Warum töten sie?

Warum töten sie?

Motivationen von Täter*innen im Völkermord

von Timothy Williams

Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien, in Kambodscha oder auch unter dem Nationalsozialismus? So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990er Jahren einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt. Dennoch stellt sich die Frage: Warum töten Sie?

Warum beteiligen sich Menschen an Völkermord und tragen dabei zur Auslöschung ganzer Gruppen bei? In Ruanda, Bosnien oder Indonesien haben Menschen ihre Freund*innen und Nachbar*innen getötet, mit denen sie ihr ganzes Leben zusammen verbracht haben. In Kambodscha wurden Kindersoldat*innen zu Henker*innen des neuen Regimes der Roten Khmer. In den Dörfern Osteuropas sowie den Konzentrationslagern der Nationalsozialist*innen haben gewöhnliche Deutsche die jüdische Bevölkerung zu vernichten versucht. So divers diese Fälle sein mögen, so ist sich die Forschung zu Täter*innen in verschiedenen Völkermorden spätestens seit der Goldhagen-Debatte in den 1990ern einig, dass es sich eigentlich um gewöhnliche Männer und Frauen handelt (Browning 2001 [1994]), die aber ganz Ungewöhnliches verübt haben.

Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, wenn sie doch so gewöhnlich sind. Mit dieser Frage beschäftigen sich Forschende verschiedener Disziplinen – von der Politikwissenschaft zur Psychologie, von der Anthropologie zur Soziologie, Kriminologie und Geschichtswissenschaft – und man kann auf wichtige Studien zu verschiedenen Fällen aufbauen, vor allem zum Holocaust (Browning 2001 [1994]) und Ruanda (Fujii 2009; McDoom 2021; Straus 2006). In meinem neuen Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« (Williams 2021) bringe ich die Erkenntnisse aus den verschiedenen Disziplinen und den unterschiedlichen Fällen mit eigenen Daten aus Feldforschung mit ehemaligen Roten Khmer in Kambodscha zusammen, um ein konzeptionelles Modell zur Erklärung dieser Beteiligung an Völkermord zu schaffen. In dem Modell zur »Komplexität des Bösen« argumentiere ich, dass es eine Vielzahl von Beweggründen für Täter*innenschaft gibt und dass viele dieser Beweggründe recht alltäglicher Natur sind (Williams 2021). Das Modell unterscheidet systematisch zwischen verschiedenen Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen und erlaubt damit ein kausal komplexeres Verständnis von Faktoren, die für eine Beteiligung an Völkermord wichtig sind. In diesem Beitrag werde ich zunächst diskutieren, um wen es hier bei Täter*innen überhaupt geht, warum sie sich an Völkermord beteiligen, in welchem Kontext sie sich bewegen (und welchen Einfluss dieser hat) sowie ob und wie wir hieraus für die Prävention etwas lernen können.

Wer ist Täter*in?

Bei einer Erklärung von Täter*innenschaft im Völkermord muss zunächst geklärt werden, wer denn überhaupt als Täter*in und was als Tat zu gelten hat. Denn Völkermord wird als kollektives Verbrechen begangen, in dem Gewalt arbeitsteilig ausgeübt und oftmals in breitere, organisierte Prozesse eingebunden ist. Damit haben Menschen, die nicht zur Waffe greifen und die Morde implementieren, trotzdem aber auch eine Verantwortung für den Beitrag ihres Handelns für die Gewalt. In meiner Forschung verfolge ich also ein breites Verständnis, wer als Täter*in zu gelten hat, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ganz viele Formen der Beteiligung mit ihrer Wirkung zum Völkermord beitragen können (siehe Williams 2018). Offenkundig gehören hier auch die obersten Führer*innen eines Regimes dazu, die Ideologien verbreiten, Gesetze erlassen und den Rahmen schaffen, in dem der Völkermord denkbar und machbar wird. Andere tragen durch ihre Organisation zur Logistik des Völkermords bei, wie Adolf Eichmann und seine Koordination der Züge im Holocaust. Wiederum andere verbreiten hetzerische Ideologien durch journalistische oder kulturelle Arbeit, wie Ferdinand Nahimana, der den extremistischen ruandischen Radiosender »Radio Télévision Libre des Mille Collines« (RTLM) gründete, dessen Sendungen während des Völkermords die Hutu-Bevölkerung aufhetzte und zur Beteiligung am Völkermord gegen die Tutsi anstachelte.

Die Komplexität des Bösen

Um die Frage zu beantworten, warum sich Menschen an Völkermord beteiligen, bedient sich das »Komplexität des Bösen«-­Modell verschiedener Disziplinen – von der Psychologie zur Kriminologie, von der Soziologie zur Anthropologie – und Erkenntnissen aus der Forschung zum Holocaust, Ruanda und Bosnien sowie meiner eigenen Feldforschung in Kambodscha. Das Modell zeigt auf, dass es Muster gibt, die sich über Völkermorde in verschiedenen Ländern hinweg ähneln, aber dass es hier eine hohe Diversität der Faktoren gibt, die jeweils Einfluss auf einzelne Täter*innen ausgeübt haben. Das Modell unterscheidet hierbei zwischen drei verschiedenen Typen von Einflussfaktoren, die zusammenwirken, dass sich jemand an Völkermord beteiligt: Motivationen, erleichternde Faktoren und Kontextbedingungen. Eine Übersicht über die wichtigsten Faktoren findet sich in Graphik 1.

Grafik Beteiligung am Völkermard

Graphik 1: Modell der »Komplexität des Bösen« ©Rutgers University Press / Timothy Williams

Motivationen von Täter*innen im Völkermord

Motivationen sind der grundlegende Impuls zur Beteiligung, ohne die es nicht zur Täter*innenschaft kommen würde. Hierbei ist es zunächst unwesentlich, welche Motivation vorhanden ist, aber mindestens eine muss auftreten, damit sich jemand an Völkermord beteiligt. Welche Motivation sich jeweils wesentlich auf eine Entscheidung für die Täter*innenschaft auswirkt, kann sich über die Zeit auch ändern (Reinermann und Williams 2020). Es gibt drei wesentliche Kategorien von Motivationen: Ingroup-bezogene, Outgroup-bezogene und opportunistische Motivationen.

Die erste Gruppe von Motivationen speist sich aus Dynamiken innerhalb der Gruppe der Täter*innen. Einfluss auf die Täter*innen kann hierbei hierarchisch-vertikal von Vorgesetzten oder kollegial-horizontal von Kamerad*innen oder Freund*innen ausgehen und explizit in Befehlen oder Aufforderungen oder implizit durch Annahmen und soziale Erwünschtheit ausgeübt werden; in diesen Beziehungen kann auch manchmal die Androhung oder Ausführung von Zwang als Motivation wirken. Weiter können Menschen durch ihre Beteiligung einen Aufstieg im sozialen Status oder Ansehen erhoffen oder sie können Rollen annehmen, in denen sich die Täter*innenschaft als sinnhaft darstellt. So hat ein ehemaliger Kader der Roten Khmer im Interview erklärt, dass er wusste, als er zu den Roten Khmer kam, habe er ein Tiger werden müssen und damit so handeln und denken wie ein Tiger und keine Moral haben, wie ein Tiger.

Eine zweite Gruppe von Motivationen fokussiert auf die Gruppe der Opfer. Hier können Menschen emotionale Reaktionen auf Mitglieder der Opfergruppe entwickeln, z. B. Hass, Neid, Angst oder Ekel. Ihre Täter*innenschaft ist damit eine emotionale Reaktion auf ihre Wahrnehmung der Situation und der Opfergruppe. Weiter – und prominent in populären Darstellungen von Völkermord – können Ideologien motivierend wirken (vgl. Goldhagen-Debatte). Empirisch gibt es aber relativ wenige Personen, die von Ideologien motiviert werden, sondern Ideologien spielen wichtigere Rollen als erleichternde Faktoren und als Kontextbedingungen (siehe unten).

Als dritte Kategorie finden sich opportunistische Motivationen, die den Eigennutz, den sich Täter*innen von ihrer Beteiligung erhoffen, in den Vordergrund stellen. Täter*innen können auf materielle Vorteile hoffen, wenn sie ihre Opfer ausrauben dürfen oder für ihre Beteiligung bezahlt werden, andere hoffen auf einen schnelleren Karrierefortschritt oder die Vermeidung von Nachteilen, oder sie versuchen persönliche oder politische Konflikte unter dem Deckmantel der neuen ideologischen Ordnung neu zu verfolgen.

Erleichternde Faktoren

Erleichternde Faktoren ergänzen Motivationen als Beweggründe, die zwar als nicht notwendig für eine Beteiligung gelten, aber diese erleichtern, indem sie die Teilnahme psychologisch einfacher machen oder sonst begünstigen. Hier finden sich konzeptionell eine Vielzahl von erleichternden Faktoren, die sich in vier Gruppen einordnen lassen. Erstens spielen hier Ideologien ihre zentrale Rolle, in dem sie das Töten legitimieren oder sogar als notwendig darstellen; durch die ideologische Rechtfertigung können Täter*innen sich moralisch im Reinen fühlen und moralische Hemmungen abgebaut werden. Personen können dann durch gruppendynamische oder opportunistische Motivationen tatsächlich zur Beteiligung bewegt werden.

Als zweite Gruppe findet man verschiedene Faktoren, die eine Abkopplung der Tat von den generellen moralischen Vorstellungen der Täter*innen erlaubt. Hier kann z. B. durch die Dehumanisierung der Opfergruppe ihre Menschlichkeit aus Perspektive der Täter*innen verringert oder der Tötungsprozess sehr beschönigend benannt werden und damit ein Töten weniger problematisch erscheinen (bspw. in der Darstellung als Insekten oder Objekte); auch physische oder soziale Distanz zwischen Täter*in und Opfer können eine moralische Abkopplung befördern.

Auch spielen als dritte Kategorie Gruppendynamiken erleichternd eine Rolle, wenn z. B. Verantwortung an Vorgesetzte oder Kamerad*innen abgegeben oder in großen Gruppen Anonymität befördert werden kann.

Zuletzt spielt auch die Zeit eine erleichternde Rolle, wenn Menschen sukzessive an eine Täter*innenschaft herangeführt werden oder sich über die Zeit an Gewalt und ihre Täter*innenschaft gewöhnen können und sich dadurch später einfacher beteiligen können, als noch am Anfang ihrer Beteiligung.

Der Völkermord als Kontext

Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass diese Motivationen und erleichternden Faktoren eben nur überhaupt denkbar und relevant werden, wenn die handelnde Person sich in einem Kontext bewegt, in dem Täter*innenschaft möglich ist. Keine der Täter*innen töten einfach so und ohne Zusammenhang, sondern erst im Kontext des Völkermords selbst. Zunächst spielen dafür staatliche und gesellschaftliche Strukturen eine Rolle, da sie die sozialen Beziehungen innerhalb und zwischen Gruppen strukturieren und es ausreichend politischer Macht bedarf, einen genozidalen Plan zu erarbeiten und zu implementieren. Auch spielt hier zentral wieder die Ideologie eine Rolle: Damit es zum Völkermord kommt, bedarf es einer ideologischen Grundlage, die eine Gruppe als anders und minderwertig klassifiziert und diese als auslöschungswürdig konstruiert. Hier wird eben auf der Kontextebene ein ideologischer Rahmen aufgespannt, in dem die Täter*innenschaft verständlich und sinnvoll erscheint. Zudem sind Unsicherheitssituationen wie Krieg, Revolution oder ähnliches förderlich als Kontextbedingungen, da sie die Individuen in neue Situationen stürzen, in denen sie sich erst einmal orientieren müssen. In diesen Zeiten beziehungsweise Umständen richten sie sich stärker an vertraute Personen und akzeptieren (aus Angst) schneller Unsicherheitszuschreibungen über die (zukünftige) Opfergruppe.

Aussicht für künftige Prävention?

Bei jeglicher wissenschaftlicher Beschäftigung mit Gewalt schwingt immer die Frage nach den Konsequenzen dieser Forschung für eine mögliche Verhinderung künftiger Gewalt mit. Und so muss man sich zum Abschluss dieses Beitrags fragen: Was bedeutet das Modell für eine Prävention von Täter*innenschaft in Völkermord?

Das Modell weist vehement auf die Wichtigkeit hin, jenseits großer Bögen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, auf die Mikro-Ebene zu schauen. Hier spielen sich Dynamiken ab, die natürlich von den makropolitischen Gegebenheiten beeinflusst, aber nicht determiniert werden; die Vielzahl der verschiedenen Motivationen und erleichternden Faktoren zeigt auf die Komplexität der Zusammenhänge und individuellen Beweggründe, die in den Blick genommen werden müssen, um die Gewalt richtig verstehen zu können.

In seiner Konzeption ist das Modell darauf angelegt, möglichst breit angewandt werden zu können und es soll verschiedene Formen der Täter*innenschaft in diversen Fällen erklären können. Auch wenn Täter*innenschaft im Völkermord in Kambodscha oder während des Holocausts ganz anders aussieht als Täter*innenschaft in Ruanda, Bosnien oder Guatemala, so sind doch viele Gemeinsamkeiten auf der Individualebene bezüglich der Motivationen, erleichternden Faktoren und Kontextbedingungen zu verzeichnen. Diese Muster über die Fälle hinweg lassen erhoffen, dass systematischer gegen Teilnahme am Völkermord vorgegangen werden könnte. Doch trotz der Muster zeichnet die Komplexität des Modells ein ernüchterndes Bild für die präventionsorientierte Praxis. Wenn viele der Motivationen eben doch recht alltäglich sind, und es so viele verschiedene gibt, wie können hier sinnvolle Programme zur Prävention auferlegt werden?

Sicherlich gibt es keine Programme, die umfassend Täter*innenschaft verhindern können, doch wären Ansätze aussichtsreich, die einzelne Teile des Modells aufgreifen. So könnte beispielsweise eine Intervention, die herrschaftskritische Reflexion, selbstbewusste Menschenrechtsorientierung und eine kritische Analyse sozialer Eingebundenheit in den Vordergrund stellt, vielversprechend sein. Ein solcher Ansatz erlaubt es Menschen, kritisch über ihre eigenen sozialen Beziehungen sowie deren Wirkung auf sich selbst nachzudenken. Ein solcher Ansatz kann somit auf Motivationen und erleichternde Faktoren einwirken, die auf Dynamiken innerhalb der Gruppe der (potentiellen) Täter*innen fußen.

Fazit

Als Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ schrieb, brach sie fundamental mit bisherigen Verständnissen zu Täter*innenschaft im Holocaust, die von ideologisch überzeugten Täter*innen ausgingen. Arendt wies auf die „Gedankenlosigkeit“ hin, mit der Adolf Eichmann seine Karriere verfolgte und wie er in bürokratischer Effizienz versuchte, seine Ziele umzusetzen, auch wenn diese eben die Logistik der Massenvernichtung waren (vgl. Arendt 1994 [1963]). Das Modell der »Komplexität des Bösen« spannt den Bogen noch weiter und zeigt systematisch auf, dass über verschiedene Fälle hinweg Menschen an Völkermord teilnehmen, da sie aus Dynamiken in der Ingroup, Einstellungen gegenüber der Outgroup oder aus Eigennutz motiviert werden. Doch gleichzeitig spielen auch weitere Einflussfaktoren eine andere kausale Rolle – als erleichternde Faktoren oder Kontextbedingungen. Diese Komplexität des Modells erlaubt ein differenzierteres Bild der grundlegenden Dynamiken, die Gewalt im Völkermord bedingen, erlaubt gleichzeitig aber leider keine einfachen Antworten, wie diese Dynamiken durchbrochen werden können, um die Gewalt sinnvoll zu verhindern.

Literatur

Arendt, H. (1994 [1963]): Eichmann in Jerusalem: A report on the banality of evil. New York. NY: Penguin Books.

Browning, C. (2001): Ordinary men. Reserve police battalion 101 and the Final Solution in Poland. New York, NY: Harper Collins.

Fujii, L.A. (2009): Killing neighbours. Networks of violence in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.

McDoom, O.S. (2021): The path to genocide in Rwanda. Security, opportunity, and authority in an ethnocratic state. Cambridge: Cambridge University Press.

Reinermann, J.; Williams, T. (2020): Motivational change in the perpetration of violence. Violence: An International Journal 1(1), S. 144-165.

Straus, S. (2006): The order of genocide. Race, power, and war in Rwanda. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Williams, T. (2018): Thinking beyond perpetrators, bystanders, heroes: A typology of action in genocide. In: Williams, T.; Buckley-Zistel, S. (Hrsg.): Perpetrators and perpetration of mass violence: Dynamics, motivations and concepts. Abingdon: Routledge, S. 17-35.

Williams, T. (2021): The complexity of evil. Perpetration and genocide. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press.

Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München und Vizepräsident der International Association of Genocide Scholars. Im Jahr 2021 erschien sein Buch »The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide« bei Rutgers Universtiy Press und ist kostenfrei als open access Version beim Verlag erhältlich.

»No More Wars«

»No More Wars«

Friedenserziehung in Japan

von Jongsung Kim, Hiromi Kawaguchi und Kazuhiro Kusahara

In Japan spielte Friedensbildung eine zentrale Rolle darin, nach dem Zweiten Weltkrieg die Antikriegsstimmung in der Gesellschaft zu verbreiten. Jedoch fokussierte sie stark auf die Verletzungen der gewöhnlichen Menschen während des Krieges und verlagerte so die Kriegsmitverantwortung auf den »bösen Staat voller unschuldiger Bürger*innen«. Die Autor*innen problematisieren diese Tradition und betonen eine Friedensbildung, die Eigenständigkeit und Kommunikationsfähigkeit von Schüler*innen und Studierenden zentriert.

Antikriegsstimmung ist der japanischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeprägt (Berger 1993). Der Hass des japanischen Volkes auf den Krieg trug zur Schaffung der »Friedensklausel« bei, die 1947, als Japan unter der Besetzung der Alliierten stand, in die japanische Verfassung aufgenommen wurde: „Das japanische Volk strebt aufrichtig nach einem internationalen Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Ordnung und verzichtet für immer auf Krieg als souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“ (Artikel 9 der Verfassung des Staates Japan).

Seitdem ist Japan offiziell ein pazifischer Nationalstaat, der keine militärischen Fähigkeiten zur Beilegung internationaler Streitigkeiten nutzt. Der Regierung stehen zwar die japanischen Selbstverteidigungskräfte zur Verfügung, aber technisch gesehen besteht deren Rolle darin,
„eine ausschließlich verteidigungsorientierte Politik aufrechtzuerhalten und keine Militärmacht zu werden“ (Ministry of Defense Japan o.J.). Es gab immer wieder Versuche – vor allem von einigen Untergruppen in den konservativen Parteien – den Artikel zu überarbeiten und Japan zu einem Land zu machen, das militärische Macht ausüben kann (vgl. Liff 2015; Pence 2006). Allerdings haben die – innerhalb der japanischen Zivilgesellschaft fest verankerte – Antikriegsstimmung und die Feindseligkeit gegenüber Militarismus die Friedensklausel bis heute geschützt.

Seit jeher hat Friedenserziehung eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Antikriegsstimmung in Japan gespielt (vgl. Ishikida 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Japan der 1950er Jahre, bereuten viele Lehrer*innen bitterlich, ihre Schüler*innen auf das Schlachtfeld geschickt zu haben und riefen dementsprechend zahlreiche Friedensbewegungen gegen Totalitarismus und Militarismus ins Leben. Unter dem Motto »No More Wars« hat sich die japanische Friedenserziehung mit der Trauer und dem Leid der Menschen durch die Militärmacht während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, inklusive der Kriegs­erinnerungen an Orten der Tragödien, in Hiroshima, Nagasaki und Okinawa. Die Auswirkungen von Krieg auf das Leben der Menschen begreifbar zu machen und das Versprechen, Militarismus und Totalitarismus zu entsagen, sind in der Vergangenheit ein Weg gewesen, den Frieden in Japan zu verfolgen.

Die Tragödie und das Leid der Bürger*innen

„Chii-chan no Kageokuri“ (Chii-chan und das Schattenspiel), eine sehr bekannte Kindergeschichte, die in einem bekannten japanischen Lehrbuch für Drittklässler*innen (8–9 Jahre) veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den erwähnten Trend der japanischen Friedenserziehung. Die fiktive Geschichte entfaltet sich anhand der Erlebnisse des Mädchens Chii-chan während des Krieges. Sie erzählt aus der Perspektive des Mädchens – das im selben Alter wie die Schulkinder ist – ihre Erfahrungen und die ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs. Während des Unterrichts bitten die Lehrer*innen die Schüler*innen in der Regel, in Chiis Rolle zu schlüpfen und zu versuchen, ihre Erfahrungen nachzuempfinden. Die meisten japanischen Lehrbücher enthalten ähnliche Kriegsgeschichten, in denen japanische Familien beschrieben werden, die Freiheit, Wohlstand und sogar ihr Leben verloren haben. Aus Sicht der normalen Bürger*innen, insbesondere durch Kinderaugen, erhalten diese Geschichten die kollektive Erinnerung daran, dass Krieg das Leben der Menschen zerstört hat und dass dies niemals mehr passieren dürfe.

Ähnliche Beispiele, die das Leiden der einfachen Menschen betonen, finden sich sehr häufig in japanischen Geschichtslehrbüchern für die Grundschule. Im Gegensatz zu anderen Unterrichtseinheiten, die sich eher auf Machthaber wie Politiker, Kaiser oder Premierminister konzentrieren, nimmt die Einheit zum Zweiten Weltkrieg gewöhnliche Menschen in den Fokus, die für den Krieg geopfert wurden. Das Narrativ zum Ersten Weltkrieg konzentriert sich z. B. hauptsächlich auf die Außenminister, die die ursprünglich »ungleichen« Verträge korrigierten, und darauf, wie Japan anschließend die Macht erlangte, um den anderen Nationalstaaten auf Augenhöhe zu begegnen. Das Narrativ zum Zweiten Weltkrieg hingegen hebt die Tragödie der einfachen Leute hervor – mit Fokus auf ausgewählte historische Ereignisse, wie dem »Great Tokyo Air Raid«, dem Brandbombenanschlag auf Tokio am 10. März 1945, und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.

Das Bemühen, eine Welt ohne Krieg zu realisieren, könnte allerdings auch als Vernachlässigung bzw. Versäumnis interpretiert werden, sich der Kriegsverantwortung des eigenen Landes zu stellen. Wie die von Japan während des Zweiten Weltkriegs überfallenen Länder kritisierten, lässt eine Friedenserziehung, die sich auf die Brutalität des Krieges per se konzentriert, Japans eigene Kriegsverantwortung im Unklaren. Die Beschreibungen des Zweiten Weltkriegs in japanischen Geschichtslehrbüchern der Grund- und Mittelstufe sind Beispiele, die die Vagheit und Unschärfe im Umgang mit Japans Kriegsverantwortung verdeutlichen: Es findet sich keine eindeutige Darstellung davon, wer für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien verantwortlich war. Die verheerenden Schäden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Luftangriffe auf Tokio sind ausführlich dargestellt, aber es gibt kaum Erklärungen dafür, warum die amerikanische Regierung beschloss, in Japan militärisch zu intervenieren.

Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit Betonung der Opferrolle (vgl. Orr 2001; Pyle 1992; Dierkes 2010) erzeugt den Eindruck von »schlechtem Staat, unschuldigen Menschen«. Dieses Bild ist von den meisten politischen Parteien trotz ihrer ideologischen Unterschiede akzeptiert und wurde gezielt zur Einigung des Landes im Chaos der Nachkriegszeit genutzt. Die Friedens­erziehung und -pädagogik ist von diesem Diskurs stark geprägt. Konkret trugen die beiden illustrierten Beispiele japanischer Friedenserziehungsrhetorik, (a) Betonung der Opferrolle und (b) vage Beschreibungen für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien, dazu bei, dass die Japaner*innen zwischen gewöhnlichen Bürger*innen und der damaligen Militärregierung unterscheiden (vgl. Fujiwara 2001). Das Verständnis, dass der Staat allein und nicht die Bürger*innen den Krieg verursacht hätten, führt zu einer Entfernung der Bürger*innen von ihrer Kriegsmitverantwortung und verortet die Bürger*innen als Kriegsopfer und Prediger*innen des Friedens. Mit anderen Worten, die Friedenserziehung in Japan hat Japans Rolle als Aggressor im Zweiten Weltkrieg und die Kriegsverantwortung nicht nur des Staates, sondern auch seiner Bevölkerung vernachlässigt.

Erneuerungen der Friedenspädagogik seit den 1970er Jahren

Die erwähnte Kritik ernst nehmend, gibt es seit den 1970er Jahren unter japanischen Friedenspädagog*innen Versuche, ihre eigenen Unterrichtspraktiken im Lichte der Kriegsverantwortung zu reflektieren und über die Notwendigkeit zu sprechen, sich dem zu stellen, was Japan während des Zweiten Weltkriegs getan hat. Die »History Educationalist Conference of Japan« (Konferenz für Geschichtserziehung) geht hier mit praxisorientierten Ansätzen voran. Ein Beispiel dafür ist der Geschichtslehrer Mera (1992), der ausführt, dass er seit etwa 1970 Geschichtsunterricht gegeben habe, der auf Japans Invasionen anderer asiatischer Länder hinwies und Japans Verantwortungslosigkeit bei Kriegsverbrechen, wie Zwangsarbeit oder den sogenannten Trostfrauen in Korea, verurteilte. Ein weiteres Beispiel ist Yasuis (1977) Praxis namens »Der fünfzehnjährige Krieg mit den Eltern«. In den 1970er Jahren hatten die meisten Eltern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Mit den Erinnerungen und Geschichten der Eltern als Anschauungsmaterial fragte Yasui die Schüler*innen, warum die Menschen damals den Krieg nicht stoppen konnten, und hinterfragte die Verantwortung der »unschuldigen Menschen«.

Obwohl einzelne Ansätze, die die Kriegsverantwortung Japans diskutieren, umgesetzt worden sind, sind sie dennoch nie Teil der allgemeinen japanischen Friedenserziehung geworden. Lehrende, die die Kriegsverantwortung diskutierten, wurden manchmal als politisch voreingenommene Pädagog*innen, Kommunist*innen oder Verräter*innen kritisiert. Obwohl der Druck auf Japan und in Japan selbst, Verantwortung für Kriegsereignisse wie Zwangsarbeit, Zwangsprostitution der sogenannten »Trostfrauen« und das Massaker von Nanking zu übernehmen, seit den 1980er Jahren zugenommen hat, hat die Friedenserziehung in Japan es versäumt, die Anforderungen an die Aufarbeitung im Bildungssystem umzusetzen (Takeuchi 2011).

