Erfolgreiche Simulanten

Erfolgreiche Simulanten

Zum didaktischen Potential von Model United Nations-Planspielen

von Dagmar Eichert und Kai Hebel

Die Vereinten Nationen befinden sich, mal wieder, in einer Krise: Korruption im »Öl für Lebensmittel«-Programm, sexueller Missbrauch durch Blauhelmsoldaten, weitgehende Reformunfähigkeit u.v.m. überschatten das 60. Gründungsjubiläum. Letzteres sollte trotzdem Anlass sein, sowohl Erfolge der Organisation als auch der VN-bezogenen, akademischen Lehre hervorzuheben. Dieser Artikel diskutiert Model United Nations (MUN)-Simulationen als ein besonders gelungenes Beispiel für das immense pädagogische Potential von Planspielen. Die politischen Mittel für eine grundlegende Erneuerung der Weltorganisation mögen fehlen; die Lehre zu den Vereinten Nationen – und, darüber hinaus: zu weltgesellschaftlichen Prozessen im allgemeinen – kann jedoch leicht und effektiv durch diese Methode reformiert werden.

Planspiele sind ebenso wie Rollenspiele Methoden simulativen Handelns. Kennzeichnend für die Simulation ist die möglichst realitätsgetreue Imitation eines realen Prozesses. Simulationsspiele eröffnen somit die Chance, „Entscheidungsfähigkeit in ungewohnten Zusammenhängen zu trainieren und mit neuen Sichtweisen zu experimentieren.“ (Hellert, S. 135)

Plan- und Rollenspiel stellen keine fest umrissenen Methoden dar, können jedoch trotzdem von einander abgegrenzt werden. Rollenspiele sind wenig verregelt; häufig werden nur Grundsituation und Rollenvergabe festgelegt. Die individuelle Ausgestaltung der Rollen durch die Teilnehmer beeinflusst somit das Spiel maßgeblich (Buddensiek, S. 369). Rollenspiele thematisieren häufig Konflikte, die nicht institutionalisiert sind, beispielsweise familiäre Streitigkeiten. Der didaktische Fokus liegt auf dem Verlauf des Konfliktaustrags und weniger auf der konkreten Problemlösung.

Planspiele hingegen sind vergleichsweise stark verregelt, ergebnisorientiert und behandeln institutionalisierte Konfliktaustragungs- und Regelungsmechanismen. Neben der prozessualen Konfliktlösung steht im Planspiel der Entscheidungszwang im Vordergrund. Dieser soll den Teilnehmern Einblicke in Kontexte sozialen Handelns bieten, in denen Machtgefüge, Interessendivergenzen sowie die Grenzen der damit verbundenen Kommunikationsabläufe das Handeln der Teilnehmer führen. Um dieses Lernziel zu erreichen, muss in einem Planspiel die Realität möglichst detailgetreu simuliert werden; es unterliegt dabei jedoch immer dem Prinzip der didaktischen Reduktion. Die Methode empfiehlt sich so nicht nur im Sinne gesteigerter Teilnehmer- und Handlungsorientierung (vgl. Geutling, S. 26f), sondern erweist sich als hervorragend für Inhalte der Sozial- und Geisteswissenschaften geeignet.

Der didaktische Wert dieser Methoden gilt in der Literatur als unbestritten (Gold, S. 57ff; Scholz, S. 81f). Dennoch werden sie nur selten in der universitären Lehre eingesetzt. Dieses Defizit erstaunt um so mehr, bedenkt man, dass ein sehr großer Teil aller Schüler und Studenten aufgrund der Dominanz herkömmlicher, direktiv-rezeptiver Formen der Stoffpräsentation nicht optimal lernen (Portele, S. 9). Direkt-rezeptiven Lernarrangements fehlt Handlungsorientierung, weswegen sie die Lernenden kognitiv wie affektiv zu wenig ansprechen. Ferner sind sie nicht genügend an den neuen Qualifikationsbedarf angepasst, so dass Schlüsselkompetenzen nicht ausreichend vermittelt werden. Planspiele als handlungsorientierte Methode stellen ein hervorragendes Mittel dar, den traditionellen Lehrbetrieb zu ergänzen und dessen Defizite zu mildern.

Welche Vorteile bieten Planspiele im Vergleich zu den vorherrschenden Lehrmethoden? Planspiele motivieren in hohem Maße, weil sie verschiedene Lerntypen ansprechen. Sie verbessern insbesondere soziale und kommunikative Fähigkeiten sowie die Selbstkompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darüber hinaus wird auch inhaltlich effektiv gelernt. Politisch-gesellschaftliche Planspiele mit hohem Konfliktpotential helfen Lernziele zu erreichen, die häufig lediglich beschworen werden: aktives Erfahren politikfeldspezifischer Prozesse im Gegensatz zu rezeptivem Lernen aus Vorlesungen und Büchern, Anregung eigener Lektüre, Kennenlernen typischer Verläufe von und Verhaltensmuster in Verhandlungen sowie die Fähigkeit im Krisenmoment zu entscheiden und die Konsequenzen zu tragen (vgl. Gold, S. 58; Portele, S. 17).

Diese Ziele werden in Schule und Universität oft teils oder gar komplett verfehlt. Das allgemeine Wehklagen hierüber führte jedoch bisher nicht zu einer konsequenten Anwendung von Planspielen als Bereicherung des Lehrportfolios. Das ist erstaunlich, denn Ausmaß und Vehemenz mit der an den eingeschliffenen, defizitären Methoden festgehalten wird, stehen in keinem Verhältnis zu den moderaten Bedenken, die in der Literatur vereinzelt zu finden sind. Im folgenden soll kurz auf Model United Nations-Planspiele eingegangen werden, um im Anschluss einen theoretisch-didaktischen Einwand gegen das Planspiel-Format per se an einem praktischen Beispiel diskutieren zu können.

Model United Nations-Simulationen werden insbesondere im anglo-amerikanischen Raum eingesetzt, um internationale Verhandlungen zu simulieren. Die TeilnehmerInnen agieren als Delegierte eines Mitgliedsstaates in einem Ausschuss der Vereinten Nationen und versuchen, die Interessen »ihres« Landes1 zu aktuellen Fragestellungen von weltpolitischer Tragweite so nachdrücklich wie möglich zu vertreten.2 In den grundsätzlich auf Englisch und gemäß VN-Verfahrensregeln durchgeführten Deliberationen werden die Positionen des Landes in formal gehaltenen Reden umrissen bevor in den informellen Verhandlungsrunden das Tauziehen um konkrete Formulierungen beginnt. Hier liegt der Teufel im diplomatischen Detail und so entscheidet sich oft erst nach langwierigen Verhandlungen, ob – um ein Beispiel zu nennen – die Generalversammlung die durch den Generalsekretär angestoßenen Reformen »begrüßt« oder lediglich von diesen »Notiz nimmt«. Am Ende der MUN-Konferenzen stehen durchweg in Fachsprache verfasste Resolutionsentwürfe, über die in UN-Manier nach dem Grundsatz »one state, one vote« abgestimmt wird.

MUNs blicken auf eine Tradition zurück, die bis ins Jahr 1923 zurückreicht als zum ersten Mal eine Simulation des Völkerbunds stattfand. Seit 1964 wird das renommierte National Model United Nations (www.nmun.org) in New York durchgeführt, an dem weit über 2.000 Studierende alle wichtigen UN-Organe simulieren. Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen geht davon aus, dass weltweit bis zu 200.000 Studenten und Schüler an MUNs teilnehmen. Mittlerweile kann auch in Deutschland von einer jahrelangen MUN-Tradition gesprochen werden,3 an einigen Universitäten sogar von einer »Simulationskultur«. Diese Hochschulen entsenden nicht nur Gruppen zu Simulationen, sondern integrieren MUNs regelmäßig in den eigenen Lehrbetrieb. Dass studentische Initiativen auch hierbei häufig entscheidenden Anteil haben, lässt auf ein Informationsdefizit in Bezug auf MUNs von Seiten des hauptamtlichen Lehrpersonals schließen. Oder können didaktische Einwände die Zurückhaltung erklären?

