Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten

Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten

Eine Artikelserie

von Stefanie Hechler, Frank Eckerle, Ruth Ditlmann, Klaus Harnack und Klaus Boehnke

In der im November 2023 veröffentlichten Ausgabe 4/2023 von W&F zum 40. Jahrestag des Ersterscheinens findet sich ein programmatischer Artikel von Ulrich Wagner mit dem Titel »Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen?« (S. 32ff.) Auf der W&F-Geburtstagsfeier selbst, am 6.-7. Oktober 2023, gab es ein gut besuchtes Rundgespräch zum Thema »Quo Vadis Friedenspsychologie?« unter Beteiligung der für diesen Text Verantwortlichen.

Die Reihe kurz vorgestellt

Beginnend mit diesem Heft stellen nun eine Reihe von Friedenspsychologinnen und -psychologen ihr Verständnis davon vor, welche Formen aktuelle empirische Forschung in der Friedenspsychologie annehmen kann. Sie stellen sich damit der von Ulrich Wagner aufgeworfenen Frage, wie Friedenspsychologie im Sinne psychologischer Friedensforschung denn aussehen kann und sollte. Die Serie soll aber auch als Inspiration für Angehörige anderer Disziplinen dienen, die sich mit ähnlichen Fragen z.B. von normativer Positionierung der Forschenden oder Fragen von Diversität beschäftigen.

In diesem Heft legen Stefanie Hechler und Thomas Kessler ihre Überlegungen dazu vor. Ihr Beitrag ist ein Forschungsbericht über die Auswirkungen von Medienberichten auf Vorurteile gegenüber migrantischen Gruppen. In den betrachteten Studien wurde das Ausmaß von Gewalt oder Freundlichkeit gegenüber Minderheiten in realen und fiktiven Medienberichten variiert. In Anlehnung an »klassische« Befunde der Sozialpsychologie hängt das Ausmaß der Feindseligkeit, wie es sich z.B. in Fragebögen zeigt, nicht nur von der Wahrnehmung »der Anderen« ab, sondern es spielen auch intragruppale Prozesse eine entscheidende Rolle, d.h. wie „wir uns gegenüber den anderen positionieren“. Der Beitrag zeigt, wie experimental-psychologische Forschung im Labor zusammen mit Umfrageforschung Verschiebungen in sozialen Normen beleuchten kann. Er liefert ein Beispiel dafür, wie geteilte Informationen das Zusammenleben von sozialen Gruppen beeinflussen können. Das friedenspsychologische Forschungsthema ergibt sich aus Sicht der Autorin aus der Kontextualisierung grundlegender psychologischer Prozesse in konfliktgeladenen öffentlichen Debatten.

Im nächsten W&F-Heft (3/24) wird dann Frank Eckerle aus einem Projekt berichten, das demonstriert, dass Friedenspsychologie nicht die Befriedung, sondern die Befreiung der Gesellschaft zum Ziel haben sollte. Anhand vorhandener und eigener aktueller Forschung skizziert er, wie präfigurative Proteste und direkte Aktionen im Kontext der Klimabewegung dazu beitragen können, ideologische Legitimationen des neoliberalen Status quo aufzubrechen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Frage, ob das Erleben solcher präfigurativer Experimente als Teilnehmer*in oder Beobachter*in Teil eines Bewusstseinsbildungsprozesses ist, und somit zur Politisierung gegen Ungerechtigkeit und Individualisierung führen kann.

Im letzten Heft des Jahrgangs 2024 schließt sich ein Beitrag von Ruth K. Ditlmann unter dem Titel »Die psychologische Wirkung von Erinnerungsprojekten zum Holocaust« an. In diesem Beitrag stellt sie kurz drei Studien vor, die mit quantitativen Methoden die psychologische Wirkung von bekannten Erinnerungsformaten untersuchen. In einer Langzeitstudie zum Thema zeigt sich zum Beispiel, dass in Berliner Wahlbezirken der Anteil an Stimmen für die AfD sinkt, nachdem dort Stolpersteine platziert wurden. Danach setzt sie sich anhand der vorgestellten Studien mit der Frage der Normativität auseinander, die beim Thema Erinnerungsarbeit eigentlich unumgänglich ist. Sie fragt sich, welche normativen Ziele in den sozialpsychologischen Theorien, mit denen sie arbeitet, versteckt sind, wie die quantitative Messung in angewandter Forschung diese Ziele sichtbar macht, und inwiefern man sich als empirisch Forschende zu den Zielen bekennen muss, die man misst.

Im ersten Heft des Jahrgangs 2025 wird es dann um einen Themenkomplex gehen, der sowohl in der Friedensbewegung als auch in der Friedenspsychologie gerne negiert wird – die ökonomische Psychologie. Der Beitrag von Klaus Harnack wird sich unter dem Arbeitstitel »Psychologisch-hyperpersonalisierte Bankgeschäfte – Ein Möglichkeit für die finanziellen Inklusion im Globalen Süden mit finanzpsychologischen Ansätzen beschäftigen, die finanzielle Inklusion vorantreiben sollen, besonders im Globalen Süden, in dem mehr als ein Viertel aller Menschen keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen hat. Finanzielle Inklusion gilt als eine zentrale Stellschraube im Kampf gegen Armut und hier sind psychologisch gestaltete Ansätze besonders vielversprechend, die ein bedürfnisorientiertes Bankwesen ermöglichen. Forschungsergebnisse aus der Behavioral Finance, dem zielorientierten Bankwesen, als auch Ansätze aus dem Nachhaltigkeitsbanking werden hierfür dargestellt und eingeordnet werden.

Im zweiten W&F-Heft des Jahrgangs 2025 berichtet Klaus Boehnke dann abschließend von seiner seit 1985 laufenden Längsschnittstudie »Life under nuclear threat« (LuNT). Die LuNT-Studie wurde im Jahre 1985 mit der Befragung einer großen Stichprobe von damals 14-jährigen in Kooperation mit der Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW begonnen. Sie hat inzwischen insgesamt 12 Befragungswellen (im Abstand von jeweils 3 ½ Jahren) erlebt. Nach wie vor nehmen etwa 200 Personen, mittlerweile im Durchschnitt 53 Jahre alt, an der Befragungsstudie teil. Eine so lange laufende Studie legt es in besonderem Maße nahe zu reflektieren, ob und wie die persönlichen Werte des Verfassers bzw. der Zeitgeist das Studiendesign beeinflusst haben. Inhaltlich wird der Beitrag von Klaus Boehnke vor allem aufzeigen, welche Ängste und Hoffnungen die Befragten seit 1985 in besonderem Maße bewegt haben.

Das Forum Friedenspsychologie ist bemüht, die skizzierte Reihe auch nach ihrem aktuell avisierten Ende weiter fortzusetzen und ruft bereits jetzt ihre Mitglieder auf, sich bei den Verfasser*innen dieses Textes zu melden, um zusammen die Fortsetzung der Reihe in Angriff zu nehmen.

„Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege“?

„Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege“?

Chancen und Grenzen einer Mitleidsethik als Friedensethik

von Konstantin Funk

Für den englischen Moralphilosophen Bernard Williams ist der Beginn ethischen Verstehens ganz unmittelbar an das Mitgefühl geknüpft: Wenn ich nicht mit meinem Gegenüber mitempfinde, so entdecke ich auch keine Gründe, ihm zu helfen, also etwas zu tun oder zu unterlassen. Die moderne Emotionsforschung scheint dem fünfzig Jahre alten Text von ­Williams Recht zu geben: Emotion und Empathie haben als kognitiv gehaltvolle Wahrnehmungen Erkenntniskraft! Ist das emotionale Miterleben, also Empathie, auch der Startpunkt einer gelingenden Friedensethik?

Der Versuch einer erkenntnistheoretischen Verhältnisbestimmung von Emotion, Gefühl, Affekt auf der einen und Vernunft und Verstand auf der anderen Seite ist so alt wie die Philosophie. Fast immer fiel die Entscheidung zugunsten der Vernunft aus; Gefühle schienen Störfaktoren, die vom Eigentlichen ablenken. Wollte man objektiv urteilen, die Dinge klar und deutlich sehen, so waren subjektive Gefühlswelten nicht gefragt. Immerhin, so eine klassische metaethische Argumentation des ausgehenden 19. Jahrhunderts, spielen sie in den Naturwissenschaften auch keine Rolle im Erkenntnisprozess: CO2 + H2O ergibt H2CO3, egal was ich dabei empfinde. Heute weiß man aber, dass Emotionen klug gewordene Erkenntnisinstrumente sind, weil sie die Wahrnehmungs»form« darstellen, in die unsere lebensweltliche Erfahrungshistorie gegossen wird. Heutzutage wird weniger ein Entweder-Oder diskutiert als vielmehr die jeweiligen Grenzen von Vernunft, von Emotion und Empathie. Immerhin erscheinen letztere mit Blick auf die aktuelle Publikationsfülle zum Thema „nahezu als Allheilmittel gegen Krieg, Leid und Ungerechtigkeit“, wie Fritz Breithaupt schreibt (2019, S. 11). Das aber, so Breithaupt, sei zu einfach, weil wir in aller Regel nur mit unseren Nächsten und Liebsten und weniger mit dem Fremden und Unbekannten mitfühlen und wir gerade deshalb „Schreckliches mit und aus Empathie tun“ (ebd.).

In der Tat: Dass unser Mitgefühl Grenzen hat, ist offensichtlich. Hat es das nicht, folgen auf der anderen Seite empathische Überanstrengung und Überforderung bis hin zur Selbstaufgabe. Die Begegnung zweier großer Philosophinnen Anfang des 21. Jahrhunderts zeugt davon.

„Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, daß sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung für Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“ (De Beauvoir 1997, S. 347, meine Hervorh.)

Simone De Beauvoir trifft Simone Weil an der Sorbonne und beschreibt hier eine Erinnerung an die für ihre Aufopferung und Hingabe bekannte Philosophin in jungen Jahren; beide bereiten sich gerade auf die gleichen Prüfungen vor. Weil scheint das beste Beispiel für eine Karriere machende Überlegung in Bernard Williams’ Erstlingswerk »Morality. An Introduction to Ethics« zu sein: Williams schlägt gleich im ersten Kapitel vor, den Startpunkt eines jeden moralischen Verstehens weniger im rationalen Argument als viel mehr im Mitgefühl zu verorten. Hier würden Handlungsgründe entdeckt und barmherzig agiert, hier bemühten wir uns um die Perspektivenübernahme des Gegenübers. Mitgefühl aber haben wir, so behauptet es Williams – ähnlich wie oben auch Breithaupt –, in erster Linie mit den Liebsten in unserem nächsten Umfeld und weniger mit Fremden und Unbekannten. Deshalb sei in Konsequenz dieser allen Menschen gemeinsame empathische Nahhorizont auszuweiten, so dass auch ursprünglich »Außenstehende« ethisch begriffen werden können:

„Wenn wir einem Menschen auch nur ein Minimum von Zuneigung und Mitgefühl mit anderen konzedieren, brauchen wir keine radikal neuen Denk- und Erlebnisweisen zu postulieren, die ihm den Zugang zur Welt der Moral eröffnen könnten; eine bloße Erweiterung von Eigenschaften, die er schon besitzt, genügt“ (Williams 1978, S. 19).

Wenn wir unser Mitgefühl von den Nächsten zum Fremden tatsächlich ausdehnen könnten, so Williams, wäre der erste Schritt ethischen Verstehens, für das Entdecken des zu Tuenden, bereits getan.

Kann das gelingen? Simone Weil verweist in ihrer sie zur Verzweiflung treibenden Begabung, mit dem „ganzen Erdkreis“ (s.o.) mitfühlen zu können, ungeachtet ihrer großen philosophischen wie menschlichen Verdienste auf den Sinn und Zweck von Empathie-Blockaden, die unsere empathische Anteilnahme selektiv filtern. Weil ist nicht nur ein Beispiel für einen herausragenden Geist, sie ist auch Beispiel für eine lebenslange emotional-empathische Überforderung. Die aufopfernde Genese ihrer philosophischen Erkenntnisse wie ihres politischen Engagements und Widerstands, für den sie noch heute zu Recht verehrt wird, lässt sie bis zur Selbstaufgabe nicht ruhen.1

„Ohne Mechanismen oder Techniken der partiellen Empathie-Blockade würden wir in einer Welt des permanenten Perspektiv-Verlusts und eines strukturellen Stockholm-Syndroms leben. Im Extremfall müssten wir ständig unfreiwillig die Perspektiven nicht nur von anderen Menschen, sondern womöglich auch von Tieren oder gar mythischen und fiktionalen Wesen einnehmen und ihr reales oder imaginiertes Erleben teilen. In diesem andauernden geteilten Erleben oder Simulieren der anderen würden wir unseren Selbstbezug verlieren, wie Nietzsche es skizziert.“ (Breithaupt 2019, S. 85)

Genau hieran scheint die junge Philosophin, die mit 34 Jahren an den Folgen von Hunger und an Tuberkulose stirbt, zu leiden. Breithaupt, der in seinem Werk »Die dunklen Seiten der Empathie« mehrere »Gefahren« der aktuellen geisteswissenschaftlichen Empathie-Euphorie herausstellt und die Empathie-Blockade als so notwendig wie parteilich beschreibt, verwendet wenig Platz darauf, genauer auf die zum empathischen Impuls komprimierte Erfahrungsfülle hinzuweisen, die der Emotion und der emotionalen Teilhabe ihren Inhalt und ihre Wirkkraft verleiht. Immerhin ist es das Erlebte, das den Horizont aufspannt, in dem ethisch gehandelt wird, weil mitempfunden werden kann.2 Die von Breithaupt beschriebenen Empathie-Blockaden sind auf der einen Seite sicher notwendig, auf der anderen Seite genauer zu untersuchen. Es gibt sie nicht nur im fühlenden Individuum, sondern auch in vergemeinschafteter Form: Beispiele dafür sind die Duldung von Sklaverei bis ins 19. Jahrhundert, die noch immer nicht erfolgte Gleichstellung der Geschlechter, Rassismus oder die Verachtung Anders­denkender und -lebender innerhalb von Gesellschaften. Das Bewusstsein eines »Wir«, das kulturell rahmt, produziert nicht nur Gemeinschaft, sondern formiert auch »die« anderen, die mit dem »Wir« nicht gemeint sind. Wir haben es also mit einem Spannungsverhältnis zu tun: Während „Moral als kulturelle Praxis […] auch Wir-Gefühle“ verlangt (Breithaupt 2019, S. 206), ist auch auf die kontingente Füllung jenes »Wir« hinzuweisen; es ist keineswegs festgeschrieben, wer damit gemeint sein darf, gemeint sein will, gemeint sein soll.

Parochialer Altruismus – endet unser Mitempfinden an der Ortsgrenze?

Insofern verweist die Schilderung von Simone Weils unbegrenzter Empathie (zumindest wie sie in Simone De Beauvoirs Memoiren dargestellt wird) auf Weil als absolute Ausnahme: In aller Regel gelingt diese Ausweitung des »Wir«, des eigenen Formationsbegriffs, auf den Unbekannten eben nicht, weil sich der Mensch – als zoon politikon – immer schon in einer bestimmten kulturellen Einbettung wiederfindet und fortan orientiert. Das zeitliche und örtliche Situiertsein ist seine zweite Natur. Die Nächsten um uns herum sind uns nun einmal näher als der unterbestimmte Fremde, entsprechend fühlen und handeln wir. Dieses Phänomen nennen der US-amerikanische Ökonom Samuel Bowles und sein Kollege Jung-Kyoo Choi parochialen Altruismus:

„Altruismus ist das Gewähren von Vorteilen für andere auf Kosten der eigenen Person; Parochialismus ist die Bevorzugung ethnischer oder anderer Insider gegenüber Außenstehenden. Beides sind allgemein beobachtete menschliche Verhaltensweisen, die in Experimenten gut dokumentiert sind“ (Bowles 2008, S. 326).