Probleme der dominanten Friedenserziehung

Neben dem politischen Backlash haben Friedensbildungsangebote, die die Kriegsverantwortung betonen, aus Sicht der Autor*innen zwei weitere pädagogische Probleme.

  • Erstens werden die Lernenden als passive Wesen betrachtet, von denen erwartet wird, dass sie von Pädagog*innen entworfene Friedensbilder akzeptieren. Lehrkräfte konzipieren und implementieren friedenspädagogische Angebote basierend auf ihren idealen Friedensbildern, wie »No More War« oder »Taking War Responsibility«. Bis heute gibt es für die Schüler*innen im Rahmen der japanischen Friedenserziehung keinen Raum, den Frieden der Lehrenden zu dekonstruieren und ihr eigenes Verständnis von Frieden zu konstruieren. Letzteres ist jedoch eine Grundvoraussetzung für das Heranwachsen aktiver Friedensagenten.
  • Zweitens ist es der Friedenserziehung in Japan zwar gelungen, Schüler*innen auszubilden, die der Welt Frieden »schwören« können, allerdings bleibt dieser Schwur seltsam leer, indem er primär den Wert des Friedens betont. Die japanische Friedensbildung hat bislang nicht darauf abgezielt, diejenigen Fähigkeiten der Schüler*innen auszubilden, die für wirkliche Friedensmacher*innen notwendig wären – wie beispielsweise Kommunikation mit denen, die eine andere Perspektive auf Kriegsmitverantwortung haben. Laut Murakami (2009), der die Friedenswahrnehmung von Kindern untersuchte, hielten 70 % der Schüler*innen die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft für wichtig; 60 % antworteten jedoch auch, dass sie nicht wüssten, was sie tun können, um dieses Ideal zu verwirklichen. Diese Daten zeigen, dass die Schüler*innen nicht genügend Möglichkeiten hatten, eigene Vorstellungen vom Aufbau einer friedlichen Gesellschaft mit anderen zu entwickeln.

Eine Gruppe von Forschenden des Educational Vision Research Institute (EVRI) der Universität Hiroshima hat es sich zur Aufgabe gemacht, öffentliche Räume durch authentische Kommunikation zu schaffen, die
„der eigentliche Dialog der Agenten des gegenseitigen Verstehens“ (Kim 2020, S. 44) ist, um den mangelnden Handlungsspielräumen der Schüler*innen und Studierenden in der japanischen Friedenserziehung zu begegnen, ihre Friedensverständnisse mit anderen selbstständig auszuhandeln. Innerhalb dieser öffentlichen Räume können die Schüler*innen und Studierenden über die Friedensbilder der anderen sprechen und auf diese Weise sowohl ihre eigenen als auch vorhandene Friedensbilder dekonstruieren und gemeinsam neue konstruieren. Darüber hinaus können die japanischen Schüler*innen und Studierenden hier echte, d.h. authentische Diskussionen mit »anderen« führen, die andere Diskurse als »wir« kennen. Indem sie dies tun, können sie sich die Eigenständigkeit über ihr Lernen von den Lehrenden zurückerobern und individuell als aktive Friedensagenten reifen.

Neue Praktiken der Friedenslehre

Im Folgenden stellen die Autor*innen zwei repräsentative friedenspädagogische Maßnahmen des EVRI vor. Das erste Beispiel ist das Projekt »Making a Better Hiroshima Textbook« (»Für ein besseres Lehrbuch zu Hiroshima«) – ein gemeinsames Projekt Studierender in Japan und den USA (vgl. EVRI 2021). In amerikanischen Lehrbüchern werden die Atombombenabwürfe über Japan als Trumpfkarte für die Beendigung des Zweiten Weltkriegs beschrieben. In japanischen Lehrbüchern hingegen wird der Einsatz der Atombomben als unmenschlicher Akt beschrieben, durch den eine enorme Zahl von Zivilist*innen getötet wurden. Diese Asymmetrie in den Hiroshima-Diskursen beider Länder war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Lehrbuchvorschlägen. Während des Prozesses, Entwürfe für neue Lehrbücher zu entwickeln, entdeckten die Teilnehmenden weitere Diskurse und Narrative. Sie durchlebten Konflikte darüber, wie an Hiroshima erinnert werden sollte; aber mit dem gemeinsamen Ziel vor Augen, ein besseres Hiroshima-Lehrbuch entwickeln zu wollen, konnten die Studierenden die Unterschiede in den Vorstellungen akzeptieren und gemeinsam vorankommen. Als ein Resultat konnten die Teilnehmenden den einseitigen Hiroshima-Diskurs ihres eigenen Landes relativieren und ihren gemeinsamen Diskurs entwickeln, der über diese jeweiligen Diskurse hinausgeht. Die Teilnehmenden lernten den Austausch mit Dritten, die andere Debatten über die Ermöglichung einer friedlichen Welt führen, zu schätzen (Kim 2020).

Das zweite Beispiel ist das Projekt »Re-designing ‚The Last 10 Feet‘ of the Museum« (vgl. Kim und Kusahara 2020, »Die letzten 10 Meter des Museums neu entwerfen«). Jedes Museum möchte seinen Besucher*innen ein bestimmtes Leitbild vermitteln. Während das »Hiroshima Peace Memorial Museum« die physischen und psychischen Narben des Atombombenabwurfs betont, um über die Gefahr von Atomwaffen zu informieren, erzählt das »National Museum of the Pacific War« in Texas, USA, von den großen Taten der Soldaten und beschreibt die Technologien, die den Sieg für die Vereinigten Staaten und Freiheit für die Menschheit brachten. In einem Studierendenaustausch zwischen der Universität von Hiroshima und der Universität von Texas in Austin wurden Studierende gebeten, die jeweiligen Ausstellungen der beiden Museen und ihre Leitbilder zu dekonstruieren und gemeinsam ihre je eigenen »10 letzten Meter« der Museen neu zu gestalten, in denen das jeweilige Leitbild des Museums komprimiert dargestellt ist (vgl. EVRI 2020). Durch den Austausch von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und daraus resultierender Friedensbilder konnten die Teilnehmenden ihr Verständnis von beidem verfeinern und lernen, wie man mit anderen eine friedliche Welt aufbaut.

Aufgaben für eine neue Friedenslehre

Als Mitglieder des EVRI verstehen die Autor*innen, dass die vorgestellten praktischen Beispiele, die maßgeblich auf authentischer Kommunikation basieren, grundsätzlich noch weiter gehen müssen. Eine Hauptaufgabe besteht darin, den Studierenden Gelegenheiten zu geben, über Kriegsverantwortung zu diskutieren. Authentische Kommunikation übergibt die Lerninitiative an die Studierenden – daher ist es nicht möglich, den Inhalt der Kommunikation zu kontrollieren. Pädagog*innen können jedoch den Kontext authentischer Kommunikation gestalten, der die Studierenden dazu anleitet, über die Rhetorik der japanischen Friedenserziehung nachzudenken (die exemplarisch durch die »Opferrolle« und die »unklare Kriegsverantwortung« zum Ausdruck kommt), und darüber, wie diese Rhetorik ihr Verständnis von Frieden beeinflusst hat. Mit dieser Art von Diskursdesign, das die Meta-Erkenntnis der Studierenden erleichtern soll, können die auf authentischer Kommunikation basierenden Praktiken der Friedenserziehung sicherstellen, dass die Studierenden über die Kriegsverantwortung nachdenken und ihre Rolle bei der Verwirklichung einer friedlichen Gesellschaft bedenken.

Die andere Aufgabe besteht darin, eine neue Friedenserziehung auszubauen, wie z. B. die Praxisübungen auf Grundlage authentischer Kommunikation, die die traditionellen Prämissen der japanischen Friedenserziehung aufheben. Die Dekonstruktion des Opferdiskurses und die Auseinandersetzung mit der Kriegsverantwortung sind in Japan noch immer äußerst umstritten. Doch trotz dieses sozialen Drucks entwerfen und implementieren einige Pädagog*innen ihre eigenen neuen Friedenserziehungspraktiken, um die japanische Friedenserziehung voranzubringen und die historische Aussöhnung in Asien zu verwirklichen. Bildungseinrichtungen wie das EVRI müssen ihre Praktiken offenlegen und sie als die neue Welle der Friedenserziehung kennzeichnen. Die Aufgabe der Bildungsinstitutionen sollte es nach Ansicht der Autor*innen auch sein, Lehrende auszubilden, die neue Konzepte der Friedenserziehung entwerfen und umsetzen und die in der Lage sind, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer neuen Friedenserziehung zu überzeugen.

Literatur:

Berger, T. U. (1993): From sword to Chrysanthemum. Japan’s culture of anti-militarism. In: International Security 17(4), S. 119-150.

Dierkes, J. (2010): Postwar history education in Japan and the Germanys. Oxon: Routledge.

EVRI (2020): Lessons from the “Redesigning ‘The Last 10 Feet’ of the Museum” Project. URL: evri.hiroshima-u.ac.jp/7791.

EVRI (2021): EVRI-Hiroshima Global Academy collaboration. URL: project.evri.hiroshima-u.ac.jp/evri_higa

Fujiwara, K. (2001): Senso wo kiokusuru: Hiroshima, Holocaust to ima [Remembering war: Hiroshima, the Holocaust, and present]. Tokyo: Kodansha.

Ishikida, M. Y. (2005): Toward peace: War responsibility, postwar compensation, and peace movements and education in Japan. Lincoln: iUniverse.

Kim. J. (2020): Educating citizens who are open to the discourse of others: “The Last 10 Feet” Project and the “Making a Better Hiroshima Textbook” Project. In: E-Journal of Philosophy of Education: International Yearbook of the Philosophy of Education Society of Japan 5, S. 42-51.

Kim, J.; Kusahara, K. (2020): What is the lasting impact of the use of nuclear weapons during WWII in Japan? In: Maguth, B. M.;Wu, G. (Hrsg.): Global learning based on the C3 Framework in the K-12 social studies classroom. New York: Routledge, S. 139-154

Liff, A. P. (2015): Japan’s defense policy: Abe the evolutionary. In: The Washington Quarterly 38(2), S. 79-99.

Mera, S. (1992). Nihon kindai no juudaina ketten nozikakuto sonokokuhukuheno tenbouwo kodomotatitotomoni [Awareness of the severe shortcomings of Japanese modernity and the prospects for overcoming them with children]. In: Nishikawa, M. (Hrsg.): Jikokushi wo koeta rekishi kyoiku [History education that goes beyond national history]. Tokio: Sanseisha.

Ministry of Defense, Japan. (o.J.): Other basic policies. mod.go.jp/en/d_policy/basis/others/index.html.

Murakami, T. (2009): Ima heiwa toha nanika? [What is peace now?]. Tokio: Horitsu Bunkasha.

Orr, J. (2001): The victim as a hero: ideologies of peace and national identity in postwar Japan. Honolulu: University of Hawai’i Press.

Pence, C. (2006): Reform in the Rising Sun: Koizumi’s bid to revise Japan’s pacifist constitution. In: NCJ Int‘l L. & Com. Reg. 32, S. 335.

Pyle, K. (1992): The Japanese question: Power and purpose in a new era. Washington: AEI Press.

Takeuchi, H. (2011): Heiwa kyouiku o toinaosu: Zisedai eno hihanteki keisyo [Reconceptualizing peace education: Critical inheritance for next generation]. Tokio: Horitus Bunkasha.

Yasui, T. (1977): Kodomo to manabu rekishi nojugyo [History learning with children]. Tokio: Chirekisha.

Jongsung Kim ist Associate Professor an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Hiroshima Universität, Japan und Mitherausgeber des »Asian Pacific Journal of Education«.
Hiromi Kawaguchi ist Associate Professorin an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Universität Hiroshima.
Kazuhiro Kusahara ist Direktor des Forschungsinstituts EVRI und Professor an der Universität Hiroshima.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Harnack.

COVID-19 weltweit

COVID-19 weltweit

Drei Länder. Drei Geschichten.

zusammengetragen von Tim Bausch und Stella Kneifel

Es gibt kaum ein Land, das nicht von der COVID-19-Pandemie betroffen ist. Doch das Maß der Betroffenheit ist abhängig von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren. Gerade zu Beginn dieser Pandemie konnte man den Eindruck erlangen, dass sich der Blick vieler Menschen von Tag zu Tag engte und schließlich in einer Selbstzentrierung mündete. Zwar blickten die meisten besorgt nach Italien und Spanien, aber eher selten darüber hinaus.

Der vorliegende Beitrag möchte Fenster zur Welt öffnen. Im Fokus stehen Länder und politische Räume, die auch ohne Pandemie in hohem Maße von sozialer, politischer und ökonomischer Unsicherheit betroffen sind. Die Absicht dieses Artikels ist illustrativ, nicht generalisierend. So soll aufgezeigt werden, wie COVID-19 nahezu katalysatorisch auf die drei beschriebenen Regionen wirkt. Der Beitrag vereint ganz unterschiedliche Perspektiven und Formen. Valeria Hänsel, Wissenschaftler*in und Aktivist*in, erläutert, welche Herausforderungen COVID-19 für Geflüchtete in griechischen Lagern mit sich
bringt. Valeria hat selbst viel Zeit vor Ort verbracht. Tatiana Naboulsi, eine palästinensische Aktivistin aus dem Libanon, zeigt, wie sich die Pandemie auf die palästinensischen Flüchtlingsorte im Libanon auswirkt. Chittranjan Dubey, Umweltschützer aus New Delhi, verdeutlicht den Konnex aus Klimakrise, staatlichen Restriktionen und einem erschwerten Aktivismus. Die letzten beiden Texte wurden von Tim Bausch und Stella Kneifel übersetzt.

Griechische Inseln

von Valeria Hänsel

Die Situation in den Hotspot-Geflüchtetenlagern auf den griechischen Inseln hat sich massiv zugespitzt. Auch wenn die Unterbringung für Asylsuchende schon seit Abschluss der EU-Türkei-Erklärung vom 18. März 2016 katastrophal ist und Rechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, tritt die rassistische Diskriminierung in Anbetracht der COVID-19-Pandemie noch deutlicher zu Tage.

Mit der EU-Türkei-Erklärung wurden zunächst ein neues Asylrecht und eine Begrenzung der Bewegungsfreiheit auf den griechischen Inseln eingeführt. Somit wurden die Hotspot-Lager von Aufnahmezentren in Langzeitlager verwandelt, in denen Betroffene zum Teil für Jahre ausharren müssen. Im größten Hotspot-Lager Moria auf Lesbos befinden sich aktuell 20.951 Menschen bei einer offiziellen Kapazität für 3.991 Personen. Auf den anderen Inseln befinden sich insgesamt weniger Schutzsuchende, aber die Lager sind ebenfalls seit Jahren drastisch überbelegt. Wie in zahlreichen Berichten dokumentiert, ist
die basale Versorgungssituation in den Hotspots seit ihrer Umwandlung in Langzeitlager völlig unzureichend.

Bereits vor Ausbruch der Pandemie kam es zu einer radikalen Zuspitzung an der EU-Außengrenze in der Ägäis. Es wurden zahlreiche Verschärfungen im Migrations- und Asylrecht eingeführt, und es wurde geplant, geschlossene Lager zu errichten. Proteste aus allen politischen Flügeln brachen aus. Als der türkische Präsident Erdogan am 27. Februar 2020 ankündigte, die Grenzen zu öffnen, kam es auf den griechischen Inseln zu rassistischen Hetzjagden gegen Geflüchtete und Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Menschen, die versuchten, in Booten von der Türkei nach Griechenland
überzusetzen, wurden gewaltsam von der griechischen Küstenwache attackiert und zurückgepusht oder an Stränden festgesetzt, während an der Evros-Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland sogar scharf geschossen wurde. Inzwischen werden solche Aktionen mit COVID-19-Maßnahmen begründet.

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie verfestigte sich die Situation der Rechtslosigkeit. Während griechische Staatsbürger*innen zur eigenen Sicherheit Abstandsregeln einhalten müssen, wird der Großteil der Geflüchteten ohne Schutz in der Elendssituation zurückgelassen. Anstatt zu evakuieren, wurden Ausgangssperren für die Lager verhängt. Der Lockdown der Lager wurde immer weiter verlängert, auch als die Bestimmungen für die lokale Bevölkerung wieder gelockert wurden. Wer dennoch versucht, das Camp zu verlassen, wird von der Polizei gestoppt, und es werden Geldstrafen verhängt, die bei
Nicht-Bezahlung in Gefängnisstrafen überführt werden.

Der Lockdown wird durchgesetzt, obwohl in den Lagern keinerlei gesundheitlicher Schutz für die Bewohner*innen gewährleistet wird: Eng gedrängt müssen Tausende Menschen stundenlang für Essen anstehen; Duschen und Toiletten sind nur in sehr geringer Anzahl vorhanden und verdreckt; Abwasser- und Müllentsorgung funktioniert kaum, von ausreichend Seife, Desinfektionsmittel oder Mundschutz ganz zu schweigen. Viele Organisationen zogen sich zurück, die medizinische Versorgung wurde verringert, sodass zwischenzeitlich nur noch zehn Ärzt*innen und acht Krankenpfleger*innen für mehr als 20.000 zum
Teil schwer erkrankte Personen vor Ort waren. Das Asylbüro wurde vorübergehend geschlossen und die Bearbeitung von Anträgen eingestellt. Um zu verhindern, dass Personen das Lager verlassen, wurde die monatliche finanzielle Unterstützung für Asylsuchende von 90 Euro vorübergehend eingefroren, obwohl diese für viele die Lebensgrundlage darstellt.

In einigen Fällen kam es zu massiver Gewalt der örtlichen Bevölkerung gegen NGO-Mitarbeiter*innen, vor allem aber gegen Migrant*innen. Dabei überlagern sich rassistische Ressentiments und Gewaltformen mit rassifizierten Ängsten vor einer Infektion mit SARS-Cov-2. All dies geht mit einer stetigen Verschärfung des Asylrechts einher.

Die Regierung begegnet der Situation in Zeiten der Pandemie vor allem mit Repressionen. Die Entwicklungen werden genutzt, um Gesetzesverschärfungen durchzusetzen, NGOs mit Registrierungszwang zurückzudrängen und Migrant*innen gewaltsam die Einreise zu verweigern. Geflüchtete reagieren darauf vor allem mit Protesten, um auf die Situation in den Lagern aufmerksam zu machen. Im Abschiebegefängnis von Moria traten inhaftierte Migrant*innen in einen Hungerstreik, der gewaltsam von der Polizei beendet wurde.

Verschiedene Netzwerke setzen sich für die Geflüchteten ein und versuchen, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, auf internationaler Regierungsebene bewegt sich jedoch wenig. Dabei sind die Zustände in den Lagern primär Resultat der Transformation des »Hotspot«-Ansatzes, der in der »Europäischen Agenda für Migration« von 2015 festgeschrieben wurde, durch die EU-Türkei-Erklärung. Zudem scheint sich die Europäische Kommission trotz der jüngsten Eskalation hinter die gewaltsame griechische Politik zu stellen. Das Konzept der geschlossenen Lager ist nicht nur Bestandteil des griechischen
Asylgesetzes, sondern geht mit den Konzepten der Europäischen Kommission für »controlled centres« vom Juli 2018 einher. Bestrebungen zur Aufnahme von Migrant*innen aus den griechischen »Hotspots« in anderen europäischen Staaten beschränken sich bisher auf marginale Zahlen besonders schutzbedürftiger Personen. Die humanitären Interventionen stellen somit das strukturelle Grundproblem der Externalisierung von Migrationskontrolle und Aushöhlung von Rechten an der EU-Außengrenze nicht in Frage.

Palästinensische Flüchtlingslager im Libanon

von Tatiana Naboulsi

Zuallererst: Alhamdulillah, gelobt sei Gott, gibt es bislang in keinem der palästinensischen Lager im Libanon Fälle des COVID-19-Virus.1 Aber im selben Moment, als sich die Nachrichten über das Corona-Virus verbreiteten, gab es von unterschiedlichsten Seiten, auch von Politiker*innen, Anschuldigungen, die Palästinenser*innen seien Ursprung des neuartigen Virus und die palästinensischen Lager müssten abgeriegelt werden. Das war fürchterlich.

Neben diesen Anschuldigungen wirkt sich die COVID-19-Pandemie vor allem wirtschaftlich und finanziell auf unseren Alltag aus. Aufgrund der staatlichen Restriktionen für Palästinenser*innen hatten wir bereits vor der Krise eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Mini-Jobs, in denen Palästinenser*innen oft arbeiten, begründen kein festes Arbeitsverhältnis, und die Menschen werden nur dann bezahlt, wenn sie arbeiten. Für viele ist das Geld überlebensnotwenig. An Tagen ohne Einkommen müssen die Familien hungern. Jene Menschen sind am stärksten von der Pandemie betroffen.

Manche Organisationen sammeln Geld für Essen. Traditionell versuchen arabisch-palästinensische Kulturvereine im Fastenmonat Ramadan ärmere Menschen mit Lebensmittelspenden zu unterstützen. Durch das Corona-Virus ist der Bedarf extrem gestiegen.

Zudem kann das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)2 seinen Aufgaben gerade nicht ausreichend nachkommen. Sogar das libanesische Gesundheitsministerium kritisierte, dass sich UNRWA nicht ausreichend um die Palästinenser*innen im Libanon kümmert. Das Ministerium betonte auch, dass es nicht für palästinensische Patient*innen aufkommen könne und die UNRWA verantwortlich sei. Das schafft Unsicherheiten, da die Zuständigkeiten diffus sind und wir uns nicht darauf verlassen können, nötige Hilfen zu bekommen.

Der Verfall der libanesischen Währung ist ein weiteres Problem. Das libanesische Pfund verlor einen Großteil seines Wertes gegenüber dem US-Dollar. Zudem sind Artikel des täglichen Bedarfs sehr teuer geworden, und der Schwarzmarkt für den Wechsel zwischen libanesischen Pfund und US-Dollar boomt. Während die Bank 1.500 Lira für einen US-Dollar herausgibt, können auf dem Schwarzmarkt bis zu 4.200 Lira erzielt werden.3 Viele Palästinenser*innen, die im Ausland leben, haben Geld in die Lager geschickt. Außerdem spenden die Menschen in den Lagern untereinander so viel
Geld, wie sie können. Wir haben nur einander, wir wissen, dass wir allein sind.

Der libanesische Staat kann uns nicht helfen. Er ist kaum in der Lage, sich selbst und seine eigenen Bürger*innen zu schützen. Die Libanes*innen sind von ihrer Regierung abhängig und sind es gewohnt, ein freizügiges Leben zu führen. Auch sie versuchen natürlich, sich gegenseitig zu helfen. Aber oft fehlen ihnen dafür die Strukturen. Auch haben einige Libanes*innen das Virus nicht ernst genommen, was die Verbreitung begünstigte.

Wir haben Angst, dass es zu einem Ausbruch in den palästinensischen Lagern kommt. Falls COVID-19 die Lager erreicht, könnte es zu einer Katastrophe kommen. Wir machen uns große Sorgen, da wir keine eigenen Krankenhäuser haben und unsere eigenen politischen Strukturen schnell an ihre Grenzen stoßen könnten. Deswegen versuchen wir, so viele Menschen wie möglich aufzuklären. Vielen ist die Gefahr bewusst, aber sie öffnen ihre Geschäfte trotzdem, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Durch den Krieg in Syrien hat sich die Zahl der Menschen in den palästinensischen Lagern oftmals
verdoppelt. Die Lager sind daher überfüllt; das kommt erschwerend hinzu.

Auch in der Vergangenheit haben wir keine Hilfe von außen bekommen. Aber wir wissen, was es heißt, solidarisch zu handeln. Nun profitieren wir von diesen nachhaltigen Hilfsstrukturen. Diese können wir nun nutzen und sind damit anderen etwas voraus.

Anmerkungen

1) Die Texte in diesem Artikel wurden im Juni 2020 verfasst. Ende Juli ergänzte Tatiana Naboulsi: Zwei Menschen eines Camps hatten sich inzwischen mit Corona infiziert und Familienmitglieder angesteckt, was zu insgesamt sechs COVID-19-Fällen führte. Die betroffenen Menschen wurden jedoch isoliert und konnten genesen. Das Gesundheitsministerium veranlasste eine Nachverfolgung der Kontaktpersonen und führte Tests durch. Alle waren negativ. Seitdem tauchte kein neuer Fall auf.

2) Die Abkürzung steht für United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East.

3) Die Autorin ergänzte Ende Juli: Der US-Dollar wird inzwischen mit 7.000 Lira gehandelt und mancherorts sogar noch höher. Die Inflation ist inzwischen ebenfalls viel höher als im Juni.

Indien: Migrant*innenkrise, Klima, Ökologie und COVID-19

von Chittranjan Dubey

Die COVID-19-Pandemie brachte für Indien beispiellose Herausforderungen mit sich. In solchen Situationen erwarten wir, dass von der Politik Maßnahmen unternommen werden, die zu unmittelbaren und nachhaltigen Lösungen führen. Premierminister Modi kündigte ein Hilfspaket in Höhe von 240 Milliarden Euro an, was angeblich zehn Prozent des indischen BIP entspricht.

Als Umweltschützer und Klimaaktivist verfolgte ich täglich die Briefings der indischen Finanzministerin Nirmala Sitharaman, die Einzelheiten des Hilfs­pakets erläuterte. Ich erwartete, dass auch Geld für die Klima- und Umweltkrise bereitgestellt wird. Ich war verblüfft, dass kein einziges Mal das Wort »Klima« fiel. Die COVID-19-Maßnahmen haben Umweltinitiativen vielmehr geschwächt. Die Regierung kümmert sich wenig um Umwelt- und Klimapolitik. Entweder wird die Bedeutung von nachhaltiger Umweltpolitik unterschätzt, oder es werden schlicht falsche Prioritäten gesetzt. So oder so ist
diese Kurzsichtigkeit für zukünftige Generationen gefährlich.

Die indische Regierung erkennt nicht, dass jedes Jahr Millionen Inder*innen zu Klimaflüchtlingen werden. Aufgrund des Lockdown und der Infektionsgefahr können indische Klimaaktivist*innen nun nicht mehr für das Klima auf der Straße protestieren.