Zu den gehaltvolleren Kritiken gegen die Planspiel-Methodik zählt sicherlich, dass sie den zu betrachtenden Gegenstand in wissenschaftlich unzulässiger Weise verkürze. Das Prinzip der didaktischen Reduktion gilt jedoch gezwungenermaßen auch in der universitären Lehre, um soziale Komplexität überhaupt handhabbar zu machen. Gerade der Vergleich zwischen Realität und Simulation bietet eine wertvolle Gelegenheit, um gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Die gewonnene Erkenntnis der Teilnehmer um die Kontexte und Probleme politischen Handelns ermöglicht eine vertiefte Einsicht in das betrachtete Objekt, die besonders in den Nachbesprechungen zutage tritt. Diese Besprechungen, die obligatorisch jedem Planspiel folgen sollten, bilden die Grundlage für Analysen, die in ihrer Qualität herkömmlichen Diskussionen im Seminar in der Regel weit voraus sind.

Die didaktischen Vorzüge der Planspiel-Methodik im allgemeinen und der Model United Nations im speziellen legen nahe, die universitäre Lehre zu den Vereinten Nationen konsequent durch MUNs zu ergänzen. Dieses Konzept sollte jedoch nicht wie bisher auf Spezialistenkurse zu internationalen Organisationen beschränkt bleiben. Unsere eigenen Lehrerfahrungen ermutigen, das MUN-Format generell auf Seminare mit weltgesellschaftlichem Bezug auszuweiten sowie verschiedene Lehrveranstaltungen durch ein gemeinsames Planspiel miteinander zu verbinden – Model United Nations-Simulationen sind höchst facettenreiche und flexible didaktische Werkzeuge4, die weit mehr als Faktenwissen vermitteln. Das anstehende Jubiläum der Vereinten Nationen sollte Anlass sein, das Potential dieses Konzepts voll auszuschöpfen. Es gibt keinen Grund bis zum nächsten runden Geburtstag zu warten.

Literatur

Buddensiek, Wilfried: Rollen- und Simulationsspiele, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 1997, S. 369-373.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): UN Basis Informationen: Model United Nations. Bonn, DGVN, 2001, http://www.dgvn.de/pdf/bi-mun.pdf.

Edel, Andreas: Planspiele im Geschichtsunterricht – Ein Arbeitsbericht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jahrgang 50, Heft 5-6, 1999, S. 321-339.

Fröhlich, Manuel/ Gros, Jürgen: Außenpolitik erfahren und verstehen – Planspiel und Seminarkonzept zur Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa und der Welt. Mainz, Eigenverlag, 1995.

Geuting, Manfred: Soziale Simulation und Planspiel in pädagogischer Perspektive, in: Herz, Dietmar/Blätte, Andreas (Hrsg.): Simulation und Planspiel in den Sozialwissenschaften, Münster, Lit, 200, S. 15-62.

Gold, Volker: Probleme der Simulation politischer Prozesse im Planspiel. in: Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Simulations- und Planspiele in der Schule, Bad Heilbronn, Kleinhardt, 1977, S. 57-75.

Hellert, Inga Beningna: Interkulturelle Spiele zwischen Simulation und Alltag, in: Friesenhahn, Günter (Hg.): Praxishandbuch internationale Jugendarbeit. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2001, S. 135-140.

Klippert, Heinz: Planspiele – Spielvorlagen zum sozialen, politischen und methodischen Lernen in Gruppen. Weinheim/Basel Beltz, 1996.

McIntosh, Daniel: The Uses and Limits of the Model United Nations in an International Relations Classroom. International Studies Perspectives (2001) 2, S. 269-280. Malden/Oxford, Blackwell, 2001.

Portele, Gerhard: Zur Theorie des Simulationsspiels, in: Lehmann, s.o, S. 9-18.

Scholz, Lothar: Spielerisch Politik lernen – Methoden des Kompetenzerwerbs im Politik- und Sozialkundeunterricht. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 2004.

United Nations Society Marburg e. V., www.unsociety.de.

Anmerkungen

1) Um das Verständnis für die Positionen anderer Staaten zu vertiefen, wird bei den meisten MUNs darauf geachtet, dass die Teilnehmenden nicht ihr Herkunftsland repräsentieren.

2) Die Organisatoren der Simulation stellen die Themenliste (Agenda) zusammen und zirkulieren sie vorab, um eine sorgfältige Vorbereitung zu ermöglichen. Als Indiz für die Komplexität und Detailfülle von MUNs kann gelten, dass schon die Reihenfolge, in der die einzelnen Items debattiert werden sollen, ein Politkum darstellt. Viele Delegierte versuchen durch strategisch geschicktes »Agenda-setting« Themen, denen »ihr« Land Priorität einräumt, an den Anfang zu stellen, um möglichst lange über sie verhandeln zu können.

3) Schätzungsweise nehmen jährlich 1.000-1.500 deutsche Studentinnen und Studenten an MUNs im In- und Ausland teil.

4) Die ausführlichen VN-Geschäftsregeln können stark gekürzt und vereinfacht werde ohne dass der pädagogische Nutzen leidet; MUNs dauern häufig mehrere Tage, funktionieren jedoch auch, wenn nur wenige Stunden zur Verfügung stehen usw.

Dagmar Eichert unterrichtet Englisch, Geschichte und Politik an einem Gymnasium. Zur Zeit leitet sie die Delegation ihrer Schule zu »The Hague International Model United Nations« (THIMUN) in Den Haag. Kai Hebel arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg.

Zur Entwicklung des kindlichen Verständnisses von Krieg

Zur Entwicklung des kindlichen Verständnisses von Krieg

von Anne Geniets

„Krieg“, sagte der Siebenjährige, „hat mit Guten und Bösen zu tun, und es ist gut, Krieg zu führen, solange man ihn nicht beginnt. Die Guten sind diejenigen, die den Krieg nicht begonnen haben, sondern nur mitmachen – wenn sie nicht mitmachen würden, wären sie nichts.“ Darauf ein anderer Junge: „Ach komm schon, Krieg ist doch nur ein Streit, nicht das Ende der Welt.“ (Cooper, 1965, S. 1 – Übersetzung A. G.). Aus dieser Konversation wird ersichtlich, dass Kinder anscheinend ein ganz anderes Verständnis von Krieg haben als Erwachsene. Dass das kindliche Verständnis sich eng mit dem Weltverständnis entwickelt, ist ein solider Befund der Entwicklungspsychologie. Diesen Befund gilt es auch pädagogisch und therapeutisch fruchtbar zu machen.

Erklärt ein Staat einem anderen den Krieg, so definiert er kaum, was genau mit »Krieg« gemeint ist. Betroffene wissen aber in der Regel, was sie zu erwarten haben. Wie lernen Kinder, die nicht in Konfliktzonen aufgewachsen sind, was Krieg ist, was gewaltsame Konflikte sind? Diese Frage beschäftigt die Entwicklungspsychologie seit mehr als fünfzig Jahren.1 Wenn dieses Jahr der sechzigste Jahrestag der Gründung der UNO begangen wird, erinnert das auch an einen Neubeginn der Friedens- und Konfliktforschung, in der die kindliche Auseinandersetzung mit Krieg spätestens seit der Gründung der UNICEF 1946 eine wichtige Rolle spielt.

Entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse

Betrachtet man die Entwicklung von Kriegskonzepten bei Kindern, die nicht kriegsbeeinträchtigt sind, so stechen zwei Aspekte besonders hervor.2 Zum einen scheint die kognitive Entwicklung eine wesentliche Rolle im Verständnis von Krieg zu spielen und zum anderen die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit. Beide Entwicklungsaspekte sind miteinander verbunden. Ganz grob lässt sich der Verlauf der Forschung zu Kriegskonzepten von Kindern in zwei Phasen aufteilen: In den 1960er und 70er Jahren fokussierten einschlägige wissenschaftliche Studien eher auf kognitive Veränderungen im kindlichen Verständnis von Krieg. Während der 80er und 90er Jahre standen eher soziale Beziehungen und Umweltfaktoren im Zentrum des Interesses (Oppenheimer et al., 1999), in der Regel unter Einbezug der bereits erforschten kognitiven Aspekte. Die Entwicklung des Moralverständnisses spielte in beiden Forschungsphasen eine wichtige Rolle.

Einer der ersten Forscher, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem kindlichen Verständnis von Krieg auseinander setzte, war Peter Cooper (1965). Cooper interviewte 300 englische Schulkinder im Alter von 6 bis 16 Jahren zu ihren Vorstellungen von Krieg und Frieden. Er fand heraus, dass es eine starke Verbindung zwischen dem Nachdenken über Krieg und den Rollen, Strategien und der Logik gibt, die Kinder in Spielen und im täglichen Leben anwenden. Den Erwerb verschiedener Konzepte und Schemata analysierte Cooper mit Hilfe der sog. »strukturgenetischen Entwicklungstheorie« des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Diese Theorie besagt ganz grob, dass die geistige Entwicklung über verschiedene Stufen verläuft und sich durch den schrittweisen Erwerb der Kompetenz zum reversiblen, d. h. sich die Umkehrbarkeit von Operationen zunutze machenden Umgang mit der Welt auszeichnet. Mit anderen Worten, das kindliche Denken und Verstehen beginnt mit einfachem, reflexhaftem Reagieren auf konkrete Reize und wird mit zunehmendem Alter immer komplexer, abstrakter und flexibler (Piaget, 1970; vgl. Flammer, 1996).

Im Lichte dieser Theorie fand Cooper heraus, dass jüngere Kinder Krieg vor allem anhand von historischen Objekten beschrieben. Jüngere Kinder schienen mit Krieg vor allem Objekte wie Waffen, Flugzeuge und Schiffe und (etwas weniger häufig) Soldaten zu verbinden, kaum aber Kriegshandlungen und Kriegskonsequenzen. Kriegsparteien wurden zwar oft in »die Guten« und »die Bösen« eingeteilt, dies in der Regel aber darauf basierend, wer den Krieg begonnen hatte. Erst ältere Kinder und Jugendliche waren in der Lage, kriegerische Handlungen anderer (Gegner) zu erklären, indem sie ihnen beispielsweise feindliche Motive zuschrieben. Dass erst ältere Kinder in der Lage sind zu differenzieren, wie »gerecht« und »fair« ein Krieg ist, scheint mit der Entwicklung des moralischen Urteils zusammenzuhängen.

Der Begriff »moralisches Urteilen« ist fest mit Lawrence Kohlberg verbunden. Kohlberg führte in den 60er Jahren Piagets Beobachtungen über die kognitive Entwicklung und die Entwicklung des regelgeleiteten kindlichen Spiels weiter. Piaget hatte in seinen Studien entdeckt, dass sich die Aushandlung und Anwendung von Spielregeln und das Spielverhalten je nach Altersgruppe qualitativ unterscheiden3 Kohlberg baute diese Stufen der Spielregelentwicklung und Regelaushandlung zu einer Sechs-Stufen-Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils aus. Er fand zudem davon heraus, dass sich die Wahrnehmung von Gerechtigkeit mit diesen Stufen verändert. So ist beispielsweise für jüngere Kinder bis zu 7 oder 8 Jahren gerecht, was eine Autorität konsistent fordert, d. h. was sie lobt oder bestraft. Für ältere Kinder ab 8 bis 11 Jahren ist gerecht, was für alle gleich ist. Für Kinder ungefähr ab 11 bis 12 Jahren, ermisst sich Gerechtigkeit (auch) an den Bedürfnissen der Betroffenen (Kohlberg, 1996; vgl. Flammer, 1996). Es erscheint daher nicht weiter erstaunlich, dass Cooper (1965) zufolge für Erwachsene offensichtliche Faktoren, wie beispielsweise Gründe, weshalb es zu einem Krieg kommt, von kleineren Kindern in der Regel nicht berücksichtigt werden, und dass das Nachdenken über Kriegshandlungen und Konsequenzen, aber auch über moralische Hintergründe und Aspekte wie Fairness und Menschlichkeit erst ab dem Teenageralter beginnt.

Cooper (1965) kam zum Schluss, dass Kinder ihre aus verschiedenen Spielen und Streit angeeigneten und erprobten Schemata auf andere, »neue« Spiele, wie beispielsweise Kriegsspiele übertragen, die ihrerseits durch Informationen aus der Umwelt angeregt und genährt werden. Aus diesem Zusammenspiel entsteht ein individuelles kindliches Konfliktschema, aus dem Nachdenken über persönliche, soziale und internationale Konflikte resultiert.

Zu ähnlichen Resultaten kamen Alvik (1968) und Rosell (1968) ein paar Jahre später. Alvik untersuchte 114 norwegische Kinder im Alter von 8, 10 und 12 Jahren und unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft. Kinder aller untersuchten Altersstufen fokussierten eher auf konkrete Aspekte von Krieg; sozioökonomische Faktoren schienen dabei keine besondere Bedeutung zu haben. Rosell untersuchte, welche Rolle die soziale und politische Umgebung in der Entwicklung des Kriegskonzepts von 8, 11 und 14 jährigen Kindern spielt. Wie schon Cooper und Alvik fand auch er, dass die 8jährigen Kinder Krieg eher anhand von Kriegsaktivitäten wie beispielsweise Kämpfen und Schießen etc. beschrieben, während die älteren, 11-14 jährigen Kinder sich eher Gedanken über Folgen von Krieg machten, führte dieses Phänomen aber auf altersbedingte Sozialisationsunterschiede zurück. Das heißt, er vermutete, dass ältere Kinder aufgrund ihrer geistigen Entwicklung und der längeren Sozialisationsdauer (Schule, Medien etc.) eher dazu angeregt werden, über Konsequenzen von Krieg nachzudenken.

Es dürfte damit klar sein, dass das Verständnis von Krieg stark vom Alter des jeweiligen Kindes abhängt. Sozialisationsfaktoren, aber auch historisches Wissen und kulturelle Einflüsse scheinen zusätzliche Faktoren in der Entwicklung des Kriegskonzepts zu sein. Dies mag erklären, weshalb ein komplexeres kognitives und vor allem auch moralisches Verständnis von Konflikten und Krieg, wie Erwachsene es normalerweise aufweisen, vor einem Alter von frühestens 11 bis 12 Jahren kaum wahrscheinlich ist.

Verschiedene Studien folgten diesen grundlegenden Arbeiten, angepasst an die sich verändernde Natur von Krieg und Bedrohung und unter verstärktem Einbezug von Faktoren wie Kultur und sozialer Entwicklung. Einige Befunde, wie beispielsweise die von Falk und Selg (1982), widersprachen Coopers Konzeption einer stufenartigen Entwicklung des Kriegsbegriffs, andere wiederum unterstützten sie eher. Ein Faktor, der sich seit Coopers Arbeit allerdings deutlich verändert hat, ist sicher der Medieneinfluss. Auch wenn einige frühe Studien (beispielsweise Rosell, 1968) Medien am Rande als Sozialisationsfaktoren miteinbezogen, kann man davon ausgehen, dass heute, in einem multimedialen Zeitalter, in dem bereits Kleinkinder bewusst oder unbewusst Bildern und Informationen von Kriegsschauplätzen ausgesetzt sind, den Medien im Prozess der Konzeptbildung ein weitaus grösserer Stellenwert zukommt als noch in den 1960er Jahren. Leider ist die Forschung zum Medieneinfluss auf die Kriegskonzeptentwicklung bis heute eher spärlich.4

Wenngleich die skizzierten Studien recht unterschiedlich nach Ansatz und Ergebnissen sind, verorten sie doch alle den Grundmechanismus der Aneignung und Entwicklung des Kriegskonzeptes in der spielerischen Auseinandersetzung von Kindern mit ihrer Umwelt. Wie können diese Erkenntnisse für kriegsunversehrte Kinder in konfliktpräventiver und friedenspädagogischer Hinsicht und für kriegsversehrte Kinder in therapeutischer Hinsicht genutzt werden?

