Warum töten sie?
Warum töten sie?
Motivationen von Täter*innen im Völkermord
von Timothy Williams
Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien, in Kambodscha oder auch unter dem Nationalsozialismus? So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990er Jahren einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt. Dennoch stellt sich die Frage: Warum töten Sie?
Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien haben Menschen ihre Freund*innen und Nachbar*innen getötet, mit denen sie ihr ganzes Leben zusammen verbracht haben. In Kambodscha wurden Kindersoldat*innen zu Henker*innen des neuen Regimes der Roten Khmer. In den Dörfern Osteuropas sowie den Konzentrationslagern der Nationalsozialist*innen haben gewöhnliche Deutsche die jüdische Bevölkerung zu vernichten versucht. So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990ern einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt (Browning 2001 [1994]), die aber ganz Ungewöhnliches verübt haben.
Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, wenn sie doch so gewöhnlich sind. Mit dieser Frage beschäftigen sich Forschende verschiedener Disziplinen – von der Politikwissenschaft zur Psychologie, von der Anthropologie zur Soziologie, Kriminologie und Geschichtswissenschaft – und man kann auf wichtige Studien zu verschiedenen Fällen aufbauen, vor allem zum Holocaust (Browning 2001 [1994]) und Ruanda (Fujii 2009; McDoom 2021; Straus 2006). In meinem neuen Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« (Williams 2021) bringe ich die Erkenntnisse aus den verschiedenen Disziplinen und den unterschiedlichen Fällen mit eigenen Daten aus Feldforschung mit ehemaligen Roten Khmer in Kambodscha zusammen, um ein konzeptionelles Modell zur Erklärung dieser Beteiligung an Völkermord zu schaffen. In dem Modell zur »Komplexität des Bösen« argumentiere ich, dass es eine Vielzahl von Beweggründen für Täter*innenschaft gibt und dass viele dieser Beweggründe recht alltäglicher Natur sind (Williams 2021). Das Modell unterscheidet systematisch zwischen verschiedenen Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen und erlaubt damit ein kausal komplexeres Verständnis von Faktoren, die für eine Beteiligung an Völkermord wichtig sind. In diesem Beitrag werde ich zunächst diskutieren, um wen es hier bei Täter*innen überhaupt geht, warum sie sich an Völkermord beteiligen, in welchem Kontext sie sich bewegen (und welchen Einfluss dieser hat) sowie ob und wie wir hieraus für die Prävention etwas lernen können.
Wer ist Täter*in?
Bei einer Erklärung von Täter*innenschaft im Völkermord muss zunächst geklärt werden, wer denn überhaupt als Täter*in und was als Tat zu gelten hat. Denn Völkermord wird als kollektives Verbrechen begangen, in dem Gewalt arbeitsteilig ausgeübt und oftmals in breitere, organisierte Prozesse eingebunden ist. Damit haben Menschen, die nicht zur Waffe greifen und die Morde implementieren, trotzdem aber auch eine Verantwortung für den Beitrag ihres Handelns für die Gewalt. In meiner Forschung verfolge ich also ein breites Verständnis, wer als Täter*in zu gelten hat, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ganz viele Formen der Beteiligung mit ihrer Wirkung zum Völkermord beitragen können (siehe Williams 2018). Offenkundig gehören hier auch die obersten Führer*innen eines Regimes dazu, die Ideologien verbreiten, Gesetze erlassen und den Rahmen schaffen, in dem der Völkermord denkbar und machbar wird. Andere tragen durch ihre Organisation zur Logistik des Völkermords bei, wie Adolf Eichmann und seine Koordination der Züge im Holocaust. Wiederum andere verbreiten hetzerische Ideologien durch journalistische oder kulturelle Arbeit, wie Ferdinand Nahimana, der den extremistischen ruandischen Radiosender »Radio Télévision Libre des Mille Collines« (RTLM) gründete, dessen Sendungen während des Völkermords die Hutu-Bevölkerung aufhetzte und zur Beteiligung am Völkermord gegen die Tutsi anstachelte.