Wir müssen uns also vom fremden Begriff nicht verunsichern lassen. Bowles’ und Chois Studien verweisen auf etwas Alltägliches: Die in unserer Parochie (Pfarrei/Gemeinde) lebenden Nächsten werden im Zweifel immer bevorzugt; alle, die wir nicht zu dieser Gemeinschaft zählen, benachteiligt. Das führt – wie schon Williams richtig festgestellt hatte – zu altruistischem, mitunter empathischem Handeln innerhalb der kleinen Parochie, also innerhalb des emotional-empathisch erschlossenen Nahhorizonts unserer Familie und Freund*innen, aber auch zum Konflikt mit denen, die nicht mehr dazugehören. Das hat sich laut den Forschern evolutionär so durchgesetzt: Treten beide Verhaltensweisen, Altruismus und Parochialismus, getrennt voneinander auf, sind sie für Gruppen nachteilig, „denn sowohl Altruismus als auch Parochialismus verringern die Fitness und den materiellen Wohlstand im Vergleich zu dem, was eine Person gewinnen würde, wenn sie auf diese Verhaltensweisen verzichten würde. Altruistische Handlungen verschaffen anderen per definitionem Vorteile auf Kosten des Altruisten” (Bowles 2008, S. 326). Doch kombiniert man beide Verhaltensweisen, entstehen evolutionär erfolgreiche Synergieeffekte.

Bowles und Choi stellten in ihrer empirischen Forschung mithilfe von Computersimulationen diverse Evolutionsszenarien tausender Generationen unterschiedlich charakterisierter Gruppen nach, aus deren kriegerischen Auseinandersetzungen die parochialen Altruisten immer als Gewinner hervorgingen (vgl. Choi und Bowles 2007, S. 637f.). Das erfolgsversprechende Medium des parochialen Altruismus jedoch war grundsätzlich Krieg mit denen außerhalb jeweiliger Grenzziehungen. Aus diesem Grund überschrieb die Wochenzeitung DIE ZEIT eine gekürzte Version des Papers von Bowles mit »Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege« (Bowles 2009). Der Nahhorizont nämlich, dessen Nächstenliebe oder – bei Williams – dessen „mitfühlende Fürsorge“ (Williams 1978, S. 20) den Startpunkt zur „Welt der Moral“ (ebd.) markiert, macht den Menschen gleichzeitig zum brutalen Krieger, weil er nicht nur Nächste zu Nächsten macht, sondern auch Andere zu Anderen und Fremde zu Fremden. Mit ihm erst gewinnen auch Distinktionsmerkmale ihre Kontur.

Samuel Bowles leitet aus den Ergebnissen seiner Arbeit erstaunlicherweise keinen Kulturpessimismus ab, im Gegenteil. Die Entstehungsgeschichte des politischen Europas, das trotz dessen kriegerischer Genese zwischen fünfhundert Stadtstaaten, Diözesen, Fürstentümern und eigenständigen Reichen nun als friedlicher Staatenverbund existiert, verweist für Bowles auf das Friedenspotential altruistischen Verhaltens innerhalb einer maximal ausgedehnten Parochie:

Der inspirierende Gemeinschaftssinn, der Mut, sich für andere einzusetzen, und die Großzügigkeit, die den Menschen auszeichnen, tragen somit die Geburtsmale einer konfliktreichen Geschichte. Aber unsere Vorfahren führten nicht nur Krieg, sondern schlossen auch Frieden. Sie profitierten von einem Austausch von Gütern, Informationen, Worten, Liedern und Ehepartnern – und nahmen damit die Netzwerke der Risikoteilung, der Freundschaft und des Austauschs vorweg, die unter modernen Sammlern florieren würden.“ (Bowles 2008, S. 327)

Der parochiale Altruismus ist für ihn nicht nur Kriegstreiber, sondern auch „der Geburtshelfer innovativer Institutionen – Einhaltung der Steuervorschriften, Achtung der Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit […]“ (Bowles 2008, S. 327). Er ist perspektivisch – wie der Empathie ermöglichende Nahhorizont bei Bernard Williams – die Grundlage für moralische Einsichten innerhalb der altruistischen Wahrnehmung des Anderen als eines Nächsten; bestenfalls irgendwann auch außerhalb der ursprünglichen Parochie und des Nahhorizonts unserer Freund*innen und Familie. Denn die dort gemachten Einsichten, so Bowles ganz ähnlich wie Williams, sind kategorische Einsichten! „Selbst wenn ich also Recht habe, dass eine sehr begrenzte (parochiale) Form des Altruismus Teil des menschlichen Erbes ist, muss [diese enge Grenze] nicht unser Schicksal sein.“ (Bowles 2008, S. 327)

Rollen und Individuum

In meinem Essay im letzten Heft (W&F 4/2022, S. 38ff.: Vom Nächsten zum Fremden) habe ich bereits davon gesprochen, dass in der Parabel des Samariters (Lk 10ff.) klassische vorurteilsbeladene Rollenklischees und damit einhergehende »Parochialismen« auf den Kopf gestellt werden. Empathiegrenzen – und damit Grenzen ethischen Verstehens – werden in der Geschichte neu gesteckt: Der samaritanische Außenseiter wird dem Notleidenden zum Nächsten, die eigentlich Nächsten, Priester und Levit, durch ihre unterlassene Hilfeleistung, durch ihr fehlendes Mitgefühl, zu Fremden. Der Neutestamentler Ruben Zimmermann macht darauf aufmerksam, dass die Räuber durch das Entkleiden ihres Opfers jenem „sinnbildlich den letzten Anhaltspunkt kultureller und sozialer Festlegung“ nehmen (Zimmermann 2007, S. 551). Der Notleidende wird von einer durch eine bestimmte Tracht offenbarten Rolle zum bloßen Menschen (anthrōpos). Das Hilfeleisten des Samariters wird durch diese kompositorische Raffinesse als erstrebenswerte anthropologische Grundeinstellung gegenüber dem Menschen an sich gezeigt. Der Samariter bleibt zwar als Samariter erkennbar – sowohl in der Geschichte selbst als auch für den jüdischen Adressat*innenkreis der Parabel –, erfüllt aber genauso wenig wie Priester und Levit die ihm entgegengebrachten Klischees. Die Erwartungshaltung der adressierten Leser*innenschaft geht ständig fehl; irgendwie steht alles Kopf. Der erzählerische Trick liegt in der ausschließlichen Verwendung von Formationsbegriffen. Die Figuren der Erzählung werden nicht weiter beschrieben, man lernt sie beim Hören und Lesen der Geschichte nicht kennen. Diese erscheinen dadurch bloß als Vertreter von etwas, nicht als jemand, es gibt keinerlei Eigennamen, sondern nur den Priester, den Leviten, den Samariter. Die narrative Form der Parabel zwingt so die Leser*innenschaft, die Leerstellen der Parabel mit ihrem eigenen Vorstellungskanon aufzufüllen. Genau dieser »Füllversuch« – das ist die Intention der Geschichte – schlägt fehl. Die Geschichte ist für unsere Fragestellung interessant, weil unsere moralische Wahrnehmung, die Bowles und Williams untersuchten, tatsächlich so funktioniert. Kennen wir das Gegenüber nicht, sind wir zurückgeworfen auf uns erscheinende Äußerlichkeiten, auf Hinweise auf Kultur, Religion, Herkunft, vielleicht einen Kreuzanhänger oder ein Fußballtrikot, Klamottenstil, Sprache, Hautfarbe und ähnliches. Freilich sind diese Hinweise auf unseren Prägungskontext wichtig; wir sind unabdingbar pars pro toto gesellschaftlich ausgehandelter Maximen, unserer »Parochie« also, gleichzeitig aber als souveräne Individuen mehr als die Summe unserer uns prägenden Teile. Wir sind selbstgesetzgebend, wie Immanuel Kant einmal schreibt, und gehen als Person weder im Kreuzanhänger noch im Fußballtrikot auf. Hier verankert Kant den Würdegedanken. Wenn wir wissen, dass das fremde Gegenüber unendlich vielschichtiger ist, als es mir in meinem beschränkten, auf Zuschreibungen angewiesenen Erfahrungskanon erscheint, ist der von Williams gesuchte Startpunkt moralischer Reflexion gefunden. Die Transformation vom Fremden zum Nächsten, also die »Eingemeindung« in unsere Parochie, in der mitempfunden werden kann, kann gelingen, wenn wir uns unserer zwangsläufig vorurteilsbehafteten Wahrnehmung bewusst sind.

Immerhin, so haben wir nun ausgeführt, definiert sich der Fremde als Fremder gerade dadurch, dass er aufgrund der Unkenntnis der hinter den Zuschreibungen stehenden tatsächlichen Person auf einen oberflächlichen Formationsbegriff reduziert werden muss. Wir sehen nur, was wir wissen – und das ist wenig. Da hilft nur Begegnung, interessiertes Kennenlernen. Aus der beschriebenen Überforderung, allen uns begegnenden Personen entsprechende Aufmerksamkeit widmen zu können, und der genannten Notwendigkeit von Empathie-Blockaden folgt deshalb bestenfalls »epistemische Demut« statt Ressentiments. Die Erkenntnis des Gegenübers als unverfügbare Person verhinderte dessen Verwechslung mit der eigenen vorurteilsbeladenen Rollenprojektion, sei sie auch noch so unabdingbar.

Ich sehe was, was du nicht siehst: Konsequenzen

Folglich liegt im Ausweiten des »Wir« und im Aufzeigen multiperspektivischer Weltzugänge, die sich meinen kategorisch und universalisierbar anfühlenden Wahrheiten entgegenstellen, sicher ein Ansatz friedenspädagogischer wie -ethischer Arbeit. Sie hätte – nun wirklich friedenspädagogisch gesprochen – ihren didaktischen Startpunkt im Einüben von Empathie, also im Aufzeigen narrativer, sprich ästhetischer Methoden der Sichtbarmachung fremder Welt- und Wirklichkeitszugänge und in echter Begegnung. Es müsste deutlich werden, dass das Gegenüber im Sinne des Theologen Johannes Fischers nicht als „individuiertes Generelles, sondern als „generalisiertes Individuum (Fischer 2012, S. 51; Hervorh. i.O.) zu verstehen ist:

„Für das desengagierte Denken ist das Einzelne ein Fall eines Allgemeinen bzw. ein Exemplar einer Klasse. Bei der narrativen Thematisierung von Situationen und Handlungen ist demgegenüber das Einzelne die Aktualisierung eines unbestimmten bzw. generalisierten Individuellen.“ (Fischer 2012, S. 51)

Das ist das Ziel der Parabel, ja einer narrativen Ethik überhaupt: Aus der narrativen Begegnung mit dem Samariter und seinem empathischen Tun am notleidenden anthrōpos sind in der Tat kategorische Grundsätze abzuleiten. Aus dem Handeln am ursprünglich Nächsten (in unserer Parochie), so will ich Bernard Williams metaethische Kritik verstehen, müssten hiernach grundsätzliche Handlungsmaximen abgeleitet werden, nicht andersherum (eine Verwechslung, der die Diszplin »Ethik« nach Williams seit Anbeginn ihres Bestehens regelmäßig aufsitzt!).

Von hieraus könnte eine Friedensethik bestimmt werden, die Fragen moralischer Phänomenologie zum Gegenstand hat, weil offensichtlich nicht bedingungslos gesehen wird, was gesehen werden muss, um in moralischer Praxis (richtig) handeln zu können.3 Die handlungsleitende Voraussetzungsfülle ethischer Wahrnehmung wäre herauszustellen, weil sie neben Zeit, Ort und Biographie auch auf die empathische Aufmerksamkeit hinweist, die eine moralische Rezeption des Gegenübers als unverfügbares Individuum ermöglicht, das weder durch von außen herangetragene Charakterisierungen noch als Teil von etwas hinreichend bestimmt werden kann.

Gleichzeitig zeigt sich Friedensethik als perspektivisch gebundene Reflexion moralischer Praxis, die nicht aus einem archimedischen Blickwinkel des Unbeteiligtseins, sondern aus moralischer Praxis heraus fragt: Was braucht es, um zu sehen, was du siehst und ich nicht sehen kann? Ohne diese dialogische Anstrengung, die versucht an einem Diskurs teilzunehmen, statt das Gesehene und Gehörte in abstrakte ethische Prinzipien einzuordnen, wäre kein mündiges Urteil zu fällen; moralische Kommunikation über (Handlungs-)Gründe unterbrochen. Die vorgeschaltete Frage eines ethischen Streits wäre also der gegenseitige Versuch einer Sichtbarmachung von Handlungsgründen: Sind wir sicher, dass wir über dasselbe streiten?

Dieser Essay ist der zweite Teil eines längeren Beitrags, der im Heft 4/2022 mit einem Text zur Empathie als Startpunkt einer Friedensethik begonnen wurde. Ausführlicher werden die hier eigenständig dargestellten Ideen in: Funk, Konstantin (2022): „Man muß mit menschlichen Gefühlen rechnen.“ Zur Bedeutung von Emotion und Empathie im friedensethischen Nachdenken. In: Harbeck-Pingel, B.; Schwendemann, W. (Hrsg.) (2022): Menschen Recht Frieden. Paderborn: V&R Unipress, S. 47-74.

Anmerkungen

1) Weils Essaysammlung »Krieg und Gewalt« ist angesichts der aktuellen Kriege und neuer und alter »Empathie-Blockaden« mit großem Gewinn neu zu lesen (vgl. Weil 2021).

2) Damit haben wir uns im Essay »Vom Fremden zum Nächsten. Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik« (Funk 2022) intensiver befasst.

3) Ganz so zugespitzt wie Simone De Beauvoir es schreibt, würde ich es allerdings nicht formulieren. Sie schreibt von der Begegnung mit der ganz und gar der moralischen Praxis verpflichteten Simone Weil als Verfechterin der ethischen Theorie: „Auch weiterhin ordnete ich soziale Fragen der Metaphysik und Moral unter: wozu sich um das Glück der Menschheit sorgen, wenn sie keine Daseinsberechtigung hat?“ (De Beauvoir 1997, S. 346). Der Konflikt der beiden wird exemplarisch in der anschließenden Schilderung De Beauvoirs deutlich: „[Weil] erklärte in schneidendem Tone, daß eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. In nicht weniger preemptorischer Weise wendete ich dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, die Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich fest an. «Man sieht, daß Sie noch niemals Hunger gelitten haben», sagte sie. Damit waren unsere Beziehungen auch schon wieder zu Ende.“ (De Beauvoir 1997, S. 347)

Literatur

Bowles, S. (2008): Being human: Conflict: Altruism’s midwife. Nature, Bd. 456, S. 326-327.

Bowles, S. (2009): Nächstenliebe, die Mutter aller Kriege, aus dem Englischen übersetzt von Josephina Maier. DIE ZEIT (01/2009).

Breithaupt, F. (2019): Die dunklen Seiten der Empathie. 4. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

Choi, J.-K.; Bowles, S. (2007): The coevolution of parochial altruism and war. Science, Bd. 318, S. 636-640.

De Beauvoir, S. (1997) [1958]: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Reinbek bei Hamburg: Rowolt.

Fischer, J. (2012): Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht. Stuttgart: Kohlhammer.

Funk, K. (2022): Vom Fremden zum Nächsten. Empathische Wahrnehmung als Startpunkt einer Friedensethik. W&F 4/2022, S. 38-40.

Weil, S. (2021): Krieg und Gewalt, Essays und Aufzeichnungen. 3. Auflage. Zürich: Diaphanes.

Williams, B. (1978 [1972]): Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik. Aus dem Englischen übersetzt von Eberhard Bubser. Stuttgart: Reclam.

Zimmermann, R. (2007): Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) – Lk 10, 30-35. In: (Ders.) (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer, Gabi Kern, Annette Merz, Christian Münch und Enno Edzard Popkes. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 538-555.

Konstantin Funk studierte evangelische Theologie, Religionslehre, Musik und Bildungswissenschaften in Mainz und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Friedens­instituts Freiburg an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Dort lehrt er in Sozialethik, Systematischer Theologie und Politischer Philosophie in verschiedenen Studiengängen.