Anwendungen in Pädagogik und Therapie

In lebhafter Erinnerung ist mir ein Gespräch mit einer Lehrerin in einer Schule in Großbritannien, in der ich 2004 eine Untersuchung über die kindliche Wahrnehmung von Krieg durchführte. Die Lehrerin klagte, wie grässlich es doch sei, dass die Kinder in der Pause nur noch Krieg zu spielen wüssten und dass dies sicher auf die zunehmende Gewalt im Fernsehen und in Computerspielen zurückzuführen sei.

Auch wenn oder weil ich die Bedenken der Lehrerin über die Gewalt in den Medien verstehe und teile, würde ich die Argumentation anders führen: Gerade weil soviel Gewalt und Krieg in den Medien gezeigt wird, halte ich es für essentiell, dass Kinder sich spielerisch ausdrücken können. Bis heute ist in der Medienpsychologie umstritten, ob Medieninhalte sich langfristig traumatisierend auswirken haben können. Gerade deshalb erscheint es mir wichtig, die Kinder die Spiele ihrer Wahl spielen zu lassen, die Inhalte aber nachher mit ihnen zu thematisieren. Eine solche Thematisierung kann für ältere Kinder auf einer sachlichen und eher rationalen Ebene erfolgen, sollte für jüngere Kinder aber auf einer eher emotionalen, kreativen Ebene stattfinden. Aus den oben dargestellten Befunden wird deutlich, dass vorwiegend auf das intellektuelle Verständnis von Krieg und Konflikten abzielende friedenspädagogische Bemühungen vor einem Alter von elf oder zwölf Jahren wenig Sinn machen. Rollenspiele und alle mit Konfliktlösung verbundenen kreativen Aktivitäten sind besonders für jüngere Kinder ideal. Äusserst wichtig erscheint mir jedoch, dass Medien- und Friedenspädagogik in Zukunft Hand in Hand und nicht getrennte Wege gehen.

Etwas anders sieht die Praxislage für kriegsversehrte Kinder aus. Nach Angaben des Sonderbeauftragten der UNO für Kinder in bewaffneten Konflikten wurden in den letzten 10 Jahren weltweit rund 30 Millionen Kinder direkt oder indirekt (als Flüchtlinge) durch Krieg betroffen.5 Viele Kinder, die einen Krieg überleben, tragen für den Rest ihres Lebens gravierende psychische Folgen davon. Nicht wenige entwickeln eine Posttraumatische Belastungsstörung oder andere Syndrome. Kinder bauen ihre Interpretation der Kriegsgeschehnisse auf ihr Kriegskonzept, so weit es bis zum Zeitpunkt der Kriegserfahrung entwickelt wurde. Wie ein Kind mit körperlichen, seelischen und psychosozialen Folgen von Extrembelastungen umgeht, hängt sehr stark von seiner persönlichen psychischen Disposition, seinen Erfahrungen, der Situation in seinem Umfeld (z.B. Traumatisierung der Eltern etc.) ab, aber auch seiner geistigen Entwicklung. Kinder, die einen Krieg erleben oder in einem Krieg aufwachsen, sind häufig geistig »erwachsener« als gleichaltrige kriegsunversehrte Kinder. In sozioemotionaler Hinsicht zeigen Kriegskinder aber häufig regressive Tendenzen. Ihr körperliches Wachstum ist oft aufgrund von Hunger oder Mangelernährung oder infolge von Krankheiten verlangsamt und beeinträchtigt. Zu der existentiellen Bedrohung, zu Angst und Hunger, kommen vielfach Veränderungen der Familienstruktur, und nicht selten müssen (vor allem ältere) Kinder die Rolle eines Elternteils oder eines Erwachsenen übernehmen. Spielen wird so während des Krieges zu einem überlebensnotwendigen Schutz für Kinder, zu einer Gelegenheit der Verarbeitung des unverständlichen und traumatischen Alltags, zur Einpassung des Erlebten in das vorhandene Kriegskonzept und gleichzeitig zu einer Flucht in eine Welt, in der Kinder selbst über den Ausgang der Geschehnisse bestimmen können. Spielen übernimmt so eine wichtige Funktion für das Überleben der Kinder. Nicht von ungefähr war, wie Eisen (1988) berichtet, während des Nationalsozialismus in Ghettos wie dem Warschauer Ghetto kein einziger Spielplatz, keine einzige Spielwiese für Kinder zu finden. Eisen beschreibt auch, wie jüdische Kinder in einem Konzentrationslager, die eines Tages von einem erwachsenen KZ-Insassen ermuntert wurden, doch mal was anderes als »Blockade«, »Durchs Tor gehen« oder »Gaskammer« zu spielen, wie zum Beispiel »Cowboy-und-Indianer«, diesen Vorschlag vehement verwarfen.

Spielen dient aber auch nach dem Krieg für traumatisierte Kinder als Therapie und kann die Verarbeitung des Erlebten unterstützen. Gerade weil Kinder kriegerische Geschehnisse nicht mit dem rationalen Verständnis einer erwachsenen Person erfassen und verstehen können, ist es essentiell, dass eine Begleitperson ihnen das Erlebte interpretieren hilft und sie in diesem Prozess unterstützt. Die Kinder fühlen sich so in ihrem Spiel zu Hause und gewähren zugleich Therapeutinnen und Therapeuten Einblick in eine Welt, die durch Worte kaum erschlossen werden kann.

Ob wir als Therapeutinnen und Therapeuten mit kriegstraumatisierten Kindern arbeiten oder als Eltern oder Erzieherinnen und Erzieher mit kriegsunversehrten Kindern in Kontakt kommen, wichtig ist, nie zu vergessen, dass Kinder einen Großteil ihres Verhaltens durch Beobachten und spielerische Imitation erlernen (Holt, 1983; Oerter, 1999). Kriegsspiele, von kriegsversehrten und kriegsunversehrten Kindern, sollten daher immer als Ausdruck solcher Imitation und solchen Beobachtens verstanden werden. Statt Spielen zu verbieten oder Kinder wegen ihrer Spiele zu tadeln, sollten wir die Kinder ermutigen, auch schwierige Spiele zu spielen, das Gespielte aber anschließend altersgerecht mit ihnen thematisieren. Vielleicht können wir als Erwachsene damit den Kindern ein kleines Stück dessen zurückgeben, was wir ihnen durch Konflikte und Krieg, durch Streitereien und gewaltvolle Medien tagtäglich rauben – ein Stück ihrer Kindheit.

Literatur

Alvik, T (1968): The development of views on conflict, war and peace among school children. A Norwegian case study. Journal of Peace Research, 5, 171-195.

Cooper, P. (1965): The development of the concept of war. Journal of Peace Research, 2, 1-17.

Eisen, G. (1988): Children and Play in the Holocaust. Games Among the Shadows Amherst, MIT.

Falk, A. & Selg, H. (1982): Die Begriffe »Krieg« und »Frieden« in der Vorstellung von Kindern und Jugendlichen. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 29, 353-358.

Flammer, A. (1996). Entwicklungstheorien. Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung. Bern, Huber.

Hakvoort, I. & Oppenheimer, L. (1998): Understanding peace and war: A review of developmental psychology research. Developmental Review, 18, 353 – 389.

Holt, J. (1983): How children learn. London, Penguin Books.

Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der moralischen Entwicklung. Frankfurt/M., Suhrkamp.

