bedeutsam, als darin die MNLF erstmalig von ihrer maximalistischen Forderung, der Schaffung eines unabhängigen Staates, Abschied nahm und sich stattdessen mit dem Autonomiestatus im Rahmen der territorialen Integrität und nationalen Souveränität der Republik der Philippinen begnügte. Die OIC und Libyens Regierung haben mit Blick auf befürchtete zentrifugale Tendenzen im eigenen Lager nie die Unabhängigkeitsbestrebungen der Moros, wohl aber deren kulturelle und wirtschaftspolitische Anliegen unterstützt.

Gewinner und Verlierer zugleich ist die Abu Sayyaf. Sie hat mit Hilfe eines Teils des Staatsapparates und durch zivile Unterstützung bewiesen, dass sie als Subunternehmer staatlichen Terrors »wirtschaftlich« überaus erfolgreich agierte. Es verwunderte nicht, wenn sich schon bald herausstellte, dass am »Geiselbusiness« regionale Politiker – vor allem Provinzgouverneur Abdusakur Tan – und Militärs/Polizisten nicht schlecht verdienten. Die Hinhaltetaktiken in der Endphase des Geiseldramas hatten mit Sicherheitsgarantien für die Kidnapping-Bosse, der Höhe des Lösegeldes und Aufteilung der Beute zu tun.2

Aufreibende Beuteteilung

Für die Estrada-Regierung war die Abu Sayyaf vorzüglich zu instrumentalisieren, diskreditierte sie doch die gesamte Moro-Unabhängigkeitsbewegung vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Hatte damit der Mohr seine Pflicht und Schuldigkeit getan, mochte er nunmehr von der Bühne abtreten? War ein Militärschlag jetzt unausweichlich? In Manila selbst war man geteilter Meinung: Im Senat überwogen die Gegner, im Abgeordnetenhaus hingegen die Befürworter einer militärischen Lösung des Problems. Bereits vor Beginn der militärischen Großoffensive auf Jolo am 16. September (genau eine Woche nach Freilassung der letzten westlichen Sipadan-Geiseln) war abzusehen, dass letztlich die Strategie des »lutong makaw« – wörtlich: vorgekocht – oder die Chopsuey-Diplomatie zum Zuge kommen würde. Demnach war ein abgekartetes Spiel zu erwarten, wobei jede Partei etwas abbekommt: Angesichts der fraktionierten Sicherheitskräfte praktizierte ein Teil von ihnen großräumige »search & destroy«-Aktionen und riegelte die Insel von der Außenwelt ab, um zu demonstrieren, dass man Terroristen nicht ungeschoren davonkommen lässt. Doch da bekanntlich Blut dicker als Wasser ist und zwischen den Kidnappern und anderen Militärverbänden enge, mitunter verwandtschaftliche Bande bestehen, ging von dieser Seite für die Spitzen der Abu Sayyaf keine ernsthafte Gefahr aus. Das erklärt auch, warum sich die meisten von ihnen schnell und unbehelligt auf benachbarte Inseln (Basilan und Tawi-Tawi) absetzen konnten. Die lokalen politischen und wirtschaftlichen Eliten haben gewiss mit klammheimlicher Bewunderung das »Akquirieren« beträchtlicher Beutegelder konstatiert. Schließlich operierten die Kidnapper in einem Gebiet, das eigentlich ihre Domäne ist. Leidtragende war auch hier die Zivilbevölkerung, die seit Mitte September nunmehr eine Geisel des Staatsterrorismus wurde. Projektpartner und Beobachter vor Ort sprechen unumwunden von einer Invasion Jolos, wie dies auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges (Mitte der 70er Jahre) schon einmal geschehen ist.

Das Phänomen Abu Sayyaf läst sich angesichts dieser Entwicklung nur unter zwei Bedingungen als gebändigter Geist in die Flasche zurückbannen. Die weiche Variante: Die Bevölkerung erfährt tatsächlich eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation. Die harte Variante: Das im Sommer 1999 zwischen Manila und Washington ausgehandelte Visiting Forces Agreement (VFA) wird realisiert. Das VFA gestattet es US-amerikanischen Streitkräften unter anderem, sämtliche Häfen auf dem Archipel anzulaufen und dort auf unbestimmte Zeit zu verweilen. Nach der endgültigen Übergabe der Panama-Kanalzone an Panama ist Jolo von den USA als eine Alternative avisiert, für Counterinsurgency-Trainingsprogramme unter Dschungelbedingungen.

Anmerkungen

1) Seit Mitte Oktober wächst wegen erneuter Korruptionsvorwürfe der innenpolitische Druck auf Estrada, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren (impeachment) im philippinischen Abgeordnetenhaus im Gange ist.

2) Inzwischen mehren sich auch die Indizien für eine Lösegeldzahlung – zumindest im Falle von Frau Wallert – seitens der Bundesregierung – siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.10.00, S. 1/2. In demselben Beitrag heißt es ferner, Manilas Chefunterhändler Aventajado habe mit dem Hochschrauben der Lösegeldsumme die Verhandlungen mit den Kidnappern hinausgezögert, gar gefährdet und einen beträchtlichen Teil davon schließlich unter sich und politische Freunde aufgeteilt.

Dr. Rainer Werning, Politikwissenschaftler und (Süd-)Ostasienexperte, ist Geschäftsführer der schwerpunktmäßig in den Südphilippinen engagierten Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.) und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf/Brüssel).