Krieg und Frieden auf Social Media

Krieg und Frieden auf Social Media

Herausforderungen für die Friedensbildung

von Cora Bieß1

Der enorme Digitalisierungsschub der Gesellschaft ist in aller Munde. Überdeutlich lässt er auch Leerstellen in digitalen Ansätzen der Friedensbildung zu Tage treten. Inzwischen ist die Rede von einer »digitalen Transformation«, Kinder und Jugendliche wachsen zunehmend in einer mediatisierten Welt auf. Doch welche Auswirkungen haben digitale Konfliktdynamiken und Gewalt in der Onlinekommunikation auf Kinder? Mit welchen Repräsentationen von Kriegsinhalten werden Kinder auf Social Media konfrontiert? Der Beitrag leistet eine erste Einordnung und gibt Impulse, wie neue digitale Formate der Friedensbildung verbunden mit einer kinderrechtlichen Perspektive aussehen könnten.

Durch das Aufkommen der sozialen Medien und die Verbreitung von mobilen Endgeräten stellt das Internet inzwischen den Raum für eine dauerhaft vernetzte Öffentlichkeit. Auch die Interaktionen und Dialogräume von Kindern sind durch die Nutzung dieser Medien zunehmend virtuell. Darin sind Kinder nicht mehr nur Konsumierende oder Rezipierende von Mediendarstellungen, sondern selbst über die Möglichkeiten dieser Plattformen miteinander und mit der Öffentlichkeit im Dialog. Kinder öffnen oder verantworten sogar eigenständig Dialogräume. Daher kann das Internet nicht mit anderen Medien gleichgesetzt werden, die in vorherigen Generationen überwiegend genutzt wurden und in denen Kinder primär Rezipierende darstellten (Presse, Funk, Fernsehen).

Durch diesen digitalen Strukturwandel entstehen also neue interaktive Kommunikations- und Dialogräume, die einerseits Chancen für Partizipation, Vernetzung und Inklusion von jungen Menschen bieten. Durch die beschleunigte Vernetzung und sekundenschnelle Übertragung von Inhalten entstehen zudem neue Mobilisierungsformen. Insbesondere das Bedürfnis „nach Kommunikation und der Möglichkeit, ständig mit Anderen in Kontakt zu sein, aber auch [das] Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Anerkennung“, kann durch digitale Räume gestillt werden (Hilt et al. 2021, S. 38). Doch „diese neue Kommunikationskultur und die ständige Erreichbarkeit durch die mobilen Endgeräte bringen auch neue Möglichkeiten mit sich, andere Nutzer zu verletzen“ (ebd.).

Neue Digitale Gewalt

Hierbei entstehen somit auch neue Konfliktdynamiken und Gewaltformen in der virtuellen Welt, die laut Hofstetter (2021) neue Konfliktakteur*innen hervorbringen. Verletzende und gewalthaltige Inhalte können kopiert, weitergeleitet, endlos verändert und gleichzeitig innerhalb von Sekunden einem großen Publikum geteilt werden (Hilt et al. 2021). Sowohl die häufige »Anonymität« der Tatverantwortlichen im Internet als auch die Unüberblickbarkeit des Publikums charakterisieren die Neuartigkeit von digitalen Gewaltformen. Hinzu kommt die „fehlende Wahrnehmung der Verletztheit des Opfers“ (ebd.).

Durch Gewalterfahrungen im Netz können Heranwachsende in ihren Partizipationschancen, in ihrer personalen Integrität sowie in ihren Potentialen zur freien Entfaltung und Entwicklung eingeschränkt werden. Ein möglichst gewaltfreies Aufwachsen von jungen Menschen und die Befähigung zu einem konstruktiven Konfliktumgang sind jedoch wesentlich für das Wohlergehen, die Zukunftsbildung und Vertrauensbildung der gesamten Gesellschaft. Prävention, Bearbeitung und Nachsorge von digitaler Gewalt steckt in vielerlei Hinsicht allerdings noch in den sprichwörtlichen »Kinderschuhen«. Staatliche Regulierungsbemühungen gegen diese Gewaltformen hinken, auch im internationalen Kontext, oft hinterher.

Allerdings sind auch der Moderation der Gewalterfahrungen von Kindern durch Erwachsene mitunter deutliche Grenzen gesetzt. Im analogen Raum können Kinder grenzüberschreitendes Verhalten durch die Reaktion von Erwachsenen erkennen, im digitalen Raum jedoch sind Erwachsene oftmals nicht präsent, wodurch eine regulierende soziale Kontrolle durch Erziehungs- und Sorgeberechtigte schwach ausgeprägt ist. Digitale Gewalt findet nämlich häufig in dynamischen, halböffentlichen Räumen, wie beispielsweise in Whats-App-Klassenchats oder auf Plattformen wie Instragram, TikTok oder Discord statt. Dies ist mit ein Grund dafür, warum digitale Gewalt, die Kinder erleben, von Erwachsenen häufig so spät erkannt wird. Zudem wird die Intervention von Erwachsenen oft nicht als kompetent angesehen, da sie ebenso wie die Kinder nicht „über wirksame Mittel der Hilfe und des Einschreitens verfügen“ (Hilt et al. 2021, S. 40). In digitalen Räumen können somit Kommunikations- und Gewaltdynamiken entstehen, in deren Folge sich Kinder verstärkt von Erwachsenen abgrenzen. Durch den gleichzeitigen Zuwachs an kommunikativer Autonomie etablieren Kinder im digitalen Raum zunehmend ihre eigenen Regeln.

Kriegsbilder im Ukrainekrieg

Mögliche Folgen werde ich im Folgenden beispielhaft anhand einiger Repräsentationen aus dem Ukrainekrieg auf der Plattform »TikTok« erläutern. TikTok ist ein Videoportal, das vom chinesischen Unternehmen ByteDance betrieben wird. Ursprünglich ist diese Plattform durch das Verbreiten von kurzen Tanzvideos bekannt geworden. Durch die Funktion der Lippensynchronisation können dort animierte Videos für Unterhaltungszwecke erstellt werden, was unter Kindern und Jugendlichen sehr beliebt ist. Im Unterschied zu anderen Plattformen weist TikTok damit eine Besonderheit auf: Anwender*innen können durch die Audiofunktion den Ton des ursprünglichen Videos entfernen und durch alternative Tonspuren ersetzen. Dies kann einerseits im Bereich von Satire und Parodie zu lustigen Ton-Video-Kombinationen führen, auf der anderen Seite bietet diese Funktion sehr niederschwellige Möglichkeiten für Manipulation (Reveland 2022).

TikTok wird inzwischen als ein Ort für politische Kommunikation wahrgenommen (Bösch und Köver 2022) und ist gegenwärtig zu einer zentralen Plattform sowohl für die Kommunikation über Konflikte als auch für die Austragung von Konflikten geworden. Diese Tatsache wird besonders seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine sichtbar. Die Zeitschrift »The New Yorker« bezeichnete den Ukrainekonflikt sogar als den weltweit ersten „TikTok Krieg“ (Chayka 2022). Denn TikTok kann durch seinen Zuschnitt auf kurze Videosegmente und eine quasi nicht-existente Moderation gezielt für Desinformationskampagnen genutzt werden, beispielsweise indem Videos aus einem Kontext in einen anderen ohne Kennzeichnung übertragen werden. Dadurch ist es möglich, dass Videomaterialien „fälschlicherweise den aktuellen Krieg in der Ukraine zeigen sollen, aber eigentlich aus einem anderen Kontext stammen (Reveland 2022). Ein Beispiel dafür ist ein Video, „auf dem ein Reporter vor mit Leichensäcken abgedeckten Personen steht. Es soll angeblich ukrainische Leichen zeigen“ (ebd.). Laut Reveland stammte dieses Video jedoch von „einem Klimaprotest in Österreich im Februar“ (ebd.).

Auch Betroffene im Ukrainekrieg nutzen TikTok für ihre Berichterstattung „als eine Art Kriegstagebuch“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022). Beispielsweise porträtiert in einem Video eine Jugendliche ihren Kriegsalltag in einem Bombenkeller2 und unterlegt dies mit dem Song »Che La Luna – Louis Prima«, einem sizilianischen Lied mit weltweit hoher Popularität. Das Lied fällt in das Genre folkloristisch, komödiantischer Musik. Der Songtext handelt von einem Dialog zwischen einer Mutter und einer Tochter über ihre Hochzeit. Die Lebensrealität im unterirdischen Bunker und die eingeblendeten Bilder der zerstörten Stadt an der Oberfläche, unterlegt mit der Leichtigkeit der Lebensrealität in diesem fröhlichen Song, rufen einen unwirklichen Kontrast hervor, der irritierend und verstörend wirken kann. Kindern und Jugendlichen aus einem anderen Kontext, wie beispielsweise Deutschland, ist es mitunter nicht möglich, diese widersprüchlichen visuellen und auditiven Reize des Videos ihren Intentionen gemäß einzuordnen und angemessen zu verarbeiten. In einem weiteren Video von derselben TikTok-Userin wird ersichtlich, dass ihr Bruder im Ukrainekrieg gestorben ist. Eine Hypothese könnte daher lauten, dass die humoristische Darstellung einerseits auf unmenschliche Kriegszustände aufmerksam machen soll, andererseits ihre Wut über den Verlust ausdrückt und der Trauerverarbeitung dient.

Eine weitere Form der Kriegsrepräsentationen findet sich in einem Video, das mit den Worten „dance if you going to beat Russia“ („tanzt, wenn ihr Russland schlagen werdet“)3 beginnt. Nachdem in einer ersten Szene Putin zu sehen ist , werden verschiedene tanzende Soldat*innen in dem Video gezeigt. Das Video ist mit dem Hashtag „@world.war._.3“ versehen. Zu Beginn tanzt ein britischer Soldat, anschließend ein amerikanischer und dann ein ukrainischer Soldat, alle uniformiert und mit der Waffe in der Hand. Am Ende des Videos formieren sich Soldat*innen in einem Kreis und schauen einem aus­tralischen Soldaten bei seiner Break-Dance Performance zu.

Nun gibt es hier mindestens zwei Lesarten, wie die Botschaft dieses Video interpretiert werden könnte:

  • Einerseits so, dass kriegerische Konflikte in Form eines Tanz-Battles ausgehandelt werden sollten, anstelle mit militärischen Mitteln. Dies könnte eine Botschaft für gewaltfreie Konfliktaustragung beinhalten.
  • Eine andere, gewaltverherrlichende Interpretation dagegen könnte lauten, dass es Soldat*innen geradezu Spaß bereitet, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Dieser Eindruck kann dadurch verstärkt werden, dass der erste Soldat, der Großbritannien repräsentiert, lächelnd Swivel-Tanzschritte macht. Hierbei könnte die Leichtigkeit einer Siegesgewissheit („to beat“) im Einklang mit der Gewaltanwendungsbereitschaft („to beat“) stehen.

Wie bei diesen beiden möglichen Interpretationen sichtbar wurde, ist die Intention der Videobotschaft auf TikTok nicht bekannt. Dies kann für Kinder in hohem Maße verstörend wirken, da die Kontextualisierung der im Stream vorgeschlagenen Videos fehlt. So können User*innen ungewollt von Tanzvideos unmittelbar zu Gewaltdarstellungen gelangen. Zudem finden sich solche Kriegsinhalte ohne Vorwarnung „zwischen Urlaubsbildern, Tanzvideos und Comedy“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022). Diese „groteske Mischung aus unterhaltsamen und nachrichtlichen Inhalten“ erschwert zudem eine kontext- und altersgerechte Verarbeitung von kriegerischen Inhalten (ebd.). Für Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben, kann darüber hinaus durch diese ungefilterte Darstellung ohne Triggerwarnung die Gefahr bestehen, dass ihre Erinnerungen an Gewalterfahrungen auf TikTok reaktiviert werden (sogenannte »Retraumatisierung«).

Wie eingangs beschrieben, nutzen viele Kinder und Jugendliche virtuelle Räume, die nicht primär von Erwachsenen genutzt werden. Somit besteht die Gefahr, dass wir Erwachsenen also gar nicht wissen, wie Kinder und Jugendliche derzeit in Kontakt mit Repräsentationen des Ukrainekrieges kommen. Wichtig ist es daher, dass Multiplikator*innen der Friedensbildung Kinder und Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelten sehen und anerkennen, denn sie erleben digitale Räume anders, als es Erwachsene tun. Aus einer kritischen Kinderrechtsperspektive bedeutet das, dass Erwachsene lernen, Kinder zu hören und ihre Denk- und Handlungsweisen zu verstehen beginnen. Der Fokus auf eine mediatisierte Kindheit kann mit einer Ausgestaltung einer digitalen Friedensbildung Hand in Hand gehen, indem

  • zum einen Friedenskompetenzen in Bezug auf Medien generationenübergreifend gestärkt werden. Aufgabe der Friedensbildung in der digitalen Welt muss es zudem werden, die Frage der eigenen Mediennutzung mehr in den Fokus zu stellen, indem altersgerechte und lebensweltnahe Bezüge zu aktuellen Themen hergestellt werden, wie zum Beispiel der Repräsentation des Ukrainekriegs auf TikTok.
  • zum anderen digitale Friedensfähigkeiten weiterentwickelt werden, die im Bereich der Medienkompetenzbildung integriert werden könnten, beispielsweise in Form einer gewaltfreien Kommunikation im Netz, einer konstruktiven digitalen Konfliktbearbeitung oder digitaler Zivilcourage.

Friedenspädagogische Leerstellen füllen

Aufgabe der Friedensbildung in der digitalen Welt sollte es einerseits im Analogen sein, einen geschützten Dialograum zwischen Kindern und Eltern bzw. Erziehungsberechtigten sowie zwischen Kindern und Lehrkräften zu eröffnen, um beispielsweise in der Schule zu thematisieren, welche Repräsentationen von Krieg und Gewalt auf Social Media gegenwärtig sein können. Darauf aufbauende Strategien, wie sich Kinder vor überwältigenden Kriegsinhalten auf Social Media schützen können, sollten im Einklang mit der 25. Allgemeinen Bemerkung der UN-Kinderrechtskonvention stehen, welche die Anwendbarkeit der Kinderrechte im Digitalen betont (OHCHR 2021). Das bedeutet, dass nicht allein der Schutz von Kindern im Fokus steht, sondern Kinder auch ein Recht auf Beteiligung und Befähigung haben. Der Zugang zu Informationen und Medien kann Kindern nicht grundsätzlich verwehrt werden. Deshalb müssen sowohl die Gefahren als auch die Chancen der digitalen Welten unter Berücksichtigung der Kinderrechte mit jungen Heranwachsenden altersgerecht thematisiert werden, um einen generationenübergreifenden und einordnenden Dialog über Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung gelingend zu gestalten.

Denkbar wäre es andererseits, digitale friedenspädagogische Zugangs- und Kontaktangebote im Internet zu den Kernthemen Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden zu etablieren. Der Ansatz der »digital streetwork«4 verfolgt das Ziel, in mediatisierten Lebenswelten mit Kindern und Jugendlichen direkt zu interagieren, und versteht sich als komplementäres Angebot im Bereich aufsuchender Arbeit. Inspiriert durch das Konzept »digital streetwork« könnten Akteur*innen der Friedensbildung auf Social Media virtuell-aufsuchend agieren, wenn beispielsweise junge User*innen vermehrt über Krieg und Gewalt berichten. Zudem könnten online-gestützte friedenspädagogische Gesprächsangebote eine Anlaufstelle für junge Menschen auf Social Media bieten, die über Kriegsinhalte (wie beispielsweise die oben beschriebenen TikTok Videos zum Ukrainekrieg) reden möchten. In diesen Gesprächsangeboten könnten Akteur*innen aus der Friedensbildung mit Kindern zunächst ins Gespräch darüber kommen, welche Inhalte Kinder und Jugendliche online konsumieren, und was diese Inhalte in ihnen auslösen. Sollte sich im Gespräch herausstellen, dass Kinder mit Desinformationskampagnen bespielt werden, könnte gemeinsam nach seriösen journalistischen Nachrichtenangeboten auf Social Media gesucht werden.5

Weitergehend könnte spezifisch ausgeführt werden, welche Unterstützungsmöglichkeiten (analog und digital) je nach Bedarf denkbar wären. Ziel der Friedensbildung zu Gewalt und Konflikten im Digitalen sollte es sein, das Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit (nicht nur in Zeiten von Kriegen) in Kindern aufzufangen sowie das veränderte Nähe- und Distanz-Verhältnis von Krieg auf Social Media zu thematisieren. Denn durch Social Media können Kriegsorte inzwischen buchstäblich im Kinderzimmer präsent sein. Dennoch ist es Aufgabe der Friedensbildung, ein Gefühl von Wirkmächtigkeit zu fördern, indem Friedensvisionen kontextspezifisch formuliert werden können. Das kann beispielsweise die Thematisierung von individuellen Einflussmöglichkeiten als Friedensmacher*innen in ihren Kontexten sein.

