Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

Zentralasien, Europa und die Balance der Gewichte

von Arne C. Seifert

BND-Analysten schätzten in einer vertraulichen Studie vom Februar 2009 ein, dass sich eine Verschiebung der „Gewichte zwischen den großen Blöcken USA, EU und China langsam nach Osten“1 vollzieht. In den Diskussionen über Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird die Frage erörtert, dass künftig veränderte Kräfteverhältnisse die internationalen Beziehungen prägen werden. Vorbei sind Bipolarität und Unipolarität, bestimmend wird »Multipolarität« als Konkurrenz alter Großmächte (USA, EU, Japan) und neuer, weiter aufsteigender (vor allem die »BRIC«2-Staaten) sein.

Die internationalen Beziehungen bewegen sich auf eine Phase von »Nichtpolarität« zu. Zwar hat man sich zu einem solchen Terminus noch nicht durchgerungen, er entspräche aber besser der Logik, da es der Pole immer nur zwei geben kann. Unbestritten dürfte jedoch auf der Hand liegen, dass mehrere große Mächte mit ihren Bewegungen und Gegenbewegungen miteinander kollidieren werden. Um hier konfliktvorbeugend und verhütend zu steuern, wird die Bedeutung von Politikinstrumenten der friedlichen Koexistenz erneut zunehmen.

Friedliche Koexistenz und Kooperation – Schlüsselworte des neuen Jahrhunderts

Eine Politik, die in ihren Mittelpunkt die Konfliktvermeidung stellt, hat ein Grundprinzip zu beachten: Alle Seiten müssen bedingungslos demokratisch miteinander umgehen. Egon Bahr erkannte dies, als er bereits 2007 voraussagte: „Es ist eine europäische Verantwortung, dass »Kooperation« zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird.“3 In internationalen und zwischenstaatlichen Beziehungen bedingungslos demokratisch miteinander umzugehen, impliziert allerdings, dass »der Westen« sich auch gegenüber autoritären Regierenden demokratisch verhalten müsste. Letzteres würde einer Erkenntnislogik folgen, dass veränderte internationale Bedingungen auch die Verhaltensregeln in den internationalen Beziehungen verändern.

In diesem Kontext kann als erstaunlich gelten, dass aus den öffentlichen Debatten um die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, in welcher sich zugleich das Scheitern der Strategie des Neoliberalismus manifestiert, die westliche, gleichfalls neoliberal gesteuerte Außenpolitik ausgeklammert bleibt. Dabei ist offensichtlich, dass dem Neoliberalismus auch die internationale Politik des westlichen Bündnisses zu Diensten stand, von denen sich Europas außenpolitische Eliten und ihre intellektuelle Dienstleistungsbranche offensichtlich bisher nicht zu lösen gedenken. Das mag auch daran liegen, dass der Entwurf neuer Verhaltensregeln für den eigenen politischen Raum, nämlich den der OSZE, nicht ohne selbstkritische Bilanzierung eigener Politik in den letzten zwanzig Jahren auskäme. Paradox erscheint dabei, dass sich die westlichen Mitgliedstaaten der OSZE ausgerechnet in dieser Organisation von den Prinzipien ihres Mutterschoßes, der KSZE, nahezu völlig verabschiedet haben: nämlich den Prinzipien der friedlichen Koexistenz. Sie erneut auf den Prüfstand zu stellen, wäre für Europa ein Anpassen an »Nichtpolarität«, und Gewichteverschiebung in Richtung Osten eine lohnende intellektuelle Investition. Man sollte dieses Experiment, neben dem Imperativ Russland, mit den Staaten Zentralasiens beginnen. Dazu gehört auch das Erlernen eines demokratischen Umgangs mit autoritär Regierenden. Dafür spricht, dass Zentralasiens autoritäre Regierungen die »Mitte des Stocks« eines weltweit unvergleichlichen Kontinentalraums – Europa, Russland, Zentralasien, China, Indien u.a. – in ihren Händen halten.

Neue Weichenstellungen für den östlichen euro-asiatischen Kontinentalraum

Dieser Raum könnte sich für Europa als wichtigste »strategische Reserve« erweisen – von seinen wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen bis zu seinem zukünftigen internationalen Gewicht. Keine andere geopolitische »Einheit« der Welt verfügt über ein derartiges Potential und eine solche Chance gemeinsamer Entwicklungsmöglichkeiten. In den USA ist das erkannt. Sowohl unter dem Gesichtspunkt eines europäischen Gewichtszuwachses unter den neuen internationalen Bedingungen, als auch der eigenen Kontrolle jenes euro-asiatischen Kontinentalkolosses. Die strategische Stoßrichtung der USA erfolgt aus dem Süden. Daraus erklärt sich auch die Entschlossenheit der Obama-Regierung, Afghanistan zu halten, dafür dort ihr militärisches Engagement zu erhöhen und Pakistan einzubeziehen. Diese als »Afpak« für Afghanistan und Pakistan apostrophierte Strategie trägt dem Wunsch der USA Rechnung, hier den Grund für langfristige Präsenz zu bereiten, sozusagen für ein »Standbein«, um ihrem »Spielbein« Mobilität zu ermöglichen in Richtung Zentralasien, Iran, Indien sowie dem Persischen Golf und dem Arabischen Meer. Insofern kann eine von der Obama-Regierung ins Spiel gebrachte regionale Afghanistanregelung unter Einbeziehung der Nachbarstaaten, darunter Zentralasiens, weniger als Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Afghanistanintervention interpretiert werden denn als politische Umarmungsgeste gegenüber den Zentralasiaten. Daher dürften sich die USA auch in den kommenden Monaten darum bemühen, in der Afghanistanfrage politisch sowohl gegenüber der EU als auch Zentralasien offensiv zu bleiben. Dazu benötigen sie aber gegenwärtig noch die Führung in militärischer Hinsicht.

Neuen Realitäten Rechnung tragen

Die europäische Transformationsstrategie der letzten rund zwanzig Jahre gegenüber Zentralasien und anderen Teilen des post-sowjetischen Raums erhellt, wie unter den neuen Bedingungen einer in östlicher Richtung verlaufenden Gewichtsverschiebung ein strategisch weitsichtiger Umgang mit autoritär Regierenden nicht funktionieren wird.

Für Westeuropas politische Eliten war die Transformation des sozialistischen in ein kapitalistisches Gesellschaftssystem von vornherein ein Projekt äußerer politischer Einflussnahme und Drucks. Als sicherster Weg dazu erschienen ihnen Reformen, die möglichst direkt und schnell, ohne »evolutionäre« Verzögerungen, vollendete Tatsachen schufen: die Implantierung von Marktwirtschaft und eines politischen Systems westlichen Typs. Außerdem musste er sich die äußeren Tore in die jungen Staaten des postsowjetischen Raums öffnen, um die Durchführung der Reformen zu forcieren.

Diese Politik war als bewusste Schock-Strategie eine Komponente der neoliberalen Gesamtstrategie. Deren drei typische Forderungen Privatisierung, Deregulierung und tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben charakterisieren heute die Bedingungen in allen zentralasiatischen Staaten. Versagt hat die Transformationsstrategie bei der dringend erforderlichen Schaffung und Konsolidierung ökonomischer Grundlagen für die weiteren Staatsformungsprozesse und die Staatskonsolidierung, weshalb einige dieser Staaten heute äußerst labil sind (besonders Kirgisistan und Tadschikistan) und sie die internationale Wirtschaftskrise besonders hart trifft. Eindeutig negativ ist die Bilanz auch hinsichtlich der Lebensqualität der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, die sich erheblich verschlechtert hat. Hier erweist sich die neoliberale Transformation nicht nur als zutiefst regressiv. Sie behindert auch die Transformation zur Demokratie, da sich keine ökonomische Basis für eine soziale Marktwirtschaft und Demokratie herausbilden konnte. In Zentralasien bildet sich eine Kluft zwischen Armut und Reichtum heraus, wie sie uns aus der Mehrheit der Entwicklungsländer bekannt ist – mit all ihren sozialen und politischen Risiken, einschließlich der rasant zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Islams.

»Der Westen« übte von vornherein über seine internationalen Organisationen und bilateralen Beziehungen auf alle Transformationsprozesse und die Führungen der zentralasiatischen Staaten, welche diese zu implementieren hatten, einen gewaltigen äußeren Druck aus. Die OSZE spielte und spielt als „einer der Agenten des Wandels“ in diesem Szenarium eine zentrale Rolle. Indem sie die menschliche Dimension als „Kern der Anstrengungen zur Gewährleistung umfassender Sicherheit“4 in Zentralasien sieht, machte sie sich zu einer zentralen Trägerin der bisherigen westlichen Strategien gegenüber den zentralasiatischen Gesellschaften und deren Führungen.5

Sein Ziel, politische Systeme seines Typs zu etablieren, hat »der Westen« bislang nicht erreicht. Nüchternheit sollte das Nachdenken über die Frage bestimmen, ob und in welchen Zeiträumen das nachgeholt werden könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es nicht gelingen, das Modell liberaler Demokratie in den zentralasiatischen Gesellschaften in absehbaren Zeiträumen zu verwurzeln. Vielmehr wird sich Europa hier auf eine Situation einzustellen haben, in der der Charakter der wirtschaftlichen Systeme kapitalistisch und der politischen nicht liberal-demokratisch sein wird. Das heißt, Europa wird eine Koexistenz-Politik entwickeln müssen gegenüber nicht am westlichen Gesellschaftsmodell fixierten ordnungspolitischen Orientierungen. Welche Zusammenhänge erlauben diese Hypothese?

Erstens hat die Einordnung der zentralasiatischen Führungen in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SchOZ)6 das Kräfteverhältnis zwischen Europa und der zentralasiatischen Region schon heute zu Gunsten Letzterer verändert und verändert es weiter. Mit China und Russland sowie Indien als Beobachter der SchOZ eröffnet sich für die Staaten Zentralasiens die Möglichkeit, sich an die Gruppe der BRIC-Staaten anzulehnen. Sie sind Nutznießer jener Verschiebung der Gewichte nach Osten, aus der die zentralasiatischen Führungen ihren Honig saugen können.

Zweitens hat sich im Ergebnis einer von IWF, Weltbank und deren westlichen Migliedsstaaten vorgegebenen neoliberalen ökonomischen Transformationsstrategie in Zentralasien ein »bürokratischer Familienclan-Kapitalismus« etabliert. Seine Träger, die großen Clans, haben die frühere Allmacht des KPdSU-Apparates gegenüber der Gesellschaft abgelöst durch eine weitgehende Monopolisierung der ökonomischen, politischen und militärischen Macht. Das Wesen dieses neuen Herrschaftsmechanismus zu verstehen, ist deshalb wichtig, weil er sich in vielen jungen Staaten des post-sowjetischen Raums beobachten lässt. Er ist das Produkt einer Transformationsstrategie, die westliche Demokratie und Marktwirtschaft für ein geeignetes Bedingungsgefüge für die Überführung (nicht nur) der zentralasiatischen Gesellschaften zum kapitalistischen System hielt. „Die einzige Bedingung, unter der Marktwirtschaft und Demokratie gleichzeitig implantiert werden und gedeihen können, ist die, dass beide einer Gesellschaft von außen aufgezwungen und durch internationale Abhängigkeitsverhältnisse für längere Fristen garantiert werden.“7

Diese Strategie erweist sich heute als gravierende Fehlkalkulation. »Der Westen« verschätzte sich völlig im Typ des Kapitalismus und seiner Unternehmerklasse, die vor dem Hintergrund der sozialen, traditional-paternalistischen Spezifik der zentralasiatischen Gesellschaften (und nicht nur dieser) entstehen würden. Dabei war voraussehbar, dass die großen Clans die Gewinner einer Transformationsstrategie sein würden, welche auf die Privatisierung des staatlichen Eigentums als oberste Priorität setzte. Nach der Demontage der UdSSR verfügte nur diese erste Transformationsgeneration über die administrativen und finanziellen Ressourcen, um die Privatisierung zu ihren Gunsten umzulenken und zu entscheiden. Nie zuvor hat das Clansystem einen solch gewaltigen Aufschwung erfahren wie durch jene Privatisierung »von oben«. Da es eine in sich und für sich geschlossene Gesellschaftsschicht darstellt, widersetzt es sich der Öffnung der Gesellschaft und ihrer Demokratisierung. Selbst in der sowjetischen Periode war die Verquickung von politischer, ökonomischer und möglichst auch militärischer Macht in Personalunion nicht so eng wie heutzutage bei den Clans jener ersten Generation von Transformationssiegern, aus der die heutigen Entscheidungsträger kommen.

Das Paradoxon besteht weiter darin, dass »der Westen« von dieser neuen Unternehmerklasse politische Systeme präsentiert bekam, welche das Gegenteil zu dem von westlicher Feder vorgeschriebenen Postulat der KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 ist. Ihr zufolge verpflichten sich alle OSZE-Staaten „die Demokratie als die einzige Regierungsform […] aufzubauen, zu festigen und zu stärken“.8 Um zu dem vom Westen eingeforderten Typ von Demokratie zu gelangen, müsste er jedoch jenen Typ von bürokratischem Familienclan-Kapitalismus erst wieder abschaffen. Das aber wird der Westen nicht wagen, was die Herrschenden in Zentralasien wissen. Darin besteht das große Dilemma der westlichen Demokratisierungsstrategie.

Mehr noch: dieser Zustand wird sich selbst dann nicht ändern, wenn die Clan-Oligarchen der ersten Generation der Konkurrenz neuer zweiter und dritter Unternehmergenerationen weichen müssen. Letztere werden zwar nach politischer Macht streben, auf ihre ökonomische jedoch nicht verzichten. Also werden solche inneren Auseinandersetzungen weder den herrschenden Typ von Unternehmerklasse noch deren Aversion gegen eine Trennung von politischer und ökonomischer Macht, gegen eine offene Gesellschaft und Demokratie westlichen Typs, aus der Welt schaffen.

Heißt das, seine Transformationsstrategie hat »dem Westen« gar nichts gebracht? Keineswegs. Er erreichte für ihn Vorrangiges – die Beseitigung der politischen und ökonomischen Grundlagen des sowjetischen Gesellschaftstyps. Ein Zurück zum einstigen sowjetischen Imperium wird es nicht geben, was er als Erfolg historischen Ausmaßes wertet. Auch bei der Transformation zur Marktwirtschaft ist der Rubikon überschritten. Selbst wenn westliche Unternehmen noch nicht auf allen Gebieten zufrieden sind – ein Zurück in die Planwirtschaft wird es ebenfalls nicht geben. Folglich könnte man sich in Europa ein etwas entspannteres Nachdenken über eine Neujustierung politischer Prioritäten gegenüber Zentralasien leisten und über den Sinngehalt des Hinweises Egon Bahrs nachdenken: „[…] wer die Beschwörungsformel von der Wertegemeinschaft undifferenziert benutzt, muss wissen, dass daraus Unterwerfungsformeln werden können, wenn die eigenen Werte nicht mehr klar vertreten werden.“9 Was heißt – wer Achtung der Demokratie als universellen Wert einfordert, darf sie aus seinem internationalen Verhalten nicht ausklammern.

Welches Fazit könnte gezogen werden?

Erstens: In den letzten knapp zwei Jahrzehnten haben sich im zentralasiatischen Teil des OSZE-Raums die geostrategischen Konstellationen verschoben, die gesellschaftssystemischen Bedingungen verändert und die Eliten sich ebenso umgeschichtet wie deren Charakter, Interessenlagen und Kooperationsvoraussetzungen. Die Zeiten hochfliegender Hoffnungen, dass »der Westen« seine »Demokratie als die einzige Regierungsform« im riesigen, seiner sozialen Natur und politischen Kultur nach höchst pluralistischen post-sowjetischen Raum durchzusetzen vermag, neigen sich ihrem Ende zu. Er muss auch Obacht geben, dass neue Widersprüche die noch bestehenden Voraussetzungen für strategische Partnerschaften und Kooperation nicht unterlaufen. Die OSZE haben sie bereits eingeholt. Als wichtigster Widerspruch kann derjenige zwischen den internationalen demokratiepolitischen Gestaltungsansprüchen »des Westens« und den real existierenden Herrschaftsstrukturen gelten. Es sind die praktisch-politischen Konsequenzen zu prüfen, die sich aus der richtigen Erkenntnis ergeben, dass „[e]xterne Demokratieförderung […] nicht oktroyiert, exportiert oder exekutiert werden kann. Sie kann nur eine optimierende Katalysatorrolle einnehmen von im Empfängerland bereits vorhandenen Liberalisierungs- und Demokratisierungsansätzen.“10

Zweitens: Das politische und ökonomische Überleben der zentralasiatischen Führungen hängt zukünftig immer weniger von Europas Verständnis oder Unverständnis der in ihrer Großregion ablaufenden gesellschaftspolitischen Prozesse ab. Die neue »nichtpolare« Großmachtkonstellation eröffnete ihnen die Wahl zwischen Großmächten unterschiedlicher Herrschaftssysteme und politischer Orientierungen. Dieser Umstand und das in Europa erwachende Verständnis für die besondere Rolle Zentralasiens stellen die europäische Politik vor eine völlig neue, aber ganz zentrale Aufgabe: Wenn die zentralasiatischen Staaten schon nicht mehr darauf angewiesen sind, ins europäische Boot zu steigen, aber dennoch daran interessiert sind, mit ihrem eigenen Boot an unseres anzudocken, dann ist für Europa die Zeit gekommen zu prüfen, wie mit autokratischen Führungen auf gleicher Augenhöhe demokratisch umzugehen ist.

Drittens: Zum Glück gibt es dafür die OSZE mit ihren wichtigen politischen Erfahrungen aus der Konstruktion von Zusammenarbeit und friedlicher Koexistenz unterschiedlicher Systeme. Die europäischen Staaten sollten abwägen, ob sie bereit sind, ihr Verständnis der OSZE als Kontrollinstrument und ein Motor der »Proliferation« des liberalen Demokratiemodells in den postsowjetischen Raum in das einer Zukunftsvision von der OSZE als »Regulator« von Zusammenarbeit und Sicherheit im Sinne euro-asiatischer, kontinentaler Partnerschaft zu transformieren, der hilft, den euro-asiatischen Raum als gemeinsamen zu erschließen. Entscheidet sie sich für Ersteres, würde die OSZE Europa eine strategisch unverzichtbare Dienstleistung erweisen: die Justierung ihrer Prinzipien und Steuerungsinstrumente für eine solche Partnerschaft im Sinne kooperativer Sicherheit und Zusammenarbeit, des Ausgleichs und der Harmonisierung von Interessen. Zum anderen würde der Entwurf eines solchen neuen Verhältnisses es wichtigen euro-asiatischen Staaten – Russland und Zentralasien eingeschlossen – erleichtern, ihre strategische Partnerschaftswahl, in der sie heute noch schwanken, zugunsten einer gesicherten Zukunft mit Europa auf einem gemeinsamen Kontinent zu treffen. Auch ließen sich Misstrauen stiftende Konkurrenzängste, insbesondere der Russischen Föderation bezüglich seiner asiatischen und zentralasiatischen Nachbarschaftsregionen, ausräumen. Die so zu öffnenden neuen Perspektiven und ihr gemeinsames Gestalten könnten auch dazu beitragen, die Krise zu überwinden, in der sich die OSZE heute befindet.

Fiele die Abwägung zugunsten von Sicherheit und Zusammenarbeit im Sinne einer euro-asiatischen kontinentalen Partnerschaft aus, so wäre das für Europa keine »Rolle rückwärts«, sondern vorwärts, da der Ausgleich und die Harmonisierung von Interessen Potenziale einer euro-asiatischen Kooperation mobilisieren könnten, die noch nicht in vollem Umfang erkannt wurden: in wirtschaftlicher, außenpolitischer und weltpolitischer Hinsicht sowie im Sinne gegenseitiger kultureller Befruchtung.

Das Nachdenken über ein neues Verhältnis zueinander müsste selbstverständlich ein gemeinsames sein. Geographisch bräuchte der jetzige OSZE-Raum nicht überschritten zu werden. Zunächst geht es um Vertrauensbildung zwischen den europäischen und den euro-asiatischen OSZE-Teilnehmerstaaten. In weiteren Schritten könnte Vertrauensbildung durch Letztere gegenüber deren asiatischen Partnern angestrebt werden. Die Verschiebung der internationalen Gewichte nach Osten wartet nicht auf Europa.

Anmerkungen

1) Rinke, Andreas: Metamorphose der Geopolitik, in: Internationale Politik, Juni 2009, S.40.

2) BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China

3) Egon Bahr: Europas strategische Interessen, in: Internationale Politik, April 2007, S.87.

4) Organization for Security and Co-operation in Europe (2001): OSCE Meetings on Human Dimension Issues 1999-2001. Warschau, S.7 (eigene Übersetzung).

5) „Fragen der menschlichen Dimension sind zum wichtigsten Tätigkeitsfeld der OSZE geworden […]“ zit. nach Wolfgang Zellner (2006): Managing Change in Europe: Evaluating the OSCE and Its Future Role: Competencies, Capabilities, Missions. CORE Working Paper Nr. 13, S.26 (eigene Übersetzung).

6) SchOZ-Mitglieder: China, Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan. Beobachterstatus haben Indien, Pakistan, Iran und Mongolei.

7) Claus Offe (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, New York, S.65 (Hervorhebung durch den Autor).

8) Charta von Paris für ein neues Europa. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Paris, 21. November 1990, in: Ulrich Fastenrath (Hrsg.): KSZE/OSZE. Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Neuwied u.a., Loseb.-Ausg., Kap. A.2, S.2 (Hervorhebung durch den Autor).

9) Bahr, a.a.O. (Anm. 5), S.87.

10) Wulf Lapins (2007): Demokratieförderung in der Deutschen Außenpolitik, Berlin, FES, S.16.

Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a. D., ist Mitglied des Vorstands des Verbands für internationale Politik und Völkerrecht, Berlin

Letztes Gefecht im Namen des »Antiterrors«

Letztes Gefecht im Namen des »Antiterrors«

Eskalation in Sri Lanka

von Rainer Werning

In der Endphase der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und den Befreiungstigern geriet vor allem die Zivilbevölkerung in die Schusslinie. Seit Mitte Mai ist der Inselstaat weiter denn je von Frieden entfernt.

Läge die frühere britische Kolonie Ceylon, die sich nach der Unabhängigkeit (1948) im Jahre 1972 in Sri Lanka umbenannte, in der Balearen-Inselgruppe, hätten die dortigen innenpolitischen Entwicklungen seit Jahresbeginn einen beispiellosen Aufschrei und heftige Proteststürme ausgelöst. Stattdessen herrschte in der internationalen Staatengemeinschaft und in den Mainstream-Medien beklemmende Ruhe, als die Regierung der »Perle im (Indischen) Ozean«, wie Sri Lanka gern bezeichnet wird, zum letzten Gefecht gegen die verhasste »Terrororganisation« der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) aufrief. Als lästig empfand man in westlichen Hauptstädten allenfalls Sitzblockaden verzweifelter Exiltamilen auf Zuggleisen, Autobahnen und vor Bahnhöfen, die damit wenigstens ein Zeichen setzten, um die Aufmerksamkeit auf die katastrophale Lage in ihrem Heimatland zu lenken. Seit Anfang dieses Jahres wendete sich das Blatt rasant zuungunsten der LTTE, bis schließlich die Streitkräfte und die Regierung Sri Lankas am 19. Mai den vollständigen Sieg erklärten. Es begann die Hochzeit des Mitte November 2005 mit einer scharfen Kampfansage gegen die LTTE zum Staatspräsidenten gewählten Mahinda Rajapakse.

Triumphalismus in Colombo

Überschwänglich war die Freude in Sri Lankas Hauptstadt Colombo, wo Feuerwerkskörper gezündet wurden und Rajapakse über Nacht zu einer nationalen Lichtgestalt avancierte. Videos, die den Leichnam des LTTE-Chefs Velupillai Prabhakaran in Endlosschleifen zeigten, untermalte der Präsident in seiner landesweit ausgestrahlten Ansprache mit den Worten an die tamilische Minderheit, jetzt sei die Zeit gekommen, die „Herzen der Tamilen zu gewinnen“. Sie, versicherte Rajapakse, sollten endlich „ohne Angst und Misstrauen leben können“. Zwei Wochen später dann – das Land befand sich noch immer im Siegesrausch und staatlich verordneter Euphorie – zelebrierte die Staats- und Armeeführung den 3. Juni als Nationalfeiertag.

Unerwarteten Rückenwind hatte Sri Lankas Präsident wenige Tage zuvor ausgerechnet von jener Organisation erhalten, von der man sich eigentliche kritische Töne erhofft hatte. Auf seiner 11. Sondersitzung lobte der UN-Menschenrechtsrat in Genf die Regierung Sri Lankas ausdrücklich für ihren Sieg gegen die LTTE. In dieser am 27. Mai mit 29 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen und bei sechs Enthaltungen angenommenen Resolution unterstützte das Gremium die Haltung Colombos, Hilfsorganisationen erst dann Zugang zu Flüchtlingslagern zu gewähren, wenn sie dies für angebracht hält. Obwohl selbst nicht Mitglied, hatte Sri Lanka mit Rückendeckung von Ländern wie China, Indien, Pakistan und Kuba einen Resolutionsentwurf vorgelegt, in dem es einseitig um tatsächliche oder mutmaßliche Kriegsverbrechen der LTTE ging. Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung wies Colombo umgehend und schroff zurück. Stattdessen wurden in der Resolution die internationale Staatengemeinschaft und relevante Unterorganisationen der Vereinten Nationen aufgefordert, der srilankischen Regierung dabei behilflich zu sein, die in den vormaligen Kampfgebieten notleidende Bevölkerung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln, sanitären Einrichtungen und medizinischer Betreuung zu versorgen.

Welch’ ein Triumph?

Bereits Anfang des Jahres hatten das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und andere internationale Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen beklagt, dass die Evakuierung von Verwundeten auf dem Seeweg sehr schwierig sei und auch die Konvois auf dem Landweg die Frontlinien nicht überqueren durften. Als sei das für die betroffene Zivilbevölkerung im Osten und Norden des Landes nicht schon schlimm genug gewesen, hatten auch noch die nationale und internationale Presse von Colombo einen Maulkorb verpasst bekommen. Journalisten blieb der Zugang in die Kampfgebiete verwehrt, und dort anwesende ausländische Journalisten wurden unverzüglich des Landes verwiesen; eine Gewähr dafür, dass nunmehr die srilankischen Streitkräfte unter dem großen Mantel des Schweigens und Vertuschens nach Gutdünken schalten und walten konnten, was bedingt auch für die andere Seite galt. Laut der UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay hatten in der letzten Kriegsphase Mitglieder der LTTE Kindersoldaten zwangsrekrutiert und Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht. Die Armee habe ihren Granatenbeschuss auf Gebiete fortgesetzt, in denen sich Zivilisten aufhielten.

Die absehbare Katastrophe nahm in den letzten Kriegstagen ungeheure Ausmaße an. Das Rote Kreuz bezifferte die Zahl der zwischen die Fronten geratenen Flüchtlinge auf annähernd 300.000 Menschen. Am 27. Mai, als zeitgleich in Genf der UN-Menschenrechtsrat die Regierung in Colombo exkulpierte, forderte das IKRK erneut Zugang zu allen Flüchtlingen. Zwei Tage später berichtete die in London erscheinende »Times«, dass infolge der Regierungsoffensive von Jahresbeginn bis Ende April 7.000 Zivilpersonen und ab dann bis zum 19. Mai täglich etwa 1.000 Menschen täglich in der Kriegszone im Nordosten ums Leben gekommen seien – die meisten durch schweren Artilleriebeschuss der Regierungstruppen.1 Die Flüchtlinge waren in notdürftigen, von Militärs strikt bewachten Internierungslagern untergebracht, welche die Regierung in Orwellscher Sprachregelung als »welfare centres« (Wohlfahrtszentren) bezeichnet. In ihnen, so gab die Armeeführung bekannt, werde man alle Personen überprüfen, um zu verhindern, dass sich unter ihnen LTTE-Mitglieder versteckten.

