Totgeglaubte leben länger

Totgeglaubte leben länger

Die Wiederbelebung der Friedensbildung in Deutschland

von Bernd Rieche

Trotz der Erfolge der Friedensbewegung in den 1990er Jahren, war Friedensbildung um die Jahrtausendwende in Deutschland kaum noch sichtbar. Es bedurfte der stärkeren Präsenz der Bundeswehr in den Schulen und der kritischen Auseinandersetzung damit, dass Friedensbewegte wieder verstärkt Friedensbildung als ihre Aufgabe wahrnahmen. In der Folge wurden neue Strukturen geschaffen, aber auch die verfügbaren Materialien und Methoden vielfältiger und das Selbst- und Rollenverständnis geschärft.

Die Friedensbewegung feierte Ende der 90er Jahre große Erfolge: die Mediation hatte sich in Deutschland etabliert, die Zivile Konfliktbearbeitung wurde staatlicherseits anerkannt und dafür Strukturen geschaffen – wie der Zivile Friedensdienst oder das Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF). Nicht zuletzt wurden die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) und später neue Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung aufgebaut. Vermutlich war es noch nie so vielfältig und einfach möglich, mit unmittelbarer Friedensarbeit – als Mediator*in, Konfliktbearbeiter*in oder als Friedensfachkraft sein tägliches Brot zu verdienen. Selbst in den Schulen gab es große Erfolge. Unter anderem wurden Streitschlichtungsprogramme eingeführt und sind heute fast flächendeckend etabliert.

Allerdings wurden alle diese Programme nicht als Friedensbildung (oder Friedenspädagogik, bzw. -erziehung) markiert. Dies beginnt bei der Bezeichnung und reicht bis hin zu den angebotenen Inhalten. Dieser Eindruck bestätigt sich auch mit einem Blick in das Archiv dieser Zeitschrift. Der letzte Artikel, der Friedensbildung/-erziehung/-pädagogik explizit erwähnte, erschien 1995 (vgl. Nolz 1995). Anschließend herrschte für zehn Jahre Stille zu diesem Thema. Gleichermaßen gab es kaum aktuelles Material für die Schule, das militärisches Handeln in aktuellen internationalen Konflikten kritisch behandelt hätte. Fast alle militärkritischen Unterrichtsmaterialien waren aus Zeiten der Ost-West-Konfrontation vor 1990 oder thematisierten Fragen der Kriegsdienstverweigerung. Lediglich im Bereich der Zivilen Konfliktbearbeitung waren, analog zu den Erfolgen und der Etablierung der zivilen Konfliktbearbeitung, einige Materialien entstanden.

Externe Impulse um die Jahrtausendwende

Es brauchte offenbar erst den Anstoß der erneuerten Werbungsanstrengungen des Militärs, um einer Vielzahl an Akteuren die Notwendigkeit von Friedensbildung wieder deutlich zu machen. Eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Schule begann im Jahr 2008. Das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen und das zuständige Wehrbereichskommando II der Bundeswehr unterschrieben eine Kooperationsvereinbarung, wonach Jugendoffizier*e im schulischen Kontext über die „zur Friedenssicherung möglichen und/oder notwendigen Instrumente der Politik“ informieren sollten und dabei
„Informationen zur globalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung genauso wie Informationen zu nationalen Interessen einzubeziehen“ seien (NRW und Bundeswehr 2008, S. 1). Jugendoffizier*e sollten darüber hinaus in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften eingebunden werden, das Besuchen von Einrichtungen der Bundeswehr wurde ausdrücklich vorgesehen und die Bildungsangebote der Bundeswehr wurden durch das Ministerium verbreitet. In den Jahren 2008 bis 2011 folgten in der Grundausrichtung ähnliche Kooperationsvereinbarungen zwischen der Bundeswehr und den Kultusministerien in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen. Obwohl es seit den 1950er Jahren übliche Praxis ist, dass Lehrkräfte Jugendoffizier*e als externe Referent*innen in ihren Unterricht einladen, gingen diese Kooperationsvereinbarungen darüber weit hinaus. Auch wenn die Jugend­offizier*e nicht für Tätigkeiten innerhalb der Bundeswehr werben – denn so ist es zumindest in den Kooperationsvereinbarungen festgelegt – sind doch in der Praxis Information und Werbung oft schwer voneinander zu trennen. Jugendoffizier*e vermitteln eine Sicht auf die politischen und militärischen Handlungsspielräume und Notwendigkeiten, die in der Friedensarbeit in ihrem Grund­ansatz kritisch gesehen werden.

Diese zunehmende Präsenz der Bundeswehr an Schulen war Anlass, dass sich in zahlreichen Bundesländern Akteure der Friedensbewegung zu Bündnissen wie »Schulfrei für die Bundeswehr« zusammenschlossen. Durch kreative Aktionen und politische Arbeit soll die Präsenz der Bundeswehr an Schulen verhindert werden. Die Kooperationsvereinbarungen der Bundeswehr waren jedoch eher Anlass, nicht Grund, sich intensiver mit Friedensbildung an Schulen zu beschäftigen. Denn Friedensbildung ist unabhängig von Bundeswehr und Militär notwendig.

Entstehung neuer Netzwerke

Um Friedensbildung bundesweit zu fördern, schlossen sich in der Folge die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK), die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), die in Schulen aktive Gewerkschaft GEW, die katholische Friedensbewegung pax christi und die Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD zusammen, um ab 2009 das Projekt
„Friedensbildung, Bundeswehr und Schule“ zu planen. Ab 2012 konnte das Projekt für drei Jahre in der Praxis erprobt werde, es wurde vorhandenes pädagogisches Material gesichtet und für den Einsatz im Unterricht gemäß der Bildungspläne eingeordnet, weiteres eigenständiges Material erarbeitet und durch die Webseite friedensbildung-schule.de zugänglich gemacht. Die bundesweite Vernetzung von Friedenspädagog*innen wurde durch den sich regelmäßig treffenden Fachrat des Projektes vorangetrieben. Aus diesem entstand nach Ende des Projektes das »Bundesweite Netzwerk Friedensbildung«, unter dem sich auch die inzwischen gegründeten Netzwerke in den einzelnen Bundesländern und Regionen vernetzten. Solche regionalen Netzwerke existieren mittlerweile in NRW, Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Norddeutschland, Mitteldeutschland, im Saarland und seit jüngstem in Niedersachsen.

Neben der Bereitstellung von Material war es auch erklärtes Ziel, einen Pool an Referent*innen für den Bildungseinsatz in Schulen aufzubauen. Dabei wurde nach 2012 schnell deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, eine zentrale Vermittlung aufzubauen, da es hierfür regionale Strukturen braucht – die sinnvollerweise bei den regionalen Netzwerken liegen sollten. Einige Qualifizierungsfortbildungen für Friedensbildner*innen haben seitdem stattgefunden. Beispielhaft können das Kursangebot der evangelischen Kirchen in NRW (vgl. PI-Villigst o.J.) und die Fortbildung des niedersächsischen Netzwerkes mit Förderung des Landes Niedersachsen (Friedensbildung Niedersachsen o.J.) angeführt werden. So stehen mittlerweile einige Friedenspädagog*innen für den expliziten Unterrichtseinsatz zur Verfügung.

Einige der neu gegründeten Netzwerke richten zudem Fachtagungen aus und fördern so die regionale Vernetzung und Fortbildung von pädagogisch Arbeitenden zu Friedensthemen (u.a. das norddeutsche und das mitteldeutsche Netzwerk).

Gemeinsame Definition von Friedensbildung?

In den Netzwerken wurde immer wieder versucht, den Begriff der Friedensbildung umfassend zu definieren. Ein Ergebnis dieser Diskussionen ist die Definition des »Bundesweiten Netzwerks Friedensbildung«.

Die Netzwerke beziehen sich darin auf ein Bildungsverständnis, das zur Mündigkeit befähigen will und sowohl auf die individuelle als auch gesellschaftliche Ebenen abzielt. In der Tradition der Friedensbildungswerke, die in den 1980er Jahren gegründet wurden, fasst das bundesweite Netzwerk die Friedensbildung als „Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit [als] eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Frieden wird dabei verstanden als ein zielgerichteter, dynamischer Prozess kontinuierlicher Konfliktbearbeitung mit gewaltfreien Mitteln – zur Realisierung der Menschenrechte, zur Etablierung von Gerechtigkeit sowie zur Überwindung von Gewalt und Unfreiheit. In diesem Verständnis ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg und mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen.“ (BNF o.J.). Dabei ist dem Netzwerk „die Entwicklung von Kompetenzen zu einem konstruktiven und zivilen, an der Philosophie der Gewaltfreiheit orientierten Umgang in innergesellschaftlichen und internationalen Konflikten“ (ibid.) besonders wichtig. Dazu zählen die Vermittlung von Kompetenzen für die Analyse von Konflikten sowie für die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten. Nur so kann sich in den Augen des Netzwerkes eine
„Kultur des Friedens“ (ibid.) entwickeln, in der die Lernenden auch zu selbstständig Agierenden werden können und das wahre Potential von Konflikten als „Chancen für eine positive Veränderung“ (ibid.) zur Geltung kommen kann.

Neutralität der Friedensbildung?

Friedensbildung wird dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie politisch oder normativ sie sein soll und darf. Für den schulischen Bereich gibt der »Beutelsbacher Konsens« den Rahmen vor. In diesem wurden 1976 drei Grundprinzipien des Politikunterrichts festgelegt: das Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot), das Gebot der Kontroversität (auch: Gegensätzlichkeit) und das Prinzip der Schülerorientierung, d.h. Schüler sollen zu eigenem politischen Verständnis und Handeln befähigt werden.

Das Kontroversitätsgebot bietet dabei auch erst einmal ein Argument dafür, dass auch friedensbewegte Referent*innen eingebunden werden müssten, wenn andererseits die Bundeswehr privilegierten Zugang zu Schulen erhält.1

Erste eigenständige Kooperationsverträge der Friedensbildungsnetzwerke mit den jeweiligen Kultusministerien, u.a. in Rheinland-Pfalz, riefen allerdings heftige Debatten innerhalb der Friedensbewegung hervor. Einerseits bot sich die Chance für die Verankerung von Friedensbildung, anderseits sahen Kritiker*innen aber die drohende Funktion als Feigenblatt für die Legitimierung sowohl des zivilen als auch des militärischen Ansatzes, die als Legitimierung für die Präsenz der Bundeswehr in Schulen missbraucht wurden. Nach einiger Zeit der Klärung des Konfliktes einigten sich die meisten Akteure darauf, beide Forderungen parallel zu vertreten und dabei auf je unterschiedliche Bündnisse zu setzen:
„Bundeswehr raus“ steht also gleichzeitig neben „Friedensbildung rein“.

Die Begründung von Friedensbildung an Schulen ist jedoch keine Frage des Ausgleichs zur Bundeswehr, sondern ergibt sich grundlegend aus dem in den Verfassungen festgeschriebenen Auftrag zur Förderung des Friedens (vgl. für Baden-Württemberg: Meisch, Jäger und Nielebock 2018).

Zum Zweiten müssen Aktive der Friedensarbeit auch für sich ganz direkt reflektieren, wie sie sich in Bezug auf den Beutelsbacher Konsens verhalten. Zwei mögliche Rollen deuten sich an: die Verantwortung verbleibt bei den Lehrer*innen, wenn Friedensbildner­*innen als Zeitzeug*innen oder Fachleute in die Schule eingeladen werden. Wenn sie jedoch Friedensbildung in Form von Projekten oder selbstverantwortetem Unterricht durchführen, müssen sie den Beutelsbacher Konsens einhalten, wobei allerdings zentrale normative Bezugspunkte der Friedensbildung (u.a. Menschenrechte oder die allgemeine Friedensliebe) Verfassungsrang haben und nicht kontrovers sind.

Nicht zuletzt gilt Drittens der Beutelsbacher Konsens auch für die Bewertung friedenspädagogischer Materialien. Diese sollten nicht allein aufgrund der primären Rolle eines Auftraggebers (wie der Bundeswehr) ausgeschlossen werden. Für die Webseite friedensbildung-schule.de wurden daher passende Qualitätskriterien entwickelt. Diese sind:

  • allgemeine pädagogische Kategorien wie die methodisch-didaktische Eignung und die Nutzungsfreundlichkeit,
  • inhaltlich-konzeptionelle Kriterien, wie die Mehrdimensionalität des dargestellten Themas und
  • friedenspädagogische Kriterien. D.h. „friedensfördernde Werte wie Gewaltlosigkeit und Menschenrechte. Militäreinsätze werden kritisch reflektiert, Möglichkeiten und Beispiele ziviler Konfliktbearbeitung betont.“

Positionen zur Stärkung der Friedensbildung in der schulischen und außerschulischen Bildung

(Bundesweites Netzwerk Friedensbildung, gekürzter Auszug, Juni 2021)

Friedensbildung soll dazu beitragen, auf gesellschaftlicher und individueller Ebene Friedensprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen.

Sie ist Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. […]

Damit die Friedensbildung ihren Auftrag und ihre Funktion erfüllen kann, muss sie ausgebaut, abgesichert sowie strukturell und politisch verankert werden.

Hierzu fordern wir folgende Maßnahmen:

  • Personelle und finanziellen Ressourcen
    Die schulische und außerschulische Friedensbildung wird bisher vielfach auf Projektbasis geleistet und ist abhängig von Förderkonjunkturen. Zur strukturellen Verankerung von Friedensbildung und zur konkreten Umsetzung in Bildungsprozessen gehören institutionelle Unterstützungsstrukturen. Dies können Koordinations- und Servicestellen auf Landes-, regionaler und kommunaler Ebene leisten, die Qualifizierungs-, Beratungs-, Vernetzungs-, Veranstaltungs- und Materialangebote entwickeln.
    Das ist zum Beispiel zu schaffen durch (a) Servicestellen Friedensbildung bei den Landeszentrale für politische Bildung (Beispiel Baden-Württemberg), (b) den Ausbau von Lehre, Beratung und Weiterbildung an Hochschulen (Beispiel Rheinland-Pfalz), die Schaffung von Stellen an Landesinstituten für die Lehrer*innenfortbildung und -beratung (Beispiel Saarland) bzw. für die landesweite Koordinierung der Friedensbildung (Beispiel Niedersachsen), oder (c) die finanzielle Förderung von Friedensbildung örtlicher, regionaler, landes- oder bundesweit tätiger NGOs, Vereine und Jugendverbände durch Kommunen, Länder und Bund.
  • Curriculare Verankerung
    Friedensbildung muss systematischer und verlässlicher in den Angeboten von Trägern der Jugendarbeit und Jugendbildung sowie in den Bildungs-, Lehr- und Rahmenlehrplänen der Schulen verankert werden.
    Dasselbe gilt für Angebote und Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals, z. B. an Hoch- und Fachschulen, Studienseminaren, Landesinstituten und anderen öffentlichen und freien Weiterbildungsträgern. Schulische Friedensbildung hat ihren Ort zumeist in den sozialwissenschaftlichen Fächern, Politik, Ethik, Religion oder auch im Rahmen der Projektarbeit. Sie muss aber auch als fächerverbindende und fächerübergreifende Aufgabe implementiert werden.
    Friedensbildung ist nicht in Konkurrenz zu anderen gesellschaftspolitisch relevanten Bildungszielen zu sehen – wie etwa Demokratiebildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, die Umsetzung und Vermittlung der Weltnachhaltigkeitsziele (SDGs) oder die rassismuskritische Bildungsarbeit. Vielmehr müssen diese verschiedenen Bildungsaufgaben und ihre »Verwandtschaften« sinnvoll aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden, ohne dass die Friedensbildung ihre eigenen Spezifika und ihr Profil einbüßt.
  • Institutioneller Rahmen
    Die Friedensbildung ist nicht nur als »Bildungsinhalt«, sondern auch als Philosophie bzw. Kultur der Bildungseinrichtungen selbst zu verstehen, zu der alle Fächer sowie die Bildungseinrichtungen selbst ihren Beitrag leisten (»whole institution approach«). Friedensbildung lässt sich nur erfolgreich vermitteln, wenn die Träger, die Bildungseinrichtungen, das Personal und die Rahmenbedingungen ein friedliches und auf Respekt und gemeinsame Werte gegründetes Lernen und Leben ermöglichen.
  • Medien
    Von besonderer Bedeutung sind die Förderung und Entwicklung von Bildungsmaterialien sowie die Aufnahme von Themen und Perspektiven der Friedensbildung in Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern.
  • Verankerung an Hochschulen
    Um die Friedensbildung wie auch die notwendige Qualifizierung und Professionalisierung zu verstetigen und wissenschaftsorientiert zu gestalten, müssen entsprechende Professuren und Institute an Hochschulen eingerichtet und deutlich ausgebaut sowie Forschungsprogramme zur Friedensbildung entwickelt werden.

Zivilgesellschaftlicher Impuls, staatliche Förderung?

Inzwischen konnten auch staatlich getragene Strukturen der Friedensbildung etabliert werden. In Baden-Württemberg startete 2015 eine staatlich finanzierte »Servicestelle Friedensbildung«, angesiedelt bei der Landeszentrale für politische Bildung in gemeinsamer Trägerschaft von Kultusministerium, Berghof Founda­tion und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen. In jüngster Zeit hat das Land Niedersachsen eine Stelle für die Koordination der Friedensbildung ausgeschrieben und auch die 2014 gegründete Friedensakademie an der Universität Landau in Rheinland-Pfalz hat u.a. einen friedenspädagogischen Auftrag. Diese Initiativen werden von den Akteuren der Friedensbildung aktiv vorangetrieben und unterstützt, auch wenn es im Konkreten dabei Konflikte mit staatlichen Stellen beispielsweise um die Rolle der Bundeswehr in Schule gibt.