Abschließend lässt sich sagen, dass Social Media bei der heranwachsenden Generation großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Krieg, Gewalt, Konflikt und Frieden hat. Grundsätzlich aber kann die Berichterstattung über Kriegserlebnisse durch die unmittelbare Erreichbarkeit auf Social Media-Kanälen auch Empathie, Mitgefühl und Verständnis für betroffene Kinder und Jugendliche im Krieg stärken und einen peer-to-peer Erfahrungsaustausch zwischen den Jugendlichen ermöglichen. Denn insbesondere junge Heranwachsende nutzen Social Media als einen Ort, um sich „politisch zu engagieren (Baetz 2021) und könnten sich perspektivisch im Internet auch als junge Friedenstifter*innen ermächtigen. Hierfür ist eine strukturelle Stärkung von Friedensbildung im digitalen Raum folglich ein wichtiger Beitrag für eine friedlichere digitale Transformation.

Anmerkungen

1) Ein ganz großer Dank geht an David Scheuing für die wertvollen Anmerkungen im Begutachtungsprozess sowie für das Editieren des Beitrags.

2) tiktok.com/@valerisssh/­video/7071270332891483397

3) tiktok.com/@cherzus/­video/7068396008488684805

4) Weitere Informationen zu »digital streetwork« finden sich beim Institut für Medienpädagogik JFF.

5) „[MrWissen2go, die.da.oben, news_wg, tickr.news]) bieten zielgruppengerecht gestaltete Informationen zum Krieg in der Ukraine“ (Domdey, Pesci und Thiel 2022).

Literatur

Baetz, B. (2021): Junge User nutzen die Videoplattform für politische Statements. Deutschlandfunk, 25.01.2021.

Bösch; M.; Köver, C. (2021): Schluss mit lustig? TikTok als Plattform für politische Kommunikation. Studien 7/2021. Berlin: RLS.

Chayka, K. (2022): Watching the world’s “first TikTok war”. The New Yorker, 03.03.2022.

Domdey, P.; Pesci, M.; Thiel, K. (2022): Krieg auf TikTok und Instagram. Media Research Blog. Der Blog des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow-Institut. URL: leibniz-hbi.de/de/blog/krieg-auf-tiktok-und-instagram.

Hilt, F.; Grüner, T.; Schmidt, J.; Beyer, A.; Kimmel, B.; Rack, S.; Tatsch, I. (2021): Was tun bei (Cyber)Mobbing?: Systemische Intervention und Prävention in der Schule (4. Aufl.). klicksafe c/o Medienanstalt Rheinland-Pfalz.

Hofstetter, J.-S. (2021): Digital technologies, peacebuilding and civil society: Addressing digital conflict drivers and moving the digital peacebuilding agenda forward (INEF Report Nr. 114/2021). Bonn: Institute for Development and Peace.

OHCHR (Hrsg.). (2021): General comment No. 25 (2021) on children’s rights in relation to the digital environment. Online verfügbar unter: ohchr.org

Reveland, C. (2022): Faktenfinder. TikTok. Brutale Kriegsbilder statt lustiger Videos. Tagesschau.de, 09.03.2022.

Cora Bieß arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften im Projekt SIKID (Sicherheit für Kinder in der digitalen Welt – Regulierung verbessern, Akteure vernetzen, Kinderrechte umsetzen). Bei der Berg­hof Foundation betreut sie derzeit die Kinderseite Frieden-Fragen.de. An der Alpen-Adria Universität promoviert sie zu der Frage, wie Konfliktsensibilität Zivilcourage fördern kann, um Kinder(rechte) in der Onlinekommunikation zu stärken.

Friedensschule im Krieg

Friedensschule im Krieg

Franjo Starcevic und die Friedenspädagogik in Gorski kotar (Kroatien)

von Valentina Otmacic

Die Friedensschule in Gorski Kotar (Kroatien) war ein ganz besonderes pädagogisches Experiment. Entstanden ist sie in einer Region, die dank des Engagements der örtlichen Bevölkerung den prekären Frieden zwischen den dort lebenden Serb*innen und Kroat*innen retten und bewahren konnte. Um diesen Frieden zu verstetigen, wurde ein System an Kursen geschaffen, die »Friedensschule«, die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichem Hintergrund, zunächst aus der Region, dann aus ganz Ex-Jugoslawien und dem angrenzenden Ausland, einander näherbringen sollte. Der Motor all dieser Bemühungen war Professor Franjo Starcevic. Ein Porträt zu seinem 10. Todestag.

Gorski kotar ist eine gebirgige Region im Nordwesten Kroatiens, die von Kroaten und Serben bewohnt wird, zwei Bevölkerungsgruppen, die während der Auflösungskriege Jugoslawiens 1991-1995 in einen gewaltsamen Konflikt gegeneinander verstrickt wurden. Während die meisten ethnisch gemischten Regionen in Kroatien Spaltungen und Gewalt erlebten, blieb Gorski kotar durch die gesamte Kriegszeit eine Oase des Friedens, die die vorherrschenden nationalistischen Praktiken der ethnischen Zersplitterung der Gesellschaft und des Territoriums durch ihr leuchtendes Gegenbeispiel herausforderte. Die Gemeinde Gorski kotar verhinderte nicht nur jegliche bewaffneten Zusammenstöße in der Region, sondern bewahrte auch den positiven Frieden auf lokaler Ebene. Diese außergewöhnliche Errungenschaft war möglich dank des strategisch klugen, oft heldenhaften Engagements und des unkonventionellen Denkens einiger außergewöhnlicher Menschen. Einer der wichtigsten von ihnen war Professor Franjo Starcevic, ein Pionier der Friedensarbeit und Friedenserziehung, der im April 2011 verstorben ist1. Über seine Heimat sagte er Folgendes:

„Gorski kotar ist etwas Besonderes. Ich denke mir, dass dies daran liegt, dass es zu den höchstgelegenen Orten in Kroatien gehört. Ich denke mir, dass wir dem Himmel und den Wolken, die nicht aufeinander schießen, ein Stück näher sind; auch die Sterne schießen nicht aufeinander“ (Franjo Starcevic, im Nansen-Dialogzentrum Osijek, 2009).

Geboren 1923 im kleinen Ort Mrkopalj in Gorski kotar, absolvierte Franjo Starcevic sein Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität Zagreb. Nach vielen Jahren pädagogischer Arbeit an verschiedenen Schulen war er zur Zeit der Auflösung Jugoslawiens schon im Ruhestand, aber politisch immer noch in der Gemeindeverwaltung seines Heimatortes engagiert. Tief davon überzeugt, dass Gorski kotar all seinen Bewohner*innen gehört und dass der Frieden dort trotz der schwierigsten Umstände bewahrt werden kann, wurde Franjo Starcevic – oder der »Professor Starcevic«, wie ihn die meisten Menschen nennen – zu einer Ikone der Friedensbewahrung in der Region und darüber hinaus.

„Der Professor vertraut seinen Nachbarn“

Als der jugoslawische Staat ab 1990 zerfiel und die Zukunft seiner Republiken und Bürger*innen höchst ungewiss war, nahmen die Spannungen in ganz Kroatien zu, vor allem in den Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerung wie in der Region Gorski kotar. Ethnische Identitäten gewannen stark an Bedeutung, und unter der Führung nationalistischer Eliten fanden sich Menschen, die jahrzehntelang zusammen gelebt hatten, plötzlich auf gegnerischen Seiten, als Feinde wieder. Die Polarisierung der Bevölkerung entlang ethnischer Linien wurde unter anderem durch die Unterbrechung der Kommunikation zwischen den ethnischen Gruppen befördert, die gleichzeitig aus unterschiedlichen Quellen bewaffnet wurden. Die Errichtung von physischen Barrikaden auf den Straßen, um die Weitergabe von Waffen zu verhindern und sich vor Angriffen zu schützen, wurde zu einer gängigen Praxis, die mit der Errichtung »mentaler Barrikaden« und ethnischer Trennlinien in den Köpfen der Menschen einherging. Dieses Szenario begann sich auch in Gorski kotar im Herbst 1991 abzuzeichnen, mit Barrikaden zwischen kroatischen und serbischen Dörfern, die von beiden Seiten errichtet wurden.

Ein Wendepunkt in dieser Entwicklung war erreicht, als Franjo Starcevic, ein Kroate, beschloss, die Barrikaden zu Fuß zu überqueren und mit den Führungskräften in den serbischen Dörfern zu sprechen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wagte er in Absprache mit den örtlichen Behörden diese lange, historische und höchst symbolische Reise.

Josip Horvat, damals Leiter des Krisenstabs der Gemeinde Delnice, erinnert sich an den Moment, als diese Entscheidung getroffen wurde:

„Die Barrikaden von irgendeiner Seite zu überqueren bedeutet, seinen Kopf zu riskieren (…) Aber der Professor [Starcevic] vertraut seinen Nachbarn. Es ist unmöglich, dass der Wirbelwind des Krieges in so kurzer Zeit friedliche Menschen in Kriegsmonster verwandelt hat. Wir warnen ihn, dass die Reise riskant, lang und schwierig ist, man muss den Berg zu Fuß überqueren. ‚Ich bin siebzig Jahre alt und es wird nicht viel schaden [wenn ich sterbe], und Sie werden wenigstens wissen, wo Sie stehen!‘ Er ist ruhig und lächelt. Es scheint, dass er unsere Verwirrung genießt.“ (Horvat 2003, S. 45)

Dies war nur der erste von vielen Besuchen, die Professor Starcevic den serbischen und später auch den kroatischen Dörfern in der Region abstatten sollte. Er übernahm die Rolle eines Vermittlers und initiierte eine Reihe von Austauschen, die eine kontinuierliche und konstruktive Kommunikation zwischen den serbischen und kroatischen Führungen fördern sollten, die auf diese Weise zu Partnern bei der Bewahrung des Friedens in Gorski kotar wurden. Dieser ebenso symbolische wie pragmatische Akt des Friedens – eine außergewöhnliche menschliche Anstrengung, die Professor Starcevic unternahm, um die Hand auszustrecken und »den anderen« zuzuhören – hatte eine stark positive Wirkung auf die serbische Bevölkerung auf der anderen Seite des Berges und weckte Vertrauen. In einem Video des Nansen-Dialogzentrums Osijek (2009) erinnert sich Ðuro Trbovic, der Chef der überwiegend serbischen Gemeinde Drežnica:

„Der Mann hat sich geopfert, er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, er ist 27 Kilometer von hier nach Jasenak gelaufen.“

Im gleichen Video betont ein Bewohner des Dorfes Jasenak:

Er kam durch den Schnee, es lag ein Meter Schnee, er kam über die Straße, durch den Wald, er kam, um allen, die schlechte Absichten hatten, das Gegenteil zu beweisen.“

Bei der Betrachtung der Auswirkungen dieser von Professor Starcevic initiierten Aktionen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in vielen Orten in Kroatien, die enorme menschliche und andere Verluste erlitten, die Gewalt mit den Barrikaden begann. Dem folgten: Das Gefühl der Bedrohung, das wachsende Misstrauen, die Verschanzung der Menschen entlang der ethnischen Zugehörigkeit, die erste Kugel, das erste Opfer, die Zunahme der Feindseligkeiten, zusätzliche militärische Kräfte, die von beiden Seiten zur Unterstützung ihrer ethnischen Gruppe herbeigerufen wurden – das war ein übliches Szenario in solchen Orten. In Gorski kotar hingegen wurden die Barrikaden langsam abgebaut, das Holz wurde von Jasenak nach Rijeka gebracht und dort verkauft, Menschen beider ethnischer Gruppen gingen weiter ihrer Arbeit nach und die lokalen Eliten begannen, sich von der Idee des ethnischen Konflikts zu lösen (siehe Wintersteiner 1994 und Glad 2017).

Die positiven interethnischen Beziehungen in Gorski kotar, die durch den Dialog der lokalen Eliten erhalten wurden, mussten aber auch auf allen Ebenen gepflegt werden. Da die Kinder systematisch den dominanten Diskursen der Spaltung ausgesetzt waren, bestand die Notwendigkeit, sie bei der Überwindung dieser Herausforderung zu unterstützen. Die Idee der Friedensschule war geboren.

Friedensschule in Mrkopalj

Mitten im Krieg, im Jahr 1994, startete Franjo Starcevic zusammen mit seinem Kollegen, dem Künstler Josip Butkovic, und einer Gruppe gleichgesinnter Freiwilliger diese ungewöhnliche Initiative und eröffnete eine Friedensschule in Mrkopalj. Die »Schule« versammelte Kinder aus den umliegenden Dörfern und mehreren Städten Kroatiens, bot einen Raum für Begegnungen und Workshops zu verschiedenen Themenbereichen und mobilisierte lokale Familien, die sich freiwillig bereit erklärten, die externen Kinder aus anderen Teilen Kroatiens in ihren Häusern aufzunehmen.

Die erste einwöchige Veranstaltung der Friedensschule wurde im August 1994 organisiert und versammelte 46 Teilnehmer*innen aus Gorski kotar, Rijeka und Zagreb, kroatischer, serbischer und muslimischer Herkunft. Darunter auch Kinder, die aufgrund des Krieges aus anderen Teilen Kroatiens vertrieben worden waren. Das Programm war sehr vielfältig – es umfasste Kunsthandwerk, Sport, Ökologie, Konferenzen und Seminare zur gewaltfreien Konfliktlösung, Bastelworkshops und viele andere Aktivitäten. Wie die Organisator*innen betonten, belehrten sie die Schüler*innen zu Beginn nicht theoretisch über Frieden, sondern ließen die Jugendlichen einfach gemeinsam etwas tun. In diesem Prozess wurden viele Barrieren abgebaut und eine Reihe von verschiedenen Akteuren war daran beteiligt, die die Friedensidee über die Workshops hinaus weiter trugen.

Im Laufe der Zeit erweiterte die Schule ihre geografische Ausstrahlung und ihren Einfluss – auch nach dem Ende des Krieges: Initiiert in Mrkopalj, breiteten sich die Aktivitäten der Schule auf Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Slowenien aus und bezogen auch Initiativen und Personen aus der Schweiz und Österreich mit ein. Anfänglich auf Spenden von Einzelpersonen angewiesen, erhielt die Friedensschule nach und nach Mittel vom Europarat, dem Open Society Institute und anderen Organisationen. Über viele Jahre hinweg blieb diese Schule ein Ort der Begegnung und der positiven gemeinsamen Erfahrungen von Kindern verschiedener ethnischer Gruppen, von den örtlichen Dörfern bis hin zu den Nachbarländern.