Die Komplexität des Bösen
Um die Frage zu beantworten, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, bedient sich das »Komplexität des Bösen«-Modell verschiedener Disziplinen – von der Psychologie zur Kriminologie, von der Soziologie zur Anthropologie – und Erkenntnissen aus der Forschung zum Holocaust, Ruanda und Bosnien sowie meiner eigenen Feldforschung in Kambodscha. Das Modell zeigt auf, dass es Muster gibt, die sich über Völkermorde in verschiedenen Ländern hinweg ähneln, aber dass es hier eine hohe Diversität der Faktoren gibt, die jeweils Einfluss auf einzelne Täter*innen ausgeübt haben. Das Modell unterscheidet hierbei zwischen drei verschiedenen Typen von Einflussfaktoren, die zusammenwirken, dass sich jemand an Völkermord beteiligt: Motivationen, erleichternde Faktoren und Kontextbedingungen. Eine Übersicht über die wichtigsten Faktoren findet sich in Graphik 1.
Graphik 1: Modell der »Komplexität des Bösen« ©Rutgers University Press / Timothy Williams
Motivationen von Täter*innen im Völkermord
Motivationen sind der grundlegende Impuls zur Beteiligung, ohne die es nicht zur Täter*innenschaft kommen würde. Hierbei ist es zunächst unwesentlich, welche Motivation vorhanden ist, aber mindestens eine muss auftreten, damit sich jemand an Völkermord beteiligt. Welche Motivation sich jeweils wesentlich auf eine Entscheidung für die Täter*innenschaft auswirkt, kann sich über die Zeit auch ändern (Reinermann und Williams 2020). Es gibt drei wesentliche Kategorien von Motivationen: Ingroup-bezogene, Outgroup-bezogene und opportunistische Motivationen.
Die erste Gruppe von Motivationen speist sich aus Dynamiken innerhalb der Gruppe der Täter*innen. Einfluss auf die Täter*innen kann hierbei hierarchisch-vertikal von Vorgesetzten oder kollegial-horizontal von Kamerad*innen oder Freund*innen ausgehen und explizit in Befehlen oder Aufforderungen oder implizit durch Annahmen und soziale Erwünschtheit ausgeübt werden; in diesen Beziehungen kann auch manchmal die Androhung oder Ausführung von Zwang als Motivation wirken. Weiter können Menschen durch ihre Beteiligung einen Aufstieg im sozialen Status oder Ansehen erhoffen oder sie können Rollen annehmen, in denen sich die Täter*innenschaft als sinnhaft darstellt. So hat ein ehemaliger Kader der Roten Khmer im Interview erklärt, dass er wusste, als er zu den Roten Khmer kam, habe er ein Tiger werden müssen und damit so handeln und denken wie ein Tiger und keine Moral haben, wie ein Tiger.
Eine zweite Gruppe von Motivationen fokussiert auf die Gruppe der Opfer. Hier können Menschen emotionale Reaktionen auf Mitglieder der Opfergruppe entwickeln, z. B. Hass, Neid, Angst oder Ekel. Ihre Täter*innenschaft ist damit eine emotionale Reaktion auf ihre Wahrnehmung der Situation und der Opfergruppe. Weiter – und prominent in populären Darstellungen von Völkermord – können Ideologien motivierend wirken (vgl. Goldhagen-Debatte). Empirisch gibt es aber relativ wenige Personen, die von Ideologien motiviert werden, sondern Ideologien spielen wichtigere Rollen als erleichternde Faktoren und als Kontextbedingungen (siehe unten).
Als dritte Kategorie finden sich opportunistische Motivationen, die den Eigennutz, den sich Täter*innen von ihrer Beteiligung erhoffen, in den Vordergrund stellen. Täter*innen können auf materielle Vorteile hoffen, wenn sie ihre Opfer ausrauben dürfen oder für ihre Beteiligung bezahlt werden, andere hoffen auf einen schnelleren Karrierefortschritt oder die Vermeidung von Nachteilen, oder sie versuchen persönliche oder politische Konflikte unter dem Deckmantel der neuen ideologischen Ordnung neu zu verfolgen.