Im April und Mai mussten Millionen Migrant*innen wegen des landesweiten Shutdown bei 40 Grad Hitze aus den Städten in ihre Dörfer zurückkehren. Wir sollten uns eine grundlegende Frage stellen: Wieso gibt es diese Arbeitsmigration überhaupt? Leider fehlt diese Diskussion in der indischen Politik und Wirtschaft gänzlich. Arbeitsmigration gibt es, weil Menschen nicht mehr von der Landwirtschaft überleben können.

Mehr als eine Million Menschen wurden bereits 2018 bei den Überschwemmungen in Kerala zu Klimaflüchtlingen. Der Superzyklon Amphan hat in Westbengalen und Orissa eine halbe Million Menschen vertrieben und unwiderrufliche Schäden angerichtet. Darüber hinaus ist Indien, wie die Unternehmensberatung McKinsey in einem Bericht über die Klima- und Umweltkrise dieses Jahr betonte, stark von Hitzewellen betroffen, die auch für gesunde Menschen gefährlich sind. Der Thinktank NITI Aayog errechnete 2018, dass 21 indischen Großstädten bis 2020 das Grundwasser ausgehen wird, wovon 100 Millionen Menschen
betroffen sein werden.

Dies alles sind Folgen des sich verändernden Klimas. Naturkatastrophen sind einer der Hauptgründe von Migration. Viele indische Bundesstaaten sind regelmäßig mit Naturkatastrophen konfrontiert. Das sind die Staaten, aus denen die meisten Menschen auf der Suche nach einer Existenzgrundlage in Großstädte abwandern. Der Zustrom von Menschen in größere Städte verschärft bereits bestehende Probleme. Und dieser Teufelskreis hört nie auf. Die Mehrheit von ihnen lebt am Ende in Slums und an Straßenrändern. Sie leben ohne sanitäre Einrichtungen und fließendes Wasser. Von der COVID-19-Pandemie sind
diese Menschen am stärksten betroffen. Da sie auf sehr engem Raum leben, können sie keinen Abstand im Sinne des Infektionsschutzes halten. Die aktuelle Pandemie hat die Notlage der Tagelöhner*innen und des ländlichen Indiens nun offengelegt und verschärft.

Der Klimawandel und die daraus resultierende ökologische Krise sind so schwerwiegend, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Die COVID-19-Pandemie ist auch das Ergebnis der Ausbeutung von Natur und Tierwelt. Steigende Temperaturen, Hitzewellen, Dürreperioden und Überschwemmungen werden zunehmen, was in dicht besiedelten Regionen, wie dem indischen Subkontinent, viele Viruserkrankungen hervorrufen wird. Und trotzdem hat dieses Thema in der Mainstream-Politik keinen Platz, weil unsere Führung ignorant ist. Neben dem COVID-19-Virus sind wir mit Dengue, Chikungunya, Zika, Nipah und
anderen Viruskrankheiten konfrontiert. Sie alle sind das Ergebnis veränderter Klimabedingungen, die Moskitos und Viren begünstigen.

Ein Bericht der Arbeitsgruppe für Migration, der 2017 vom Ministerium für Wohnungswesen und Bekämpfung der städtischen Armut herausgegeben wurde, enthält nachdrückliche Empfehlungen zur Verbesserung der Situation für Migrant*innen. Es ist jedoch Sache der Regierung, die Migration als eine Herausforderung anzuerkennen und geeignete Strategien und Programme zur Beseitigung der Fluchtursachen umzusetzen.

Indien ist das Land von Mahatma Gandhi, der auf die ländlichen Regionen, auf die Landwirtschaft und entsprechende Reformen achtete. Wenn sich unsere Regierung für die Lösung der sozioökonomischen Probleme einsetzt, dann sollte sie das Klimaproblem im Speziellen und die Umwelt im Allgemeinen beachten. Die Regierung muss die Klimamigration als eine durch den Klimawandel verursachte extreme Herausforderung anerkennen. Nur dann lassen sich Migration, Armut und auch die rasche Verbreitung von Viren verhindern.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Universität Jena.
Stella Kneifel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut und arbeitet im Projekt »Relations in the Ideoscape: Middle Eastern Students in the Eastern Bloc (1950s-1991)«.

Interreligiöser Dialog


Interreligiöser Dialog

Friedens- und Konfliktkonzepte in Indonesien und Südkorea

von Gabriella Hornung

In der Friedens- und Konfliktforschung ist der interreligiöse Dialog als Untersuchungsgegenstand immer noch nur ein Randphänomen, obwohl dieser sich in Friedens- und Konfliktprozessen positiv auswirken kann. In vielen asiatischen Ländern besteht eine lange Tradition des interreligiösen Dialogs, aus der sich gelungene Beispiele für Methoden einer Verständigung aufzeigen lassen. Indonesien und Südkorea sollen im Folgenden als Anschauungsbeispiele vorgestellt werden.

Indonesien ist weltweit der Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung. Nach dem letzten offiziellen Zensus aus dem Jahr 2010 (UN Statistics Division 2020) machten Muslime etwa 87 % der Bevölkerung aus; 3 % der Bevölkerung gehörten dem katholischen Glauben an; etwa 7 % rechneten sich einer protestantischen Gruppe zu, 0,7 % einer buddhistischen, etwa 1,7 % einer hinduistischen und weniger als ein Prozent dem Konfuzianismus. Diese sechs Glaubensrichtungen werden vom Staat als Religionen anerkannt; der Glaube an einen Gott ist gemäß der Staatsphilosophie »Pancasila« verpflichtend.

Im Heidelberger Konfliktbarometer 2019 werden für Indonesien insgesamt sieben Konflikte aufgelistet, ein Konflikt unter Bezug auf militante islamistische Gruppierungen explizit unter dem Aspekt »system/ideology« sowie zwei weitere, bei denen die Konfliktparteien entlang religiöser Identitätslinien auszumachen sind (HIIK 2020). Die Notwendigkeit für einen interreligiösen Austausch als Methode der Friedensarbeit liegt daher nahe. Aus Indonesien schaffen es meist nur die negativen Schlagzeilen über den Einfluss islamischer Fundamentalist*innen in die westlichen Medien. Erfolgreiche Bemühungen um Verständigung zahlreicher anderer Akteure werden außer Acht gelassen, obwohl die weltweit zunehmende religiöse Pluralisierung dazu drängt, sich »best practices« aus Ländern anzuschauen, die auf eine längere Geschichte des erfolgreichen Austausches über Religionen hinweg zurückblicken können.

Tatsächlich setzen sich in Indonesien neben Einzelpersonen etliche Organisationen für einen interreligiösen Dialog ein, um ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgruppen zu ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Institutionalisierung religiöser Gruppierungen in Indonesien sehr ausgeprägt ist. Mit einer Mitgliedszahl von etwa 40 Millionen Menschen ist etwa die Nahdlatul Ulama die größte muslimische Organisation, gefolgt von der Muhammadiyah mit etwa 30 Millionen Anhängern. Die Organisationen nehmen nicht nur wichtige Repräsentationsfunktionen für ihre Anhänger*innen wahr, sondern agieren auch als Ansprechpartner für einen interreligiösen Austausch. Beispielsweise wurde 2017 von der Nahdlatul Ulama in Absprache mit anderen Religionsvertreter*innen der Aufbau eines Datencenters gestartet, das der Auswertung von Social-media-Beiträgen zur Analyse fundamentalistischer Tendenzen im Internet dient. Auf dieser Basis wurden Handlungsempfehlungen erarbeitet bzw. Kooperationen mit Internetdienstleistern zur Bekämpfung fundamentalistischer Aussagen initiiert. Ein weiteres Beispiel: Die der Nahdlatul Ulama nahestehende und vom ehemaligen Staatspräsidenten Abdurrahman Wahid gegründete Wahid Foundation forscht u.a. zur Stärkung von (religiöser) Toleranz und zur Rolle von Frauen bei der Bekämpfung extremistischer Strömungen im Islam.

In Südkorea bietet sich ein etwas anderes Bild: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung definiert sich als keiner Religion zugehörig. Von den etwa 44 % der Bevölkerung, die im Jahr 2015 angaben, einer Religion anzugehören, bekannten sich 45 % zum Protestantismus, 35 % zum Buddhismus, 18 % zum Katholizismus und weitere 2 % zu einer anderen Religion (korea.net o.J.). Konflikte zwischen den religiösen Gruppierungen werden selten öffentlich diskutiert. In persönlichen Gesprächen mit Buddhist*innen oder Katholik*innen wird jedoch häufig das als aggressiv empfundene Missionierungsbestreben einiger protestantischer Gruppierungen kritisiert.

Auch in Südkorea gibt es etliche Organisationen, Vereine, religiöse Zusammenschlüsse und natürlich auch Einzelpersonen, die sich für ein friedvolles Miteinander einsetzen. Asien­weit engagiert sich u.a. der regionale Zusammenschluss »Asian Conference of Religions for Peace« (ACRP) für Frieden. In Seoul diskutieren Teilnehmer*innen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit der Gruppe »Aha! Beyond Boundaries« gemeinsam religiöse Texte. In einer anderen Initiative organisieren buddhistische und christliche Nonnen regelmäßig Exkursionen zu Pilgerstätten unterschiedlicher religiöser Gruppierungen (Quelle: persönliche Begegnungen in Seoul).

Perspektiven auf Frieden und Konflikt: Religion und Kultur

In der Friedens- und Konfliktforschung wird Religion bisher vor allem unter dem Aspekt der Kultur wahrgenommen, deren Einfluss unterschiedlich bewertet wird. Während zum Beispiel Johan Galtung, John Paul Lederach und Kevin Avruch der Prägung von Frieden und Konflikten durch Kultur einen hohen Stellenwert einräumen, spielt sie in den Theorien von John Burton eine untergeordnete Rolle (Ramsbotham et al. 2016). Anna Bernhard macht darauf aufmerksam, dass bei friedensbildenden Maßnahmen kulturelle Aspekte für den gesamten Verlauf, von der Handhabung eines Konflikts bis hin zur Festlegung und Priorisierung von Zielen, eine zentrale Rolle spielen (Bernhard 2013, S. 23 f.). Konkrete Auswirkungen von Kultur und insbesondere von religiöser Zugehörigkeit auf Friedens- und Konfliktvorstellungen anhand von Fallbeispielen wurden bisher jedoch kaum analysiert. Dabei zeigen Initiativen aus Indonesien und Südkorea, dass Aspekte wie Gemeinschaftszugehörigkeit und von religiösen Lehren geprägte Denkweisen durchaus einen wichtigen Einfluss auf diese Vorstellungen haben.

Hierbei sind nicht nur einzelne Textpassagen aus dem Koran oder aus buddhistischen Sutren relevant, sondern ganze Denkkonstrukte, in die Vorstellungen eingebettet sind. Ein Beispiel: Ramsbotham, Woodhouse und Miall (2016) übersetzen die erste der Vier Edlen Wahrheiten, die ein wesentliches Fundament des Buddhismus bilden, nämlich die des Leids als Grundkonstitution des menschlichen Lebens, als »Konflikt«. Die Vier Edlen Wahrheiten unter diesem Ansatz weiterdenkend formulieren sie, dass die Erkennung der Konfliktursache notwendig sei, um den Konflikt zu transformieren und Frieden zu ermöglichen. Die Ursache von Leid – nach Ramsbotham et al. also Konflikt – ist laut buddhistischer Lehre vor allem im »Durst«, oder nach anderer Übersetzung in der »Gier«, zu finden, d.h. zum Beispiel in der Gier nach dem Werden oder nach der Erfüllung von Bedürfnissen.

Doch was heißt dies konkret für die Friedensarbeit? Erstens wäre die Schlussfolgerung, dass für Buddhist*innen das Wort »Konflikt« eine andere Bedeutung hat als für Nichtbuddhist*innen, und zweitens, dass die Transformation eines Konflikts einem anderen Ziel folgt. Am Beispiel der von Johan Galtung entwickelten Idee der menschlichen Grundbedürfnisse, wie etwa dem nach Sicherheit und Freiheit, deren Berücksichtigung in der Friedensarbeit von zentraler Bedeutung sein müsse (Galtung 1980), sähe das so aus: Da menschliche Bedürfnisse als »Gier nach etwas« gedeutet werden können, würde sich die Frage stellen, was nach dem Ansatz von Ramsbotham et al. eigentlich in einer buddhistischen Friedensarbeit erreicht werden soll.

Eine ausführliche Darstellung der buddhistischen Erkenntnislehre würde hier zu weit greifen, trotzdem noch der Hinweis auf einen anderen Aspekt, der unter dem Gesichtspunkt buddhistischer Friedens- und Konfliktvorstellungen häufig diskutiert wird, nämlich die Vorstellung, dass Konflikte auf einer falschen Wahrnehmung der (anderen) Konfliktpartei beruhen. Das bedeutet für die auf buddhistischer Lehre beruhende Friedensarbeit, dass diese maßgeblich bei der Reflexion der eigenen Wahrnehmung des Konflikts anfängt. Dies kann zum Beispiel Auswirkungen auf einen Mediationsworkshop haben, indem Schwerpunkte auch nach religiösen Gesichtspunkten gesetzt werden, beispielsweise durch eine Differenzierung der unterschiedlich wahrgenommenen Realitäten nach buddhistischer Vorstellung.

Auch im Islam gibt es spezifische Vorstellungen von Konflikt und Frieden; der Koran fordert dazu auf, sich für den Frieden einzusetzen. Hamideh Mohagheghi (2010) verweist auf Sure 2,208 und auf die Bedeutung des Begriffs »Jihad« als Einsatz für eine gute Tat, also auch für den Frieden. Für die Friedensarbeit ist jedoch nicht nur wichtig, was sich in religiösen Texten findet, sondern wie Gemeinschaft erlebt und das Individuum von ihr getragen wird, auf welche Weise sich Denkweisen in der Sprache manifestieren und wie diese in Friedens- und Konfliktprozessen gebraucht wird. So spielt es für die Vorstellung von Frieden eine Rolle, ob eine Person sich stärker über eine Gemeinschaft definiert oder ob sie sich in erster Linie für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse einsetzt. In vielen asiatischen Regionen bedeutet das, dass in einem Friedensprozess nicht primär die eigene Situation zur Debatte steht, sondern vor allem die einer Gemeinschaft.

Religiöse Akteure, interreligiöser Dialog und Friedensarbeit

Religiöse Akteur*innen als Entscheidungsträger*innen und Ansprechpartner*innen, die in politische Prozesse eingebunden werden müssen, finden zunehmend Beachtung nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch im politischen Geschehen. Ramsbotham et al. nennen hier vor allem Publikationen aus den frühen 1990er Jahren als Startpunkt für die Auseinandersetzung (des Westens) mit der Rolle von Religionen für den Frieden. S. Ayse Kadayifci-Orellana weist auf die Bedeutung des Millenium Peace Summit of World Religious and Spiritual Leaders hin (Kadayifci-Orellana 2013).

Im Kontext vieler so genannter Ideologiekonflikte, die religiös aufgeladen sind, stellt der interreligiöse Dialog eine wichtige Form der Friedensarbeit dar. Daher lohnt es sich, nicht nur religiöse Akteure stärker in politischen Prozessen wahrzunehmen, sondern auch ihren Beitrag zur Friedensarbeit in der Friedens- und Konfliktforschung zu untersuchen.

Da Vertrauensbildung zu Personen anderer religiöser Zugehörigkeiten zum Fundament einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft gehört, ist interreligiöser Dialog aber auch unabhängig von Wertekonflikten wichtig. Gruppen wie »Aha! Beyond Boundaries« in Seoul, die sich für eine interreligiöse Verständigung durch die gemeinsamen Diskussionen religiöser Texte einsetzen, können ebenso ein Gemeinschaftsgefühl stärken, indem sie das gemeinsame Inter­esse an den Texten in den Mittelpunkt stellen, wie regelmäßige Treffen offizieller Repräsentant*innen der anerkannten Religionsgemeinschaften in Indonesien. Vertrauensbildung durch interreligiösen Dialog muss daher ein wichtiger Bestandteil der Friedensarbeit sein, sei es als Konfliktprävention oder als konfliktbearbeitende Maßnahme etwa bei Konflikten, die entlang religiöser Zugehörigkeiten geführt werden.

Literatur

Bernhard, A. (2013): Dynamics of Relations between different Actors when Building Peace – The Role of Hybridity and Culture. Berlin: Berghof Foundation, Projekt »Cultures of Governance and Conflict Resolution in Europe and India«, CORE.

Galtung, J. (1980): The Basic Needs Approach. Manuskript; online verfügbar auf transcend.org.

Heidelberg Institute for International Conflict Research/HIIK (2020): Conflict Barometer 2019. Disputes – non-violent crisis – violent crisis – limited wars – wars. No. 28. Heidelberg.

Kadayifci-Orellana, S.A. (2013): Inter-Religious Dialogue and Peacebuilding. In: Cornille, C. (ed.): The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue. Oxford: Wiley-Blackwell, S. 149-167.

korea.net (o.J.) Über Korea – Religion. german.korea.net (eine Webseite der südkoreanischen Regierung).

Mohagheghi, H. (2010): Vielfalt der Religionen als eine Chance für das friedliche Zusammenleben -– aus islamischer Perspektive. In: Weiße, W.; Gutmann, H.-M. (Hrsg.): Religiöse Differenz als Chance? Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Münster: Waxmann, S. 119-130.

O’Leary, J.S. (2010): Skillful Means as a Hermeneutic Concept. In: Cornille, C. (ed.): Interreligious Hermeneutics. Eugene, Or.: Cascade Books, S. 163-183.

Ramsbotham, O.; Woodhouse, T.; Miall, H. (2016): Contemporary Conflict Resolution – The prevention, management and transforma­tion of deadly conflicts. Cambridge, UK/Malden, MA: Polity.

UN Statistics Division (2020): Popular statistical tables, country (area) and regional profiles. data.un.org.

Wrogemann, H. (2015): Theologie Interreligiöser Beziehungen – Religionstheologische Denkwege, kulturwissenschaftliche Anfragen und ein methodischer Neuansatz. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Gabriella Hornung promoviert an der Universität Rostock zu interreligiösem ­Dialog in Asien. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte umfassen u.a. interreligiösen Dialog, Religion und Politik sowie Religion und Entwicklung(szusammenarbeit).

Kernwaffen in Südasien


Kernwaffen in Südasien

Arsenale, Doktrinen und Rüstungskontrolle

von Jens Heinrich

Indien und Pakistan bewiesen spätestens mit ihren Atomtests von 1998, dass sie in der Lage sind, nukleare Sprengsätze herzustellen. Seitdem haben beide Länder in den Ausbau und die Modernisierung ihrer Kernwaffenarsenale investiert. Ein Ende der Aufrüstungsdynamik der beiden verfeindeten Nuklearmächte ist bisher nicht abzusehen – mit weitreichenden Konsequenzen für Sicherheit und Frieden in der Region.

Nach aktuellen Schätzungen verfügen die zwei Länder über ca. 150-160 (Pakistan) bzw. 130-140 (Indien) Sprengköpfe (SIPRI 2019, S. 11), die von Flugzeugen, ballistischen Raketen und zukünftig auch von Marschflugkörpern getragen werden. Der Schwerpunkt der Modernisierung liegt bisher eindeutig auf landgestützten Raketen (Krepon und Thompson 2013, S. 13).

Indien fokussiert sich auf die Erhöhung der Reichweite der Trägerraketen. Das Arsenal umfasst aktuell nicht nur ältere Systeme, wie Prithvi II (350 km) und Agni I und II (>700 km bzw. >2.000 km), die im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre in Dienst gestellt wurden, sondern auch neuere und noch in der Testphase befindliche Typen, wie Agni IV und Agni V. Besonders mit der Agni V könnte Neu-Delhi in Zukunft über eine Rakete mit (fast) interkontinentaler Reichweite (>5.200 km) verfügen (Kristensen und Korda 2018, S. 364). Der Wunsch nach größeren Reichweiten kommt nicht überraschend, hatte doch schon die Regierung unter Atal Behari Vajpayee die Tests von 1998 mit der Bedrohung durch China legitimiert (Perkovich 1999, S. 417). Dazu kommen weitere Faktoren, wie das Streben nach Status und Prestige und das Interesse der Forschungseinrichtungen am Bau immer weiterreichender Raketen (Narang 2009).

Pakistans sicherheitspolitischer Blick hingegen ist nach wie vor deutlich auf Indien gerichtet (Auswärtiges Amt 2019, S. 123). Die 2015 zum ersten (und letzten) Mal getestete Mittelstreckenrakete Shaheen 3 (2.750 km) soll einen möglichst großen Teil Indiens abdecken. Aus Sicht Pakistans wären Interkontinentalraketen erst dann notwendig, wenn auch Ziele im Indischen Ozean erreicht werden sollen (Kristensen, Norris und Diamond 2018, S. 354). Die Konzentration auf Indien zeigt sich besonders bei der Einführung von Raketen mit einer Reichweite von 50-60 km in Pakistan (National Air and Space Intelligence Center 2017, S. 17). Offizielle pakistanische Stellen rechtfertigten die Entwicklung von Hatf 1 (50 km) und Hatf 9/Nasr (60 km) mit der indischen Militärstrategie, die u.a. begrenzte konventionelle Schläge vorsieht (Kidwai 2015). Die pakistanische Nuklearpolitik ist demgemäß darauf ausgelegt, nicht nur einen indischen Kernwaffeneinsatz, sondern auch einen konventionellen Krieg abzuschrecken, wobei der Hatf 9 eine wichtige Rolle zukommt.

Drei weitere Trends werden die regionale Sicherheitsstruktur zukünftig prägen: erstens die Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen, zweitens die Einführung atombetriebener U-Boote und U-Boot-gestützter Atomwaffen und drittens das indische Bestreben, Raketenabwehr aufzubauen.

Mehrfachsprengköpfe

Die MIRV-Technologie1 ermöglicht es, mit einer Rakete mehrere Sprengköpfe individuell gegen ein oder mehrere Ziele zu richten. Die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien haben MIRV schon lange in ihre Atomarsenale integriert. Auch China hat Teile seines Arsenals mit dieser Technologie ausgestattet (Department of Defense 2019, S. 44). Indische Wissenschaftler, wie der Direktor der Forschungseinrichtung Defence Research and Development Organization (DRDO), kündigten wiederholt an, MIRV solle auch für das indische Arsenal entwickelt werden (Times of India 2015). Wann dies gelingt, ist offen; schon das Streben nach MIRV könnte allerdings negative Folgen für Sicherheit und Frieden in der Region haben. Zum einen könnte Pakistan darin den Versuch Indiens sehen, langfristig eine Erstschlag­option zu entwickeln, um pakistanische Kernwaffen zu zerstören. Während des Kalten Krieges galten MIRV-Sprengköpfe aufgrund ihrer erhöhten Treffwahrscheinlichkeit als potentielles Instrument für solche Optionen (Müller und Schörnig 2006, S. 81). Diese Befürchtungen werden durch die jüngsten Äußerungen indischer Generäle und Politiker bestätigt, der Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (»no first use«) sei abhängig von zukünftigen Umständen. Als Reaktion auf die Entwicklung von MIRV könnte Pakistan die Alarmbereitschaft des eigenen Arsenals erhöhen, was in Krisen- und Spannungssituationen eskalierend wirken könnte. Zum anderen kann MIRV zur Verstärkung der bestehenden Aufrüstungsdynamik führen. Pakistan könnte dazu übergehen, eigene Mehrfachsprengköpfe zu entwickeln oder sein Kernwaffenarsenal weiter auszubauen.

U-Boot-gestützte Kernwaffen

Der zweite Trend ist der Aufbau einer nuklear angetriebenen und nuklear bewaffneten U-Boot-Flotte. Hier ist Indien deutlich weiter als Pakistan, das allerdings ebenfalls Interesse an diesen Systemen bekundete (Kidwai 2015). Das erste von insgesamt vier geplanten atombetriebenen U-Booten, die INS Arihant, absolvierte 2018 eine erste Fahrt, die vom indischen Premierminister Narendra Modi öffentlich als »Abschreckungspatrouille« bezeichnet wurde. Während des Kalten Krieges wurden auf U-Booten stationierte Atomraketen als stabilisierend betrachtet, da sie die nukleare Abschreckung stärken würden. Allerdings besteht bei U-Booten und darauf stationierten Atomraketen ein erhöhtes Risiko für Reaktorunfälle an Bord, für einen Atomwaffeneinsatz »aus Versehen«2 und für gravierende Folgen im Falle von Einsätzen zur U-Boot-Bekämpfung (Mian et al. 2019, S. 194). Ein weiteres Problem liegt darin, die Kommunikation zwischen dem U-Boot und der politischen und militärischen Entscheidungsebene auch in Krisensituationen und Kriegen zu sichern.

Raketenabwehr

Den dritten Trend stellen Pläne Indiens zum Aufbau von Raketenabwehr dar. Die Regierung in Neu-Delhi verfolgt diesbezüglich eine Doppelstrategie. Zum einen wird an eigenen Abwehrsystemen, wie dem Prithvi Air Defense System, gearbeitet. Gleichzeitig sucht die indische Regierung nach internationalen Partnern, vor allem in Israel, den USA und Russland, um die Raketenabwehr voranzubringen (Joshi und O’Donnell 2019, S. 35-37). Die erforderliche Technologie ist noch nicht sehr ausgereift, jedoch ist alleine das Streben nach Raketenabwehr problematisch, da Pakistan so zur Vergrößerung des eigenen Atomwaffenarsenals gereizt werden bzw. die eigene Aufrüstung legitimieren kann. Pakistans UN-Botschafter, Farukh Amil, wies jüngst auf die destabilisierenden Auswirkungen einer Raketenabwehr hin und stellte diese in einen Zusammenhang mit nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung (Amil 2018, S. 3). Zusätzlich könnte Raketenabwehr ein falsches Gefühl von »Unverwundbarkeit« vermitteln, zu riskantem Verhalten in Konfliktsituationen verleiten und eine Eskalation befördern.

Ersteinsatz und massive Vergeltung

Neben Waffensystemen liefert ein Blick in die jeweiligen Nukleardoktrinen Antworten darauf, welchen Stellenwert Kernwaffen für beide Länder haben und unter welchen Bedingungen der Einsatz erwogen würde. Dabei zeigt sich, dass Indien und Pakistan vor Dilemmata und Paradoxien stehen.