Generell ist jedoch die Friedensbildung strukturell immer noch schwach aufgestellt und die Arbeit in den Netzwerken wird durch die mehr oder weniger ehrenamtliche Arbeit der Beteiligten getragen. Unter diesen Bedingungen ist der bundesdeutsche Bildungsföderalismus eine große Herausforderung, da Lobbyarbeit für Friedensbildung auch Ressourcen vor Ort benötigt. Im Gegensatz zu anderen Bildungsansätzen, wie Globalem Lernen oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei denen sich einzelne Bundesministerien für zuständig erklären, gibt es auch kein entsprechendes Gegenüber für Friedensbildung auf Bundesebene.

So versucht sich Friedensbildung derzeit über Fördertöpfe des Globalen Lernens, der politischen Bildung oder der Bildung für Nachhaltigkeit zu finanzieren, unterliegt in dieser Einschränkung aber immer einer klaren Begrenzung ihres Themenspektrums. Eine umfassende Friedensbildung, wie vom bundesdeutschen Netzwerk postuliert, ist so nur schwer zu gestalten.

Doch »Totgesagte leben länger« und die ermutigenden Entwicklungen der regionalen und bundesweiten Netzwerke für Friedensbildung lassen für die Zukunft hoffen. So ist die Friedensbildung inzwischen wieder lebendig, entwickelt viele kreative Bildungsangebote und kämpft für angemessene Ausstattung und Strukturen.

Angebote zur Friedensbildung

netzwerk-friedensbildung.de
Seite des Bundesweiten Netzwerkes mit Links zu den regionalen Netzwerken, die Referent*innen der Friedensbildung vermitteln

friedensbildung-schule.de
Sammlung von Materialien für den Unterricht

ziviler-friedensdienst.org
Ausstellung »Wir scheuen keine Konflikte« mit umfangreichem Material für Unterricht und Projektarbeit

friedensbildung.de
»Frieden geht anders!« – Ausstellung plus Unterrichtsmaterial

peace-counts.de
Ausstellung, Reportage und Material für Bildungsarbeit über Friedensmacher*innen aus aller Welt

friedenskreis-halle.de/projekt/weltentausch.html
»ene mene muh – und raus bist DU!«- Interaktives Lernspiel zu Flucht und Asyl in Deutschland

civilpowker.de
ein systemisches Lernspiel zum zivilem Engagement in internationalen Konflikten

integrationsmatrix.de
Ein Spiel und Workshops zum Verbindenden und Trennenden

Anmerkung

1) Nach entsprechendem Druck aus der Friedensbewegung verlieh die von der rot-grünen Landesregierung überarbeitete Kooperationsvereinbarung für NRW von 2012 dem Ansinnen Ausdruck, dass „unterschiedliche Institutionen und Organisationen gleichberechtigt und gleichgewichtig einbezogen und berücksichtigt werden“ sollen (NRW und Bundeswehr 2012, S. 2). Andere Bundesländer folgten mit ähnlichen geänderten Kooperationsverträgen.

Literatur

Bundesweites Netzwerk Friedensbildung (o.J.): Unser Gründungspapier. URL: netzwerk-friedensbildung.de

Friedensbildung Niedersachsen (o.J.): Vermittlung von Expert*innen in ziviler Konfliktbearbeitung als Referent*innen für sicherheitspolitische Fragen in den schulischen Unterricht. URL: friedensbildung-niedersachsen.de

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nolz, B. (1995): Atomare Frage und Individualisierung. Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung. In: Wissenschaft und Frieden 1/1995.

NRW und Bundeswehr (2008): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 29.10.2008.

NRW und Bundeswehr (2012): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 30.08.2012.

PI-Villigst (o.J.): Ausbildung zur Friedensbildungsreferentin/zum Friedensbildungsreferenten an Schulen, Modularisierte Ausbildung. URL: pi-villigst.de

Bernd Rieche ist Referent für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensbildung bei der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF). Er koordiniert u.a. das Bundesweite Netzwerk Friedensbildung mit.

»No More Wars«

»No More Wars«

Friedenserziehung in Japan

von Jongsung Kim, Hiromi Kawaguchi und Kazuhiro Kusahara

In Japan spielte Friedensbildung eine zentrale Rolle darin, nach dem Zweiten Weltkrieg die Antikriegsstimmung in der Gesellschaft zu verbreiten. Jedoch fokussierte sie stark auf die Verletzungen der gewöhnlichen Menschen während des Krieges und verlagerte so die Kriegsmitverantwortung auf den »bösen Staat voller unschuldiger Bürger*innen«. Die Autor*innen problematisieren diese Tradition und betonen eine Friedensbildung, die Eigenständigkeit und Kommunikationsfähigkeit von Schüler*innen und Studierenden zentriert.

Antikriegsstimmung ist der japanischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeprägt (Berger 1993). Der Hass des japanischen Volkes auf den Krieg trug zur Schaffung der »Friedensklausel« bei, die 1947, als Japan unter der Besetzung der Alliierten stand, in die japanische Verfassung aufgenommen wurde: „Das japanische Volk strebt aufrichtig nach einem internationalen Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Ordnung und verzichtet für immer auf Krieg als souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“ (Artikel 9 der Verfassung des Staates Japan).

Seitdem ist Japan offiziell ein pazifischer Nationalstaat, der keine militärischen Fähigkeiten zur Beilegung internationaler Streitigkeiten nutzt. Der Regierung stehen zwar die japanischen Selbstverteidigungskräfte zur Verfügung, aber technisch gesehen besteht deren Rolle darin,
„eine ausschließlich verteidigungsorientierte Politik aufrechtzuerhalten und keine Militärmacht zu werden“ (Ministry of Defense Japan o.J.). Es gab immer wieder Versuche – vor allem von einigen Untergruppen in den konservativen Parteien – den Artikel zu überarbeiten und Japan zu einem Land zu machen, das militärische Macht ausüben kann (vgl. Liff 2015; Pence 2006). Allerdings haben die – innerhalb der japanischen Zivilgesellschaft fest verankerte – Antikriegsstimmung und die Feindseligkeit gegenüber Militarismus die Friedensklausel bis heute geschützt.

Seit jeher hat Friedenserziehung eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Antikriegsstimmung in Japan gespielt (vgl. Ishikida 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Japan der 1950er Jahre, bereuten viele Lehrer*innen bitterlich, ihre Schüler*innen auf das Schlachtfeld geschickt zu haben und riefen dementsprechend zahlreiche Friedensbewegungen gegen Totalitarismus und Militarismus ins Leben. Unter dem Motto »No More Wars« hat sich die japanische Friedenserziehung mit der Trauer und dem Leid der Menschen durch die Militärmacht während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, inklusive der Kriegs­erinnerungen an Orten der Tragödien, in Hiroshima, Nagasaki und Okinawa. Die Auswirkungen von Krieg auf das Leben der Menschen begreifbar zu machen und das Versprechen, Militarismus und Totalitarismus zu entsagen, sind in der Vergangenheit ein Weg gewesen, den Frieden in Japan zu verfolgen.

Die Tragödie und das Leid der Bürger*innen

„Chii-chan no Kageokuri“ (Chii-chan und das Schattenspiel), eine sehr bekannte Kindergeschichte, die in einem bekannten japanischen Lehrbuch für Drittklässler*innen (8–9 Jahre) veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den erwähnten Trend der japanischen Friedenserziehung. Die fiktive Geschichte entfaltet sich anhand der Erlebnisse des Mädchens Chii-chan während des Krieges. Sie erzählt aus der Perspektive des Mädchens – das im selben Alter wie die Schulkinder ist – ihre Erfahrungen und die ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs. Während des Unterrichts bitten die Lehrer*innen die Schüler*innen in der Regel, in Chiis Rolle zu schlüpfen und zu versuchen, ihre Erfahrungen nachzuempfinden. Die meisten japanischen Lehrbücher enthalten ähnliche Kriegsgeschichten, in denen japanische Familien beschrieben werden, die Freiheit, Wohlstand und sogar ihr Leben verloren haben. Aus Sicht der normalen Bürger*innen, insbesondere durch Kinderaugen, erhalten diese Geschichten die kollektive Erinnerung daran, dass Krieg das Leben der Menschen zerstört hat und dass dies niemals mehr passieren dürfe.

Ähnliche Beispiele, die das Leiden der einfachen Menschen betonen, finden sich sehr häufig in japanischen Geschichtslehrbüchern für die Grundschule. Im Gegensatz zu anderen Unterrichtseinheiten, die sich eher auf Machthaber wie Politiker, Kaiser oder Premierminister konzentrieren, nimmt die Einheit zum Zweiten Weltkrieg gewöhnliche Menschen in den Fokus, die für den Krieg geopfert wurden. Das Narrativ zum Ersten Weltkrieg konzentriert sich z. B. hauptsächlich auf die Außenminister, die die ursprünglich »ungleichen« Verträge korrigierten, und darauf, wie Japan anschließend die Macht erlangte, um den anderen Nationalstaaten auf Augenhöhe zu begegnen. Das Narrativ zum Zweiten Weltkrieg hingegen hebt die Tragödie der einfachen Leute hervor – mit Fokus auf ausgewählte historische Ereignisse, wie dem »Great Tokyo Air Raid«, dem Brandbombenanschlag auf Tokio am 10. März 1945, und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.

Das Bemühen, eine Welt ohne Krieg zu realisieren, könnte allerdings auch als Vernachlässigung bzw. Versäumnis interpretiert werden, sich der Kriegsverantwortung des eigenen Landes zu stellen. Wie die von Japan während des Zweiten Weltkriegs überfallenen Länder kritisierten, lässt eine Friedenserziehung, die sich auf die Brutalität des Krieges per se konzentriert, Japans eigene Kriegsverantwortung im Unklaren. Die Beschreibungen des Zweiten Weltkriegs in japanischen Geschichtslehrbüchern der Grund- und Mittelstufe sind Beispiele, die die Vagheit und Unschärfe im Umgang mit Japans Kriegsverantwortung verdeutlichen: Es findet sich keine eindeutige Darstellung davon, wer für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien verantwortlich war. Die verheerenden Schäden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Luftangriffe auf Tokio sind ausführlich dargestellt, aber es gibt kaum Erklärungen dafür, warum die amerikanische Regierung beschloss, in Japan militärisch zu intervenieren.

Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit Betonung der Opferrolle (vgl. Orr 2001; Pyle 1992; Dierkes 2010) erzeugt den Eindruck von »schlechtem Staat, unschuldigen Menschen«. Dieses Bild ist von den meisten politischen Parteien trotz ihrer ideologischen Unterschiede akzeptiert und wurde gezielt zur Einigung des Landes im Chaos der Nachkriegszeit genutzt. Die Friedens­erziehung und -pädagogik ist von diesem Diskurs stark geprägt. Konkret trugen die beiden illustrierten Beispiele japanischer Friedenserziehungsrhetorik, (a) Betonung der Opferrolle und (b) vage Beschreibungen für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien, dazu bei, dass die Japaner*innen zwischen gewöhnlichen Bürger*innen und der damaligen Militärregierung unterscheiden (vgl. Fujiwara 2001). Das Verständnis, dass der Staat allein und nicht die Bürger*innen den Krieg verursacht hätten, führt zu einer Entfernung der Bürger*innen von ihrer Kriegsmitverantwortung und verortet die Bürger*innen als Kriegsopfer und Prediger*innen des Friedens. Mit anderen Worten, die Friedenserziehung in Japan hat Japans Rolle als Aggressor im Zweiten Weltkrieg und die Kriegsverantwortung nicht nur des Staates, sondern auch seiner Bevölkerung vernachlässigt.

Erneuerungen der Friedenspädagogik seit den 1970er Jahren

Die erwähnte Kritik ernst nehmend, gibt es seit den 1970er Jahren unter japanischen Friedenspädagog*innen Versuche, ihre eigenen Unterrichtspraktiken im Lichte der Kriegsverantwortung zu reflektieren und über die Notwendigkeit zu sprechen, sich dem zu stellen, was Japan während des Zweiten Weltkriegs getan hat. Die »History Educationalist Conference of Japan« (Konferenz für Geschichtserziehung) geht hier mit praxisorientierten Ansätzen voran. Ein Beispiel dafür ist der Geschichtslehrer Mera (1992), der ausführt, dass er seit etwa 1970 Geschichtsunterricht gegeben habe, der auf Japans Invasionen anderer asiatischer Länder hinwies und Japans Verantwortungslosigkeit bei Kriegsverbrechen, wie Zwangsarbeit oder den sogenannten Trostfrauen in Korea, verurteilte. Ein weiteres Beispiel ist Yasuis (1977) Praxis namens »Der fünfzehnjährige Krieg mit den Eltern«. In den 1970er Jahren hatten die meisten Eltern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Mit den Erinnerungen und Geschichten der Eltern als Anschauungsmaterial fragte Yasui die Schüler*innen, warum die Menschen damals den Krieg nicht stoppen konnten, und hinterfragte die Verantwortung der »unschuldigen Menschen«.

Obwohl einzelne Ansätze, die die Kriegsverantwortung Japans diskutieren, umgesetzt worden sind, sind sie dennoch nie Teil der allgemeinen japanischen Friedenserziehung geworden. Lehrende, die die Kriegsverantwortung diskutierten, wurden manchmal als politisch voreingenommene Pädagog*innen, Kommunist*innen oder Verräter*innen kritisiert. Obwohl der Druck auf Japan und in Japan selbst, Verantwortung für Kriegsereignisse wie Zwangsarbeit, Zwangsprostitution der sogenannten »Trostfrauen« und das Massaker von Nanking zu übernehmen, seit den 1980er Jahren zugenommen hat, hat die Friedenserziehung in Japan es versäumt, die Anforderungen an die Aufarbeitung im Bildungssystem umzusetzen (Takeuchi 2011).

Probleme der dominanten Friedenserziehung

Neben dem politischen Backlash haben Friedensbildungsangebote, die die Kriegsverantwortung betonen, aus Sicht der Autor*innen zwei weitere pädagogische Probleme.

  • Erstens werden die Lernenden als passive Wesen betrachtet, von denen erwartet wird, dass sie von Pädagog*innen entworfene Friedensbilder akzeptieren. Lehrkräfte konzipieren und implementieren friedenspädagogische Angebote basierend auf ihren idealen Friedensbildern, wie »No More War« oder »Taking War Responsibility«. Bis heute gibt es für die Schüler*innen im Rahmen der japanischen Friedenserziehung keinen Raum, den Frieden der Lehrenden zu dekonstruieren und ihr eigenes Verständnis von Frieden zu konstruieren. Letzteres ist jedoch eine Grundvoraussetzung für das Heranwachsen aktiver Friedensagenten.
  • Zweitens ist es der Friedenserziehung in Japan zwar gelungen, Schüler*innen auszubilden, die der Welt Frieden »schwören« können, allerdings bleibt dieser Schwur seltsam leer, indem er primär den Wert des Friedens betont. Die japanische Friedensbildung hat bislang nicht darauf abgezielt, diejenigen Fähigkeiten der Schüler*innen auszubilden, die für wirkliche Friedensmacher*innen notwendig wären – wie beispielsweise Kommunikation mit denen, die eine andere Perspektive auf Kriegsmitverantwortung haben. Laut Murakami (2009), der die Friedenswahrnehmung von Kindern untersuchte, hielten 70 % der Schüler*innen die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft für wichtig; 60 % antworteten jedoch auch, dass sie nicht wüssten, was sie tun können, um dieses Ideal zu verwirklichen. Diese Daten zeigen, dass die Schüler*innen nicht genügend Möglichkeiten hatten, eigene Vorstellungen vom Aufbau einer friedlichen Gesellschaft mit anderen zu entwickeln.

Eine Gruppe von Forschenden des Educational Vision Research Institute (EVRI) der Universität Hiroshima hat es sich zur Aufgabe gemacht, öffentliche Räume durch authentische Kommunikation zu schaffen, die
„der eigentliche Dialog der Agenten des gegenseitigen Verstehens“ (Kim 2020, S. 44) ist, um den mangelnden Handlungsspielräumen der Schüler*innen und Studierenden in der japanischen Friedenserziehung zu begegnen, ihre Friedensverständnisse mit anderen selbstständig auszuhandeln. Innerhalb dieser öffentlichen Räume können die Schüler*innen und Studierenden über die Friedensbilder der anderen sprechen und auf diese Weise sowohl ihre eigenen als auch vorhandene Friedensbilder dekonstruieren und gemeinsam neue konstruieren. Darüber hinaus können die japanischen Schüler*innen und Studierenden hier echte, d.h. authentische Diskussionen mit »anderen« führen, die andere Diskurse als »wir« kennen. Indem sie dies tun, können sie sich die Eigenständigkeit über ihr Lernen von den Lehrenden zurückerobern und individuell als aktive Friedensagenten reifen.

Neue Praktiken der Friedenslehre

Im Folgenden stellen die Autor*innen zwei repräsentative friedenspädagogische Maßnahmen des EVRI vor. Das erste Beispiel ist das Projekt »Making a Better Hiroshima Textbook« (»Für ein besseres Lehrbuch zu Hiroshima«) – ein gemeinsames Projekt Studierender in Japan und den USA (vgl. EVRI 2021). In amerikanischen Lehrbüchern werden die Atombombenabwürfe über Japan als Trumpfkarte für die Beendigung des Zweiten Weltkriegs beschrieben. In japanischen Lehrbüchern hingegen wird der Einsatz der Atombomben als unmenschlicher Akt beschrieben, durch den eine enorme Zahl von Zivilist*innen getötet wurden. Diese Asymmetrie in den Hiroshima-Diskursen beider Länder war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Lehrbuchvorschlägen. Während des Prozesses, Entwürfe für neue Lehrbücher zu entwickeln, entdeckten die Teilnehmenden weitere Diskurse und Narrative. Sie durchlebten Konflikte darüber, wie an Hiroshima erinnert werden sollte; aber mit dem gemeinsamen Ziel vor Augen, ein besseres Hiroshima-Lehrbuch entwickeln zu wollen, konnten die Studierenden die Unterschiede in den Vorstellungen akzeptieren und gemeinsam vorankommen. Als ein Resultat konnten die Teilnehmenden den einseitigen Hiroshima-Diskurs ihres eigenen Landes relativieren und ihren gemeinsamen Diskurs entwickeln, der über diese jeweiligen Diskurse hinausgeht. Die Teilnehmenden lernten den Austausch mit Dritten, die andere Debatten über die Ermöglichung einer friedlichen Welt führen, zu schätzen (Kim 2020).