Erleichternde Faktoren
Erleichternde Faktoren ergänzen Motivationen als Beweggründe, die zwar als nicht notwendig für eine Beteiligung gelten, aber diese erleichtern, indem sie die Teilnahme psychologisch einfacher machen oder sonst begünstigen. Hier finden sich konzeptionell eine Vielzahl von erleichternden Faktoren, die sich in vier Gruppen einordnen lassen. Erstens spielen hier Ideologien ihre zentrale Rolle, in dem sie das Töten legitimieren oder sogar als notwendig darstellen; durch die ideologische Rechtfertigung können Täter*innen sich moralisch im Reinen fühlen und moralische Hemmungen abgebaut werden. Personen können dann durch gruppendynamische oder opportunistische Motivationen tatsächlich zur Beteiligung bewegt werden.
Als zweite Gruppe findet man verschiedene Faktoren, die eine Abkopplung der Tat von den generellen moralischen Vorstellungen der Täter*innen erlaubt. Hier kann z. B. durch die Dehumanisierung der Opfergruppe ihre Menschlichkeit aus Perspektive der Täter*innen verringert oder der Tötungsprozess sehr beschönigend benannt werden und damit ein Töten weniger problematisch erscheinen (bspw. in der Darstellung als Insekten oder Objekte); auch physische oder soziale Distanz zwischen Täter*in und Opfer können eine moralische Abkopplung befördern.
Auch spielen als dritte Kategorie Gruppendynamiken erleichternd eine Rolle, wenn z. B. Verantwortung an Vorgesetzte oder Kamerad*innen abgegeben oder in großen Gruppen Anonymität befördert werden kann.
Zuletzt spielt auch die Zeit eine erleichternde Rolle, wenn Menschen sukzessive an eine Täter*innenschaft herangeführt werden oder sich über die Zeit an Gewalt und ihre Täter*innenschaft gewöhnen können und sich dadurch später einfacher beteiligen können, als noch am Anfang ihrer Beteiligung.
Der Völkermord als Kontext
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass diese Motivationen und erleichternden Faktoren eben nur überhaupt denkbar und relevant werden, wenn die handelnde Person sich in einem Kontext bewegt, in dem Täter*innenschaft möglich ist. Keine der Täter*innen töten einfach so und ohne Zusammenhang, sondern erst im Kontext des Völkermords selbst. Zunächst spielen dafür staatliche und gesellschaftliche Strukturen eine Rolle, da sie die sozialen Beziehungen innerhalb und zwischen Gruppen strukturieren und es ausreichend politischer Macht bedarf, einen genozidalen Plan zu erarbeiten und zu implementieren. Auch spielt hier zentral wieder die Ideologie eine Rolle: Damit es zum Völkermord kommt, bedarf es einer ideologischen Grundlage, die eine Gruppe als anders und minderwertig klassifiziert und diese als auslöschungswürdig konstruiert. Hier wird eben auf der Kontextebene ein ideologischer Rahmen aufgespannt, in dem die Täter*innenschaft verständlich und sinnvoll erscheint. Zudem sind Unsicherheitssituationen wie Krieg, Revolution oder ähnliches förderlich als Kontextbedingungen, da sie die Individuen in neue Situationen stürzen, in denen sie sich erst einmal orientieren müssen. In diesen Zeiten beziehungsweise Umständen richten sie sich stärker an vertraute Personen und akzeptieren (aus Angst) schneller Unsicherheitszuschreibungen über die (zukünftige) Opfergruppe.
Aussicht für künftige Prävention?
Bei jeglicher wissenschaftlicher Beschäftigung mit Gewalt schwingt immer die Frage nach den Konsequenzen dieser Forschung für eine mögliche Verhinderung künftiger Gewalt mit. Und so muss man sich zum Abschluss dieses Beitrags fragen: Was bedeutet das Modell für eine Prävention von Täter*innenschaft in Völkermord?
Das Modell weist vehement auf die Wichtigkeit hin, jenseits großer Bögen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, auf die Mikro-Ebene zu schauen. Hier spielen sich Dynamiken ab, die natürlich von den makropolitischen Gegebenheiten beeinflusst, aber nicht determiniert werden; die Vielzahl der verschiedenen Motivationen und erleichternden Faktoren zeigt auf die Komplexität der Zusammenhänge und individuellen Beweggründe, die in den Blick genommen werden müssen, um die Gewalt richtig verstehen zu können.