Indien veröffentlichte bereits 1999 eine nichtoffizielle Nukleardoktrin. Dabei handelte es sich um einen »Entwurf« des National Security Advisory Board, einem beratenden Gremium.3 Ein wesentliches Element dieser Doktrin war der Verzicht auf den Ersteinsatz, d.h., Kernwaffen würden ausschließlich als Antwort auf einen gegnerischen nuklearen Angriff eingesetzt (Ministry of External Affairs 1999).

Im Januar 2003 veröffentlichte das Büro des indischen Premierministers eine Pressemitteilung, die die zentralen Punkte einer Neufassung der Doktrin auflistete (Prime Minister’s Office 2003). Das Dokument, das vor dem Hintergrund des indisch-pakistanischen Kargil-Krieges (1999) und der so genannten »Doppelkrise« von 2001/2002 zu sehen ist, weist zwei wesentliche Veränderungen im Vergleich zum Entwurf auf.

Erstens wurde die geographische Eingrenzung aufgehoben. Im Entwurf von 1999 wurde eine nukleare Vergeltung als Reaktion auf einen Nuklearwaffeneinsatz gegen Indien und indische Streitkräfte genannt. In der Version von 2003 blieb der Verzicht auf den Ersteinsatz zwar erhalten, gilt seither aber nicht für den Fall, dass indische Streitkräfte mit Kernwaffen angegriffen werden – und zwar „egal wo“ (Prime Minister’s Office 2003), also auch außerhalb des indischen Hoheitsgebiets. Die indische Regierung versuchte so eine Art Schutzschild für die eigene Armee aufzubauen, damit diese in pakistanischem Staatsgebiet aktiv werden kann.

Eine zweite Erweiterung war inhaltlicher Natur. Anders als der Entwurf verweist die Pressemitteilung von 2003 explizit darauf, ein Einsatz biologischer und chemischer Waffen gegen Indien oder indische Truppen könnte eine nukleare Vergeltung auslösen. Da die Staaten, die Neu-Delhi als Hauptbedrohung wahrnimmt (China und Pakistan), vermutlich nicht im Besitz von B- oder C-Waffen sind (Arms Control Association 2018), dürfte sich dieser Punkt auf terroristische Gruppen beziehen. Die indische Regierung könnte somit bei einem von nichtstaatlichen Gruppen verübten Anschlag mit biologischen oder chemischen Waffen auch einen Kernwaffeneinsatz in Pakistan in Betracht ziehen.

Ein weiterer Pfeiler der indischen Doktrin ist die massive Vergeltung als Reaktion auf einen Kernwaffeneinsatz. In dem Entwurf von 1999 war noch von einer „punitive retaliation“, also bestrafender Vergeltung, die Rede (National Security Advisory Board 1999). Seit 2003 gilt offiziell die »massive Vergeltung« – ein Begriff, der an die Debatte in den 1950er Jahren in der NATO erinnert, die allerdings unter anderen Vorzeichen geführt wurde. Massive Vergeltung führt in Verbindung mit den oben erwähnten Doktrinerweiterungen zu einem Glaubwürdigkeitsproblem für die indische Regierung, mit potentiell gravierenden Folgen.

Ein Szenario soll dies kurz illustrieren: In einem Krieg zwischen Indien und Pakistan könnte die pakistanische Seite Atomwaffen einsetzen, um vorrückende indische Streitkräfte zu stoppen. Denkbar wären auch ein »demonstrativer« oder nicht-autorisierter Einsatz durch untere Kommandoebenen. Sollten dadurch indische Streitkräfte auf irgendeine Weise betroffen sein, wäre die indische Seite unter Zugzwang, da ein Nichthandeln der eigenen Doktrin widersprechen und somit die Glaubwürdigkeit schwächen würde. In einem solchen Szenario würden also nicht unbedingt militärische Argumentationen und Rechtfertigungen, sondern vielmehr psychologische Faktoren greifen.

In jüngster Zeit steht zudem der Nicht-Ersteinsatz zur Diskussion. Hohe indische Offizielle, wie z.B. der amtierende Verteidigungsminister Rajnath Singh, haben den Verzicht auf den nukle­aren Ersteinsatz jüngst relativiert und von zukünftigen (und somit vagen und interpretierbaren) Bedingungen abhängig gemacht (The Hindu 2019).

Die Auswirkungen der indischen Doktrin werden erst vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Pakistan deutlich. Islamabad (bzw. Rawalpindi)4 hat bisher keine Nukleardoktrin veröffentlicht, lässt die indische Regierung über einen potentiellen Einsatz von Atomwaffen also im Unklaren. Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte, die helfen, Pakistans Nuklearstrategie zu verstehen. Wesentliches Merkmal ist die Option des Ersteinsatzes von Kernwaffen unter Bedingungen, welche General Khalid Kidwai formulierte. Darunter fallen 1. die Zerstörung großer Teile der pakistanischen Armee, 2. die Besetzung großer Teile pakistanischen Territoriums, 3. eine Wirtschaftsblockade gegen Pakistan durch Indien und 4. die Destabilisierung durch einen externen Akteur, womit Indien gemeint ist (Khan 2012, S. 351). Das Problem dieser roten Linien ist ihre Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit (Joshi und O’Donnell 2019, S. 7), die von pakistanischer Seite durchaus gewollt ist. In einer Krise oder einem Krieg könnte Indien eine oder mehrere dieser Grenzen bewusst oder unbewusst übertreten, sodass eine nukleare Eskalation wahrscheinlicher würde. Auf der anderen Seite erlaubt die Mehrdeutigkeit Freiräume bei der Reaktion, die bei strikteren Bedingungen kaum denkbar wären. Die politischen und militärischen Entscheidungsträger Pakistans wären somit nicht automatisch unter nuklearem Zugzwang.

Der Ersteinsatz von Kernwaffen wurde von der politischen und militärischen Führung Pakistans wiederholt diskutiert. Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche der Regierung, die Atomwaffenpolitik des Landes zu ändern bzw. zu relativieren. Im Jahr 2008 erklärte der damalige pakistanische Präsident Zardari, die Politik des Ersteinsatzes solle aufgehoben werden, was zu einer prompten Reaktion des Armeechefs Asfaq Kayani führte (Sagan 2009, S. 253). Die dominante Rolle der Armee in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigte sich auch, als der jetzige Ministerpräsident Imran Khan nach seinem Amtsantritt 2018 die Politik des Ersteinsatzes öffentlich in Frage stellte. Auch diese Aussage wurde später relativiert (Shahzad 2019).

Rüstungskontrolle in Südasien

Rüstungskontrolle als Strategie zur Kriegsverhinderung und Abrüstung hat in Südasien einen schweren Stand. Zwar gab es in der Vergangenheit Initiativen zur Vertrauensbildung, diese konnten die regionale Rüstungsdynamik jedoch nicht begrenzen. Besonders Verträge und verbindliche Abkommen gelten „eher als Problem […] denn als Lösung“ (Norddeutscher Rundfunk 2012). Konkret wirft Rüstungskontrolle in Südasien die folgenden Herausforderungen auf:

1. Eine regional beschränkte Rüstungskontrolle wird abgelehnt. Vor allem die indische Regierung verdeutlichte immer wieder, Rüstungskontrolle dürfe nicht auf Indien und Pakistan begrenzt sein, sondern müsse China einbeziehen. Da sich Chinas Sicherheitspolitik jedoch stärker an den USA5 (und zum Teil an Russland) orientiert, wird regionale mit globaler Rüstungskontrolle verknüpft und somit verkompliziert und erschwert.

2. Rüstungskontrolle setzt voraus, die Sicherheit der anderen Seite mitzudenken, zu akzeptieren und durch eigenes Handeln zu fördern. Die Realität in Südasien sieht anders aus. Von den politischen, militärischen und nuklear-wissenschaftlichen Eliten beider Länder wird Rüstungskontrolle nicht als Teil der eigenen Sicherheitspolitik, sondern als Gegensatz zu dieser betrachtet. Es geht führenden Politiker*innen und großen Teilen der Armeeführung beider Länder um Sicherheit durch Dominanz, rüstungstechnologische Überlegenheit und Abschreckung auf allen Ebenen. Die der Rüstungskontrolle zugrundeliegende Kooperation kann so kaum greifen.

3. Rüstungskontrollverträge leben von einer gewissen Vergleichbarkeit und Symmetrie. In Südasien spielen aber nicht nur Nuklearraketen eine Rolle, sondern auch die konventionelle Rüstung und »asymmetrische Bedrohungen«, also nichtstaatliche Gewaltgruppen. Für Indien sind terroristische Anschläge die zentrale Herausforderung, für Pakistan hingegen steht trotz Anschlägen im eigenen Land die indische Armee im Zentrum. Dieses Dreieck aus Terrorismus, konventioneller und nuklearer Rüstung lässt sich nur schwer in Verträge und verbindliche Abkommen übertragen.

4. Ein viertes Hindernis für Rüstungskontrolle zwischen beiden Ländern ist das Fehlen einer nennenswerten »community«, die sich mit dem Thema befasst. Die Chancen (und Grenzen) von Rüstungskontrolle hängen nicht nur von sicherheitspolitischen, technologischen und internationalen Faktoren ab, sondern werden auch von innenpolitischen und innergesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. In Indien und Pakistan gelten Verteidigungsfragen als Kernbereich exklusiver politischer und militärischer Kreise. Es gibt kaum intensive parlamentarische Debatten oder breite gesellschaftliche Diskursräume für Kritik und Kontroversen mit Blick auf die Atomwaffenpolitik beider Länder.

Ausblick

Atomwaffen werden in Südasien auch in Zukunft Teil der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein, denn zu stark sind die Beharrungskräfte in beiden Ländern. Ob es sich dabei um einen »Schrecken ohne Ende« handelt oder ob ein Ende abzusehen ist bzw. der Schreck zumindest verkleinert werden kann, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall gibt es Möglichkeiten, die Gefahren zu mindern. Zum einen streben sowohl Indien als auch Pakistan die Mitgliedschaft in internationalen Foren an, insbesondere in der »Nuclear Supplier Group« (Gruppe der Nuklearlieferländer), die den Handel mit Nukleartechnologie koordiniert und kontrolliert. Eine Mitgliedschaft sollte an Bedingungen geknüpft sein. Wichtige Partner beider Länder könnten versuchen, Zugeständnisse in bestimmten Bereichen zu verlangen. Leider blieben solche Versuche in der Vergangenheit ungenutzt. Zum anderen könnte die Unterstützung der rüstungskontroll- und abrüstungsfreundlichen Kräfte in Indien und Pakistan erhöht werden. Auch der Austausch mit Regierungsvertretern könnte darauf ausgerichtet sein, den skeptischen Blick auf Rüstungskontrolle und Abrüstung in beiden Ländern positiv zu verändern und die Vorteile einer solchen Politik für die Sicherheit aller zu verdeutlichen.

Anmerkungen

1) MIRV steht für Multiple Independently Tar­getable Reentry Vehicles.

2) Siehe dazu »Atomkrieg – aus Versehen?« von Karl-Heinz Bläsius auf S. 9 in diesem Heft.

3) Es darf jedoch bezweifelt werden, dass es nicht doch einen starken Einfluss offizieller Regierungsstellen gab. Die Doktrin kann durchaus auch als ein »Testballon« verstanden werden.

4) Die Chiffre »Rawalpindi« dient hier dem Hinweis auf die dominante Rolle des Militärs in sicherheitspolitischen Fragen. In Rawalpindi befindet sich das Hauptquartier der pakistanischen Armee.

5) Siehe dazu »Ein eigener Ansatz – Die Atomwaffendoktrin Chinas« von Gregory Kulacki auf S. 26 in diesem Heft.

Literatur

Amil, F. (2018): Statement delivered by Ambassador Farukh Amil, Permanent Representative of Pakistan to the UN and Other International Organizations in Geneva at the First Committee General Debate. New York: United Nations General Assembly.

Arms Control Association (2018): Chemical and Biological Weapons Status at a Glance. Washing­ton D.C.

Auswärtiges Amt (2019): Jahresabrüstungsbericht 2018. Berlin.

Joshi, Y.; O’Donnell, F. (2019): India and Nuclear Asia – Forces, Doctrine, and Dangers. Washington D. C.: Georgetown University Press.

Khan, F.H. (2012): Eating Grass – The Making of the Pakistani Bomb. Stanford: Stanford University Press.

Kidwai, K. (2015): A Conversation with Gen. Khalid Kidwai. Washington D. C.: Carnegie Endowment for International Peace.

Krepon, M.S.; Thompson, J. (2013): Introduction. In: dies.: Deterrence Stability and Escalation Control in South Asia. Washington D.C.: Stimson Center, S. 9-20.

Kristensen, H.M.; Korda, M. (2018): Indian nuclear forces, 2018. The Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 74, Nr. 6, S. 361-366.

Kristensen, H.M.; Norris, R.S.; Diamond, J. (2018): Pakistani nuclear forces, 2018. The Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 74, Nr. 5, S. 348-358.

Mian, Z.; Ramana, M.V.; Nayyar, A.H. (2019): Nuclear Submarines in South Asia – New Risks and Dangers. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 1, S. 184-202.

Ministry of External Affairs (1999): Draft Report of National Security Advisory Board on Indian Nuclear Doctrine. Neu-Delhi.

Müller, H.; Schörnig, N. (2006): Rüstungsdynamik und Rüstungskontrolle – Eine exemplarische Einführung in die Internationalen Beziehungen. Baden-Baden: Nomos.

National Air and Space Intelligence Center (2017): Ballistic and Cruise Missile Threat Report. Wright-Patterson Air Force Base: Watson Way.

National Security Advisory Board (1999): India’s Draft Doctrine. Neu-Delhi.

Narang, V. (2009): Pride and Prejudice and Prithvis – Strategic Weapons Behavior in South Asia. In: Sagan, S.D.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 137-183.

Norddeutscher Rundfunk (2012): Ungebremster Rüstungswettlauf in Asien – China und die USA kämpfen um ihre Vormachtstellung. Interview mit Michael Brzoska.

Perkovich, G. (1999): India’s Nuclear Bomb – The Impact on Global Proliferation. Berkeley: University of California Press.

Prime Ministers’s Office (2003): Cabinet Committee on Security Reviews Progress in Operationalizing India’s Nuclear Doctrine. Neu-Delhi.

Sagan, S.D. (2009): The Evolution of Pakistani and Indian Nuclear Doctrine. In: ders.: Inside Nuclear South Asia. Stanford: Stanford University Press, S. 219-263.

Sagan, S.D. (1996): Why Do States Build Nuclear Weapons? Three Models in Search of a Bomb. International Security, Vol. 21, Nr. 3, S. 54-86.

Shahzad, A. (2019): PM Khan – Pakistan would not use nuclear weapons first, amid tensions with India. Reuters.

Stockholm International Peace Research Institute (2019): SIPRI Yearbook – Armaments, Disarmament and International Security. Kurzfassung auf Deutsch. Stockholm: Oxford University Press.

The Hindu (2019): »No First Use« nuclear policy depends on circumstances: Rajnath Singh. Neu-Delhi.

Jens Heinrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit an der Universität Rostock.

Krise oder Chance?


Krise oder Chance?

Korea, Nordostasien und Trump

von Christine Ahn und Tae Lim

Wie hat sich die Politik der USA gegenüber Nordkorea unter Trump verändert? Gab es eine erkennbare Abkehr von dem »pivot to Asia« der Regierung Barack Obama, der vor allem den Aufstieg Chinas eindämmen sollte? Wie wird sich die globale Neuordnung auf die Außenpolitik auswirken, insbesondere mit Blick auf den seit 65 Jahren ungelösten Konflikt auf der koreanischen Halbinsel? Die Autor*innen beleuchten Hintergründe und versuchen, einen Ausblick auf die künftige Entwicklung zu geben.

Im ersten Jahr der Präsidentschaft von Donald Trump erlebten die Vereinigten Staaten und, aufgrund der globalen US-Dominanz, auch die Welt gravierende Veränderungen. 2017 zogen sich die Vereinigten Staaten aus dem Pariser Klimaabkommen und dem Handelsabkommen »Transpazifische Partnerschaft« (TPP) zurück und kürzten die Mittel für die Entwicklungshilfe und die Vereinten Nationen erheblich. Gleichzeitig baute Nordkorea seine nuklearen Kapazitäten aus, und die USA reagieren anders darauf als bisher, was die Gefahr eines neuen Krieges auf der koreanischen Halbinsel heraufbeschwört.

Der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry meinte dazu: „Die Amerikaner*innen sollten sich darüber klar sein, dass wir am Rande eines Krieges mit dem nordkoreanischen Regime stehen, welches – anders als noch 1994 – nun im Besitz eines Arsenals von vermutlich 20 Nuklearwaffen ist.“ In Washington sagen viele, die Gefahr eines Krieges liege bei 30 bis 50 Prozent; auch der republikanische Senator Bob Corker glaubt, Trump bereite den „Weg zum Dritten Weltkrieg“ vor.

Die Verhärtung der US-Politik gegenüber Nordkorea

Die Spannungen nahmen weiter zu, als Trump in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2017 drohte, „Nordkorea völlig zu zerstören“. Der nordkoreanische Außenminister Ri Yong-ho reagierte darauf mit der Erklärung, da die USA „unserem Land den Krieg erklärt haben, behalten wir uns von jetzt an das Recht auf Selbstverteidigung vor“.

Obamas »strategische Geduld«, eine Kombination aus Sanktionen, aggressiven militärischen Übungen und Cyberkriegsführung, scheiterte dabei, das Atomwaffenprogramm von Nordkorea zu stoppen. Stattdessen testete Nordkorea während Obamas Amtszeit vier Nuklearwaffen und über 90 ballistische Raketen. Bei ihrem Treffen im Weißen Haus nach Trumps Wahlsieg warnte Obama seinen Nachfolger, Nordkorea würde seine größte außenpolitische Herausforderung sein. Im Januar 2017 schrieb Trump beim Kurznachrichtendienst Twitter „Es wird nie passieren“ und meinte damit die Fähigkeit Nordkoreas, das Festland der USA mit einer nuklear bewaffneten Langstreckenrakete zu erreichen. Ein Jahr später testete Nordkorea eine Wasserstoffbombe und startete eine Interkontinentalrakete des Typs Hwasong-15, die Japan überflog und eine Reichweite von etwa 12.800 km aufwies. Damit demonstrierte Nordkorea, dass es in der Tat jeden Ort des Festlands der Vereinigten Staaten erreichen kann.

Die Trump-Administration nahm sich mehrere Monate Zeit, um ihre Nordkoreapolitik zu überprüfen, und teilte dann mit, sie würde die Entnuklearisierung Nordkoreas mit einer „Politik des maximalen Drucks und der absoluten Entschlossenheit“ erzwingen. Dieser Ansatz läuft im Wesentlichen auf »strategische Geduld 2.0« hinaus – eine Kombination aus aggressiver Militarisierung der asiatischen Pazifikregion, verschärften Sanktionen, die vor allem durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängt werden sollen, und Druck auf andere Länder, die diplomatischen Verbindungen mit Pjöngjang abzubrechen. Damit setzt Trump die fehlgeschlagene Politik Obamas fort, dennoch gibt es einige signifikante Unterschiede.

„Es findet eine deutliche Verlagerung hin zum Militärischen statt“, die es unter einer demokratischen Präsidentschaft nicht gegeben hätte, sagte Tim Shorrock, seit vielen Jahren Journalist bei »The Nation«. Shorrock ist überzeugt, eine Präsidentin Hillary Clinton hätte den Rat von Experten wie William Perry gesucht, der sich dafür aussprach, Nordkorea als Nuklearmacht zu akzeptieren, aber auf ein Ende der Nuklearwaffen- und Raketentests im Gegenzug zu einer Kombination aus Friedensabkommen und ökonomischen Anreizen hinzuarbeiten.

Obwohl die Regierungen Clinton, Bush jr. und Obama alle ernsthaft einen präemptiven Militärschlag gegen Nordkorea in Erwägung gezogen hatten, kamen sie jeweils zu dem Schluss, dass die Kosten viel zu hoch wären. Käme es auf der koreanischen Halbinsel zu einem Krieg, würden nach einer Schätzung des US Congressional Reseach Service [Wissenschaftlicher Dienst des US-Kongresses] bei konventioneller Kriegsführung binnen Kurzem mehr als 300.000 Menschen getötet. Kämen Nuklearwaffen zum Einsatz, wären bis zu 25 Millionen Menschen betroffen. Nach Plänen des Pentagon würden bei einem Erstschlag der USA auch Bodentruppen intervenieren, um die überall in Nordkorea versteckten unterirdischen Nukleareinrichtungen zu lokalisieren und zu sichern.

Das letzte Mal, dass die USA kurz davor standen, einen Präemtivschlag gegen Nordkorea durchzuführen, war 1994, als das Pentagon nur noch auf Bill Clintons Genehmigung des Militärschlags wartete. Diese Pläne wurden in letzter Minute durch den ehemaligen Präsidenten Jimmy Carter gestoppt, der nach Pjöngjang flog und mit dem damaligen Machthaber Nordkoreas, Kim Il-sung, die Wiederaufnahme von Verhandlungen aushandelte, die schließlich zum Genfer Rahmenabkommen (Agreed Framework) führten. William Perry war damals US-Verteidigungsminister und bereit „Krieg zu riskieren, befürwortet inzwischen aber eindeutig eine friedliche Lösung. Kürzlich bestätigte Perry: „Ich glaube nicht, dass Nordkorea diese Waffen […] einsetzen wird, solange es nicht zu einem Angriff provoziert wird“.

Obwohl ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel unvorstellbar wäre, planen außenpolitische Falken im Weißen Haus ernsthaft einen präemptiven Schlag gegen Nordkorea. Die Ratio der »blutige Nase«-Strategie ist folgende: Bevor es soweit ist, dass Nordkorea die USA mit einer nuklear bewaffneten Langstreckenrakete erreichen könnte, solle das US-Militär einen Präzisionsschlag gegen eine Raketenstellung Nordkoreas ausführen, um zu demonstrieren, welcher Schaden dem Land zugefügt werden könnte.

Warum Nordkorea die Bombe will

Als Trump in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen den Nordkoreaner*innen mit ihrer Auslöschung drohte, erwähnte er nicht, dass die Vereinigten Staaten während des Koreakrieges (1950-1953) Nordkorea schon einmal völlig zerstörten. Der Koreakrieg forderte fast vier Millionen Leben. Auf Korea wurden damals mehr Bomben abgeworfen als im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges im asiatisch-pazifischen Kriegsgebiet. Curtis LeMay, im Koreakrieg General der US-Luftwaffe, sagte nach Kriegsende bei einer Anhörung im US-Kongress: Wir haben so gut wie jede Stadt in Nord- wie Südkorea niedergebrannt […] Wir haben über eine Million koreanischer Zivilist*innen getötet und mehrere Millionen aus ihrer Heimat vertrieben.1 Bruce Cumings, Historiker an der Universität von Chicago, zufolge haben die Vereinigten Staaten „in Nordkorea mehr Städte zerstört als während des Zweiten Weltkrieges in Japan oder Deutschland. Alle Nordkoreaner*innen wissen davon […] Wir hören davon nichts“. Trotz all dieser Verbrechen trieben die Nordkoreaner*innen die Vereinigten Staaten damals in eine Pattsituation und erzwangen 1953 einen Waffenstillstand.

Die Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel reicht bis ins Jahr 1958 zurück, als die USA nur wenige Jahre nach Abschluss des Waffenstillstandsabkommens damit begannen, auf ihren Stützpunkten in Südkorea Nuklearwaffen zu stationieren, und damit das Abkommen eindeutig verletzten. Zu Hochzeiten des Kalten Krieges hatten die USA in Südkorea bis zu 950 Nuklearwaffen stationiert, von denen allerdings keine mehr im Land sind.

Seit 1976 führen die Vereinigten Staaten und Südkorea jedes Jahr große gemeinsame Militärübungen durch, die von Nordkorea stets als Vorbereitung für eine Invasion eingestuft werden. An den zwei bis drei Monate dauernden Manövern nehmen jeweils Hunderttausende südkoreanische und US-Soldaten teil und es kommen Flugzeugträger, Tarnkappenbomber und nuklearwaffenfähige (wenn auch nicht nuklear bewaffnete) Bombenflugzeuge zum Einsatz. Während der Manöver befindet sich Nordkorea in einer Art Ausnahmezustand, was das Militär und die ohnehin schwache Wirtschaft unter zusätzlichen Druck setzt. Nordkorea ist zwar bemüht, seine konventionellen Waffen und Truppen einsatzbereit zu halten, seine Militärausgaben liegen aber bei deutlich weniger als einem Prozent des US-Verteidigungshaushalts. Nordkorea verfügt nach Aussagen von Überläufer*innen seines Militärs sowie von Kommandeuren des gemeinsamen Kommandos der Streitkräfte Südkoreas und der USA über veraltete Waffensysteme und schlecht ausgerüstete und ausgebildete Soldat*innen.

Der kontinuierliche und starke Druck auf Nordkoreas Militär und seine Sicherheitskräfte sind der Grund, weshalb Nordkorea auf Nuklearwaffen setzt. Um die Abschreckung angesichts eines möglichen präemptiven Schlags der USA glaubwürdig zu gestalten, konzentriert sich Nordkorea auf die Entwicklung mobiler Trägersysteme für nukleare Sprengköpfe, einschließlich Interkontinentalraketen und ballistischer Raketen, die von U-Booten aus gestartet werden können.

Im November 2017 führte Nordkorea einen erfolgreichen Test seiner Interkontinentalrakete Hwasong-15 durch, die bis zur Ostküste der USA fliegen könnte. Experten stellen allerdings die Abschreckungsfähigkeit der mobilen Startrampen in Frage, da das Land angeblich über lediglich 724 km asphaltierte Straßen verfügt. „Hwasong-15 wird wahrscheinlich in Silos in der Nähe des Bergs Baekdu stationiert“, sagt Dr. Jang Young-guen, Raketenexperte an der Korea Aerospace University; damit allerdings erhöhe sich auch die Gefahr eines US-Angriffs auf den Stationierungsort.