Als einziger Beobachter bisher durfte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon kurz eines der Dutzenden Lager besuchen. „Das, was ich gesehen habe, hat mich unglaublich traurig und demütig gemacht“, sagte Ban hinterher, „ich habe die ganze Welt bereist und ähnliche Regionen besucht. Aber ich habe nirgendwo schlimmere Szenen gesehen.“ Für die Betroffenen blieb seine Äußerung folgenlos. Tamilische Exilgruppen beschuldigen derweil die Vereinten Nationen, so die Korrespondentin des ARD-Hörfunkstudios Südasien, Sandra Petersmann, „Statistiken mit Opferzahlen zurückzuhalten, um die srilankische Regierung zu decken. Europäische Medien hatten vor kurzem unter Berufung auf geheime UNO-Dokumente berichtet, dass allein zwischen dem 1. und dem 20. Mai täglich 1.000 Menschen bei den letzten Gefechten im Nordosten Sri Lankas ums Leben gekommen sein sollen. Die Vereinten Nationen weisen das zurück. Niemand habe verlässliche Zahlen über die Opfer dieses Krieges, heißt es aus dem Hauptquartier in New York. Umso wichtiger wäre eine unabhängige Untersuchung.“ 2

Fragiler Frieden mit Bruderzwist

Bereits wenige Jahre nach der Staatsgründung des vormaligen Ceylon im Jahre 1948 kam es zu gewaltigen Ausschreitungen gegen die tamilischen Minderheit, und 1956 wurde das von der Mehrheit gesprochene Singhalesisch zur einzigen Staatssprache erhoben. Nach antitamilischen Pogromen im Jahre 1983 eskalierte der Konflikt und weitete sich fortan zum bewaffneten Kampf zwischen Regierungstruppen und den Liberation Tigers of Tamil Eelam aus, die nunmehr einen eigenen Staat im Norden und Osten forderten. Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich am Horizont ab, als auf Initiative der norwegischen Regierung am 22. Februar 2002 die Chefunterhändler der srilankischen Regierung und der LTTE ihre Unterschrift unter das formelle Waffenstillstandsabkommen setzten, das den Grundstein eines Prozesses bilden sollte, an dessen Ende eine für beide Seiten akzeptable und vor allen Dingen friedliche Beilegung des Konflikts stehen sollte.

Vor allem das Jahr 2004 hatte es in sich, als neben einer tiefgreifenden LTTE-internen Schwächung deren Einflussgebiete durch den verheerenden Tsunami Ende Dezember verwüstet wurden. Der frühere stellvertretende LTTE-Chef und Militärchef der Organisation in der Ostprovinz, Vinayagamoorthy Muralitharan alias Oberst Karuna, kehrte im März 2004 seinen Genossen den Rücken und warf der Führung unter Velupillai Prabhakaran vor, die dortigen Tamilen lediglich als »LTTE-Kanonenfutter« für Kommandounternehmen im Norden zu opfern und sie ansonsten zu vernachlässigen. Fortan agierte die von Karuna gegründete paramilitärische Truppe unter dem Schutz der srilankischen Armee, die ihrerseits ihre Kampfeinheiten beträchtlich aufstockte – von 100.000 auf 160.000 Mann. Diese Überlegenheit vermochten die zwischenzeitlich besser ausgebildeten und bewaffneten Regierungstruppen immer mehr zu ihren Gunsten zu nutzen und entscheidende Terraingewinne zu verzeichnen.

Die Abkehr von Karuna traf die LTTE-Führung schwerer, als sie zugeben mochte. Denn „der Überläufer Karuna und seine Gefolgsleute (hatten) präzise Informationen über Standorte und Zusammensetzung der LTTE-Truppen geliefert, was für den militärischen Geheimdienst natürlich sehr wertvoll war. Colombo erhielt auch verdeckte Unterstützung durch den indischen Geheimdienst, vor allem Informationen über Schiffe. Indien schickte außerdem Ausbilder für Piloten und Radarspezialisten. Moderne Militärtechnologie kam aus Israel und den USA.“ 3 Für den Oberst zahlte sich das Arrangement mit Colombo aus, wie denn im Gegenzug dessen Truppen die von Karuna miteingefädelte Rückeroberung des Ostens zur entscheidenden Großoffensive gegen die Hauptstellungen der LTTE im Norden nutzten. Mitte März dieses Jahres „kürte ihn Staatspräsident Mahinda Rajapakse zum Minister für Nationale Integration und Aussöhnung. Mit etwa 2.000 Anhängern war Karuna (…) kurz zuvor der regierenden Freiheitspartei Sri Lankas (SLFP) beigetreten. Rajapakse händigte ihm die Mitgliedskarte persönlich aus und nannte ihn dabei einen ‚talentierten Führer‘. Karuna revanchierte sich, indem er Rajapakse ‚gute nationale Führerschaft‘ bescheinigte.“ 4

Gebrandmarkt als »Terrororganisation«

Als am 2. Weihnachtstag 2004 Sri Lanka vom Tsunami getroffen wurde, sorgten einzig von der tamilischen Diaspora gespendete Hilfsgelder dafür, dass in LTTE-kontrollierten Gebieten wenigstens ein Bruchteil der Schäden beseitigt und ein wenig Not gelindert werden konnte. Die internationale Staatengemeinschaft duldete ohne nennenswerte Proteste in großen Stil die Unterlassung und Hintertreibung von Hilfeleistung seitens der herrschenden singhalesischen Elite in Colombo und sorgte stattdessen dafür, dass der nach den Ereignissen vom 11. September 2001 von der Bush-Regierung verkündete »weltweite Krieg gegen den Terror« nunmehr auch in diesem Teil Südasiens instrumentalisiert wurde. Nach dem Vorbild der von den USA angefertigten »Liste ausländischer terroristischer Organisationen« entschied sich auch die Europäische Union zu einem solchen Schritt und setzte die LTTE am 29. Juni 2006 auf ihre Terrorliste – ein Akt, der die Organisation delegitimieren, ihren Nachschub einschnüren und schließlich zum Abzug skandinavischer Waffenstillstandsbeobachter führen sollte.

Quo vadis?

Die Art und Weise, wie Colombo sein »letztes Gefecht« gegen die LTTE führte und zelebrierte, lässt auf Dauer mit Blick auf Frieden und Aussöhnung nichts Gutes erwarten. Die wenigen tamilischen Stimmen im Parlament werden es gegenwärtig kaum wagen, öffentlich Dissens zu äußern.

Am 30. Januar 2009 hatte die LTTE-Führung Selvarajah Pathmanathan offiziell zu ihrem Auslandschef und Verantwortlichen für internationale Beziehungen ernannt. Pathmanathan war es auch, der in mehreren Interviews mit internationalen Fernseh- und Rundfunkstationen sowie über die den LTTE nahestehende Webseite TamilNet die militärische Niederlage seiner Organisation eingestand. Heute beteuert Pathmanathan, die LTTE schwören der Gewalt ab und schlagen den demokratischen Weg ein.5 Früher kümmerte sich der Mann um das Auslandsgeschäft der Tamil Tigers, akquirierte Gelder und soll außerdem den Waffennachschub und Schmuggel organisiert haben.

Derweil ist unter den etwa eine Million im Ausland lebenden Tamilen eine Debatte über die »Bildung einer Provisorischen Transnationalen Regierung von Tamil Eelam« entbrannt. Am 16. Juni betonte Visuvanathan Rudrakumaran, Koordinator des Komitees für die Bildung einer Provisorischen Transnationalen Regierung von Tamil Eelam, in einer neun Punkte umfassenden Erklärung, Unabhängigkeit und Souveränität der Eelam-Tamilen stünden auch weiterhin auf der Agenda. Eine solche Regierung müsse von der Basis aufgebaut werden. Das Komitee setzt sich unter anderen für Wahlen auf lokaler und internationaler Ebene ein und strebt sowohl mit internationalen Nichtregierungsorganisationen als auch mit tamilischen Gruppen eine enge Kooperation an, die bislang nicht mit der LTTE zusammenarbeiteten. Schließlich soll eine konstitutionelle Versammlung gebildet werden und die Wahl einer Exekutive erfolgen. Die Vorarbeiten zu alledem sollen bis zum 31. Dezember dieses Jahres abgeschlossen sein.6 Sri Lankas Außenminister Rohitha Bogollagama bezeichnete dieses Unterfangen umgehend als „Halluzination“.7

Anmerkungen

1) Siehe die am 29. Mai 2009 in »The Times« (London) abgedruckten Beiträge: Philp, Catherine & Evans, Michael: »Times photographs expose Sri Lanka’s lie on civilian deaths at beach – The former no fire zone in Sri Lanka«; Philp, Catherine: »The hidden massacre: Sri Lanka’s final offensive against Tamil Tigers« sowie »Slaughter in Sri Lanka – Evidence gathered by The Times has revealed that at least 20,000 Tamils were killed on the beach by shelling as the army closed in on the Tigers«.

2) Petersmann, Sandra: »Zwei Wochen nach Ende des Bürgerkriegs – Sri Lanka feiert offiziell Sieg über Rebellen« [Sandra Petersmann, ARD-Hörfunkstudio Neu-Delhi, 03.06.2009 4‘16*

3) Meyer, Eric Paul: »Sieg ist keine Lösung – In Sri Lanka haben sich die letzten Tamil Tigers hinter der Zivilbevölkerung verschanzt«, in: Le Monde diplomatique (dtsch. Ausgabe) vom 13.3.2009.

4) König, Hilmar: »Der Lohn für Karuna – Abtrünniger Guerillaführer der Befreiungstiger in Sri Lanka zum Minister gekürt«, in: junge Welt vom 12.03.2009.

5) Siehe: http://tamiltruth.de/2009/06/13/die-neue-stimme-der-tamilischen-rebellen/

6) Siehe: http://www.tamileelamonline.com, 16.06.2009: »Committee for the formation of a Provisional Transnational Government of Tamil Eelam – Press statement released by Mr. Visuvanathan Rudrakumaran, Coordinator of the Committee for the formation of a Provisional Transnational Government of Tamil Eelam.«

7) Hull, C. Bryson: »Sri Lanka scoffs at new Tamil exiled government«, Meldung der Nachrichtenagentur Reuters aus Colombo, 17.06.2009.

Dr. Rainer Werning, Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, hat Sri Lanka seit 1974 mehrfach zu Studienzwecken besucht.

Sri Lanka – »Ein Land wie kein anderes«

Sri Lanka – »Ein Land wie kein anderes«

von Luxshi Vimalarajah

Der Artikel analysiert den aktuellen Konflikt in Sri Lanka und versucht der Frage nachzugehen, warum durch die militärische Eskalation ein positiver Frieden in weite Ferne gerückt ist.

Unter dem Motto »Ein Land wie kein anderes« präsentierte sich Sri Lanka als »sicheres Reiseziel« auf der Internationalen Tourismus Börse in Berlin, die am 15. März 2009 zu Ende ging. Sri Lanka ist wahrlich nicht ein Land wie andere. In Sri Lanka herrscht Asiens längster und blutigster ethnopolitischer Konflikt, der bisher 70.000 Menschen das Leben gekostet hat. Seit 1983 – mit kurzen Unterbrechungen – tobt ein bewaffneter Konflikt zwischen der singhalesisch dominierten Regierung und der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam), die sich als alleinige Vertreterin des tamilischen Volkes sieht. Die politisch-wirtschaftliche und kulturelle Selbstbestimmung des tamilischen Volkes, das gut 18% der Gesamtbevölkerung ausmacht, kann als Kerngegenstand des Konflikts bezeichnet werden. Im Zuge der Singhalesisierung des gesamten Staats- und Verwaltungsapparates und des kulturellen Lebens nach der Unabhängigkeit 1949 wurden die Tamilen zu Bürgern zweiter Klasse.

Die ethnischen Pogrome gegen die Tamilen in den Jahren 1958, 1977 und 1983 veranlassten Hunderttausende ins Ausland zu fliehen. Die moderate tamilische politische Klasse versuchte vergeblich auf einem friedlich-parlamentarischen Weg auf die singhalesischen Machthaber einzuwirken und forderte Föderalismus zur Lösung des ethnopolitischen Konflikts. Ihre Forderungen wurden als separatistisch zurückgewiesen. Der bewaffnete Widerstand entstand im Kontext gescheiterter parlamentarischer Lösungsversuche. Die LTTE kämpft seit 1983 für einen unabhängigen Staat im Nordosten des Landes.

Militärische Eskalation und Erosion der humanitären Situation

Aktuell steht Sri Lanka vor einer entscheidenden militärischen Zäsur. Laut Erklärungen der srilankanischen Armee1 steht der vollständige militärische Sieg unmittelbar bevor. Die LTTE wurde nach und nach aus ihrem 15.600 Quadratkilometer großen, unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiet im Osten und Norden der Insel verdrängt und inzwischen in einem kleinen Dschungelstreifen eingeschlossen. Die humanitären Folgen der aktuellen Eskalation sind immens. Nach Human Rights Watch (2009) werden auch die kürzlich von der Regierung deklarierten »Sicherheitszonen« und die klar gekennzeichneten zivilen Einrichtungen wie Krankenhäuser ständig beschossen. Die internationalen Hilfsorganisationen bezichtigen beide Kriegsparteien des völkerrechtswidrigen Verhaltens und des Kriegsverbrechens. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) gibt an, dass mindestens 150.000 Menschen tamilischer Herkunft zwischen den Fronten eingekesselt sind.

Während die Armee der LTTE vorwirft, sie würde diese Menschen als Schutzschilder missbrauchen, kreidet die LTTE der Armee an, sie würde bewusst auf die Zivilbevölkerung schießen, um sie aus ihrer Heimat zu vertreiben und in Internierungslagern2 einzukerkern. Unterdessen berichtet Human Rights Watch (2009) von ca. 1.123 getöteten und 4.027 verwundeten Zivilisten allein zwischen dem 20. Januar und dem 5. Februar 2009. Es gibt jedoch keine sicheren Zahlen. Die Zahlen variieren je nach Quellen. Denn auch dieser Krieg, wie viele andere auf dieser Erde, tobt ohne Zeugen, unabhängige Berichterstatter und internationale Beobachter. Angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe im Norden Sri Lankas klingt die Bezeichnung »sicheres Reiseziel« nahezu zynisch.

Dies ist auch ein Krieg gegen demokratische und zivile Instanzen. Seit der Eskalation sind elf Journalisten und 51 humanitäre Helfer ermordet worden oder ums Leben gekommen. Mehr als 22 Journalisten haben das Land bereits verlassen. Nicht zuletzt deswegen steht Sri Lanka mit seinen Menschenrechtsverletzungen im South Asia Human Rights Violators Index 2008 an erster Stelle. Vor dieser Eskalation gab es zwischen 2002-2006 Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts, die verpasst wurde. Damals stand sogar die internationale Gemeinschaft dem Friedensprozess 2002-2006 mit massiven Finanzhilfen, ca. 4.5 Milliarden US-Dollar, zur Seite. Die Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses wirken weit in die neue Phase der Eskalation hinein und werden in künftigen Friedensprozessen eine wesentliche Rolle spielen. Sie werden daher im nächsten Abschnitt kurz skizziert.

Die Gründe für die Eskalation des Konflikts

Eine ausführliche Besprechung der wesentlichen Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses würde den Rahmen des Artikels sprengen, diese können daher nur kurz skizziert werden.3 Mit der Aufkündigung des Waffenstillstandsabkommens am 3. Januar 2008 wurde der Friedensprozess 2002 von der srilankanischen Regierung formell beendet. Der Friedensprozess, der mit dem einseitigen Waffenstillstand der LTTE ins Rollen kam, wurde durch die internationale Gemeinschaft, im Wesentlichen durch die »Co-Chairs« Gruppe, bestehend aus der EU, Japan, USA und Norwegen, getragen. Norwegen agierte zudem als Vermittler und nahm auch gleichzeitig an der Beobachtermission für den Waffenstillstand teil. Die Abkehr vom Friedensprozess erfolgte faktisch sehr bald schon mit der Entmachtung der früheren Wickremasinghe-Regierung durch die damalige Präsidentin Kumaratunga, nachdem die LTTE Vorschläge für eine Interimsverwaltung 2003 veröffentlicht worden waren. Das Scheitern der bereits unterzeichneten Abkommen für eine gemeinsame Bewältigung der Tsunami-Folgen und die anschließende Ermordung des Außenministers im Jahr 2005 beschleunigten diesen Prozess.

Mit der Wahl M. Rajapakses 2005 zum Präsidenten änderte sich die politische Landschaft dramatisch und der Waffenstillstandsvertrag wurde schrittweise unterhöhlt. Rajapakse gewann die Wahlen auf der Basis eines nationalistischen Wahlprogramms und brach mit dem bis dahin bestehenden Konsens, dass Frieden nicht durch militärische Mittel möglich sei, keine Seite den Krieg gewinnen könne und nur Verhandlungen mit der LTTE zum dauerhaften Frieden führen könnten. Tragischerweise ist dieser Wahlerfolg auf den von der LTTE heimlich unterstützten Wahlboykott im Norden zurückzuführen. Das war der Denkzettel für das Ausbleiben der versprochenen Friedensdividende durch die alte Regierung. Im Wesentlichen sind die folgenden Rahmenbedingungen und Bestimmungsfaktoren für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich:

Machtkalkül der beiden Hauptparteien im Süden (»ethnic outbidding«): Die jeweilige Oppositionspartei bedient sich der anti-tamilischen Ressentiments für Wählerstimmen und verhindert somit jegliche Bemühungen der Regierungspartei für eine konstruktive Lösung des Konflikts.

Kollektive Enttäuschung und fehlender Wille: Beide Seiten interpretieren den Friedensprozess als Benachteiligung der eigenen Position. Der LTTE wird vorgeworfen, dass sie die Feuerpause für die Wiederbewaffnung genutzt habe, und der Regierung wird vorgeworfen, dass Sie die versprochenen Maßnahmen zur »Normalisierung« (Friedensdividende) nicht durchgeführt habe. Fehlende Bereitschaft sich zu einigen, bildete den Kern des Problems.

Asymmetrie: Die Konfliktparteien sind in Bezug auf ihre Macht, Ressourcen, Status und Zugang zur internationalen Gemeinschaft asymmetrisch aufgestellt. Das hatte erhebliche Konsequenzen für das Gelingen des Friedensprozesses. Die LTTE pochte auf »Gleichberechtigung und Gleichbehandlung«, was in einem asymmetrisch aufgestellten Konfliktgelage nicht immer zu verwirklichen ist.

Paradoxien des internationalen Sicherheitsnetzes: Die Internationale Gemeinschaft wurde von beiden Seiten als parteiisch empfunden. Die LTTE warf ihr Schwächung durch das internationale Sicherheitsnetz (LTTE-Verbot in der EU 2006, Militärhilfe für die Regierung, Erschwerung finanzieller Ströme etc.) vor, die Regierung warf ihr eine illegitime Aufwertung und Unterstützung der LTTE vor.

Menschenrechtsverletzung und Kultur der Furcht: Bereits während des Friedensprozesses sind eklatante Menschenrechtsverletzungen eingetreten, so z.B. politisch motivierte Morde, Rekrutierung von Minderjährigen, Entführungen, Anschläge etc. Keine der Gewalttaten wurde je aufgeklärt. Zudem verbreiteten paramilitärische Einheiten, die von höchsten Stellen gedeckt werden, Angst und Terror.

Vermeidung von Kernproblemen: Obwohl die Parteien im Jahr 2002 den Föderalismus als möglichen Lösungsweg in Betracht gezogen haben, haben sie faktisch keinen ernsthaften Schritt unternommen, das in die Tat umzusetzen. Die Krise im Friedensprozess trieb die Parteien dazu, an ihren Maximalforderungen festzuhalten: einheitlich zentralistischen Staat einerseits und unabhängigen Tamilenstaat andererseits.

Krieg gewonnen – Frieden verloren?

Im Gegensatz zu den bisherigen singhalesischen Regierungen, die eine größere Hemmschwelle vor humanitären Folgekosten zeigten, verfolgt die jetzige Regierung mit aller Brutalität ihr oberstes Ziel der vollständigen Eliminierung der LTTE. Die immensen humanitären Schäden und finanziellen Kosten werden als notwendige bzw. unverzichtbare Begleiterscheinungen gesehen. Zudem vermuten Analysten, dass die Erfolgsstrategie der Regierungstruppen einerseits auf einen ziemlich autark funktionierenden Militärapparat ohne politische Einmischung zurückzuführen ist und andererseits die Rhetorik des »Anti-Terrorismus Kampfes« international auf breite Zustimmung und Unterstützung stößt (vgl. Uyangoda, Jayadeva 2009).

Den Krieg mag die singhalesische Führung gewinnen, aber der Frieden wird in weite Ferne rücken. Der Riss zwischen den beiden Ethnien wird nach diesem Krieg noch tiefer sein. Tatsächlich existieren keine ernstzunehmenden politischen Angebote an die tamilische Bevölkerung. Obwohl einige Geber sich auf ein »Post-Konflikt«-Szenario vorbereiten, bleibt der Kernkonflikt nach wie vor ungelöst. Die zaghaften politischen Bemühungen in Form eines Allparteienausschusses (All-Party Representative Committee) unter Ausschluss des führenden tamilischen Parteienbündnisses TNA (Tamil National Alliance) und der Oppositionspartei UNP (United National Party) eine politische Lösung des Konflikts zu finden, sind vor dem Hintergrund des militärischen Siegestaumels als aussichtsloses Unterfangen zu bewerten. Selbst die Opposition hat angesichts der deutlichen Unterstützung für die gegenwärtige Kriegsstrategie unter den Singhalesen eingelenkt und unterstützt stillschweigend den Regierungskurs. Das Selbstverständnis der herrschenden Mehrheitsmentalität wird anhand der Aussage Sarath Fonsekas, dem kommandierenden Oberbefehlshaber der Armee, deutlich: „Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Land den Singhalesen gehört (…) als Mehrheit des Landes werden wir nie nachgeben und wir haben das Recht das Land zu beschützen (…) Sie [die Tamilen] können in diesem Land leben. Aber sie können nicht unter dem Vorwand einer Minderheit unangemessene Dinge fordern.“ (National Post, Canada, 23. September 2008)

Die LTTE scheinen militärisch geschwächt zu sein. Politische Beobachter spekulieren, ob hinter der LTTE-Strategie eine gezielte Kalkulation steckt (in der Erwartung, dass Autonomieforderungen oder Sezession in einem »failed state« international legitimer erscheinen). Einige meinen, dass ihre starke Fokussierung auf eine militärische Strategie und Unterordnung der politischen Strategie maßgeblich zur Schwächung beigetragen habe. Fest steht, dass sie ihren de-facto Staat im Norden der Insel weitgehend verloren hat. Die Abspaltung der Gruppe um Oberst Karuna Ende 2004, die Tsunamifolgen und die internationale Ächtung durch Verbote haben der LTTE sichtlich geschadet. Obwohl sie kürzlich um einen Waffenstillstand ersucht hat (während die andere Seite bedingungslose Kapitulation fordert), spricht vieles dafür, dass sie auf einen langen Guerillakrieg setzt und darauf hofft, dass die Regierung mit ihrer neuen Strategie (militärisch, finanziell und international) Schiffbruch leidet. Im Laufe der Geschichte hat die LTTE mehrmals Territorien verloren (so z.B. 1995 Jaffna) und neue Gebiete erobert (1998 Kilinochchi). Auch damals glaubte man, der endgültige Sieg der Regierungstruppen stünde bevor. Daher wäre es verfrüht, von einer Zerschlagung der Organisation zu sprechen.

Das Schicksal der tamilischen Bevölkerung auf der Insel scheint vor diesem Hintergrund mehr als ungewiss. Eine Kriegsstrategie gemäß dem Motto »jeder Tamile ist ein Tiger und potentieller LTTE Kader« bedeutet für die Tamilen Verunsicherung und Existenzbedrohung. Die humanitäre Katastrophe trifft einerseits die zwischen den Fronten eingeschlossene Zivilbevölkerung und andererseits die in Internierungslagern eingesperrten unter dem Generalverdacht der Zusammenarbeit mit den Rebellen stehenden Zivilisten mit voller Härte. Die Folge wird eine zunehmende Radikalisierung der Tamilen auf der Insel, der tamilischen Diaspora und der tamilischen Weltgemeinschaft sein (Tamil Nadu, Malaysia, Südafrika etc).

Internationale Lähmung und kollektive Ratlosigkeit

Die internationale Gemeinschaft wirkt angesichts dieser realpolitischen Herausforderungen gelähmt und überfordert. Je stärker der Friedensprozess in die Krise geraten war, desto wirkungsloser zeigte sich ihr Ansatz. Eine zutiefst gespaltene internationale Gemeinschaft mit geo-politischen Interessen (Indien, Pakistan, China), Wirtschaftsinteressen (Japan), militärischen Interessen im Fahrwasser des Anti-Terrorismus Ansatzes (USA) und politischen Interessen, die sich jeglichen Sezessionsbestrebungen widersetzen (Russland, Türkei und China ) scheint keine Konzepte gegen die sich anbahnende humanitäre Katastrophe parat zu haben. Die EU, die stets auf eine friedliche Lösung des Konflikts gedrängt hat, scheint auf weiter Flur alleine zu sein. Im September 2008 wurden auch die letzten internationalen Hilfsorganisationen aus den Kriegsgebieten herausgedrängt. Zudem herrscht eine regelrechte Hetzjagd gegen die internationale Gemeinschaft. Jede Mahnung, die Menschenrechte einzuhalten, wird als unangemessene neo-koloniale Einmischung zurückgewiesen oder damit gedroht, »aufmüpfige« Diplomaten und Akteure der internationalen Zivilgesellschaft außer Landes zu »jagen« (Gothabaya Rajapakse, Verteidigungssekretär in Sunday Island, zitiert nach Tagesspiegel 02.02.2009). Diese Taktik der Einschüchterung scheint in vielen Fällen aufzugehen. Natürlich kann ein dauerhafter Frieden nicht von außen erzwungen werden und nur die einheimischen Kontrahenten können dafür Sorge tragen. Aber angesichts des drohenden Massenexodus und der systematischen Vertreibung der tamilischen Bevölkerung aus ihren Heimatgebieten ist die internationale Gemeinschaft gefordert, sofort im Sinne von »Schutzverantwortung« (»Responsibility to Protect«)4 einzugreifen. Politische Probleme bedürfen politischer Antworten und die »Terrorismus«-Diagnose des Konflikts greift zu kurz.

Literatur

Asia Centre for Human Rights: South Asia Human Rights Violators Index 2008, www.achrweb.org.

Der Tagesspiegel: Sri Lankas Regierung droht deutschem Botschafter, 02. Februar 2009, S.3.

Human Rights Watch (Februar 2009): War on the Displaced – Sri Lankan Army and LTTE abuses against civilians in the Vanni.

International Crisis Group (2008): Sri Lanka´s Return To War: Limiting The Damage, Asia Report Nr. 146, 20.02.2008.

Liyanage, Sumanasiri (2008): One step at a time. Reflections on the Peace Process in Sri Lanka 2001-2005, Colombo: South Asia Peace Institute.

Lohmann, Annette/Saxer, Marc (2007): »Responsibility to Protect«: Vom Konzept zur angewandten friedens- und sicherheitspolitischen Doktrin? FriEnt Briefing Nr. 6.

Nadarajah, Suthaharan/Vimalarajah, Luxshi (2008): The Politics of Transformation – The LTTE and the 2002-2006 peace process in Sri Lanka, Berghof Series 04.

National Post Canada: Interview with Sarath Fonseka, 23. September 2008.

Rupesinghe, Kumar (2008): The war to end the war in Sri Lanka, Daily Mirror 17.01.2008.

Rupesinghe, Kumar (Hrsg) (2006): Negotiating Peace in Sri Lanka: Efforts, Failures and Lessons. Colombo: Foundation for Co-Existence.

The Economist (2009): Sri Lanka´s war- To the bitter end, 14. Februar 2009, S.62.

Uyangoda, Jayadeva: New Configurations and Constraints, Frontline, Februar 14-23. 2009.

Anmerkungen

1) Die Truppenstärke wird auf 100.000 Mann geschätzt, bei einer Gesamtbevölkerung von nur 21 Mio. Menschen.

2) Die fliehenden Menschen aus den LTTE Gebieten werden wegen sicherheitsrelevanter Aspekte in so genannten »welfare villages« untergebracht. Die internationalen Hilfsorganisationen bezeichnen diese Sammellager als Internierungslager, weil die Lager mit Stacheldrahtzäunen militärischen Festungen ähneln und durch das Militär kontrolliert werden, in denen die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge massiv eingeschränkt ist. (vgl. Human Rights Watch (2009))

3) Für eine ausführliche Darstellung siehe Liyanage (2008), Rupesinghe (2006) und Nadarajah/Vimalarajah (2008).

4) Vgl. zum Konzept »Responsibility to Protect« Lohmann/Saxer (2007).

Luxshi Vimalarajah ist Diplom-Politikwissenschaftlerin und als Senior Program Coordinator an der Berghof Foundation for Peace Support in Berlin tätig. Von 2003 bis 2007 war sie für das Konflikttransformations- und Friedensförderungsprogramm der Berghof Stiftung in Sri Lanka tätig.

Erdrückende Erblast

Erdrückende Erblast

Schwerer Rückschlag für den Friedensprozess im Süden der Philippinen

von Rainer Werning

Weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit werden auf den Philippinen verschiedene soziale und religiös konnotierte Konflikte ausgetragen. Zeitweise schien es, als ließe sich einer der komplexen und längsten Konflikte – der zwischen der Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF) – einer Regelung zuführen. Doch auch diese Hoffnung wurde enttäuscht.