Die Organisation der Friedensschule basierte auf dem zuvor aufgebauten gegenseitigen Vertrauen zwischen den Bewohner*innen von Gorski kotar und stärkte dieses Vertrauen weiter. Milan Kosanovic, ein Serbe aus Jasenak, erinnert sich an die Entscheidung, seine Tochter im August 1994 in die Friedensschule zu schicken:

„Das ist die Logik: Wenn ich dir etwas anvertraue, dann mein Kind […] es gibt nichts, was man mehr in etwas Gutes oder in etwas Ehrenvolles und Faires investieren könnte, als dir sein eigenes Kind anzuvertrauen.“ (Nansen Dialogzentrum Osijek 2009)

Wechselseitig vertrauensvolle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern beider ethnischer Gruppen wurden durch diese Erfahrung gestärkt und intensiviert, denn die Organisation und Durchführung der Aktivitäten der Friedensschule erforderte ihre Zusammenarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung und gegenseitiges Vertrauen. Im Kontext des andauernden Krieges in Kroatien und dem benachbarten Bosnien-Herzegowina war die Idee der Friedensschule revolutionär und blieb der Bevölkerung von Gorski kotar und darüber hinaus als bedeutendes Vermächtnis erhalten.

Die Friedensschule als Vermächtnis

Das Erlebnis der oben geschilderten Praxis der Friedensschule ist eine wertvolle pädagogische Erfahrung, die in den Augen der Organisator*innen sowohl an Kinder als auch an Erwachsene weitergegeben werden musste, in Kroatien und im Ausland.

Als eine Art erfolgreiches soziales Experiment, das zur Erhaltung des Friedens in Gorski kotar beitrug, war es gleichzeitig aber auch eine einzigartige und innovative Art des Widerstands gegen die Angst vor dem »Anderen«.

Mit ihrer Kriegs- und Nachkriegspraxis wurde die Friedensschule zu einer Art »Museum der ungebrochenen Beziehungen« (um die Analogie mit dem bekannten Zagreber »Museum der zerbrochenen Beziehungen« zu verwenden), zum Ort des Widerstands gegen Angst und Spaltung. Sie wurde zu einem Allgemeingut im kollektiven Gedächtnis von Gorski kotar und stellt ein soziales Kapital dar, das für die weitere Friedensarbeit nutzbar gemacht werden sollte. Allerdings werden Franjo Starcevic, die Friedensschule oder die Friedenserfahrung von Gorski kotar in den Lehrplänen der Schulen in Kroatien heute nicht erwähnt. Das ist nicht überraschend, da diese Erzählung dem dominanten Diskurs über den Krieg 1991-95 widerspricht und ihn herausfordert. Gerade deshalb wäre die Friedensschule der richtige Ort, um Geschichtslehrer*innen zu versammeln und gemeinsam darüber nachzudenken, wie kritisches Denken gefördert und das Verständnis der Kriegsereignisse durch die Erfahrungen aus Gorski kotar vertieft werden könnten.

Die Friedensschule ist aber nicht nur eine gemeinsame Erfahrung aus der Vergangenheit oder ein Gebäude in Mrkopalj; sie ist vor allem eine Idee, ein Konzept, das von Franjo Starcevic initiiert wurde. Es hätte ihm sicher gefallen, wenn die Schule heute wieder ein Ort der aktiven Suche nach Antworten auf die aktuellen Herausforderungen des Friedens werden könnte, denn von diesen Herausforderungen gibt es viele.

Friedensförderndes Potenzial für das 21. Jahrhundert

Der Krieg mag vorbei sein, aber wir können die Situation sicher nicht als Frieden bezeichnen, in der manche Erwachsene – in Jajce (Bosnien), in Vukovar (Kroatien) oder anderswo – Kinder entlang der ethnischen Linien aufteilen oder in der einige Kinder von »anderen Leuten« (Geflüchteten) ihr Leben in den Lastwagen von Schmugglern verlieren, um nur einige Beispiele zu nennen.

Denn Frieden ist nicht einfach nur die Abwesenheit von direkter, bewaffneter Gewalt, sondern die Abwesenheit jeglicher Art von Gewalt und die Anwesenheit von Gerechtigkeit und Zusammenarbeit unter den Menschen.

Deshalb wird die Friedensschule heute genauso gebraucht wie in den Kriegszeiten der 1990er Jahre. Obwohl sie 2006 aufgrund finanzieller Engpässe geschlossen wurde, gibt es heute gute Aussichten, dass sie dank der Bemühungen einiger Enthusiast*innen wieder eröffnet werden kann. Um für das 21. Jahrhundert relevant zu sein, muss sich die Schule auf die Themen konzentrieren, die für die Kinder und Jugendlichen von heute am wichtigsten sind. Unter diesen Themen sticht die Frage der Klimakrise und der Klimagerechtigkeit als eine der wichtigsten Herausforderungen für den Frieden von heute und morgen hervor. Mit seiner ökologischen Herangehensweise war Franjo Starcevic einer der Vorläufer der heutigen Bewegung zur Rettung des Planeten in Kroatien. In diesem Sinne müsste eine erneuerte Friedensschule die Ziele der heutigen Klimabewegung in direkter Verbindung mit der Frage des Friedens aufgreifen.

1994 wurde im Bulletin der Grundschule Mrkopalj vermerkt, dass das Ziel der Friedensschule darin bestehe, „den Kindern – Jungen und Mädchen – zu helfen, ein Leben in gegenseitiger Zusammenarbeit, Respekt und Verständnis zu beginnen und durchzuhalten; eine Welt ohne Hass und Krieg zu schaffen und die bestehenden Grenzen nationaler und missverstandener religiöser Zugehörigkeit in Begegnungspunkte des allgemeinen menschlichen Miteinanders zu verwandeln“ (Bulletin Board Club, S. 3).

Dies ist ein wichtiges und ehrgeiziges Programm, das sich die ersten Studierenden und Initiator*innen der Schule gegeben hatten. Es ist nun an der Zeit, die Reise dort fortzusetzen, wo sie aufgehört hat und diesem Programm wieder Leben einzuhauchen. So kann die Friedensschule den Fußstapfen von Franjo Starcevic folgen und daran arbeiten, Hindernisse und Grenzen zu überwinden. So kann sich das enorme pädagogische und friedensfördernde Potenzial entfalten, das in der Friedensschule in Mrkopalj steckt.

Anmerkung

1) Dieser Text erinnert anlässlich des zehnten Todestages von Franjo Starcevic an seine Pionierarbeit.

Literatur

Bulletin Board Club (1994): Delnice: Informaticka radionica Gorani OŠ Mrkopalj.

Glad, N. (2017): Goranski MIR-ovi. Delnice: Matica hrvatska.

Horvat, J. (2003): Oaza mira. Rijeka: Adamic.

Nansen Dialogzentrum Osijek (2009): Neispricane price II [Video]. URL: ndcosijek.hr.

Wintersteiner, W. (1993): Zusammenleben ist möglich: Serben und Kroaten in Gorski kotar. In: Birckenbach,H.; Jäger, U.; Wellmann, C. (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1994. München: Beck, S. 225-232.

Dr. Valentina Otmacic ist eine unabhängige Wissenschaftlerin aus Kroatien. Sie hat einen Doktortitel in Friedensforschung von der University of Bradford, UK. Ihre Forschungsarbeit konzentriert sich auf gemeinschaftliche Formen des Widerstands gegen Gewalt und gewaltfreie Ansätze zur Konflikttransformation.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Werner Wintersteiner.

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Konfliktkompetent in fünf Minuten?!

Zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse durch Videos

von Mathias Jaudas, Heidi Ittner und Jürgen Maes

Der Großteil der deutschen Bevölkerung nutzt das Internet, 78 % sind
in sozialen Medien aktiv und 47 % der Deutschen nehmen digitale Lernangebote in Anspruch. Kann moderne Friedensarbeit demnach nicht auch online stattfinden, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich einen Großteil ihrer Zeit selbstbestimmt aufhalten? Der Beitrag beleuchtet die Potenziale und Herausforderungen einer online- und videobasierten Kompetenzvermittlung. Aus psychologischer Perspektive gehen wir der Frage nach, ob Videoformate in der Lage sind, Konfliktkompetenzen zum konstruktiven Umgang mit sozialen Konflikten zu verbessern.

Seit den 1970er Jahren ist sich die psychologische Konfliktforschung einig: Konflikte sind Chancen, wenn wir ihnen kompetent begegnen. Insbesondere die psychologische Mediationsforschung, die Kommunikations- aber auch die Gerechtigkeitspsychologie liefern handlungspraktisches Anwendungspotenzial, das für kooperative und gewaltfreie Konfliktlösungen im Alltag genutzt werden kann. Doch bislang verbleibt der größte Teil wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Umgang mit sozialen Konflikten dort, wo er entstand: in den Köpfen und Fachpublikationen der Expert*innen. Dabei vertrat der Psychologe George A. Miller schon 1969 die Ansicht, dass die Psychologie als Wissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden sollte, indem sie psychologisches Wissen an die Öffentlichkeit weitergibt und damit zur Lösung individueller, aber auch gesellschaftlicher Herausforderungen beiträgt und Wohlergehen fördert (vgl. Miller 1969). Heutzutage wird diese gesellschafts- und bildungspolitisch initiierte Zielstellung durch die »Third Mission«-Bewegung wieder aufgegriffen und zunehmend prominent platziert.

Schritt Eins: Conflict Food – ein medialer Vermittlungsansatz entsteht

Unter dem Arbeitstitel »Conflict Food« entwickeln wir seit 2018 einen medialen Ansatz zur Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung – mit dem Ziel, die individuelle und gesellschaftliche Konfliktkompetenz zu verbessern. Dazu haben wir für Conflict Food einen online-basierten Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz entwickelt, der verschiedenen Vermittlungskanälen (z. B. Twitter, YouTube, Websites) verschiedene Medienformate (z. B. Posts, Videos, Fact Sheets) zuweist, die jeweils ein spezifisches Verhältnis von Unterhaltung und Lernen aufweisen und somit mehr oder weniger implizites Lernen ermöglichen (siehe Abbildung 1 auf Seite 36).1 Grundannahme hier: Zunächst generieren wir durch attraktive Unterhaltungsformate Aufmerksamkeit, während wir den Transferanspruch geringhalten, um die Menschen dort abzuholen, wo sie sich in ihrer Freizeit aufhalten (Level 1). Haben wir Reichweite und damit Aufmerksamkeit gewonnen, können andere Formate, die zunehmend dem expliziten Lernen dienen, angeboten werden (Level 2-5) (vgl. Jaudas 2020).

Konzepte und erste Evaluation des Ansatzes

Bei der Auswahl konfliktpsychologischer Inhalte für die Conflict Food-Materialien kommt in unserem Ansatz dem gerechtigkeitspsychologisch fundierten Mediationskonzept von Leo Montada und Elisabeth Kals eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Montada und Kals 2013). Dieses liefert ein Modell sozialer Konflikte, das subjektiv erlebte Norm- oder Anspruchsverletzungen in den Mittelpunkt stellt und darauf basierend Bearbeitungsmöglichkeiten ableitet. Weiter geben kognitive Emotionsmodelle Hinweise darauf, wovon wir in konkreten Konfliktsituationen überzeugt sind, damit wir etwa Empörung, Neid oder Feindseligkeit empfinden. Aus all dem lassen sich Rückschlüsse auf die sogenannte Tiefenstruktur der Konflikte ziehen, d. h. die eigentlichen Beweggründe für die vertretenen Positionen. Eine Annäherung der Konfliktparteien wird durch verschiedene Relativierungstechniken möglich, die etwa konfliktverhärtende assertorische Urteilstendenzen (z. B. „Ich habe Recht, sonst niemand.“) durch ein Denken in Alternativen, dem hypothetischen Urteilen (z. B. „Inwieweit sieht es der andere anders als ich?“), aufweichen.

Auf dieser Basis verstehen wir Konfliktkompetenz also als Fähigkeit, sich in Konfliktsituationen auf alternative Ansichten und Erklärungsmöglichkeiten einlassen zu können, sich der Tiefenstruktur von Konflikten bewusst zu sein und darauf aufbauend eine für alle Konfliktparteien vorteilhafte Lösung entwickeln zu können (vgl. Jaudas und Maes 2021).

Um verlässlich Auskunft zu geben, ob die medialen Formate von Conflict Food konfliktspezifische Kompetenzen verbessern können, haben wir ein eigenes Messinstrument entwickelt: das Inventar mediationsspezifischer Konfliktkompetenz (IMKK). Basierend auf einem Kompetenzbegriff von Erpenbeck (2010) unterscheidet das IMKK die drei Kompetenzfacetten Wissen, Fähigkeit und Erfahrung. Zudem erlaubt die aktuelle Version eine Differenzierung in je vier verschiedene Teilkompetenzen, die sich aus dem oben geschilderten Mediationskonzept von Montada und Kals ableiten: (1) Verständnis sozialer Konflikte, (2) Oberflächen- vs. Tiefenstruktur, (3) Relativierungstechniken sowie (4) Konflikttranszendierung und Win-Win-Lösung (vgl. Jaudas 2020).

Die bisherigen Evaluationen fokussierten die Wirksamkeit eines für Conflict Food entwickelten Erklärvideoformats. In den ca. fünfminütigen Videos erläutert ein Sprecher aus der Expert*innenperspektive die vier aus dem Mediationskonzept abgeleiteten Teilkompetenzen. Die Vermittlung nutzt eine einfache Sprache, veranschaulichende Beispiele und eine reduzierte Visualisierung.

Eine experimentelle Kontrollgruppenstudie mit einer annähernd bevölkerungsrepräsentativen Quotenstichprobe (N = 499) belegt, dass die Nutzung der Videoformate die Konfliktkompetenz signifikant verbessert. Die Gruppe der Nutzer*innen, die die Videos gesehen hatte, zeigt im IMKK höheres konfliktspezifisches Wissen (dCohen = 1.202), verbesserte Anwendungsfähigkeit (dCohen = .82) und berichtet konfliktkompetenteres Verhalten (dCohen = .32). Eine Folgeerhebung bestätigte sechs Monate nach dem Anschauen der Videos signifikante Langzeiteffekte in allen Kompetenzfacetten. Die Evaluation der Erklärvideos spricht somit grundsätzlich dafür, dass durch ihren Einsatz Konfliktkompetenzen verbessert werden können. Nun galt es, attraktivere Videoformate zu entwickeln und auch für niedrigere Ebenen des Multi-Level-Multi-Channel-Ansatzes zu testen.

Schritt zwei: Können auch virale Videoformate Konfliktkompetenzen verbessern?

Das Ziel der sich anschließenden Studie3 bestand darin, ein Videokonzept zu entwickeln, das sich besser für eine virale Verbreitung auf Social-Media-Plattformen eignen und Reaktanzen4 seitens der Nutzer*innen vermeiden sollte, wie sie teilweise bei den Erklärvideoformaten beobachtet werden konnten. Das neue Format ordnet sich im Multi-Level-Multi-Channel-Ansatz (vgl. Abbildung 1) damit auf einer niedrigeren Stufe ein: Der Unterhaltungsanteil steigt im Vergleich zum Lernanteil und der Transfer des Konfliktwissens erfolgt stärker implizit.

Von anderen Laien lernen: Peer-to-Peer Videos

Aus der Forschung zur Sozialkognitiven Lerntheorie wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit für ein erfolgreiches Modelllernen steigt, wenn das Modell dem Lernenden ähnlich ist (z. B. Davidson und Smith 1982). Auf dieser Grundlage entstand die Idee, einen symmetrischen Transferansatz zu wählen, bei dem – im Gegensatz zum bisherigen Format – die Darstellung der Inhalte nicht aus Expert*innenperspektive, sondern aus Sicht von Laien erfolgen sollte. Das Format berücksichtigt damit potenzielle Widerstände seitens der Nutzer*innen aufgrund einer als eher normativ erlebten Vermittlung durch »belehrende Expert*innen«. Damit ist zugleich eine Stärkung des Edutainment-Ansatzes verbunden, denn das Beobachten erhält durch die Eigenheiten der darstellenden Laien unterhaltsame Komponenten und bedient als weiteres Nutzungsmotiv das Interesse, andere Menschen in ihren Besonderheiten kennenzulernen, vergleichen und bewerten zu können.

Dazu bekommen Laien eine kurze Einführung in das Thema durch Expert*innen und versuchen später, diese Inhalte knapp, verständlich und in eigenen Worten selbst in einer Videosequenz zu vermitteln. Das ist auch als Reaction­video möglich, bei dem eine Person live auf filmische Konfliktepisoden in einer Videosequenz reagiert, diese also in eigenen Worten kommentiert. Durch die Auswahl eines diversen Personenpools für diese Videos werden diese abwechslungsreicher und bieten eine größere Vielfalt an Identifikationsmöglichkeiten für Nutzer*innen.