Beobachter gehen davon aus, dass die getestete Hwasong-15 beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinander brach, was die Abschreckungsfähigkeit des Landes in Frage stellen würde. Nam Moon-hee, Nordkoreaexperte bei »SisaIN«, einer unabhängigen südkoreanischen Zeitschrift, rechnet damit, dass Hardliner in Washington auf einen präemptiven Schlag drängen werden, bevor aus Nordkoreas fortgeschrittenem Raketenprogramm wirklich eine zuverlässige Interkontinentalrakete hervorgeht, die das Festland der USA erreichen kann – das könnte schon Mitte 2018 der Fall sein. „Als erste militärische Option würden die USA vermutlich eine Seeblockade verhängen“, sagte Nordkoreaexperte Young C. Kim der Tageszeitung »Kyunghyang Shinmun«. „Je nachdem, wie Nordkorea darauf reagiert, könnte dies zu einem ausgewachsenen Krieg führen“. US-Außenminister Rex Tillerson deutete diese Möglichkeit als Reaktion auf den nordkoreanischen Raketentest vom November bereits als Option an.

Die Koreakrise im Kontext der Spannungen zwischen den USA und China

„Es gibt keine militärische Lösung, vergessen Sie es“, sagte Steve Bannon, bis vor Kurzem einer von Trumps wichtigsten Beratern, wenige Tage nachdem Trump im August 2017 davor gewarnt hatte, er werde Nordkorea mit „Feuer und Wut begegnen“. Nordkorea, so Bannon, sei „nur ein Nebenschauplatz“. Das echte Ziel sei China, mit dem sich die USA in einem „Handelskrieg“ befinde. 2011 bereits hatte der damalige US-Präsident Obama einen »pivot to Asia« (Schwenk Richtung Asien) verkündet, um China einzudämmen. Auch Trump sieht China als Bedrohung für die globale Hegemonie der USA und fordert das Land auf militärischem, ökonomischem und politischem Feld heraus.

Unter Obama planten die USA die Verlegung von 60 % der im Nahen und Mittleren Osten und in Europa stationierten US-Luft- und Seestreitkräfte in den asiatisch-pazifischen Raum bis zum Jahr 2020. Außerdem stimmte die US-Regierung einer Anpassung der Richtlinien für die Verteidigungskooperation zwischen den USA und Japan (US-Japan Joint Defense Cooperation) zu, was die Re-Militarisierung Japans fördert. In den Richtlinien wurde jegliche geografische Einschränkung gestrichen, wo das japanische Militär – die so genannten Selbstverteidigungskräfte – eingesetzt werden kann; außerdem wird die militärische Ausrüstung Japans stärker an die der USA angeglichen. Obama unternahm darüberhinaus den Versuch, zwischen den USA, Südkorea und Japan ein trilaterales Militärbündnis zu schmieden. Und schließlich vereinbarte die Regierung Obama im Jahr 2015 mit der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-hye den Aufbau des Raketenabwehrsystems THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) im Lande; die Indienststellung wurde allerdings bis Sommer 2017 zurückgestellt. Nach der Suspendierung Parks infolge eines Korruptionsskandals und angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass Moon Jae-in bei der erforderlich gewordenen Präsidentschaftswahl siegen und an die frühere »Sonnenscheinpolitik« anknüpfen würde, nutzte die Trump-Administration das politische Vakuum bis zu den Neuwahlen und begann einfach mit dem Aufbau des umstrittenen Raketenabwehrsystems, das nicht nur vor nordkoreanischen Raketen schützen soll, sondern mit seinem leistungsfähigen Radarsystem auch die Überwachung Chinas ermöglicht. Die Bedrohung durch das nordkoreanische Nuklear- und Raketenprogramm wurde von den USA also für eine deutliche Militarisierung der Region genutzt.

Die andere Säule des »pivot to Asia« war das transpazifische Handelsabkommen TPP, welches nach Obamas Vorstellungen einen regionalen Handels- und Wirtschaftsblock mit Anrainerländern Chinas schaffen sollte. Trump aber zog sich – auch auf Wunsch seiner nationalistischen Wählerbasis – unverzüglich aus TPP zurück und drohte China stattdessen mit Strafzöllen und Sanktionen. Die von der Regierung Trump im Dezember 2017 verabschiedete »Nationale Sicherheitsstrategie«, die Blaupause seiner Außenpolitik, benennt China ausdrücklich als ökonomischen Konkurrenten und macht klar, Washington werde „nicht länger die Augen verschließen vor Verstößen, Betrug oder ökonomischer Aggression.

Die Trump-Administration versucht, Chinas Ruf als eine globale Führungsmacht zu schmälern und das historische Bündnis zwischen Peking und Pjöngjang zu untergraben. Beim Gipfeltreffen der USA mit China brachte Trump das „furchtbare“ Handelsabkommen zwischen den USA und China in einen direkten Zusammenhang mit dem nordkoreanischen Nuklearwaffenprogramm. Wiederholt argumentierten die USA, China sei für die Situation mit Nordkorea verantwortlich, obwohl Peking kaum direkten Einfluss auf Pjöngjang haben dürfte. Laut Nam Moon-hee erhöht Trump als Teil der US-Strategie, mit der Chinas Einfluss als Vermittler in der Region geschwächt werden soll, den Druck auf Peking, die Schlinge um Nordkorea mit zusätzlichen Sanktionen enger zu ziehen. Wenn die USA mit Nordkorea direkte Gespräche aufnehmen, also ohne China als Vermittler, könnte dies Chinas globalen Einfluss untergraben. Und tatsächlich betonte US-Außenminister Tillerson auf die Frage, ob Washingtons Kontakte zu Nordkorea über China führten: „[W]ir haben zwei, drei Kanäle nach Pjöngjang offen, […] direkte“.

Die Neuausrichtung der Außenpolitik in der Ära Trump

Viele ringen noch darum, die US-Politik gegenüber Nordkorea zu verstehen, eines ist aber unübersehbar: Die Sorge vor unbesonnenen Handlungen der USA nimmt zu. Besonders deutlich wurde dies nach dem nordkoreanischen Raketentest vom November 2017, als der südkoreanische Präsident Moon sagte: „Wir müssen eine Situation verhindern, in der Nordkorea falsche Schlussfolgerungen zieht und uns mit Nuklearwaffen bedroht oder in der die USA einen präemptiven Schlag in Betracht ziehen. Diese Sorge findet sogar innerhalb der Trump-Administration Widerhall. Joseph Yun, der Abgesandte des US-Außenministeriums für Nordkorea, der immer wieder zu geheimen Treffen mit Vertretern Nordkoreas zusammenkommt, warnte, das Weiße Haus hätte eine „beeinträchtigte“ Diplomatie.

Die Notwendigkeit, einen Dialog zu beginnen, wurde erkannt. Nord- und Südkorea verständigten sich auf den Beginn eines Annäherungsprozesses. In seiner Neujahrsansprache 2018 betonte der nordkoreanische Staatsführer Kim Jong-un, beide Koreas „sollten sich bemühen, die militärischen Spannungen zu verringern“, und signalisierte, Nordkorea werde eine Delegation zu den Olympischen Winterspielen nach Pyeongchang entsenden. Südkorea reagierte umgehend und nahm die Telefon-Hotline in Panmunjom an der Waffenstillstandslinie wieder in Betrieb. Beide Seiten einigten sich auf ein Treffen der beiden Staaten am 9. Januar 2018, um über die Teilnahme an den Olympischen Winterspielen und weitere Themen, wie Familienzusammenführungen und Nuklearwaffen, zu sprechen.

„Südkoreas Regierung wird einen Krieg um jeden Preis verhindern“, erklärte Präsident Moon letzten August und arbeitet seither stetig an der Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Nach monatelangen Verhandlungen gelang es Moon auch, die Beziehungen zu China aufzutauen, die seit der Stationierung von THAAD sehr frostig waren. Moon legte auch den Grundstein für einen vorübergehenden »Stopp-für-Stopp«, indem er im Sinne eines »Olympischen Friedens« die Winterspiele in Pyeongchang zum Anlass nahm, um gemeinsame Militärmanöver mit den USA zu verschieben. Trump erklärte sich mit der Verschiebung der Manöver bis nach den Spielen einverstanden.

Im Herbst 2017 erinnerte Präsident Moon Nordkorea, „ökonomische Entwicklung ist unmöglich ohne internationale Kooperation“, und versprach Nordkorea mehr Sicherheit durch „innerkoreanische und ostasiatische ökonomische Zusammenarbeit“. Im September 2017 kündigten Moon und der russische Präsident Wladimir Putin gemeinsam eine Initiative für trilaterale nordostasiatische Kooperation an, die Nordkorea einbindet und Themen wie Energieversorgung und Transportwesen umfassen soll. Diese Ankündigung kam zur richtigen Zeit, weil viele Analysten davon ausgehen, dass Kim Jong-un inzwischen zu Gesprächen bereit sei und „die Aufmerksamkeit wieder auf die angeschlagene Wirtschaft des Landes lenken“ wolle, wie Tim Shorrock schrieb.

Der Vorstoß in Richtung Dialog nimmt auch im US-Kongress Fahrt auf. Tim Kaine, demokratischer Senator und während Hillary Clintons Wahlkampf Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, schrieb: „Über die Jahre hat Nordkorea wiederholt die Idee angesprochen, den [Korea-] Krieg endlich mit einem Friedensvertrag abzuschließen. Wir sollten ohne Vorbedingungen Verhandlungen aufnehmen“. Im November 2017 kündigten Abgeordnete beider Häuser des Kongresses eine neue parteiübergreifende Gesetzesinitiative an, um auszuschließen, dass Präsident Trump Nordkorea ohne die Zustimmung des Kongresses angreifen kann.

Nachdem Kim Jong-un angekündigt hat, Nordkorea habe die Ziele seines Nuklearwaffenprogramms erreicht, könnte er nun zu Wirtschaftsgesprächen bereit sein. Die von Moon und Putin vorgeschlagene ökonomische Initiative, die innerkoreanische Annäherung sowie Druck der größeren an dem »UN-Kommando« beteiligten Staaten2 auf die USA, direkte Gespräche mit Nordkorea zu führen, könnten hilfreich sein. Vielleicht können die Wirtschaftsvereinbarungen zwischen Russland und Europa, die den Weg zur deutschen Wiedervereinigung ebneten, als Modell für das offizielle Ende des Koreakrieges dienen.

Vieles wird sich erst in den kommenden Monaten klären, aber schon jetzt sind sich weltweit alle einig, dass diplomatische Schritte hin zu einem Friedensprozess der Unterstützung bedürfen, um einen verheerenden Nuklearkrieg zu verhindern, und hoffentlich auch, um den lange ersehnten koreanischen Friedensvertrag zu ermöglichen.

Anmerkungen

1) Diese Zahlen sind zu niedrig. Viele Quellen sprechen von knapp einer Million getöteter Soldaten und etwa drei Millionen getöteter Zivilist*innen, deshalb schreiben die Autor*innen weiter oben von „fast vier Millionen Leben“. Zahlreiche Opfer waren Chines*innen [der Übersetzer].

2) Die 1950 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 84 unterstellte die damals gegen Nordkorea kämpfenden Truppen dem US-amerikanischen Oberbefehl und gestattete ihnen, unter der UN-Flagge zu agieren. Dieses Arrangement wird als »UN-Kommando« bezeichnet und ist mangels eines Friedensvertrags offiziell bis heute gültig [der Übersetzer].

Literatur

Der Originaltext samt Quellenangaben kann bei der Redaktion angefordert werden (redaktion@wissenschaft-und-frieden.de). Aufgrund vieler koreanischer Quellenangaben wurde hier auf Literaturverweise verzichtet.

Christine Ahn ist Gründerin und Internationale Koordinatorin von »Women Cross DMZ«, eine globale Frauenbewegung, die für ein offizielles Endes des Koreakrieges, die Wiedervereinigung koreanischer Familien und eine Führungsrolle von Frauen bei der Friedensschaffung mobilisiert.
Tae Lim ist Masterstudierender für Ingenieurswesen an der University of Michigan, Ann Arbor. Er hat einen Bachelor in Astrophysik der University of California, Berkeley. Momentan ist er Praktikant bei »Women Cross DMZ«.

Aus dem Englischen übersetzt von Marius Pletsch.

Demokratie und Islamismus in Indonesien


Demokratie und Islamismus in Indonesien

von Andreas Ufen

Über viele Jahre herrschte in der Diskussion über Indonesien das Bild eines exotischen Islam vor, der vom vorherrschenden Glauben abwich und durch eine eigenartige Toleranz gekennzeichnet war. Insbesondere die Arbeiten des Ethnologen Clifford Geertz prägten dieses Bild (Geertz 1960). Das hat sich seit den 1970er Jahren langsam und seit den 1990er Jahren, vor allem nach dem Sturz des diktatorisch regierenden Staatspräsidenten Haji Mohamed Suharto 1998 und der dann einsetzenden Demokratisierung, deutlich geändert. Die veränderte Wahrnehmung ist zum einen auf die zunehmende, auf islamistische Strömungen fokussierte und zuweilen einseitige Berichterstattung zurückzuführen, zum anderen auf fragwürdige Erscheinungen eines politisierten Islam in vielen Ländern mit starker muslimischer Bevölkerung.

Muslime in Indonesien sind weniger konservativ oder gar reaktionär als Muslime etwa in Saudi-Arabien oder im Iran. Das gilt immer noch, trotz einer merklichen Islamisierung seit den 1970er Jahren. In der Literatur werden für diese moderatere Ausrichtung des indonesischen Islam verschiedene Faktoren benannt: Es gibt eine lange nicht-muslimische Tradition sowie eine Tendenz, unterschiedliche Glaubensströmungen miteinander zu verbinden. In der Region herrschten über viele Jahrhunderte Königreiche, die hinduistisch und buddhistisch legitimiert waren. Die Islamisierung seit dem 12. oder 13. Jahrhundert verlief ungleichmäßig, langsam und führte häufig, besonders auf der bevölkerungsreichsten Insel Java, zu einer Überlagerung mit älteren religiösen Deutungsmustern. Javanische Könige waren Sultane, aber starke hindu-buddhistische Einflüsse sind bis heute in Städten, wie Yogyakarta oder Solo, deutlich sichtbar. Indonesien hat außerdem aufgrund kolonialer niederländischer Einflüsse starke religiöse Minderheiten; in manchen Gebieten gibt es sogar christliche oder hinduistische Mehrheiten.

Die »Fünf Säulen« als Staatsdoktrin

In Indonesien setzten sich schon bei der Gestaltung der Unabhängigkeit ab 1945 Kräfte durch, die nicht an der Schaffung eines wie immer gearteten »Islamstaates« interessiert waren, da sie sich an »westlichen« Modellen von Demokratie orientierten. Diese Gruppe, deren prominentester Vertreter der erste Präsident Indonesiens, Sukarno, war, musste allerdings auf konservative Kräfte, die verschiedenen islamischen Parteien und Organisationen angehörten, Rücksicht nehmen. Diese Islamisten wollten in die erste Verfassung des Landes einen Passus aufnehmen, der es den Muslimen zur Pflicht gemacht hätte, gemäß der Scharia zu leben. Auch wenn nicht ganz klar wurde, was mit dem Passus gemeint war, wurde er von vielen Muslimen als Einführung des islamischen Strafrechtes interpretiert. Da außerdem Angehörige religiöser Minderheiten fürchten mussten, dass die Aufnahme des Passus in die Verfassung der Beginn einer weitreichenden Islamisierung sein könnte, einigte man sich letztlich darauf, auf diesen Halbsatz zu verzichten. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte Sukarno die so genannte »Pancasila« (Fünf Säulen). Dieses Sanskritwort bezeichnet bis heute die zentrale Staatsdoktrin (oder Staatsphilosophie), die als eine Art »Zivilreligion« fungiert. Neben dem sunnitischen Islam erkennt die »Pancasila»« fünf weitere, und nur diese, Religionen als gleichberechtigt an: Protestantismus, Katholizismus, Buddhismus, Hinduismus und seit 2007 auch den Konfuzianismus.

Indonesien ist heute eine präsidentielle Demokratie mit einem mäßig polarisierten, aber stark fragmentierten Parteiensystem. Fast alle Parteien orientieren sich in die politische Mitte. Selbst die islamistische Partai Keadilan Sejahtera (PKS, Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei), die bei den Parlamentswahlen 2014 6,8 % der Stimmen erhielt, öffnet sich tendenziell größeren Wählergruppen. Bei der Bildung von Koalitionen spielen religiöse Fragen ohnehin eine untergeordnete Rolle.

Die größten, tendenziell eher säkularen Parteien berufen sich auf die »Pancasila« als Wertegrundlage. Alle Regierungen seit 1998, seit dem Sturz Suhartos, waren in religiösen Fragen eher undogmatisch. Das gilt für den lange in Deutschland ausgebildeten und später im deutschen Konzern MBB aufgestiegenen B.J. Habibie (1998-99), für Abdurrahman Wahid (1999-2001), der als ausgesprochen liberaler, islamischer Intellektueller galt, sowie für dessen Nachfolgerin Megawati Sukarnoputri (2001-2004), die als Tochter Sukarnos und als Vorsitzende einer Partei, die traditionell viele Christen und Hinduisten in ihren Reihen hat, als unorthodox gilt. Susilo Bambang Yudhoyono, Präsident von 2004-2014, ist ebenfalls kein religiöser Eiferer, auch wenn er am ehesten bereit war, islamistische Gruppierungen gewähren zu lassen. Der jetzige, äußerst populäre Präsident Joko Widodo (häufig einfach Jokowi genannt), präsentiert sich zwar öffentlich als orthodoxer Muslim, ist aber ein volksnaher Pragmatiker, der Politik und Religion weitgehend voneinander trennt.

Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Muslime die Demokratisierung unterstützt. Die beiden größten muslimischen Massenorganisationen, Nahdatul Ulama und Muhammadiyah, mit jeweils mehreren Dutzend Millionen Mitgliedern,1 erwiesen sich zumeist als moderate, zum Teil sogar als ausgesprochen fortschrittliche Kräfte. Auch die politischen Parteien, die sich auf den Islam berufen, sind grundsätzlich prodemokratisch orientiert – allenfalls die Haltung der PKS ist nicht so eindeutig.

Historische Ausformungen religiös motivierter Gewalt

Gewalt und Krieg spielten immer eine große Rolle in der indonesischen Geschichte. Nach der Unterdrückung durch die Niederlande (von ca. 1600 bis 1942) etablierte Japan für dreieinhalb Jahre ein brutales Besatzungsregime. Nach der Kriegsniederlage Japans im August 1945 entstand kurzzeitig ein Machtvakuum. Es schloss sich ein Unabhängigkeitskrieg gegen die Niederlande an, der mit innergesellschaftlichen, sozialen Umbrüchen verbunden war. Mit der Errichtung einer stark zentralistisch ausgerichteten parlamentarischen Demokratie entwickelten sich Mitte der 1950er Jahre Spannungen zwischen der Zen­tralregierung und einigen Provinzregierungen. Auf den so genannten Außeninseln, also jenseits der Hauptinsel Java, fühlte man sich vor allem wirtschaftlich benachteiligt. Zum Teil wurden diese gegen Jakarta gerichteten Bewegungen von Islamisten geführt. In den 1950er und frühen 1960er Jahren kämpfte das indonesische Militär die militante Darul-Islam-Bewegung nieder.

Das Militär, das schon Ende der 1950er Jahre in der »Gelenkten Demokratie« seinen Einfluss deutlich verstärken konnte, übernahm 1965/66 unter Führung von General Suharto vollends die Macht, errichtete die »Neue Ordnung« und vernichtete die mächtige Kommunistische Partei (PKI). Paramilitärische Todesschwadrone, unter ihnen Mitglieder christlicher, besonders aber muslimischer Gruppierungen, verübten mit Unterstützung der Militärs ein Massaker an (z.T. vermeintlichen) Kommunisten, das mehrere Hunderttausend Menschenleben forderte. Die inter-religiösen Auseinandersetzungen intensivierten sich schon in den letzten Jahren der »Neuen Ordnung«, als sich ein Zusammenbruch des autoritären Regimes immer mehr abzeichnete. Von 1995-1997 kam es vor allem in Klein- und Mittelstädten zu religiös motivierten Unruhen, bei denen Kirchen, Tempel, Amts- und Firmengebäude geplündert, zerstört, und häufig niedergebrannt wurden.

1998-2001 forderten Bürgerkriege auf den Inseln Kalimantan (Borneo) und Sulawesi sowie auf der Inselgruppe Molukken mehrere Tausend Tote. In dieser Phase der radikalen politischen Transition musste die Machtverteilung auf allen administrativen Ebenen neu ausgehandelt werden, neue Akteure traten auf den Plan, und die staatlichen Sicherheitskräfte waren häufig überfordert. Wie schnell selbst das jahrzehntelange friedliche Zusammenleben von religiösen Gemeinschaften beendet werden kann, zeigte sich schon wenige Monate nach dem Ende der »Neuen Ordnung« in den Molukken-Provinzen, vor allem auf der Insel Ambon, wo Muslime und Christen in einem blutigen, entlang religiöser Konfliktlinien geführten Bürgerkrieg, der sich geografisch immer weiter ausdehnte, gegeneinander kämpften.

Diese Art der Gewalt, die eine Zeitlang den Archipel zu zerreißen drohte, wurde von jener der Vigilanten abgelöst.2 Am bekanntesten ist die Front Pembela Islam (FPI, Front der Verteidiger des Islam), die sich gegen eine Verwestlichung richtet, die sie mit Dekadenz und Morallosigkeit gleichsetzt. Neben der FPI gibt es zahllose weitere solche Gruppierungen. Es scheint eine Art stillschweigender Übereinkunft zwischen islamistischen Politikern, Bürokraten, Polizisten, religiösen Führern und Vigilanten zu geben, die Islamisierung mit den Mitteln beschränkter Gewalt zu forcieren. Veranstaltungen, bei denen es um die Rechte religiöser Minderheiten oder Homosexueller geht oder bei denen die Massaker an Kommunisten Mitte der 1960er Jahre zur Sprache gebracht werden sollen, werden häufig durch gewaltbereite Gruppen gesprengt oder aus Sicherheitsgründen von den Behörden untersagt.

Die oben genannte islamistische Koalition ist auch dafür verantwortlich, dass sich die Lage religiöser Minderheiten, insbesondere von Schiiten und Mitgliedern der Ahmadiyah-Gemeinde, in den letzten Jahren erkennbar verschlechtert hat (Human Rights Watch 2013; Ufen 2016b). Die Einengung der Spielräume für alle, die vom Mainstream abweichen, zeigt sich auch darin, dass das lange unbeachtete Blasphemie-Gesetz seit Kurzem viel häufiger angewandt wird oder dass 2008 das indonesische Parlament ein höchst umstrittenes Pornografiegesetz verabschiedete, das Gefängnisstrafen für »unzüchtige« Darstellungen und Handlungen festschreibt und damit die Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit deutlich einschränkt.

Mit der von der Zentralregierung betriebenen Dezentralisierung erhielten zudem lokale Behörden die Möglichkeit, religiös fundierte Verordnungen zu erlassen, also etwa unter Verweis auf die Scharia Alkohol, Glücksspiel oder »unislamische« Verhaltensweisen und Kleidungsformen zu verbieten. Besonders augenfällig ist diese Entwicklung in der Provinz Aceh. Dort führte die Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies Aceh, GAM) jahrzehntelang einen Bürgerkrieg gegen den indonesischen Zentralstaat, wobei sich nationalistische und islamistische Legitimierungsmuster ergänzten. Erst im Jahre 2005 kam es zu einem Friedensschluss zwischen dem indonesischen Militär und der GAM. Die Provinz Aceh erhielt im Zuge einer Sonderautonomie gewisse Privilegien. Ein Scharia-Gericht verurteilt nun überführte Delinquenten zu Prügelstrafen, die öffentlich vollstreckt werden. Eine Scharia-Polizei sucht nach Personen, die Alkohol trinken, homosexuell sind oder sich heimlich mit Angehörigen des anderen Geschlechts treffen (Simanjuntak 2015).

Für Islamisten befindet sich Aceh auf dem richtigen Weg. Nach der Logik gewaltbereiter Gruppen kann Indonesien aber nur dann grundlegend verändert werden, wenn es durch Terrorakte destabilisiert wird. Im Oktober 2002 starben bei Anschlägen auf Bali mehr als 200 Menschen. Danach kam es zu weiteren Bombenanschlägen, bei denen zunächst überwiegend »westliche« Ziele, also Diskotheken, Luxushotels und Botschaftsgebäude, dann zunehmend die indonesischen Sicherheitskräfte ins Visier der Terroristen gerieten. Ursprünglich war vor allem die Jemaah Islamiyah (JI, Islamische Gemeinschaft) für den Terror verantwortlich, mittlerweile ist die Szenerie unübersichtlich geworden. Der jüngste Anschlag vom Januar 2016 geht auf das Konto des »Islamischen Staates« (IS) – oder genauer gesagt auf Indonesier, die sich auf den IS berufen (Ufen 2016a). Mehrere Hundert Indonesier kämpfen für den IS in Syrien, das sind aber immer noch weniger als z.B. aus Deutschland. Das Szenario einer IS-Herrschaft in Südostasien ist unwahrscheinlich, auch weil diese Terroristen über keinen nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung verfügen.

Widerstreitende Deutungsmuster

Will man der Öffentlichkeit ein dramatisches Bild der jüngsten Entwicklungen in Indonesien präsentieren, braucht man nur die Terroranschläge, repressiven Gesetze und Verordnungen und die Unterdrückung von Minderheiten aufzulisten. Die große Mehrheit der indonesischen Muslime ist aber weiterhin moderat oder orthodox-konservativ, nicht radikal. Trotzdem ist die Radikalisierung eines Teils der Gesellschaft höchst beunruhigend, zumal ein reaktionärer Islam in der Lage ist, bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein zu wirken.

Warum gerade seit der Demokratisierung die reaktionären Kräfte stärker werden, ist nicht einfach zu erklären. Zum einen eröffnen sich durch Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit neue Spielräume. In der »Neuen Ordnung« konnten Islamisten leichter daran gehindert werden, sich effektiv zu organisieren. Zum anderen sind große Bevölkerungsteile aufgrund der neuen politischen Freiheiten, die zeitlich mit erheblichen ökonomischen Umwälzungen einhergehen, stark verunsichert. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hätte deshalb mit dem ehemaligen Schwiegersohn Suhartos, dem höchst umstrittenen Ex-General Prabowo, fast ein unberechenbarer Rechtspopulist gewonnen, noch dazu unterstützt von einigen islamistischen Gruppierungen.