Münch, I. v. & Klingst, M. (1983): Abrüstung – Nachrüstung – Friedenssicherung (S. 17-22). München, dtv.

Oerter, R. (1999): Psychologie des Spiels. Weinheim, BeltzPVU.

Oppenheimer, L., Bar-Tal D., Raviv A. (1999): Introduction – Understanding peace, conflict, and war. In A. Raviv, L. Oppenheimer & D. Bar-Tal (1999). How children understand war and peace – A call for international peace education. San Francisco, Jossey Bass.

Piaget, J. (1970): Piaget’s theory. In P.H. Mussen (Ed.), Carmichael’s manual of child psychology (pp. 703-732). New York, Wiley.

Rosell, L. (1968): Children’s views of war and peace. Journal of Peace Research, 5, 268-276.

Anmerkungen

1) Zum Kriegsverständnis Erwachsener sei hier nur auf die Resolution 3314 der Generalversammlung der Vereinten Nationen (14.12.1974) zur Definition des Begriffs der Aggression verwiesen (vgl. Münch & Klingst, 1983).

2) Die Ausdrücke »Begriff«, »Konzept« und »Verständnis« werden im Folgenden synonym verwendet.

3) Gemäss Piaget durchläuft das Kind mit zunehmendem Alter folgende Spiel-Stadien: »motorisch und individuell«, »egozentrisch«, »beginnende Kooperation«, »Kodifizierung der Regeln« und »Regelaushandlung (Flammer, 1996).

4) Gute Überblicke zur Forschungslage geben Hakvoort & Oppenheimer (1998) und Oppenheimer et al. (1999).

5) Offizielle Zahlen der UN: 6 Millionen kriegsversehrte Kinder und 2 Millionen getötete Kinder in den letzten 10 Jahren, 13 Millionen Kinder vertrieben im Landesinneren, 300.000 Kinder Soldaten, 10.000 Kinder Opfer von Landesminen jedes Jahr, 10 Millionen Kinder Flüchtlinge. Quelle: http://www.un.org/special-rep/children-armed-conflict/English/Overview.html [02.05.05]

Anne Geniets hat in der Schweiz Entwicklungs- und Medienpsychologie sowie Psychopathologie studiert (Lic. phil.-hist.). Sie arbeitet zur Zeit an der Oxford University/Department of Experimental Psychology an einer Dissertation zum Thema „Sozialkapital und politisches Engagement von Jugendlichen“

Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse

Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse

Internationale Konferenz des Transdisziplinären Forums Magdeburg

von Julia Reuter und Matthias Wieser und Aram Ziai

Zum zweiten Mal luden junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität zur internationalen Konferenz (2.-4. Juli 2004) des Transdisziplinären Forums Magdeburg (TransForMa) ein. Der Name Trans-ForMa ist hierbei Programm: Die Magdeburger Konferenz ist eine grenzüberschreitende Veranstaltung, was sich nicht nur in der zweisprachigen Organisation (deutsch und englisch) widerspiegelt. Die über 150 TeilnehmerInnen kamen aus mehr als 15 Ländern. Neben PolitikwissenschaftlerInnen und SoziologInnen traf man auf PhilosophInnen, LiteraturwissenschaftlerInnen, MedienwissenschaftlerInnen oder EthnologInnen aus allen akademischen Gruppen. Die diesjährige Tagung stand unter dem Titel »Gewalt der Diskurse – Diskurse der Gewalt« und knüpfte damit thematisch an die letztjährige Auftaktveranstaltung »Reflexive Repräsentationen: Diskurs, Macht und Praxis im globalen Kapitalismus« an. Drei Tage lang wurde vor dem Hintergrund gegenwärtiger weltgesellschaftlicher Verhältnisse über die Verstrickung (physischer) Gewalt in Diskursen als auch über die Materialisierung der Diskurse in (physischer) Gewalt diskutiert. Wie im letzten Jahr standen auch dieses Mal vor allem neuere »radikale« Ansätze aus Diskurstheorie, Poststrukturalismus und Postkolonialismus im Vordergrund.

Den Auftakt zu einer sehr vielfältigen Bearbeitung des Themas Gewalt und Diskurs machte der international renommierte Politikwissenschaftler Rob B. J. Walker in seiner keynote address zu »Violence, Discourse and Sovereignty«. Am Beispiel der Übergabe der Regierungsgewalt von der US-Verwaltung an eine irakische Regierung verdeutlichte er, dass der unproblematische Gebrauch des gängigen Souveränitätsbegriffs der komplexen Problematik der Souveränität (die auch die diskursive Legitimation von Gewalt beinhaltet) in keiner Weise gerecht wird. Stattdessen gelte es die fortlaufende Herstellung unterschiedlicher Souveränitäten und ihre Funktionsweise genauer zu untersuchen und staatliche Souveränität nur als eine kontingente Antwort auf die Problematik zu verstehen. Die interessierten ZuhörerInnen wurden einer (hoffentlich) produktiven Verunsicherung ihrer sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten ausgesetzt und mit vielen offenen Fragen zurückgelassen, aber fertige Antworten zu liefern entspricht eben (glücklicherweise) nicht Walkers Verständnis von kritischer Wissenschaft.

Auf der Podiumsdiskussion am zweiten Tag diskutierte Walker zusammen mit der indischen Literaturwissenschaftlerin Shaswati Mazumdar, der US-amerikanischen Sozialwissenschaftlerin L.H.M. Ling und dem deutschen Philosophen Alfred Hirsch über die Möglichkeiten der politischen Partizipation, insbesondere nach dem Diskurs des »11. September«, die Beziehung zwischen dem linguistic turn und Gewalt und die Produktivität von Gewalt. Den spannendsten Beitrag lieferte Ling mit ihrer überzeugenden Kritik am Mainstream der Disziplin der Internationalen Beziehungen als einem bürgerlichen, kolonialen und patriarchalen Gebäude, das alternativen Ansätzen und Konzepten strukturell den Zugang verwehrt.

Auch wenn die Tagung von bereits etablierten Mitgliedern des Wissenschaftsbetriebs »gerahmt« wird, ist sie vor allem eine »innovative Denkbaustelle « für und von Postgraduierten, Graduierten und Studierenden, die gemeinsam über ihre Ideen und Forschungsarbeiten zum Thema in insgesamt 21 Panels auf gleicher Augenhöhe diskutieren. Dabei reichte das »gewaltvolle« Themenspektrum vom »Attentat in Erfurt« über linguistische Fragen zur »Sicherheit als Sprechakt« bis hin zur »neuen Ökonomie der Kriege«. Neben »typischen« Schauplätzen, wie Nordirland oder 9/11, rückten auch »Nebenschauplätze« der Gewalt in den Blick, angefangen von sehr plastischen Schilderungen des »Femizid in Nordmexiko 1993-2003« bis hin zur eher theoretischen Rekonstruktion »epistemischer Gewalt im biowissenschaftlichen Diskurs«. Methodologisch wechselten sich Makroanalysen beispielsweise zu »Hegemonie und Krieg« mit Mikroanalysen zu Identitätspolitiken in Alltag, Wissenschaft und Medien ab.

Trotz der thematischen Bandbreite gab es dennoch Parallelen: Wie keynote lecture und Podiumsdiskussion nicht ohne kritische Worte in Richtung Hardt und Negris Empire auskamen, gab es wohl kaum einen panel, in dem nicht der Name Michel Foucaults fiel. Verweise auf andere diskurstheoretische An- und Einsichten französischer Theoretiker, wie Lacan, Deleuze oder Laclau, die auf der ersten Magdeburger Konferenz noch dominierten, blieben aber eher Randnotizen. Etwas überraschend dagegen war die (nicht vollständige, aber weitgehende) »Leerstelle« im Hinblick auf Beiträge aus der Perspektive der neo-gramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie und ihres Konzepts des »neuen Konstitutionalismus«, zu denen im call for papers angeregt worden war.