Um herauszufinden, wie gut ein solches Videoformat im Vergleich zu den bereits evaluierten Erklärvideoformaten in der Lage ist, Konfliktkompetenzen zu verbessern, haben wir ein circa fünfminütiges Reactionvideo produziert, das die Differenzierung zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur von Konflikten thematisiert. Zur Erfassung eines möglichen Kompetenzzuwachses beantworteten die Proband*innen im Anschluss die Fragen der Wissens- und der Fähigkeitsfacette des IMKK. Zusätzlich wurden die Proband*innen gebeten, das Videoformat anhand der Kriterien Alltagsnutzen, Unterhaltsamkeit, neue Informationen und genereller Präferenz (Liking) zu bewerten.

Ergebnisse der vergleichenden Evaluationen

Nachdem die Proband*innen das Reactionvideo gesehen haben, zeigen sie mit Blick auf die Wissensfacette signifikant höhere Werte als zuvor (dCohen = .45). Im Vergleich dazu lieferte allerdings das inhaltlich korrespondierende Erklärvideo der Expert*innen eine höhere Effektstärke (dCohen = .77). Auch im Hinblick auf eine mögliche Veränderung der Fähigkeitsfacette steigen die Werte nach dem Anschauen des Reactionvideos signifikant (dCohen = .29), wenngleich die Effektstärke des Erklärvideos auch in dieser Kompetenzfacette größer ist (­dCohen = .52). Bezüglich der Wirksamkeitsevaluation lässt sich demnach feststellen, dass auch das Reactionvideoformat in der Lage ist, die hier überprüften wissens- und fähigkeitsbasierten Kompetenzfacetten signifikant zu verbessern. Dass die Effektstärken im Vergleich zum Erklärvideoformat geringer ausfallen, entspricht den Erwartungen, denn der Anteil expliziter Wissensvermittlung ist im Reactionformat auch deutlich geringer als im Erklärvideoformat.

Entgegen den Erwartungen jedoch wurde das Reactionvideo im Zuge der Produktevaluation überwiegend schlechter bewertet als das Erklärvideoformat: Das Erklärvideo liefert subjektiv einen höheren Alltagsnutzen (dCohen = .41), vermittelt mehr neue Informationen (dCohen = .59) und zeigt insgesamt höhere Präferenzwerte (dCohen = .33). Mit Blick auf die wahrgenommene Unterhaltsamkeit beider Videoformate konnten – ebenfalls entgegen den Erwartungen – keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden (dCohen = .10,
p = .376). Leider kann zu den Gründen dieser Ergebnisse aufgrund der begrenzten Datenlage zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Eine Erklärung könnte darin bestehen, dass die allgemeine Produktionsqualität der Erklärvideos höher ist als die des Reac­tionvideos und daraus eine pauschalisierte Präferenz für das Erklärvideoformat entstanden ist. Auch Stichprobeneffekte sind nicht auszuschließen, da es sich hier nicht um einen direkten Vergleich beider Videoformate gehandelt hat, sondern die Proband*innen jeweils nur ein Format bewertet haben und sich die beiden Stichproben in Hinblick einiger soziodemografischer Variablen signifikant unterscheiden.

Ein kritischer Blick auf die Wirksamkeit

Wenngleich die Ergebnisse der bisherigen Wirksamkeitsanalysen konsistente Verbesserungen in den getesteten Kompetenzfacetten zeigen, sind diese Ergebnisse zum aktuellen Zeitpunkt mit Vorsicht zu interpretieren, insbesondere aufgrund der bisher eingeschränkten Datengrundlage. Das IMKK liefert valide Ergebnisse in Hinblick auf die Kompetenzfacetten Wissen und Fähigkeit. Doch eine Steigerung von konfliktspezifischem Wissen und Fähigkeiten sagt noch nichts darüber aus, ob sich auch das faktische Verhalten im Umgang mit sozialen Konflikten ändert. Im Einklang mit der psychologischen Konfliktstilforschung nutzt das IMKK in der Erfahrungsfacette ausschließlich Selbstauskunftsitems (z. B. „In Streitigkeiten und Konflikten frage ich mich, ob die andere Konfliktpartei für ihr Fehlverhalten verantwortlich ist.“). Aus aktuellen Studien wissen wir jedoch, dass Menschen bei der Beschreibung des eigenen Konfliktverhaltens einer starken kognitiven Verzerrung unterliegen, mit der sie ihr eigenes Verhalten nahe an dem für sie gültigen normativen Ideal orientieren. Mit anderen Worten tendieren wir dazu, unser eigenes Konfliktverhalten so zu beschreiben, wie wir glauben, dass man sich im Idealfall verhalten sollte. Positiv interpretiert bedeutet dies, dass die Videos dabei unterstützen, dass die Nutzer*innen ihr normatives Ideal verschieben. Es bleibt auf der bestehenden Datenlage aber ungewiss, ob die Videos auch dabei helfen, den alltäglichen Umgang mit Konflikten zu verändern.

Ergänzend dazu muss berücksichtigt werden, dass die Videoformate bislang noch nicht im realen Umfeld verschiedener Social-Media-Plattformen konsumiert wurden. Dieser Umstand ist für die Wirksamkeitsevaluation nicht zentral. Für die Frage, ob es letztlich gelingen kann, über derartige videobasierte Angebote Konfliktkompetenzen zu verbessern, ist er jedoch essenziell. Hier wird deutlich, dass die Vermittlung konfliktpsychologischer Erkenntnisse weitere Hürden nehmen muss: Es reicht nicht, wenn Transferangebote existieren. Sie müssen attraktiv sein und die Bedürfnisse und Präferenzen von Nutzer*innen berücksichtigen. Kurz gesagt: Nützlichkeit setzt Nutzung voraus.

Chancen videobasierter Transferkonzepte

Doch aus unserer Sicht lohnt es sich, an der Überwindung der genannten Hürden zu arbeiten.

In zukünftigen Studien wird die Wirksamkeitsevaluation um verhaltensnahe Daten zu ergänzen sein, um herauszufinden, ob Verhaltensänderungen im Alltag erzielt werden können. Das kommt nicht nur einer valideren Evaluation zugute, sondern hilft uns auch in der anwendungsorientierten Konfliktforschung. Die zentralen Forschungsfragen lauten: Unter welchen Voraussetzungen werden konfliktspezifisches Wissen und Fähigkeiten in entsprechendes Handeln überführt? Welche Personen- und Umweltmerkmale verhindern bei vorhandenem Wissen die alltägliche Ausführung konfliktkompetenter Verhaltensweisen? Wie können diese verändert werden?

Auch die Herausforderung, die Videoformate außerhalb experimenteller Evaluationsstudien auf Social-Media-Plattformen zu verbreiten, kann und sollte angenommen werden. Der Schlüssel liegt hier in einer gelebten Selbstbescheidung: Wissenschaftler*innen sollten sich eingestehen, dass es Expert*innen insbesondere aus der Kreativwirtschaft braucht (z. B. Videoproduktion, Online-Marketing), um ein attraktives Produkt herzustellen, um Reichweite und damit Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die idealistische Überzeugung, sich für eine gesellschaftlich relevante und nützliche Sache zu engagieren, setzt übliche Marktgesetze allein nicht außer Kraft. Gerade der Wettbewerb um Aufmerksamkeit in hochdynamischen Systemen wie YouTube und anderen sozialen Netzwerken ist ohne professionelle Expertise und die dafür notwendigen Ressourcen nur schwer zu gewinnen.

Mit dem Forschungs- und Transferprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«5 gehen wir diese und weitere Herausforderungen an. Ein interdisziplinär aufgestelltes Forscher*innenteam aus Psychologie, Journalistik und Politikwissenschaft hofft so, zur Verbesserung gesellschaftlicher Konfliktkompetenz beitragen zu können – auch wenn es mehr als fünf Minuten in Anspruch nehmen sollte.

Anmerkungen

1) Grundlage des Ansatzes sind Impulse aus der Sozialkognitiven Lerntheorie, dem Lernen durch Beobachtung (Bandura 1976) und dem Edutainment-Ansatz.

2) Effektstärkemaß Cohen’s d: Hier beschreibt es die Größe bzw. die Bedeutsamkeit von vorliegenden Unterschieden zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe und damit die Bedeutsamkeit des Kompetenzzuwachses. Nach Cohen (1988) gilt dCohen ˜ .20 als kleiner Effekt, dCohen ˜ .50 als mittlerer Effekt und dCohen > .80 als großer Effekt.

3) »Entwicklung und Evaluation eines Reactionvideos im Peer-to-Peer-Transfer«. Diese Studie wurde durch den Small Grant 2020 des Forums Friedenspsychologie e.V. gefördert.

4) Reaktanz meint die Ablehnung vorgegebener Verhaltensweisen, weil diese den Handlungsspielraum der Adressaten einschränken. Menschen verhalten sich reaktant, um Freiheit wiederzuerlangen und nicht, weil sie inhaltlich anderer Meinung sind.

5) »KOKO. Konflikt und Kommunikation« wird durch das dtec.bw®-Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr von 2021-2024 gefördert.

Literatur

Bandura, A. (1976): Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.

Cohen, J. (1988): Statistical power analysis for the behavioral sciences (2nd ed.). Hillsdale, N.J.: L. Erlbaum Associates.

Davidson, E. S.; Smith, W. P. (1982): Imitation, social comparison, and self-reward. In: Child Development 53(4), S. 928-932.

Erpenbeck, J. (2010): Kompetenzen – eine begriffliche Klärung. In: Heyse, V.; Erpenbeck, J.; Ortmann, S. (Hrsg.): Grundstrukturen menschlicher Kompetenzen. Münster: Waxmann, S. 13-20.

Jaudas, M. (2020). Psychologie Weitergeben. Entwicklung und Evaluation eines online-basierten Programms zur Vermittlung mediationsspezifischer Konfliktkompetenz. Dissertation an der Universität der Bundeswehr München. Neubiberg: Universität der Bundeswehr München Fakultät für Humanwissenschaften.

Jaudas, M.; Maes J. (2021): Der soziale Konflikt. Durch psychologische Begriffsarbeit zu einer verbesserten Konfliktbearbeitung. In: Konfliktdynamik 10(1), S. 21-28.

Miller, G. A. (1969): Psychology as a means of promoting human welfare. In: American Psychologist 24(12), S. 1063-1075.

Montada, L.; Kals, E. (2013): Mediation: psychologische Grundlagen und Perspektiven (3. Aufl.). Weinheim: Beltz.

Dr. Mathias Jaudas, Psychologe, leitet das Forschungsprojekt »KOKO. Konflikt und Kommunikation«. Hier beschäftigt er sich mit Eskalationsdynamiken sozialer Konflikte und entwickelt ein mediales Transferkonzept zur Weitergabe konfliktpsychologischer Erkenntnisse an die Bevölkerung.
Dr. Heidi Ittner, Psychologin, ist Mitarbeiterin im Projekt »KOKO«. Ihre Forschungs- und Praxisschwerpunkte liegen im Konfliktmanagement, v.a. der Mediation, und der Gerechtigkeitspsychologie. Daneben ist sie freiberuflich in der Körperarbeit und im Coaching tätig.
Prof. Dr. Jürgen Maes, Psychologe, ist Professor für Sozial- und Konfliktpsychologie an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gerechtigkeitspsychologie und der angewandten Sozialpsychologie. Seit 2021 leitet er gemeinsam mit Mathias Jaudas das Forschungsprojekt »KOKO«.

Frieden lernen

Frieden lernen

Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns

von Marie-Lena Frech

Im Folgenden stellt Marie-Lena Frech einige Grundlagen der psychologischen Verhandlungsführung dar und unterstreicht die Bedeutung dieser Kulturtechnik für das Erlernen und Bewahren von Frieden.

Verhandlungen helfen uns dabei, soziale Konflikte zu lösen. So verhandeln Partner*innen in einer Beziehung beispielsweise über die Aufteilung der Aufgaben im Haushalt, Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen über das Gehalt, Gewerkschaften und Arbeitgeber über Arbeitskonditionen und Nationen über die Aufteilung begrenzter Ressourcen. Die Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten, ist demnach eine Grundvoraussetzung für das menschliche Zusammenleben.

Grundsätzlich lassen sich Verhandlungen beschreiben als Diskussionen zwischen zwei oder mehreren Parteien mit dem Ziel, konkurrierende Interessen zu beseitigen, um zu einer Übereinkunft zu kommen und somit soziale Konflikte zu vermeiden (Pruitt und Carnevale 1993, S. 2). Verhandlungsparteien können hierbei Einzelpersonen sein oder auch Gruppen, Organisationen oder Nationen. Durch den Eintritt in die Verhandlung erhoffen sich die Parteien, dass die Konflikte im Sinne ihrer Interessen bezüglich einzelner Verhandlungsgegenstände gelöst werden können. Verhandlungen können dabei einen oder mehrere Verhandlungsgegenstände umfassen.

So verhandelten beispielsweise die Konfliktparteien im Rahmen des Dayton-Friedensvertrags über die Aufteilung Bosniens und Herzegowinas in eine serbische und eine kroatisch-muslimische Teilrepublik. Bei dieser Aufteilung stand die Begrenztheit des Territoriums und das damit verbundene Verteilungsproblem im Vordergrund. Jede Partei strebte danach, so viel Territorium wie möglich für sich zu beanspruchen. Die Fachliteratur spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Nullsummenspiel, da zusätzlicher Wert für die eine Partei nur durch Kosten der anderen Partei entstehen kann (vgl. Thompson 1990, S. 101).

Häufig sind Verhandlungen jedoch komplexer und beinhalten mehrere Verhandlungsgegenstände gleichzeitig. So wurde im Dayton-Abkommen neben der territorialen Aufteilung etwa auch über den Namen und weitere verfassungsrechtliche Grundlagen des Staates Bosnien und Herzegowina verhandelt. Auch wenn Verhandlungen mit zunehmender Anzahl an Verhandlungsgegenständen komplexer werden, nehmen dadurch gleichzeitig die Möglichkeiten zu, für alle Parteien zufriedenstellende Einigungen herbeizuführen. Durch die Kooperation der Verhandlungsparteien bei der Bearbeitung der Gegenstände kann sich der gemeinsame Nutzen erhöhen und sogenannte »Win-Win«-Lösungen erzielt werden. Die Fachliteratur nennt dies »integrative Verhandlungen« (Kelman 2006, S. 22). Verglichen mit der Aufteilung eines Kuchens, geht es bei integrativen Verhandlungen darum, den Kuchen zu vergrößern und anschließend möglichst gerecht zu verteilen, so dass alle Parteien mehr davon bekommen und zufrieden auseinander gehen.

Den Kuchen vergrößern

Oftmals starten wir in Verhandlungen mit der Annahme, dass die andere Konfliktpartei hinsichtlich der einzelnen Verhandlungsgegenstände die gleichen Präferenzen hat wie wir. Dabei ist es jedoch häufig so, dass die Verhandlungsparteien die einzelnen Verhandlungsgegenstände unterschiedlich stark präferieren (vgl. Thompson 1990, S. 101). Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften beispielsweise über Löhne, Wochenstunden und Betriebsrenten verhandeln, könnte der Fall eintreten, in dem die Gewerkschaften höhere Löhne kürzeren Arbeitszeiten vorziehen, während den Arbeitgebern die Erhöhung der Wochenstunden wichtiger ist als die Ersparnis bei den Löhnen.

Wenn mehrere Verhandlungsgegenstände verhandelt werden und für diese je unterschiedliche Präferenzen bestehen, können Tauschgewinne erzielt werden (vgl. Froman und Cohen 1970, S. 181). Für unser Beispiel bedeutet dies, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften auf eine Arbeitszeiterhöhung und eine Anhebung der Löhne einigen. Durch gegenseitige Zugeständnisse werden die Präferenzen beider Parteien berücksichtigt. So machen die Arbeitgeber Zugeständnisse bei den Löhnen, die für sie niedrigere Priorität haben, aber für die Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Gewerkschaften den Arbeitgebern bei den Arbeitszeiten entgegenkommen, die für die Gewerkschaften eher zweitrangig sind, jedoch hohe Priorität für die Arbeitgeber haben.