Vielleicht greifen herkömmliche Erklärungen in die Leere und lassen sich radikale Strömungen der Religion viel einfacher, nämlich polit-ökonomisch, erklären, was mit Blick auf Indonesien und das Nachbarland Malaysia erstaunlicherweise selten getan wird.3 Dann könnte man beispielsweise feststellen, dass viele illiberale, von der Scharia »in­spirierte« Lokalverordnungen von eher säkular orientierten Parteien durchgesetzt worden sind, entweder aus wahltaktischen Gründen oder um sich z.B. mit der Einführung einer Almosensteuer neue Finanzierungsquellen zu erschließen (Bühler 2016). Auch die radikalen Vigilantengruppen haben häufig handfeste wirtschaftliche Motive.

Inzwischen hat sich ein riesiger, auch internationaler Markt entwickelt, der u.a. halal Produkte, Bank- und Versicherungsgeschäfte, die Organisation der Wallfahrt nach Mekka, einen islamischen Buchhandel sowie muslimische Laienprediger und Motivationstrainer umfasst (Fealy 2008). Diese genuin ökonomische Dimension wird in Analysen meistens vernachlässigt.

Anmerkungen

1) Allerdings wird diese Mitgliedschaft sehr locker definiert und scheint häufig eher eine Art Anhängerschaft zu bezeichnen.

2) Zu der Abfolge verschiedener Gewaltformen und ihren strukturellen Ursachen siehe Sidel 2006.

3) Ein solcher Ansatz wird vertreten von Hadiz 2016.

Literatur

Bühler, M. (2016): The Politics of Shari’a Law – Islamist Activists and the State in Democratizing Indonesia. Cambridge: Cambridge University Press.

Fealy, G. (2008): Consuming Islam – commodified religion and aspirational pietism in contemporary Indonesia. In: Fealy, G.; White, S. (eds.): Expressing Islam – Religious Life and Politics in Indonesia. Singapur: ISEAS, S. 15-39.

Geertz, C. (1960): The Religion of Java. Glencoe, IL.: Free Press.

Hadiz, V. (2016): Islamic Populism in Indonesia and the Middle East. Cambridge: Cambridge University Press.

Human Rights Watch (2013): In Religion’s Name – Abuses against Religious Minorities in Indonesia. New York.

Sidel, J.T. (2006): Riots, Pogroms, Jihad – Religious Violence in Indonesia. Ithaca, NY: Cornell University Press.

Simanjuntak, H. (2015): »Qanun Jinayat« becomes official for all people in Aceh. The Jakarta Post, 23.10.2015.

Ufen, A. (2016a): Ein Land in Alarmbereitschaft. ZEIT ONLINE, 17.1.2016.

Ufen, A. (2016b): Undermining Religious Minority Rights in Indonesia and Malaysia – Fragile Coalitions, Wavering Executive Chiefs and Rogue Groups as Proxies. In: Bünte, M.; Dressel, B. (eds.): Politics and Constitutions in Southeast Asia. Abingdon: Routledge, i.E.

PD Dr. Andreas Ufen ist Senior Research Fellow am Leibniz Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg und beschäftigt sich u.a. mit Transitionsprozessen, Islam und Politik; sein regionaler Schwerpunkt liegt auf Indonesien, Ost-Timor und Malaysia.

Der Drache im »Hinterhof«

Der Drache im »Hinterhof«

Umbrüche und Konflikte im Südpazifik

von Roland Seib

Die Volksrepublik China hat im vergangenen Jahrzehnt international massiv an Gewicht gewonnen. Ihr global beständig wachsendes wirtschaftliches, außen- und entwicklungspolitisches Engagement wird mit dem Aufstieg einer neuen Weltmacht verbunden, die schon heute die verbliebene Großmacht USA hinsichtlich ihrer Führungsrolle herausfordert. Auch in der Region des Südpazifiks baut die VR ihren Einfluss kontinuierlich aus, obwohl diplomatische Beziehungen nur zu acht der 14 unabhängigen Inselstaaten bestehen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen dieser Entwicklung.

Während die regionale Stabilität und Sicherheit im Südpazifik seit Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA und ihren Alliierten Australien, Neuseeland und Frankreich gewährleistet wurde, wird heute vor den langfristigen strategischen Absichten der VR in der Region gewarnt, die von Beijing bereits als eigener »Hinterhof« auserkoren sei. Manche Beobachter sehen die USA bereits jetzt als unipolaren Hegemon herausgefordert und einen neuen Kalten Krieg heraufziehen. Die USA unter Obama haben auf diese Herausforderung reagiert und 2011 den Schwerpunkt ihrer Sicherheitspolitik vom Atlantik in den asiatisch-pazifischen Großraum verlagert („pivot to the Pacific“). Dies beinhaltet neue verteidigungspolitische Kooperationen und einen Ausbau militärischer Strukturen vor Ort (Guam, Amerikanisch-Samoa, Australien).

China spielt in den Inselstaaten wirtschaftlich eine immer größere Rolle. Die von Asien ausgehende Wirtschaftsdynamik in den bis Ende des letzten Jahrtausends eher beschaulichen, zumeist von Stagnation und Armut gekennzeichneten Staaten bleibt aber nicht auf China begrenzt. Große Rohstoffressourcen und Infrastrukturprojekte haben vor allem im Flächenland Papua-Neuguinea zu Konkurrenz geführt: Hier agieren nicht nur westliche und chinesische Unternehmen, sondern auch Konzerne aus Indien, Indonesien, Thailand, Israel und anderen Staaten. Die VR hat zudem seit 2006 eine diplomatische Charmeoffensive gestartet. Beijing behandelt die Staaten mit Respekt und Generosität. Auch entwicklungspolitisch ist China in der Region zu einem wichtigen Geberland aufgestiegen.

Der Konflikt Australiens mit dem seit 2006 amtierenden Militärregime in Fidschi hat ebenfalls zu deutlichen Brüchen im politisch-institutionellen Regionalgefüge geführt. Neue sub-regionale Organisationen der Entwicklungsländer sollen nicht nur für eine Abgrenzung zum Westen sorgen. Konzepte für alternative Kriseninterventionsmechanismen und Freihandelsregime zielen auf mehr Eigenständigkeit von Australien, Neuseeland und der Europäischen Union (EU). Hinzu kommen neue politische Akteure wie Indien, Russland, Israel, die arabischen Staaten, Kuba, Iran und selbst Nordkorea (die letzteren vier jeweils bezüglich Fidschi), die sich Vorteile aus einer Annäherung an einzelne Inselstaaten versprechen und damit neue Handlungsoptionen eröffnen. Im Folgenden werden die mit dem Aufstieg Chinas verbundenen Machtverschiebungen und Konfliktpotentiale thematisiert. Dabei stehen die Wirtschaft und Entwicklungskooperation im Vordergrund. Anschließend wird die die Sicherheitskonstellation beleuchtet.

Der Südpazifik: Komplizierte Gemengelage

Der Südpazifik umfasst die zwischen Asien und dem amerikanischen Doppelkontinent auf einer Meeresfläche von 70 Mio. km2 gelegenen 14 unabhängigen Inselstaaten, von denen zwölf den Vereinten Nationen (UN) angehören. Sie unterscheiden sich von anderen Regionen der Erde sowohl durch ihre geographische Isolation als auch ihre kulturelle Vielfalt. Zudem variieren sie in Größe, Bevölkerungszahl, Ressourcenausstattung und Entwicklungsstand. Das größte Land ist Papua-Neuguinea, auf das allein knapp 88% der gesamten südpazifischen Landfläche und mit über sieben Mio. Einwohnern drei Viertel der pazifischen Gesamtbevölkerung von 9,2 Mio. entfallen. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Klein- und Kleinststaaten wie etwa Tuvalu, dessen Festlandterritorium lediglich 9.500 Bürger auf 26 km2 aufweist. Sind Landmasse und Bevölkerung zumeist verschwindend klein, sind die exklusiven maritimen Wirtschaftszonen hingegen enorm. So verfügt Kiribati mit seinen 93.000 Einwohnern auf 811 km2 über ein Meeresgebiet von 3,6 Mio. km2, ein Drittel mehr als Indien.

Alle 14 Staaten des Südpazifiks zählen zu den Entwicklungsländern. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Region reicht von 1.194 US-Dollar in den Salomonen bis zu 35.320 US$ im zu Frankreich gehörenden Neukaledonien. Während die größeren Länder über Rohstoffe verfügen, sind die Kleinstaaten von Tourismus, Fischereieinkünften, Heimatüberweisungen und Entwicklungshilfe abhängig. Die Inselstaaten weisen eine hohe Verletztlichkeit gegenüber natürlichen Katastrophen und den gravierenden Auswirkungen des Klimawandels auf, der die Existenz ganzer Inselstaaten bedroht. Die unterschiedlichen Kulturgebiete des Südpazifiks werden als Melanesien, Polynesien und Mikronesien bezeichnet; diese Aufteilung spiegelt die in der Kolonialzeit gewachsenen Einflusssphären und die bis heute begrenzte Auflösung kolonialer Herrschaft wider.

Die Südpazifikstaaten gehören zur letzten Gruppe Kolonien, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Bis heute üben die USA und Japan starken Einfluss auf Mikronesien aus. Washington hat weitreichende Zugriffsrechte in den Staaten Marshall-Inseln, Palau und Föderierte Staaten von Mikronesien sowie die volle Kontrolle über die US-Territorien Guam und Nördliche Marianen. Während Australien sich auf seine benachbarten melanesischen Staaten und Nauru konzentriert, hält Neuseeland, das selbst zu den pazifischen Inselstaaten zählt, enge Bindungen zu den polynesischen Ländern Cook-Inseln, Samoa, Niue, Tuvalu und Tokelau. Frankreichs Einfluss besteht über Neukaledonien, Französisch-Polynesien sowie Wallis und Futuna. Die 14 Pazifikstaaten sind mit Ausnahme des Königreichs Tonga und des Militäregimes in Fidschi parlamentarische Demokratien. Sie formen gemeinsam mit Australien und Neuseeland die wichtigste Regionalorganisation Pacific Islands Forum mit Sitz in Fidschi.

Wirtschaftliche Inwertsetzung der Region

Die Region Asien-Pazifik stellt heute mit einem Anteil von 36% des weltweit produzierten Bruttoinlandprodukts die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt dar. Der Hunger der aufstrebenden Schwellenländer nach Rohstoffen wie Öl, Gas, Erzen und Edelmetallen hat dazu geführt, dass der Südpazifik innerhalb eines Jahrzehnts massiv an Attraktivität für ausländische Staaten und Unternehmen gewonnen hat. China ist als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt in nur wenigen Jahren zu einem wichtigen Akteur aufgestiegen, auch wenn Beijings ökonomisches Engagement in der Region im Vergleich zum afrikanischen Kontinent (Handel 2011: 160 Mrd. US$) moderat ausfällt. So stieg der Warenhandel Chinas mit den Staaten des Südpazifiks von 133 Mio. US$ (1997) auf 2,1 Mrd. US$ (2012). 80% des chinesisch-pazifischen Handels entfallen allein auf Papua-Neuguinea, das nach Australien (Handel 2012: 114 Mrd. US$) der wichtigste Wirtschaftspartner der VR in der Region ist. Chinas größte Einzelinvestition stellt die 1,5 Mrd. US$ teure Ramu-Nickel-Mine in Papua-Neuguinea dar. Dass China im Bergbau aber nur ein Konkurrent unter vielen ist, zeigt ein Flüssiggasprojekt des US-amerikanischen Ölmultis ExxonMobil, das derzeit für 19 Mrd. US$ in Papua-Neuguinea gebaut wird.

Hohe Erwartungen hegen die Inselstaaten an den Tiefsee-Bergbau, von dem sie sich mehr wirtschaftliche Selbständigkeit versprechen. Die EU erweist sich diesbezüglich als Türöffner für multinationale Konzerne. Brüssel realisiert im Zeitraum 2011-2014 gemeinsam mit dem in Fidschi ansässigen Sekretariat der Pacific Community das 4,4 Mio. Euro teure Projekt »Deep Sea Minerals in the Pacific«, das den Kleinstaaten den rechtlichen und fiskalischen Rahmen des Offshore-Bergbaus nahe bringen soll. Das weltweit erste Tiefsee-Bergbauprojekt wird derzeit in Papua-Neuguinea realisiert. Zuvor hatte die EU die gesamten Rohstoffressourcen Papua-Neuguineas kartographiert. Über die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verwerfungen durch derartige Großprojekte ist dagegen aus Brüssel oder anderen Metropolen nichts zu vernehmen. Dabei ist der Rohstoffboom in Papua-Neuguinea mit Entwicklungsdisparitäten, sozio-ökonomischen Spannungen und gravierender Umweltzerstörung verbunden. Staatliches Missmanagement und Korruption herrschen vor.

Eine harte Konkurrenz besteht auch bei den Fischbeständen, um die sich Handelsflotten von China über Japan und den USA bis zur EU streiten. Der Thunfischfang, für viele Kleinstaaten die wichtigste Einnahmequelle, wird auf jährlich fünf Mrd. US$ geschätzt, die Hälfte des weltweiten Ertrags. 40% des industriellen Fischfangs gelten als illegal gefischt.

Es sind aber nicht nur Konzerne, die sich in wachsendem Umfang im Südpazifik engagieren, sondern vor allem Festlandchinesen und chinesisch-stämmige Migranten, die mittlerweile den Groß- und Einzelhandel der meisten Inselökonomien monopolisieren. Die massiven Migrationsströme verändern die lokalen Wirtschaftsstrukturen in den bevölkerungsschwachen Inselstaaten. Nicht nur werden einheimische Unternehmer verdrängt, die mit der konfuzianischen Arbeitsethik und den internationalen Netzwerken chinesischer Unternehmer nicht konkurrieren können. Sie dringen auch in Wirtschaftsbereiche vor, die seit Abzug der Kolonialmächte gesetzlich einheimischen Bürgern vorbehalten waren.

Das wirtschaftliche Engagement von Asiaten hat in den Inselbevölkerungen zu erheblichen Ressentiments und Abwehrreaktionen geführt. Dies zeigen die Zerstörungen chinesischer Geschäftsviertel im Jahr 2006 in Tonga und den Salomonen sowie die gewalttätigen Unruhen, Plünderungen und Morde an chinesischen Geschäftsleuten in Papua-Neuguinea in den Jahren 2009 und 2010. Die schnelle wirtschaftliche Asianisierung der gering entwickelten Inselökonomien, die fehlende Schaffung von lokalen Arbeitsplätzen, die Konzentration der Investitionen auf die Rohstoffgewinnung und die Überschwemmung der Länder mit Handelswaren legen eine einseitige Interessenrealisierung Chinas nahe, die wenig mit der von Beijing gebetsmühlenartig apostrophierten »win-win«-Situation zu tun hat. Insofern entbehrt das Süd-Süd-Modell (Beijing Consensus) als Alternative zu westlichen Entwicklungskonzeptionen zumindest im Südpazifik der empirischen Grundlage. Eigeninteressen stehen für China im Vordergrund – durchaus vergleichbar mit anderen wirtschaftlichen Akteuren und in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zu der oben erwähnten Generosität Beijings.

Entwicklungszusammenarbeit

Die VR ist mit ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit seit deren Unabhängigkeit in zahlreichen Pazifikstaaten präsent. Seit den 1990er Jahren bestimmte allerdings die destruktive Konkurrenz um diplomatische Anerkennung zwischen der VR und der Republik China (Taiwan) die Region (Stichwort »Scheckbuch-Diplomatie«), bis diese mit der Wahl des taiwanesischen Präsidenten Ma Ying-jeou 2008 zu Gunsten eines einvernehmlichen »Waffenstillstandes« beendet wurde. Von den 23 Ländern, die weltweit Taipeh anerkennen, liegen sechs im Südpazifik (Kiribati, Marshall-Inseln, Nauru, Palau, Salomonen und Tuvalu). Entgegen der von Beijing behaupteten Gültigkeit des Grundsatzes der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheit anderer Staaten (»Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz«), war zuvor jahrelang massiv und verdeckt in die Innenpolitik zahlreicher Länder interveniert worden. Die Einflussnahme beider Staaten destabilisierte die nur schwach institutionalisierten Entwicklungsländer und speiste die endemische Korruption.

Chinas wachsendes Engagement im Südpazifik hat seit 2006 zu einem schnellen Anstieg der Zusagen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geführt. Offizielle Angaben dazu gibt es nicht, da diese als Staatsgeheimnis gelten. Im April 2013 wurde erstmals eine Zahl bekannt: 6,4 Mrd. US$ für mehr als 100 Empfängerländer. Davon gingen im Zeitraum 2006-2011 geschätzte 850 Mio. US$ an die acht Beijing anerkennenden Pazifikstaaten. Im Vergleich dazu bleibt der Beitrag für offizielle Zusammenarbeit der westlichen Gebergemeinschaft weiterhin überwältigend. Australien steht hier in einer mit weitem Abstand dominierenden Position: Über den genannten Fünfjahreszeitraum gingen 4,8 Mrd. US$ an die Inselstaaten. Es folgen die USA (1,27 Mrd.), Neuseeland (899,3 Mio.) und Japan (868,8 Mio.). Hinzu kommen Frankreich (718 Mio.) und die EU (595,8 Mio.) als größter multilateraler Geber. Nach den letzten OECD-Angaben für 2011 entsprach Canberras Beitrag 62% der bilateralen und 55% der Gesamthilfe für die Region.

Obwohl die Region seit 1970 die mit Abstand weltweit höchsten Entwicklungstransfers pro Kopf aufweist, hat sich diese Kooperation bisher kaum in nennenswerten Entwicklungserfolgen und einer verbesserten sozialen Lage der Menschen niedergeschlagen. In der Kritik der Nehmerländer steht vor allem Canberra und dessen »boomerang aid«, die australische Unternehmen und Berater begünstige und so zu einem Rückfluss der Mittel führe. Aber auch die Entwicklungszusammenarbeit Chinas steht massiv in der Kritik. Angestammte bi- und multilaterale Geber monieren nicht nur die Intransparenz der Vergabe, die lokale Unangepasstheit der Maßnahmen und die Verschuldungsintensität der gewährten Hilfe, sondern fordern auch seit Jahren eine regionale Kooperation und Koordination ein, die Beijing bis heute ablehnt.

Höchst willkommen ist Beijings Hilfe dagegen in den Pazifikstaaten, da diese jenseits der »Ein-China-Politik« vermeintlich ohne jegliche Konditionalitäten und ohne die sonst übliche Korruption gewährt wird. Etwa 40% der Hilfe geht in prestigeträchtige, die urbanen Eliten unterstützende Bauprojekte wie Regierungsgebäude, Stadien oder den Wiederaufbau von Tongas Hauptstadt Nuku’alofa nach den Plünderungen und Bränden von 2006. Die Vorhaben werden von kommerziell orientierten chinesischen Unternehmen und Arbeitskräften ausgeführt. Die kostspielige Instandhaltung der Großprojekte obliegt mit der Schlüsselübergabe dann den Empfängerländern. Als die Chatham-Analystin Cleo Paskal auf der Klimakonferenz in Kopenhagen die tonganische Delegation nach ihrem Abstimmungsverhalten fragte, bekam sie zur Antwort: „Was immer China sagt, wir schulden ihnen Hunderte von Millionen.“

Bedeutsam ist der Handel der Inselstaaten mit so genannten Souveränitätsrechten. Der Verkauf von 1.400 Aufenthaltsvisa an reiche Chinesen brachte Vanuatu Staatseinnahmen von 4,3 Mio. US$. Erfolgreich war auch die finanzielle Unterstützung durch die Arabische Liga: Zahlreiche Pafifikstaaten sprachen sich dafür aus, dass die Zentrale der International Renewable Energy Agency statt in Deutschland in Abu Dhabi angesiedelt wurde. Russland engagierte sich finanziell, um die völkerrechtliche Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu befördern. Kiribati erkannte den Kosovo an. Israel dagegen zeigte sich im November 2012 enttäuscht, als der UN-Botschafter der Salomonen (entgegen der Anweisung seiner Regierung) für den UN-Beobachterstatus der Palästinensergebiete stimmte.

Wandel der regionalen Sicherheitsstruktur?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten die USA Großbritannien als globale Hegemonialmacht abgelöst. Kernelement der regionalen Sicherheitsordnung ist bis heute der 1952 in Kraft getretene »Security Treaty between Australia, New Zealand and the United States of America« (ANZUS), der vergleichbar dem Nordatlantikpakt eine gegenseitige Beistandsverpflichtung enthält. Im Kalten Krieg bestand dessen Aufgabe darin, die Sowjetunion auf Distanz zu halten. Mit der Implosion der UdSSR verlor der Westen das Interesse an der Region. Der 11. September 2001 stellt dann mit dem »war on terror« eine Zäsur in der internationalen Sicherheitspolitik dar, der in Australien eine »nationale Sicherheitsdekade« folgte. Canberra übernahm als selbst ernannte Mittelmacht die Führungsrolle als »Hilfssheriff« der USA, der Stabilität im Südpazifik und in Timor-Leste (Südostasien) gewährleisten sollte.

Anlässe zur Konfliktbearbeitung gab es genug. Der Bürgerkrieg auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Kupferinsel Bougainville (1989-1998) mit mindestens 15.000 Toten, bisher vier Coups d’État in Fidschi, die ethnische Gewalt zwischen Milizen und Regionen in den Salomonen ab 1999, der Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Hochland von Papua-Neuguinea, dem über die Jahrzehnte weit mehr Opfer zuzurechnen sind als auf Bougainville, zahlreiche Meutereien der Streitkräfte sowie teilweise gescheiterte Parlamentswahlen in Papua-Neuguinea, der Staatsbankrott Naurus (ab 2004) und Unruhen in Tonga (2006) haben zu Interventionen unter australischer Leitung geführt, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Derzeit werden wieder australische Polizisten nach Papua-Neuguinea entsandt. Die innere Fragilität, die Staats- und Nationbildung sowie die Demokratisierung dieser Länder bleiben zentrale Herausforderungen.

Spätestens seit Mitte des letzten Jahrzehnts ist der Aufstieg Chinas zur Kampfansage an das bisherige Mächteensemble geworden. Canberra versucht den prekären Interessenausgleich aus der sicherheitspolitischen Anbindung an den Alliierten USA und der wirtschaftlichen Verflechtung mit China, das zum wichtigsten Handelspartner und bedeutenden Rohstoffinvestor und damit zum Garanten langjähriger Prosperität avanciert ist. Hinzu kommt der virulente politische Konflikt mit der Militärjunta in Fidschi, das wegen nicht abgehaltener Wahlen 2009 vom Pacific Islands Forum suspendiert und mit Sanktionen belegt wurde. Canberra verhinderte die Kreditvergabe internationaler Organisationen an Fidschi, worauf Beijing einsprang. Auch der Versuch, Fidschis 1.250 Soldaten von UN-Blauhelmeinsätzen auszuschließen, scheiterte. 531 fidschianischen Soldaten wurden im Juli als Ersatz für die abgezogenen Österreicher auf die syrischen Golanhöhen entsandt. Reguläre Armeen besitzen nur Papua-Neuguinea, Tonga und Fidschi; alle beteiligen sich auch an UN-Einsätzen.

Hinzu kommt der Trend der Inselstaaten hin zu separaten sub-regionalen Gruppierungen (die Melanesian Spearhead Group, der Council of Micronesian Chief Executives sowie die neu geformte Polynesian Leaders Group und das von Fidschi als Alternative zum Pacific Islands Forum forcierte Pacific Islands Development Forum), wodurch Canberra und Wellington an Einfluss auf die kollektive Entscheidungsfindung verlieren. Als die Beziehungen belastend gilt auch die UN-Dekolonisierungsagenda, gegen die sich die westlichen Staaten vehement wehren. Auf der Liste der zu dekolonisierenden Territorien stehen momentan die Pazifikstaaten Neukaledonien und Französisch-Polynesien (Frankreich), Pitcairn (GB), Tokelau (Neuseeland) sowie Guam und Amerikanisch-Samoa (USA), also sechs von insgesamt 17 Ländern. Hinzu kommt der außerhalb der UN angesiedelte Konflikt um die beiden indonesischen Provinzen in West-Papua. Schwere Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung werden dort mit Unterstützung einiger Pazifikstaaten den Guerillakampf um Unabhängigkeit weiter anfeuern.

Perspektiven

Die oben beschriebene Konstellation erlaubt mehrere Schlussfolgerungen. Danach kann als sicher gelten, dass der Südpazifik als alleinige Einflusssphäre des Westens der Vergangenheit angehört. Der Westen verliert damit weiter an globaler Gestaltungs-, Steuerungs- und Ordnungsfähigkeit. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die VR im Südpazifik derzeit weder eine politische noch eine militärstrategische Führungsrolle beansprucht oder anstrebt. Trotz des gewaltigen Wachstums im Reich der Mitte wird hier eine Machtverschiebung nur langsam vor sich gehen. Daher wird die »Pax Americana« wohl noch für Jahrzehnte Geltungshoheit beanspruchen können. Zudem besteht in Beijing weiterhin kein Interesse an einer multilateral orientierten Entwicklungszusammenarbeit mit den tradierten Geberländern. Auch an einer Bereitstellung öffentlicher Güter (z.B. Sicherung von Handelswegen, Einsatz bei Krisen oder Katastrophen etc.) zeigt China kein Interesse, was darauf hindeutet, dass die eigenen innenpolitischen Prioritäten hinsichtlich Frieden, Stabilität und Prosperität (Präsident Xi Jinping) fortgesetzt Vorrang genießen.

Der schnelle sozio-ökonomische und außenpolitische Wandel der Region wird in den kommenden Jahren zu mehr Konkurrenz, Instabilität und Krisenlastigkeit führen, die durch den Aufstieg Chinas mittel- bis langfristig noch verschärft werden. Infolgedessen werden Australien und Neuseeland weiterhin eine ordnungspolitische Rolle spielen (müssen), auch wenn Canberras Auftreten in den Inselstaaten sowie im Pacific Islands Forum zunehmend diskreditiert erscheint. Obwohl Australien in punkto Investitionen, Handel und Entwicklungskooperation mit großem Abstand das dominierende Land bleibt, erodiert seine selbst gewählte Führungsposition. Separate regionale Unterorganisationen erhalten mehr Gewicht. Papua-Neuguinea sieht sich erstmals nach 38 Jahren Unabhängigkeit als kommende regionale Wirtschaftsmacht mit internationalem Gewicht, deren Gemeinsamkeiten mit Fidschis Militärjunta trotz aller melanesischen Solidarität schon heute begrenzt sind. Generell ist davon auszugehen, dass die sino-amerikanischen Beziehungen im Großraum Asien-Pazifik nicht nur dort den Schlüssel zu fortgesetztem Frieden darstellen. Die Bewältigung der von Beijing zunehmend ruppiger ausgetragenen Territorialkonflikte in Ost- und Südostasien wird sich auf die globale strategische Stabilität der kommenden Dekaden auswirken.