Insgesamt eröffnete die Tagung ein breites Spektrum an Zugängen und Dimensionen von Gewalt und konnte damit einige blinde Flecken des klassischen Gewaltbegriffs sichtbar machen. Allerdings drohte durch die Ausweitung des Phänomenbereichs stellenweise der Gewaltbegriff zu entgleiten, in dem in undifferenzierter Weise von Gewalt als Macht gesprochen wurde. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa von Seiten des Arbeitskreises Gegenmacht, waren Widerstandsoptionen eher Randthemen. Nichtsdestotrotz schimmerte das kritische Selbstverständnis der TransForMa durch, die Konferenz war im Vergleich zum Vorjahr auch ein gutes Stück konkreter und politischer – den meisten Referierenden war an einer praktischen Diskursanalyse sehr viel gelegen.

Zwei Sammelbände, einer mit ausgewählten englischsprachigen Beiträgen und einer mit ausgewählten deutschen Beiträgen der Konferenz, sollen im nächsten Jahr erscheinen. Dann wird es wohl, wie jetzt schon zu hören war, eine dritte TransForMa geben (Infos unter www.transforma-online.de) – natürlich nur, wenn die Geldgeber nicht streiken oder hochschulpolitische Nützlichkeitsvorstellungen neoliberaler Prägung kritische Innovationen zugunsten technischer Innovationen einsparen!

Julia Reuter / Matthias Wieser / Aram Ziai (Aachen)

Intergruppenkonflikte

Intergruppenkonflikte

Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung

von Thorsten Bonacker & Ulrich Wagner

Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung beschäftigt sich mit verschiedenen Konflikten und Konflikttypen auf unterschiedlichen Ebenen, etwa mit Konflikten zwischen Staaten, zwischen Staaten und suprastaatlichen Organisationen, zwischen Ethnien, zwischen rivalisierenden Banden oder zwischen Angehörigen einer Mehrheit und denen einer Minderheit auf einem bestimmten Gebiet. Sie kann sich darüber hinaus mit gewaltsamen Konfliktverläufen oder mit Regelungsformen befassen. Eine andere Frage ist, auf welcher Ebene sie dies tut, denn selbst wenn man zwischenstaatliche Konflikte zum Gegenstand hat, können diese immer noch auf einer Mikroebene, bspw. auf der Ebene der Interaktion von Entscheidungsträgern, betrachtet werden. Im Folgenden geht es uns darum, Intergruppenkonflikte als möglichen Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Konfliktforschung zu beschreiben. Mit dem Gegenstand ist noch nichts über die Ebene der Forschung gesagt, d.h. man kann Intergruppenkonflikte sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene analysieren. Entscheidend ist, dass Intergruppenkonflikte solche Konflikte sind, die zwischen Gruppen ausgetragen werden. Welche Art von Gruppe, ob Organisationen, Staaten, soziale Bewegungen, Kleingruppen, Stämme oder soziale Gemeinschaften, kann dabei zunächst offen bleiben. Dies hat auch den Vorteil, dass man sich nicht von vornherein auf eine Konflikttheorie festlegen muss, sondern je nach Kontext und Forschungsebene unterschiedliche Konflikttheorien verwenden kann (vgl. Bonacker 2002).
Konflikte können innerhalb von Personen lokalisiert sein, zwischen Personen ausgetragen werden oder zwischen Gruppen stattfinden. Im ersten Fall sprechen wir von intrapersonalen Konflikten, im zweiten von interpersonalen und im letzten von Intergruppenkonflikten. Ein intrapersonaler Konflikt liegt beispielsweise vor, wenn eine Person ein Verhalten zeigt, das ihren eigenen ethischen Normen und Standards widerspricht, oder wenn eine Person widerstreitende Rollenanforderungen nicht vereinbaren kann. Interpersonale Konflikte sind hingegen Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen. Von intergruppalen Konflikten spricht man, wenn die Akteure von konfliktären Interaktionen Gruppen sind.

Was sind Intergruppenkonflikte?

Die Bezeichnung Intergruppenkonflikte kann sich auf konfliktäre Auseinandersetzungen zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen beziehen: Intergruppenkonflikte können zwischen Kleingruppen entstehen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Akteuren können als Form von Intergruppenkonflikten angesehen werden. Grundsätzlich kann man zwischen formell und informell organisierten Gruppen unterscheiden. Formell organisierte Gruppen sind als Konfliktakteure in der Regel klar zu erkennen, sie haben Ziele und Strategien formuliert und verfügen nicht selten über eine hierarchische Gliederung und haben recht eindeutige Erwartungen an ihre Mitglieder. Informell organisierte Gruppen lassen sich häufig nicht auf den ersten Blick als Konfliktparteien erkennen, weil die Mitgliedschaft in solchen Gruppen nicht geregelt ist. Während in formell organisierten Gruppen Loyalitäten auf eindeutigen Zugehörigkeiten beruhen und für alle Mitglieder auch über den konkreten Zeitpunkt gemeinsamer Anwesenheit hinaus erwartbar sind, beruht die Gruppenbindung in informell organisierten Gruppen häufig auf gemeinsam erlebten Ereignissen oder Ritualen. Weil hier die Gruppenloyalitäten und -bindungen nicht dauerhaft gesichert sind, stellen gemeinsame Gewalthandlungen ein probates Mittel für die Integration der Gruppe dar. Formell organisierte Gruppen können demgegenüber zwar auch gewaltsam handeln, aber sie tun dies aus anderen Gründen und auch in anderer Form. So können die festgelegten Ziele und das Selbstverständnis einer Gruppe so formuliert sein, dass Gewalt ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Ziele ist – etwa bei der Beschaffung von Ressourcen. In einem solchen Fall dürften Gruppen sehr viel resistenter gegenüber Versuchen einer gewaltlosen Konfliktregelung sein. Bei informellen Gruppen besteht hingegen das Problem, dass Gewalt hier nicht zweck- oder wertrational eingesetzt wird, sondern selbst Bestandteil der Gruppenkohäsion ist. Damit werden Gewalthandlungen wenig kontrollier- und erwartbar und lassen sich auch nur schwer vermeiden.

Teilbare und unteilbare Konflikte

Intergruppenkonflikte – wie auch interpersonale Konflikte – besitzen, nach einer sehr groben Einteilung, zwei mögliche Konfliktgegenstände: Konflikte entstehen, weil die Konfliktpartner um materielle Ressourcen streiten, oder Konflikte sind Auseinandersetzungen um Identitätsprozesse, d.h. diese Konflikte entstehen oder werden aufrecht erhalten, weil damit Identitäten abgesichert oder aufgewertet werden. Die Unterscheidung zwischen Ressourcen- und Identitätskonflikten ist weitgehend gleichzusetzen mit der zwischen vertikalen und horizontalen Konflikten, d.h. Konflikten, die auf unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen zurückgehen und solchen, die auf gesellschaftlicher Differenzierung auf gleicher Statusebene beruhen. Von Bedeutung ist diese Unterscheidung vor allem deshalb, weil mit diesen beiden Konfliktgegenständen zwei unterschiedliche Konflikttypen zusammenhängen: teilbare und unteilbare Konflikte. Teilbare Konflikte sind in der Regel Verteilungskonflikte, d.h. sie lassen sich (so Hirschman 1994; vgl. auch Dubiel 1997) im Prinzip lösen, auch wenn die Lösung in einer konkreten Situation aufgrund der Komplexität der Konfliktkonstellation – etwa aufgrund mehrerer heterogener Konfliktparteien oder unterschiedlicher Ressourcen – äußerst schwierig erscheint. Unteilbare Konflikte sind hingegen prinzipiell unlösbar, weil die Anerkennung von Identitäten nicht aufteilbar ist. Eine Lösung, so müsste man genauer sagen, über die Verteilung des Konfliktgegenstandes ist hier ausgeschlossen. In der jüngeren Konfliktforschung ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass Konflikte nicht von sich aus teilbar oder unteilbar sind, sondern dass es von der Wahrnehmung der Akteure abhängt, inwiefern Konflikte als teilbar oder unteilbar gelten. Ein möglicher Regelungsansatz wäre deshalb, an den Wahrnehmungsschemata der Konfliktparteien anzusetzen, die bspw. Konfliktursachen der anderen Konfliktpartei zurechnen (vgl. Bonacker/ Imbusch in press).