Im Kern beruht dieser Ansatz auf dem psychologischen Prinzip der sogenannten Reziprozität – dem Gesetz der Gegenseitigkeit. Wenn uns unser Gegenüber etwas Gutes tut, sind wir bemüht, unser Haben-Konto auszugleichen und eine Gegenleistung zu erbringen (vgl. Brett, Shapiro und Lytle 1988, S. 411). Prinzipiell gilt: je mehr Verhandlungsgegenstände auf dem Tisch liegen, desto eher bestehen Austauschmöglichkeiten.

Damit die vorhandenen Potentiale genutzt werden können, ist es dann aber wichtig, die einzelnen Verhandlungsgegenstände zusammen als Paket und nicht getrennt voneinander zu betrachten (vgl. Weingart, Bennett und Brett 1993, S. 505). Würden Arbeitgeber und Gewerkschaften sich beispielsweise erst bei den Arbeitszeiten einigen und danach über die Löhne verhandeln, würden sie womöglich die Gelegenheit für einen Tauschgewinn versäumen.

Werden neben den individuellen Präferenzen auch noch die zugrundeliegenden Interessen der Parteien berücksichtigt, haben die Beteiligten üblicherweise einen höheren Nutzen als bei einer 50-50 Kompromisslösung (vgl. Bazerman, Mannix und Thompson 1988, S. 205). Zur Veranschaulichung ein bekanntes Beispiel aus der Verhandlungsforschung (vgl. Follet 1940, S. 36): Zwei Schwestern streiten sich um eine Orange. Nach langem Hin und Her einigen sie sich schließlich darauf, die Orange in der Mitte zu halbieren. Während die eine Schwester das Fruchtfleisch ihrer Hälfte verwendet, um einen Saft zu pressen, nimmt die andere Schwester die Schale ihrer Hälfte, um einen Kuchen zu backen. Während also der Kompromiss – die Orange zu teilen – auf den ersten Blick eine gute und faire Einigung darstellt, hätten die Schwestern jeweils einen größeren Gewinn erzielt, hätten sie erkannt, dass ihre Interessen nicht entgegengesetzt, sondern miteinander kompatibel waren. So hätte die eine das ganze Fruchtfleisch und die andere die ganze Schale haben können. Das Beispiel verdeutlicht, wie durch interessenorientiertes Verhandeln ein Nutzen für beide Verhandlungsparteien erzielt werden kann.

Die Frage nach dem „Warum“

Damit Interessenunterschiede genutzt werden können, ist es notwendig diese erst einmal zu erkennen. Der Informationsaustausch zwischen den Parteien ist hierbei eine wesentliche Voraussetzung (vgl. Thompson 1990, S. 111). Hätten die Schwestern sich beispielsweise gegenseitig die Frage gestellt:
„Warum brauchst du die Orange?“, hätten sie relativ schnell feststellen können, dass es bessere Lösungen gibt, als die Orange in der Mitte zu teilen. Im Fokus der Verhandlung sollte daher nicht das Feilschen um Positionen, sondern das Verhandeln über Interessen stehen. Während Positionen einfache Aussagen darüber sind, was eine Person will („Ich will die Orange haben“) beziehen sich die Interessen auf die zugrundeliegenden Gründe hinter der Position („Ich möchte Orangensaft trinken“ und „Ich würde gerne einen Kuchen backen“). Interessen sind also die Treiber, die Aufschluss darüber geben, warum eine Person eine bestimmte Position einnimmt (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 42). Durch eine Position kann ein Interesse befriedigt werden, aber eine Position ist nicht zwangsläufig der einzige oder beste Weg, dies zu tun. Kurz gesagt: Positionen sind verhandelbar, Interessen nicht.

Zu oft fokussieren sich Verhandlungsparteien rein auf Positionen, was zur Folge haben kann, dass die zugrundeliegenden Interessen unbefriedigt oder sogar unerkannt bleiben. So wird das integrative Potential einer Verhandlung häufig gar nicht erst erkannt. Ein gegenseitiges Verständnis dafür, was sich die Gegenseite von der Verhandlung erhofft, ist daher essenziell, um Win-Win Lösungen zu erzielen.

Der beste Weg, die Bedürfnisse der Gegenpartei zu identifizieren, ist, viele offene Fragen zu stellen, die nach dem „Warum?“ fragen (z. B. „Warum ist das für Sie wichtig?“). Fragen wie
„Was haben Sie sich vorgestellt?“ sind im Vergleich dazu eher wenig nützlich, da sie nach den Positionen fragen und nicht nach den dahinterliegenden Interessen. Das Beispiel der Schwestern, die sich um eine Orange streiten, stellt auf ziemlich vereinfachte Weise dar, dass es sich lohnt, nach den Interessen einer Verhandlungspartei zu fragen. Doch auch historische Beispiele zeigen, dass interessenbasiertes Verhandeln der Schlüssel zu einer Einigung sein kann. Während der Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel im Jahr 1979 war zunächst keine der Parteien bereit, die Sinai-Halbinsel, die zwischenzeitlich von Israel besetzt war, aufzugeben. Die Frage nach dem „Warum?“ machte den Verhandlungsparteien deutlich, dass Ägypten die Souveränität über sein eigenes Staatsgebiet wichtig war, während Israel Sorge hatte, dass bei einer erneuten Konfliktsituation ägyptische Panzer nach Israel vordringen könnten. Die Lösung bestand darin, die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurückzugeben und die Zone zu entmilitarisieren. Auf diese Weise fanden beide Verhandlungsparteien nach Jahren des Konflikts kompatible Interessen (Souveränität, Sicherheit) hinter gegensätzlichen Positionen (vgl. Fisher und Ury 1981, S. 43).

Kommunikation und Vertrauen als Grundbausteine

Ein reger Informationsaustausch ist wichtig für die Erarbeitung gemeinsamer Ziele, funktioniert jedoch nur, wenn die richtigen Informationen geteilt werden. Nur wenn alle Verhandlungsparteien ihre wahren Ziele und Interessen offen kommunizieren, lassen sich unterschiedliche Interessen und Präferenzen nutzen. Der Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen Verhandlungsparteien lautet daher: Vertrauen. Ohne einen vertrauensvollen Umgang werden Parteien kaum ihre wahren Interessen offenlegen – aus Angst, dass die Gegenseite dieses Wissen missbrauchen könnte (vgl. De Dreu, Giebels und Van de Vliert 1998, S. 406). Vertrauenswürdigkeit wird dabei über transparenten Informationsaustausch hergestellt. Konfliktparteien, die transparent sind, werden meist damit belohnt, dass es ihnen ihre Verhandlungspartner gleichtun. Menschen neigen dazu, auf die Handlungen anderer mit ähnlichen Handlungen zu reagieren: Wenn andere mit uns kooperieren und mit Respekt behandeln, reagieren wir in gleicher Weise (vgl. Malhotra und Bazerman 2007, S. 90). Konfliktparteien müssen allerdings nicht gleich zu Beginn alle Interessen und Ziele offenbaren. Viel eher geht es um einen gemeinsamen Prozess, in dem beide Parteien Schritt für Schritt gegenseitig Informationen miteinander teilen.

Zuhören und verstehen

Aktives Zuhören, bei dem sich der Zuhörende dem Sprechenden mit einer offenen und empathischen Grundhaltung zuwendet, trägt ebenfalls zum Aufbau von Vertrauen bei. Zuhören ermöglicht es uns, zwischen den Zeilen zu lesen und vermittelt dem Sprechenden Kooperationsbereitschaft. Neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung stellt der Perspektivwechsel eine weitere Verhandlungsstrategie dar, um mehr über die Präferenzen und Interessen einer Verhandlungspartei zu erfahren. Verhandlungsparteien, die eine hohe Fähigkeit aufweisen, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, verstehen dessen zugrundeliegenden Interessen besser und können dies nutzen, um höheren Nutzen für alle Parteien zu erzielen (vgl. Trötschel et al. 2011, S. 774). Bei vielen Verhandlungen handelt es sich nicht um einmalige Austauschbeziehungen, sondern um Zusammenkünfte über einen längeren Zeitraum. Ein Verhandlungsklima, das auf Vertrauen und offener Kommunikation beruht, ist besonders wichtig für die langfristige, soziale Beziehung der Verhandlungsparteien. Auch wenn es vielleicht in manchen Situationen kurzfristig vielversprechender erscheinen mag, nicht zu kooperieren und einen schnellen Gewinn einzufahren, wird langfristig genau das Gegenteil erreicht und die Beziehung zum Verhandlungsgegenüber gefährdet.

Die Aufteilung des Kuchens

Erfolgreiches Verhandeln besteht jedoch nicht nur darin, sprichwörtlich gemeinsam einen möglichst großen Kuchen zu backen, sondern sich hinterher auch ein möglichst großes Stück davon zu sichern. Verhandlungen sind demnach immer ein Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb. Neben der Wertschöpfung gehört auch die Wertverteilung dazu. Der Gedanke des integrativen Verhandelns besteht darin, dass die Parteien in diesem Stadium der Verhandlung bereits eine kooperative Arbeitsbeziehung aufgebaut haben, die ihnen das Verteilen des Kuchens erleichtert. Eine »Win-Win«-Lösung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass beide Parteien einen Nutzen erzielen und niemand als Verlierer*in aus der Verhandlung hervorgeht. Die Größe des Gewinns jeder Partei variiert jedoch, abhängig davon, wie der Kuchen aufgeteilt wird, nachdem er vergrößert wurde. Je mehr Optionen bzw. Stücke allerdings auf dem Tisch liegen, desto einfacher werden sich die Parteien einigen.

Frieden verhandeln?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass viele soziale Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden können. Sofern die Verhandlung integratives Potential besitzt, kann durch einen kooperativen Verhandlungsstil, bei dem die Parteien gemeinsam an der Realisierung ihrer Ziele arbeiten, der Wert für alle Parteien erhöht werden. Ein gegenseitiges Verständnis für die Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen des jeweils Anderen ist dabei entscheidend, um den Verhandlungsspielraum zu erweitern und Tauschgewinne zu erzielen. Eine offene Kommunikation, die auf gegenseitigem Vertrauen und Transparenz beruht, fördert außerdem den Informationsaustauch und den Aufbau von langfristigen Beziehungen. Der Leitsatz für integrative Verhandlungen lautet demnach: Teamarbeit statt Wettbewerb.

Literatur

Bazerman, M. H.; Mannix, E. A.; Thompson, L. L. (1988): Groups as mixed-motive negotiations. In: Lawler, E.J., Markovsky, B. (Hrsg.): Advances in Group Processes Vol. 5. Greenwich: JAI Press, S. 195-216.

Brett, J. M.; Shapiro, D. L.; Lytle, A. L. (1998): Breaking the bonds of reciprocity in negotiations. In: Academy of Management Journal 41(4), S. 410-424.

De Dreu, C. K.; Giebels, E.; Van de Vliert, E. (1998): Social motives and trust in integrative negotiation: The disruptive effects of punitive capability. In: Journal of Applied Psychology 83(3), S. 408-422.

Fisher, R.; Ury, W. (1981): Getting to yes: Negotiating agreement without giving in. New York, NY: Penguin Books.

Follet, M. P. (1940): Constructive conflict. In: Metcalf, H.C.; Urwick, L. (Hrsg:): Dynamic administration: The collected papers of Mary Parker Follet. New York: Harper and Row, S. 30-49.

Froman Jr, L. A.; Cohen, M. D. (1970): Compromise and logroll: Comparing the efficiency of two bargaining processes. In: Behavioral Science15(2), S. 180-183.

Kelman, H. C. (2006): Interests, relationships, identities: Three central issues for individuals and groups in negotiating their social environment. In: Annu. Rev. Psychol. 57, S. 1-26.

Malhotra, D.; Bazerman, M. (2007): Negotiation genius: How to overcome obstacles and achieve brilliant results at the bargaining table and beyond. Bantam.

Pruitt, D. G.; Carnevale, P. J. (1993): Negotiation in social conflict. Pacific Grove: Thomson Brooks/Cole Publishing Co.

Thompson, L. (1990): Negotiation behavior and outcomes: Empirical evidence and theoretical issues. In: Psychological Bulletin 108(3), S. 515-532.

Trötschel, R. et al. (2011): Perspective taking as a means to overcome motivational barriers in negotiations: When putting oneself into the opponent’s shoes helps to walk toward agreements. In: Journal of Personality and Social Psychology 101, S. 771-790.

Weingart, L. R.; Bennett, R. J.; Brett, J. M. (1993): The impact of consideration of issues and motivational orientation on group negotiation process and outcome. In: Journal of Applied Psychology 78(3), S. 504-517.

Marie-Lena Frech ist wiss. Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Digitale Transformation an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie forscht zu menschlichem Erleben und Verhalten in Urteils- und Entscheidungssituationen.

Die Seele heilen

Die Seele heilen

Die Kraft des Theaters

von Georg Genoux

Können Theater und Film als kreatives Mittel zur Konfliktbearbeitung und Friedensschaffung genutzt werden? Welche Herausforderungen ergeben sich durch die Arbeit in Krisenregionen? Und was können Schüler*innen aus unterschiedlichen Lebenswelten und Kontexten durch friedensorientierte Theaterarbeit voneinander lernen? Der Theater- und Filmregisseur Georg Genoux ermöglicht im Folgenden einen persönlichen Einblick in die Praxis friedensbildender Theaterarbeit. Er zeigt Potentiale auf, die aus künstlerischen Prozessen entstehen können, diskutiert aber auch die Grenzen von Kunst in repressiven gesellschaftspolitischen Kontexten.

Als »gewöhnlicher« Theaterregisseur lernte ich mein Handwerk: das Publikum zu unterhalten, dabei ordentlich aufzumischen, gezielt zu schockieren und mit Tabubrüchen zu provozieren. Nach acht erfolgreichen Theaterjahren in Moskau empfand ich eine tiefe Leere angesichts dieser Tätigkeit. Ich fragte mich: Wie kann die große gedankliche und emotionale Kraft des Theaters genutzt werden, um Menschen und Orte, die sich in großen Krisen befinden, zu heilen und mit ihnen Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln?

Ausgehend von einer Grundüberzeugung, dass die positive Kraft einer stark entwickelten Seele und Persönlichkeit viel schöner als jedes noch so perfekte Bühnenbild ist, wollte ich etwas Neues versuchen.

Die Zeit kurz nach der Jahrtausendwende war eine politisch und gesellschaftlich sehr schmerzhafte Zeit in Russland. 2006 inszenierte ich daher am Teatr.doc in Moskau mit zwei russischen Psycholog*innen das interaktive Theaterprojekt »Demokratia.doc«. In diesem erarbeiteten wir gemeinsam mit den Zuschauer*innen, welche Auswirkungen die vergangenen fünfzehn Jahre Demokratie in Russland auf die Menschen gehabt hatten. Die Arbeit war ein großer Publikumserfolg in Moskau und in vielen anderen Städten. Wohl auch, weil die russische Staatsmacht ab 2006 immer deutlicher anfing, die Errungenschaften der Demokratie wieder zu zerstören: Medien wurden immer mehr kontrolliert und wir trafen auf ein immenses Bedürfnis vieler Russ*innen, sich auszusprechen oder zumindest nicht mit ihren Gefühlen der Angst und Ohnmacht allein zu sein.

In dieser Inszenierung standen die Bürger*innen selbst auf der Bühne und hatten dort die Möglichkeit, ihre Welt selbst zu gestalten beziehungsweise Kraft dafür zu sammeln, dies in der »realen« Welt umzusetzen. Acht Jahre »spielten« wir das interaktive Projekt und die Erfahrungen und Begegnungen aus dieser Zeit inspirierten mich für meine zukünftigen Aktivitäten.