Literatur

Jenny Hayward-Jones (2013): Big enough for all of us: Geo-strategic competition in the Pacific islands. Sydney: Lowy Institute for International Policy.

Richard Herr und Anthony Bergin (2011): Our near abroad. Australia and Pacific islands regionalism. Canberra: Australian Strategic Policy Institute..

Roland Seib (2009): China in the South Pacific: No New Hegemon on the Horizon. Frankfurt/M.: Peace Research Institute Frankfurt.

David Shambaugh (2013): China Goes Global. The Partial Power. Oxford: Oxford University Press.

Dr. Roland Seib ist unabhängiger Politik- und Verwaltungswissenschaftler mit dem regionalen Schwerpunkt Südpazifik, insbesondere Papua-Neuguinea.

Obamas »Pivot«

Obamas »Pivot«

Neuausrichtung der USA auf Asien und den Pazifik

von Joseph Gerson

Vor einem Jahr machte US-Präsident Obama unmissverständlich klar, die USA verstünden sich als pazifisches Land und hätten vor, militärisch abgestützt in der asiatisch-pazifischen Region langfristig eine Schlüsselrolle zu spielen. Damit knüpfen die USA an eine Politik an, die ihnen wirtschaftlich und militärisch die Dominanz auch in diesem Teil der Welt sichern soll. Die USA sind in ihrem Bestreben aber nicht allein, sondern sehen sich hierbei in Konkurrenz zu China, der sie mit einer Mischung aus Einbindung und Eindämmung begegnen wollen.

US-Außenministerin Hillary Clinton kündigte im Januar 2011 eine deutliche Änderung der Außen- und Militärpolitik der Vereinigten Staaten an. In der renommierten Zeitschrift »Foreign Policy« schrieb sie gleich zu Beginn ihres in der Folge breit rezipierten Artikels, es sei „[e]ine der wichtigsten Aufgaben der US-amerikanischen Staatskunst im nächsten Jahrzehnt, sich auf beträchtlich gesteigerte Investitionen – diplomatische, ökonomische, strategische und andere – im Raum Asien-Pazifik festzulegen“. Das wachsende Engagement solle durch „den Aufbau einer breiten militärischen Präsenz“ abgesichert werden.1

Wenig später veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium seine neuen „strategischen Richtlinien“.2 Hier benannte Washington den asiatisch-pazifischen Raum und den Persischen Golf als seine zwei geostrategischen Prioritäten. Zur Bestätigung besuchten Außenministerin Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates und Präsident Obama die Regierungen verbündeter asiatischer und pazifischer Länder. Dabei kündigte Präsident Obama an, dass „[d]ie Vereinigten Staaten als ein pazifisches Land in Zukunft bei der Gestaltung dieser Region und seiner Zukunft eine größere und langfristige Rolle spielen werden“ und dass die im asiatisch-pazifischen Raum stationierten US-Truppen in Zukunft „breiter verteilt [… und] flexibler“ sein sollen – „mit neuen Fähigkeiten, die sicherstellen, dass unsere Truppen frei agieren können“.3

Seit der ersten Ankündigung dieses »Pivot«,4 der seither in »Rebalancing« (Neujustierung) umbenannt wurde, legte sich das Pentagon darauf fest, 60% seiner Luft- und Seekräfte in Asien und dem Pazifik zu stationieren. Und das Verteidigungsministerium nahm eine »Air-Sea Battle Doctrine«5 an, um seine regionale Militärmacht zu verstärken und gleichzeitig die Risiken zu vermeiden, die mit einem Bodenkrieg in Asien verbunden wären. Weiterhin hat die Regierung Obama ihre militärischen Bündnisse in der Region ausgebaut, den Neu- und Umbau von Militärbasen vorangetrieben, simulierte Atombombenangriffe gegen Nordkorea geflogen und mit Krieg gegen China gedroht. Auch die Verhandlungen für eine Transpazifische Partnerschaft und ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU haben zum Ziel, die Macht und den Einfluss Chinas einzudämmen.

Der »Pivot« beschränkt sich jedoch nicht auf den Ausbau der militärischen Präsenz. Die Regierung Obama befasst sich auch mit den Verflechtungen, die sich aus der konkurrenzbetonten wechselseitigen Abhängigkeit mit China ergeben. Präsident Obama und seine Berater sind sich durchaus bewusst, dass die USA und China erhebliche gemeinsame Interessen haben und dass ein Krieg zwischen den beiden Mächten zu unvorstellbarer Zerstörung führen würde; deshalb bemühen sie sich auch um Kontakte zur chinesischen Führung. Auch wenn es nicht gelang, durch ein Abkommen mit China eine »G2« ins Leben zu rufen und die Machtverhältnisse im asiatisch-pazifischen Raum neu zu ordnen, legt die US-Regierung großen Wert auf den alljährlichen strategischen Dialog mit China zu militärischen, ökonomischen und diplomatischen Themen. Der Dialog zwischen US- und chinesischen Militärs wurde intensiviert, ebenso die Zusammenarbeit gegen Terroristen/Jihadisten und gegen die Piraterie. Die ohnehin schon massiven Investitionen in die jeweils andere Wirtschaft steigen weiter rasch an. Und das »hemdsärmlige« Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Obama und dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im Juni 2013 war Ausdruck für die Bemühungen beider Seiten, die Spannungen, die sich aus der Wettbewerbssituation ergeben, im Griff zu behalten.

Manche Beobachter machen sich trotzdem Sorgen, dass angesichts der strukturellen Spannungen zwischen den aufstrebenden und den sinkenden Mächten schon ein Funke reichen könnte, um einen verheerenden Krieg auszulösen.

Der »Pivot« vor dem »Pivot«

Schon vor 170 Jahren äußerte US-Außenminister William Seward, wenn die USA Großbritannien als dominierende Weltmacht ablösen wollten, müssten sie zuerst Asien dominieren. (Damals mangelte es den USA allerdings noch an Seestreitkräften, die es mit denen der europäischen Kolonialmächte aufnehmen konnten, und die pazifischen Inseln, die als Sprungbrett Richtung Asien gebraucht würden, wurden bereits von europäischen Mächten beherrscht.)

Bis 1890 hatte Washington es geschafft, seine Kriegsflotte so auszubauen, dass die USA die Herrschaft Großbritanniens über die Meere anfechten konnten. Gleichzeitig wurde der chinesische Markt vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise und damit einhergehender innerer Unruhen in den USA für politische Entscheidungsträger in Washington zum Heiligen Gral des Kapitalismus. Sie glaubten, Millionen potentielle chinesische Konsumenten würden den Arbeitslosen in den USA wieder zu ihren Fabrikarbeitsplätzen verhelfen. »Sozialer Friede« und wachsende Unternehmensgewinne wären die Folge. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 besetzten US-Truppen Guam und die Philippinen. Hawaii wurde annektiert und sicherte den USA damit die Bekohlungsstationen, die sie für die Schiffspassagen nach China brauchten.

Ein weiteres halbes Jahrhundert später kulminierten als Antwort auf die Ausdehnung des japanischen Imperiums und den Angriff auf Pearl Harbor die Inselschlachten des US-Militärs in der bedingungslosen Kapitulation Japans – der Pazifische Ozean wurde zu einer »Amerikanischen See«. Die USA errichteten neben den bestehenden Basen auf den Philippinen, Guam und Hawaii Hunderte neuer Militärbasen in Korea, Japan, Australien sowie in zahlreichen Pazifikländern und US-Kolonien. Diese Basen und eine Vielzahl unsymmetrischer Militärbündnisse dienten im Kalten Krieg einerseits der »Eindämmung« von Beijing und Moskau, andererseits als Startbahnen für den Korea- und den Vietnamkrieg sowie für Militärinterventionen und politische Umstürze von den Philippinen und Indonesien bis hin zum Persischen Golf.

Um die Eindämmung Chinas zu verstärken, wurde die Besetzung Japans von den USA dazu genutzt, die Inselnation in das umzugestalten, was Premierminister Koizumi später als „unsinkbaren Flugzeugträger für die Vereinigten Staaten“ bezeichnete. Ein erheblicher Teil von Tokios Kriegselite wurde wieder an die Macht gebracht, und im Zentrum der neuen Beziehung stand das US-japanische Sicherheitsabkommen (US-Japan Mutual Security Treaty). Japan wurde heimlich zur Unterzeichnung gezwungen. Das Abkommen war Voraussetzung dafür, dass die USA formal ihre militärische Besetzung des Landes aufgaben. In Südostasien war die US-Hegemonie gekennzeichnet durch US-gestützte Umstürze in vielen Ländern, dem Lostreten des Indochinakrieges und wiederholter Drohungen der USA, gegen China und Vietnam Atomwaffen einsetzen zu wollen.

Obamas »Pivot«

Jeffrey Bader, ehemaliger Abteilungsdirektor für ostasiatische Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrates der Obama-Regierung, widmet den Anfang seiner kürzlich erschienen Memoiren einem Rückblick auf das Erbe der Asien-Pazifik-Politik der Regierung Bush-Cheney, insbesondere deren Festlegung auf eine »Diversifizierung« der US-Basen im asiatisch-pazifischen Raum. Ziel war damals, die Anzahl der Basen in Nordostasien zu reduzieren und sie strategischer an der Peripherie Chinas zu verlegen. Die Angriffe vom 11. September 2001 lenkten zwar die Aufmerksamkeit der Bush-Regierung von diesen Plänen ab, der »Krieg gegen den Terror« wurde aber auch auf Indonesien, die Philippinen und Südthailand ausgedehnt, und mit Indien wurde ein Nuklearabkommen ausgehandelt.

Bader benennt die damaligen Prioritäten der Bush-Regierung wie folgt: „Dem asiatisch-pazifischen Raum höhere Priorität einräumen. Ausgewogen auf den Aufstieg Chinas reagieren. Bündnisse stärken und neue Partnerschaften aufbauen. Die US-Präsenz im Westpazifik insgesamt ausbauen und die regionale Vorwärtsstationierung aufrecht erhalten […] und regionalen Institutionen beitreten.“ 6 General Martin Dempsey, Vorsitzender des Generalstabs, drückte es weniger elegant aus: „[D]as US-Militär könnte gezwungen sein, China offen die Stirn zu bieten, so wie wir auch die Konfrontation mit der Sowjetunion nicht scheuten.“ 7

Von zentraler Bedeutung für die US-Strategie ist die Analyse von Joseph Nye, stellvertretender Verteidigungsminister der Clinton-Ära und seit mehr als einer Generation einer der wichtigsten Berater für die US-Politik im asiatisch-pazifischen Raum. Nye warnt vor den potentiellen Gefahren von Konflikten zwischen aufstrebenden und sinkenden Mächten. Er argumentiert, die USA und Großbritannien hätten es im 20. Jahrhundert zweimal versäumt, Deutschland und Japan in ihre Weltordnung zu integrieren, was in zwei katastrophalen Weltkriegen gemündet sei. Um eine apokalyptische Wiederholung dieses Unheils zu vermeiden, drängt Nye die USA zu einer Politik, die China sowohl einbindet als auch eindämmt.

Einige Monate, bevor der »Pivot« vom Stapel gelassen wurde, schrieb Nye: „Asien wird wieder seinen historischen Status einnehmen, mit mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung und der Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Amerika muss dort präsent sein. Märkte und Wirtschaftsmacht basieren auf politischen Rahmensetzungen, und die Militärmacht der USA bietet diesen Rahmen.“ 8 Ander sausgedrückt: Ohne die massive militärische Präsenz der USA in Asien und in der Pazifik-Region und ohne die inhärente Drohung mit massiver Zerstörung können die USA sich nicht darauf verlassen, dass sie auch weiterhin vom internationalen Währungssystem und ihrem damit verbundenen privilegierten Zugang zu den asiatischen Märkten und Ressourcen profitieren können.

Die Regierung Obama geht ganz mit Nye d’accord, dass Beijing durch die Einbindung Chinas dazu gebracht werden kann, eine „konstruktive[re] Rolle zu spielen, als wenn sie außerhalb dieses Systems verbleiben“ und dass „ein florierendes China gut ist für Amerika“.

Nichtsdestotrotz sichert sich die Regierung Obama militärisch ab, denn sie hat beschlossen, besser keine „Politik der Nachsicht und des Hinnehmens von forschem Auftreten der Chinesen“ zu verfolgen, die „schlechtes Benehmen ermutigen und Alliierte und Partner der USA“ in Tokio, Seoul oder Südostasien „ängstigen könnte“.9

Die Obama-Regierung hat sich vom Unilateralismus der Ära Bush jr. abgewandt. Zentrale Bedeutung haben jetzt Militärbündnisse zur Stärkung der »Full Spectrum Dominance«-Doktrin. Es geht um die Fähigkeit, jedes Land zu dominieren, und zwar auf allen Ebenen der Macht, überall in der Welt und jederzeit. Daher wurden die Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, den Philippinen und Thailand bekräftigt, die als „Dreh- und Angelpunkt für unseren strategischen Schwenk hin zum asiatisch-pazifischen Raum“ 10 dienen. Mit der Ausweitung und Diversifizierung der Truppenstationierungen nahmen auch die regionalen Militärübungen zu. Und im Kontext der Verhandlungen über die Transpazifische Partnerschaft und das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union setzt Washington sich selbst an die Spitze der „zwei riesigen Wirtschaftsblöcke“ (Nordamerika und EU), um so „Washingtons Führungsrolle in einem polyzentrischen System internationaler Beziehungen zu gewährleisten“. China und Russland sollen damit auf die zweiten Plätze verwiesen werden.11

Damit untermauern die USA das, was die chinesische Führungsspitze als „umgedrehte Große Mauer“ ansieht, „mit Wachtürmen, die sich von Japan bis Australien erstrecken und alle potentiell Chinas Zugang zum Pazifischen Ozean blockieren“ – eine »Große Mauer«, die der Umsetzung von Washingtons »Air-Sea Battle Doctrine« dient.

Robert D. Kaplan beschreibt die Situation so: „China ist eine aufstrebende und noch unreife Macht, besessen von der territorialen Erniedrigung, die es im 19. und 20. Jahrhundert erlitt. [Es] entwickelt asymmetrische und den Zugang verhindernde Nischenfähigkeiten, um den Seestreitkräften der USA den einfachen Zugang zum Ostchinesischen Meer und anderen Küstengewässern zu versagen. […] China ist nicht im Entferntesten fähig, die USA militärisch direkt herauszufordern. Ziel […] ist […,] dass es sich die U.S. Navy in Zukunft zwei Mal überlegt, ob sie expandiert, und drei Mal, ob sie in das Meer zwischen der ersten Inselkette und der chinesischen Küste eindringt.“ 12

Die nationale Sicherheitselite der USA ist kein monolithisches Gebilde. Es gibt viele, die Nye mit seiner Analyse nicht überzeugen konnte und die die strategische Konkurrenz zwischen den USA und China als Nullsummenspiel ansehen. Während Präsident Obama zugleich auf Einbindung wie auf Eindämmung drängt, halten manche einflussreiche Persönlichkeiten einen Krieg zwischen den USA und China für unvermeidlich. Wieder andere, einschließlich des Defense Science Board (wissenschaftliches Beratergremium) des Pentagon drängen darauf, dass Washington auch bereit sein sollte, Cyberattacken mit dem Einsatz von Atomwaffen zu beantworten.

Die USA und China sind zwar die treibenden Kräfte bei der Aufrüstung in der Region, am Wettrüsten sind aber auch Japan, Korea und andere asiatische und pazifische Länder beteiligt. Zwar sucht keines der Länder Krieg, aufgrund des nationalistischen Drucks könnten die Spannungen im Südchinesischen Meer – insbesondere zwischen China und Vietnam und der militarisierte Streit zwischen Japan und China um die Senkaku-/Diaoyu-Inseln – aber dennoch außer Kontrolle geraten. In der Tradition des strategischen Theaters wird knapp unterhalb der Kriegsschwelle ein militarisiertes Schattenspiel aufgeführt, während neue Bündnisse geschmiedet, neue Basen gebaut, neue Waffen stationiert, noch provokantere Militärübungen durchgeführt und neue Militärdoktrinen verkündet werden. Zweck des Spiels ist es, den Rivalen vor Augen zu führen, dass man ihnen unkalkulierbaren Schaden zufügen kann, und sie auf diese Weise einzuschüchtern.

Auswirkungen

Außer dem wachsenden Risiko eines Krieges, einschließlich eines Atomkrieges, und dem Anheizen eines regionalen Wettrüstens, hat der »Pivot« auch unmittelbar einen Preis für die Menschen in der Region. Ausländische Militärbasen führen notwendigerweise zu dem, was die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten als „Missbräuche und Übergriffe“ bezeichnet; sie unterminieren die Souveränität, die demokratischen Gepflogenheiten und die Menschenrechte in den Gastländern. Oft werden Militärbasen auf zwangsenteignetem Land gebaut, sind eine Quelle von Verbrechen, einschließlich der gewalttätigen und unmenschlichen Behandlung von Frauen und Mädchen, tragen zu schwerer Umweltverseuchung und lebensgefährlichen Unfällen bei. Außerdem entziehen sie begrenzt vorhandene nationale Geldmittel, die dringend für die Deckung menschlicher Bedürfnisse gebraucht würden. Diese Dynamiken haben sich insbesondere in Japan und Korea, auf Guam und den Philippinen bewahrheitet.

In Japan hat der »Pivot« zur Intensivierung des nuklearen Bündnisses und der erdrückenden Präsenz des US-Militärs auf Okinawa und im übrigen Japan geführt. 2012 fühlte sich Premierminister Noda durch das US-japanische Bündnis ermutigt, China mit der Nationalisierung der von beiden Ländern beanspruchten Senkaku-/Diaoyu-Inseln zu provozieren. Gleichermaßen gibt das Militärbündnis Nodas Nachfolger im Amt, Shinzo Abe, die Rückendeckung, mit Krieg zu drohen, um die japanische Souveränität über die unbewohnten Felsen abzusichern und Anspruch auf 400 weitere Felsen-Inseln anzumelden.

Anregungen aus den USA, doch die „anachronistischen Einschränkungen“ der japanischen, den Krieg untersagenden Verfassung zu überwinden, ermutigen Abe, die »Friedens«-Verfassung noch stärker umzuinterpretieren bzw. zu ändern.13

Für die Koreaner ändert sich mit dem »Pivot« nicht so viel, da sie schon seit Langem in einem hochgerüsteten Land leben. Seit August 1945 unterhalten die USA Militärbasen in Korea und gaben sämtlichen südkoreanischen Regierungen Rückhalt (den Militärdiktatoren genau so wie den seit 1993 unter demokratischeren Umständen gewählten). Da der Koreakrieg nie formell beendet wurde, haben die USA überdies bis heute das Recht, im Kriegsfall den Oberbefehl über das südkoreanische Militär zu übernehmen.14

Schon die Regierung Bush-Cheney begann mit der »Diversifizierung« der US-amerikanischen Basen im Raum Asien-Pazifik, insbesondere in Südkorea. Einige besonders große Militärbasen wurden aus Großstädten in ländlichere Gegenden verlegt, wo der Bevölkerungs- und damit der potentielle politische Druck nicht so stark ist. Momentan wird bei Gangjeong auf Jeju Island, in der Nähe etlicher UNESCO-Kulturerbestätten, ein monströser, vorgeblich koreanischer Flottenstützpunkt gebaut, „in dem U-Boote und bis zu 20 Kriegsschiffe andocken können, darunter auch Aegis-Zerstörer der USA mit Raketenabwehrsystemen“.

In Südostasien heizt die Regierung Obama den Kampf um Hegemonie über das öl- und rohstoffreiche sowie geostrategisch wichtige Südchinesische Meer an. Viele Beobachter befürchten, dass hier das gefährlichste Pulverfass der nächsten Jahre oder Jahrzehnte entsteht. Mit ihrer Einmischung in den Streit um Hoheitsgebiete und Handelsrouten (mehr als 40% des Welthandels und vor allem das für die ostasiatische Wirtschaft unverzichtbare Erdöl aus dem Nahen Osten werden durch diese Region transportiert), beförderten die USA einen regionalen Streit zu einer Auseinandersetzung zwischen Großmächten.

Die USA bestärken die Philippinen in ihrem Anspruch auf das von ihnen als »Westphilippinisches Meer« bezeichnete Gebiet. Das Pentagon steigert den Waffenexport an Manila, führt mehr gemeinsame Militärübungen durch und überlegt sogar, wieder auf den jetzt angeblich philippinischen Flottenstützpunkt »Subic Naval Base« zurückzukehren. Unter Verletzung der philippinischen Verfassung hat das US-Militär im Rahmen des »Visiting Forces Agreement« außerdem wieder Zugang zum ganzen Land.

Für den »Pivot« intensivieren die USA auch die militärische Zusammenarbeit mit Indonesien, Singapur, Malaysia, Brunei und Vietnam, bis hin zu gemeinsamen Militärmanövern mit Vietnam und Andockrechten im Tiefseehafen der Cam Rahn Bay im Südchinesischen Meer. Weiter im Western erneuerte Washington seine militärischen Kontakte zu Myanmar und bedroht damit den Zugang Chinas zum Indischen Ozean sowie die ökonomischen Entwicklungspläne Beijings für einen Großteil Zentralchinas.

Die Einkreisung Chinas komplettiert die US-Regierung mit einem neuen Flottenstützpunkt im Indischen Ozean bei Darwin/Australien, einem impliziten Bündnis mit Indien, der erweiterten »Partnerschaft« mit Neuseeland und der Mongolei und dem Abkommen über eine weitere Truppenstationierung in Afghanistan bis 2024.

Näher am US-Festland liegt Guam, wo das Volk der Chamorro unter der Besatzung leidet. Schon jetzt breitet sich die USA-Basis auf einem Viertel der nur knapp 550 Quadratkilometer großen Insel aus. Jetzt soll die Basis nochmals um ein Drittel erweitertet werden, damit dort mehr Kriegsschiffe, mehr Kampfflugzeuge und 5.000 zusätzliche Marinesoldaten stationiert werden können. Auch in Hawaii werden Umsiedlungen erzwungen, um Platz zu schaffen für weitere Kampfhubschrauber des Typs Osprey und 3.000 weitere Marinesoldaten.

Herausforderungen für soziale Bewegungen

Das ist wahrlich keine schöne Entwicklung. Wahr ist aber auch: Imperiale Strukturen, egal ob amerikanische, chinesische oder japanische, wandeln sich im Laufe der Zeit entweder unter dem Druck der Öffentlichkeit oder aufgrund ihrer eigenen internen Dynamiken und Widersprüche. Alle von uns, die sich gegen Krieg und für mehr Frieden und Gerechtigkeit einsetzen, stehen zwar vor einer gewaltigen Aufgabe, die Geschichte lehrt uns aber auch, dass Wandel möglich ist und dass wir am Ende siegen können.

Angesagt ist Solidarität mit Friedens- und Anti-Bases-Gruppen – auf Graswurzel-, Akademiker- und auch Regierungsebene. Die Proteste gegen die Transpazifische Partnerschaft und das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union müssen weitergehen. Wir müssen uns intensiver darum kümmern, Alternativen zum imperialen Kriegssystem und Strategien für die menschliche und gemeinsame Sicherheit zu entwickeln. Eines ist allerdings klar: Unsere sozialen Bewegungen dürfen sich nicht länger auf ihre jeweiligen Themen konzentrieren, seien dies nukleare Abrüstung, Drohnen, Militärbudgets, Klimawandel oder Fürsorge. All diese Themen sind miteinander verwoben – und deshalb sollten auch unsere Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit und das menschliche Überleben miteinander verwoben sein.

Anmerkungen

1) Hillary Clinton: America’s Pacific Century. Foreign Policy, November 2011.

2) US Department of Defense: Sustaining U.S. Global Leadership. Priorities for 21st Century Defense. January 2012.

3) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks By President Obama to the Australian Parliament, Parliament House, Canberra, Australia. November 17, 2011.

4) »Pivot« bezeichnet im Englischen u.a. einen Dreh- und Angelpunkt oder einen Schwenkpunkt; im Kontext dieses Artikels könnte es in etwa als »Neuausrichtung« oder «Umorientierung« übersetzt werden. [die Übersetzerin]

5) Die Ausarbeitung dieser Doktrin war von US-Verteidigungsminister Gates im »Quadrennial Defense Review Report 2010« in Auftrag gegeben worden. Die Doktrin wurde im November 2011 vorgestellt (siehe z.B. US Department of Defense: Background Briefing on Air-Sea Battle by Defense Officials from the Pentagon, November 09, 2011; defense.gov. Siehe auch: Air-Sea Battle Office: The Air-Sea Battle Concept Summary, 11/9/2011; navy.mil) und orientiert sich laut U.S. Naval Institute „an der vor einer Generation gültigen »Army-Air Force Air-Land Battle Doctrine«“ (usni.org). [die Übersetzerin]

6) Jeffrey A. Bader (2012): Obama and China’s Rise. An Insider’s Account of America’s Asia Strategy. Washington D.C.: The Brookings Institution.

7) Simon Tisdale: China syndrome dictates Barack Obama’s Asia-Pacific strategy. The Guardian, January 6, 2012.

8) Joseph S. Nye: Has Economic Power Replaced Military Might? cnn.com, June 6, 2011.

9) Jeffrey A. Bader, op.cit.

10) Hillary Clinton, op.cit

11) Sergey Rogov: U.S. foreign strategy to create new global order. Russia Behind the Headlines, April 22, 2013.

12) Robert D. Kaplan: The Revenge of Geography. What the Map Tells Us About Coming Conflicts and the Battle Against Fate. New York:Random House.

13) Siehe dazu ausführlicher »Vorwärts ins 19. Jahrhundert?« von Eiichi Kido auf Seite  in dieser Ausgabe von W&F.

14) Siehe dazu ausführlicher »Kollateralschaden des Koreakriegs« von Christine Ahn auf Seite  in dieser Ausgabe von W&F.