Das zweite Beispiel ist das Projekt »Re-designing ‚The Last 10 Feet‘ of the Museum« (vgl. Kim und Kusahara 2020, »Die letzten 10 Meter des Museums neu entwerfen«). Jedes Museum möchte seinen Besucher*innen ein bestimmtes Leitbild vermitteln. Während das »Hiroshima Peace Memorial Museum« die physischen und psychischen Narben des Atombombenabwurfs betont, um über die Gefahr von Atomwaffen zu informieren, erzählt das »National Museum of the Pacific War« in Texas, USA, von den großen Taten der Soldaten und beschreibt die Technologien, die den Sieg für die Vereinigten Staaten und Freiheit für die Menschheit brachten. In einem Studierendenaustausch zwischen der Universität von Hiroshima und der Universität von Texas in Austin wurden Studierende gebeten, die jeweiligen Ausstellungen der beiden Museen und ihre Leitbilder zu dekonstruieren und gemeinsam ihre je eigenen »10 letzten Meter« der Museen neu zu gestalten, in denen das jeweilige Leitbild des Museums komprimiert dargestellt ist (vgl. EVRI 2020). Durch den Austausch von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und daraus resultierender Friedensbilder konnten die Teilnehmenden ihr Verständnis von beidem verfeinern und lernen, wie man mit anderen eine friedliche Welt aufbaut.

Aufgaben für eine neue Friedenslehre

Als Mitglieder des EVRI verstehen die Autor*innen, dass die vorgestellten praktischen Beispiele, die maßgeblich auf authentischer Kommunikation basieren, grundsätzlich noch weiter gehen müssen. Eine Hauptaufgabe besteht darin, den Studierenden Gelegenheiten zu geben, über Kriegsverantwortung zu diskutieren. Authentische Kommunikation übergibt die Lerninitiative an die Studierenden – daher ist es nicht möglich, den Inhalt der Kommunikation zu kontrollieren. Pädagog*innen können jedoch den Kontext authentischer Kommunikation gestalten, der die Studierenden dazu anleitet, über die Rhetorik der japanischen Friedenserziehung nachzudenken (die exemplarisch durch die »Opferrolle« und die »unklare Kriegsverantwortung« zum Ausdruck kommt), und darüber, wie diese Rhetorik ihr Verständnis von Frieden beeinflusst hat. Mit dieser Art von Diskursdesign, das die Meta-Erkenntnis der Studierenden erleichtern soll, können die auf authentischer Kommunikation basierenden Praktiken der Friedenserziehung sicherstellen, dass die Studierenden über die Kriegsverantwortung nachdenken und ihre Rolle bei der Verwirklichung einer friedlichen Gesellschaft bedenken.

Die andere Aufgabe besteht darin, eine neue Friedenserziehung auszubauen, wie z. B. die Praxisübungen auf Grundlage authentischer Kommunikation, die die traditionellen Prämissen der japanischen Friedenserziehung aufheben. Die Dekonstruktion des Opferdiskurses und die Auseinandersetzung mit der Kriegsverantwortung sind in Japan noch immer äußerst umstritten. Doch trotz dieses sozialen Drucks entwerfen und implementieren einige Pädagog*innen ihre eigenen neuen Friedenserziehungspraktiken, um die japanische Friedenserziehung voranzubringen und die historische Aussöhnung in Asien zu verwirklichen. Bildungseinrichtungen wie das EVRI müssen ihre Praktiken offenlegen und sie als die neue Welle der Friedenserziehung kennzeichnen. Die Aufgabe der Bildungsinstitutionen sollte es nach Ansicht der Autor*innen auch sein, Lehrende auszubilden, die neue Konzepte der Friedenserziehung entwerfen und umsetzen und die in der Lage sind, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer neuen Friedenserziehung zu überzeugen.

Literatur:

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Ishikida, M. Y. (2005): Toward peace: War responsibility, postwar compensation, and peace movements and education in Japan. Lincoln: iUniverse.

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Jongsung Kim ist Associate Professor an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Hiroshima Universität, Japan und Mitherausgeber des »Asian Pacific Journal of Education«.
Hiromi Kawaguchi ist Associate Professorin an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Universität Hiroshima.
Kazuhiro Kusahara ist Direktor des Forschungsinstituts EVRI und Professor an der Universität Hiroshima.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Harnack.

Friedenspädagogik in Transformation

Friedenspädagogik in Transformation

Potentiale eines vielfältigen Feldes

von Annalena Groppe und Melanie Hussak

Zunehmend beachtete de- und postkoloniale, transformative und elicitive/transrationale Perspektiven verstehen die Vielfalt der Friedenspädagogik als Potential, fordern allerdings machtkritische, systemische und ganzheitlich-subjektive Reflexionen des jeweiligen Kontexts und der Position der Bildungsakteur*innen darin. Der Beitrag gibt hierfür einen Einblick in das Feld der Friedenspädagogik und thematisiert zentrale Herausforderungen der Praxisvielfalt sowie das Problem inhärenter Reproduktion von Gewalt.

Friedenspädagogik komprimiert zu beschreiben und ebenso der Breite der Disziplin gerecht zu werden ist eine Herausforderung, erlebt dieses Feld doch gegenwärtig vielfältige Transformationen: So existiert ein Nebeneinander unterschiedlicher, teils miteinander in Konflikt stehender, theoretischer Grundlegungen in einer vielfältigen und dynamischen Praxis, die aber wenig empirisch erforscht oder wissenschaftlich begleitet wird (Frieters-Reermann 2009, S. 61ff.). Neue Forschungen der Humanwissenschaften weisen zudem auf die inhärente Gefahr der Reproduktion von epistemischer und ontologischer Gewalt1 in Bildungskontexten hin und fordern zu einer Problematisierung dieser Risiken auf, denn „Friedenspädagogik kann Teil des Problems werden, das sie zu lösen versucht“ (Zembylas und Bekerman 2013, S. 198).

Auch wir Autor*innen verstehen uns innerhalb dieses Spannungsfeldes und sind in unserer Perspektive vor allem in der deutschsprachigen, akademischen Friedenspädagogik verortet. Die Ausein­andersetzung mit internationalen und interdisziplinären Diskursen sowie die eigene Praxiserfahrung bereichern uns und sollen uns dabei unterstützen, blinden Flecken in unserem pädagogischen Denken und Handeln, das auch auf unserer privilegierten Position als weiße, europäische Forschende beruht, durch beständigen Austausch selbst-reflexiv zu begegnen.

Dieser Perspektive entsprechend gehen wir von einem Verständnis von Hilary Cremin und Kevin Kester aus, nach welchem Friedenspädagogik auf die „Transformation von Inhalten, Form und Strukturen von Bildung [fokussiert], um direkte strukturelle und kulturelle Formen von Gewalt zu begegnen“ (Kester und Cremin 2017, S. 1416), und diskutieren aktuelle Spannungsfelder und Transformationen friedenspädagogischer Ansätze. Wir fragen uns:

  • Wie können vielfältige theoretische Perspektiven bei der Begleitung von Lernprozessen zur Transformation von Konflikten und der Entfaltung von Friedenspotentialen unterstützen?
  • Wie antworten die Ansätze auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen?
  • Wie können Friedenspädagog*innen Formen von system-inhärenter Gewalt und insbesondere der Reproduktion kolonialer Denkweisen begegnen?

Begriffe, Grundannahmen und Denklinien

Die umfassende Praxis, die oftmals als »Friedenserziehung« bezeichnet wird, ebenso wie die »Friedensbildung«, welche begrifflich vor allem den schulischen Bereich umfasst, ist im deutschsprachigen Raum im Vergleich zur theoretisch-reflektierenden »Friedenspädagogik« strukturell und inhaltlich stärker entwickelt (Frieters-Reermann 2009, S. 66). In unserem Beitrag widmen wir uns deswegen vordergründig den friedenspädagogischen Perspektiven.

Dabei ist das Praxis-Feld sehr vielfältig: Insbesondere durch die Integration struktureller Gewalt als zentralem Gegenstand sind weitreichende Abgrenzungsschwierigkeiten zu benachbarten Disziplinen entstanden, wie der politischen Bildung, dem Globalen Lernen oder der Menschenrechtsbildung (Hussak und Werthes 2018). Der Friedenskreis Halle e.V. fasst etwa sowohl Anti-Bias Trainings und Workshops zu Fairem Handel, als auch Weiterbildungen zur Konfliktbearbeitung als Teil von Friedensbildung (Starke und Groppe 2019).

Trotz Diversität lassen sich als Zielsetzungen (a) die Sensibilisierung gegenüber (jeder) Gewalt, (b) das Kennenlernen und Entwickeln von Friedensvorstellungen und -potentialen sowie (c) die Befähigung zur Transformation von Konflikten benennen. Die gemeinsame didaktische Grundhaltung von Friedenserziehung ist die Verbindung von Wissen, Fähigkeiten und Handlungskompetenzen. Diese werden im deutschsprachigen Raum als »Friedenskompetenz«, »Friedensfähigkeit« und »Friedenshandeln« konzeptualisiert (Gugel 2008, S. 65).

Die Vielfalt an Ansätzen und Konzepten basiert nicht nur auf unterschiedlichen Gewalt- und Friedensverständnissen (z. B. »Frieden als Sicherheit« oder »Frieden als Gerechtigkeit«), sondern auch auf unterschiedlichen Vorstellungen davon, auf welcher Interventionsebene (Mikro, Meso oder Makro) Friedensbildungsprojekte Veränderungen erreichen wollen (Salomon 2002, S. 5). Daraus entstehen voneinander abweichende Vorstellungen von friedens­pädagogischen Prozessen und damit divergierende Friedensstrategien. Dies spiegelt sich auch in typologischen Denklinien aus unterschiedlichen sozio-politischen Entstehungskontexten wie der »Kritischen Friedenspädagogik« (vgl. Wulf 1982), die sich etwa von individualorientierten Denklinien abgrenzt und der »Pädagogik in Begegnung mit dem Anderen« (vgl. Wintersteiner 2000; vgl. auch Jäger, S. 10 in diesem Heft).

Mit letzterer gewinnt auch die Reflexion von Macht und der jeweiligen Sprecher*innen-Position in der Friedenspädagogik verstärkt an Bedeutung.

Potentiale und Herausforderungen für eine Friedenspädagogik im Wandel

Die benannten Divergenzen und Herausforderungen für eine reflektierte und kontextspezifische Friedenspädagogik können durch einen verstärkten Austausch a) im internationalen Diskurs, b) mit Nachbardisziplinen und c) zwischen Wissenschaft und Praxis bearbeitet werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung wollen wir durch das exemplarische Aufzeigen von drei neu gedachten oder wiederentdeckten theoretisch-konzeptionellen Perspektiven leisten und einen reflexiven Umgang mit Pluralität anbieten. Anhand von Praxisbeispielen wird ihre Relevanz für aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen deutlich.

Perspektive des Transformativen Lernens

Friedenspädagogik nimmt aktuell Ansätze des »Transformativen Lernens« auf, insbesondere mit Blick auf ökologische Krisen. Diese werden mit strukturellen und kulturellen Gewaltformen des vorherrschenden, neoliberal geprägten Weltwirtschaftssystems ursächlich in Verbindung gebracht. In der Praxis wird dies etwa vom »Konzeptwerk Neue Ökonomie« durch die Verbindung von sozial-ökonomischer Kritik mit Bewegungen wie Post-Wachstum oder der Anerkennung von Sorgearbeit umgesetzt2.

Transformatives Lernen begreift
„Bildung als einen Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen“ (Koller 2018, S. 17). Die Erfahrung der Endlichkeit »natürlicher Ressourcen« fordert etwa heraus, die Umwelt nicht mehr als Objekt, sondern als Partner*in zu betrachten (Brantmeier 2013). Daneben werden alternative Perspektiven ganzheitlich erfahrbar gemacht, z. B. durch eine Didaktik der Partizipation, Entschleunigung und Prozessorientierung. Dadurch kann kontextübergreifender und dauerhafter Wandel ermöglicht werden (Hoggan 2018). Im deutschsprachigen Raum wird dies mit machtkritischer Bildung (s.u. Postkolonialität) verbunden, indem die eigenen Privilegien zum zentralen Gegenstand werden (Lingenfelder 2020).

Machtkritische, post- und dekoloniale Perspektiven

»Perspektiven der feministischen Forschung, Gender- und Rassismusforschung« kritisieren gesellschaftspolitische Herrschaftsverhältnisse und fokussieren etwa auf systemimmanente (Ohn-)Machtverhältnisse wie Ungleichheit, gesellschaftliche Einteilung in Zugehörigkeiten oder Ausschluss. Konstituiert werden die diskriminierenden Zuschreibungen durch das sogenannte »Othering«, durch das Menschen von der Dominanzgesellschaft erst
„zum ‚Anderen‘ gemacht“ werden (Thattamannil-Klug 2015, im Titel). Das bedeutet, Praktiken des »Othering« grenzen Personen und Gruppen durch negative, »norm­abweichende« Zuschreibungen aus. Gleichzeitig dient die Ausgrenzung der Erzeugung der eigenen, zuweilen überhöhten, (Gruppen-)Identität.

Darauf antwortende ­machtkritische Ansätze der Friedenspädagogik wurden jüngst anhand des Begriffs der Intersektionalität3 auf einer Fachtagung4 des Norddeutschen Netzwerks Friedenspädagogik thematisiert. Methoden wie Theater der Unterdrückten, Anti-Bias-­Trainings oder auch Empowerment-­Konzepte für und von Personen mit Diskriminierungserfahrungen werden vielfach aus der anti-rassistischen Bildung übernommen. Zudem können extern begleitete Organisationsentwicklungsprozesse Friedensbildungsinitiativen dabei unterstützen, eigene diskriminierende Strukturen abzubauen.

»Post- und dekoloniale Perspektiven« sind eng mit machtkritischen Ansätzen verbunden. Auch sie setzen sich mit den Praktiken des »Othering« auseinander, etwa mit dem vorherrschenden, westlich geprägten Wissen der Friedenspädagogik und der ihm zugrunde liegenden Arten der Wissensproduktion. Sie verweisen auf die darin enthaltene epistemische Gewalt, die wirkt, indem bestehende dominante, eurozentrische Wissen­(schafts-)formen davon abweichendes Wissen marginalisieren. Dies führt in eine andauernde Kolonialität: Die während der Kolonialzeit hervorgebrachten gewaltsamen Denkmuster, Strukturen und Prozesse reproduzieren sich beständig in Form eines hegemo­nialen westlichen Systems.

Dies zeigt sich auch und besonders in Bildung und Wissenschaft (Mignolo und Walsh 2018), zum Beispiel durch die Unterrepräsentanz von indigenen und nicht-westlichen Friedenspädagog*innen sowie ihrer Marginalisierung in diskursprägenden Journals und Curricula (Kurian und Kester 2019). Daher betonen Kevin Kester und Hilary Cremin (2017, S. 16) die Notwendigkeit einer Metareflexion darüber, wie Friedenspädagogik in das hegemoniale System der Kolonialität eingebettet ist und dieses reproduziert. Hinzu kommt die ontologische Gewalt, die beschreibt, wie Menschen die Welt grundlegend anders erleben, als dominierende Bildungssysteme dies abbilden. Darauf antwortende Konzepte von Lernen basieren auf der Annahme einer Interdependenz zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten (Zembylas 2017, S. 1411ff.). Dies drückt sich zum Beispiel in der hohen Bedeutung von Land und heiligen Plätzen im Lernen vieler indigener Gemeinschaften aus.

Auch Sandy Grande, eine von vielen BIPoC5-Stimmen, die der Friedenpädagogik wichtige Denkanstöße geben, versteht Pädagogik als „Bewusstsein und eine Art, in der Welt zu sein und sie zu lesen (2010, S. 204). Ihre »Red Pedagogy«, eine Pädagogik der Dekolonialisierung, basiert auf indigenem Wissen, Praktiken und Elementen wie Ortsbezogenheit, Relationalität und Spiritualität. Grande sieht Anschlussmöglichkeiten an die kritische Pädagogik zur Überbrückung von Wissenswelten durch eine Neugestaltung von Wissen für das pädagogische Feld. Dies beinhaltet eine grundlegende Veränderung dominanter Wissensstrukturen und Machtbeziehungen, z. B. durch einen souveränen Raum der Begegnung, der frei von imperialistischer, kolonialistischer und kapitalistischer Ausbeutung ist (Grande 2010, S. 204).

Elicitive und Transrationale Perspektiven

Die »Transrationale Friedensphilosophie«, entwickelt von Wolfgang Dietrich, beschreibt Frieden im Plural, als subjektiv und dynamisch (Dietrich 2008). Eine darauf aufbauende »Elicitive Friedenspädagogik« stellt das Selbst der Lernenden mit ihren Friedens- und Gewalterfahrungen in den Mittelpunkt. Gleichzeitig werden diese als relational verwoben mit der Gruppe und der auch spirituell konzeptionierten Umwelt verstanden. Diese »Transpersonalität« zu erfahren, ist zentrale Lernressource.