Der 5. August 2008 hätte ein großartiger Tag in Richtung Frieden sein können, von dem die Bevölkerung in einer der ältesten Konfliktregionen Südostasiens seit Langem träumt. Doch es kam buchstäblich knüppeldicke. Bereits am 27. Juli war unter der Schirmherrschaft Malaysias von Vertretern der philippinischen Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), der gegenwärtig bedeutendsten und größten Organisation des muslimischen Widerstands, das sogenannte MoA-AD (siehe Kasten) ausgehandelt worden. An jenem 5. August, so jedenfalls sah es die Etikette vor, sollte es in einer feierlichen Zeremonie unterzeichnet werden. Die Vertragspartner und hohe geladene ausländische Gäste, unter ihnen die in Manila akkreditierten Botschafter der USA, Australiens und Japans sowie der Sonderemissär der Organisation der Islamischen Konferenz, weilten bereits in der malaysischen Metropole Kuala Lumpur, als der Oberste Gerichtshof der Philippinen im letzten Moment mittels einer einstweiligen Verfügung die offizielle Vertragsunterzeichnung torpedierte. Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang in der Geschichte internationaler Diplomatie. Das Gericht in Manila begründete seinen Last Minute-Akt damit, es müsse prüfen, ob kurzfristig eingereichten Petitionen philippinischer Regionalpolitiker und Geschäftsleute, das MoA-AD verstoße gegen geltendes Recht und die Verfassung, stattzugeben sei. In seinem Urteilsspruch von Mitte Oktober bestätigte das Gericht denn auch diese Auffassung.

Unverzüglich machten sich allseits Wut und Enttäuschung breit. In Kuala Lumpur mussten sich hochrangige Diplomaten nolens volens wie düpierte Deppen vorgekommen sein. Die Verhandlungsführer Manilas schlichen sich kleinlaut vom Parkett. Und der ansonsten stets um Contenance bemühte Chefunterhändler der MILF, Mohagher Iqbal, hatte sichtlich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. „Die philippinische Regierung“, so Iqbals erster Kommentar, „muss sich schämen, sich vor Vertretern der internationalen Gemeinschaft dermaßen blamiert zu haben. Selbst der Gastgeber, die Regierung Malaysias, hat dem MoA-AD vollumfänglich zugestimmt.“

Heftiger Streitpunkt – das MoA-AD

1997 begannen erste Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Vertretern der philippinischen Regierung und der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), die ab 2001 im Sinne bilateraler Friedensverhandlungen aufgewertet wurden. Erst nach mühsamer Verständigung über Sicherheitsaspekte und Fragen von Hilfs- und Rehabilitationsmaßnahmen kam als dritter »Korb« das von beiden Seiten ausgehandelte Memorandum über die Vereinbarung des Landes der Ahnen (Memorandum of Agreement-Ancestral Domain – kurz: MoA-AD) als letzte Vorstufe einer umfassenden friedensvertraglichen Regelung zustande. Kernpunkte des MoA-AD sind: Der muslimischen Bevölkerung in Mindanao, Sulu und Palawan wird das Recht zugestanden, als »Bangsamoro« (wörtlich: Moro-Nation) ihre eigene Identität zu wahren und ihre eigenen Rechte auszuüben, indem sie eine ihren Vorstellungen entsprechende Selbstregierung schafft, die innerhalb ihres Gebietes die dort vorhandenen Ressourcen schützt und nutzt. Diese Selbstregierung trägt den vorläufigen Namen »Bangsamoro Rechtseinheit« (Bangsamoro Juridical Entity – kurz: BJE) und soll mit größerer Autonomie und mehr Befugnissen ausgestattet sein und über ein größeres Territorium verfügen als die bislang lediglich aus fünf Provinzen und einer Stadt bestehenden »Autonomen Region in Muslim Mindanao« (ARMM). Diese entstand Ende der 1980er Jahre und ist wesentlich eine Domäne der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF), von der sich die MILF 1977 abgespalten hatte und der sie vorwarf, mit ihrem am 2. September 1996 unterzeichneten Endgültigen Friedensvertrag mit Manila das Selbstbestimmungsrecht der Moros preisgegeben zu haben. Das MoA-AD enthält in zwei zusätzlichen Anhängen Listen derjenigen Dörfer, die Bestandteil der BJE werden sollen. Außerdem benennt es insgesamt 151 Gemeinden, die außerhalb des avisierten BJE-Territoriums als »Besondere Interventionsgebiete« klassifiziert sind. Gemeint sind damit konfliktträchtige Gebiete, um deren Anliegen sich die Zentralregierung künftig kümmern soll. Die genauen exekutiven, legislativen und judikativen Befugnisse der BJE sowie die Nutzung der territorialen und maritimen Ressourcen sind im Detail erst nach Unterzeichnung des MoA-AD im Rahmen sich daran anschließender Verhandlungen festzulegen. Ein Prozess, an dessen Ende ein (ursprünglich für November 2009 vorgesehener) rechtsverbindlicher Friedensvertrag (Comprehensive Compact) stünde.

R.W.

Im Interesse der MILF?

Wenngleich das MoA-AD lediglich Konsenspunkte zwischen den Vertragspartnern und eine Art Roadmap in Richtung Frieden entwirft, bedeutet es längst keinen abschließenden und rechtsverbindlichen Friedensvertrag. Selbst wenn ein solcher Vertrag unterzeichnet worden und in Kraft getreten ist, müssten immer noch Nicht-Muslime und Angehörigen der indigenen Völker (lumad) im Rahmen der neuen Bangsamoro-Regierung per Plebiszit darüber entscheiden, ob sie einer solchen Verwaltung zustimmen oder sie ablehnen. Schließlich wäre in einer gesonderten Abstimmung möglicherweise eine Verfassungsänderung nötig, die das bestehende präsidiale zugunsten eines parlamentarischen und föderalen Regierungssystems änderte. Danach besäße die Bangsamoro-Regierung auch nicht automatisch die Oberhoheit über jenes Land der Ahnen, auf dem beispielsweise heute internationale Bergwerksgesellschaften agieren oder Bodenschätze aufgrund bestehender Gesetze und Abkommen mit ausländischen Firmen und lokalen (nicht-muslimischen) Großgrundbesitzern abgebaut werden. Der Zentralregierung bliebe theoretisch immer noch die Möglichkeit, im »nationalen Interesse« den »Notstand« auszurufen, um nicht die Kontrolle über Energiequellen wie Erdgas oder Öl zu verlieren. Ob die MILF-Führung ihrem Anliegen näher gekommen ist, wenigstens einen Teil des Grund und Bodens ihrer Ahnen, die bis zu Beginn der US-amerikanischen Kolonialherrschaft (1898-1946) nahezu ganz Mindanao, Sulu und Palawan ihr eigen genannt und besiedelt hatten, zu kontrollieren, ist gegenwärtig nicht eindeutig auszumachen. In einem Interview mit dem Autor hatte der (2003 verstorbene) MILF-Vorsitzende Hashim Salamat kategorisch erklärt: „Ein unabhängiges Bangsamoro ist nicht verhandelbar. Reden und verhandeln lässt sich einzig über dessen genaues Territorium.“

Proteste und Widerstand

Doch es gibt in Manila und auf Mindanao gewichtige Akteure, die partout nicht reden wollen. Erst recht dann nicht, wenn sie befürchten, im Rahmen von Verhandlungen mit Moros auch nur einen Bruchteil ihrer Macht und Pfründe zu verlieren. Für sie ist der »Moro«1 das geblieben, was er für die spanischen Kolonialherren (1521-1898) von Anbeginn war – ein Abschaum in Gestalt von Piraten, Banditen und unzivilisierten Stämmen. Noch immer sitzen vor allem in der Bevölkerung im Norden und zentralen Teil der Philippinen die Ressentiments gegenüber Moros dermaßen tief, dass solche Feindbilder bevorzugt bemüht werden, um von höchst kontroversen innenpolitischen Themen – einschließlich Korruption und Vetternwirtschaft – abzulenken. Von den größeren Städten auf Mindanao hat sich vor allem Zamboanga City, im Südwestzipfel der Insel gelegen, stets als Hochburg antimuslimischer Stimmungen im Allgemeinen und anti-MNLF- beziehungsweise anti-MILF-Sentiments im Besonderen hervorgetan. Zamboanga war stets eine Frontstadt christlicher Siedlerkolonialisten im Kampf gegen die Moros, die die Spanier nie in die Knie zwingen konnten. Dort errichteten sie ein mächtiges Fort und widmeten als einzige Stadt in den Philippinen eine Plaza eigens General John Joseph Pershing. Wegen mehrerer von Pershing mitverantworteter Massaker in Mindanao und vor allem auf der weiter südlich gelegenen Insel Jolo gilt der General in diesem Teil des Archipels als »Schlächter der Moros«. Sein Andenken ehrt mit Verve der in Zamboanga mächtige Lobregat-Clan, dessen Tentakeln in einflussreiche Kreise von Politik und Wirtschaft reichen. Kein Wunder, dass die konservativen Kräfte und extrem reaktionären Hardliner auf Mindanao in Bürgermeister Celso Lobregat ihren ideellen Gesamtfundamentalisten gefunden haben. Offen ruft Lobregat mit Gleichgesinnten dazu auf, notfalls mit bereits bestehenden oder neuen bewaffneten Bürgerwehren gegen eine wie auch immer geartete Bangsamoro-Selbstverwaltung vorzugehen.

Eskalierende Gewalt

Gleichzeitig haben der Inhalt des MoA-AD und dessen einstweilige Aussetzung durch den Obersten Gerichtshof jenen Kräften inner- wie außerhalb der MILF Oberwasser verschafft, denen langwierige Verhandlungen ohnehin suspekt waren und die nunmehr bitter enttäuscht darüber sind, dass trotzdem keine greifbaren Ergebnisse vorliegen. Es gibt Feldkommandeure der Bangsamoro Islamischen Streitkräfte (BIAF), des bewaffneten Arms der MILF, die lieber heute als morgen klare Resultate auf dem Schlachtfeld erzwingen würden. Mehr noch: Viele Moro-Jugendliche sind in einem von Massenarmut und Perspektivlosigkeit gekennzeichneten Umfeld aufgewachsen, in dem sie von frühen Kindesbeinen an nur mit Militarisierung, massiver Präsenz von Schusswaffen und der Kultur von rido (bewaffneten Familienfehden) sozialisiert wurden. Allein das Tragen eines Gewehrs gilt als notwendiger Bestandteil von machismo und als Respekt einflößend. Wird sich für diese Generation absehbar nichts wesentlich ändern, rekrutiert sich aus ihr eine radikalisierte Gruppe neuer Moro-KämpferInnen.

Bereits wenige Tage nach dem diplomatischen Debakel in Kuala Lumpur lieferten sich Verbände der BIAF und Einheiten der regulären philippinischen Streitkräfte (AFP) zunächst Scharmützel, dann offene Gefechte in den Provinzen Nordcotabato und Lanao del Norte. Während in der Hauptstadt Manila die Nationalpolizei in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurde, da man Anschläge der MILF gegen öffentliche Einrichtungen befürchtete, weiteten sich derweil die Kampfhandlungen auf Mindanaos Provinzen Lanao del Sur, Maguindanao, Shariff Kabunsuan und Sarangani weiter aus. Am 21. August sprach das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen bereits von über 220.000 Menschen, die angesichts der Kampfhandlungen in Mindanao auf der Flucht seien. Wenngleich die Sicherheitsvorkehrungen für das eigene Personal erhöht worden seien, erklärte Stephen Anderson, der Philippinen-Beauftragte und Repräsentant des WFP im Lande, sei seine Organisation imstande, die Opfer mit knapp 900 Tonnen Reis zu versorgen. Im Übrigen hoffe er sehr, dass sich die Lage alsbald verbessere.

Propaganda auf Hochtouren

Dies blieb jedoch ein frommer Wunsch, da beide Seiten ihren Waffengang verstärkten und ihre Propaganda von Tag zu Tag schriller wurde. Nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates kündigte Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo in ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Oberkommandierende der Streitkräfte an, „jeden Zoll philippinischen Territoriums“ zu verteidigen. Man könne prüfen, so ließ sie durch ihren Pressesprecher Jesus Dureza im Präsidentenpalast Malacañang verlauten, ob man Unklarheiten im MoA-AD bereinige und darüber mit der MILF in neue Verhandlungen trete. „Man sollte nicht von Krieg sprechen, was keine Option ist“, so Dureza, „sondern über Frieden, was stets unsere Option ist und bleiben wird.“ In der vorliegenden Form jedenfalls könne das MoA-AD aufgrund anhaltend starker Proteste nicht unterzeichnet werden. „Wir stellen uns keinen Krieg vor“, konterte MILF-Chefunterhändler Mohagher Iqbal, „doch wir sind dazu bereit.“ Das MoA-AD ist von beiden Seiten einvernehmlich ausgehandelt und vereinbart worden. Diese Absprache sei, so Iqbal, unabhängig von dem Fiasko in Kuala Lumpur bindend. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Associated Press am 20. August fügte Iqbal kategorisch hinzu, Neuverhandlungen werde es keineswegs geben: „Das wäre so, als öffnete man eine Büchse voller Würmer.“

Harsche Kritik an der Präsidentin

Noch härter gingen kritische JournalistInnen, Menschenrechtsanwälte und Angehörige unterschiedlicher Nichtregierungsorganisationen mit der Regierung – erst recht mit Präsidentin Arroyo – ins Gericht. Am 6. August, einen Tag nach der gescheiterten Unterzeichnung des MoA-AD, schrieb der Kolumnist Neal Cruz in der landesweit auflagenstärksten Tageszeitung Philippine Daily Inquirer, Manilas Motive seien „hinterhältig und niederträchtig“. „Wenn das MoA-AD nicht implementiert wird“, so Cruz, „kann die MILF mit gutem Recht sagen, dass die Regierung in schlechter Absicht handelte, und sie kann notfalls sogar die Unabhängigkeit erklären, da sie über sämtliche Elemente verfügt, die einen Staat auszeichnen: Regierung, Volk, Territorium und internationale Anerkennung.“ „Was soll denn das“, schreibt Cruz weiter, „erst nach einem ausgehandelten Abkommen wolle man Konsultationen abhalten? Solche werden normalerweise vor einem Abkommen durchgeführt. (…) Nach so langwierigen Verhandlungen konnte es der Arroyo-Administration auf einmal nicht schnell genug gehen, obgleich der Text des MoA-AD bis zum Schluss geheim blieb und nur wenige Eingeweihte ihn kannten.“

Tatsächlich hatte Hermogenes Esperon, bis vor Kurzem noch Generalstabschef der Streitkräfte und von der Präsidentin nach heftigen Protesten zu ihrem Friedensberater ernannt, erst Anfang August Kopien des MoA-AD nur ausgewählten Generälen seines Vertrauens, nicht aber Senatoren oder Kongressabgeordneten überreicht. Am 28. Juli hatte Frau Arroyo in ihrer jährlichen Rede an die Nation angedeutet, dass endlich ein Frieden in Mindanao zum Greifen nahe sei. Außerdem hatte die malaysische Regierung, unter deren Schirmherrschaft die Gesprächsrunden zwischen Manila und der MILF über all die Jahre stattgefunden hatten, signalisiert, dass sie ihr Kontingent des außer von Malaysia noch von Libyen, Brunei und Japan gestellten Internationalen Monitoring-Teams (IMT) in Mindanao abziehen würde, wenn der Friedensprozess nicht bald konkrete Gestalt annehme.

Es mehren sich die Stimmen, die der Präsidentin ein waghalsiges Spiel mit dem Feuer vorwerfen – einzig und allein des Machterhalts willen. Sie selbst hatte ihrem Verhandlungsteam grünes Licht gegeben, das am 27. Juli ausgehandelte MoA-AD mit den Initialen zu unterschreiben. Nachdem die feierliche Unterzeichnung des Memorandums am 5. August nicht stattfand, versucht sie seitdem Nachbesserungen zu erreichen beziehungsweise den Schwarzen Peter für die augenblicklich düstere Lage in Mindanao der MILF zuzuschieben. Geriete dort die Situation gänzlich außer Kontrolle, könnte sie laut Verfassung und mit dem Verweis auf die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung sowie die Wahrung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität der Republik der Philippinen das Kriegsrecht ausrufen. Eine andere, weniger martialische Variante, den eigenen Machterhalt zu sichern, könnte darin bestehen, qua Verfassungsänderung anstelle eines präsidialen ein föderales System im Lande zu verankern. Demnach wäre die Beschränkung aufgehoben, dass ein Präsident lediglich eine einmalige Amtsperiode von sechs Jahren wahrnehmen kann. Sobald Frau Arroyo nicht mehr im Amt ist, dürfte sie mit einem Rattenschwanz von Korruptionsvorwürfen und wegen mehrfachen Amtsmissbrauchs konfrontiert werden. Zwei Amtsenthebungsverfahren hat die Lady zwar abwehren können. Was nichts daran änderte, dass sie die seit dem Sturz des Diktators Ferdinand E. Marcos im Februar 1986 mit Abstand unbeliebteste Präsidentin ist. Doch nur zu gern regierte sie als Premierministerin über ihre Ende Juni 2010 endende Amtszeit hinaus weiter.

Ausländische Kalküle, immense Kriegskosten

Schließlich verfolgen ausländische Mächte ihre eigenen Interessen auf der ressourcenreichen Insel Mindanao. Australien und Japan beispielsweise sind dort unter anderem stark im Bergbausektor und in Minengesellschaften engagiert, während sich die USA – die bereits mit Spezialeinheiten im Rahmen der mit Manila orchestrierten »Terrorismusbekämpfung« präsent sind – politische und geostrategische Vorteile erhoffen. Ihre Militärpräsenz vor Ort wäre ein geeignetes Sprungbrett nahe der Straße von Malakka (zwischen Malaysia, Singapur und Indonesien), der bedeutsamsten Seeroute in der Region, über die der Löwenanteil der Öl- und Gasversorgung aus dem Nahen und Mittleren Osten für die Boomökonomien Ost- und Südostasiens erfolgt und durch die in umgekehrter Richtung der Löwenanteil deren Exporte abgewickelt wird. Für US-Militärstrategen und in US-amerikanischen think tanks wie der Asia Foundation in Washington stellten beispielsweise das Kapern und die anschließende Sprengung eines mit Öl- oder Flüssiggas beladenen Großtankers am engsten Punkt der Malakka-Straße eine wirtschaftliche sowie ökologische Katastrophe größten Ausmaßes dar. Auf diese Weise bräche nicht nur der Regionalhandel zusammen; dies hätte unweigerlich auch weitreichende Konsequenzen für die Weltwirtschaft.

KritikerInnen aus linken Gruppierungen und Parteien haben wiederholt auf die US-Karte im Mindanao-Poker hingewiesen. Neben der dortigen Präsenz von GIs hat US-Botschafterin Kristie Kenney – ungewöhnlich für DiplomatInnen ihres Kalibers – gleich mehrfach die Region besucht und dabei auch mit dem MILF-Vorsitzenden Al Haj Murad Ebrahim und anderen hochrangigen Kadern der Organisation konferiert. Außerdem war das vom US-Kongress finanzierte und US-außenpolitische Interessen verfolgende Friedensinstitut (USIP) von 2003 bis 2007 überaus stark in der Region engagiert und führende USIP-MitarbeiterInnen über den Stand der Regierungsverhandlungen mit der MILF genauestens informiert. Kein Wunder, dass Frau Kenney ebenfalls am 5. August in Kuala Lumpur zugegen war, als das MoA-AD zeremoniell unterzeichnet werden sollte.

Das philippinische Verteidigungsministerium schätzt derweil die Kriegskosten im Süden allein von 1970 bis 1996 auf 73 Milliarden Peso (zirka 1,2 Milliarden Euro). Diese Schätzung wird im philippinischen Human Development Report 2005 geteilt, der konstatierte, dass der langwierige Konflikt in Mindanao von 1970 bis zum Jahr 2001 jährlich zwischen fünf und 7,5 Milliarden Peso verschlungen habe. Die Weltbank gelangte 2002 zu dem Ergebnis, dass sich die Kosten eines nicht endenden Konflikts in der Region auf 30 Millionen Peso täglich oder 10 Milliarden Peso pro Jahr summierten. All das berücksichtigt noch nicht die zusätzlich anfallenden Kosten bei der Bekämpfung der kommunistischen Guerilla der Neuen Volksarmee (NPA) in Mindanao. Von den frühen 1970er Jahren bis 1996 forderte der Krieg in den Südphilippinen über 120.000 Menschenleben – davon 50 Prozent MNLF-KämpferInnen, 30 Prozent Regierungssoldaten und 20 Prozent Zivilisten. Was die Entwurzelung von Menschen und interne Flüchtlinge betrifft, errechnete der genannte Philippine Human Development Report 2005, dass im Zeitraum von 2000 bis 2004 insgesamt 1,135 Millionen Menschen für kürzere oder längere Zeit infolge bewaffneter Feindseligkeiten in Mindanao vertrieben worden und über Nacht obdachlos geworden seien. In all diesen Zahlen sind nicht eingerechnet die der Region vorenthaltenen Investitionen, der Verlust und die Zerstörung von Eigentum und weitere nicht quantifizierbare, gleichwohl bedeutsame »Kollateralschäden« des Krieges wie Hass, Vorurteile, Rache(gefühle) und Diskriminierung.

Anmerkungen

1) Als »Moros« – in Anlehnung an die »Mohren«, »Mauren« Nordafrikas – bezeichneten die spanischen Kolonialherren abschätzig die muslimische Bevölkerung im Süden der später von ihnen »Philippinen« getauften Inseln. Vor Ankunft der Spanier waren u.a. die Sultanate von Sulu und Maguindanao souveräne Gemeinwesen mit eigenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Ende der 1960er Jahre maß die damalige Führung der MNLF dem Begriff »Moro« eine positive Bedeutung bei und führt ihn deshalb bewusst in ihrem Organisationsnamen.

Dr. Rainer Werning ist Politologe und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien.

Diktatorendämmerung und andere Sicherheitsrisiken

Diktatorendämmerung und andere Sicherheitsrisiken

Im Jahr des Hasen soll in Südostasien vieles anders werden – vielleicht

von Rainer Werning

Widerführe abgehalfterten und noch amtierenden Diktatoren in Südostasien das gleiche Schicksal wie ihrem chilenischen Amtskollegen Augusto Ugarte Pinochet, dürften sie fortan unbedachte Auslandsreisen in den Westen meiden. Die Vorstellung, beim medizinischen Checkup oder Shopping kurzerhand wegen begangener Schandtaten und Menschenrechtsverletzungen zumindest mit einer Anklageschrift konfrontiert zu werden, mag die Arroganz der Macht schrecken. Den zahlreichen Opfern und ihren Hinterbliebenen böte es wenigstens die Genugtuung, dass ihre Peiniger nicht gänzlich unbehelligt ihren Lebensabend – überdies mit vormals Zusammengerafftem – genießen. Natürlich wünschte man sich jenseits falschverstandener Immunität, dass darüber hinaus auch tatsächlich Gerichtsverfahren in Ländern eröffnet würden, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ernst genommen und nicht einer letztlich lauwarmen politischen Justiz untergeordnet werden.

„Wenn die Militärs früher als die Vollstrecker der staatlichen Autorität gesehen wurden,“ hieß es in der ZEIT (12.11.98), „dann wollen sie jetzt als Beschützer der Menschen gesehen werden. Die Wirtschaftskrise und die daraus entstehende Unruhe haben bereits Exgeneräle als Opfer verlangt: Präsident Suharto von Indonesien und Premierminister Chavalit Yongchaiyudh in Thailand.“ Als Beschützer der Menschen? Wohl kaum; es geht nach wie vor um den Machterhalt des Militärs, wenngleich unter veränderten Bedingungen. Selbst das unzeremonielle Abtreten Suhartos und seines Kollegen (und früheren Generalstabschefs) in Bangkok ist weit davon entfernt, die Zitadellen militärischer Macht zu erschüttern, geschweige denn zu schleifen. Selbst »zivile« Staatsmänner in der Region sind nicht gegen Begehrlichkeiten der Militärs gefeit oder praktizieren selber ungeschminkt einen diktatorischen Umgangsstil, den man eigentlich als Domäne der Militärs gewähnt hatte. Sind auch einige südostasiatische Diktatoren und Generäle im vergangenen Jahr von der Bildfläche verschwunden – kurzschlüssig wäre es, daraus bereits die umfassende Zivilisierung anstelle einer Generalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse abzuleiten.

Metamorphosen der Macht

Suhartos geordneter Rückzug aus der Politik Ende Mai 1998 und die hurtige Kür seines langjährigen Zöglings, des erst zwei Monate zuvor zum Vize aufgerückten Bacharuddin Jusuf Habibie, zum neuen Präsidenten sind – beileibe nicht Indonesien-spezifisch – Ausdruck des schillernden Prozesses von Machtmetamorphosen. Deren Kern wiederum bildet die bemerkenswerte Fähigkeit zu Kollaboration und Kooptation. Seit der Staatsgründung gelten in dem Inselstaat die »Abri« (die Streitkräfte) als nationbildende und identitätstiftende Institution, der Suharto nach seinem gewaltsamen Machtantritt Mitte der sechziger Jahre überdies die Doppelfunktion (dwi fungsi) zuwies, neben der Abwehr äußerer Gefahren im Innern sozial- und ordnungspolitisch zu wirken. Heute gibt es in Indonesien keine nennenswerte Institution oder Organisation, in der nicht Militärs direkt an den Schalthebeln der Macht sitzen oder diese zumindest im Hintergrund bedienen. In Krisenzeiten, d.h. vor allem seit Ausbruch der tiefen regionalen Wirtschafts- und Finanzprobleme im Sommer 1997, sind eben diese Militärs nolens volens auf die Zusammenarbeit mit dem wenig geschätzten IWF eingeschwenkt und tolerieren gegenüber der (legalen) Opposition das nunmehr von Habibie betriebene Geschäft der Kooptation vormals als zu kritisch eingestufter Persönlichkeiten. Diese Form von Herrschaft funktioniert, solange die Opposition ihrerseits mehr zur Lobbyarbeit innerhalb des Systems denn zur Sprengung desselben neigt.

Im Nachbarland Malaysia zeigte das Fell des »dynamischen Tigers« auf einmal hässliche Flecken, als Premier Mahathir Mohamad seinen Vize und Finanzminister Anwar Ibrahim unter anderem aufgrund vermeintlichen Verstosses gegen das ominöse ISA (Internal Security Law) und anderer Delikte in den politischen Orkus schickte. Bis heute ist das – noch unter britischer Ägide während der sogenannten »Emergency« (Notstandsphase) von 1948 bis 1960 gegen die Kommunistische Partei Malayas geschaffene – ISA ein Instrument, um missliebige Regimegegner und Oppositionelle kaltzustellen. Eine Praxis, derer sich im Übrigen auch der Stadtstaat Singapur bedient.

Als im April 1998 Saloth Sar alias Pol Pot das Zeitliche segnete, bedeutete auch das keineswegs das Ende diktatorischer Figuren in Kambodscha. Der jetzige (vormals zweite) Ministerpräsident und ehemalige Rote Khmer-Kommandeur Hun Sen hält die Fäden der Macht nach wie vor in seiner Hand. Er tut dies und kann dies tun, weil auch er die Kunst der Kollaboration und Kooptation vorzüglich für eigene Zwecke nutzte und trotz wilder Attacken gegen die Roten Khmer zig ihrer vormaligen Führer in sein Machtgefüge integrierte. In Phnom Penh offenbarte die »Opposition« ebenfalls mehr Regimetreue als Mut zum Widerstand. Schließlich sind Lavieren, Taktieren und Kollaborieren Markenzeichen des kambodschanischen Königshauses. Mal Freund, mal Feind der Roten Khmer haben König Sihanouk und Prinz Ranariddh wiederholt das zum Scheitern verurteilte Spiel getrieben, über ihre eigenen Schatten zu springen. Herausgekommen ist dabei ein schnödes Machtarrangement zwischen allen Beteiligten. Jüngster Beweis: Ende Dezember stellten sich zwar die letzten Führungskader der Roten Khmer Khieu Samphan und Nuon Chea dem Regime in Phnom Penh, um allerdings schon kurz darauf in den Westen des Landes geschafft zu werden. Das hatte für die beiden den Vorteil, sich erneut dem Zugriff der (auch internationalen) Gerichtsbarkeit entzogen und gleichzeitig in die Obhut Ieng Sarys begeben zu haben. Der Ex-Außenminister der Roten Khmer hatte bereits früher einen Deal mit Hun Sen geschlossen und war im Gegenzug zu Phnom Penhs Politboss in Westkambodscha aufgestiegen. Selbst als sich Pol Pots Intimus und der letzte hochrangige Rote Khmer-Kader Ta Mok im März den Behörden in Phnom Penh stellte und im Ausland erneut der Ruf laut wurde, die Roten Khmer und ihre ehemaligen Führungskader vor einem internationalen Tribunal zur Rechenschaft zu ziehen, winkte die Hun Sen-Regierung ab.