In seiner Konzeption ist das Modell darauf angelegt, möglichst breit angewandt werden zu können und es soll verschiedene Formen der Täter*innenschaft in diversen Fällen erklären können. Auch wenn Täter*innenschaft im Völkermord in Kambodscha oder während des Holocausts ganz anders aussieht als Täter*innenschaft in Ruanda, Bosnien oder Guatemala, so sind doch viele Gemeinsamkeiten auf der Individualebene bezüglich der Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen zu verzeichnen. Diese Muster über die Fälle hinweg lassen erhoffen, dass systematischer gegen Teilnahme am Völkermord vorgegangen werden könnte. Doch trotz der Muster zeichnet die Komplexität des Modells ein ernüchterndes Bild für die präventionsorientierte Praxis. Wenn viele der Motivationen eben doch recht alltäglich sind, und es so viele verschiedene gibt, wie können hier sinnvolle Programme zur Prävention auferlegt werden?
Sicherlich gibt es keine Programme, die umfassend Täter*innenschaft verhindern können, doch wären Ansätze aussichtsreich, die einzelne Teile des Modells aufgreifen. So könnte beispielsweise eine Intervention, die herrschaftskritische Reflexion, selbstbewusste Menschenrechtsorientierung und eine kritische Analyse sozialer Eingebundenheit in den Vordergrund stellt, vielversprechend sein. Ein solcher Ansatz erlaubt es Menschen, kritisch über ihre eigenen sozialen Beziehungen sowie deren Wirkung auf sich selbst nachzudenken. Ein solcher Ansatz kann somit auf Motivationen und erleichternde Faktoren einwirken, die auf Dynamiken innerhalb der Gruppe der (potentiellen) Täter*innen fußen.
Fazit
Als Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ schrieb, brach sie fundamental mit bisherigen Verständnissen zu Täter*innenschaft im Holocaust, die von ideologisch überzeugten Täter*innen ausgingen. Arendt wies auf die „Gedankenlosigkeit“ hin, mit der Adolf Eichmann seine Karriere verfolgte und wie er in bürokratischer Effizienz versuchte, seine Ziele umzusetzen, auch wenn diese eben die Logistik der Massenvernichtung waren (vgl. Arendt 1994 [1963]). Das Modell der »Komplexität des Bösen« spannt den Bogen noch weiter und zeigt systematisch auf, dass über verschiedene Fälle hinweg Menschen an Völkermord teilnehmen, da sie aus Dynamiken in der Ingroup, Einstellungen gegenüber der Outgroup oder aus Eigennutz motiviert werden. Doch gleichzeitig spielen auch weitere Einflussfaktoren eine andere kausale Rolle – als erleichternde Faktoren oder Kontextbedingungen. Diese Komplexität des Modells erlaubt ein differenzierteres Bild der grundlegenden Dynamiken, die Gewalt im Völkermord bedingen, erlaubt gleichzeitig aber leider keine einfachen Antworten, wie diese Dynamiken durchbrochen werden können, um die Gewalt sinnvoll zu verhindern.
Literatur
Arendt, H. (1994 [1963]): Eichmann in Jerusalem: A report on the banality of evil. New York. NY: Penguin Books.
Browning, C. (2001): Ordinary men. Reserve police battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York, NY: Harper Collins.
Fujii, L.A. (2009): Killing neighbours. Networks of violence in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.
McDoom, O.S. (2021): The path to genocide in Rwanda. Security, opportunity, and authority in an ethnocratic state. Cambridge: Cambridge University Press.
Reinermann, J.; Williams, T. (2020): Motivational change in the perpetration of violence. Violence: An International Journal 1(1), S. 144-165.
Straus, S. (2006): The order of genocide. Race, power, and war in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.
Williams, T. (2018): Thinking beyond perpetrators, bystanders, heroes: A typology of action in genocide. In: Williams, T.; Buckley-Zistel, S. (Hrsg.): Perpetrators and perpetration of mass violence: Dynamics, motivations and concepts. Abingdon: Routledge, S. 17-35.
Williams, T. (2021): The complexity of evil. Perpetration and genocide. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press.
Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München und Vizepräsident der International Association of Genocide Scholars. Im Jahr 2021 erschien sein Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« bei Rutgers Universtiy Press und ist kostenfrei als open access Version beim Verlag erhältlich.