Innerstaatliche, zwischenstaatliche und transnationale Konflikte

Intergruppenkonflikte lassen sich zum einen auf unterschiedlichen Ebenen thematisieren, etwa auf der Makroebene bei der Frage nach der Funktion von Intergruppenkonflikten für die Integration und den Wandel moderner Gesellschaften, auf der Mikroebene bei der Frage nach Einstellungen und Interaktionen zwischen den Konfliktparteien oder auf der Mesoebene bei der Frage nach dem Organisationsgrad der Konfliktparteien und der Institutionalisierung von Konflikten (Bonacker 2002). Zum anderen weisen Intergruppenkonflikte aber unterschiedliche Bezugsrahmen auf. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Nationalstaat für die Konfliktforschung immer ein wichtiger Orientierungspunkt zur Formulierung von Forschungsfragen und -gegenständen war. Vor diesem Hintergrund können Intergruppenkonflikte entweder inner- oder zwischenstaatlich lokalisiert sein. Darüber hinaus sind Intergruppenkonflikte aber auch Ursache und Folge eines Prozesses der Deterritorialisierung und Denationalisierung, in dem der Nationalstaat zunehmend an Orientierungs- und Regelungskraft verliert.

Im Folgenden sollen kurz zwei Forschungsbereiche aus dem Marburger Zentrum für Konfliktforschung zu Intergruppenkonflikten vorgestellt werden, die zum einen innerstaatliche, interethnische Konflikte und zum anderen transnationale Konflikte um die Geltung von Menschenrechten zum Gegenstand haben.

Ethnische Vorurteile und rassistische Einstellungen

Auf der Einstellungsebene spiegeln sich interethnische Konflikte als Vorurteile und rassistische Überzeugungen wider. Auf der Basis von Umfragedaten und experimenteller Untersuchungen können wir zeigen, dass diese gleichermaßen durch wahrgenommene Auseinandersetzungen um beschränkte Ressourcen, wie durch Identitätsprozesse bedingt sind: Zuwanderer und ethnische Minderheiten werden besonders dann abgelehnt, wenn ihnen unterstellt wird, materielle Ressourcen wie Arbeitsplätze und Wohnraum der autochthonen Bevölkerung zu gefährden, oder wenn sie als Bedrohung der Identität der aufnehmenden Gesellschaft angesehen werden, weil sie beispielsweise als wichtig angesehene Standards der Kultur gefährden sollen (vgl. z.B. Wager & Zick 1995). In einem laufenden Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld zeigt sich, dass Einstellungen gegenüber Minderheiten besonders dann negativ ausfallen, wenn die Befragten keine persönlichen Erfahrungen mit Mitgliedern aus der Minderheit sammeln können: An den Daten einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 2002 zeigt sich, dass je weniger Menschen ausländischer Herkunft im Wohnbezirk leben und je weniger freundschaftliche Beziehungen zu Mitgliedern ethnischer Minderheiten bestehen, umso stärker die Ablehnung ist (Wagner, van Dick & Endrikat 2002). Der negative Zusammenhang zwischen der Zahl ausländischer Menschen im Wohnbezirk und den Vorurteilen der autochthonen Bevölkerung zu ethnischen Minderheiten widerlegt die oft von politischer Seite vorgetragene Argumentation von der Belastungsgrenze. Die Daten, auch in einer Replikation im Jahr 2003, zeigen eine solche Grenze nicht!

Diskriminierendes Verhalten zwischen Gruppen

Die Analyse von ethnischen Intergruppenbeziehungen hat nicht nur die gegenseitigen Einstellungen zum Thema, sie befasst sich auch mit Verhalten gegenüber Mitgliedern fremder ethnischer Gruppen, beispielsweise in Form diskriminierenden Verhaltens. In einer Serie von Feldexperimenten konnten Klink & Wagner (1999) zeigen, dass unter den gleichen vorgegebenen standardisierten Bedingungen Mitglieder ethnischer Minderheiten systematisch diskriminiert werden: Menschen ausländischer Herkunft, d.h. in diesem Fall mit einer Herkunft aus dem Nahen Osten, haben geringere Chancen, eine einfache Wegauskunft zu erhalten oder eine Wohnung zu bekommen. Umfrageergebnisse zeigen darüber hinaus, dass solche Formen diskriminierenden Verhaltens mit den Einstellungen der Befragten zusammenhängen – nicht nur gegenüber Zuwanderern: Befragte mit stärker fremdenfeindlichen Einstellungen neigen auch eher zur Diskriminierung von Türken, stärker antisemitisch eingestellte Personen zeigen diese Einstellung im Verhalten gegenüber Juden, Personen, die Behinderte negativ beurteilen, meiden auch den Kontakt mit Behinderten.

Gruppenbezogene Gewalt

Ethnische Intergruppenbeziehungen sind nicht nur durch Formen subtiler Diskriminierungen gekennzeichnet. Sie finden ihren Ausdruck auch in massiven, aggressiven Verhaltensweisen, in »hate crimes« oder Gewaltakten, die gegenüber Mitgliedern ethnischer Minderheiten gezeigt werden. Bislang gibt es kein umfassendes Modell zur Erklärung gruppenbezogener Gewalt. Mitglieder des Zentrums für Konfliktforschung in Marburg versuchen, diese Forschungslücke zu schließen. Umfragedaten zeigen, dass insbesondere fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen mit Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft zusammenhängen (Wagner, Christ & Kühnel 2002). Von Täterbefragungen ist bekannt, dass die Aggressoren gegen Mitglieder ethnischer Minderheiten sich in ihrem Handeln durch die breite Masse der Bevölkerung unterstützt sehen und sich als Akteure im Sinne des Volkswillens betrachten. Neueste Umfragedaten weisen darauf hin, dass das objektiv erfasste Gewaltklima im Wohnbezirk in der Tat die Gewaltbereitschaft potenzieller Täter signifikant beeinflusst (Wolf, Stellmacher, Wagner & Christ in press).

Prävention von Fremdenfeindlichkeit und Gruppenbezogener Gewalt

Von hervorgehobener Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Prävention fremdenfeindlicher Einstellungen und gruppenbezogener Gewalt. Analysiert werden hier beispielsweise die möglichen präventiven Wirkungen von Intergruppenkontakten. In einer gerade abgeschlossenen Dissertation hat Avci-Werning (in press) die Wirkung eines Programms überprüft, das darauf baut, in ethnisch gemischten Schulklassen kooperative Kontakte zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu fördern.

Jegliche Präventionsprogramme sind natürlich einer Überprüfung ihrer Wirksamkeit zu unterziehen. In verschiedenen Gutachten haben Mitglieder des Zentrums für Konfliktforschung Marburg darauf hingewiesen, wie wichtig die empirische Fundierung von Präventionsprogrammen ist (vgl. z.B. Rössner, Bannenberg et al. 2001; Wagner, Christ & van Dick 2002). Damit stellt sich für die Konfliktforschung die Frage der Politikberatung. Das Marburger Zentrum für Konfliktforschung hat zum Ziel, zu empirisch begründeten Aussagen über gesellschaftliche Gefahrenpotenziale und gesellschaftliche Veränderungen zu kommen und dies für Maßnahmen der Förderung von »evidence based politics« zur Verfügung zu stellen (vgl. Wagner, in press).