Im benachbarten Thailand ist mit Chuan Leepkai nicht nur ein Zivilist Premierminister, sondern auch gleichzeitig in Personalunion Chef des Verteidigungsressorts. Vor wenigen Jahren wäre das schier undenkbar gewesen: Mit 17 Coups seit Einführung der konstitutionellen Monarchie im Jahre 1932 hat sich das thailändische Militär als mit Abstand putschfreudigste Truppe in ganz Südostasien erwiesen und ist noch 1992 mit brachialer Gewalt gegen regierungskritische Demonstranten vorgegangen. Ob das Militär sich forthin damit begnügt, die Kasernen als Dauerdomizil zu betrachten, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist es domestizierter als ihre Haudegen-Kollegen im westlichen Nachbarland Myanmar (Birma), deren bemerkenswerte Lernresistenz sich mit einer eigentümlichen Xenophobie verbindet.

Machos, Militärs & Mythen

Die Philippinen bieten die wahrscheinlich größte Bandbreite von ziviler und militärischer Kollaboration und Kooptation, dort haben die Metamorphosen der Macht tragikomische Züge angenommen. Ferdinand E. Marcos schwang sich zum ersten Despoten auf den Inseln auf, regierte von 1972 bis 1981 qua Kriegsrecht und wertete das Militär in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß auf. Einmal aus der Flasche gelassen ließ sich dieser böse Geist nicht mehr darin zurück bannen. Das politisierte Militär schickte sich schrittweise an, auch die Landespolitik zu bestimmen. Wurden beispielsweise in Südkorea solche Schurken wie die Ex-Präsidenten und Ex-Generäle Chun Doo-Hwan und Roh Tae-Woo wenigstens vor den Kadi zitiert, für die blutige Niederschlagung des Volkswiderstandes in der südwestlichen Stadt Kwangju im Mai 1980 verantwortlich gemacht und mit hohen Haftstrafen belegt, zog in Manila Ex-General Fidel V. Ramos 1992 in den Präsidentenpalast ein, um erst im Sommer 1998 das Amt an den früheren Schauspieler Joseph Estrada zu übergeben.

Zusammen mit dem damaligen Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile zählte Ramos zu den Korsettstangen des Marcos-Regimes. Er war einst Chef der wegen notorischer Menschenrechtsverletzungen im In- wie Ausland geächteten paramilitärischen PC/INP (Philippine Constabulary/Integrated National Police), und sagte sich mit Enrile erst von seinem Gönner los, als statt seiner der Marcos-Cousin Fabian C. Ver den Posten des Generalstabschefs zugeschanzt bekam und sich im Februar 1986 klar abzeichnete, dass die USA nicht länger mehr in Marcos ihren treuen Gewährsmann sahen und ihn fallenließen. So stellte sich eben dieser Ramos an die Spitze eines »Volksaufstandes«, gerierte sich als Königinmacher indem er nunmehr sein Gewicht für die neue Präsidentin Corazon Aquino in die Waagschale warf, avancierte erst zu ihrem Generalstabschef, dann zum Verteidigungsminister und schließlich zum von Aquino höchstpersönlich abgesegneten, mithin aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten im Mai 1992. Als langjährig in psychologischer Kriegführung erfahrener Offizier, ausgebildet an der US-amerikanischen Militärakademie Westpoint und im Korea- und Vietnamkrieg dekoriert, galt Ramos' Hauptaugenmerk in der Nach-Marcos-Ära der Reinwaschung des Militärs von den Schandtaten der Vergangenheit. Das glückte nicht zuletzt deshalb, weil er ein halbes Dutzend Putschversuche (darunter auch operettenhaft inszenierte) gegen Aquino abwehrte.

Heute sieht sich Ramos als »elder statesman« und Handelsreisender, der auf Auslandsreisen für Investitionen wirbt. Unbehelligt wie er agiert nach wie vor die umtriebige Marcos-Witwe Imelda. Einen Wust von Gerichtsverfahren hat sie ohne Blessuren überstanden, und noch ausstehende Verfahren dürfte der Oberste Gerichtshof des Landes kaum gegen sie entscheiden. Hier geht es um alte und neue Seilschaften und um Geld. Viel Geld sogar: Noch immer ist nämlich die genaue Höhe der einst zusammengerafften Potentatengelder unbekannt und die Verwendung der bereits aus der Schweiz nach Manila transferierten – und dort auf einem Sperrkonto deponierten – knapp 600 Mio. US-Dollar aus dem Marcos-Vermögen ungeklärt. Frau Marcos' Hang zur theatralischen Selbstinszenierung ist ausgeprägt wie eh und je. Seit Ende Juni 1998 sind ihre Tochter Imee als Kongressabgeordnete und ihr Sohn Ferdinand (»Bongbong«) Marcos jr. als Gouverneur der im Norden der Hauptinsel Luzon gelegenen Provinz Ilocos Norte, der Heimat der Marcoses, vereidigt worden.

Alte und neue Seilschaften

„Präsident Joseph Estradas zweifelhaftes Bekenntnis zur Demokratie hat damit zu tun,“ erregte sich der bekannte philippinische Kolumnist Amando Doronila im Philippine Daily Inquirer (26.2.99), „dass er zu den Marcos-Loyalisten zählte und während des großen politischen Umbruchs im Februar 1986, als dessen Diktatur jäh endete, marginalisiert wurde.“ Bissig setzte der ansonsten besonnene, keineswegs linkslastige Doronila noch eins drauf: „Mr. Estrada ist außerdem geneigt, den faschistischen Apparat des Marcos-Regime wieder flott zu machen – unter anderem mit der Wiedereinführung von Inhaftierungen ohne richterlichen Haftbefehl.“

Knapp ein Jahr im Amt hat der anfänglich überaus populäre Schauspieler-Präsident demonstriert, dass flotte Sprüche und Parolen allein noch keine Neuerung in einem Land bewirken, in dem nicht nur die Reichen, sondern zunehmend auch Personen aus der vor 13 Jahren gestürzten Marcos-Diktatur wieder den Ton angeben und bewaffnete Konflikte eskalieren. Während seiner Inauguralansprache als frischgekürter Präsident hatte Estrada am 30. Juni 1998 in Manilas Rizal-Park verkündet, er werde den Armen und Marginalisierten eine Stimme verleihen, die Verbesserung ihrer Lebenslage zum Eckpfeiler seines Regierungsprogramms machen, die allgegenwärtige Korruption mit Stumpf und Stiel ausrotten und die Friedenspolitik seines Vorgängers fortsetzen.

Die Mixtur aus Politik und Entertainment ist seitdem ein Markenzeichen des präsidialen Amtsstils. Um das Saubermann- und Kumpelimage zu stärken, war sich »Erap« (so der Spitzname Estradas) nicht zu schade, auch in die Niederungen des Lebens einzutauchen und sich vom Tross ergebener Medienvertreter bei der Müllbeseitigung und Toilettenreinigung in Slums ablichten zu lassen. Das kam als Unterhaltungseinlage gut an und schürte überdies den Mythos, Estrada sei politisch unbelastet bzw. tatsächlich imstande, eine saubere Politik zu betreiben. Doch entgegen dieser Mythenbildung seiner Machtstrategen (darunter auch vormalige Linke) war Estrada als langjähriger Bürgermeister von San Juan, einem Stadtbezirk in Manila, Teil der politischen und administrativen Infrastruktur der Marcos-Diktatur. Als diese im Februar 1986 nicht zuletzt aufgrund der aufgekündigten Gefolgschaft seitens relevanter Kreise des Militärs endgültig zusammenbrach, stand Estrada abseits und profitierte dennoch durch diesen Umsturz. Unter Ramos stieg er zum obersten Verbrechensbekämpfer im Lande und Vizepräsidenten auf.

… dann kriegen sie halt Krieg!“

Schwierigkeiten erwachsen der Estrada-Regierung auf sicherheits- und außenpolitischem Gebiet. Die Friedenspolitik auf der Südinsel Mindanao wird für den Präsidenten zum Lackmustest seiner Administration. Zwar konnte dort Anfang September 1996 durch ein Friedensabkommen zwischen der vormals größten muslimischen Widerstandsorganisation, der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF), und dem Estrada-Vorgänger Ramos ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg beendet werden. Doch dieser Friede blieb brüchig und erwies sich zunehmend als Diktatfrieden, den jetzt die Moro Islamische Befreiungsfront (MILF) vehement bekämpft. Die MILF, eine Abspaltung von der MNLF seit Ende der 70er Jahre, hat nach dem Schulterschluss von MNLF-Chef Nur Misuari mit Manila dessen „Kapitulation und Ausverkauf der Moro-Interessen“ gegeißelt und statt Autonomie ihre alte Forderung nach Sezession – also Loslösung aus dem philippinischen Staatsverband und Gründung eines unabhängigen Staates – erneut erhoben. Für insgesamt 46 über ganz Mindanao verstreute Militärcamps beansprucht die MILF Hoheitsrechte.

Diese Forderung nach extraterritorialem Sonderstatus konnte die MILF stellen, da scharenweise desillusionierte Ex-MNLFler zu ihr stießen. Nach jahrelangem Kampf im Untergrund hatten sie sich zumindest eine finanziell abgesicherte Perspektive erhofft. Nicht nur blieb diese Erwartung unerfüllt; in der gesamten Region fand der von den einstigen Kontrahenten vollmundig versprochene wirtschaftliche Aufschwung nicht statt, und bereits von den Nachbarn Indonesien und Malaysia zugesagte Investitionen wurden über Nacht gestoppt, nicht zuletzt infolge der schweren Finanzkrise in diesen Ländern selbst.

Estrada reagierte auf die Sezessionsforderung indem er unverzüglich die in Mindanao stationierten Militärverbände aufstocken ließ. Er torpedierte die laufenden Waffenstillstandsverhandlungen und verkündete in Rambo-Manier, „wenn sie dort Krieg wollen, so sollen sie ihn halt kriegen.“ Und genau das geschah: Im Januar und Februar kam es zum offenen militärischen Showdown zwischen MILF-Einheiten und Regierungstruppen, die von der Luftwaffe unterstützt wurden. Vor allem in den Provinzen Maguindanao und North Cotabato kam es zur Massenflucht der Zivilbevölkerung. 107.000 Menschen, so hieß es offiziell in der fernen Hauptstadt Manila, seien infolge der erneut ausgebrochenen Kampfhandlungen über Nacht interne Flüchtlinge geworden.

Als der Präsident auch noch in schnoddrig-arroganter Manier den an Kairos angesehener Al Azhar-Universität ausgebildeten MILF-Vorsitzenden Hashim Salamat als Kriminellen abkanzelte und die Moros insgesamt verächtlich herabsetzte, riss das alte Wunden auf und brüskierte auch den um Ausgleich bemühten MNLF-Chef Misuari. Ein von Manilas Mindanao-Sonderbeauftragtem Robert Aventajado hinter den Kulissen eingefädelter Dialog mit der MILF-Führung ließ kurz die Hoffnung keimen, es könne doch noch ein Zusammentreffen zwischen Estrada und Salamat Ende Februar arrangiert werden. Doch dieses Treffen platzte weil beide Seiten sich nicht über Sicherheitsbelange verständigen konnten. Estradas mangelnde Sensibilität zeigte sich nicht nur darin, dass er während eines kurzfristig angesetzten Mindanao-Besuchs allen Ernstes glaubte, den MILF-Vorsitzenden auf seine Präsidentenjacht beordern zu können. Der korpulente Präsident erschien zudem ausgerechnet in Kampfuniform. Die Moros sahen sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass Manila kein Gespür für ihre Belange hat, sich vielmehr als Kolonialherr aufführt.

US-Präsenz durch die Hintertür?

Estrada wäre nicht Estrada, wenn er nicht auch noch auf einen anderen »Sieg« setzen würde – darauf, dass das seit Januar 1998 avisierte sogenannte Visiting Forces Agreement (VFA) alsbald vom philippinischen Senat verabschiedet und somit die Bereitschaft der USA erhöht wird, dem Land bei der Bewältigung interner und sicherheitspolitischer Probleme behilflich zu sein. Letzteres beträfe vor allem die Auseindersetzung um die im Südchinesichen Meer gelegene Spratly-Inselgruppe, auf die neben anderen südostasiatischen Ländern auch die Philippinen und die VR China (Teil-)Ansprüche erheben und um die es in den vergangenen Jahren wiederholt zu politisch-diplomatischen Missstimmungen in der Region gekommen ist.

Estradas Naivität hinsichtlich Inhalt und Bestimmungen des VFA, das den USA die Nutzung von landesweit 22 Häfen gestattet und ihren Truppen extraterritoriale Rechte und Immunität vor philippinischer Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit garantiert, war selbst seinen außen- und sicherheitspolitischen Beratern peinlich. Doch Schadensbegrenzung ist nur möglich, wenn sich »Erap« auch an die von ihnen verfaßten Manuskripte hält. Wörtlich hatte der Präsident gesagt: „Es ist doch gut für uns, einen Verbündeten, einen Supermacht-Partner zu haben; so wird ja unsere Sicherheit garantiert.“ Sobald der Senat das VFA gebilligt habe, so Estrada weiter, würde „die US-Regierung möglicherweise zustimmen, (uns) später militärischen Beistand zu leisten.“

Nicht genug, dass der philippinische Senat erst am 16. September 1991 der Verlängerung des ursprünglichen Stützpunktabkommens aus dem Jahre 1947 (damals als Freundschafts-, Kooperations- und Sicherheitsvertrag bezeichnet) seine Zustimmung verweigert hatte, was dazu führte, dass im Herbst 1992 die letzten GIs aus den vormals größten außerhalb Nordamerikas befindlichen Militärstützpunkten Subic Naval Base und Clark Air Field (neben Basen in Thailand die strategisch bedeutsamsten Brückenköpfe während des Vietnamkrieges) abgezogen wurden. Estrada hatte offensichtlich ebenfalls vergessen, dass sein Land im Sinne seines Sicherheitskalküls bereits seit 1951 durch den noch immer existierenden Mutual Defense Treaty »geschützt« ist. Und selbst dieser »Gegenseitige Verteidigungsvertrag« sah zu keiner Zeit eine US-amerikanische Parteinahme in Landdisputen und Gebietsansprüchen vor, in die die Philippinen verwickelt waren und noch sind: Der bis in die siebziger Jahre (zeitweilig vehement) angemeldete Anspruch Manilas auf das ostmalaysische Sabah ebenso wie der heutige Spratly-Disput wurde und ist seitens der USA kein Thema. Im Falle Sabahs galt die strikte Politik, keine wie auch immer geartete Grenzänderung innerhalb des seit 1967 bestehenden Regionalbündnisses ASEAN (Vereinigung südostasiatischer Nationen) zu dulden, da dies zentrifugalen Kräften in solchen Mitgliedsstaaten wie Indonesien, Malaysia und Thailand Auftrieb gegeben und mithin die regionale Sicherheitspolitik gefährdet hätte. Und im Falle der Spartlys sind den USA die normalen Beziehungen zur VR China wichtiger als die Parteinahme für eine – heute vergleichsweise unbedeutende – Ex-Kolonie (die Philippinen).

In dem im November 1998 vom Pentagon veröffentlichten 68-seitigen Report »The United States Security Strategy for the East Asia-Pacific Region« heißt es dazu: „Die Vereinigten Staaten und China teilen viele globale und regionale Interessen. (…) beide haben ein Interesse daran, dass die regionale Stabilität im Interesse der fortgesetzten wirtschaftlichen Entwicklung Asiens erhalten bleibt. … Wir (die USA und die VR China; R.W.) kooperieren, wenn es darum geht, vielfältigen nicht-konventionellen Bedrohungen der Sicherheit zu begegnen.“ (S. 30/31) Die jährlichen bilateralen Verteidigungsgespräche auf höchster Ebene, die Unterzeichnung des gemeinsamen Military Maritime Consultative Agreement am 19. Januar 1998 und Washingtons löbliche Anerkennung des chinesischen Verteidigungs-Weissbuchs im August 1998 thematisierten nicht einmal den Spratly-Disput.

Bleibt letztlich die innenpolitische Bedeutung des VFA, das von zahlreichen gesellschaftlichen Verbänden, Nicht-Regierungs-Organisationen, Frauengruppen und linken Parteien und selbst von der mächtigen Katholischen Bischofskonferenz der Philippinen bereits am 13. Juli 1998 in einer Pastoralen Erklärung kritisiert wurde. Hauptpunkte dieser Kritik: Das VFA verletzte die Verfassung aus dem Jahre 1987, die ein Nukearwaffenverbot vorschreibt und die Lagerung solcher Waffen verbietet. Waffen, die nach Inkraftreten des VFA höchstwahrscheinlich an Bord anlandender US-Kriegsschiffe und -Kampfflugzeuge geführt würden, ohne dass Manila darüber vorab auch nur informiert oder in Kenntnis gesetzt werden müsste. Der Nationale Vorsitzende der seit Jahren rührigen NuclearFree Philippines Coalition, Roland G. Simbulan, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Pentagon konkrete Pläne habe, in General Santos City und in der Sarangani-Bucht (auf Mindanao) US-Kriegsmaterial zu lagern, wo bereits eine entsprechende Hafen- und Flughafenerweiterung mit finanzieller Unterstützung der USAID (US-Behörde für internationale Entwicklung) durchgeführt worden ist. Des weiteren wird die Ausbreitung von Prostitution und Kindesmissbrauch beklagt.

Die einseitige quasi-diplomatische Immunität für die GIs wird ergänzt durch die Manila einseitig abverlangte Ratifizierungsprozedur. Da es sich bei dem VFA um ein Abkommen und keinen Vertrag handelt, wird es, selbst wenn vom philippinischen Senat gebilligt, von der anderen Seite ihrerseits nicht dem US-Senat zur Ratifizierung vorgelegt. Die philippinische Verfassung sieht indes ein Reziprozitätsprinzip vor, wonach der Ratifizierungsprozess auf beiden Seiten dem gleichen Prozedere entsprechen soll bevor irgendeine ausländische Militärpräsenz auf philippinischem Territorium »gestattet« ist. In dem zitierten Pentagon-Bericht heißt es dazu vage: „Trotz andauernder Bedenken von einigen in den Philippinen (by some in the Philippines), die Vereinigten Staaten beabsichtigten dort neuerlich ein militärisches Standbein zu haben, ist die Ära der US-Basen vorbei. Wir streben die Entwicklung der für die Philippinen in Umfang und Tempo erträglichen Verteidigungsbeziehung an.“ (S. 29)

Die BefürworterInnen des VFA verweisen neben dem von Präsident Estrada bemühten Argument auf die mögliche Eindämmung interner Konflikte, die das Abkommen durch verstärkte Anbindung an die USA zuließe. Im Klartext: Sollte beispielsweise auf Mindanao die »Subversion« zunehmen oder Sezessionsforderungen die territoriale Souveränität der Republik der Philippinen bedrohen, könnten nach ihrer Meinung dann auch US-amerikanische Kontingente in Kampfhandlungen einbezogen werden. Und gerade auf Mindanao gibt es gewichtige Stimmen und einflussreiche Kreise von Politikern, Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten, die just für diese Eventualität ganz offen votieren. Innerphilippinische Konfliktregelung mittels US-Truppen? Gänzlich abwegig ist diese Vorstellung nicht: Nachdem die spanischen Kolonialisten 1898 endgültig die Philippinen räumen mussten, eine kurzlebige Republik der Filipinos bestand und die Inseln dann endgültig mit dem Pariser Friedensvertrag im Dezember 1898 von den USA für 20 Mio. Dollar erkungelt wurden, begann vor genau 100 Jahren (Anfang Februar 1899) der Philippinisch-Amerikanische Krieg und damit das größte Kolonialmassaker um die Jahrhundertwende. Offiziell endete dieser Krieg 1901, doch in einigen Regionen Mindanaos wurde er bis 1916 erbittert fortgesetzt.

Dr. Rainer Werning ist Herausgeber der Schriftenreihe des Forschungsinstituts Dritte Welt/Industrieländer (FDI), Geschäftsführer der Freiburger Stiftung für Kinder und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare.

Der indo-pakistanische Konflikt und der innere Kaschmirkrieg

Der indo-pakistanische Konflikt und der innere Kaschmirkrieg

von Boris Wilke

Mit insgesamt zwanzig nach 1945 geführten Kriegen zählt Südasien zu den am stärksten kriegsbetroffenen Regionen der Welt. Lediglich der Vordere- und Mittlere Orient weist als vergleichbare Region eine deutlich höhere Kriegsbelastung auf 1. Sieht man einmal vom Inselstaat Malediven und dem kleinen Königreich Bhutan ab, dann sind nach dem Zweiten Weltkrieg mit Indien (12 Kriege), Pakistan (6 Kriege), Bangladesch, Sri Lanka und Nepal (jeweils 2 Kriege) sowie Myanmar/Birma (Krieg seit 1948) alle südasiatischen Staaten an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen.

Eine Differenzierung nach Kriegstypen zeigt, daß die zwischenstaatlichen Konflikte mit insgesamt sieben Kriegen relativ zahlreich sind. Bei diesen Kriegen standen meist strittige Grenzterritorien im Vordergrund der Auseinandersetzungen. Bei den innerstaatlichen Kriegen dominieren eindeutig die Autonomie- und Sezessionskriege. Im Gegensatz zum weltweiten Trend von untergeordneter Bedeutung sind mit insgesamt vier Kriegen die Anti-Regime-Kriege, bei denen um den Sturz der Regierung gekämpft wird, der territoriale Erhalt des Staatsverbandes aber nicht zur Diskussion steht. Daß die weit überwiegende Mehrzahl der Kriege um den Erhalt oder die Veränderung von Staatsgrenzen geführt wurde, deutet darauf hin, daß der Prozeß der nachholenden Konsolidierung vorausgesetzter Staatlichkeit in Südasien insgesamt deutlich weniger weit vorangeschritten ist als in anderen kriegsbetroffenen Regionen der Welt, wie beispielsweise in Südostasien oder Lateinamerika.

Der Artikel zeigt am Beispiel des indo-pakistanischen Konfliktes und des innerstaatlichen Krieges im indischen Teil Kaschmirs einige ursächliche Zusammenhänge auf, die der Gewalthäufung und der Dominanz territorialer Streitfragen zugrunde liegen2.

Indien und Pakistan befinden sich seit der Gewährung der staatlichen Unabhängigkeit durch die britische Kolonialmacht am 15. August 1947 in einem latenten bis virulenten Kriegszustand (vgl. Ganguly 1986; Lamb 1991; Weidemann 1996). Fünfmal ist der Konflikt zwischen den beiden Nachfolgestaaten des britischen Raj bisher kriegerisch eskaliert: unmittelbar nach Ende der Kolonialherrschaft im ersten Kaschmirkrieg der Jahre 1947 und 1948, im Rann-von-Kutch-Krieg und im zweiten Kaschmirkrieg 1965, im Bangladesch-Krieg 1971 und in der kriegerischen Konfrontation der beiden Staaten am Siachengletscher der Jahre 1984 bis 1989 (vgl. Franke / te Heesen 1991).

Der zentrale Inhalt des Gegensatzes, der den Kriegen zwischen Indien und Pakistan unterliegt, ist das antagonistische Verhältnis der Legitimation politischer Herrschaft beider Staaten. Ihr Fundament wurde mit der unter britischer Kolonialherrschaft erfolgten Transformation der politischen Herrschaftsverhältnisse und symbolischen Ordnung gelegt. Am Vorabend der Dekolonisation vertraten die beiden wichtigsten Flügel der indischen Unabhängigkeitsbewegung auf der Grundlage inkongruenter Weltbilder einander widersprechende Konzepte politischer Herrschaft. Die Mehrheit der im »Indian National Congress«, der späteren Regierungspartei Indiens, vereinigten Unabhängigkeitsbewegung vertrat ein eher säkular-„staatsnationalistisches«3 Herrschafts- und Legitimationsmodell, das sie in einem das gesamte Britisch-Indien umfassenden Staatswesen verwirklichen wollte. Demgegenüber verfolgte die »Muslimliga« das Ziel der Errichtung der Islamischen Republik Pakistan als Heimstatt aller Muslime des Subkontinents. Begründet wurde diese Forderung durch die »kulturnationalistische« Zwei-Nationen-Theorie, derzufolge indische Muslime, die ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, und die Mehrheitsbevölkerung der Hindus zwei separate Zivilisationen verkörperten, deren staatliche Integration unweigerlich zur Majorisierung der einen durch die andere führe.

Mit diesem ideologischen und machtpolitischen Konflikt war das spannungsreiche Verhältnis der beiden Nachfolgestaaten des britischen Raj aber nicht gleichsam besiegelt. Denn nach der zwischen der britischen Kolonialmacht, dem »Indian National Congress« und der »Muslimliga« vereinbarten Prozedur sollte der Konflikt mit der Teilung Britisch-Indiens gelöst werden, wobei mehrheitlich muslimische Provinzen oder Distrikte Pakistan zugesprochen und das übrige direkt regierte Territorium Bestandteil der Indischen Union werden sollte. Zwar entsprach der Teilungsbeschluß eher den Vorstellungen der »Muslimliga« als denen des »Indian National Congress«, doch hatte die im August 1947 vollzogene Teilung des Subkontinents auch Kompromißcharakter.

Als entscheidend für die spätere Konfrontation und die Vielzahl der Kriege erwies sich die territoriale Streitfrage um das im äußersten Nordwesten des Subkontinents gelegene Fürstentum Kaschmir, das unter britischem Protektorat stand. Wie die anderen 565 nur indirekt durch Großbritannien regierten Fürstenstaaten sollte Kaschmir im August 1947 seinen Beitritt zu einem der beiden Nachfolgestaaten des (direkt regierten) Britisch-Indien erklären. Sowohl Indien als auch Pakistan sahen die Eingliederung Kaschmirs in ihren Staatsverband in der Logik ihrer sich antagonistisch zueinander verhaltenden staatlichen Legitimationen als Überlebensfrage an. Für Indien wurde Kaschmir als – bis zum heutigen Tage – einziger Unionsstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit zum Testfall der Tragfähigkeit eines staatsnationalistischen Konzeptes politischer Ordnung, und auch für Pakistan war Kaschmir ein integraler Bestandteil seiner Staatsideologie, der Zwei-Nationen-Theorie.

Der historische Zufall wollte es nun, daß in Kaschmir ein hinduistischer Maharadscha über eine achtzigprozentige muslimische Bevölkerungsmehrheit herrschte. Dieser autokratische Regent hatte mit dem Sprung in die politische Moderne, den ein Anschluß an Pakistan oder an Indien bedeutet hätte, nicht viel zu gewinnen und versuchte deshalb, die staatliche Unabhängigkeit Kaschmirs zu erlangen oder zumindest auf Zeit zu spielen, bis er schließlich am 26.10.47 (unter indischem Druck) doch der Indischen Union beitrat. Als weiterer krisenverschärfender Faktor traten die besonderen Umstände der Dekolonisation hinzu: Die rein administrativ und nicht aufgrund demokratischer Abstimmung vollzogene Teilung des Subkontinents war unter den Bedingungen eines überhasteten Abzugs der Kolonialmacht mit beispiellosen Migrationsbewegungen über die neuen Grenzen sowie blutigen Auseinandersetzungen verbunden. Die schon 1946 einsetzenden Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen haben Hunderttausende Todesopfer gefordert und die britische Kolonialmacht noch darin bestärkt, schnell den Rückzug anzutreten.

Erst im Zusammenspiel dreier Faktoren: der gegensätzlichen politischen Ordnungsvorstellungen von »Indian National Congress« und »Muslimliga«, der besonderen geographischen Lage und demographischen Situation Kaschmirs und den besonderen Umständen der Dekolonisation ergab sich die Möglichkeit, daß zwei nachkoloniale Staatseliten über den kriegerischen Konfliktaustrag um ein umstrittenes, in ihrer jeweiligen Logik dem eigenen politischen Verband zugehöriges Territorium die Konstituierung ihres Staatswesens erreichen wollten. Beide Staatseliten sahen Kaschmir als integralen Bestandteil ihres Territoriums an4.

Als Resultat des ersten Kaschmirkrieges wurde das ehemalige Fürstentum 1947 entlang der Waffenstillstandslinie, die bis heute eine De-facto-Staatsgrenze zwischen Indien und Pakistan bildet, geteilt. Indien integrierte mit dem südlichen Teil zwei Drittel des Territoriums als Bundesstaat Jammu & Kaschmir mit einem verfassungsrechtlichen Sonderstatus in die Indische Union. Der nördliche Teil Kaschmirs steht seither als Northern Areas unter pakistanischer Verwaltung. Daneben kontrolliert Pakistan de facto das nominell unabhängige Azad (Freies) Kaschmir an der Westgrenze von Jammu & Kaschmir.