Dr. Joseph Gerson ist Geschäftsführer des Programms für die Nordostregion des American Friends Service Committee (Friedensdienst der Quäker) und leitet sowohl das Programm für Frieden und ökonomische Sicherheit als auch die Arbeitsgruppe für Frieden und Demilitarisierung in Asien und im Pazifik des ASFC.
Übersetzt von Regina Hagen

Konflikt und Kooperation bei der Wassernutzung in Mittelasien

Konflikt und Kooperation bei der Wassernutzung in Mittelasien

von Kai Wegerich

In Mittelasien sind Mensch, Natur und Wirtschaft auf das Wasser zweier Flusssysteme angewiesen: des Syr Darja im Norden und des Amu Darja im Süden. Beide Ströme sind in hohem Maße zur Stromgewinnung und landwirtschaftlichen Bewässerung erschlossen. Die Nutzung des Wassers birgt erhebliches Potential sowohl für Konflikte als auch für Kooperationen zwischen den einzelnen Anrainerstaaten: Am Oberlauf wollen sie die Wasserkraft zur Stromerzeugung nutzen, am Unterlauf sehen sie die Bewässerung ihrer Felder in Gefahr.

Der Syr Darja und der Amu Darja und fast sämtliche ihrer Zubringer fließen durch das Hoheitsgebiet oder entlang der Grenzen von fünf Staaten (vgl. Abb.): Kirgistan (Oberlauf des Syr Darja), Tadschikistan (Oberlauf des Amu Darja), Kasachstan (Unterlauf des Syr Darja), Turkmenistan (Unterlauf des Amu Darja) und Usbekistan (Unterlauf des Amu Darja und Mittellauf des Syr Darja). Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion spielten bei der Wasserbewirtschaftung administrative Grenzverläufe und die gerechte Verteilung des Wassers unter den Republiken keine große Rolle. Von Interesse waren vielmehr die hydrologischen Gegebenheiten.

So bot das Aralseebecken die Möglichkeit, an den Flussoberläufen Projekte zur Flussregulierung und Stromerzeugung zu planen und zum Teil auch umzusetzen, die an den Unterläufen eine Ausweitung der bewässerten Landwirtschaft zuließen. Ein Beispiel für diese Aufteilung ist der Toktogul-Staudamm am Naryn in Kirgistan: 75% des Wasserabflusses wurden für die Bewässerung der Unteranrainer während der Wachstumsperiode im Sommer zugewiesen. Als Folge musste Kirgistan im Winter, wenn sein Energiebedarf besonders hoch ist, Energie aus flussabwärts gelegenen Republiken importieren.

Noch zu sowjetischen Zeiten wurden im Aralseebecken weitere Staudammprojekte konzipiert, um sowohl im Winter die Gewinnung von Hydroenergie als auch im Sommer die Wasserversorgung für die Landwirtschaft sicherzustellen. Der Bau des Rogun-Staudamms am Wachsch in Tadschikistan und der Staudämme Kambarata 1 und 2 am Naryn in Kirgistan kam durch die Auflösung der Sowjetunion allerdings ins Stocken. Und während die Großprojekte an den Flussoberläufen von den Republiken an den Unterläufen zuvor nicht als Bedrohung wahrgenommen wurden, hat sich dies mit der staatlichen Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepubliken inzwischen geändert.

Im April 2009 kamen daher die Präsidenten der fünf mittelasiatischen Staaten im kasachischen Almaty zusammen, um die Wasserproblematik zu beraten. Im Vorfeld kristallisierten sich zwei Fronten heraus: auf der einen Seite Kirgistan und Tadschikistan, die an den Oberläufen der Flüsse weitere Staudämme bauen wollten, und auf der anderen Seite die Unteranrainer Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan, die sich dagegen wehrten. Am Ende des Treffens konnten sich die fünf Länder nicht auf eine gemeinsame Wasserbewirtschaftung, die allen Seiten gerecht wird, einigen (siehe Karte Seite ).

Geographie im Aralseebecken und Wassernutzung in der Sowjetunion

Der Amu Darja ist 2.450 km lang und hat ein Einzugsgebiet von 309.000 km2. Er entsteht aus dem Pjandsch, der am Vakjdjir-Pass von Gletscherbächen gespeist wird und auf weiten Strecken die Grenzen zwischen Afghanistan und Tadschikistan bildet, und dem Wachsch, der im Gebirge von Kirgistan entspringt, durch Tadschikistan läuft und kurz vor der Grenze zu Usbekistan auf den Pjandsch stößt. Der Syr Darja entsteht durch den Zusammenfluss von Naryn und Kara Darja, die im Tianshan-Gebirge von Kirgistan entspringen und im Ferghana-Tal zusammenfließen. Mit 3.019 km ist der Syr Darja der längste Fluss in Mittelasien; sein Einzugsgebiet beträgt 219.000 km2. Amu Darja und Syr Darja lenken die Fließwasservorräte des gesamten Beckens oder zumindest das, was davon übrig bleibt, in den Aralsee.

Ein Vergleich des Wassereinzugs der beiden Flüsse mit der zur Bewässerung verwendeten Wassermenge zeigt, wie ungleich der Wasserverbrauch für landwirtschaftliche Zwecke zwischen den einzelnen Staaten verteilt ist (vgl. Tab. 1). Wird das Aralseebecken unter Hintanstellung der heutigen Staatsgrenzen als geographische Einheit betrachtet, bietet es sich an, am Oberlauf Staubecken zu bauen, die am Unterlauf die Ausweitung der bewässerten Flächen erlauben. Diese Möglichkeit wurde in der Vergangenheit am Syr Darja stärker genutzt als am Amu Darja. Einige der Staudammprojekte erstrecken sich auch über Republikgrenzen hinweg.

Tabelle 1: Wassereinzug von Syr Darja und Amu Darja
(jährlicher Durchschnitt in km³) und bewässerte Fläche (in ha)
Syr Darja Amu Darja
km³ ha km³ ha
Kasachstan 2,4 786.000
Kirgistan 27,6 410.000 1,6 65.000
Tadschikistan 1 271.000 49,6 467.000
Turkmenistan 1,5 1.700.000
Usbekistan 6,2 1.883.000 5,1 2.250.000
Afghanistan 21,6 385.000
Gesamt 37,2 3.350.000 79,3 4.317.000

Am Syr Darja sind drei Speicherseen von besonderem Interesse (vgl. Tab. 2). Der Toktogul-Stausee bietet Kirgistan die Möglichkeit, die Wassermenge des Naryn und damit des Syr Darja aktiv zu regulieren. Der Andischan-Stausee liegt im Grenzgebiet von Usbekistan und Kirgistan. Der Kairakkum-Stausee wurde in Tadschikistan an einer strategischen Stelle am Ausgang des Ferghana-Tals gebaut, von wo aus Usbekistan und über den Dustlik-Kanal auch ein kleineres Gebiet der kasachischen Provinz Ontüstik (Südkasachstan) mit Wasser versorgt werden, bevor der Syr Darja zum Tschardara-Stausee in Kasachstan weiter fließt. Da die Oberanrainer in sowjetischen Zeiten Energie aus den anderen Republiken geliefert bekamen, dienten die Stauwerke am Syr Darja damals vorwiegend zur Flussregulierung für die landwirtschaftliche Bewässerung. Die Gewinnung von Wasserkraft war eher ein Nebeneffekt.

Tabelle 2: Stauseen am Syr Darja
Syr Darja-Becken
Stausee Land Fluss Gesamtspeicher-
volumen (km³)
Nutzbares Speicher-
volumen (km³)
Toktogul Kirgistan Naryn 19,4 14
Andischan Usbekistan/Kirgistan Kara Darja 1,9 1,8
Kairakkum Tadschikistan Syr Darja 4 2,6
Tscharwak Usbekistan Tschirtschik 2 1,6
Tschardara Kasachstan Syr Darja 5,7 4,7

Im Amu Darja-Becken befindet sich der wichtigste Wasserspeicher für die landwirtschaftliche Bewässerung, der Tujamujun-See am Unterlauf des Flusses (vgl. Tab. 3). Auch er liegt in einem Grenzgebiet, nämlich dem von Usbekistan und Turkmenistan. Der Nurek-Stausee am Wachsch, dem kleineren der Zubringer, hat nur ein relativ kleines nutzbares Speichervolumen und war ursprünglich vor allem zur Gewinnung von Wasserkraft für die Nachbarstaaten gedacht. Da sich der Bau von Übertragungsleitungen aber als sehr teuer erwies, wird ein Teil der Hydroenergie nun doch direkt im Süden von Tadschikistan genutzt, wo ein Aluminiumwerk entstand.

Tabelle 3: Stauseen am Amu Darja
(* Sangtuda 1 ging erst
2009 in Betrieb)
Amu Darja-Becken
Stausee Land Fluss Gesamtspeicher-
volumen (km³)
Nutzbares Speicher-
volumen (km³)
Nurek Tadschikistan Wachsch 10,5 4,5
Baipasa Tadschikistan Wachsch 0,12 0,08
Sangtuda 1* Tadschikistan Wachsch 0,25 0,12
Tujamujun Usbekistan/ Turkmenistan Amu Darja 7,8 5,4

In Mittelasien verfügen die Länder am Oberlauf über erhebliche Wasserkraftpotentiale, während die Anrainerstaaten an den unteren Flussläufen wertvolle Bodenschätze wie Kohle, Gas oder Öl besitzen. Innerhalb der Sowjetunion waren die Länder wirtschaftlich sowohl im Agrarsektor als auch in der Energieerzeugung und -versorgung eng miteinander verflochten. Während die Oberanrainer im Sommer ihre überschüssige Energie in das mittelasiatische Übertragungsnetz einspeisten, wurden sie im Winter von den Unteranrainern mit fossilen Brennstoffen beliefert. So lieferte Tadschikistan 1990, d.h. im letzten Jahr vor der Unabhängigkeit, 2.668 GWh an seine mittelasiatischen Nachbarrepubliken und importierte selbst 3.927 GWh; Kirgistan exportierte 3.080 GWh und importierte im Gegenzug 601 GWh (Weltbank 2004). Auch bei der Nahrungsmittelversorgung wurde von den mittelasiatischen Sowjetrepubliken keine Autarkie erwartet.

Auflösung der Sowjetunion und Unabhängigkeit der mittelasiatischen Staaten

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Privatisierung der Industrie stiegen die Preise für Rohstoffe wie Kohle, Erdgas und Öl auf Weltmarktniveau, während der Energiepreis künstlich niedrig gehalten wurde. Da sich Kirgistan im Winter den Import der fossilen Brennstoffe für Heizung und Energieerzeugung nicht mehr leisten konnte, brachte es dem Land nur Nachteile, die Kapazitäten des Toktogul-Stausees am Syr Darja für die Bewässerung der Unteranrainer vorzuhalten. Also reduzierte Kirgistan in den Jahren 1991-2000 die durchschnittliche Abflussmenge des Toktogul-Sees im Sommer von 75% (8,1 km³) auf durchschnittlich 45% (6,1 km³). Diese Zahlen dürfen allerdings nicht überbewertet werden, da vor 1990 gelegentlich erhebliche Wassermengen abgelassen wurden, um ein Überlaufen des Stausees zu verhindern. Für Bewässerungszwecke wurden damals etwa 6,5 km³ benötigt.

Auch der Kairakkum-Stausee im Norden Tadschikistans wurde in der Sowjetunion zur Kontrolle der Bewässerung genutzt. Dieses Wasserkraftwerk (125 MW) bildet jedoch die einzige Stromquelle im Norden Tadschikistans. Nach der Unabhängigkeit wurde das Nutzungsregime des Stausees auf eine Maximierung der Stromerzeugung ausgerichtet, was für die Unteranrainer des Syr Darja Probleme schafft. Das Stauvolumen des flussabwärts gelegenen Tschardara-Stausees reicht nämlich nicht aus, um im Winter die zusätzlichen Wassermassen aus dem Toktogul-See beziehungsweise Kairakkum-See aufzunehmen. Obendrein ist der ungehinderte Abfluss des überschüssigen Wassers aus dem Tschardara-Stausee Richtung Aralsee blockiert, weil dann der Unterlauf zufriert. Das Hochwasser des Tschardara-Stausees wurde nach Usbekistan abgeleitet und führte zu Überschwemmungen in der Arnasai-Senke.

Um die Wasser- und Wasserkraftnutzung im Syr Darja-Becken besser zu regeln, schlossen die Regierungen von Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan im März 1998 ein zwischenstaatliches Abkommen. Darin sagten die Unteranrainer des Flusses zu, Kirgistan im Sommer Hydroenergie abzukaufen und das Land im Gegenzug im Winter mit anderen Brennstoffen zu beliefern. Wie viel Energie die Unteranrainer aufkauften – und damit auch, wie viel Wasser sie erhielten – sollte jährlich ausgehandelt werden. Im Juni 1998 wurden auch Tadschikistan und der Kairakkum-Stausee in das Abkommen eingebunden.

Eigentlich profitieren Usbekistan und Kasachstan doppelt von diesem Abkommen: Zum einen könnte Usbekistan den billigen Strom während der Wachstumsperiode in Usbekistan für die Pumpbewässerung verwenden, und Usbekistan wie Kasachstan könnten fossile Brennstoffe einsparen und für gutes Geld exportieren. Zum zweiten hätten sie genug Wasser für die Landwirtschaft. Leider sahen die beiden Länder den Zusatznutzen der billigen Stromversorgung nicht und versuchten, sich in der Stromversorgung von Kirgistan unabhängig zu machen. Um ihre Abhängigkeit vom Abfluss des Toktogul-Stausees zu reduzieren, suchten Usbekistan und Kasachstan nach Möglichkeiten, die anderen Zuflüsse des Syr Darja besser auszunutzen. Der Naryn ist zwar der größte Zufluss des Syr Darja (14,5 km³), jedoch ermöglichen kleinere Zuflüsse im Grenzland des Ferghana-Tals (Gesamtabfluss 11,7 km³), beispielsweise der Kara Darja (3,9 km³) oder der Tschirtschik (7,9 km³), Usbekistan einen weitgehenden Verzicht auf Wasser vom Toktogul-Stausee. Dadurch hängt die Menge Hydroenergie, die Kirgistan im Sommer exportieren kann, nun davon ab, wie viel Wasser die anderen Zuflüsse führen. Im Jahresdurchschnitt konnte Kirgistan seit 1998 noch 1.910 GWh exportieren und musste 300 GWh importieren.

Bilaterale Abkommen existieren momentan u.a. zwischen Kasachstan und Kirgistan sowie zwischen Usbekistan und Tadschikistan. Das Abkommen zwischen Kasachstan und Kirgistan regelt den Betrieb des Toktogul-Stausees. Allerdings scheint am Unterlauf des Syr Darja in Kasachstan zu wenig Wasser aus Kirgistan anzukommen. Ryabtsew (2008: 2) führt dies darauf zurück, dass das für Kasachstan bestimmte Wasser „teilweise in Usbekistan und Tadschikistan abgezweigt wird“, also von den Ländern am mittleren Flusslauf. Ein weiteres Abkommen zwischen Usbekistan und Tadschikistan bezüglich des Kairakkum-Stausees sieht wechselseitige Energielieferungen der beiden Partnerländer vor.

Datenerhebungen der Verwaltungseinheit, die für die Wasserzuweisungen an die Anrainerstaaten im Syr Darja-Becken zuständig ist, bestätigen, dass die Wasserzufuhr für Usbekistan im Vergleich zu anderen Anrainern in den meisten Jahren zuverlässiger funktioniert (vgl. Tab. 4). Im mittleren und unteren Amu Darja-Becken liegt die Infrastruktur für die usbekische Wasserversorgung in Turkmenistan. Daher hatte für die Sicherheit von Usbekistan eine zuverlässige Regelung mit Turkmenistan höchste Priorität. Die beiden Staaten einigten sich schon 1996 auf folgenden Modus: Usbekistan bezahlt jährlich 11,4 Millionen US$ als Pacht für die Pumpstationen der Wasserkanäle Richtung Buchara und Karschi sowie für die anteilige Wasserspeicherfläche im Tujamujun-Stausee. Über das Nutzungsregime des Nurek-Stausees in Tadschikistan gibt es keine Verträge mit den Unteranrainern, obwohl der Wasserstand in diesem See während der Winter- und Frühlingsmonate konstant sinkt und im Mai seinen niedrigsten Stand erreicht. 2002 exportierte Tadschikistan lediglich 266 GWh, musste aber 1.058 GWh importieren (World Bank, 2004). Auch zwischen den Provinzen ist das Wasser innerhalb von Usbekistan und Turkmenistan ungleich verteilt (vgl. Tab. 5). Dies ist aber eine innenpolitische Frage und wirkt sich auf den Betrieb des Nurek- oder Tujamujun-Stausees nicht aus.

Tabelle 4: Prozentuale Abweichungen von den
Wasserzuweisungen im Syr Darja-Becken
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Syr Darja (bis zum Tschardara-Stausee) 96 108 86 90 99 106 98 109 78
Kirgistan 125 105 74 52 64 56 56 81 65
Tadschikistan 107 120 91 93 93 90 89 99 66
Usbekistan 97 107 87 91 99 112 98 113 75
Kasachstan 60 81 61 72 86 90 95 99 85
Tabelle 5: Prozentuale Abweichungen von den
Wasserzuweisungen
im mittleren und unteren Amu Darja-Becken
Land Provinz/Region Flussabschnitt 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Turkmenistan Karakum-Kanal Mitte unterhalb der Messstation Kerki 79 79 95 95 88 95 92 102 82
Usbekistan Karschi-Kanal 91 117 101 88 97 91 98 112 96
Usbekistan Amu-Buchara-Kanal 86 119 116 102 105 97 117 115 98
Turkmenistan Lebap 82 105 121 100 103 98 101 111 99
Usbekistan Chorezm unterhalb von Tujamujun 64 52 115 100 101 100 102 98 52
Turkmenistan Taschaus 45 54 127 95 103 102 104 102 48
Usbekistan Karakalpakstan 43 37 113 101 90 97 94 95 41

Der aktuelle Konflikt

Auch wenn Kirgistan und Tadschikistan sich um Energieautarkie bemühten, konnten sie doch ihre Spitzenlasten im Winter nicht abdecken. Da sie über ein erhebliches Potential zur Erzeugung von Wasserkraft verfügen, ist es nicht verwunderlich, dass beide Länder alte sowjetische Pläne zum Bau weiterer Wasserkraftwerke aus der Schublade zogen. Dabei geht es um Kambarata 1 und 2 am Naryn sowie Rogun am Wachsch. Bei dem Treffen der fünf Staatspräsidenten im April 2009 waren sowohl Kambarata 1 als auch Rogun umstritten.

Der Protest von Usbekistan und Kasachstan gegen Kambarata 1 scheint zunächst nicht nachvollziehbar zu sein, da etwas weiter flussabwärts der Toktogul-Stausee ohnehin schon den Naryn reguliert. Würde Kirgistan allerdings gleichzeitig Kambarata 1 und den Toktogul-Stausee ablassen, könnte die Überschwemmungsgefahr in der Arnasai-Senke weiter steigen. Tadschikistan wiederum könnte den Pegel des Wachsch vollkommen kontrollieren, sollte der Rogun-Staudamm tatsächlich in voller Höhe (335 m) gebaut werden. Den Unteranrainern scheinen die ersten beiden Baustufen des Stauwerks (auf 225 m bzw. 285 m) keine Sorgen zu machen. Der Wasserablass im Winter könnte auch bei geringerer Dammhöhe so minimiert werden, dass im Sommer mehr Wasser für die Landwirtschaft zur Verfügung stünde. Die entscheidende Frage ist also, ob sich die Ober- und Unteranrainer der beiden Flüsse gegenseitig vertrauen und ob sie miteinander kooperieren.

Russland sagte kürzlich zu, den Bau und auch die Betriebsverantwortung von Kambarata 1 zu übernehmen. In Kirgistan scheint die politische Opposition gegen eine Kontrolle nationaler Infrastruktur durch Russland zu sein. Für die Unteranlieger des Syr Darja könnte dieses Arrangement jedoch eine Garantie für den bedrohungsfreien Betrieb der Staustufen darstellen. Russland sagte außerdem zu, den Rogun-Staudamm zu finanzieren, konnte sich mit Tadschikistan aber weder darauf einigen, bis zu welcher Dammhöhe gebaut werden soll, noch darüber, bei wem nach Fertigstellung des Damms die Entscheidungshoheit in Nutzungsfragen liegen soll. Momentan baut Tadschikistan den Staudamm daher aus eigener Kraft.

Beim Vergleich des Kostenaufwands der einzelnen Projekte mit den gültigen subventionierten Strompreisen fällt auf, dass sich beim momentanen Preisniveau kaum eines der Projekte wirtschaftlich rechnet (vgl. Tab. 6). In den Ländern rings um Mittelasien schwankt der Preis zwischen 3 und 5,6 US-Cent pro kWh (Angaben für Russland und Pakistan). Der durchschnittliche Preis liegt bei 3,5 US-Cent. Daraus ergibt sich, dass am Wachsch Rogun wirtschaftlich betrieben werden könnte und am Naryn höchstens Kambarata 2. Sollte allerdings Kambarata 1 nicht in Betrieb gehen, würden sich die Leistung und somit auch die Wirtschaftlichkeit von Kambarata 2 verringern. Überdies würde Kambarata 2 die Energiesicherheit von Kirgistan im Winter nicht ohne die erste Staustufe sichern können. Momentan ist das ganze Übertragungsnetz auf die usbekische Hauptstadt Taschkent ausgerichtet. Übertragungsleitungen in die mittelasiatischen Länder stecken noch in der Bau- oder sogar Planungsphase. Die Fokussierung des Versorgungsnetzes auf Taschkent könnte sich als Hindernis erweisen, wenn Strom von Tadschikistan Richtung Norden (sogar in die eigenen nördlichen Landesteile) oder von Kirgistan Richtung Süden geleitet werden soll, da die Leitungsgebühren wahrscheinlich aus politischen Gründen steigen würden.

Tabelle 6: Geplante Stauprojekte im Amu Darja- und
Syr-Darja-Becken
(Kapazitäten und Kosten)
Staudamm Land Fluss Gesamt-
speicher­
volumen
(km3)
Nutzbares Speicher-
volumen (km3)
Wasserkraft-
potential
Kosten/kWh (in US-Cent) Durchschnitts-
preis 2003 pro kWh (in US-Cent)
Kambarata 1 Kirgistan Naryn 5,4 3,4 5.200 GWh 7,17 1,4
Kambarata 2 Kirgistan Naryn minimal minimal 1.200 GWh 3,72
Rogun Tadschikistan Wachsch   13.100 GWh 2,46 – 2,83 0,5
  1. Baustufe 2,8 1,9
2. Baustufe 6,8 4,0
3. Baustufe 13,3 10,3

Schlussfolgerungen

Auch wenn sich bei dem Präsidententreffen in Almaty zwei Fronten zu formieren schienen, wird bei genauerer Betrachtung klar, dass dies nur oberflächlich gilt. Dies ist insbesondere bezüglich des Syr Darja-Beckens der Fall, wo der Mittelanrainer Usbekistan und der Unteranrainer Kasachstan jeweils mit unterschiedlichen Oberanrainern Abkommen schlossen. In dieser Konstellation hat Kasachstan die schlechtesten Chancen, ausreichend Wasser abzubekommen. Im Amu Darja-Becken haben sich zwar Turkmenistan und Usbekistan über das Nutzungsregime geeinigt, jedoch beschwert sich Usbekistan unter der Hand häufig, dass Turkmenistan zu viel Wasser abzweigt. Die Unteranrainer sind sich also in beiden Flussbecken nicht einig. Die Oberanrainer eint zwar der Wunsch, jeweils große Stauwerke zu bauen, jedoch unterscheiden sich ihre Interessen und Positionen abhängig von der Geschichte der bereits existierenden Stauwerke, den bestehenden Speichervolumina (und damit der Fähigkeit, den Unterlauf zu regulieren), der Relevanz der Zuflüsse für das jeweilige Flussbecken und der wirtschaftlichen Machbarkeit der geplanten Projekte.

Wie erläutert bringen die unterschiedlichen Nutzungsregime der projektierten Stauwerkkaskaden jeweils bestimmte Vor- oder Nachteile für die Unter- bzw. Oberanrainer der Flussbecken mit sich:

Ein maximaler Wasserabfluss im Winter ist für die Unteranrainer nachteilig.

Ein maximaler Wasserabfluss im Sommer ist für die Unteranrainer vorteilhaft, für die Oberanrainer aber nachteilig.

Ein gestufter Wasserabfluss – im Winter aus dem Stausee am Oberlauf und im Sommer aus dem Stausee am Unterlauf – hat kaum wirtschaftliche Auswirkungen auf die Unteranrainer, wird von diesen aus politischen Gründen jedoch als Nachteil empfunden, da diese Lösung die Unabhängigkeit und Machtposition der Staaten am Oberlauf stärkt.

Seit der Unabhängigkeit waren die fünf mittelasiatischen Staaten vor allem auf Autarkie bedacht und haben sich deshalb vom integrativen sowjetischen Ansatz verabschiedet, der für einen Nachteilsausgleich zwischen den Nachbarrepubliken sorgte. Eine Beteiligung von außen, z.B. von Russland, könnte in dieser Situation zur Stabilisierung beitragen. Könnte sich Tadschikistan dazu durchringen, den Rogun-Staudamm zusammen mit einem anderen Partner zu bauen, wäre dies ebenfalls ein positives Signal. Dabei sollte allerdings auch kritisch hinterfragt werden, welchen Vorteil sich Russland davon verspricht, im Syr Darja-Becken ein Staudammprojekt mitzufinanzieren, das zumindest vorläufig nicht wirtschaftlich zu betreiben ist.

Literatur

Forschungsstelle Osteuropa (2008): Zentralasienanalysen 08/2008. http://www.laender-analysen.de/zentralasien/pdf/ZentralasienAnalysen08.pdf.

Ryabtsev, A.D. (2008): Threats to Water Security in the Republic of Kazakhstan in the Transboundary Context and Possible Ways to Eliminate Them. http://www.icwc-aral.uz/workshop_march08/pdf/ryabtsev_en.pdf.

World Bank (2004): Central Asia. Regional Electricity Export Potential Study. http://siteresources.worldbank.org/INTUZBEKISTAN/Resources/REEPS_Main_Report_Final_English.pdf.

Dr. Kai Wegerich ist Assistant Professor in der Irrigation and Water Engineering Group der Wageningen University in den Niederlanden.