Ein solch transrationaler oder elicitiver Ansatz wird methodisch beispielsweise in Gabrielle Roths »5Rhythms« (1998) umgesetzt. Begleitet von zyklisch wechselnder Musik werden dabei, in Form von freier und achtsamer Bewegung in einer Gruppe, jeweils subjektiv bedeutsame Konfliktphasen körperlich, emotional und spirituell erfahren. Die Methode ermutigt zur Erprobung neuer Bewegungsräume, die Bedeutung für transformative Schritte außerhalb des Lernraums haben können.

Die transrationale Perspektive wird jüngst (erneut) gekreuzt von machtkritischen Perspektiven. Jennifer Murphy schlägt einen »Sowohl als auch«-Ansatz vor, der anerkennend die kritisch-intersektionale Position des anderen hört, Resonanz mit der eigenen Perspektive zulässt und dabei eine Reflexion der Machtverhältnisse ergänzt (z. B. in Form des Aktiven Zuhörens). Die Grundhaltung der transpersonalen Verbundenheit auf Basis der emotionalen, körperlichen und spirituellen Erfahrung ermöglicht, ein Bewusstsein über diskriminierende Strukturen zu schaffen, ohne dabei binäre Oppositionen zwischen Personen oder Gruppen zu reproduzieren (Murphy 2018).

Dies kann in polarisierenden Konflikten hilfreich sein, in denen zunehmend Grundpfeiler der Demokratie selbst zum Gegenstand werden und in denen Menschen nicht (mehr) miteinander ins Gespräch kommen (wollen) (vgl. ­Groppe 2021). Diese Perspektive ermöglicht Kritik an autoritärer Ideologie, Selbstreflexion von Positionalität ebenso wie ein Methodenrepertoire zur Bearbeitung von starken Emotionen wie Wut und Angst auch in ihrer Verwobenheit mit kollektiven Wissensbeständen (z. B. Verdrängung von Täter*innenschaft).

Nicht zuletzt sind diese polarisierenden Konflikte auch geprägt von neuen Kommunikationsformen über Soziale Medien. Während einer ganzheitlichen Begegnung im digitalen Raum enge Grenzen gesetzt sind, liegen auch Potentiale z. B. in Kontakten über große Distanzen hinweg (vgl. Groppe 2020). In der Praxis gibt es dazu auch erste wissenschaftlich begleitete Projekte, so z. B. #vrschwrng der Berghof Foundation, wo junge Menschen partizipativ Bildungsbausteine zu Verschwörungstheorien für den Einsatz in Sozialen Medien entwickeln.

Fazit

Zu Beginn haben wir auf die Vielfalt des Feldes wie auch auf das Potential einer gegenwärtig stattfindenden und notwendigen Transformation hingewiesen. Diese ergibt sich zum einen aufgrund »äußerer« gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisenerfahrungen (wie Konflikte um Demokratie, den Klimawandel), in denen Friedenspädagogik mit ihrem breiten Theorie- und Methodenrepertoire relevante Beiträge leisten kann.

Zum anderen zeigen sich Entwicklungen einer »inneren« und »selbstreflexiven« Neugestaltung. Die skizzierten machtkritischen, de- und postkolonialen Perspektiven eröffnen eine »Rekonzeption« des Feldes durch Ansätze des Lernens abseits gewohnter Epistemologien und Ontologien. In ihrer Kritik an (system-)immanenten kolonialen und diskriminierenden Denkweisen fordern sie Bildungsakteur*innen zu einer beständigen Reflexion der eigenen Machtpositionierung und damit verbundener blinder Flecken auf. Im Transformativen Lernen steht das Potential systemischen Ver- und Neulernens des eigenen Selbst-Welt-Verhältnisses im Mittelpunkt. Schließlich betonen elicitive/transrationale Perspektiven die Bedeutung von Transpersonalität und Erfahrungswissen. Der inhärenten Gewalt-Reproduktion wird von allen drei Perspektiven durch einen Blick auf das eigene darin verwobene Selbst begegnet – sowohl auf die Person als auch auf die institutionalisierte Disziplin.

Die dargelegte Vielfalt der Friedens­pädagogik kann somit als Potential verstanden werden, um die eigene Bildungspraxis auf einer kontextspezifisch anschlussfähigen theoretischen Grundlage aufzubauen: In manchen Situationen kann beispielsweise eine eher individuell orientierte Streitschlichtungs-Ausbildung transformativ wirken, in anderen der begleitete anti-rassistische Organisationsentwicklungsprozess. Ein kontinuierlicher Wissenschaft-Praxis-Dialog sowie der (internationale) Austausch mit Nachbardisziplinen erscheint als bedeutsamer Reflexionsraum für eine Friedenspädagogik in Zeiten innerdisziplinärer und gesellschaftlicher Transformation.

Anmerkungen

1) Unter epistemischer Gewalt wird dominantes und normalisiertes Wissen verstanden, das davon abweichende, andere Erkenntnisformen delegitimiert und auch von der Wissenschaft selbst ausgeht. Ontologien konzeptualisieren, wie die Welt gemacht und geschaffen ist; ontologische Gewalt beschreibt dementsprechend die gewaltvolle Unterdrückung einer Weltsicht durch eine dominierende andere.

2) Siehe: konzeptwerk-neue-oekonomie.org

3) Intersektionalität beschreibt das Zusammenwirken unterschiedlicher Dimensionen von Ungleichheit, Differenz und Herrschaft.

4) »Zusammen. Gerecht. Handeln. Intersektionalität beleuchten – Friedensbildung weiter denken« (25. bis 26. Februar 2021)

5) BIPoC, kurz für ‚Black Indigenous and People of Colour‘ ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als weiß und westlich wahrgenommen werden und die explizit auch indigene Menschen mit einbezieht.

Literatur

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Annalena Groppe und Melanie Hussak sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz an der Universität Koblenz Landau und dort im Bereich der Friedenspädagogik tätig. Melanie Hussak promoviert zu Friedensprozessen indigener Gemeinschaften. Sie ist Redaktionsmitglied von Wissenschaft & Frieden. Annalena Groppe verfolgt in ihrem Promotionsprojekt Potentiale der Friedenspädagogik in polarisierenden Konflikten um Demokratie. Besonders interessieren sie dabei elicitve/transrationale Perspektiven.

Lernschritte Richtung Frieden

Lernschritte Richtung Frieden

Zur Entwicklung der Friedenspädagogik in der BRD

von Uli Jäger

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten sich den an einer Friedenspädagogik interessierten Pädagog*innen Fragen nach der Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und Möglichkeiten der Versöhnung. Seitdem hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen der letzten 70 Jahre nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Im Einführungstext zum Themenschwerpunkt »Friedenspädagogik« der Zeitschrift »Psychosozial« aus dem Jahr 1985 steht:
„Wir wissen, daß unsere Zukunft davon abhängt, daß die Erziehung zum Frieden gelingt“ (Ebd., S. 5). Man muss es nicht so dramatisch sehen, aber die unterstützende Rolle der Friedenspädagogik auf dem Weg in eine friedlichere Zukunft ist unbestritten. Schließlich geht es um die Aneignung von Werten und Wissen und um die Entwicklung von Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, damit Gewalt reduziert, Konfliktpotenzial konstruktiv bearbeitet und Frieden gefördert werden kann (vgl. Jäger 2019). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Re-education und Orientierungsphase

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellten sich den an einer Friedenserziehung interessierten Pädagog*innen an erster Stelle Fragen nach einer Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und den Möglichkeiten der Versöhnung. Hinzu kam, dass sich das geteilte Deutschland rasch im Brennpunkt der Weltpolitik als Schauplatz des Kalten Krieges und der (atomaren) Aufrüstung befand. Schließlich trafen in Deutschland Feindbilder zwischen Ost und West besonders heftig aufeinander. Nicht nur die Entwicklung der von Theodor Adorno geforderten
„Erziehung zur Mündigkeit“ hatte es schwer, sondern auch die Friedenserziehung. Eine Phase der »Re-education« im Sinne einer systematisch konzipierten, die gewaltsame Vergangenheit aufarbeitenden Erziehung zum Frieden und zur internationalen Völkerverständigung hat es denn auch nicht gegeben. Der Pädagoge Hermann Röhrs wies später als Begründung auf den beginnenden Kalten Krieg hin, weil
„mit der wachsenden Skepsis der Alliierten gegenüber den Russen auch die Vorbehalte hinsichtlich der Friedenserziehung und internationalen Verständigung zunahmen“ (Röhrs 1983, S. 53).

Gleichzeitig wurde angesichts mangelnder Konzeptionen aber auch Geduld angemahnt. Für in der Bildung tätige Menschen, die sich um die schwere Aufgabe der ‚Friedenspädagogik‘“ bemühen wollen, sei
„es notwendig zu sagen, daß es im Augenblick vielleicht nur darum gehen kann, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um Zeit und Raum für den eigentlichen Aufbau einer ‚Erziehung zum Frieden‘ zu gewinnen“ (Roth 1967, S. 95). Dieser Aufbau vollzog sich als Orientierungsphase schritt- und facettenreich in Theorie und Praxis. Die Bandbreite der anstehenden Themen wurde schon in den ersten beiden Publikationen des 1976 gegründeten »Vereins für Friedenspädagogik« (Tübingen) deutlich. Heft 1 der 1978 erschienen »Materialien für die schulische und außerschulische politische Bildung« widmete sich der Auseinandersetzung mit der sicherheitspolitisch relevanten Problematik der Neutronenwaffen, Heft 2 der innergesellschaftlichen Suche nach einem am Leitwert Frieden orientierten Gedenken an »40 Jahre ‘Reichskristallnacht’«.

Friedensforschung und Kritische Friedenserziehung

Ab Mitte der 1970er Jahre lässt sich eine Intensivierung der friedenspädagogisch orientierten Theoriediskussionen feststellen, beginnend mit dem Band »Kritische Friedenserziehung« (vgl. Wulf 1973). Wesentliche Impulse kamen aus der neuen Disziplin der Friedensforschung, wobei die Relevanz von Johan Galtungs Friedens- und Gewaltdefinitionen für Friedenspädagogik (wissenschaftlich konzeptionell orientiert) und Friedenserziehung (praxeologisch orientiert) ausführlich diskutiert wurden. In einer beachtlichen Anzahl von Publikationen wurde in den 1980er und -90er Jahren das Spektrum der Friedenspädagogik entfaltet und konstruktiv diskutiert (vgl. die Sammelbände Calließ und Lob 1988; Buddrus und Schnaitmann 1991) und dabei auch nicht mit Kritik an einer zu individualistisch orientierten Ausrichtung gespart (vgl. Bernhard 1988). Hans Nicklas und Änne Ostermann, die an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung forschten, schrieben dazu:
„Friedens­er­ziehung, die den einzelnen Menschen Friedlichkeit, weltbürgerliche Gesinnung und rationales Konfliktverhalten anempfiehlt, ist sicher gut gemeint, aber naiv. […] Friedenserziehung kann also nicht heißen: Erziehung zur Friedlichkeit, sondern zu der Fähigkeit, Frieden durch kollektives Handeln herzustellen und zu erhalten“ (Nicklas und Ostermann 1988, S. 148).

Friedensbewegung und Massenlernprozesse

Dafür war die Friedensbewegung der 1980er Jahre ein geeignetes ­Handlungs- und Lernfeld (vgl. van Dick 1984). Abgesehen vom persönlichen Engagement in der Bewegung ging es um die professionelle Unterstützung der Auseinandersetzung mit inhaltlichen und methodischen Themenstellungen. Als Ergebnisse erschienen auf publizistischer Ebene zahlreiche didaktische Materia­lien, die den Anspruch vertraten, sicherheits- und friedenspolitisch relevante Themen (z. B. Herrschende Sicherheitspolitik und Rolle der Bundeswehr, alternative Sicherheitskonzepte und Soziale Verteidigung) so aufzubereiten, dass neben der angemessenen Reduktion von Komplexität auch die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen in allen denkbaren Erziehungs- und Bildungsfeldern, aber auch innerhalb der Friedensbewegung berücksichtigt wurden.

Zu diesem Zusammenspiel von Friedensforschung und Friedenspädagogik gehörte auch die von Mitte der 1970er Jahre bis in die 1990er Jahre veröffentlichte Publikationsreihe »Friedensanalysen«, als deren Zielsetzung die
Vermittlung von Friedensforschung und Friedenspolitik bzw. -erziehung“ genannt wurde, und das von 1989 bis 1998 jährlich im Verlag C.H. Beck erschienene »Jahrbuch Frieden«. Durch die Einbeziehung des formalen wie non-formalen Bildungsbereiches – und einem daraus resultierenden Multiplikator*inneneffekt – leistete die Friedenspädagogik einen Beitrag zu einer breiten »Alphabetisierung« der Öffentlichkeit in Sachen Sicherheits- und Friedenspolitik.

Die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Gewaltfreiheit als Handlungs- und Lebensprinzip entwickelte sich in diesen Jahren zu einem noch heute aktuellen Kernthema der Friedenspädagogik (vgl. Frieters-Reermann und Lang-Wojtasik 2015). Es wurde gelernt, eigene Gestaltungsspielräume zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung – genauso wie zwischen basisbezogenen Lernansätzen und etablierter politischer Bildung – zu eröffnen und zu behaupten. Ein wichtiger Erfahrungsschatz, der bis heute wirkt.

Friedensbildung in der Schule

Eignet sich die Schule als Lernort für Frieden? Diese grundsätzliche Frage beschäftigt die Friedenspädagogik immer wieder aufs Neue (vgl. exemplarisch Duncker 1988; Meisch, Jäger und Nielebock 2018). Dabei ist die (kritische) Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik nur ein Aspekt. Aber wie pädagogisch (und politisch) kontrovers in der Bundesrepublik der Umgang mit sicherheitspolitischen Themen in der Schule diskutiert wurde, zeigt das Scheitern des Unternehmens »Friedenserziehung bundesweit«. Zu Beginn der achtziger Jahre starteten Beratungen in der Kultusministerkonferenz zu der Frage, wie »Friedenserziehung und Friedenssicherung« in der Lehrer*innenbildung und im Unterricht verankert werden sollten. Es kam es zu keiner Einigung und am Ende lagen zwei unterschiedliche Dokumente vor: eines für die sozialdemokratisch und eines für die christdemokratisch regierten Bundesländer. Hintergrund dieser Beratungen war ein Versuch aus dem Bundesverteidigungsministerium, angesichts steigender Bereitschaft zur Kriegsdienstverweigerung über die Kultusministerien Einfluss auf die Behandlung des Themas »Friedenssicherung« an den Schulen zu nehmen (vgl. Lutz 1984; Jäger 2014). Die Thematik und der Umgang mit der Präsenz von Jugendoffizier*innen in der Schule beschäftigt die Friedenspädagogik auch noch im Jahr 2021. Gleichwohl ist das schulische Angebot der Friedensbildung viel umfassender geworden und deckt ein breites Spektrum von Themen und Methoden ab, die sich an den Grundsätzen der politischen Bildung und den Bildungsplänen der Länder orientieren (siehe Articus et al., S. 20 in diesem Heft).

Meilenstein 2000: Recht auf gewaltfreie Erziehung

Die Förderung gewaltfreier Erziehung gehört zu den Grundkonstanten der Friedenspädagogik. Die Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit. So wies schon die Reformpädagogik von Maria Montessori darauf hin, dass es gezielter Erziehung bedürfe, um in einem jungen Menschen die Fähigkeit zum Frieden zu entwickeln. Montessori lies aber auch keinen Zweifel daran, dass das Ende von Gewalt und Krieg und die Etablierung eines Friedens neben erzieherischen Maßnahmen auch der politischen Anstrengungen und der Verrechtlichung bedürfen.

Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 2000, wurde mit der Verankerung des Rechts der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland ein wirklicher Meilenstein für die Legitimation einer gewaltfreien Erziehung erreicht. Gewalt gegen Kinder – vor allem im familiären Kontext – ist jedoch leider auch heute noch Bestandteil unserer Gesellschaft und es bedarf anhaltender Anstrengungen für deren Reduzierung oder gar Überwindung.

Internationale Dekaden und globales Lernen

Drei sogenannte inhaltliche »Dekaden« (alle in einem Jahrzehnt) stellen weitere wegweisende Etappen in der Entwicklung der Friedenspädagogik dar: Am 10. November 1998 rief die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Jahre 2001–2010 zur »Internationalen Dekade für eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens für die Kinder der Welt« aus. Ein wesentliches Ziel darin: die Förderung und Vertiefung der Friedenskultur durch Erziehung und Ausbildung. Bei der Umsetzung der Dekade konnten sich die nationalen UNESCO-Kommissionen auf friedenspädagogische Erfahrungen und Strukturen stützen – und die friedenspädagogischen Diskurse wurden im Gegenzug theoretisch wie praktisch bereichert, vor allem mit Blick auf die inhaltliche Füllung des Leitmotivs einer »Kultur des Friedens« (Wintersteiner 2011).

Zeitgleich rief der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) für den Zeitraum von 2001 bis 2010 die »Dekade zur Überwindung von Gewalt« aus. Die Vernetzung von in der Friedenserziehung engagierten Personen und Einrichtungen mit theologischen Institutionen wurde zu einem Merkmal der Dekade und die Überschneidungen der Friedenspädagogik mit Ansätzen der interreligiösen Erziehung sichtbar (vgl. Nipkow 2007).