Mit der Teilung entlang der Waffenstillstandslinie waren aber weder die territoriale Streitfrage um die Zugehörigkeit Kaschmirs noch der indo-pakistanische Konflikt gelöst. Die Kaschmirfrage erwies sich vielmehr im doppelten Sinne als kriegsträchtig: Nicht nur wurde 1965 ein weiterer Krieg direkt um das ehemalige Fürstentum geführt, der indo-pakistanische Gegensatz wurde über die Kaschmirfrage zu einem die gesamte Nachkolonialzeit auf dem Subkontinent prägenden machtpolitischen Konflikt und weitete sich über die kriegerischen Auseinandersetzungen beider Staaten zu einem latent kriegerischen Verhältnis aus. Dabei lagen den wiederholten Waffengängen beider Staaten mit Ausnahme des Bangladesch-Krieges, der als Sezessionskrieg Ostpakistans begann und sich über die Intervention indischer Truppen erst in seiner letzten Phase zu einem zwischenstaatlichen Krieg ausweitete, keine wesentlichen neuen strukturgeschichtlichen Ursachen zugrunde5. Allerdings hat sich der bestehende indo-pakistanische Gegensatz durch die Einbeziehung Pakistans in das westliche Bündnissystem, den sino-indischen Grenzkonflikt des Jahres 1962 und den folgenden bis hin zu nuklearen Waffensystemen reichenden Rüstungswettlauf über die Jahre immer stärker ausgeweitet und vertieft.

Seit 1990 erhält die indo-pakistanische Konfrontation durch den inneren Krieg im indischen Bundesstaat Jammu & Kaschmir neue Nahrung. Dort kämpfen militante Muslime mit pakistanischer Unterstützung teils für die staatliche Souveränität, teils um den Anschluß an Pakistan. Obwohl die massive pakistanische Unterstützung der Aufständischen die Eskalation dieses (inneren) Kaschmirkonfliktes sicher forciert hat, läßt sich seine Eskalation zum offenen Bürgerkrieg nicht aus dem indo-pakistanischen Streit um die Zugehörigkeit des ehemaligen Fürstentums erklären. Kriegsursächliche Wirkung entfaltete vielmehr die indo-kaschmirische Komponente des Konfliktes, die im Kern die Stellung Jammu & Kaschmirs im indischen Staatsverband betrifft und in engem Zusammenhang mit dem Selbstverständnis Indiens als säkularer (und föderaler) Staat steht (vgl. Navlakha 1991).

Über Jahrzehnte ist der verfassungsrechtliche Sonderstatus Jammu & Kaschmirs als einziger mehrheitlich muslimischer indischer Unionsstaat von der Zentralregierung unterminiert worden. Diese hat zudem immer stärkeren Einfluß auf die innerkaschmirische Politik genommen, z. B. durch die Einsetzung ihr genehmer kaschmirischer Regierungen. Insgesamt führte die Integrationspolitik New Delhis zu einer Entfremdung weiter Teile der kaschmirischen Bevölkerung von der Indischen Union. Die indo-kaschmirische Komponente des Kaschmirkonfliktes wurde aber nur im Zusammenhang mit dem ökonomischen, sozialen und politischen Wandel auf dem Gebiet des ehemaligen Fürstentums kriegsursächlich. Der nachkoloniale soziale Wandel führte wie auch in anderen indischen Unionsstaaten mit den Agrarreformen und der fortschreitenden Monetarisierung der Sozialbeziehungen zu einer verstärkten Abhängigkeit der kaschmirischen Produktion von gesamtindischen Märkten. Einkommensdifferenzen und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Als die Vermehrung der Arbeitsplätze mit der der Bildungschancen nicht Schritt hielt und die Entfremdung von New Delhi sich durch die Integrationspolitik verstärkte, organisierten sich in den 1970er Jahren immer mehr chancenlose Akademiker entlang »indo-kaschmirischer« Konfliktlinien.

Mit dem Tod des charismatischen Führers Sheikh Abdullah, des »Löwen von Kaschmir«, entstand im Jahr 1982 ein Machtvakuum, in das radikalere Gruppen wie die »Jammu and Kashmir Liberation Front«, die »Hizbul-Mujaheddin« und die »Harakat-ul-Ansar« eindrangen, die auf die Unterstützung Pakistans zählen konnten.

Wenn daher die Kaschmirproblematik häufig unmittelbar in den Zusammenhang des konfliktiven indo-pakistanischen Verhältnisses gebracht wird (und umgekehrt), so geschieht dies sicher nicht zu unrecht; allerdings darf darüber nicht aus den Augen verloren werden, daß dem inneren Kaschmirkrieg und dem indo-pakistanischen Konflikt insgesamt jeweils eigene Ursachen zugrunde liegen und beide einer eigenen Funktionslogik folgen:

  • Der indo-pakistanische Konflikt kann als Kern des kriegerischen Staatsbildungsprozesses Indiens und Pakistans identifiziert werden und ist im wesentlichen auf die widersprüchlichen Ergebnisse der britischen Kolonialherrschaft und die besonderen Umstände der Dekolonisation Südasiens rückführbar. Er hat in erster Linie zu zwischenstaatlichen Kriegen geführt, weil die Hindu-Muslim-Rivalität durch die Teilung Britisch-Indiens – zumindest teilweise – auf die zwischenstaatliche Ebene überführt wurde6.
  • Der innere Kaschmirkrieg hingegen ist jenen Kriegen zuzurechnen, die – ebenso wie z. B. der Punjabkonflikt in Indien oder der Sindkonflikt in Pakistan – im Zeichen der unabgeschlossenen inneren Staatskonsolidierung der Nachfolgestaaten des Britischen Raj stehen. Diese Kriege sind durch gewaltsame Auseinandersetzungen um die legitimatorischen Grundlagen politischer Herrschaft geprägt.

Da diese sich antagonistisch zueinander verhaltenden Legitimationskonzepte maßgeblich zum kolonialen Erbe gehören, steht diese zweite Gruppe von Kriegen, die jeweils das Fundament der politischen Ordnung berühren und die staatliche Integrität gefährden, mit dem indo-pakistanischen Gegensatz und der Teilung des Subkontinents in sehr engem Zusammenhang. Die große kriegsursächliche Bedeutung der nachkolonialen Phase unterscheidet sie allerdings deutlich von den indo-pakistanischen Kriegen.

Vor diesem Hintergrund kommt man zu einer differenzierten Einschätzung der derzeitigen indo-pakistanischen Verhandlungen. Bis zu einem Gipfeltreffen im September soll über alle drängenden Fragen gesprochen werden: von der Entwicklung normaler Handelsbeziehungen über die Beendigung der gegenseitigen Unterstützung Aufständischer und die Eindämmung des Drogenhandels bis hin zum Streit über die Entwicklung und Stationierung von Mittelstreckenraketen, die Grenzstreitigkeiten und die Kaschmirfrage.

Die Chancen für eine bilaterale Annäherung sind nicht zuletzt aufgrund internationalen Drucks und ökonomischer Sachzwänge tatsächlich so gut wie nie zuvor. Beide Staaten, insbesondere das nahezu bankrotte und höchst instabile Pakistan, sind dringend auf eine Normalisierung des gegenseitigen Warenaustausches und die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung Aufständischer und des Drogenhandels angewiesen. Allerdings ist angesichts der historischen Dimension des Konfliktes und der tiefgreifenden Entfremdung beider Staatseliten und Bevölkerungen Skepsis am Platze (vgl. Weidemann 1996: 1099).

Es ist zu erwarten, daß ein Annäherungsprozeß sehr lange Zeit in Anspruch nehmen und dabei ständig von Hardlinern auf beiden Seiten bedroht sein würde. Ferner ist eine dauerhafte Befriedung ohne die Einbeziehung der unmittelbar betroffenen kaschmirischen Bevölkerung nicht zu haben, obgleich die günstigeren machtpolitischen Rahmenbedingungen die Regelung des Kaschmirkonfliktes sicher erleichtern. Da aber weder Indien noch Pakistan zu trilateralen Verhandlungen bereit sind, wird der innere Kaschmirkrieg wohl eher – ähnlich dem inneren Krieg im indischen Punjab (1982-1994) – mit massiver Repression und aufgrund der Ermüdung und mangelnder Unterstützung der aufständischen Kriegsparteien langsam »auslaufen«. Damit wäre aber keine politische Lösung erreicht.

Literatur

Alter, Peter 1985: Nationalismus. Frankfurt/M.

Franke, Jens Peter / te Heesen, Reinhard 1991: Der Indo-pakistanische Krieg am Siachengletscher und der Kashmir-Konflikt zwischen beiden Staaten. In: Siegelberg, Jens (Red.): Die Kriege 1985 bis 1990. Analyse ihrer Ursachen. Münster und Hamburg, S. 348-360.

Ganguly, Sumit 1986: The Origins of War in South Asia. Indo-Pakistani Conflicts since 1947. Boulder, London.

Gantzel, Klaus Jürgen / Schwinghammer, Torsten 1995: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1992. Daten und Tendenzen. Münster.

Lamb, Alastair 1991: Kashmir: A Disputed Legacy. 1846-1990. Hertingfordbury

Rabehl, Thomas / Trines, Stefan (Red.) 1997: Das Kriegsgeschehen 1996. Arbeitspapier Nr. 3/1997 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.

Navlakha, Gautam 1991: Bharat's Kashmir War. In: Economic and Political Weekly, S. 2951-2962.

Weidemann, Diethelm 1996: Kaschmir – Knotenpunkt indisch-pakistanischer Konfliktlinien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 1090-1101.

Wilke, Boris 1997: Krieg auf dem indischen Subkontinent. Strukturgeschichtliche Ursachen gewaltsamer Konflikte in Indien, Pakistan und Bangladesch seit 1947. Arbeitspapier Nr. 1/1997 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.

Anmerkungen

1) Vgl. Gantzel/Schwinghammer (1995: 94f.). Diesem Band sind alle statistischen Angaben entnommen. Dort finden sich auch detaillierte Beschreibungen zu den im Beitrag erwähnten Kriegen. Vgl. dazu ebenfalls: Rabehl/Trines (1997). Zurück

2) Dieser Aufsatz basiert auf einer vergleichenden Studie zu Kriegsursachen auf dem indischen Subkontinent, die der Autor auf der Grundlage des Hamburger Ansatzes vorgenommen hat (Wilke 1997). Zu den zentralen Kategorien dieses Ansatzes vgl. auch den Beitrag von Schneider/Schreiber/Wilke in diesem Heft. Zurück

3) »Staatsnation« ist nach Alter (1985: 19f.) „an der Idee der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung orientiert“ und leitet sich „aus dem freien Willen und dem subjektiven Bekenntnis des Individumms zur Nation“ her. »Kulturnation« hingegen knüpft an vermeintlich objektive Kriterien wie Abstammung, Sprache oder Religion an. Zurück

4) Zu Beginn hatte der erste Kaschmirkrieg auch eine innerkaschmirische Dimension, der allerdings insgesamt nur geringe kriegsursächliche Bedeutung zukommt: Eine Truppenrebellion im kaschmirischen Distrikt Poonch zählte zwar zu den Auslösern des Konfliktes, sie konnte sich aber ebensowenig wie der übrige kaschmirische Widerstand, der sich gegen die Diskriminierung der Muslime durch den Maharadscha richtete, auf eine gewaltbereite Massenbasis stützen. Erst in den 1970er Jahren gewann die innerkaschmirische bzw. indo-kaschmirische Komponente gegenüber der indo-pakistanischen Komponente stärkere konfliktursächliche Bedeutung. Zurück

5) Über Jahre schwelte der indo-pakistanische Konflikt knapp unterhalb der Kriegsschwelle. Zum Überschreiten dieser Schwelle waren zwar jeweils bestimmte innergesellschaftliche Faktoren und Machtkonstellationen nötig, ihnen kommt allerdings insofern keine eigene kriegsursächliche Bedeutung zu, als sie dem indo-pakistischen Gegensatz weder neue Widersprüche hinzugefügt haben noch die krisenhafte Wahrnehmung verändert haben. Zurück

6) Teilweisedeshalb, weil den bürgerkriegsähnlichen kommunalistschen Unruhen zwischen indischen Muslimen und Hindus zum großen Teil das gleiche konfliktursächliche Bedingungsgefüge zugrunde liegt. Zurück

Boris Wilke ist Mitglied der AKUF

Gleichberechtigung und Minderheitenrechte

Gleichberechtigung und Minderheitenrechte

Widersprüche der liberalen Demokratie in Indien

von Gurpreet Mahajan

Die Philosophie einer liberalen Demokratie, insbesondere die Betonung der Autonomie des einzelnen, inspirierte die erste Welle der Frauenbewegung. Die individualistische Ethik erlaubte es Frauen, soziale Konventionen in Frage zu stellen und gleiche Bürgerrechte zu verlangen. Die Demokratie bot den politischen Raum zur Formulierung dieser Forderungen, die Philosophie des Liberalismus lieferte das begriffliche Instrumentarium für die Forderung nach dem Recht auf eigene Entscheidung und die freie Gestaltung des Lebens entsprechend den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen. Daher bediente sich die Frauenbewegung in ihren frühen Jahren der Ideen der liberalen Demokratie, um bestehende Vorurteile zu hinterfragen und rechtliche Hindernisse zu überwinden, die der Anerkennung der Frauen als freie Individuen und gleichberechtigte Bürgerinnen der Gesellschaft im Wege stehen.

Frauen an der Macht zu beteiligen setzt die Abschaffung des Patriarchats voraus, und eine solche Veränderung in den sozialen Strukturen ist im institutionellen Rahmen einer liberalen Demokratie oder durch den Kampf um Rechte nicht zu herbeizuführen. Die liberale Demokratie kann zwar für eine formale Gleichheit sorgen, doch wird der Gewinn daraus den Frauen innerhalb eines patriarchalischen Systems unter Umständen nicht zugute kommen.

Die liberalen demokratischen Strukturen beinhalten drei Schwierigkeiten:

1) Innerhalb dieser Strukturen müssen Frauen ihre Forderungen an einen Staat richten, der neben seiner Verankerung in patriarchalischen Werten, auch seiner gesamten Orientierung und Politik nach wesentlich »männlich« ist (MacKinnon 1983).

2) Das Recht auf die eigene Entscheidung, unter dessen Perspektive in diesen Strukturen die Beteiligung der Frauen an der Macht zumeist gesehen wird, reicht nicht aus, um die Interessen der Frauen tatsächlich zu gewährleisten. Dieses Recht kann etwa dafür genutzt werden, die selektive Abtreibung weiblicher Foeten zu fördern.

3) Die liberale Betonung von formaler Gleichheit und abstraktem Individualismus ignoriert die »Ungleichheiten« zwischen Männern und Frauen. Sie geht von »Gleichartigkeit« aus und hat die Auswechselbarkeit von Individuen im Blick (Wolgast 1980). Nach Ansicht einiger Feministinnen erwachsen aus weiblicher Erfahrung, allen voran der der Geburt, spezifische Bedürfnisse, die geschützt werden müssen. Darüber hinaus legen sie besonderes Gewicht auf Fürsorglichkeit und die Erziehung der Kinder, Qualitäten, die sich dem für das frühe liberale Denken essentiellen Modell eines besitzstrebenden Individualismus widersetzen und es in Frage stellen. Mit anderen Worten eröffnet sich eine Perspektive, die von ihren Grundsätzen her mit der Umwelt in Einklang, humanisierend und demokratisch ist. Manche Frauen sind der Ansicht, diese Perspektive sollte dazu dienen, die liberale demokratische Ethik abzufedern, andere jedoch behaupten, das den liberalen Strukturen verschriebene Modell von Entwicklung, freiem Markt und Wettbewerb sei grundsätzlich unvereinbar mit der feministischen Perspektive (Mies & Shiva 1994).

So steht die Frauenbewegung schon lange in einem etwas prekären Verhältnis zur liberalen Demokratie. Während viele engagierte Frauen weiterhin die Bedeutung der Demokratie anerkennen, bleiben sie skeptisch gegenüber der Möglichkeit, Frauen mit Hilfe liberaler individualistischer Ethik, oder vielmehr innerhalb des Spielraums, den die institutionellen Strukturen einer liberalen Demokratie bieten, zu Macht zu verhelfen (Smart 1989). Doch obwohl diese Ernüchterung bei vielen Frauen aus Ländern der Dritten Welt, wie Indien, zum Ausdruck kommt, akzeptieren die meisten Frauengruppen und -organisationen, daß ein Appell an den Staat und das Rechtssystem im gegenwärtigen Kontext notwendig und unumgänglich ist. Veränderungen in der gesellschaftlichen Stellung der Frauen und der Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter sind nicht durchführbar ohne die Unterstützung durch den Staat, und ohne neue Gesetze zu erlassen, die die Zwangslage der Frauen berücksichtigen.

Indische Frauenperspektive

Unter dieser Perspektive arbeiten Frauengruppen in Indien weiterhin innerhalb der existierenden Strukturen der liberalen demokratischen Verfassung und bemühen sich, spezifische Zugeständnisse für Frauen zu sichern.

In der jüngeren Vergangenheit haben sie einige greifbare Erfolge verzeichnen können. Änderungen in der Gesetzgebung zur Vergewaltigung etwa, Schutz der Rechte von geschiedenen Frauen und eine spezielle Frauenquote für Institutionen auf lokaler Ebene1. Allerdings ist es ihnen nicht gelungen, entscheidende Veränderungen im Personenrecht der verschiedenen Minderheiten zu erreichen. Auch wenn Änderungen im hinduistischen bürgerlichen Recht, z.B. das Verbot der Bigamie und das Erbrecht für Frauen, die Aufmerksamkeit stärker auf die Gebräuche und Praktiken der Minderheiten gelenkt haben, bleiben weitere Reformen des hinduistischen bürgerlichen Rechts notwendig. Alles in allem bleibt das Nichtzustandekommen eines allgemeinbindenden bürgerlichen Rechts, das der rechtlichen Praxis der religiösen und ethnischen Gemeinschaften in Fragen der Ehe, Familie und Erbschaft übergeordnet wäre, ein wichtiges Problem für die indische Frauenbewegung und ein Anlaß zu ernsthafter Sorge2.

Vor dem Hintergrund dieser Frage untersucht der vorliegende Aufsatz, warum die liberalen Ideale der Autonomie und der Gleichheit in einer funktionierenden Demokratie wie Indien nicht haben verwirklicht werden können, und er behauptet, daß sie weder zentral für das Funktionieren einer Demokratie, noch in jeder Demokratie verwirklicht sind. Er stellt des weiteren fest, daß im Falle Indiens, in dem die Hauptsorge weniger der individuellen Autonomie, als der Gleichberechtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gilt, die institutionellen Strukturen einer liberalen Demokratie zu Verhältnissen führen, die die Identität der verschiedenen Gemeinschaften und die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe stärken. Dies zeigt sich in der Unterordnung der Ansprüche der Frauen unter die der jeweiligen Gemeinschaft. Es erweist sich, daß aus den Prozessen, die mit der Bildung einer repräsentativen Regierung verbunden sind, Zwänge entstehen, unter denen die Verpflichtung für die Autonomie des Individuums zweitrangig wird. Diese Untersuchung geht unausgesprochen davon aus, daß in Gesellschaften, in denen das Patriarchat tief verwurzelt ist und durch die Praktiken und Gebräuche religiöser Gemeinschaften gestützt wird, das Bemühen um Gleichberechtigung zwischen den Gruppen sich nicht von selbst auf die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern überträgt. Diese würde vielleicht ein auf Mitbestimmung gegründetes Modell von Demokratie voraussetzen, das durch seine Betonung von Selbstbestimmung und Verantwortung den Frauen zu einem Bewußtsein verhelfen könnte, das der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter Priorität einräumt.

Folgen eines Urteils des Obersten Gerichtshofes

Der Widerspruch zwischen religiösen Ansprüchen und Anforderungen von Frauen wurde sehr deutlich an dem Urteil des Obersten Gerichtshofes und seiner darauffolgenden Diskussion in Indien. Die 65jährige Shah Bano, eine geschiedene moslemische Frau, hatte sich wegen Unterhaltsforderungen an ihren Ex-Ehemann an den Obersten Gerichtshof Indiens gewandt. Obwohl Angehörige der islamischen Gemeinschaft in Angelegenheiten wie Ehe, Scheidung, Unterhalt und Erbschaft dem islamischen Personenrecht unterworfen sind, das keinen Unterhalt für die geschiedene Ehefrau oder ihre Kinder vorsieht, gab der Oberste Gerichtshof ihrer Berufung statt und bezog sich dabei auf den »Indischen Criminal Procedure Code« (IPCC) (Absatz 125), der die Versorgung mittelloser Frauen vorsieht. Infolgedessen stand ihr nach dem Urteil des Gerichts ein bescheidener Unterhalt von ihrem Ex-Ehemann zu.

Das Urteil, das zudem Aussagen über das islamische Personenrecht beinhaltete, wurde von Frauenorganisationen und anderen Liberalen als erstes Anzeichen für einen Sieg der säkularen Kräfte begrüßt. Die islamische Bevölkerung, vor allem die Politiker und die männlichen orthodoxen Geistlichen, verdammten es als einen Versuch, das islamische Personenrecht anzutasten. Es wurden Versuche unternommen, zu zeigen, daß die Vorgehensweise der islamischen Gemeinschaft nicht diskriminierend sei und daß es Bestimmungen gebe, unter denen die Interessen der Frauen gewahrt werden könnten. Zwar behauptete niemand, daß die Interessen Shah Banos innerhalb der vorgegebenen Strukturen gewahrt worden seien, doch waren sie überzeugt, es gäbe, zumindest theoretisch, Bestimmungen innerhalb des »Shariyat« (dem Gesetz des Koran), die für solche Sonderfälle herangezogen werden könnten.

Zusammengefaßt heißt das, die Mehrzahl von ihnen kritisierte den Obersten Gerichtshof für seine Rechtssprechung in dieser Frage; während die liberaleren Mitglieder die in dem Urteil enthaltene Anklage des islamischen Personenrechts ungerechtfertigt und unnötig fanden, argumentierten andere, daß diese »Einmischung« die große Masse der islamischen Bevölkerung (die bis jetzt noch nicht orthodox ist) in die Arme orthodoxer Geistlicher treiben würde, da deren Argumente, die islamische Gemeinschaft und ihre Identität seien bedroht, auf diese Weise an Glaubwürdigkeit gewännen.

Liberaldemokratische Institutionen in Indien

Bevor wir uns den spezifischen Erfahrungen mit der Funktionsweise liberaler demokratischer Institutionen in Indien zuwenden, sollte daran erinnert werden, daß ein feministisches Bewußtsein nicht das natürliche oder spontane Bewußtsein von Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß indische Frauen sich schon aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Besonderheit im Widerstand gegen die jeweiligen Formen männlicher Herrschaft und Unterdrückung organisieren und sie zu verändern versuchen.

Ebenso wichtig ist es, daran zu erinnern, daß diese Frauen gleichzeitig Mitglieder weiterer Gemeinschaften und Gruppen sind und daher Trägerinnen einer mehrfachen Identität; das heißt, sie gehören zusätzlich jeweils einer religiösen Gemeinschaft und einer spezifischen sprachlichen und ethnischen Gruppe an; außerdem kommen sie aus einer bestimmten Schicht der Gesellschaft und sind Teil der ländlichen oder der städtischen Bevölkerung.

Ihre Identität macht sich also nicht an einem einzelnen Punkt fest, vielmehr besetzt jede dieser Frauen eine Reihe verschiedener Positionen. Das Engagement für eine politische Sache, wie etwa die der Frauenbewegung, läßt zwar eine dieser Positionen in den Vordergrund treten, doch ist diese weder auf Dauer noch allein bestimmend für die jeweilige Identität der Frau.

Tatsächlich ergibt sich die Art der Auseinandersetzungen, die in einer Gesellschaft entstehen, aus dem Konflikt unterschiedlicher Identitäten und den historisch-kulturellen Umständen, die eine dieser Identitäten gegenüber allen anderen begünstigen.

Kaste und Religion

Die Besonderheit der indischen Situation besteht darin, daß, im Vergleich zu anderen, die auf Kaste und Religion basierenden Identitäten die dominierenden sind und daß das Verhalten des Staates im Laufe der Zeit zu einer weiteren Stärkung der religiösen Identität geführt hat. Während einerseits Versuche unternommen wurden, im Kastenwesen strukturell vorhandene Ungleichheiten zu beseitigen, haben sich die führenden Politiker andererseits kontinuierlich bemüht, den Schutz der religiösen Idenität der verschiedenen Gemeinschaften sicherzustellen. Insbesondere versuchten sie, die Angehörigen der religiösen Minderheiten zu beruhigen, indem sie ihnen zusicherten, es werde keinerlei Einmischung in ihre internen Regelungen und Praktiken geben. Dies bedeutete unter anderem, daß das Personenrecht der verschiedenen religiösen Minderheiten (z.B Moslems, Christen, Parsen) unangetastet bleiben würde.

In der Tat gab es schwerwiegende historische Gründe, dies so deutlich zu betonen. Die Unabhängigkeit, die erst in der Folge heftiger Kämpfe zwischen den verschiedenen Gruppen erreicht wurde, machte Zusicherungen gegenüber den Minderheiten notwendig. Überdies betrachteten die Begründer der indischen Verfassung die Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen, wie sie durch gewisse Aspekte des Kastensystems verursacht wurde, als ein Übel, das es zu bekämpfen galt. Die Einrichtung demokratischer Institutionen, die auf dem allgemeinen Wahlrecht und dem Prinzip der formalen Gleichheit gründeten, ermöglichten es, die grundsätzliche Gleichheit aller zu erklären, trotz der jeweiligen Zugehörigkeit der einzelnen zu verschiedenen Gruppen. Eine dieser Hervorhebung der Gleichheit entsprechende Gewichtung der Idee individueller Autonomie gab es nicht, und Gruppen und religiöse Gemeinschaften wurden als legitime Akteure der politischen Arena betrachtet. Bemerkenswert ist, daß in den westlichen Demokratien das Interesse an der Autonomie des Individuums für einzelne aus den unterschiedlichsten Bereichen zum Auslöser wurde, dieses Grundrecht für sich einzufordern, während das Interesse an der Gleichheit zwischen Gruppen nicht dasselbe Potential zu haben scheint. Dieser Umstand hat der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter im Wege gestanden.

Das Paradox im indischen Kontext besteht darin, daß die Prozesse, die mit einer liberalen demokratischen Regierungsweise verbunden sind, diese Unterordnung der Ansprüche der Frauen begünstigt haben.

Eine liberale Demokratie erzeugt, nach ihrer eigenen Logik, eine Mehrheit und eine Minderheit. Keine der beiden freilich ist vorgegeben oder unveränderlich, d.h. in einer Bevölkerung werden Mehrheit und Minderheit durch die Wahl neu bestimmt und zumindest theoretisch besteht die Möglichkeit, daß die bestehende Minderheit in der nächsten Runde zur Mehrheit wird. Eine solche Möglichkeit ist allerdings nur in einer Situation realisierbar, in der die bestehenden Konstellationen zwischen den Gruppen variieren. Anders ausgedrückt: Betrachten sich die einzelnen als Teil einer Gruppe oder Gemeinschaft und handeln vorrangig in dieser Eigenschaft, so ergibt sich eine zahlenmäßig vorgegebene Mehrheit und Minderheit. Durch die relativ große Bedeutung, die in Indien der religiösen Identität zukommt, haben wir eine Situation, in der sich der handelnde einzelne als Mitglied einer religiösen Mehrheit oder spezifischen Minderheit begreift. Darüber hinaus erkennen sie als Angehörige einer Minderheit, daß sie ihre Interessen am ehesten durch kollektive Entscheidungen wahren und ausbauen können. Der Logik der Zahlen folgend gehen daher die Minderheiten, stärker als die Mehrheit, davon aus, daß kollektives Handeln ihren Interessen nützt. Da überdies kollektives Handeln ihre Bedeutung in Wahlkämpfen erhöht, treffen die politischen Parteien nur ungern Entscheidungen, die für die Führer der religiösen Gemeinschaften (gewöhnlich orthodoxe, männliche Geistliche) vielleicht nicht akzeptabel wären. Dieser Standpunkt vieler politisch Verantwortlicher hat zur Folge, daß die Interessen der Frauen als Staatsbürgerinnen dem speziellen Interesse der jeweiligen religiösen Gemeinschaft untergeordnet werden.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Wahlniederlage der Kongreßpartei in Assam, Bijnor, Kishankanj, Bolpur, Baroda etc. 1985-86 kurz nach dem Fall Shah Bano ließ die Führung der Partei annehmen, die islamische Bevölkerung entferne sich von der Partei. Um daher ihre Unterstützung zurückzugewinnen, verabschiedete die Partei das »Muslim Women's Bill« gegen den Widerstand zahlreicher auch moslemischer Frauengruppen. Das Gesetz bedeutete ein Zugeständnis an die orthodoxen Mitglieder der moslemischen Gemeinschaft, denn es versagte moslemischen Frauen die Möglichkeit, sich unter Berufung auf das IPCC (Absatz 125) an den Obersten Gerichtshof zu wenden. Außerdem legte es fest, daß nach der Zeit des »idaat«, d.h. der Scheidung, von nun an die Familie der Frau und nicht mehr der Ex-Ehemann für den Unterhalt verantwortlich ist. Die Kongreßpartei ließ sich aus Sorge um Wahlverluste zu diesem Verhalten bewegen, doch opferte sie diesem politischen Interesse die Interessen der Frauen. Dies ist keineswegs ein Einzelfall; immer wieder stehen Parteien und Politiker Situationen gegenüber, in denen die Zwänge der Wahlpolitik, die integraler Bestandteil liberaler demokratischer Strukturen sind, zu einer Begünstigung von Gemeinschaftsinteressen und -identitäten geführt haben.