Transnationale Konflikte um Menschenrechte

Intergruppenkonflikte können nicht nur im innerstaatlichen Bereich als interethnische Konflikte angesiedelt sein. Als interethnische Konflikte könnten sie Staatsgrenzen auch überschreiten und insofern einen transnationalen Charakter bekommen. Ferner haben ethnologische Forschungen zum Rechtspluralismus am Max-Planck-Institut in Halle/Saale gezeigt, dass innerhalb sogenannter schwacher Staaten mehrere Gruppen in der Lage sind, geltende Rechtsordnungen durchzusetzen. In diesem Fall bewegen sich Intergruppenkonflikte zwar in einem staatlichen Bereich, der aber nicht mehr durch ein funktionierendes Gewaltmonopol oder eine gemeinsame Rechtsordnung gekennzeichnet ist.

Besondere Aufmerksamkeit erfahren gegenwärtig jene Konfliktlagen, die einen globalen Bezug aufweisen und in denen es darum geht, dass der Nationalstaat als Orientierungs- und Regelungsinstanz von Konflikten zunehmend unter Druck gerät. Das kann auch durch Intergruppenkonflikte der Fall sein. Ein Beispiel dafür sind Gruppen, die als Konfliktparteien den nationalstaatlichen Rahmen verlassen und als transnationale (Konflikt-)Akteure in Erscheinung treten. Ein prominenter Fall eines solchen transnationalen Akteurs ist die aus zahlreichen Organisationen und Gruppen bestehende Menschenrechtsbewegung, die auf internationaler Ebene mittlerweile zusammen mit staatlichen und suprastaatlichen Organisationen ein umfassend institutionalisiertes Menschenrechtsregime herausgebildet hat. Regime als „principles, norms, rules and decision making procedures around which actor expectations converge in a given issue-area“ (Krasner 1982: 185; vgl. Zürn 1992) bilden auf der einen Seite Instrumente der Konfliktregelung aus, die gerade auch Intergruppenkonflikte zwischen Gruppen innerhalb eines Staatsgebiets betreffen, etwa zwischen einer regierenden ethnischen Gruppe, die andere Gruppen von gesellschaftlichen Leistungsbereichen wie kollektiven politischen Entscheidungen ausschließt. Das Menschenrechtsregime ermöglicht hier eine internationale Regelung vormals ausschließlich nationalstaatlicher Konflikte. Andererseits wirkt das Menschenrechtsregime aber auch in zwei Richtungen Konflikt fördernd: Erstens gibt es nationalen wie transnationalen Gruppen dort die Möglichkeit zum legitimen Konflikt, wo bislang autoritäre Herrschaftsformen Konflikte bspw. um die Beteiligung an politischer Macht oder um kulturelle Autonomie erfolgreich unterdrücken konnten. Zweitens reißt das auf globaler Ebene institutionalisierte Menschenrechtsregime trotz aller Implementierungs- und Durchsetzungsprobleme die Schranken nationaler Souveränität erkennbar ein. Dies hat dazu geführt, dass Konflikte im internationalen Bereich eskalieren können, weil sie moralisch gerechtfertigt erscheinen. Die Menschenrechte werden hier zu einer symbolischen Ressource, die sowohl integrativ mit Blick auf die Herausbildung eines globalen Rechts als auch – etwa im Fall humanitärer Interventionen – desintegrativ wirken kann (Bonacker & Brodocz 2000).

In einer Studie am Marburger Zentrum für Konfliktforschung konnte in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass gerade die Uneindeutigkeit des Bedeutungsgehalts der Menschenrechtsnorm dazu führt, dass sich unterschiedliche Gruppen mit ihren Forderungen und Wahrnehmungen auf Menschenrechte beziehen (Bonacker 2003). Entscheidend ist hier nicht die strategische Verwendung von Menschenrechten zur Legitimation eigener Positionen, sondern der indirekte Zwang, der von der Menschenrechtsnorm gerade aufgrund ihrer Deutungsoffenheit ausgeht. Auf globaler Ebene symbolisiert sie die Geltung einer Welt(rechts)gesellschaft, an der nationale wie transnationale Gruppen nicht vorbeikommen. So müssen beispielsweise auch autoritäre Regierungen ihr Handeln international als menschenrechtskonform darstellen, wollen sie nicht Sanktionen riskieren.

Intergruppenkonflikte können, zusammenfassend gesagt, verschiedene Formen haben und auf unterschiedlichen Ebene analysiert werden. Als Rahmen für Intergruppenkonflikte dient in der Regel der Nationalstaat, so dass man zwischen innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Intergruppenkonflikten unterscheiden kann. Allerdings können Intergruppenkonflikte diesen staatlichen Rahmen überschreiten und als transnationale Konflikte zu dessen Auflösung bzw. Veränderung beitragen. Als Gegenstand für die sozialwissenschaftliche Konfliktforschung sind sie deshalb und weil sie sich weder auf zwischenstaatliche noch auf interpersonale Konflikte reduzieren lassen, von besonderem Interesse.

Literatur

Avci-Werning, M. (in press): Prävention und Reduktion ethnischer Konflikte in der Schule. Münster, Waxmann.

Bonacker, T. & Brodocz, A. (2000): Im Namen der Menschenrechte. Zur symbolischen Integration der internationalen Gemeinschaft durch Normen. In: Zeitschrift für internationale Beziehungen 8, 178-208.

Bonacker, T. & Imbusch, P. (in press): Sozialwissenschaftliche Konfliktforschung. In: Albert Fuchs / Wilhelm Kempf / Gert Sommer (Hrsg.): Friedens- und Konfliktpsychologie. Weinheim, Beltz.

Bonacker, T. (2002): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – Einleitung und Überblick. In: T. Bonacker (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Opladen, Leske + Budrich, 9-27.

Bonacker, T. (2003): Die Evolution der Weltgesellschaft durch Menschenrechte. Münster.

Dubiel, H. (1997): Unversöhnlichkeit und Demokratie. In: W. Heitmeyer (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt am Main, Suhrkamp, 425-444.

Hirschman, A. O. (1994): Wie viel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft? In: Leviathan 2, 293-304.

Klink, A. & Wagner, U. (1999): Discrimination against ethnic minorities in Germany: Going back to the field. In: Journal of Applied Social Psychology 29, 402-423.

Krasner, S. D. (1982): Structural Causes and Regime Consequences: Regimes as Intervening Variables. In: International Organization 36, 178-201.

Rössner, D., Nannenberg, B., Wagner, U., van Dick, R., Christ, O., Coester, M., Gossner, U., Laue, Gutsche, C. & G. (2001): Düsseldorfer Gutachten: Empirisch gesicherte Erkenntnisse über kriminalpräventive Wirkungen. Düsseldorf.

Wagner, U. & Zick, A. (1995): The relation of formal education to ethnic prejudice: Its reliability, validity and explanation. In: European Journal of Social Psychology 25, 41-56.

Wagner, U. (in press): Ansätze und Ergebnisse von Projektevaluation: Einige Überlegungen zu Präventionsprogrammen gegen Fremdenfeindlichkeit. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung.

Wagner, U., Christ, O. & Kühnel, S. (2002): Diskriminierendes Verhalten. Es beginnt mit Abwertung. In: W. Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 1. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 110-122.

Wagner, U., Christ, O. & van Dick, R. (2002): Die empirische Evaluation von Präventionsprogrammen gegen Fremdenfeindlichkeit. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 4, 101-117.

Wagner, U., van Dick, R. & Endrikat, K. (2002): Interkulturelle Kontakte. Die Ergebnisse lassen hoffen. In: W. Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 1. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 96-109.

Wolf, C., Stellmacher, J., Wagner, U. & Christ, O. (in press): Druckvolle Ermunterungen. Das Meinungsklima fördert menschenfeindliche Gewaltbereitschaft. Deutsche Zustände. Folge 2. Frankfurt, Suhrkamp.

Zürn, M. (1992): Jenseits der Staatlichkeit. In: Leviathan 20, 490-513.

Dr. Thorsten Bonacker ist Wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg
Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Psychologie an der Universität Marburg und stellvertretender Direktor des Zentrum für Konfliktforschung