Schließlich rundete die UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (2005-2014) das Jahrzehnt der Dekaden ab. Alle drei Dekaden stärkten die Vernetzung und internationale Ausrichtung der Friedenspädagogik. Friedenspädagogische Ansätze sind weltweit zu finden und sie eint in aller Unterschiedlichkeit, dass sie einen Beitrag zur Etablierung einer globalen und nachhaltigen Kultur des Friedens leisten wollen.

Infrastruktur und Masterstudiengänge

Zwei wesentliche Institutionalisierungen der letzten Jahre haben der Verankerung der Friedensbildung geholfen: Zum einen fand mit dem Georg-Zundel-Haus der Berghof Foundation in Tübingen ein Teil der Friedenspädagogik in Deutschland im Jahr 2000 einen attraktiven Ort, an dem im Rahmen der begrenzten Ressourcen das systematische Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis und die stetige Verknüpfung von lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene praktiziert wird. Glücklicherweise bestehen weitere, seit vielen Jahrzehnten friedenspädagogisch ausgerichtete Einrichtungen (z. B. die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik München / Institut für Gewaltprävention und demokratische Bildung) und die Infrastruktur wird immer wieder durch sich etablierende neue Netzwerke oder Arbeitsbereiche bereichert. Als Beispiele lassen sich das Norddeutsche Netzwerk Friedenspädagogik oder die Friedensakademie Rheinland-Pfalz nennen. Mit der Einrichtung der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg (siehe Articus et al., S. 20 und Rieche, S. 24 in diesem Heft) ist eine Institutionalisierung für den schulischen Kontext gelungen und in Niedersachsen werden Grundlagen für vergleichbare Entwicklungen gelegt. Der Arbeitskreis Friedenspädagogik der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) gibt Raum für Vernetzung, Erfahrungsaustausch und aktuelle Diskurse.

Eine neue, innovative und nachhaltige Dimension der wissenschaftlichen Infrastruktur wurde mit der Einführung von Masterstudiengängen zur Friedensforschung eröffnet. Zu dieser Form von Friedenslehre werden allein sieben über ganz Deutschland verteilte Angebote gezählt, darunter ein Studiengang mit explizit friedenspädagogischer Komponente (Tübingen).
Die große Nachfrage nach den verfu¨gbaren Studienplätzen zeugt von der Attraktivität dieser Masterstudiengänge“, so der Wissenschaftsrat (Wissenschaftsrat 2019, S. 42). Und eine aktuelle, gute Nachricht kommt aus dem Friedensinstitut Freiburg: Dort soll im Sommersemester 2022 erstmals in der Geschichte Deutschlands ein dreisemestriger Vollzeit-Masterstudiengang »Friedenspädagogik / Peace Education« starten (derzeit in Akkreditierung).

Lernschritte mit Perspektive

Trotz großer Lernschritte und Entwicklungen beim »Frieden lernen« bleibt die
„unzureichende theoretische Fundierung“ (Frieters-Reermann 2017, S. 96) eine Herausforderung. So gibt es noch immer keinen Lehrstuhl für Friedenspädagogik und die Fördermöglichkeiten sind mehr als begrenzt. Gleichzeitig steigen die Erwartungen: So heißt es im Nachhaltigkeitsziel 4 der UNO (SDG 4), dass eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit geschaffen werden soll. Diese soll helfen, dass bis 2030 alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben können. Deutschland könnte mit der gezielten Förderung von Friedenspädagogik einen starken Beitrag zur Umsetzung des Zieles leisten. In Zeiten der Covid-19-Pandemie, anhaltender Gewalt und Klimakrise, zunehmender Digitalisierung und Globalisierung sowie den friedenspädagogisch wichtigen gesellschaftlichen Debatten über Rassismus oder Dekolonialisierung muss die zukünftige Ausrichtung von Bildung neu ausgelotet werden. Dabei besteht
kein Zweifel darüber, dass Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu den Bedingungen zukunftsfähiger Bildung in der globalen Moderne gehören“ (Wulf 2020, S. 204). Dazu muss auch der systematische Austausch zwischen den „Überlebenspädagogiken“ (Lang-Woj­tasik 2019, S. 10) dringend verstärkt werden.

Literatur

Bernhard, A. (1988): Mythos Friedenserziehung. Zur Kritik der Friedenspädagogik in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Gießen: Focus.

Buddrus, V.; Schnaitmann, G. W. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik im Paradigmenwechsel. Allgemeinbildung im Atomzeitalter: Empirie und Praxis. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Calließ, J.; Lob, R. E. (Hrsg.) (1988): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 3: Friedenserziehung. Düsseldorf: Schwann.

Duncker, L. (Hrsg.) (1988): Frieden lehren? Beiträge zu einer undogmatischen Friedenserziehung in Schule und Unterricht. Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag.

Frieters-Reermann, N. (2017): Friedenspädagogik. In: Lang-Wojtasik, G.; Klemm, U. (Hrsg.): Handlexikon Globales Lernen. Ulm: Klemm+Oelschläger, S. 94-98.

Frieters-Reermann, N.; Lang-Wojtasik, G. (Hrsg.) (2015): Friedenspädagogik und Gewaltfreiheit. Denkanstöße für eine differenzsensible Kommunikations- und Konfliktkultur. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich.

Jäger, U. (2019): Friedenspädagogik. In: Gießmann, H. J.; Rinke, B. (Hrsg.): Handbuch Frieden. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: SpringerVS, S. 133-145.

Jäger, U. (2014): Friedenspädagogik in Zeiten des Kalten Krieges (1945-1989): Herausforderungen, Etappen, Erfahrungen. In: Kössler, T.; Schwitanski, A. J. (Hrsg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen: Klartext, S. 39-55.

Lang-Wojtasik, G. (2019): Große Transformation als große Verantwortung – Globales Lernen als Bildungsauftrag. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): SDGs: Globale Ziele, unterschiedliche Perspektiven?! Friedensbildung – Globales Lernen – Bildung für nachhaltige Entwicklung. Stuttgart, S. 10.

Lutz, D. S. (Hrsg.) (1984): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit in der Kultusministerkonferenz 1980-1983 – Arbeitsmaterialien zum Thema Frieden in Unterricht und politischer Bildung. Baden-Baden: Nomos.

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nicklas, H.; Ostermann, Ä. (1988): Kann man zum Frieden erziehen? Neue Überlegungen zu einem alten Thema. In: Antimilitarismus Information 12/1988, S. 148-152.

Nipkow, K.-E. (2007): Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Psychosozial (1985): Friedenspädagogik. Ausgabe 26, Reinbek bei Hamburg.

Röhrs, H. (1983): Frieden – eine pädagogische Aufgabe. Idee und Realität der Friedenspädagogik. Braunschweig: Agentur Pedersen.

Roth, K. F. (1967): Warum Friedenserziehung? Zit. nach: Heck, G.; Schurig, M. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik. Theorien, Ansätze und bildungspolitische Vorgaben einer Erziehung zum Frieden (1945-1985). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft., S. 95.

van Dick, L. (Hrsg.) (1984): Lernen in der Friedensbewegung. Verantwortung von Pädagogen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Wintersteiner, W. (2011): Von der „internationalen Verständigung“ zur „Erziehung für eine Kultur des Friedens“. Etappen und Diskurse der Friedenspädagogik seit 1945. In: Schlotter, P.; Wisotzki, S. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 345-381.

Wissenschaftsrat (2019): „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“.

Wulf, C. (2020): Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. Weinheim / Basel: Beltz.

Wulf, C. (Hrsg.) (1973): Kritische Friedenserziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Uli Jäger leitet bei der Berghof Foundation die Abteilung „Global Learning for Conflict Transformation“. Von 1986 bis 2012 war er Ko-Direktor des Instituts für Friedenspädagogik, Tübingen e.V.. 2017 erhielt Uli Jäger von der Universität Tübingen eine Honorarprofessur für Friedenspädagogik und Globales Lernen.

Gelingende Friedenslehre – Costa Rica

Ein Studium an der Friedensuniversität

Jedes Jahr zieht es ca. 200 internationale Studierende nach Costa Rica, um gemeinsam über Frieden und Konflikt in der Welt zu diskutieren, Theorien zu erlernen und praktische Erfahrungen auszutauschen – mittlerweile haben mehr als 1.600 Alumni die Ausbildung durchlaufen. Die Friedensuniversität bietet Masterstudiengänge und ein Doktorand*innenprogramm sowie zusätzliche Bildungsangebote an. Die Masterstudiengänge sind in drei Fachbereiche aufgegliedert: Friedens- und Konfliktforschung, Umwelt und Entwicklung sowie Internationales Recht. Das Programm gestaltet sich interaktiv, Exkursionen sind zentraler Bestandteil des Studiums.

In der Amtszeit des Präsidenten Rodrigo Carazo (1978-1982) wurde der Prozess zur Gründung der Friedensuniversität angestoßen. Am 5. Dezember 1980 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 35/55 zur Gründung der »Universität für den Frieden« (UPEACE). 41 Staaten wurden in der Folge Unterzeichnerstaaten der UPEACE-Charta.

Der Auftrag der Universität ist es, „der Menschheit mit einer internationalen Bildungseinrichtung für den Frieden zur Seite zu stehen mit dem Ziel, unter allen Menschen den Geist des Verständnisses, der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens zu fördern, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern anzuregen und dazu beizutragen, Hindernisse und Bedrohungen für den Weltfrieden und den Fortschritt abzubauen, im Einklang mit den edlen Bestrebungen, die in der Charta der Vereinten Nationen verkündet wurden“.

Die Universität, am Rande eines Naturschutzgebietes in der Nähe der Hauptstadt San Jose gelegen, steht für gelebte Diversität und zeichnet sich durch die internationale Lernatmosphäre aus. Seit einigen Jahren werden die Programme auch online angeboten. Für Masterstudierende weltweit besteht die Möglichkeit, ein Auslandssemester an der Universität zu verbringen.

Für weiterführende Informationen: upeace.org

Frieden lernen – Der Weg aus dem Nichtschwimmerbecken

Frieden lernen – Der Weg aus dem Nichtschwimmerbecken

von Klaus Harnack

Neulich im Freibad fiel mir auf, was mir wirklich in den Zeiten der Isolation und des Social Distancing gefehlt hat: die öffentliche Bühne, der mit fremden Menschen geteilte Raum, die soziale Nähe. Es war schön, die fast vergessene Vielfalt der körperlichen Physiognomien und Verhaltensmuster zu bestaunen. Beim schweifenden Blick über das Nichtschwimmerbecken, beim Beobachten des bunten Treibens im kühlen Nass, kam mir der Leitgedanke der Konzeption dieser Ausgabe wieder in den Sinn:

Während zwei Jungen im Grundschulalter sich unerlässlich im gegenseitigen Untertauchen übten, trainierte eine weitere Fraktion Knirpse mit Wasserpistolen den gezielten Schuss ins ungeschützte Gesicht. Begleitet wurden diese Szenen von der im knietiefen Wasser hockenden Elternschaft, die damit beschäftigt war, den Nachwuchs zur Umsicht zu bewegen, auf andere Rücksicht zu nehmen und sich für Regelüberschreitungen direkt zu entschuldigen. Im kleinen westfälischen Nichtschwimmerbecken zeigte sich also, was auch allgemein gültig zu sein scheint: Während die Physis, die körperliche Dominanz zur Verhaltenskoordination und Ausbildung von sozialen Strukturen, bei Kindern von selbst entsteht, scheint das Konfliktmanagement eine kulturelle erzieherische Tätigkeit zu sein. In Kürze: Krieg kommt von alleine, Frieden muss erlernt werden.

Die vorliegende Ausgabe von W&F widmet sich genau diesem Spannungsfeld, wie das Lernen und Lehren des Friedens gelingen kann. Wir beleuchten in diesem Heft die wichtigsten Konzepte der Friedenslehre und Friedenspädagogik, wagen einen Blick über den Tellerrand und schauen nach Japan, auf ein Land mit einer strikten, normativen Friedensdoktrin, das langsam versucht sich aus der bequemen Opferrolle zu emanzipieren. Im Heft kommen aber ebenso die geschichtliche Entwicklung der Friedenslehre in Deutschland und sehr konkrete Praxis von Friedenspädagogik zum Ausdruck: wir blicken auf anwendbare Ansätze, die uns die Verhandlungspsychologie zur Verfügung stellt und stellen eine Reihe von praktischen Projekten vor, die sich der Lehre des Friedens oder der Vermittlung von Konfliktkompetenzen in Schule, außerschulischer Bildungsarbeit, Universitäten oder der Allgemeinheit verschrieben haben.

In dieser Ausgabe soll also die Idee des Friedens bzw. der vielen Frieden als Produkt von »Friedfähigkeit« und »Friedfertigkeit« (in friedensbereiten Strukturen) beleuchtet werden. Dabei benennt der in der Literatur eher selten auftauchende Begriff der Friedfähigkeit die vorauszusetzende Grundlage. Denn damit ist die Gesamtheit der zur Erlernung des Friedens erforderlichen Bedingungen gemeint, die Summe aller Voraussetzungen, die zur Ausführung einer Fertigkeit erforderlich sind. Sind diese Grundlagen gegeben, kann die weitaus öfter thematisierte Friedfertigkeit ins Spiel kommen, die durch Motivation und Übung entstehen kann.

Das entstehende Produkt „Frieden gestalten und leben“ kann wiederum am Beispiel des Schwimmens illustriert werden. Hier sind die »Schwimm-Fähig­keiten« der natürliche Auftrieb und die Beweglichkeit der Arme und Beine, während das Üben der Schwimmtechniken, das Atmen und das Tauchen die »Schwimm-Fertigkeiten« darstellen. Durch das Beispiel wird deutlich, dass eine kulturelle Verankerung der Friedenslehre essentiell ist, auch wenn im Idealfall alle Voraussetzungen für Friedensfähigkeit gegeben sind – denn so wie jede Generation erneut das Schwimmen lernen muss, muss jede Generation Friedfertigkeit erlernen. Über die reine materielle Ausstattung und Bedürfnisbefriedigung, die im globalen Norden die Grundlage der Friedfähigkeit darstellt, wird Frieden nicht automatisch entstehen, es fehlt die Ausbildung der Fried­fertigkeit. Doch wie wird diese erlernt?

Schaut man ins Nichtschwimmerbecken, scheint es auf den ersten Blick ganz einfach. Doch was ist mit den Situationen, in denen die Herstellung des Friedens kompliziert wird? Wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen? Wenn die Erkenntnis durchsickert, dass Gut und Böse nie existiert haben? Wenn es auf beiden Seiten richtige und unumstößliche Tatsachen gibt und keine klaren Interessen formuliert werden können? Wenn Rache oder andere niedere Motive die Handlung treiben? Wenn der Faktencheck alleine nicht mehr hilft und auch die Wissenschaft keine klaren Antworten bieten kann?

Kann dann Frieden, wie in der japanischen Verfassung, normativ verankert werden? Kann Friedfertigkeit über die Reproduktion friedensnormativer Mantras entstehen? Mit dieser Ausgabe wollen wir Friedfertigkeit weniger als fixen Satz an Befähigungen verstanden wissen, sondern das kontinuierliche Friedenslernen in den Mittelpunkt rücken. Wir meinen, so können wir der Interdependenz, Dynamik und Komplexität der Herausforderung »Frieden zu lernen« gerecht werden.

Genießen Sie die Lektüre dieser Ausgabe, kommen Sie gut durch den Sommer und finden Sie Ihre Antwort auf die Frage, wie der Weg aus dem Nichtschwimmerbecken beschritten werden kann.

Ihr Klaus Harnack

Friedens-Bildung in einer globalisierten Welt?


Friedens-Bildung in einer globalisierten Welt?

AK Friedenspädagogik der AFK, Hamburg, 11.-13. November 2019

von AK Friedenspädagogik

Wie können wir politischen, klimatischen und soziokulturellen Herausforderungen friedens-pädagogisch begegnen? So lautete die zentrale Fragestellung der Tagung »Friedens-Bildung in einer globalisierten Welt? Herausforderungen und Möglichkeiten für die Friedenspädagogik« des Arbeitskreises Friedenspädagogik der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK).

Dr. Klaus Seitz bot uns in seiner Keynote einen Überblick über die weltpolitische Lage, um die Herausforderungen zu konkretisieren. Deutlich wurde in seinem Vortrag »Die Welt aus den Fugen – Neue Konfliktkonstellationen und die Zukunft globaler Politikgestaltung in der Weltgesellschaft«, dass weniger die Politik die Welt gestaltet als wirtschaftliche Unternehmen, deren »Interessen« zum großen Teil nicht in der Erhaltung der Welt als Lebensraum für alle auf ihr Lebenden liegen. Die Sustainable Development Goals – kurz SDG – der Agenda 2030, Soziales, Umwelt und Wirtschaft zusammenhängend zu denken und danach zu handeln, erweisen sich bislang vielmehr als unerreichbare Zielvorstellungen bzw. Richtlinien, die nicht eingehalten werden, nach dem Motto »die Welt ging grundlegend in die andere Richtung«. Die SDGs würden zwar, wie auch andere politische Beschlüsse, Möglichkeiten zur Verbesserungen des planetarischen Zustands aufzeigen, die wirtschaftspolitische Praxis bewirkt aber eine gegenteilige Entwicklung. Einen Rahmen für diese Entwicklung bietet das neoliberale Paradigma, in dem sich die westlichen Gesellschaften seit ca. 40 Jahren bewegen und das sich insbesondere in den letzten 20 Jahren durch die Ökonomisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche manifestieren konnte. Dr.in Bettina Gruber und Dr.in Josefine Scherling vertieften mit ihrem Beitrag zu »Friedens- und Menschenrechtsbildung innerhalb eines neoliberalen Paradigmas – Herausforderungen und Perspektiven« die vorhergegangenen Ausführungen von Dr. Klaus Seitz.