Auch muß festgehalten werden, daß die Identifizierung der individuellen Interessen mit denen der religiösen Gemeinschaft und die damit verbundene Wahrnehmung von Mehrheit und Minderheit zu einer Lage geführt haben, in der sich diese Gemeinschaftsidentitäten weiter verstärken. In der Folge des »Shah Bano-Urteils« verabschiedete die regierende Kongreßpartei das oben erwähnte »Muslim Women's Bill«. Danach, im selben Jahr, wurden, um der hinduistischen Bevölkerung entgegenzukommen, die Tore des Babri Masjid geöffnet und so die Anbetung des Bildnisses des Ram ermöglicht (Hasan 1994).

Auch in diesem Fall griff der Staat in einer Weise ein, die die Selbstwahrnehmung der einzelnen als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft akzeptierte und noch verstärkte. Paradoxerweise war es gerade die liberale demokratische Struktur, die die Verdrängung der individuellen Identität durch die der Gemeinschaft zuließ.

Drei Punkte müssen in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden.

1) Entgegen einer verbreiteten Annahme und der liberalen Erwartung nehmen Menschen am politischen Prozeß häufig als Angehörige verschiedener Gruppen teil. In einem Zusammenhang, in dem die Identifizierung mit einer dieser Gruppen die mit allen anderen zahlenmäßig dominiert, erscheint diese erstarrte Position den verschiedenen am politischen Prozeß Beteiligten als die »gegebene« Realität. Es entsteht der Eindruck einer natürlichen Gruppe, über die die einzelnen angesprochen und ihre Forderungen verhandelt werden können. Diese Wahrnehmung wiederum ist der Grund für die weitere Festigung bestehender Gemeinschaftsidentitäten.

2) Als Erben des liberalen Vermächtnisses mögen wir davon ausgehen, daß das Individuum die Grundeinheit der Gesellschaft sei und daß sich die politische Wirklichkeit nach dieser Annahme zu richten habe. Doch in den Institutionen und Verfahrensweisen einer liberalen Demokratie selbst ist nichts enthalten, durch das aus dieser Annahme eine Realität würde. In vielen Fällen bleibt sie eine philosophische Hypothese, die sich gegebenenfalls in einem allgemeinen bürgerlichen Recht oder in der Vorstellung von den primären menschlichen Gütern, Ansprüchen und Bedürfnissen niederschlägt. Mit anderen Worten, sie ergibt sich nicht als Konsequenz aus der institutionellen und verfahrensrechtlichen Struktur.

3) Die Realität, der wir ins Auge sehen müssen, ist, daß in Indien weder die Mechanismen des Marktes noch die Erfahrung der Demokratie die Identitäten der religiösen Gemeinschaften zu untergraben vermochten.

Auf der einen Seite haben die demokratischen Verfahrensweisen die Wahrnehmung von Minderheiten und die Identitäten der verschiedenen Gemeinschaften gestärkt, auf der anderen Seite haben sie zu der Unterordnung der Interessen von Frauen als einer Gruppe beigetragen.

Die Tatsache, daß es in Indien nicht gelungen ist, die Unterstützung weiter Teile der weiblichen Bevölkerung zu mobilisieren, ist im Kontext zweier einschränkender Bedingungen zu sehen:

1) Immer wieder ausbrechende Gewalt zwischen den verschiedenen Gruppen und das Verhalten der politischen Parteien festigen die religiöse Identität und verleihen ihr stärkeres Gewicht. Im Vergleich damit erscheinen andere Identitäten als nebensächlich. Da die Forderungen der Frauenbewegung überdies in direktem Gegensatz zu denen stehen, über die sich die religiösen Gemeinschaften definieren, werden die ersteren stets den letzteren untergeordnet. Im Unterschied dazu sind Gruppeninteressen, die nicht mit religiösen Interessen kollidieren – z.B. solche der Bauern – oft ausgesprochen erfolgreich in ihrer Durchsetzung. Die Stärke der reichen Bauern ergibt sich aus der Tatsache, daß sie gemeinsame, auf ihrer Klassenzugehörigkeit basierende Interessen haben. Da Frauen auf der Ebene der Klassen und der Kasten getrennt sind, fehlt es ihrem Kampf an Homogenität und an Kraft.

2) Unter den gegebenen Bedingungen der Unterordnung waren Frauen nur selten in den vordersten Reihen der ideologischen, insbesondere der religiösen ideologischen Produktion zu finden. Daher erscheint in der von Männern beherrschten Arena der religiösen ideologischen Produktion die Gleichberechtigung der Geschlechter niemals auf der Tagesordnung (Dietrich 1992).

Während der Konflikt zwischen der religiös bestimmten Identität und den Forderungen der Frauen eine indische Besonderheit darstellt, sind weder die Existenz durch Gemeinschaften definierter Identitäten noch die Forderungen nach Rechten für diese Gemeinschaften auf Indien beschränkt. Daher können diese Probleme nicht einfach als Abweichungen von der liberalen Norm abgetan werden. Auch in westlichen liberalen Demokratien haben verschiedene kulturelle und religiöse Gemeinschaften Ansprüche auf ihre Rechte angemeldet, die nicht ignoriert werden können.

Im übrigen stehen diese Ansprüche trotz allem, auch dann, wenn die Forderung nach kulturellen Rechten mit der liberalen Vorstellung individueller Rechte kollidiert, durchaus im Einklang mit der inneren Logik liberaler Demokratie. Während die erste Generation der Rechte – z.B. das Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum – direkt den einzelnen betrafen, betrachteten die sozialen Rechte den einzelnen als einer bestimmten Gruppe zugehörig. Es entstanden Kategorien wie Alte, Behinderte, Schwarze, Frauen, ethnische Gruppen, Immigranten etc. Die liberale Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit schuf den Raum für die Anerkennung der Gruppe als einem legitimen Subjekt gesellschaftlichen und politischen Handelns. Darüber hinaus waren einige dieser Gruppen über ihre kulturellen und sozialen Attribute identifizierbar. Der demokratische Wohlfahrtsstaat nahm die unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Gruppen in ihrer jeweiligen Identität wahr, um über ihre gemeinsamen Erfahrungen und mögliche Quellen von Ungleichheit informiert zu sein; er hoffte außerdem, daß eine aktive Unterstützung und andere Formen der Hilfe es ihnen ermöglichen würde, als gleichberechtigte Bürger am politischen Prozeß teilzunehmen. Paradoxerweise war es gerade die Anerkennung der nach ethnischen, sprachlichen oder regionalen Kriterien definierten Gruppe, die diesen Gruppen die Möglichkeit zur Formulierung weiterer Forderungen eröffnete. Mit anderen Worten, durch den demokratischen Wohlfahrtsstaat als solche identifizierte und anerkannte Gruppen stellten am Ende Forderungen, die einige der Grundvoraussetzungen liberaler Ethik in Frage stellten. Auf der philosophischen Ebene wurden mit einmal Attribute, die bislang als hergeleitet und zweitrangig gegolten hatten, als die wesentlichen Eigenschaften des »Seins« betrachtet, als der große Zusammenhang, in dem jeder sein Leben lebt und seine Entscheidungen trifft. Die eigene Kultur wurde zu einem kollektiven Gut, aus dem legitime Forderungen erwuchsen.

Keine Wahlmöglichkeit

Es ist offensichtlich, daß für Indien der Konflikt zwischen den Ansprüchen der religiösen Gruppen und denen der Gleichberechtigung nicht innerhalb des liberalen Diskurses lösbar ist. Ein Beispiel: In Indien wird manchmal argumentiert, der Konflikt könne gelöst werden, indem der/dem einzelnen das Recht zugestanden wird, aus der jeweiligen religiösen Gemeinschaft auszusteigen; das heißt, einzelne, die sich nicht an die Normen der Gemeinschaft gebunden fühlen, sollen die Möglichkeit haben, sich dem bürgerlichen Recht zu unterstellen. Der Erlaß des »Special Marriage Act« war ein Schritt in diese Richtung (Parashar 1992).

Obwohl dieser Vorschlag eine Lösung zu bieten scheint, in der sowohl die individuelle Autonomie als auch die Werte der Gemeinschaft anerkannt werden, ergeben sich in Wirklichkeit zwei Schwierigkeiten. Zum ersten ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Entscheidungen der beiden Ehepartner in Fragen der Ehe und der Erbschaft sehr unterschiedlich ausfallen würden. Zum Beispiel könnte sich bei einem moslemischen Paar der Mann für das Recht der Religionsgemeinschaft entscheiden, während die Frau vielleicht das bürgerliche Recht vorzieht.

Selbst wenn wir davon ausgehen, daß stets derjenige Partner recht bekommt, der sich an den Obersten Gerichtshof wendet oder der sich für das bürgerliche Gesetz entscheidet, das Recht des Staatsbürgers also sich gegen die Rechte der Religionsgemeinschaft behauptet, handelt es sich vielleicht dennoch nicht um eine durchführbare Lösung. Was etwa den Fall Shah Bano betrifft, stellte sich heraus, daß sie, obwohl das Urteil des Obersten Gerichts zu ihren Gunsten ausfiel und ihr einen Unterhalt zusicherte, den Nutzen aus diesem Urteil nicht ziehen konnte oder wollte. Sie wurde von der Gemeinschaft überredet, das Urteil abzulehnen, und die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung in Verbindung mit der Überzeugung, sie setze die Autonomie der islamischen Gemeinschaft aufs Spiel, überwog.

Zum zweiten ist der Vorschlag, Frauen sollten aus der Obhut der religiösen Gemeinschaften heraustreten, um unter dem »Special Marriage Act« zu heiraten, ebenfalls einigermaßen unrealistisch. In einer Gesellschaft, in der Frauen nur selten von ihrem Recht auf die freie Wahl des Ehepartners Gebrauch machen, werden sie sich wohl kaum dem Druck der Familie, sich den Sitten und Gebräuchen der Gemeinschaft entsprechend zu verhalten, widersetzen. Die Tatsache, daß die meisten von ihnen von einer solchen Wahlmöglichkeit gar nichts wissen, ist ein zusätzliches Problem.

Worum es hier geht, ist, daß zwar die liberale Ethik allgemeine Normen bereitstellt, mit deren Hilfe sich dieses Dilemma lösen ließe, doch vermag sie keine Lösung anzubieten, die im Rahmen einer von religiösen Gruppeninteressen bestimmten Gesellschaft durchführbar wäre. Nahezu alle Vorschläge verlangen eigenständiges individuelles Handeln, das sich innerhalb der formalen Verfahrensstrukturen einer liberalen Demokratie allerdings kaum in die Wirklichkeit umsetzen läßt.

Vielleicht müßte die Frauenbewegung ihre Aufmerksamkeit statt auf das repräsentative stärker auf ein durch Mitbestimmung geprägtes Modell von Demokratie richten, das den Frauen das politische Bewußtsein und das Selbstvertrauen geben könnte, den Kampf gegen das System der Ungleichheit aufzunehmen.

Unvereinbarkeit zwischen Anforderungen von Frauen und religiösen Gemeinschaften

Ein Ergebnis unserer Erörterungen ist, daß sich die Ansprüche und Forderungen religiöser Gemeinschaften nur schwer mit anderen Gruppeninteressen vereinbaren lassen. In Ländern wie Indien stehen sie den Forderungen der Frauen nach einer gleichberechtigten Staatsbürgerschaft entgegen. Die liberale Demokratie, mit ihrer begrenzten repräsentativen Regierungsform und den dazugehörigen Verfahrensweisen und Institutionen, vermag diese Konflikte nicht zugunsten der Gleichberechtigung zu lösen. Auch ist sie unfähig, Änderungen herbeizuführen, durch die dem liberalen Anliegen der Autonomie des einzelnen der Vorrang vor allen anderen eingeräumt würde. Tatsächlich lassen sich die erwähnten Institutionen in einer Gesellschaft, die um verschiedene religiöse Gemeinschaften zentriert ist, sogar zur weiteren Festigung der Identität dieser Gemeinschaften und zur Verstärkung ihrer Forderungen nutzen.

In Indien geht es nicht darum, ob die Mehrheit sich durchsetzen wird, oder ob die Stimme der Minderheit sich durchsetzen sollte. Obgleich die Mehrheit wie auch die kulturellen Minderheiten ihren Gefühlen in dieser Weise Ausdruck geben, ignorieren in Wirklichkeit beide die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter. Beschwört die eine das Gespenst der »Hinduisierung« herauf, so sanktioniert die andere die Unterordnung der Frauen.

All diese Paradoxien deuten auf die Unangemessenheit der Begriffe im gegenwärtigen liberalen Diskurs und beweisen die Notwendigkeit einer differenzierteren und historisch genaueren Lesart in der Frage der Rechte kultureller und religiöser Gemeinschaften. Sie lenken aber unsere Aufmerksamkeit auch auf die Vielfalt an Möglichkeiten, in der selbst liberale demokratische Institutionen in einer Gesellschaft genutzt werden können, manchmal sogar um eben die Rechte und Ansprüche zu untergraben, die von je her mit der Philosophie des Liberalismus verbunden waren.

Literatur

Dietrich, Gabriele: Reflections on the Women's Movement in India. Horizon India Books, Delhi, 1992.

Hasan, Zoya: Communalism, State Policy and the Question of Women's Rights in Contemporary India. Bulletin of Concerned Asian Scholars, Vol.25, N.42, 1994.

Hobsbawm, E.J,: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge University Press, Cambridge, 1990.

Kymlicka, Will: Liberalism, Community and Culture. Clarendon Press, Oxford, 1989.

Mies, M. & V. Shiva: Ecofeminism. Kali, Delhi, 1994.

MacKinnon, C.A.: Feminism, Marxism, Method and the State: Towards Feminist Jurisprudence. Signs, Vol.8, No.4, 1983.

Parashar, Archana: Women and Family Law Reform in India: Uniform Civil Code and Gender Equality. Sage Publications, Delhi, 1992.

Sathe, S.P.: Towards Gender Equality. SNDT University, Bombay, 1993.

Smart, Carol: Feminism and the Power of Law. Routledge, London & New York, 1989.

Wolgast, E.H.: Equality and the Rights of Women. Cornell University Press, Ithaca & New York, 1980.

Anmerkungen

1) Zum Beispiel wird durch die Änderungen unter Absatz 376 A,B,C und D der Geschlechtsverkehr mit einer juristisch geschiedenen Frau, ohne ihr Einverständnis, zu einer Straftat; und im Falle der Vergewaltigung liegt die Last des Beweises (daß das Opfer zugestimmt hat) nun bei dem Angeklagten (Sathe 1993) Zurück

2) Das Problem liegt darin, daß in einer patriarchalischen Gesellschaft viele dieser rechtlichen Praktiken zugunsten des Mannes gewichtet sind. So kann sich nach islamischem Personenrecht der Mann von seiner Frau durch das dreifache Aussprechen des taalag während einer Sitzung scheiden lassen; nur während der Zeit der Trennung bekommen die Frauen Unterhalt von ihrem Mann.  Das christliche Scheidungsgesetz macht es einer Frau fast unmöglich, sich scheiden zu lassen. Anders als der Mann muß sie zwei Verstöße gegen das Eherecht nachweisen, z.B. Ehebruch, Vergewaltigung, Bigamie. Überdies besitzt ihr Mann, falls sie lediglich eine rechtliche Trennung erwirken konnte, Anspruch auf ihren Besitz und auf die Vormundschaft der Kinder; er kann sogar die Wiederherstellung der ehelichen Rechte verlangen. Zurück

Gurpreet Mahajan arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Centre for Political Studies, School of Social Sciences, Jawaharlal Nehru University, New Delhi 110067, India. Sie stellte diesen Text auf der Weltkonferenz der »International Political Science Association« im August diesen Jahres in Berlin vor.
Übersetzung: Barbara Kronsfoth

Konfliktpotentiale in Südostasien

Konfliktpotentiale in Südostasien

von Peter Franke

Als größter Erfolg bei dem diesjährigen Treffen der ASEAN-Außenminister in Bangkok gelten die erstmalige Durchführung des »ASEAN Regional Forum« – kurz ARF – zur Behandlung von Sicherheitsfragen in der Region. Die Außenminister der ASEAN-Staaten hatten sich am 25.7.94 mit ihren sogenannten Dialog-Partnern an einen Tisch gesetzt und etwa drei Stunden über Konflikte in der Region unterhalten, insbesondere über die Halbinsel Korea und die Spratly-Inseln1.

Trotz langjähriger Existenz2 der Vereinigung Südostasiatischer Nationen (ASEAN – Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien, Brunei und Philippinen) ist gerade in den letzten Jahren zunehmend das »Bedürfnis« in dieser Region nach mehr Sicherheit gewachsen. Mit Auflösung der Blockkonfrontation ist das klare Feindbild des Kommunismus verschwunden. Man hatte sich bisher darauf verlassen, daß die »rote« Gefahr durch die US-Militärpräsenz in Schach gehalten wird, ganz so, wie es die USA auch in ihrer Pacific-Rim-Strategie seit Ende des 2. Weltkriegs gewollt und durchgesetzt hatten. Alle mehr oder minder vorhandenen Konflikte untereinander3 wurden angesichts einer vermeintlich größeren Bedrohung zurückgestellt. Die USA haben nun in den letzten Jahren ihre Militärpräsenz verringert bzw. Einheiten ganz abgezogen, und es ist ein vermeintliches Machtvakuum entstanden. Militärstrategen der einzelnen Länder glauben, daß dieses »Vakuum« mit mehr eigenem Militär gefüllt werden muß. Dazu ist natürlich eine Ausrüstung mit den neuen Waffensystemen nötig, die von der kränkelnden Rüstungsindustrie der USA, Europas und einer Reihe von ehemaligen Ostblockstaaten wohlfeil angeboten worden4. Bei den anhaltend hohen Wirtschaftswachstumsraten in Thailand, Malaysia, Singapur und Indonesien meinen die Regierungen, sich mehr Waffen leisten zu können und zu müssen.

Die wachsende Aufrüstung aller ASEAN-Länder mit sogenannten »Offensiv-Waffen«, also solchen, die weit über die reine <>Landesgrenzen-Verteidigungszwecke<> hinausgehen, ist in den letzten Jahren offensichtlich. Mit welchen besonderen Konfliktpotentialen haben wir es also heute in der Region Südostasien bzw. Asien-Pazifik zu tun? Wo liegen andererseits als Gegengewicht die Ansätze von multilateraler und bilateraler Kooperation?

Die Konfliktpotentiale sind sehr unterschiedlicher Natur und unterschiedlichen Ursprungs. Die geographischen Gegebenheiten sind ein wesentlicher Faktor. Ein Blick auf die Karte macht deutlich, daß alle Seewege und wichtigen Handelsrouten zwischen Europa und Ostasien – d.h. China, Taiwan, Korea und Japan – durch das Malaiische Archipel führen, mit den Ländern Indonesien, Malaysia, Singapur, Brunei und den Philippinen.

Die Kontrolle der Seewege nach Ostasien

Mit Beginn des Übersee- und Welthandels ist die Kontrolle der Seewege nach Ostasien immer ein entscheidender Faktor zur Ausübung einer Vorherrschaft in der Region gewesen. In der Kolonialzeit haben sich die europäischen Mächte Spanien, Niederlande, England und Frankreich in ihren expansiven Bestrebungen immer wieder um die Kontrolle der Seewege, insbesondere der Straße von Malakka, bemüht. England hat allein zu diesem Zweck 1815 auf der Insel vor der südlichsten Spitze der malaiischen Halbinsel Singapur als Handels- und Marinestützpunkt gegründet. Bis zur Eroberung Singapurs durch die Japaner im 2. Weltkrieg vom Land aus – denn von See her war es nicht einzunehmen – war es der Schlüssel zur britischen Vorherrschaft im malaiischen Archipel.

Nach dem 2. Weltkrieg übernahmen die USA die Aufgabe der Freihaltung der Seewege in Südostasien im Namen des reibungslosen, freien (kapitalistischen) Welthandels. Es war vor allem ihre z.T. gewalttätige, antikommunistische Politik, unterstützt von den Briten und Franzosen, die die Einführung und Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ermöglichte. Heute sind die südostasiatischen Länder, allen voran die ASEAN-Staaten, vollständig, wenn auch noch vergleichsweise kleine, aber eigenständige Akteure im Welthandel geworden. Der teilweise militärische Rückzug der USA aus der Region ermöglicht den Staaten mehr oder minder selber, unter Ausschluß der jeweils anderen Staaten, aktiv eine Kontrolle über die Seewege auszuüben. Eine Schliessung der Seewege für den internationalen Seeverkehr kann zu Konflikten nicht nur mit Ländern innerhalb der Region Südostasien, sondern auch mit weiter entfernten Ländern wie Japan, Korea oder dem Nahen Osten führen, die auf die Verschiffung ihrer Exportprodukte durch das Malaiische Archipel hindurch angewiesen sind.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei Indonesien zu. Sein Territorium bildet praktisch eine Barriere zwischen Festlandasien und Australien. Ferner ist es mit über 180 Mio. Menschen das größte Land in Südostasien. Die indonesische Regierung kann zum Beispiel allein mit der Schließung der Lombok- und Sunda-Straße für den internationalen Seeverkehr den Welthandel empfindlich treffen. Sie hatte das 1988 bereits einmal mit der Begründung versucht, daß diese beiden Seewege nicht internationales, sondern nationales Gewässer seien.

Probleme um die Straße von Malakka könnte es mit Malaysia und Indonesien geben. Sie können die Durchfahrt leicht kontrollieren. Der rege Schiffsverkehr ist eine Ursache für die wachsenden Umweltbelastungen der Küstengebiete und stellt bei möglichen Unfällen mit Supertankern oder anderen gefährliche Güter transportierenden Schiffen eine große Bedrohung der dort lebenden Bevölkerung dar. Restriktive Maßnahmen zur Eindämmung einer solchen Gefahr dürfen nach geltendem Seerecht die beiden Staaten nicht einseitig ergreifen. So war es vor einigen Jahren umstritten, ob die beiden Staaten einem französischen Frachtschiff, das Plutonium von Europa nach Japan transportierte, die Benutzung der Straße von Malakka zum Schutz ihrer Küsten verbieten dürfte. Die Durchsetzung möglicher Durchfahrtsverbote würden unweigerlich zu einem größeren internationalen Konflikt führen.

Umstritten ist für Indonesien ebenfalls die Zugehörigkeit der Nicobar-Inseln zu Indien. Sie liegen etwa 200 km nördlich der indonesischen Insel Sumatra direkt in der Zufahrt der Straße von Malakka und über 1000 km weit entfernt vom indischen Subkontinent. Immerhin ist Indien nach China die größte asiatische Marinemacht und bei Abzug der US-Marine würde sie faktisch den Indischen Ozean kontrollieren.

Das Südchinesische Meer ist seit Jahren der größte und wohl auch gefährlichste Konfliktherd in der Region Südostasien. Streitpunkt ist die Zugehörigkeit der im nördlichen Teil gelegenen Gruppe der Paracel-Inseln und der mehr im Süden gelegenen Spratly-Gruppe mit über 90 mehr oder minder kleinen Inseln und Riffen. Durch dieses Gebiet führen nicht nur die Seewege nach Ostasien, sondern es ist reich an Fischen und es werden dort auch größere Ölvorkommen vermutet.

China und Vietnam beanspruchen beide Inselgruppen vollständig für sich, einschließlich der dazugehörigen Wirtschaftszonen, was bedeuten würde, daß im Falle von China die Landesgrenze bis auf 5 Kilometer an die Küste von Sarawak rücken würde. China und Vietnam haben bereits einige der größeren Inseln besetzt und z.T. dort Militär stationiert. China hatte 1974 mit militärischen Mitteln Vietnamesen von einer der Paracel-Inseln vertrieben und 1988 von einem kleinem Riff der Spratly-Inseln. Die Anrainerstaaten Malaysia, Brunei und die Philippinen beanspruchen ebenfalls einige der vor ihrer Küste gelegenen Spratly-Inseln und ebenso Taiwan. In den letzten Jahren hat es immer wieder Versuche gegeben, durch multilaterale Gespräche die Situation zu entschärfen. Trotz allgemeiner Beteuerungen von allen Seiten, man wolle keine kriegerischen Auseinandersetzungen, wird auf den jeweiligen Ansprüchen beharrt. Insbesondere die VR China zeigt in den Gesprächen keinerlei Bereitschaft, ihren alleinigen Anspruch auf beide Inselgruppen auch nur in Frage stellen zu lassen. Sie ist allerdings bereit, über eine gemeinsame wirtschaftliche Nutzung zu verhandeln.

Das Recht auf Beanspruchung einer 200 Meilen Wirtschaftszone entlang der Küste nach dem internationalen Seerecht hat in Südostasien zu einer Reihe von Konflikten geführt und wird auch in Zukunft zu Problemen zwischen den Ländern führen, wie z.B. beim Abbau von Erdgas- und Erdölvorkommen im Golf von Thailand durch Malaysia, Thailand, Kambodscha und Vietnam, oder auch bei den Fischereirechten in der Celebessee (zwischen Borneo, Sulawesi und Mindanao) für philippinische Fischerboote, die erst kürzlich von indonesischem Militär aufgebracht wurden.

Die Kontrolle des Mekong

Von ähnlich geostrategischer Bedeutung wie die Seewege sind einige Flüsse auf dem Festland-Südostasien. Weniger als Verkehrswege so doch als Energiespender durch Staudämme für Industrie und Wasserspender für die Landwirtschaft sind sie meist von existentieller Bedeutung für die Anrainerländer.

So ist der Mekong die wichtigste Wasserquelle für die Landwirtschaft Kambodschas und das südliche Vietnam. Von seiner Quelle im tibetischen Hochland fließt er durch die südchinesische Provinz Yunnan, dann ein Stück entlang der laotisch-burmesischen Grenze, durch Nord-Laos und bildet danach die Grenze zwischen Thailand und Laos, bevor er Kambodscha durchquert, um an der südlichen Spitze Vietnams in einem weitverzweigten Delta ins Südchinesische Meer zu fließen. Stauung und Abzweigung des Wassers des Mekong sowie seiner Zuflüsse können verheerende Wirkungen auf die unterhalb gelegenen Regionen haben. China plant in Yunan mehrere Staudämme zur Elektrizitätsgewinnung. In Thailand gibt es bereits umfangreiche Pläne zur Umleitung des Wassers einiger Mekong-Zuflüsse5. Zusammen mit Laos sollen noch weitere Staudämme entlang der gemeinsamen Grenze gebaut werden. Die Nutzung des Mekong kann in Zukunft noch zu erheblichen Konflikten unter den Ländern führen. Um solchen Konflikten vorzubeugen bzw. gemeinsames Vorgehen bei der Nutzung des Mekong zu erreichen wurde bereits in den 60er Jahren auf Initiative der UN ein Mekong Komitee gegründet, dem alle Anliegerstaaten bis auf China, das z. Zt. nur einen Beobachterstatus hat, angehören.

Grenzkonflikte und Territorialansprüche

Territorialansprüche der Regierungen in Südostasien entlang der Grenzen bergen zum Teil ein erhebliches Potential für kriegerische Auseinandersetzungen in sich. Sie sind nicht nur Resultat einer sehr willkürlichen Grenzziehung in der Kolonialzeit, sondern die Ansprüche werden häufig auch noch aus vorkolonialen Eroberungen bzw. Besetzungen abgeleitet, obgleich es damals noch keine Nationalstaaten mit entsprechend definiertem nationalem Territorium gab. Zum offenen Ausbruch kamen diese in der Nachkriegszeit lediglich in Vietnam im Norden mit der VR China sowie im Süden mit Kambodscha.