Der Verwertungslogik des neoliberalen Paradigmas können (bzw. konnten) sich gesellschaftliche Bereiche, deren Aufgabe eben gerade nicht in der Gewinnmaximierung und Nutzbarmachung liegt, scheinbar nicht mehr entziehen. Verbunden ist mit dem auf Wachstum (des Kapitals) ausgerichteten Paradigma auch eine zunehmende Ent-Demokratisierung.

Was lässt sich also einer zunehmenden Entdemokratisierung von bislang als demokratisch betrachteten Gesellschaften und einer marktkonformen Bildung entgegensetzen? Und wie? Wie lassen sich unterschiedliche Zivilgesellschaften stärken?

Die Herausforderungen einer Friedens-Bildung bestehen, so die Diskussion auf der Tagung, auf vielen Ebenen, auf die wir auf unterschiedliche Weise Einfluss nehmen können.

Pädagogische Handlungsmöglichkeiten liegen, so machte Dr.in Patricia Baquero Torres in ihrem Vortrag »Die Relevanz eines postkolonialen Blicks auf Wissen und Gesellschaft und die Herausforderungen für eine entsprechende Friedensbildung« deutlich, darin, die Komplexität von Machtstrukturen in pädagogischen Settings wahrzunehmen, zu reflektieren und zu transformieren. Hier können vor allem post- und dekoloniale Ansätze hilfreich sein, welche die Sichtbarmachung von Machtstrukturen und -verhältnissen aufzeigen, die auf binären Oppositionen basieren. Ein zweiter Fokus lag auf dem Ansatz der »Care Ethic« nach Carol Gilligan, der auf die emotionale Bildung aufmerksam macht. Emotionen sind grundlegend für unsere – moralischen – Entscheidungen. Die Reflexion postkolonialer Strukturen und die Selbstreflexion emotionaler Eingebundenheit in diese können dann zu einer gewaltfreien Konflikttransformation führen.

In den anschließenden Arbeitsgruppen und der Podiumsdiskussion mit Expert*innen aus der Praxis (Michael Liebert, Umweltbildung; Robert Pechhacker, Gewaltprävention; Christoph Rößler, Politische Bildung) wurden die Notwendigkeit der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und die Ansprache als »ganzer Mensch«, nicht nur als Verbraucher*in, diskutiert. Bildungsinstitutionen sind daher gefragt, Erfahrungsräume zu schaffen, in denen Lern- und Bildungsprozesse angeregt werden können, die verantwortliches Handeln in Bezug auf die Welt, in der wir leben, ermöglichen. Eine stärkere Vernetzung und Kooperation pädagogischer Teilbereiche, wie Umweltbildung, Politische Bildung, Demokratiebildung, vorurteilsbewusste Bildung, scheint daher dringend geboten.

Unterstützt wurde die Tagung vom Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation – ikm, Hamburg; dem Christlichen Verein junger Menschen – CVJ, Hamburg; der Hochschule für angewandte Wissenschaften – HAW, Hamburg; dem Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Alpen-Adria-Universität Klagen­furt (Österreich).

AK Friedenspädagogik der AFK

Kultur(en) des Friedens

Kultur(en) des Friedens

Tagung des AK Friedenspädagogik der AFK, 15.-17. Oktober 2018, Salzburg

von AFK

Über 150 Personen fanden sich im Oktober 2018 im Bildungszentrum St. Virgil ein, um die Vielfalt der Friedensarbeit kennenzulernen und Impulse für ihre beruflichen und privaten Wirkungsfelder zu erhalten. In der gemeinsam vom Friedensbüro Salzburg, St. Virgil Salzburg, dem Arbeitskreis Friedenspädagogik in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. und der Stille Nacht 2018 GmbH veranstalteten Tagung »Kulturen des Friedens – Harmonie. Spannung. Widerstand« wurden Zugänge und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar gemacht und Möglichkeiten der ganzheitlichen Verschränkung und Vernetzung aufgezeigt. Dabei zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zugängen nicht reibungsfrei verläuft, sondern Dilemmata und Spannungsfelder entstehen lässt. Diese wurden in den Vorträgen, Diskurs­panels und vorgestellten Praxisbeispielen aufgegriffen und konstruktiv thematisiert.

Nach der offiziellen Eröffnung der Tagung durch Martina Berthold und Landeshauptmann Wilfried Haslauer ging Isolde Charim in ihrem Eröffnungsvortrag »Der andere Name des Friedens« der Frage nach, was Frieden im politischen Sinn bedeutet. Frieden, so betonte sie, ist mehr als ein bloßer Zustand des Nicht-Krieges: Frieden ist die Hegung von Konflikten. Diese gehegten Konflikte muss eine Demokratie nicht nur aushalten und in eine politische Form übersetzen können; vielmehr lebt sie von ihnen. In Demokratien, so Isolde Charim weiter, ist Konflikt daher nicht »das Andere« des Friedens, sondern vielmehr dessen Bedingung. Konstruktiver Dissens – und nicht soziale Harmonie – ist ihr Kitt.

Am zweiten Tag umriss die Friedens- und Konfliktforscherin Hanne-Margret Birckenbach die Grundlagen einer friedenslogischen (Europa-) Politik. Wie kann es gelingen, dem Leitbild des Friedens zu folgen, ohne legitime Interessen, wie die eigenen Sicherheit und das eigene Wohlergehen, zu gefährden? Die Antworten darin sieht sie vor allem im gewaltfreien, konstruktiven und dialogischen Umgang mit Problemen. Im Anschluss skizzierte der Friedenspädagoge Werner Wintersteiner den Zusammenhang zwischen Bildung und den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet ist. Er sieht in einer »Kultur des Friedens« die Möglichkeit, diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen klarer herauszuarbeiten. Der dritte Vortrag des Tages wurde von Ingo Bieringer gehalten. Er näherte sich der Frage, wie man mit Ambivalenzen und Spannungen umgehen kann, aus systemischer Sicht.

Anliegen der Tagung war es, verschiedene Standpunkte zum Thema aufzugreifen und in einem Dialog zu vergleichen und zusammenzuführen. Dementsprechend war die Tagung diskursorientiert angelegt: Jeweils drei hochkarätige Referent*innen führten kontroverse, aber konstruktive Diskussionen zu Grundfragen der politischen Bildung, Arbeitspolitik, Medien, Populismus, dem Spannungsfeld zwischen Frieden, Freiheit und Sicherheit und zur Globalen Agenda 2030. Dabei wurde deutlich, dass Frieden kein Nischenthema einer überholten Bewegung ist. Moderne Friedensarbeit muss vielmehr neue Formen der Artikulation und des Aktionismus finden und breit gefächerte Initiativen in ganz unterschiedlichen Bereichen setzen. In den anschließenden praxisorientierten Workshops bot sich für die Teilnehmenden die Möglichkeit, Handwerkzeug für solch eine Friedensarbeit kennenzulernen und bestimmte Themen zu vertiefen.

Der dritte und letzte Tag der Veranstaltung stand ganz im Zeichen der Praxis: Im Rahmen von Good-Practice-Panels wurden jeweils drei Projekte zu einem bestimmten Thema vorgestellt, diskutiert und kritisch verglichen. Im Kern stand die Frage, in welchen Spannungsfeldern sich die Projektverantwortlichen bewegen und wie sie mit diesen konstruktiv umgehen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion mit dem Karikaturisten Gerhard Haderer, der Volkskundlerin Elsbeth Wallnöfer und dem Präsidenten der Stille Nacht Gesellschaft, Michael Neureiter. Alle drei sprachen sich für mehr Mut in der Friedensarbeit aus. „Schärft eure Sprache, traut euch mit eurer Arbeit nach außen“, so Wallnöfer. Michael Neureiter fügte hinzu: „Vielleicht finden sich heute andere Wege als die Demonstrationen in den 1980ern“.

In diesem Sinne lieferte die Tagung zahlreiche Impulse und Aktionsformen für ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Bereiche, die eines eint: der unermüdliche Einsatz für den Frieden.

Im Rahmen der Tagung fand auch ein Theoriearbeitskreis des Arbeitskreises Friedenspädagogik der AFK statt, der bereits ein Jahr läuft. Dort wurden folgende Fragen gestellt:

  • Was verstehen wir heute unter Frieden (vertiefende Auseinandersetzung, die in Salzburg begann)?
  • Vertiefung der interdisziplinären Ausein­andersetzung im Kontext der Friedensbildung mit Texten aus der Friedenspädagogik und verwandten Feldern, Friedensforschung, Gewaltforschung, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Globales Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung …
  • Was brauchen die Praktiker*innen an Theorie für ihre konkrete Arbeit, was wäre ihnen hilfreich seitens der Wissenschaft?

Die nächste Jahrestagung findet von 11. bis 13. November 2019 in Hamburg im Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. (IKM) statt. Thema: »Lernen in der globalisierten Welt – Herausforderungen für die Friedenspädagogik«.

Die Pädagogin Minna Specht

Die Pädagogin Minna Specht

Erziehung für den Frieden

von Sebastian Engelmann

Pazifismus, Frieden, Demokratie – diese Worte tauchen auch in pädagogischen Zusammenhängen regelmäßig auf. Oft bleiben sie unklar, undifferenziert und vage. Dieser Beitrag möchte versuchen, dieses Defizit mit Blick auf die Pädagogin Minna Specht aufzulösen. In einem ersten Schritt wird ein Überblick über das Leben dieser Kämpferin für die Gerechtigkeit gegeben sowie ein Einblick in ihre Überlegungen zur Pädagogik – sowohl in diejenigen theoretischer wie diejenigen praktischer Art – gewährt. In einem zweiten Schritt werden zentrale Textstellen verwendet, um die besondere Bedeutung der pazifistischen Grundhaltung Spechts für ihre Pädagogik herauszuarbeiten. Dabei wird gezeigt, dass Specht Frieden und Gerechtigkeit zusammen denkt und auch die interkulturelle Verständigung berücksichtigt: Im Sinne Spechts ist Frieden nicht der Normalzustand, vielmehr muss dieser aktiv geschaffen werden.

Mina Specht wurde am 22.12.1879 in Reinbek in der Nähe von Hamburg geboren.1 Als jüngstes von sieben Kindern wuchs sie zwar in relativem Wohlstand auf, aber auch ihre Familie war abhängig von der Ernte und von Touristen. Specht wurde Lehrerin. Nach ihrer Ausbildung am Lehrerinnenseminar arbeitete sie zunächst an einem Hamburger Mädchengymnasium, entschied sich dann aber doch für ein zusätzliches Studium in Göttingen. Dort lernte sie Leonard Nelson kennen, ein an der Philosophie Immanuel Kants orientierter Denker, der nicht nur in der eigenen asketischen Lebenspraxis, sondern auch in späteren praktisch-pädagogischen Konzepten die Werte der Wissenschaftlichkeit und Exaktheit vertrat. Die beiden verpflichteten sich dem politischen Kampf, der Durchsetzung des Sozialismus. 1917 gründeten sie „unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges“ (Hansen-Schaberg 1993, S. 219) den »Internationalen Jugendbund«, der 1926 in den »Internationalen Sozialistischen Kampfbund« überging. Im Jahr 1924 übernahm Specht mit Nelson die Leitung des Land­erziehungsheims Walkemühle in der Nähe von Melsungen.

Landerziehungsheime sind eine spezifische Form von Internat mit reformpädagogischer Orientierung, die bis heute existiert. Gegenwärtige Beispiele sind Schloss Bieberstein in der Nähe von Fulda oder das Landerziehungsheim auf der Nordseeinsel Spiekeroog. Sie stehen in der Tradition des deutschen Pädagogen Hermann Lietz (vgl. Koerrenz 2011). In der Walkemühle wurde sowohl eine Kinder- als auch eine Jugendabteilung eingerichtet. Erstere arbeitete auf das Ziel hin, mit reformpädagogischen Maßnahmen die Entfaltung der Persönlichkeit auf ganzheitlicher Grundlage zu ermöglichen, letztere fokussierte auch die so genannte Führererziehung. Offiziell wurde die Gleichbehandlung der Geschlechter – fast schon in Form von »undoing gender«2 – angestrebt; in der Realität fand sich aber eine einseitige „männlich orientierte Rigorosität sowie eine einseitige Vernunftbetonung und Zurückdrängung von Emotionen“ (Hansen-Schaberg 1993, S. 220), die in der heutigen pluralen Gesellschaft problematisch erscheint.

Worum ging es aber grundsätzlich in diesem pädagogischen Konzept? Inhaltlich war vor allem die konkrete Anschauung und persönliche Konfrontation mit gesellschaftlichen Realitäten und deren erfahrungs- und theoriebezogener Aufarbeitung vorgesehen“ (Hansen-Schaberg 1993, S. 221), die auf ein gesteigertes Bewusstsein der Verantwortung und auf die Verknüpfung der eigenen Handlungen mit gesellschaftlichen Problemen abzielte. Zugleich transportierte diese Art der Pädagogik ein positives Geschichtsverständnis: Menschen können die Umstände, in denen sie leben, ändern! An dieser Vorstellung hielt Specht auch fest, als die Nationalsozialisten die Walkemühle schließen ließen. Sie ging mit einigen Kindern ins Exil, erst nach Dänemark, dann nach Wales. Während dieser erlebnisreichen Zeit3 änderte sich ihre Vorstellung von „Erziehung mit pädagogisch-politischem Anspruch […], die in den 20er Jahren unter dem Einfluß von Leonard Nelson noch starre dogmatische und autoritäre Zuge trug“ (Hansen-Schaberg 1993, S. 225). Jetzt betonte sie die Freiheit des Individuums und erkannte das Selbstvertrauen als Mittel, um die Ohnmacht zu überwinden. „Demokratiefähigkeit, Friedensbereitschaft und Toleranz“ (Hansen-Schaberg 1993, S. 226) sind die Ziele dieser Erziehungsvorstellung.

In welchem Verhältnis stehen diese Ziele aber zur Erziehungswirklichkeit, und wie wichtig ist die pazifistische Einstellung Spechts?

Gegen Militarismus und Fremdenfeindlichkeit

Zur Verdeutlichung dieser Vorüberlegungen werden nun Spechts Texte »Die Frau und das Problem der militärischen Jugendorganisation« von 1917 und der im Exil geschriebene Entwurf »The Scheme for an International School« von 1939 in den Blick gerückt.4

Ausgehend von einer emphatischen Kritik am Töten im Ersten Weltkrieg thematisiert Specht im ersten Text den prinzipiellen Gegensatz zwischen Kultur und Waffengewalt (vgl. Specht 1917, S. 56). Statt eines bloßen Erleidens des Grauens des Krieges gelte es besonders für die Frauen, „von passiven Märtyrerinnen zu leidenschaftlichen Mitkämpfern [zu] werden aller derer, die der einseitigen Betonung des Kriegsideals den Rücken wenden“ wollen (Specht 1917, S. 56). Friedensarbeit, so Specht, müsse geleistet werden.

Das bereits erwähnte positive Bild von der Wirkmächtigkeit des einzelnen Menschen in der Geschichte wird auch hier ersichtlich. Fokussieren andere Autor*innen insbesondere Spechts Positionierung in Bezug auf die Frauenemanzipation, ist es hier von besonderer Bedeutung, auf Spechts Verständnis von Frieden zu achten. Diesen versteht sie nämlich nicht als kurzfristigen Frieden, sondern vielmehr als ewigen Frieden5 – vielleicht ein fernes Ideal, aber keine Utopie (Specht 1917, S. 56) –, den es anzustreben gelte. Nach Specht sei es nicht nur prinzipiell sinnvoll, Frieden anzustreben, sondern sogar „die heilige Verpflichtung einer Generation, die es mit angesehen hat, wie die Verhetzung der Völker zum fürchterlichen Morden geführt hat“ (Specht 1917, S. 56). Die »verpflichtete Generation« habe die Pflicht, aktiv für Frieden zu sorgen.

Frieden wird von ihr zum höchsten Ziel des menschlichen Handelns erklärt. Und dies bezieht sich nicht nur auf das Aufbegehren gegen einen Angriffskrieg. Specht rekurriert hier auf die Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland. Auch in dieser Situation müsse eine „ehrliche Friedensliebe“ (Specht 1917, S. 57) bestehen bleiben, die sich jeder Form von militärischer Auseinandersetzung verweigert. Statt den Militarismus zu fördern – nichts anderes intendierte das Reichsjugendwehrgesetz, mit dem Specht sich in ihrem Artikel auseinandersetzt –, gelte es, Jugendliche „in dem Gedanken der Verständigung der Völker heran[zu]bilden“ (Specht 1917, S. 57), um eine Basis für friedliches Miteinander zu schaffen. Das Reichsjugendwehrgesetz stehe diesem Ziel diametral entgegen; gerade auch deshalb, weil es die Individualität der Kinder und Jugendlichen nicht wahre.

Die Lösung Spechts liegt in einer Verknüpfung von Erziehung in Institutionen, welche durch die oben genannten Werte gesteuert sind, und der Einbeziehung der Familie, besonders der Mutter. Basis hierfür sei allerdings Solidarität – und an dieser fehlt es laut Specht in der damaligen Gesellschaft. Einen Vorschlag, wie diese Solidarität als Bedingung der Möglichkeit von Frieden durch Erziehung realisiert werden kann, liefert Specht in »The Scheme for an International School« von 1939.