Die Bildung der Föderation Malaysias 1963 auf Betreiben der Briten und ihrer Verbündeten, mit der die Entlassung der britischen Kolonien Nordborneo (heute Sabah), Sarawak und Singapur in die Unabhängigkeit erfolgte, hatte zu heftigem Widerstand seitens Indonesiens geführt. Umstritten ist aktuell die Zugehörigkeit von den Inseln Ligitan und Sipadan vor der Küste von Sabah an der Grenze zu Indonesien. Ferner beanspruchen die Philippinen Sabah als Teil des einstmaligen Sulu Sultanats. Allerdings hat die philippinische Regierung erhebliche Schwierigkeiten, die muslimischen Moros auf Mindanao im Süden der Philippinen in ihren Staat zu integrieren6.

Die Grenzziehungen auf dem Festland Südostasiens verlaufen durch Siedlungsgebiete von Volksgruppen derselben ethnischen Herkunft und kulturellen Tradition. Das ist insbesondere in Thailand zu beobachten. In den vier südlichen Provinzen leben muslimische Malaien, im Grenzgebiet zu Kambodscha Khmer, im Nordosten Laoten, im Norden und entlang der westlichen Grenze Volksgruppen aus Burma. Lediglich unter den Malaien in Südthailand gab und gibt es größere Unzufriedenheit, die in den 70er Jahren auch im bewaffneten Kampf der Patani United Liberation Organisation für ein unabhängiges, islamisches Patani zum Ausdruck kam. Bisher wurden allerdings von Seiten der Regierung Thailands und Malaysias die Grenzziehungen nicht in Frage gestellt. An der langen Grenze zu Laos gibt es allerdings noch mehrere Streitfälle über den Grenzverlauf.

Zwischen Vietnam und Kambodscha hat sich Ende der 70er Jahre ein regelrechter Krieg um den »richtigen« Grenzverlauf entwickelt, der 1979 schließlich zum Einmarsch Vietnams nach Kambodscha geführt hatte.

Der unterschiedliche Umgang mit militanten Organisationen, die zum Teil militärisch in den Grenzgebieten operieren und Thailand bzw. das Nachbarland als Rückzugs- und Nachschubgebiet benutzen, führte häufiger zu erheblichen Spannungen zwischen der thailändischen Regierung und den der Nachbarländer. So hat z.B. zur Zeit die stillschweigende Duldung von Operationen der Roten Khmer, insbesondere die Kanalisierung des Nachschubs über thailändisches Territorium durch das thailändische Militär, zu starken Verstimmungen zwischen Thailand und Kambodscha geführt. In den 70er und 80er Jahren gab es häufiger Spannungen zwischen Thailand und Malaysia. Die Politik der thailändischen Behörden gegenüber der von Thailand aus operierenden Kommunistischen Partei Malaysias (MCP) einerseits sorgte ebenso für Verstimmungen, wie andererseits das Verhalten der malaysischen Behörden gegenüber der z.T. von Malaysia aus operierenden PULO (Pattani United Liberation Organization).

Stabilität und Legitimität der Staaten Südostasiens

Zu den Problemen der Staaten untereinander kommt die soziale und politische Instabilität in den einzelnen Länder hinzu. Deutlich wird am Beispiel Kambodschas, daß die Instabilität eines Landes zu erheblichen Spannungen in der Region führt. Flüchtlinge aus einem Land in die Nachbarländer schaffen unvorhersehbare Spannungen, die, verquickt mit anderen Konfliktpotentialen, explosive Wirkungen zeigen können. So hat der bewaffnete Kampf des Moro Volkes um Selbstbestimmung in Südphilippinen zu einem Flüchtlingsstrom nach Sabah (Malaysia) geführt und somit Malaysia in den Konflikt indirekt miteinbezogen. Ebenso mußten die ASEAN-Länder mit den Flüchtlingen, den sogenannten »boat-people«, aus Vietnam fertig werden.

Schon seit der Unabhängigkeit vom britischen Kolonialismus ist die territoriale Integrität Burmas durch den Kampf um Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit der nicht-burmesischen Volksgruppen in Frage gestellt. Die Legitimität des Staates wie auch seiner regierenden Militärjunta ist seit ihrer Ignorierung des Ergebnisses der freien Wahlen vor 5 Jahren weiter in Frage gestellt. Hierzu entwickelten die ASEAN-Staaten sehr langsam und zögerlich eine gemeinsame Haltung.

Noch schwerer fällt es den Regierungen der südostasiatischen Länder, auf Indonesiens Besetzung von West-Papua, Osttimor und den immer wieder erneut aufbrechenden Konflikt in Aceh/Sumatra zu reagieren. Auch wenn sie diese Konflikte als »innere Angelegenheiten« von Indonesien erklären, sind sie dennoch von den Auseinandersetzungen darum betroffen. Einerseits könnten die »internen Probleme« den größten Staat Südostasiens mit unabsehbaren Folgen destabilisieren; andererseits stehen sie unter dem Druck einer internationalen Öffentlichkeit, die die Legitimität des indonesischen Vorgehens in Frage stellt.

Kooperation

Bei der hier nur oberflächlich geschilderten komplizierten »Gemengelage« von verschiedenen Konfliktfeldern muß man fragen, ob und wie diese durch welche Art der multilateralen und bilateralen Kooperation abgebaut werden können.

Die z.T. erzwungene Einbettung in das weltweite Sicherheitssystem während der Blockkonfrontation löst sich auf, und die in der Zeit schon geschaffene regionale Zusammenarbeit muß sich bewähren. ASEAN, erfolgreich nach 3 mißlungenen vorangegangen Versuchen 1967 gegründet, ist das wichtigste regionale Bündnis ohne außerregionale Mitglieder, welches die vorhandenen Konfliktpotentiale mindern und neutralisieren sowie Stabilität und Sicherheit fördern sollte, zugunsten der Entwicklung der einzelnen Länder. Dabei gibt es bisher keinerlei Form der multilateralen militärischen Zusammenarbeit, was nicht bedeutet, daß es keine punktuelle militärische Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Staaten aufgrund von bilateralen Vereinbarungen gibt, insbesondere auf dem Gebiet der Aufstandsbekämpfung. Es bestehen auch keinerlei Absichten eines engeren Zusammenschlusses, wobei die nationalen Souveränitätsrechte an das Bündnis abgegeben würden.

Wirkungsvoll wurde ASEAN als politisches Konsultationinstrument für die Mitgliedsländer angesichts der Niederlage der USA in Kambodscha, Vietnam und Laos. Das schlug sich insbesondere in einer gemeinsamen Haltung gegenüber Vietnam in der Flüchtlingsfrage und der Besetzung Kambodschas nieder. Wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde zwar offiziell immer sehr groß geschrieben, hatte aber bisher praktisch kaum Bedeutung für die Volkswirtschaften dieser Länder7. Die eingangs erwähnte Bildung des ARF scheint die Tendenz der Ausrichtung ASEANs zu bestätigen. Aber mit dem rapiden wirtschaftlichen Wachstum einiger ASEAN-Länder gewinnt die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung.

Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft

Anders als noch vor 20 Jahren hat die nun vollständige Integration so ziemlich aller Länder in die kapitalistische Weltwirtschaft eine gemeinsame ökonomische Grundlage geschaffen, nämlich den Auf- und Ausbau einer kapitalistischen Wirtschaft mit gleicher Produktionsweise und Konsumstruktur. Ein integraler Bestandteil dieses Systems sind die wirtschaftlichen Außenbeziehungen, nicht zuletzt auch zu den Nachbarländern. Sie werden zu Kunden und Lieferanten, die den eigenen wirtschaftlichen Erfolg sichern helfen, sie werden aber auch zu Konkurrenten auf dem regionalen und Weltmarkt, die den wirtschaftlichen Erfolg bedrohen.

Die ungehemmte wirtschaftliche Expansion erfordert eine Öffnung der Grenzen für Waren, Kapital und Arbeitskräfte. Wenn auch das Volumen des Handels zwischen den ASEAN-Ländern vergleichsweise niedriger ist als der mit den USA, West-Europa und Japan, so wächst es in den letzten Jahren doch stetig. Ebenso investieren Banken und kapitalstarke Unternehmen gegenseitig in den Nachbarländern und bilden sogenannte »joint ventures«.

Aber mit dem Wachstum wächst auch die Konkurrenz, die möglicherweise neue Konflikte auf anderen Ebenen schafft. Eines dieser Konfliktfelder ist der vom Konsumenten gewollte und von den Produzenten gefürchtete Freihandel, damit die Region sich besser auf dem Weltmarkt behaupten kann. Seit 1993 gibt es die ASEAN Freihandelzone (AFTA), die schrittweise den freien Warenverkehr zwischen den ASEAN-Staaten ermöglichen soll. Damit nicht die jetzt bereits wirtschaftlich stärksten innerhalb AFTA am meisten davon profitieren werden, ist dieser Prozeß sehr langwierig und es gibt umfangreiche Listen, in denen die Produkte genannt sind, die die Länder aus dem Freihandel herausnehmen8. Erst im Jahr 2008 sollen für alle Produkte die Zölle innerhalb der ASEAN fallen.

Die Wachstumsregionen

Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit findet in den letzten Jahren immer verstärkter zwischen Privatunternehmen und bestimmten, unmittelbar benachbarten Regionen verschiedener Länder statt, die von den jeweiligen Regierungen durch Infrastrukturprojekte gefördert wird. Seit einigen Jahren gibt es eine Reihe von sogenannten »Wachstumsdreiecken« in Südostasien, in denen eine über die jeweiligen Landesgrenzen hinausgehende wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert werden soll.

Das bekannteste und bisher am weitesten entwickelte ist »SiJoRi« (Singapur, Johore, Riau) an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel mit Malaysia, Singapur und Indonesien9. Hier soll eine Industrie- und Dienstleistungsregion entstehen, mit Singapur in der Mitte, dessen Expansionsmöglichkeiten durch die Begrenzung von Land und Bevölkerung eingeschränkt werden. Indonesien kann Land, Arbeitskräfte und Rohstoffe liefern, ebenso Malaysia, während Singapur Kapital, Technologie und Marketing Know-how einbringt. An dieser Zusammenarbeit wird wohl auch die politische Intention des kleinen, aber wirtschaftlich so erfolgreichen Stadtstaates deutlich: Um der Gefahr zu entgehen, von den großen Nachbarländern »erdrückt« zu werden, bindet er sie in seine weiteren Entwicklungsplänen und Erfolge mit ein, so daß diese keinerlei Interesse daran haben können, daß Singapur bedroht wird.

Das Modell der Wachtumsdreiecke hat Schule gemacht. Seit einem Jahr wird ein nördliches Wachstumsdreieck bestehend aus der Nordspitze von Sumatra, Nord-Malaysia und Südthailand in Angriff genommen10. Im März dieses Jahres wurde in Davao City auf Mindanao in den Philippinen ein Protokoll zur Bildung einer Ost-ASEAN Wachstumsregion unterzeichnet, welche die philippinische Insel Mindanao, Borneo mit dem indonesischen West- und Ost-Kalimantan, dem malaysischen Sarawak und Sabah und den Öl-Staat Brunei sowie die indonesischen Inseln Sulawesi und Molukken einbezieht11. Thailand projektiert im Nordosten eine Wachstumsregion zusammen mit Laos, Vietnam und Kambodscha, wozu als Voraussetzung der Ausbau des Straßennetzes in Angriff genommen wird. Ähnliches entwickelt sich zwischen Thailand, Burma, China und Laos.

Auffälligerweise befinden sich alle gemeinsamen »Wachstumsregionen« in den Gebieten, in denen z.T. gleich mehrere Konfliktfelder vorhanden sind, so etwa im nördlichen Wachstumsdreieck (Ace, Thai-Muslime) und in der östlichen Wachstumsregion (Moro, Sabah-Frage). Wirtschaftswachstum einhergehend mit einem höheren Lebensstandard auf allen Seiten der Grenzen in Abhängigkeit voneinander soll und könnte bestimmte Konfliktpotentiale zwischen den Nationen mildern oder gar abbauen. Unklar bleibt jedoch, inwiefern die kapitalistische Wirtschaftsform nicht neue soziale Konflikte schafft, wenn der bessere Lebensstandard einige soziale Schichten nicht erreicht. In solch einem Fall würde allerdings die Frontlinie nicht zwischen den Staaten, sondern den sozialen Klassen quer zu den Grenzen liegen. Die Regierungen könnten dann wieder auf ihre langjährige Zusammenarbeit bei der Aufstandsbekämpfung zurückgreifen.

Gemeinsame »think-tanks« zur Analyse und Vorbeugung

Parallel zum wirtschaftlichen Wachstum der letzten Jahre entwickelt sich ein reger Gedanken- und Meinungsaustausch unter exponierten Persönlichkeiten und Experten der verschiedenen Länder auf unterschiedlichen Ebenen. Es werden Foren veranstaltet, auf denen sich hochrangige Politker über die Zukunftsperspektiven der Region auslassen. Asia Society, Singapurs Institute for Policy Studies und Dow Jones & Co., der Herausgeber der Far Eastern Economic Review, veranstalteten in Singapur vom 17.-19. Mai dieses Jahres eine Konferenz zum Thema „Wellen der Zukunft: ASEAN, Vietnam und China“. Dort äußerten sich Pemierminister oder ihre Stellvertreter mit Visionen, Analysen, Reflektionen und Warnungen12. Es gibt Kolloquien, Konferenzen und Seminare auf weniger hochrangiger Ebene, wie etwa in Manila vom 16.-17.1.94 das ASEAN-Colloquium über Menschenrechte, gemeinsam veranstaltet von den verschiedenen – von staatlicher Seite unterstützten – Instituten für Strategische und Internationale Studien aus den ASEAN-Ländern13.

Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und politischen Persönlichkeiten aus verschiedenen ASEAN-Ländern kann auch Ausdruck bestimmter Denkrichtungen sein, von denen aus Anstöße gegeben werden sollen. So wurde am 7.6.94 gleichzeitig in Bangkok und Kuala Lumpur eine Erklärung mit der Überschrift „Southeast Asia beyond the Year 2000, a Statement of Vision“ veröffentlicht, die Ende Mai 19 Wissenschaftler und Politiker aus Thailand, Malaysia, den Philippinen, China, Indonesien, Burma, Vietnam, Kambodscha, Laos und Singapur in Manila ausgearbeitet hatten14. Die Zusammenarbeit von »think tanks« und Wissenschaftlern im Raum Asien/Pazifik ist in den letzten Jahren ebenfalls entstanden; diese werden von einigen Beobachtern euphorisch als Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen (NRO) gesehen15. Sie stellen einen öffentlichen Meinungsbildungsprozeß zu internationalen Fragen dar, der durchaus von offiziellen Regierungsmeinungen und -politik abweichen kann.

Aber nicht nur auf der mehr oder minder »offiziösen« Ebene entwickelt sich ein öffentlicher Gedankenaustausch und eine Zusammenarbeit über die nationalen Grenzen hinweg. Schon seit mehreren Jahren versuchen basisbezogene NROs eine Vernetzung über die nationalen Grenzen hinweg zu organisieren. Häufig sind diese Vernetzungsaktivitäten in internationale oder gesamtasiatische Aktivitäten eingebettet und zum Teil zufällig. Konferenzen sind meist ein isoliertes Ereignis, dem selten kontinuierlicher, institutionalisierter Kontakt und eine Zusammenarbeit folgen. Mangelnde Erfahrungen bei internationaler Zusammenarbeit, Unkenntnisse über die Nachbarländer und unterschiedliche Sprachen und politische Kulturen erschwerten das bisher.

Aber die persönlichen Erfahrungen einer wachsenden Zahl von NRO-Aktivisten in der Begegnung mit sozial und politisch aktiven Menschen aus anderen Ländern führten zu einer zunehmend verbindlicheren Zusammenarbeit verschiedenartiger NROs innerhalb der Region Südostasien sowie Asien/Pazifik. Die UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 war z.B. Anlaß für eine verbindlichere und kontinuierliche Vernetzung entsprechender Organisationen aus dem Raum Asien-Pazifik, die nicht nur vor dem Ereignis stattfand, sondern auch weitergeführt worden ist. Ausdruck davon war u.a. auch die Osttimor Konferenz in Manila Ende Mai, welche die indonesische Regierung so erzürnt hat. Ferner veranstalteten anläßlich der oben erwähnten ASEAN-Außenministerkonferenz in Bangkok thailändische Menschenrechtsorganisationen ein »Seminar« unter Beteiligung von Gästen aus dem ASEAN-Ländern mit dem Titel „Southeast Asian NGOs Forum on Human Rights and Development“, wo auch die Themen Osttimor und Burma behandelt wurden.

Notwendigkeit der Öffnung und Zusammenarbeit

Südostasien als wirtschaftliche Wachstumsregion völlig im Einklang mit der bestehenden (kapitalistischen) Weltwirtschaftsordnung wird die bestehenden Konfliktpotentiale unter Kontrolle bekommen müssen, will es nicht seine wirtschaftlichen Erfolge aufs Spiel setzen. Nicht nur die Regelung von Konflikten und Wahrung von Sicherheit und Stabilität machen eine engere Zusammenarbeit untereinander notwendig, sondern vor allem auch das Wirtschaftssystem verlangt eine Öffnung der Grenzen für einen möglichst ungehinderten Waren und Kapitalverkehr. Die Regierungen der Staaten werden stückweise Teile ihrer nationalen Souveränität zu Gunsten einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit abgeben und gleichzeitig versuchen, für sich dabei die möglichst günstigsten Bedingungen herauszuschlagen. Ob diese Zusammenarbeit der breiten Bevölkerung mehr Nutzen als Schaden bringt, ist noch nicht abzusehen.

Steigerung der Rüstungshaushalte 1989-1993
Malaysia + 67%
Indien + 60%
Singapur + 53%
VR China + 49%
Südkorea + 40%
Nordkorea + 39%
Japan + 30%
Vietnam + 25%
zum Vergleich: USA – 21%
Quelle: Asian Defence Journal 6/94, nach:
BUKO – Kampagne »Stoppt den Rüstungsexport«: Schattenseiten Südostasiens.
Rüstung und Militarisierung der ASEAN-Länder. August 1994. (Auszüge)

Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors übernommen aus »südostasien informationen«, Nr. 3, Jg. 10, September 1994.

Anmerkungen

1) Als Dialogpartner waren die USA, Australien, Kanada, Neuseeland, die Europäische Union (vertreten durch den deutschen Außenminister Kinkel), Südkorea und Japan anwesend. Als Gäste geladen waren die VR China, Rußland, Vietnam, Laos und Papua Neuguinea. Zurück

2) Offizielles Gründungsjahr ist 1967. Zurück

3) Vgl. u.a. Schwerpunktheft Südostasien Informationen Nr. 4/1985 »Regionale Konflikte in Südostasien«. Zurück

4) Vgl. auch R. Kahrs, Waffen für ein Vakuum. Deutsche Rüstungsexportinteressen in Fernost, in: südostasien informationen (SOAI), 4/93, S.4-7. Zurück

5) Vgl. Regina von Reuben, Thailands Elektrizitätswerk rüstet zum Wasserkrieg, in: SOAI , 2/94, S.35-38. Zurück

6) Vgl. u.a. R. Werning, Zwischen Autonomie und Sezession: die Moros in den Südphilippinen, SOAI 4/85, S.50ff. Zurück

7) Vgl. W. Pfennig, ASEAN: Durch regionale Zusammenarbeit zu mehr Sicherheit und besserer Entwicklung? in: R. Dürr/R. Hanisch (Hrsg.), Südostasien – Tradition und Gegenwart, Braunschweig 1986, S.114ff; K.-A. Pretzell, Der Weg der ASEAN, in: Südostasien Aktuell, März 1994, S.159ff. Zurück

8) Vgl. Peter M. Ungprakorn, Barriers must go – yours first, in: Bangkok Post Mid-Year Review 1994, 30.6.94, S. 20. Zurück

9) Vgl. SOAI, Nr. 1/94 S.48ff. Zurück

10) Vgl. SOAI, Nr. 1/94, S.42. Zurück

11) Vgl. Asiaweek (Honkong), 15.6.94, S.41ff. Zurück

12) Vgl. Far Eastern Economic Review (Hongkong), 2.6.94, S.20f. Zurück

13) Bonn ASEAN Committe Newsletter, No. 38, 1994, S.8f. Zurück

14) Vgl. Bangkok Post (weekly oversea edition), 17.6.94. Zurück

15) Vgl. Far Eastern Economic Review (Hongkong), 30.6.1994, S. 29. Zurück

Peter Franke ist Mitarbeiter der Südostasien Informationsstelle und verantwortlicher Redakteur von »südostasien informationen«.

Der Patriarchen eiserner Griff

Der Patriarchen eiserner Griff

Der Grundstein der Generalsherrschaft liegt im antikolonialen Kampf

von Rainer Werning

Seid freundlich zu Tieren, indem ihr sie nicht esst“. Diese Inschrift zierte jahrelang ein nach jedem Monsun bleicher werdendes Hinweisschild nahe dem Bahnhofsgebäude von Mandalay, der zweitgrößten Stadt Birmas, einst die prunkvolle Residenz der Könige des Landes. Dass der Buddhismus das Töten von Kreaturen aus dem Tierreich untersagt, war den Birmanen, die mehrheitlich buddhistisch sind, seit je bekannt. Heute müssen die über 50 Millionen EinwohnerInnen des Landes erneut feststellen, dass die seit 45 Jahren ununterbrochen herrschenden Militärs keinen Deut geneigt sind, es auch mit der Menschenliebe genau zu nehmen.

Knapp 20 Jahre nach der ersten machtvollen Bewegung für Freiheit und Demokratie in dem einst wirtschaftlich florierenden südostasiatischen Land deutet vieles darauf hin, dass die amtierende Militärjunta unter General Than Shwe (74) auch diesmal unerbittlich alles niederkartätscht, was ihre Despotie in Frage stellt. Bedeutsame innen- wie außenpolitische Entwicklungen und Konstellationen – darunter der Militarismus und die geostrategische Lage des Landes – können die Militärmachthaber nutzen, um sich missliebiger Widersacher zu entledigen und gesellschaftspolitische Alternativen zu vereiteln. Immerhin gibt es in Staat, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur keinen Bereich, in dem nicht die Tentakeln des dominanten Militärs spürbar sind.

Pro-japanisches Paktieren

Nach drei anglo-birmanischen Kriegen im 19. Jahrhundert wurde Birma von Großbritannien annektiert und 1862 dem Vizekönig von Indien als Provinz Indiens unterstellt. Rasch entwickelte sich das Land zu einem der wichtigsten Reisexporteure Asiens und erlangte auch aufgrund seiner Holz-, Kautschuk- und Erdölressourcen eine kolonialwirtschaftliche Bedeutung. Gegen die britische Vormacht formierten sich insbesondere in den 1930er Jahren Kräfte, die politische Unabhängigkeit und eine sozialistische Wirtschaftsordnung forderten. Wichtige Vertreter der Dobama Asiayone (»Wir-Birmamen-Vereinigung«) waren die in der Hauptstadt Rangun ausgebildeten Studenten U Nu und Aung San, der Vater der Friedensnobelpreisträgerin und Ikone der heutigen Demokratiebewegung, Aung San Suu Kyi. Mit dem Eigennamen »Thakin« (»Herr« oder »Meister«) drückten sie die angestrebte Gleichstellung mit den Europäern aus, die mit »Thakin« angeredet wurden.

Bereits vor der japanischen Invasion in Südostasien hatten sich »Thakin«-Führer, darunter auch Aung San, bereit erklärt, eine bewaffnete Armee unter der Ägide des japanischen Kaiserreiches aufzustellen – gemäß der Devise: Der Feind meines Feindes (in diesem Fall Großbritannien) ist mein Freund. Das militaristische Japan drapierte seine eigenen Vorherrschaftspläne in Asien und im Pazifik mit dem Konzept der »Größeren Ostasiatischen Gemeinsamen Wohlstandssphäre«. Es sah sich als »Licht, Lenker und Beschützer Asiens« im Kampf gegen westlichen Kolonialismus und Imperialismus.

Die Gruppe der anfänglich 30 »Thakin«-Führer bezeichnete sich auch als »30 Kameraden« und bildete – eine Zeitlang geschult auf der japanisch okkupierten chinesischen Insel Hainan – unter Aufsicht japanischer Verbindungsoffiziere den Kern der »Burma Independence Army« (BIA). Als Tokio im August 1943 ein Vasallenregime in Birma installierte, war Aung San im Rang eines japanischen Generalmajors Kommandeur der »Burma Defence Army«, der BIA-Nachfolgeorganisation, und er übernahm das Verteidigungsressort und wurde Oberbefehlshaber dieser pro-japanischen Regierung.

Wie Sukarno, der spätere Gründungsvater Indonesiens, zählte Aung San anfänglich zu den glühendsten Bewunderern Japans in Südostasien. Im Einklang mit Japan, das die Region nach seinem Ebenbilde umgestalten und deren Bevölkerungen in gefügige Untertanen verwandeln wollte, strebten Aung San und Sukarno einen rigiden Zentralstaat an. Eine verhängnisvolle Weichenstellung, zumal in Vielvölkerstaaten wie Birma und Indonesien, wo jeweils die Birmanisierung beziehungsweise Javanisierung als raison d’etre postkolonialen Nationalismus begriffen und militärisch exekutiert wurde.

Erst als der menschenverachtende Kurs des japanischen Militarismus im Laufe des Krieges immer offensichtlicher wurde, beteiligte sich Aung San am Aufbau der »Antifaschistischen Volksfreiheitsliga«, die mit den Anfang 1945 vorrückenden britischen Truppen sympathisierte. Schließlich konnte Aung San im Januar 1947 in London mit Premierminister Clement Attlee ein Abkommen über die formelle Unabhängigkeit Birmas am 4. Januar 1948 unterzeichnen. Der zum Premierminister auserkorene Aung San wurde im Juli 1947 im Auftrag eines politischen Widersachers ermordet, weshalb die Position schließlich seinem Mitstreiter U Nu zufiel.

Militarismus als Staatstugend

Landesweite Revolten, das Erstarken der Kommunistischen Partei Birmas und Aufstände seitens ethnischer Minderheiten wie der Shan, Kachin, Mon und Karen veranlassten einen der »30 Kameraden« zum Militärputsch. Generalleutnant Shu Maung, der sich den nom de guerre Bo Ne Win (»Befehlshaber Strahlende Sonne«) zugelegt hatte, schuf ein eisernes Militärregime, dem er unangefochten von März 1962 bis zum Sommer 1988 als Chef der Streitkräfte, Vorsitzender des Revolutionsrates, Premierminister der Revolutionsregierung und später als Präsident der Sozialistischen Republik der Union von Burma vorstand. Gleichzeitig gründete er als neue Staatspartei die »Burma Sozialistische Programmpartei« (BSPP), die er ebenfalls 26 Jahre lang führte. Doch diese Partei und der Kurs Ne Wins waren faschistoid und xenophobisch.

Die ersten Opfer dieser drakonischen Politik waren die StudentInnen. In der Hauptstadt Rangun ließen Gefolgsleute des neuen Machthabers im Sommer 1962 sogar das Gebäude der historischen »Rangoon University Student Union« (RUSU) sprengen. Landesweit blieben Hochschulen geschlossen, so dass sich Tausende Studierende im Hinterland Guerillaeinheiten anschlossen oder im Ausland, vorzugsweise im benachbarten Thailand, Asyl suchten.

Gegen verschiedene Guerillaeinheiten ging das Militär mit äußerster Brutalität vor; BewohnerInnen ganzer Dörfer, selbst Kinder, wurden zwangsweise als Helfer in die Kriegführung eingebunden. Wie in keinem anderen südostasiatischen Land entstand ein allgegenwärtiges, höchst effizientes Blockwartsystem, in das selbst buddhistische Bonzen integriert wurden. Informanten und Spitzel hätschelte das System ebenso wie bereitwillige Investoren, wenn diese sich nur verpflichteten, Mitglieder der Junta ausreichend zu schmieren. Während diese in Saus und Braus lebten, sich regelmäßig in Singapur medizinischen Checks unterzogen und ihrer engsten Klientel lukrative Geschäfte zuschanzten, lebte das Gros der Bevölkerung an oder unterhalb der Schwelle des Existenzminimums.

1988 schien sich das Blatt zu wenden. Lautstark waren die Proteste und Demonstrationen gegen das Regime in der Metropole Rangun zu vernehmen. Zwar waren die Tage Ne Wins gezählt, nicht aber die des Militärs. „Um die Auflösung der Union zu verhindern“, so Ne Wins Nachfolger, General Saw Maung, werde ein Staatsrat zur Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung (SLORC) die Geschicke des Landes lenken, das seit 1989 Myanmar heißt. Aus kosmetischen Gründen wurde der SLORC Ende 1997 in Staatsrat für Frieden und Entwicklung (SPDC) umbenannt. Dieser wird vom heutigen Machthaber Than Shwe geführt.