Die Relevanz von internationalem Austausch und friedlicher Zusammenarbeit zeigten sich bei Specht bereits in ihrer sozialistischen Grundhaltung. Aber auch ihre pädagogischen Konzepte sind von jenen Prinzipien geprägt. So ist es kein Wunder, dass sie auch Schule international denkt, stets die Vorbereitung einer offenen Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland im Blick (vgl. Hansen-Schaberg 1992, S 217). Nationalismus ist für Specht ein Grund für kriegerische Auseinandersetzungen. Erziehung soll Nationalismus verhindern. Erreicht werden soll dies unter anderem über die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft, die aus allen europäischen Ländern stammen und genug Zeit erhalten soll, um feste Bindungen aufzubauen. Weiter wird das Zusammenleben, ganz im Sinne der oft spartanisch ausgestatteten Landerziehungsheime, bewusst auf das Einfachste reduziert. Beim Meistern ihres eigenen Lebens und durch ihre eigene Arbeit sollen die Kinder ihre Wirkmächtigkeit erfahren und so „eine neue Welt mit ihren kreativen Energien aufbauen“ (Hansen-Schaberg 1992, S. 218). Die eigenständige Arbeit der Kinder solle durch angemessene Ausstattung der Schule ermöglicht werden, z.B. in Schulgärten und Werkstätten; die Schule sollte außerdem unabhängig von ihrer Herkunft für alle Menschen zugänglich sein.

Aus Perspektive einer friedensethisch interessierten Pädagogik ist besonders die moralische Fundierung der Erziehung von Interesse: Die Erziehung sollte eine moralische Grundlage haben, denn nur moralische Stärke kann die Gefahr besiegen, Probleme durch Gewalt zu lösen. Das bedeutet, es sollte eine Atmosphäre der Freiheit, Friedlichkeit und Hoffnung bestehen, welche die Schüler dazu ermutigt, ihre eigenen Bestrebungen nach Kameradschaft zu verfolgen. Außerdem ist die Moralität die einzig wahre Grundlage für Toleranz, die jedoch nicht aus Skeptizismus und Opportunismus, sondern aus geduldigem und starkem Glauben an die Wahrheit entstehen sollte.“ (Specht 1939, S. 53)6

Diese Facetten von Spechts pädagogischen Ideen machen deutlich, dass sie den Wert des Friedens und den Wert der Wahrheit als Leitlinien für Erziehung ansetzt. Wahrheit und Frieden äußern sich in einem gerechten und toleranten Miteinander. Dieses Miteinander könne den Kindern aber nicht aufgenötigt werden. Stattdessen gelte es, durch die geschickte und vorausschauende Konstruktion eines pädagogischen Settings die Bestrebungen der Kinder nach internationalem Dialog zu unterstützen. Dies solle durch eine Atmosphäre der Offenheit und Friedfertigkeit in der Institution Schule realisiert werden – ein bis heute noch nicht umgesetztes Unterfangen, mit dem sich Schulen immer konfrontiert sehen. Gerade dieser Punkt macht Minna Specht auch für die aktuelle friedenspädagogische Diskussion überaus relevant.

Pazifismus und Bildung für nachhaltige Entwicklung – Verflechtungen

Unter Frieden lässt sich mehr als die Abwesenheit von Gewalt verstehen, nämlich eine „gelingende Form menschlichen Zusammenlebens“ (Huber und Reuter 1990, S. 21); Frieden wäre somit eine spezifische Gesellschaftsform. Begreift man Frieden in diesem Sinne, so wird deutlich, dass Bildung und Erziehung maßgebliche Stellschrauben auf dem Weg zur Realisierung eines solch umfassenden Friedens sein können. Begreift man Frieden spezifischer über verschiedene Indikatoren wie den „Abbau von Not, Vermeidung von Gewalt, Verminderung von Unfreiheit“ (Huber und Reuter 1990, S. 22), sieht man, dass die Kritik Spechts an der Militarisierung von Erziehung und ihr Plädoyer für eine internationale Erziehung als friedensbildende Maßnahme eben diese Entwicklungen verhindern oder zumindest abmildern soll. Die Militarisierung von Erziehung, die von Specht kritisiert wird, sei durch eine unbedingte Erziehung zur Friedfertigkeit zu ersetzen, um perspektivisch Not und Gewalt zu verhindern. Specht bietet die oben aufgeführten und durchaus als pädagogische Handlungsanweisungen gemeinten Elemente an, damit eine solche Form der Erziehung in der Schule umgesetzt werden kann. Durch vermehrten Kontakt, Partizipationsmöglichkeiten und die gerechtigkeitstheoretisch fundierte Durchsetzung allgemeiner Gleichheitsprinzipien soll eine „pädagogische Atmosphäre“ (Bollnow 2013, S. 50) entstehen, in der ein gemeinsames und friedliches Miteinander möglich ist.

Obwohl die Ideen Spechts nun bereits einige Jahrzehnte alt sind und wie eingangs erwähnt kaum rezipiert wurden, stimmen sie doch mit den Zieldimensionen der so genannten »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) überein.7 Vorausschauendes Handeln, weltoffene Wahrnehmung, Alteritätskompetenz, interdisziplinäres Arbeiten, die Kompetenz zur Partizipation, Planungs- und Umsetzungskompetenz sowie die Fähigkeit zu Solidarität, Mitleid und Empathie, Selbstmotivation, Motivation von anderen und nicht zuletzt die „distanzierte Reflexion über individuelle wie kulturelle Leitbilder“ (vgl. de Haahn 2002, S. 15-16) stellen das mit Inhalt zu füllende Kompetenznetz von BNE dar. So steht eine unbedingte Friedfertigkeit wie bei Specht „heute nicht mehr unter dem politischen Generalverdacht der pazifistischen Indoktrination“ (Grasse/Gruber/Gugel 2008, S. 7), sondern erscheint als vollwertiges und anerkanntes – trotzdem natürlich zu legitimierendes – Erziehungsziel..

Folgt man der erziehungstheoretischen Differenzierung von Ansätzen, die Frieden »machen«, und denen, die Frieden »wachsen lassen« (vgl. Bollnow 2013, S. 59) wollen, wird deutlich, dass der Ansatz Spechts genau zwischen diesen Polen angesiedelt ist. Sie lässt erkennen, dass es nicht nur ein von außen aufoktroyiertes Ziel sein kann, Frieden zu erwirken. Stattdessen ist in ihren Überlegungen zur Ethik die Friedfertigkeit als grundlegende Fähigkeit des Menschen angelegt. Diese werde aber durch gewaltsame Verhältnisse und Strukturen in ihrer Entwicklung gehemmt. Nur in einem pädagogisch sinnvoll strukturierten Rahmen können Anregungen gesetzt werden, um Frieden zwischen den Menschen zu ermöglichen.

Dieses Konzept verfolgen zahlreiche Projekte im Bereich BNE. Nicht nur schulische Bildung, sondern auch nicht-formale Bildungsprozesse sind Felder, auf denen friedensbildende Maßnahmen ihre Früchte tragen können. Möglicherweise sind ebendiese nicht-formalen Bildungsprozesse, integriert in den eigenen Alltag, wie das bei Minna Spechts Projekten im Exil der Fall war, die Orte, an denen Menschen lernen können, was es bedeutet, den Frieden selbst zu befördern.

Specht ermöglicht es, formale und nicht-formale Bildungsprozesse nicht mehr als Gegensätze zu begreifen, sondern beide Elemente als in- und miteinander verwoben zu denken. Wie schon der bekannte Pädagoge Pestalozzi formulierte: „Das Leben bildet, und das bildende Leben ist nicht Sache des Wortes, es ist Sache der Tat.“ Grundlage und Ziel sind eins: Die pazifistische Einstellung wird genutzt, um Pädagogik zu gestalten, und ist zugleich Ziel des Bildungsprozesses.

Anmerkungen

1) Die Ausführungen zur Biographie Minna Spechts stammen – wie auch viele weitere Informationen – aus den umfangreichen Arbeiten von Inge Hansen-Schaberg (vgl. Hansen Schaberg 1993; Hansen-Schaberg 1992), die sich als eine der wenigen Autor*innen in Deutschland mit der Pädagogik Spechts auseinandergesetzt hat. Für alle Interessierten ist die Dissertationsschrift Hansen-Schabergs unbedingt empfehlenswert.

2) Unter diesem Begriff versteht man besonders im institutionellen Kontext die Neutralisierung von Geschlechterzusammenhängen. Der Begriff bildet das Gegenstück zu »doing gender«, was unter anderem auf die Ideen der Ethnomethodologie des Soziologen Erving Gofmann, aber auch auf Candance West und Don Zimmermann zurückgeht. Bewusste Neutralisierungsarbeit wird zum Beispiel bei anonymisierten Bewerbungen vorgenommen.

3) Besonders die Zeit in Dänemark ist gut aufbereitet. Der Bericht über Minna Spechts Wirken in Dänemark findet sich in Birgit S. Nielsens Buch »Erziehung zum Selbstvertrauen« (Nielsen 1985).

4) Der erste Text erschien 1917 in einem Sammelband zum Reichsjugendwehrgesetz, der zweite wurde dank der Neuherausgabe ausgewählter Schriften Spechts durch Inge Hansen-Schaberg sei 2006 in einer Quellensammlung erneut verfügbar gemacht (vgl. Specht 2006). Auch zum Verhältnis von Politik, Parteiarbeit und Pazifismus in der Emigration existiert ein informativer Sammelband (vgl. Häntzschel/Hansen-Schaberg 2010).

5) Spannend wäre es, an dieser Stelle die Schrift Kants »Zum ewigen Frieden« mit den Ideen Spechts in den Dialog treten zu lassen.

6) Der Text ist im Original auf Englisch. Alle Zitate wurden von mir ausgehend von der im Jahr 2006 veröffentlichten Version ins Deutsche übersetzt.

7) Nachhaltigkeit – oft verkürzend als rein ökologisches Konzept verstanden – meint „eine Entwicklung, die die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält“ (Brundtland-Bericht 1987). Dieser Deutung entsprechend meint Nachhaltigkeit auch die Ermöglichung und Sicherung des friedlichen Zusammenlebens von Menschen. Im Zusammenhang mit dem Verständnis von Frieden im vorliegenden Text können auch die »nachhaltigen Entwicklungsziele« der Vereinten Nationen als Schritte auf dem Weg zum Frieden gedeutet werden: Die Durchsetzung der Ziele soll eine friedliche, inklusive und gerechte Welt ermöglichen. Verankert sind sie in der »Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung« der Vereinten Nationen.

Literatur

Bollnow, O.F. (2013): Anthropologische Pädagogik. Schriften, Bd. 7, Würzburg: Königshausen & Neumann.

De Haan, G. (2002): Die Kernthemen der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklung. 25 (1), S. 13-20.

Grasse, R.; Gruber, B.; Gugel, G. (2008): Einleitung. In: dieselben (Hrsg.): Friedenspädagogik – Grundlagen, Praxisansätze, Perspektiven. Hamburg: Rowohlt, S. 7-18.

Hansen-Schaberg, I. (1992): Minna Specht – Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung (1918-1951). Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang.

Hansen-Schaberg, I. (1993): »Lehrjahre« in Göttingen – Die politische Pädagogin Minna Specht 1879-1961. In: Weber-Reich, T. (Hrsg.): „Des Kennenlernens werth“ – Bedeutende Frauen Göttingens. Göttingen: Wallstein, S. 212-226.

Huber, W.; Reuter, H.-R. (1990): Friedensethik. Stuttgart: Kohlhammer.

Koerrenz, R. (2011): Hermann Lietz – Einführung mit zentralen Texten. Paderborn: Schöningh.

Nielsen, B.S. (1985): Erziehung zum Selbstvertrauen – Ein sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil. Wuppertal: Peter Hammer.

Specht, M. (1917): Die Frau und das Problem der militärischen Jugendorganisation. In: Förster, F.W. (Hrsg.): Das Reichs-Jugendwehr-Gesetz. Leipzig: Verlag Naturwissenschaften.

Specht, M. (1939): The Scheme for an International School. In: Specht, M. (2006): Gesinnungswandel – Beiträge zur Pädagogik im Exil und zur Erneuerung von Erziehung und Bildung im Nachkriegsdeutschland. Herausgegeben und eingeleitet von Inge Hansen-Schaberg unter Mitarbeit von Siegrid Rathgens. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang.

Sebastian Engelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Historische Pädagogik und Globale Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Expedition zum Frieden

Expedition zum Frieden

Vom partizipatorischen Umgang mit regionaler Kriegserinnerung

von Wilhelm Bauhus, Anne Harnack, Catharina Kähler und Sabine Kittel

Wissenschaft, und speziell die universitäre Wissenschaft, ist dem Menschen verpflichtet. Dass ein so zentrales und elementar wichtiges Thema wie der Umgang mit Krieg und Frieden die Menschen beschäftigt, war der Ausgangspunkt der »Expedition zum Frieden«, einem Projekt der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Einer der Grundgedanken der Bürgerwissenschaften (Citizen Sciences) ist es, Denkimpulse einer interessierten Öffentlichkeit in wissenschaftsbasierten Projekten aufzugreifen sowie die Kooperation von WissenschaftlerInnen mit BürgerInnen zu fördern. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung reflektiert in dem Grünbuch »Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland« (März 2016), welcher Mehrwert durch eine Stärkung der Citizen Sciences erzielt werden kann und welche Potentiale dies freisetzt. Ein Kernelement von Bürgerwissenschaften ist, dass sich engagierte Menschen in unterschiedlicher Art und Weise an der Wissensbeschaffung und am Erkenntnisgewinn beteiligen.

Ein ähnliches Ziel verfolgen die Universitäten mit Wissenschaftstransfer. Aktuelle Forschung soll aus den Universitäten und Wissenschaftsinstituten in den Alltag der BürgerInnen überführt werden. Forschungsergebnisse und technologische Neuerungen werden mit Ausstellungen, für Laien verständlichen Vorträgen, Großveranstaltungen, Performance-Aktionen, Exkursionen und vielem mehr nachvollziehbar und eindrücklich präsentiert. Das Wirkungsfeld des Wissenschaftstransfers erstreckt sich von den Naturwissenschaften bis hin zu den Geistes- und Sozialwissenschaften.

Im Kontext eines Dialogs zwischen Universität und Praxis spielen auch die Bürgerwissenschaften eine zunehmend wichtige Rolle. Sie fordern den Alltagsbezug von Wissenschaft und Forschung ein und versuchen, interessierte Menschen aktiv in wissenschaftliche Entdeckungsprozesse einzubinden. Der Austausch zwischen Forschung und Lebensalltag führt idealerweise zu einer »Demokratisierung von Wissenschaft«, d.h. zu mehr gegenseitiger Akzeptanz, verstärkt das bürgerschaftliche Engagement in unserer stark wissenschaftsbasierten Gesellschaft und kann den Erkenntnisgewinn in vielen Wissenschaftsbereichen fördern bzw. überraschende Erkenntnisse zutage bringen. Am Beispiel der »Expedition zum Frieden«, einem Projekt der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), wird im Folgenden dargestellt, wie Wissenschaftstransfer und Bürgerwissenschaften kombiniert werden können und welche Ergebnisse daraus entstehen können.

Den Beginn des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren nahmen das Historische Seminar mit seinem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte und die Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) zum Anlass, gemeinsam die »Expedition zum Frieden« ins Leben zu rufen. Durch eine Kombination von Kunst und Wissenschaft sollten nicht nur die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch Studierende der Universität in einer Form an die Ereignisse des Ersten Weltkrieges herangeführt werden, die sich von den konventionellen geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Herangehensweisen unterscheidet. Bei der »Expedition zum Frieden« ging es in besonderem Maße darum, durch die geschichtliche Aufarbeitung lokaler Geschehnisse im Münsterland eine identifikationsstiftende Wirkung zu erzielen.

Ausgangspunkt der »Expedition« war ein Workshop, bei dem sich WissenschaftlerInnen unterschiedlichster Disziplinen gemeinsam mit ExpertInnen, Schulklassen, Studierenden sowie zahlreichen BürgerwissenschaftlerInnen mit verschiedenen Aspekten der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg befassten. Die existierenden und vielfach aktualisierten »Großerzählungen« zum Ersten Weltkrieg wurden dezidiert »regionalisiert«, indem sie mit Bezug auf authentische historische Orte und Ereignisse der Region, aber auch durch künstlerische Interpretationen einzelner Aspekte, auf neue Weise reflektiert wurden.

Die in dem Workshop entstandenen Ideen für Veranstaltungen setzten den konzeptionellen und organisatorischen Rahmen für das weitere Programm: den Besuch verschiedener Kriegs-Erinnerungsstätten und Kriegerdenkmäler in Münster und der Umgebung. Das lebhafte Interesse der Teilnehmenden mündete in etlichen Initiativen. In und um Münster entwickelten engagierte Arbeitsgruppen neue und nachhaltige »Friedensbotschaften« und boten Veranstaltungen an, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Die Veranstaltungen repräsentierten deutlich einen eigenen – gegenwärtigen – erinnerungskulturellen Zugang zum Thema. Die Beteiligten entwickelten gewissermaßen »Werkzeuge«, mit denen sie die Orte mit Bezug zum Ersten Weltkrieg erschlossen. Das Konzept der »Expedition zum Frieden« sprach die Menschen jenseits herkömmlicher massenmedialer Geschichtsvermittlung an und stellte damit ein Gegengewicht zum kommerziellen »Histotainment« dar, das sich meist auf Zuschauer- und Verkaufszahlen ausrichtet.