»Heimstatt der Könige«

Than Shwe, um den sich allerlei Gerüchte ranken, arbeitete sich nachweislich als Experte psychologischer Kriegführung und als Leiter von so genannten Aufstandsbekämpfungsoperationen im Osten des Landes an die Spitze der Militärhierarchie. Auf ihn ging auch die Anregung zurück, die Hauptstadt von Rangun (heute Yangon) ins etwa 400 Kilometer weiter nördlich gelegene Naypyidaw zu verlegen. Naypyidaw heißt »Heimstatt der Könige« oder »Königliche Residenz«.

Dort schottet sich die Junta nun in unwirtlichem Terrain vom Volk ab. Sie misstraut dem Moloch Rangun mit seinen überbordenden sozialen Problemen, fürchtet die Hafenstadt als möglichen Dreh- und Angelpunkt eines Irak ähnlichen Regimewechsels und sieht sich näher dem großen politischen Verbündeten und potentesten Wirtschaftspartner, der Volksrepublik China, die bereits der größte Abnehmer seiner Gas- und Ölvorkommen ist. Analysten in der Region gehen davon aus, dass sich bald der Norden Birmas als bedeutsames Investitionsgebiet Chinas empfiehlt, um von dort sowie von der Hafenstadt Rangun aus seine Exporte nach Südasien, in den Nahen und Mittleren Osten sowie nach Europa drastisch zu erhöhen.

Ebenso wenig wie sich Zahnpasta zurück in die Tube pressen lässt, so wird sich der Einfluss des Militärs im Lande auf absehbare Zeit nicht eindämmen lassen. Birma rangiert heute auf Platz 10 der weltweiten Liste des Militärs mit zirka 490.000 Mann unter Waffen. Mit Hilfe der 1967 in der thailändischen Metropole Bangkok gegründeten (und damals strikt antikommunistisch ausgerichteten) Vereinigung südostasiatischer Staaten (ASEAN), deren Mitglied es seit genau einem Jahrzehnt ist, sowie als verlässlichster anti-US-amerikanischer Verbündeter Chinas in der Region, wird Birma alles unternehmen, um dem internationalen Big Business seine Pforten weiter zu öffnen. Aus Deutschland sind in dem südostasiatischen Land beispielsweise Hapag-Lloyd, Siemens und das Logistikunternehmen Schenker engagiert. Als Auslöser für die jüngsten landesweiten Proteste und Demonstrationen wurden drastische Preissteigerungen für Benzin und Lebensmittel verantwortlich gemacht. Zur gleichen Zeit wurde indes alles getan, um den reibungslosen Zufluss von Öl- und Gaslieferungen in Chinas südliche Provinz Yunnan zu garantieren.

Dr. Rainer Werning kennt Birma durch regelmäßige Besuche seit 1969; er ist Politologe und Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien

Die EU und Ostasien

Die EU und Ostasien

Zum Stellenwert der Sicherheitspolitik

von Dirk Nabers und Günter Schucher

Die EU betreibt eine zunehmend aktivere Außenpolitik. Die Beziehungen zu Ostasien bleiben dabei allerdings weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Institutionalisierung der politischen Beziehungen zwischen Asien und Europa hat zwar eine lange Geschichte, ist aber bis heute nicht über das Stadium des regelmäßigen Dialogs hinaus gekommen.

Entsprechend gering ist bisher der Nutzen für die Beziehungen einzelner asiatischer und europäischer Staaten untereinander gewesen. Dies änderte sich auch nicht, als am 1. März 1996 25 Staats- und Regierungschefs aus der EU und Ostasien zum ersten Gipfel des seither »Asia-Europe Meeting« (ASEM) genannten Forums zusammenkamen. In der Folge wurden zwar mannigfaltige Themen diskutiert, doch das Treffen hat bisher die Konsultationsphase nicht hinter sich gelassen. Wo ASEM in der deutschen Prioritätenliste rangiert, zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung nicht bereit war, am 4. Treffen der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen teilzunehmen, weil das Treffen am Tag der Bundestagswahlen (22. September 2002) stattfand.

Ähnlich steht es mit der Rolle der EU in den sicherheitspolitischen Brennpunkten der Region: auf der koreanischen Halbinsel und in der Taiwan-Straße. Auch hier spielen die Europäer die Rolle eines externen Beobachters, der kaum in der Lage ist, die Agenda der Hauptbeteiligten – vor allem der USA und Chinas – zu beeinflussen. Allein bei der Befriedung der indonesischen Bürgerkriegsregion Aceh spielte die EU im Rahmen einer Beobachtermission eine aktive Rolle, die bereits als Leitbild für künftige friedenserhaltende Maßnahmen außerhalb Europas diskutiert wird.

Wie sich die sicherheitspolitische Rolle der EU in den genannten Problemfeldern im Einzelnen darstellt und sich in die Programmatik der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einfügt, soll im Folgenden analysiert werden. Dazu wird der Blick zunächst auf die programmatischen Grundlagen der EU-Außenpolitik gegenüber Ostasien gerichtet. In einem zweiten Schritt wird nach den Gründen für die geringen Fortschritte von ASEM im sicherheitspolitischen Bereich gefragt, um schließlich die Rolle der EU in den Beziehungen der VR China mit Taiwan, auf der koreanischen Halbinsel und in Aceh zu beleuchten. Am Ende des Beitrags werden die Ergebnisse in den Gesamtzusammenhang der ESVP gestellt.

Programmatik: Kein Sicherheitskonzept für Ostasien

Die politischen Beziehungen der EU zu Asien haben sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren entwickelt. Bis dahin war die EU vor allem mit ihrem eigenen Integrationsprozess befasst. Außenpolitische Beziehungen erfolgten auf der bilateralen Ebene von Land zu Land und blieben daher in hohem Maße inkongruent. Das galt auch für Ostasien, dessen strategische Bedeutung sich aufgrund der hohen Wirtschaftsdynamik seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich vergrößerte. Erst mit dem Vertrag von Maastricht (Dezember 1991) wurde begonnen, die bisherige Besuchsdiplomatie zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weiter zu entwickeln.

Der erste Dialog auf Gipfelebene begann 1991 mit Japan. Später wurden ähnliche Gipfelkontakte zu China, kürzlich auch zu Südkorea sowie im Rahmen des ASEM-Prozesses zu ganz Ostasien aufgenommen. 1994 verabschiedete die EU ihre erste offizielle Asien-Strategie, Konzeptpapiere zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit einzelnen Ländern und Subregionen wurden seit 1993 präsentiert: Korea (1993), China (1995), Japan (1995) und Südostasien (1996). Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wird dieses Rahmenwerk durch die Einbeziehung weiterer Länder komplettiert und die bestehenden Konzepte werden regelmäßig den Veränderungen in Asien, Europa und zwischen beiden Regionen angepasst.1 Dabei nehmen die eher beschreibenden Teile an Umfang ab und die politisch-strategischen zu. Einen Überblick über die sicherheitsrelevanten Aspekte dieser Konzepte gibt Tabelle 1.

Tabelle 1: Sicherheitsrelevante Inhalte der EU-Konzepte zu Asien und der Europäischen Sicherheitsstrategie
Jahr Policy Paper Sicherheitsrelevante Inhalte
1994 „Towards a New Asia Strategy“ COM (94) 314
13. Juli 1994
Stärkung der wirtschaftlichen Präsenz in Asien, Beitrag zur Stabilität in Asien, Förderung der ökonomischen Entwicklung, Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie, Rechtstaatlichkeit sowie Menschen- und Freiheitsrechten. Prioritäten u.a.: Weitere Stärkung der bilateralen Beziehungen, Hebung des Profils von Europa in Asien
Politischer Dialog als Charakteristikum des neuen »Politischen Ansatzes«
2001 „Europe and Asia: A Strategic Framework for Enhanced Partnerships“ COM (2001) 469
4. August 2001
Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Asien entsprechend dem wachsenden globalen Gewicht der EU, u.a.: Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Region und Global, Beitrag zum Schutz von Menschenrechten und zur Verbreitung von Demokratie, Good Governance und Rechtstaatlichkeit, Aufbau globaler Partnerschaften und Allianzen mit asiatischen Ländern und Stärkung der Wahrnehmung Europas in Asien
Spannungsherde und Konfliktpunkte: Aceh, Mindanao, Taiwan-Straße, Südchinesisches Meer, Koreanische Halbinsel
2003 „A Secure Europe in a Better World“, European Security Strategy,
12. Dezember 2003
Übernahme von Verantwortung für die globale Sicherheit. Drei strategische Ziele: Bekämpfung der Bedrohungen (Terrorismus, Proliferation, Regionale Konflikte, u.a. Koreanische Halbinsel), Sicherheit in der Nachbarschaft, multilaterale internationale Ordnung
Asien: Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Japan, China, Indien

Die erste Asienstrategie von 1994 nahm ausdrücklich Bezug auf das wachsende Gewicht Asiens in der Weltwirtschaft und legte entsprechend das Schwergewicht auf wirtschaftliche Aspekte. Die EU entwickelte zugleich einen »neuen politischen Ansatz« als Bestandteil einer künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Europa sollte in die Lage versetzt werden, seine Interessen und Werte zu schützen und eine konstruktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Als angemessenes Mittel zur Umsetzung wurde der »politische Dialog« festgelegt.

Mit der neuen Strategie von 2001 nahm die EU unter Bezugnahme auf den Erweiterungsprozess für sich eine größere internationale Rolle in Anspruch und proklamierte entsprechend das Ziel, diese auch in Asien ausüben zu wollen. Wirtschaftliche Ziele wurden daher durch (sicherheits-)politische ergänzt. Europa soll in Asien nicht nur präsenter sein und eine aktivere Rolle spielen, es soll vor allem auch stärker als Akteur wahrgenommen werden. Verweisen konnte man nicht nur auf die Ausweitung der politischen Dialoge, sondern auch auf konkrete Beiträge zur Schaffung von Frieden und Sicherheit wie in Kambodscha, Osttimor und Afghanistan sowie zur Korean Energy Development Organization (KEDO).

Im Rahmen der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS), die 2003 im Anschluss an das europäische Debakel im Irakkrieg formuliert wurde, kommt Asien nur am Rande vor; konkret erwähnt wird einzig der Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel. Um global eine größere Rolle zu spielen, will die EU u.a. auf die Partner setzen, die für sie wichtig sind, und in Asien mit Japan, China und Indien strategische Partnerschaften entwickeln. Dies ist ein deutlicher Verweis auf die wachsende Bedeutung Asiens, was die EU-Kommissarin für externe Beziehungen Ferrero-Waldner ausdrücklich bestätigte: „We want to have a more coherent, effective and visible impact on world affairs… That will also mean working more closely politically with our Asian dialogue partners“ (Ferrero-Waldner 2007).

Insgesamt bleibt die EU-Strategie gegenüber Asien weiterhin stark beeinflusst vom wirtschaftlichen Wert der Region. Insofern stehen auch die wirtschaftlich dynamischen Länder in Ostasien sowie die südostasiatische Staatengemeinschaft ASEAN im Fokus. Sicherheitsrelevante Fragen spielen nur eine marginale Rolle, kommerzielle und politische Überlegungen sind weit wichtiger. Ein umfassendes kohärentes Sicherheitskonzept für die gesamte Region, das der proklamierten globalen Rolle der EU gerecht wird, alle in den einzelnen Konzepten durchaus benannten Krisenpunkte wie z.B. die Taiwanstraße einschließt und die Beziehungen zu den Kooperationspartnern USA und Japan klar definiert, fehlt völlig (van der Putten 2007). Die EU setzt auch weiterhin auf die Stärkung der ökonomischen Präsenz, den Ausbau bilateraler Beziehungen und auf politischen Dialog. Das sicherheitspolitische Engagement beschränkt sich dabei auf Stellungnahmen. Es bleibt unklar, was die strategischen Partnerschaften letztlich charakterisiert, zumal die Dialoge selten als intensive Diskussionsforen von Sicherheitsfragen genutzt werden.

Institutionalisierung des multilateralen Dialogs: Das Asia-Europe Meeting (ASEM)

Ein Beispiel für den wenig institutionalisierten Dialogprozess zwischen Asien und Europa ist das am 1. und 2. März 1996 in Bangkok erstmals abgehaltene Asia-Europe Meeting (ASEM).2 Drei Themenbereiche wurden bei der Gründung des Forums für künftige Treffen als vordringlich eingestuft: a) politischer Dialog, b) wirtschaftliche Zusammenarbeit und c) Zusammenarbeit in anderen Bereichen, darunter Wissenschaft und Technologie, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit und Kultur. In den ersten Jahren waren die Diskussionen stark auf wirtschafts- und kulturpolitische Themen gerichtet. So stand die Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien im Vordergrund der Gespräche von ASEM 2 in London 1998. Erstmals wurde im Rahmen von ASEM 3 im Jahr 2000 in Seoul eine sicherheitspolitisch relevante Deklaration verabschiedet, die »Seoul Declaration for Peace on the Korean Peninsula«, in der es jedoch an konkreten Vorschlägen zur Verbesserung des Klimas zwischen beiden koreanischen Staaten mangelt.

Erst seit den Anschlägen auf New York und Washington vom 11. September 2001 spielen innerhalb von ASEM auch politische und sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle. So stand neben der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus abermals Nordkorea auf der Agenda des vierten Asia-Europe-Meetings in Kopenhagen 2002. Es wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die Mitglieder des Forums ihre Unterstützung für den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel festschrieben. Auch dem Normalisierungsprozess zwischen Nordkorea und Japan wurde volle Unterstützung zugesichert. Künftig müsse Nordkorea durch alle ASEM-Mitgliedsstaaten aktiv in wirtschaftliche und politische Initiativen eingebunden werden, so das Schlusskommuniqué der Konferenz (Japan aktuell 4/2002, Ü 47). In der Folge von ASEM 4 wurde in Berlin eine ASEM-Konferenz zum internationalen Terrorismus durchgeführt. Erklärtes Ziel war es, wissenschaftliche Erkenntnisse zum Terrorismus direkt für die Diskussionen innerhalb von ASEM nutzbar zu machen.

Auch auf den Folgetreffen 2004 in Vietnam und 2006 in Finnland standen sicherheitspolitische Themen auf der Tagesordnung. In keinem Falle wurden jedoch konkrete Handlungsleitlinien für die ASEM-Staaten festgelegt. Dem Forum fehlt es an Handlungsbefugnissen; es besitzt bisher kein ständiges Sekretariat, das die Treffen auf Arbeitsebene koordinierend vorbereiten könnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass informelle Zusammenarbeit auf Dauer ein funktionales Äquivalent zu formaler Kooperation sein kann, wenn es um Themen wie Marktzugang, Investitionsschutz oder Terrorismus geht (Loewen/Nabers 2005).

In der Rede des deutschen Staatssekretärs Silberberg im Rahmen der Veranstaltungsreihe »EU-Countdown: In 100 Tagen zur EU-Ratspräsidentschaft« am 4. Oktober 2006 kam Ostasien nicht vor, während den Beziehungen mit Russland, Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika erhöhte Bedeutung zugemessen wurden (Auswärtiges Amt 2006). Dies muss angesichts des wirtschaftlichen Potenzials der Region und seiner bestehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen als verpasste Chance angesehen werden.

Beim europäisch-asiatischen Außenministertreffen 2007 in Hamburg wurde die EU durch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vertreten. Themen, die auf der Tagesordnung standen, bezogen sich auf den möglichst baldigen Abschluss eines europäisch-asiatischen Zollabkommens, die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Regulierung von Finanzdienstleistungen und des geistigen Eigentums, bei der Energie- und Ressourcensicherheit, der Forschung und Entwicklung im Hochtechnologiebereich, des Umweltschutzes, der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Terrorbekämpfung. Von politischer Seite wurde dabei darauf hingewiesen, dass es zuvorderst darauf ankomme, sich überhaupt zu treffen und über politische Ansichten zu diskutieren3, weniger auf die am Ende veröffentlichten gemeinsamen Deklarationen. Während es weltweit eine Reihe internationaler Institutionen gibt, die verbindliche Handlungsleitlinien erlassen, ist dies somit innerhalb von ASEM auf absehbare Zeit nicht der Fall.

VR China: Wirtschaftsbeziehungen dominant

Die Beziehungen zur Volksrepublik China machen die Dominanz wirtschaftlicher Beziehungen und die nahezu vollständige Abwesenheit von Sicherheitsüberlegungen besonders deutlich. Die EU hat zwar die Situation in der Taiwanstraße als einen der Hauptkonfliktpunkte in Ostasien benannt und mit dem Waffenembargo gegen China ein diplomatisches Instrument in der Hand, verfügt aber dennoch über kein kohärentes Sicherheitskonzept im Umgang mit der Volksrepublik.

Das Embargo über Waffenexporte wurde im Juni 1989 gegen China verhängt, verbunden mit der Aufforderung an die chinesische Regierung, die Repressionen gegen alle Chinesen zu stoppen, die ihre demokratischen Rechte in legitimer Weise einforderten (European Council 1989). Der konkrete Umfang des Embargos ist dabei nicht klar definiert und offen für unterschiedliche Interpretationen, aufgehoben werden kann es aber nur durch einstimmige Entscheidung, die durch die EU-Erweiterung noch schwieriger wurde. Vor allem Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident Chirac versuchten diese seit Herbst 2003 herbeizuführen, scheiterten aber schließlich an einer Kombination verschiedener Faktoren, darunter dem Widerspruch der USA und der Nichtberücksichtigung der Taiwanfrage. Vornehmlich hatten sie bilaterale Wirtschaftsinteressen im Blick und vernachlässigten darüber ebenso die transatlantischen Beziehungen wie die globalen und regionalen Sicherheitsaspekte. Als der chinesische Volkskongress dann im März 2005 das Anti-Sezessions-Gesetz gegen Taiwan verabschiedete, war die Aufhebung des Embargos in der EU nicht mehr durchsetzbar.

Ist das Embargo im Prinzip ein Instrument, Chinas Menschenrechts- und Taiwan-Politik zu kritisieren, so hat sich die EU hier selbst geschwächt, als sie sowohl im Europarat in Rom 2003 als auch auf dem EU-China-Gipfel im Dezember 2004 ankündigte, sie werde es in der ersten Hälfte 2005 aufheben. Seitdem drängt China auf die Einhaltung dieser Zusage. Auf der anderen Seite wurde seitens der EU im letzten »policy paper« zu China vom Oktober 2006 die Verbesserung der Beziehungen zwischen China und Taiwan zur Voraussetzung für eine mögliche Aufhebung des Embargos gemacht und damit beide Fragen miteinander verknüpft (Commission 2006). Dennoch fehlt auch weiterhin die klare Einbeziehung der Taiwanfrage in die sicherheitspolitische Agenda der EU. Wie sich die EU im Falle einer Krise in der Taiwanstraße verhalten wird, bleibt demnach offen.

Nordkorea: Unterstützende Rolle der EU

Auch im Hinblick auf eine aktivere Rolle der EU auf der koreanischen Halbinsel bleibt eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Nordkorea ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, mit legalen, politischen und militärischen Maßnahmen das Aufkommen einer neuen Nuklearmacht zu unterbinden. Gleichwohl konnte mit der Unterzeichnung eines »Agreed Framework« zwischen den USA und Nordkorea am 21. Oktober 1994 sowie der Schaffung der Organisation für die Energieentwicklung auf der Koreanischen Halbinsel (KEDO) am 9. März 1995 eine viel versprechende Grundstruktur für eine Regimebildung im Bereich nuklearer Nonproliferation geschaffen werden. In einem quid pro quo einigten sich die USA und Nordkorea, dass Pyongyang die aus Russland stammenden Graphit-Atommeiler in Yongbyon stilllege, den Bau von zwei weiteren Reaktoren stoppe und IAEO-Inspektionen zuzulassen habe. Im Gegenzug sicherten die USA die Lieferung von zwei modernen 1.000 MW-Leichtwasserreaktoren aus Südkorea und von bis zu 500.000 Tonnen Rohöl jährlich bis zur Fertigstellung der Reaktoren zu (Nabers 2006). 1997 trat die EU dem Konsortium bei und förderte die Arbeiten in Nordkorea in der Folge mit 118 Mio. Euro. Seit 1995 hat die EU Nordkorea zusätzlich mit humanitären Hilfen in Höhe von 450 Mio. Euro unterstützt.

Inzwischen ist die Übereinkunft gescheitert, nachdem Nordkorea im Oktober 2002 überraschend zugegeben hatte, heimlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet zu haben. Mit seinem Eingeständnis löste das Regime eine neue Krise insbesondere in den Beziehungen zu den USA aus (Japan aktuell 2/2003, Ü 43). Das internationale Konsortium zur Konstruktion der Leichtwasserreaktoren in Nordkorea beschloss, kein Rohöl mehr an Nordkorea zu liefern. Ein Jahr später wurde dann der Bau der Reaktoren eingestellt (KEDO 2005).

Um dem nordkoreanischen Atomwaffenprogramm Einhalt zu gebieten, fand seit 2003 eine Reihe so genannter »Sechs-Parteien-Gespräche« statt. An dieser Runde nehmen Vertreter der Volksrepublik China, Nordkoreas, der USA, Russlands, Japans und Südkoreas teil. Die EU ist nicht beteiligt. Daher blieb das Verhältnis der EU zu Nordkorea auf intensive humanitäre Hilfe und die politische Unterstützung bei den Sechser-Gesprächen beschränkt. Als Nordkorea am 9. Oktober 2006 einen Atombombentest durchführte, leitete dies die schwerste Krise zwischen der EU und Nordkorea seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 2001 ein (Schwinger 2006). Aktiv ist die EU seither nicht an der Beilegung des Nuklearprogramms beteiligt. Man beschränkt sich hier stattdessen auf enge Konsultationen mit den USA.

Aceh: Die erste europäische Friedensmission

Im Gegensatz zur weit gehenden Passivität der EU in den brennenden Konflikten der Region ist die erste Friedensmission der Europäer in Asien eine Erfolgsgeschichte. Nach 30 Jahren des Bürgerkriegs wurde in der indonesischen Provinz Aceh von September 2005 bis Dezember 2006 eine 227 Kopf starke Beobachtermission unter der Führung der Europäer durchgeführt (Aceh Monitoring Mission, AMM), die mit freien Wahlen am 11. Dezember 2006 endete. Seit 1976 hatte die »Bewegung Freies Aceh« (GAM) für die Unabhängigkeit gekämpft. Die Führer der Rebellenbewegung hatten eine Regierung im Exil gegründet und ihre Kämpfer in einen Guerillakrieg geschickt, der mindestens 15.000 Menschen das Leben gekostet hat. Im Jahr 2001 war ein Waffenstillstand gescheitert, und die Zentralregierung hatte eine massive Militäroperation mit 40.000 Soldaten gestartet. Erst der verheerende Tsunami vom 26. Dezember 2004 hatte ein Ende der Feindseligkeiten bewirkt (Ufen 2007).

Die historische Wahl war nun der Höhepunkt eines zweijährigen Friedensprozesses, der nach dem Tsunami eingeleitet worden war. In der Zeit der finnischen Ratspräsidentschaft war am 15. August 2005 in Helsinki ein Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der GAM und der indonesischen Zentralregierung unterzeichnet worden, das als Grundlage für die folgende Friedensmission diente (EU 2006a). 131 der Beobachter kamen aus der EU, der Schweiz und Norwegen, 96 aus Mitgliedstaaten der südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN. Hauptziel der Mission war die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Rebellen sowie die Überwachung indonesischer Truppenverbände aus der Region. Die EU unterstützte die Mission mit insgesamt 260 Mio. Euro (EU 2006b).

Zur Wahl im Dezember entsandte die EU zusätzlich eine Wahlbeobachtungsmission. Das Team bestand aus 33 Langzeit- und 44 Kurzzeitbeobachtern. Dazu stellte die Kommission 2,4 Mio. Euro im Rahmen der europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte bereit. Die Wähler waren aufgerufen, am 11. Dezember den Gouverneur, vier Bürgermeister, 15 Distriktleiter und ihre jeweiligen Stellvertreter zu wählen. Mehr als 10.000 Polizisten und mehrere Tausend Wahlbeobachter aus der Region waren im Einsatz.

Der größte Erfolg der Europäer liegt wohl darin, überhaupt von dem stark auf seine nationale Souveränität bedachten Indonesien ins Land gelassen worden zu sein. Nach dem »Verlust« Ost-Timors, bei dem Australien als externe Macht eine große Rolle gespielt hatte, stand die Masse von Bevölkerung und Politik der Rolle ausländischer Mächte bei der Regelung innerer Angelegenheiten skeptisch gegenüber. Auch die Vereinten Nationen schieden als Beobachter aus, da sie bereits die Friedenserhaltenden Maßnahmen in Ost-Timor durchgeführt hatten. Als sich die EU mit der ASEAN auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatte, wurde ihre Friedensmission schließlich auch von der indonesischen Regierung akzeptiert.

Rückblickend wurde die Mission daher von der EU gerühmt. Sie habe erstens zu einer Annäherung mit Indonesien geführt. Das entstandene Vertrauen könne als Grundlage für ein langfristiges Engagement der EU in Südostasien dienen. Zweitens habe die ESVP durch die Mission Auftrieb erhalten. Künftig werde die Aceh-Mission als Beispiel für eine erfolgreiche Friedensmission der EU im Ausland herangezogen werden können (EU 2006c).

Schluss

Es ist erklärtes Interesse der EU, als globaler Sicherheitsakteur in Ostasien Stabilität und Wirtschaftswachstum zu fördern. Seit Beginn des 21. Jahrtausends gibt es auch Ansätze zur Formulierung einer umfassenden Sicherheitsstrategie; Ostasien bleibt davon allerdings weit gehend ausgeklammert. Hier sind die intensiven Wirtschaftsbeziehungen dominant. Sicherheitsfragen spielen nur eine marginale Rolle und die sicherheitspolitische Präsenz der EU ist weiterhin gering. Bisher scheint sie eher versucht zu haben, ihre politische Rolle im Gepäck der Wirtschaftskooperation zu vergrößern. Auch von Seiten der asiatischen Länder wird die EU daher zwar als ökonomischer Partner, aber weniger als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen.

Erst seit dem gescheiterten Versuch, das Waffenembargo gegen China aufzuheben, sind seitens der EU Ansätze erkennbar, die Beziehungen zu den USA und anderen Kooperationspartnern, d.h. vor allem Japan, in die sicherheitspolitische Strategie einzubeziehen. Dabei ist es durchaus nicht leicht für die EU, sich neben den USA als globaler Sicherheitsakteur zu beweisen.

Entsprechend nachrangig ist die Rolle der EU als Akteur in den wichtigsten Krisenherden der Region, der Taiwan-Straße und der koreanischen Halbinsel. Allein im Rahmen der Beobachtermission in der indonesischen Provinz Aceh konnte ein Erfolg auf der Weltbühne verzeichnet werden. Alles in allem ist das für die EU, die sich selbst gerne als »Zivilmacht EU« gegenüber der Militärmacht USA versteht, viel zu wenig. Als Zivilmacht hat man sich die Zähmung und Einhegung von Gewalt in allen Teilen der Welt, die Verregelung und Verrechtlichung internationaler Beziehungen, die Intensivierung multilateraler Kooperation und die Förderung sozialer Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auf globaler Ebene auf die Fahne geschrieben. In all diesen Bereichen ist die europäische Asienpolitik indes bis heute unterentwickelt.

Literatur

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Anmerkungen

1) Strategiepapiere der EU-Kommission: „Relations between the European Community and the Republic of Korea“, COM, 1993, unpubl.; „European Union Policy towards the Republic of Korea“, COM (1998) 714; „Europe and Japan: The Next Steps“, COM (95) 73; „A Long-term Policy for China-Europe Relations“, COM (95) 279, „The EU‘s Relations with China: Building a Comprehensive Partnership with China“ COM (1998) 181, „EU Strategy towards China: Implementation of the 1998 Communication and Future Steps for a more Effective EU Policy“ COM (2001) 265; „A new partnership with South East Asia“, COM (2003) 399/4.

2) Neben den Mitgliedstaaten der EU nahmen auf asiatischer Seite die ASEAN-Mitglieder Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam sowie die VR China, Japan und Südkorea teil.

3) Siehe dazu das Interview mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Hamburger Abendblatt vom 26. Mai 2007.

PD Dr. Dirk Nabers nimmt derzeit eine Lehrstuhlvertretung für Internationale Beziehungen und Europäische Integration an der Universität Stuttgart wahr. Dr. Günter Schucher ist Kommissarischer Direktor des German Institute of Global and Area Studies (GIGA)