Prolog: „Was verbinden Sie mit dem Ersten Weltkrieg?“ – „Nicht viel.“

Das Projekt baut auf zahlreichen Erfahrungen im Bereich der Wissenschaftskommunikation und des Wissenschaftstransfers auf. Im Rahmen der »Expedition Münsterland« werden von der WWU seit 2010 regelmäßig auch historische Themen aufgegriffen und in Zusammenarbeit mit engagierten BürgerInnen für die Öffentlichkeit aufbereitet und präsentiert. Ein herausragendes Beispiel aus dem Jahr 2011 ist die Wiederentdeckung des stillgelegten Eisenbahntunnels in Lengerich, dessen vielschichtige Vergangenheit lange Zeit vergessenen war. Forschende des Historischen Seminars der WWU und des Geschichtsortes Villa ten Hompel – einer ehemaligen Fabrikantenvilla, Sitz der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus, Ort der Entnazifizierung und Dezernat für Wiedergutmachung im Nachkriegsdeutschland, heute Geschichtsort – recherchierten gemeinsam mit Studierenden und engagierten BürgerInnen der Stadt Lengerich die Historie des Ortes. 1944-1945 war der Eisenbahntunnel ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme; in den letzten Kriegstagen um Ostern 1945 nutzte die Bevölkerung den leeren Tunnel zudem als Zufluchtsort. Die nahezu vergessene und verdrängte Geschichte dieses Ortes war sicherlich ein Grund für die hohe Motivation aller Beteiligten. Sie organisierten eine Ausstellung, um gegen das Vergessen anzukämpfen.

Eine in Münster durchgeführte, filmisch dokumentierte Umfrage in der Bevölkerung bestätigte die Vermutung, dass das Wissen um den Ersten Weltkrieg eher gering ist. Diese (allerdings nicht repräsentative) Befragung wurde zum Ansporn und Startschuss für das Projekt »Expedition zum Frieden« und leitete als Vorfilm den Auftakt-Workshop ein.

Das Projekt: Geschichtsorte der Kriegserinnerung – vitale Symbole des Friedens

„Was kann die aktuelle Friedensbotschaft des spezifischen Ortes sein, die auch langfristig sichtbar und erhalten bleibt?“ Unter dieser leitenden Fragestellung erarbeiteten KünstlerInnen in interdisziplinären Teams mit SchülerInnen, BürgerwissenschaftlerInnen, Studierenden, Mitgliedern von Heimat- und Erinnerungsvereinen und anderen Interessierten konkrete, aktuelle »Botschaften« zu verschiedenen »Geschichtsorten des Ersten Weltkriegs« – Gedenksteine, Ehrenmale, Kriegerdenkmale, Friedhöfe u.a. – und inszenierten diese vor Ort. Durch diese unkonventionellen Forschungsgemeinschaften entstanden neue Ideen sowie Vermittlungsmodelle, mit dem Anspruch, eine heterogene Zielgruppe zu erreichen. Durch die Anwendung verschiedener Kreativ- und Transferwerkzeuge konnten Menschen vielfältige Umsetzungsideen entwickeln. Dadurch wurde eine ergebnisoffene Themenfindung zu den Orten erreicht, und es wurden langfristige, vitale Symbole des Friedens erarbeitet.

Die Aktionen: eine gegenwärtige Reise in die Vergangenheit

Im Verlauf des Jahres 2014 nahm die »Expedition zum Frieden« zahlreiche Teilnehmende mit auf die Reise. Die »Expedition« ging in ihren Veranstaltungen zurück in die Vergangenheit im Münsterland, zu den damaligen Ereignissen, Lebensbedingungen und Verlusten des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig begann jedoch auch eine Reise in die Zukunft, die zeigen sollte, wie wichtig es für die Gegenwart ist, die Erinnerung an Ereignisse und Orte des Ersten Weltkrieges aufrecht zu erhalten. Ziel war es, auf dieser Basis zeitgemäße Botschaften für einen friedlichen Dialog zu generieren. Die nachfolgende Skizzierung einzelner Projekte soll einen Einblick in die Vielfalt der Ideen geben und deren Botschaften vermitteln.

Eine Ausstellung, Ergebnis eines interdisziplinären Seminars der Münsteraner Fachhochschule für Design und der WWU, befasste sich mit dem Ehrenfriedhof Haus Spital, einer Kriegsgräbergedenkstätte im Norden Münsters. Auf dem Friedhof ruhen über 1.100 Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg und wenige im Zweiten Weltkrieg Gestorbene. In direkter Nachbarschaft zum Friedhof befand sich ein Kriegsgefangenenlager, in dem etwa 21.000 Gefangene lebten. Die Studierenden recherchierten in Zusammenarbeit mit BürgerwissenschaftlerInnen, ExpertInnen, Schulklassen und WissenschaftlerInnen der WWU die genaue Lage des nicht mehr sichtbaren Lagers; sie werteten historische Texte und Fotografien aus und stellten Überlegungen zum Alltag in der Kriegsgefangenschaft an. Ihre Ergebnisse präsentierten sie in einem künstlerischen »Erinnerungsparcours«, der das ehemalige Gefangenenlager umrundete. Historische Fotografien konnten anhand von Fixpunkten und Details aus der Umgebung einem ungefähren Aufnahmepunkt zugeordnet werden. Menschengroß fanden sich diese Aufnahmen des Lageralltags schließlich an ihrem historischen Ursprungsort in der heutigen Landschaft wieder. Die Studierenden verknüpften auf diese Weise Vergangenheit und Gegenwart. Den zahlreichen BesucherInnen boten sie mit Erzählungen aus einem Tagebuch Einblicke in das Lagerleben. Anhand der Fotos und verschiedener Überreste auf dem Gelände verglichen die Studierenden historische Perspektiven mit aktuellen Blickwinkeln und eröffneten damit neue Einsichten. Der Titel der Veranstaltung lautete dementsprechend »Ich sehe was, was du nicht siehst«.

Ein weiteres Projekt entwickelte sich in Havixbeck, Kreis Coesfeld im Münsterland. Hier beschäftigte sich eine Arbeitsgruppe mit einer Kriegergedächtniskapelle aus der Nachkriegszeit. Die Kapelle ist, anders als das heute von Wiesen und Wäldern überwachsene Kriegsgefangenenlager in Münster, unmittelbar durch ihre Größe präsent. Zahlreiche Beteiligte der ortsansässigen Anne-Frank-Gesamtschule, des Heimatvereins, der Theatergruppe »Das Törchen«, des Friedenskreises sowie das Blasorchester Havixbeck gestalteten verschiedenste Veranstaltungen. Sie entwickelten an diesem Geschichtsort ganz unterschiedliche Friedensbotschaften: Theateraufführungen, die die Gräuel des Krieges thematisierten, eine Ausstellung sowie ein Konzert rückten das zwar präsente, aber in seiner Bedeutung unbekannte Mahnmal im Verlauf des Jahres 2014 wieder in das Blick- und Wahrnehmungsfeld der BürgerInnen. Das Blasorchester Havixbeck von 1878 e.V. widmete sich mit einem Konzert ganz der »Expedition zum Frieden«. Die MusikerInnen spielten neben längst vergessenen Stücken aus der Zeit des Ersten Weltkrieges auch komponierte Friedensbotschaften der Nachkriegszeit. Der Auftakt der Havixbecker Veranstaltungen am Ehrenmal war emotional und fand direkt vor dem Friedhof statt: ein »Last Post« – ein militärisches Hornsignal zum Gedenken an die im Krieg gefallenen Soldaten aus vier Nationen.

Eine weitere Arbeitsgruppe der »Expedition« erarbeitete eine Gedenktour, die sich mit den verschiedenen Kriegerdenkmälern entlang der Promenade um Münsters Innenstadt befasste. Diese sind zwar nach wie vor sichtbar und gepflegt, werden jedoch häufig nicht in ihrer Intention, der Heldenverehrung, erkannt. Durch Recherchearbeiten engagierter BürgerInnen konnten Hintergründe über die Entstehung, Intention und Aussage der steinernen Zeugen zusammentragen werden. Im Zuge dieser Forschungen stieß die Gruppe gar auf ein – im Rahmen des Zweiten Weltkrieges der »Metallspende« zum Opfer gefallenes – Friedensdenkmal, das nicht wieder errichtet worden war. Die ursprüngliche Idee der Arbeitsgruppe, die Kriegerdenkmäler auf der Promenade in einer Kunstaktion hervorzuheben, zu kennzeichnen und anhand von Landschaftsfenstern Informationstafeln anzubringen, wurde aufgrund fehlender Genehmigungen verworfen. Stattdessen entschieden sich die Mitglieder für eine schriftliche Zusammenstellung der Ergebnisse. Der Beitrag der Arbeitsgruppe wird im Mai 2016 in dem fünfbändigen Radtourenführer »Durch Münsteraner Geschichte(n)« veröffentlicht.

Epilog: Für ein lebendiges Erinnern

Die »Expedition zum Frieden« hat gezeigt, dass ein Austausch zwischen Wissenschaft und BürgerInnen funktionieren kann und die beiderseitige Anerkennung und Wahrnehmung fördert. Die Projekte ermöglichten entdeckungsfreudigen Menschen nicht nur, die historische Dimension von »Erinnerungsorten« aktiv herauszuarbeiten, sondern sie konnten deren Botschaften darüber hinaus in gegenwärtige, politische und gesellschaftlich aktuelle Zusammenhänge einbringen. Damit wurde vor Ort ein nachhaltiger Kommunikationsraum für die Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden geschaffen. Der kooperative und partizipatorische Ansatz des Projektes ermöglichte die Zusammenführung unterschiedlichster Ressourcen, und durch die Bündelung von bisher getrenntem Wissen entstanden Synergieeffekte, welche selbst nach Beendigung der »Expedition« fortdauern. Besonders hierin liegt der Anspruch eines der Gesellschaft verpflichteten Wissenschaftstransfers: Zugänge zu Wissenschaft und Forschung zu eröffnen und Menschen zur aktiven Beteiligung am wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zu motivieren. Wenn eingangs von der »Demokratisierung von Wissenschaft»« gesprochen wurde, so hat die »Expedition zum Frieden« zweifellos gezeigt, dass die Zusammenführung von bislang getrennten Wissensgebieten sowohl zu neuen Erkenntnissen führen kann als auch zu einem nachhaltig respektvolleren und interessensorientierteren gegenseitigen Umgang von Wissenschaft und Bürgern.

Die gesellschaftlichen Potentiale einer aktiven wissenschaftlichen Bürgerbeteiligung werden nicht nur in Deutschland erkannt, sondern europaweit. Als ein Beispiel sei hier das ehemalige Internierungs- und Deportationslager »Le Camp des Milles« in Aix-en-Provence in Frankreich genannt. Die Gedenkstätte arbeitet heute in enger Kooperation mit der Universität Aix-en-Provence und der Universität Grenoble zusammen und trägt so zu einem lebendigen Geschichtsverständnis bei. Darüber hinaus werden auch durch das EU-Programm für Forschung und Innovation (Horizon 2020) Impulse gegeben, Kooperationen zwischen Universitäten, Wissenschaftseinrichtungen und kulturellen Einrichtungen einzugehen. Gerade regionale Kooperationen spielen hier eine wichtige Rolle, da der Mensch sich intensiver mit dem auseinandersetzt und identifiziert, was direkt vor seiner Haustür passiert. Gemeinsamkeiten entfalten eine konsensstiftende Wirkung und fördern ein friedlicheres und respektvolleres Miteinander.

Dr. Wilhelm Bauhus ist Leiter der Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU).
Anne Harnack, Politikwissenschaftlerin, ist Projektkoordinatorin der AFO.
Dipl.-Lök. Catharina Kähler ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AFO.
Dr. Sabine Kittel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der WWU mit Schwerpunkt Erinnerungskultur und Vergangenheitsrepräsentationen.

Frieden lernen!

Frieden lernen!

Tagung zur Friedensbildung, 15.-17. Oktober 2015, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

von Melanie Hussak

Die Friedenspädagogik führt trotz gelegentlicher Aufmerksamkeitsschübe eher ein Schattendasein innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung. Drei Tage lang diskutierten in Koblenz daher Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis auf der von der Deutschen Stiftung Friedensforschung geförderten Tagung »Frieden lernen! Perspektiven einer Friedensbildung im 21. Jahrhundert« über das Potential einer zeitgemäßen Friedenspädagogik. Die von der Friedensakademie Rheinland-Pfalz und dem Projekt »Friedensbildung, Bundeswehr und Schule« ausgerichtete Tagung sollte insbesondere einen wechselseitigen Wissenstransfer und Dialog zwischen Theorie, Praxis und Gesellschaft ermöglichen. Dazu wurden gezielt Akteure aus diesen unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Berufsfeldern zusammengebracht. Dementsprechend wurde die Tagung als dreiteilige Veranstaltung konzipiert.

Ziel der Konferenz war, sowohl für die akademische Beschäftigung mit friedenspädagogischen Fragestellungen als auch für die Auseinandersetzung mit Praktiken von Friedensbildung bzw. Friedenserziehung neue Anregungen zu geben. Daneben diente sie als interdisziplinäres Forum für strukturelle Fragen. Insbesondere für die Bereiche Lehrerausbildung und -fortbildung sowie für die Praxis einer zivilgesellschaftlichen ebenso wie universitär institutionalisierten Friedensbildung sollten neue Ideen entwickelt und für eine breite Öffentlichkeit transparent aufbereitet werden.

Neben der Beleuchtung gegenwärtiger Entwicklungen und bisheriger Erfolge aus Wissenschaft und Praxis bot die Konferenz also die Gelegenheit, strukturelle und konzeptionelle Zukunftsprojekte perspektivisch zu entwerfen und konkrete Schritte einzuleiten, aber auch Forschungsdesiderata der Friedenspädagogik zu diskutieren. Die Tagung thematisierte die notwendigen Bedingungen und Möglichkeiten zur Förderung von Qualitätsstandards und der weiteren Entwicklung von qualifizierten Ausbildungs- und Weiterbildungsangeboten. Im Folgenden sollen die drei thematischen Blöcke der Tagung kurz umrissen werden.

Im wissenschaftlichen Teil fokussierte die Tagung zum einen auf die Frage, ob und wie sich die Begrifflichkeiten und konzeptionellen Vorstellungen von Friedenspädagogik, Friedenserziehung und Friedensbildung voneinander unterscheiden. Zum anderen beschäftigten sich die Konferenzbeiträge damit, wie sich Konturen und Herausforderungen einer zeitgemäßen Friedensbildung des 21. Jahrhunderts skizzieren lassen. Der Schwerpunkt der Beiträge lag auf Methoden und (Fach-) Didaktiken zur Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Hier wurde insbesondere der Nutzen eines interdisziplinären Austausches benannt. Neuere Entwicklungen gibt es etwa in den Feldern der Neuropsychologie und Neurobiologie. In diesen Disziplinen angelegte Forschungsprogramme beschäftigten sich aktuell stark mit der Empathieforschung. Das Wissen um emotionale Lernprozesse kann zur Förderung der Entwicklung eigenständiger und handlungsfähiger Persönlichkeiten genutzt werden und findet so Anschluss an die Friedenspädagogik. Zahlreiche Studien bestätigten schon lange den Zusammenhang von Empathiefähigkeit, emotionaler Zuwendung und der Fähigkeit zum gewaltfreien Konfliktaustrag. Einmal mehr wurde an dieser Stelle deutlich, wie wichtig eine theoretische Fundierung für die Friedenspädagogik ist.

Die Breite der Methodenvielfalt in der angewandten schulischen und außerschulischen Friedenspädagogik wurde im Praxisteil der Tagung deutlich. In vier unterschiedlichen Praxisworkshops am dritten Tag der Veranstaltung konnten die Teilnehmenden selbst Erfahrungen aus neueren Projekten der Friedensbildung nachvollziehen. Der Austausch und die Reflexion über Methoden der Friedenspädagogik im Rahmen der Praxisworkshops sollten zudem einen Transfer in die eigene Friedensarbeit und friedenspädagogische Praxis erleichtern. Die Workshops boten einen Überblick über verschiedene Trainingsansätze, eine Einführung in das Lernspiel »Civil Powker« sowie ein tanzpädagogisch unterstütztes Konflikttraining.

Eine öffentliche Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen und Vertretern aus Lehrergewerkschaft, Lehrerfortbildung, einem Friedenskreis und der Kirche widmete sich der Verankerung von Friedenspädagogik an Schulen, etwa durch die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Hier wurde deutlich, dass sowohl direkte personelle als auch strukturelle Aspekte der Friedensbildung in Schulen zusammen in den Blick genommen werden müssen.

Die Tagung bildete den Abschluss des 2011 gestarteten Projekts »Friedenbildung, Bundeswehr und Schule«, einem Kooperationsprojekt der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden. Das Projekt soll nun in eine bundesweite Zusammenarbeit und Vernetzung im Rahmen des neu zu gründenden »Bundesweiten Netzwerks Friedensbildung« münden. Getragen werden soll das Netzwerk von den Landesnetzwerken der Friedensbildung und von bundesweiten Organisationen, die der Friedensbildung nahe stehen. Auf der Tagung wurde ein erster Entwurf des Gründungspapiers vorgestellt. Ein Initiativkreis begleitet die Entwicklung weiter und wird im nächsten Herbst ein größeres Treffen zur Gründung des Netzwerks vorbereiten.

Aufgrund der aktuellen Ereignisse wurde während der Veranstaltung zudem das Potential der Friedenspädagogik bei der Integration von Flüchtlingen beleuchtet. Die Flüchtlingsfrage stellt aus friedenspädagogischer Sicht eine große Lern- und Entwicklungsmöglichkeit dar. Friedenspädagogische Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte und die vielfältigen schulischen und außerschulischen Trainings- und Ausbildungsprogramme im Bereich der Friedensbildung sind eine wichtige Ressource für den konstruktiven Umgang mit der Flüchtlingskrise, so der Tenor der Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis. Dies reicht von Kenntnissen der altersadäquaten Aufbereitung von Unterrichtseinheiten zu den Themen Krieg, Flucht und Asyl bis hin zur Schulung von Lehrpersonen und MultiplikatorInnen zum Thema Traumatisierung.

Das Tagungsprogramm und der offizielle Tagungsbericht finden sich unter uni-ko-ld.de/frieden-lernen.

Melanie Hussak