Theaterarbeit in Konfliktgebieten

Aufbauend auf den Erfahrungen in Russland entwickelte ich die Idee eines heilenden Theaters weiter, derzeit in ehemaligen und teilweise aktuellen Kriegs- und Konfliktgebieten in der Ukraine. Diese Arbeit begann direkt nach der Maidan Revolution 2014, gemeinsam mit den ukrainischen Dramatiker*innen Natalia Vorozhbyt und Den Gumenii. Damals suchten wir nach anderen Wegen für unsere Form des Theaters als die einer geplanten Theatergründung. Natalia und ich arbeiteten als Volontäre für die Organisation »Neuer Donbass« in einer Schule in der Kleinstadt Nikolajewka im Osten der Ukraine. Die Organisation versuchte, diese Schule wieder aufzubauen. Hauptaugenmerk unserer Arbeit dort war die Frage, wie Theater im schrecklichen Kriegsalltag Menschen vor Ort helfen kann, mit eben dieser Situation fertig zu werden.

Zusammen mit dem Kriegspsychologen Alexei Karachinskii gründeten wir in der Folge das »Theatre of Displaced People«, das in Kiew seither als Zentrum für Binnenflüchtlinge fungiert. Wir versuchten durch Methoden des Theaters mit Betroffenen ihre teilweise traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, mit ihnen neue soziale Kontakte im fremden Kiew zu finden und neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Zudem verwirklichten wir über dreißig künstlerische Projekte mit Schüler*innen, Bürger*innen und Soldat*innen.

Wir reisten dazu mit dem Theater durch Städte im Osten der Ukraine und im Anschluss daran mit diesen Projekten aus dem Osten in den Westen der Ukraine. Dabei zeigte sich, wie fremd sich Menschen aus dem Westen und Osten sind. Für die Verarbeitung des Erlebten und Erfahrenen hilft die ganz eigene Theatersprache, die dabei entwickelt wurde. Sie ist zum Beispiel in der Theaterinszenierung »Mein Nikolajewka« mit Schüler*innen sehr deutlich erkennbar: Persönliche Gegenstände von Protagonist*innen wurden darin zu »Medien«, durch die die Schüler*innen ihre Geschichten des Erwachsenwerdens im Krieg erzählten. Die Gegenstände stützten die jungen Menschen und wirkten wie die Hand eines Freundes in ihren Händen. Den Bühnenraum gestalteten wir gemeinsam mit den Jugendlichen zu ihrem persönlichen Schutzraum, in dem sie sich mit ihren Erfahrungen und Geschichten sicher und die Unterstützung der anderen fühlten. Ziel unserer Arbeit war, dass sich die Schüler*innen durch das Mitteilen nicht mehr als Opfer, sondern als »Held*innen ihrer Geschichten« empfinden.

Konflikttheater zwischen Begegnung und Vereinnahmung

Theater und Friedensarbeit ist jedoch nie frei von äußeren, gesellschaftlichen Einflüssen, sondern spiegelt und reflektiert vorhandene Spannungsfelder vielmehr – insbesondere in Krisen- und Konfliktgebieten. Diese Spannung zeigte sich in unserem Projekt »Kinder und Krieger*innen «. Hier sollte durch das Theaterspielen ein Erstkontakt zwischen Schüler*innen und dort stationierten Soldat*innen ermöglicht werden. Die Kinder waren traumatisiert und hatten Angst vor den bewaffneten Menschen. Diese wiederum spürten oft den Hass der Bevölkerung, die sie eigentlich verteidigen sollten.

Diese Begegnungen im Theater führten zum einen zu einem tiefen Dialog und zu einer neuen Ebene zwischen Schüler*innen und Soldat*innen, was Angst auf beiden Seiten abzubauen half. Sie lernten sich als Menschen kennen und es entstanden dadurch sogar ungewöhnliche Freundschaften zwischen einzelnen Schüler*innen und Soldat*innen, die bis heute andauern.

Nie werde ich beispielsweise den Telefonanruf eines Kommandanten vergessen, der an unserer Inszenierung teilnahm. Am Tag nach der Premiere rief er Natalja Vorozhbyt an und sagte:
„Heute Morgen haben uns die Schüler*innen hier besucht. Man kann von hier sogar ihre Häuser sehen. Wenn mein Nachfolger hier ankommt und ich ihm das Kommando übergebe, werde ich ihm sagen: Siehst du diese Fenster dort? Dort wohnt Oleg und dort wohnt Marina. Das sind unsere Freunde. Bitte beschütze sie.” Zuvor hatte er nie mit einem Menschen aus diesem Ort persönlich gesprochen.

Zum anderen gab es aber leider auch Versuche, dieses Projekt für Propagandazwecke oder persönliche Karriereziele zu missbrauchen. So sollte es in Kiew als Gastspiel in Form eines patriotischen Ereignisses gezeigt werden. Ich bin mir sicher, dass diese Form der Theaterarbeit nur Sinn mit den Menschen vor Ort ergab und es graute mir davor, das Leid dieser Menschen in Kiew auszustellen und damit unsere ganze Arbeit vor Ort wieder kaputt zu machen. Ich konnte dieses Gastspiel zwar verhindern, aber es führte schließlich zum Bruch zwischen mir und meinen Kolleg*innen und ich übergab die Leitung einem Team jüngerer ukrainischer Kolleg*innen.

An einem zweiten Standort des Theatre of Displaced People in Kiew, an dem ein Zentrum für alle eröffnet worden war, die sich vom Krieg betroffen fühlten und sich durch Theater aussprechen oder neue soziale Kontakte knüpfen wollten, wurde weiteres Spannungsgefüge sichtbar. Denn auch dort gelang es nicht, trotz all der Umstände und der persönlichen Not der Betroffenen, einen selbstkritischen Blick auf das staatliche Handeln der Ukraine oder die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation zu werfen.

Die Erfahrungen an beiden Standorten zeigten in der täglichen Praxis vor Ort die Grenzen auf, die Theater als Friedens- und Konfliktarbeit in Kriegs- und Krisengebieten haben kann: War die Bereitschaft aller Beteiligten immens, den Menschen in ihrer Not mit Mitge­fühl zu begegnen, war die kritische Auseinandersetzung über die Ursachen dieser Not ein Tabu, solange sie nicht die Welt in klare Feindbilder – Russland/Ukraine – unterteilte. Obwohl ich dies menschlich nachvollziehen kann, legt es der friedensfördernden Theaterarbeit enge Grenzen auf, es durchbricht schöpferisches Arbeiten und eine beginnende Transformation des Konflikts. Ich denke, nur wo auch kritisches und besonders selbstkritisches Denken und Handeln stattfindet, kann Heilung beginnen.

Theaterarbeit mit Schüler*innen

Dem sei ein anderes Projekt gegenübergestellt. Anders als das Theatre of Displaced People stellten die Künstler*innen des »PostPlay Theaters« aus Kiew schon seit Beginn ihrer Gründung 2015 in ihren Inszenierungen und Performances auch sehr unbequeme Fragen zu dem, was politisch und gesellschaftlich in der Ukraine geschieht. Dies bedeutete nicht, die militärische Intervention Russlands in der Ukraine zu verharmlosen. Aber die Künstler*innen waren von der Notwendigkeit überzeugt, die Position der Anderen zu hören. Theater ist dafür ein idealer Ort, gerade zu Zeiten, in denen dies im »wirklichen Leben« so nicht möglich scheint.

Als Regisseur verbindet mich mit dem PostPlay Theater das Projekt »Misto to go«. Seit 2019 bin ich zusammen mit dem Team in sechs verschiedenen Städten in den Kriegsgebieten im Osten der Ukraine unterwegs, um mit Schüler*innen zu arbeiten.1 Mit den Schulen und ihren Lehrpersonen führen wir zudem internationale Schulaustauschprogramme mit europäischen Schulen durch. Ein Projekt darunter ist eine »Misto to go School«, in der die Schüler*innen selbst kulturelle Projekte für Dialog und Friedensstiftung in ihren Regionen aufbauen. Zudem werden gemeinsame Projekte mit Schüler*innen in Deutschland entwickelt, die sich etwa den Themen »Soziale Medien« und »Überlebende des Holocaust« widmen.

Das Ergebnis einer Improvisation bei einem solchen Austausch war beispielsweise, dass aus persönlichen Geschichten ein Dokumentartheaterprojekt entwickelt wurde, das die Entstehung von Hass und Gewalt thematisierte. Während die ukrainischen Schüler*innen mit den Kriegshandlungen im Osten der Ukraine konfrontiert sind, erleben etwa die deutschen und österreichischen Schüler*innen die Auseinandersetzung zum Umgang mit Geflüchteten. Durch die Verarbeitung beider Lebenswelten in einem Theaterstück wurden friedenspädagogische Lernprozesse für beide Schüler*innengruppen angestoßen.

Diese neuen Kontakte und das Kennenlernen von jungen Menschen mit ganz anderen Erfahrungen und Lebenswelten wirkt auf die ukrainischen, aber auch die deutschen und österreichischen Schüler*innen als immenser Impuls – das eigene Leben zu durchdenken und neue Ideen zu entwickeln, „was ich mit meinem Leben anfangen kann“. Gleichzeitig – und hierüber soll Theater ja auch nicht hinwegtäuschen – bleibt der Schmerz aufgrund des im Krieg Erlebten.

Unvergessen bleibt für mich dabei auch eine Erfahrung während unseres Filmprojektes »Tell me your Story« in Potsdam.2 Die deutschen und ukrainischen Schüler*innen sollten sich kennenlernen, indem sie übereinander und miteinander kleine Videos auf ihren Handys drehten. Bei dieser Begegnung entstand plötzlich ein Dialog und gemeinsamer Film einer ukrainischen und einer russischen Schülerin (die seit vier Jahren in Potsdam lebte). Es war für beide das erste Mal seit Beginn des Kriegs, mit jemanden »von der anderen Seite« ins Gespräch zu kommen. Es war für uns alle ein sehr emotionaler Moment, als ein eigenständiger Prozess zwischen den beiden begann: Die Schülerinnen verzichteten auf Schuldzuweisungen und konzentrierten sich ganz auf das Nachvollziehen der Position der anderen bzw. ihren Gefühlen. Von außen wurde der Prozess nur insoweit unterstützt, für die Schüler*innen dabei eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie sich frei und sicher fühlen.

Die Kraft des Theaters

Für Schüler*innen in Krisengebieten kann die Begegnung mit Künstler*innen wie bei »Misto to go«, die sich ihren Lebenserfahrungen widmen, für ihr weiteres Leben prägend sein. Allein die Tatsache, dass sie im Alltag im Osten der Ukraine nicht vergessen und sie mit ihren Sorgen nicht allein gelassen werden, wirkt heilend. Aber mehr noch: Man kann als begleitender Künstler Zeuge werden, wie in diesen Schüler*innen durch die Auseinandersetzung mit der Kunst neue Welten geboren und erobert werden. Noch nie habe ich so eine Kreativität und Witz erlebt, wie bei den ost­ukrainischen Schüler*innen.

Einige unserer ehemaligen Schüler*innen und Projektteilnehmenden reisen mittlerweile als Tutor*innen mit uns in unseren Projekten in den Osten der Ukraine und unterstützen andere aufgrund ihres großen Erfahrungsschatzes. Dieses sich Mitteilen und Weitergeben von Erfahrungen unterstützt die von Theater- und Filmarbeit hervorgebrachten Friedensprozesse.

Theater kann zu einem idealen Ort werden, um in Krisengebieten neue soziale Kontakte zu knüpfen, Traumata zu bearbeiten und auch neue Perspektiven zu erarbeiten. Dabei wirkt es auf Ebene des Individuums ebenso wie im Dialog und Begegnung mit anderen und hat das Potential, sich nicht zuletzt durch die Einbeziehung des Publikums auch in gesellschaftliche Prozesse fortzusetzen. Gerade in Konflikten, die sich politisch vielleicht nicht so schnell verändern werden, ist das Aufbrechen des Schweigens durch die Mittel des Theaters wichtig, um nicht weitere Konflikte entstehen zu lassen. Dabei ist es zentral, politischer Vereinnahmung vorzubeugen, oder diese zu verhindern – eine Leistung, die das Theater allein an sich nicht schaffen kann.

Die öffentlichen Veranstaltungen eines Theaters sind wichtig, um die örtliche Bevölkerung mit in die Konflikttransformation auf der Bühne einzubeziehen. Das Publikum nimmt an dem Prozess nicht weniger teil als die Darsteller*innen. Erinnern und Anteilnahme kann ein genauso intensiver Prozess sein, wie mit der eigenen Geschichte auf der Bühne zu stehen. Eine soziale Handlung ist eine ästhetische Handlung. Sie verändert die Wahrnehmung für alle Beteiligten. Diese Veränderung kann grausam, schön, emotional und ein Moment eines »Durchbruchs« sein. Theater ist dabei das Instrument, das diesen Prozess der eigentlichen Kunst, also die Veränderung der Wahrnehmung der Menschen, fördern und provozieren kann. Die eigentliche Kunst ist das, was mit dem Menschen geschieht, also etwas sehr Reales.

Anmerkungen

1) Das Theaterprojekt wird im Programm »Östliche Partnerschaften« vom Auswärtigen Amt der BRD unterstützt. Auf der Homepage des Projektes schreiben teilnehmende Schüler*innen über ihre Eindrücke: mistotogo.com

2) Das Filmprojekt wurde von der Stiftung EVZ gefördert.

Der Hamburger Regisseur Georg Genoux arbeitet seit über zwanzig Jahren mit Schüler*innen, Soldat*innen und Ortseinwohner*innen in osteuropäischen Krisengebieten in Theater-, Film- und Dialogprojekten. Er ist Leiter der »Agency for Safe Space« und entwickelte über achtzig Theaterprojekte, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

Schulen als Lernort für Frieden

Schulen als Lernort für Frieden

Grundlagen, Zielsetzungen und Praxiserfahrungen

von Janna Articus, Larissa Berner, Anne Kruck und Claudia Möller

In diesem Artikel werden Praxis­erfahrungen aus der Arbeit der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg vorgestellt und reflektiert, u.a. aus ihrem Pilotprojekt »Modellschulen Friedensbildung«. Im Kern geht es um die Stärkung von Friedenskompetenz, Friedensfähigkeit und Friedenshandeln sowie um die Förderung einer Kultur des Friedens am Lernort Schule.

Als sie gefragt wurde, was Friedensbildung für sie sei, antwortete eine Schülerin der Walther-Groz-Schule in Albstadt, Baden-Württemberg – einer Modellschule für Friedensbildung:
„Friedensbildung bedeutet, dass man übers ganze Leben lernt – man lernt nicht eine Definition von Frieden, weil das für jeden speziell und individuell ist. Aber man lernt, was gehört zum Frieden dazu, wie kann man das in der Schule machen und wie kann man für Frieden kämpfen – allein jetzt ich, wenn ich zu Hause bin und nicht im Krieg.“

Friedensbildung muss als ein umfassendes Bildungskonzept verstanden werden, das sowohl direkte Bildungsmaßnahmen als auch strukturelle Veränderungsprozesse in Bildungsinstitutionen und -systemen bezeichnet. Die Kernfragen jeder Friedensbildung müssen daher lauten:

  • Wie können Menschen, soziale Gruppen und Systeme Frieden lernen?
  • Wie können sie Wissen, Fähigkeiten und Rahmenbedingungen entwickeln, die einen gewaltfreien und konstruktiven Konfliktaustrag ermöglichen und fördern? (vgl. Frieters-Reermann 2017, S. 94).

Friedensbildung orientiert sich in unserem Verständnis an einem prozessualen und positiven Friedensbegriff, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch den Abbau verschiedener Gewaltformen und die Zunahme von Gerechtigkeit umfasst. Somit können Beiträge zum Frieden von allen Menschen in der Gesellschaft geleistet werden. Friedensbildung betont zudem den selbstgesteuerten, dialogorientierten und partizipativen Charakter des Lernens und Lehrens. Sie lässt sich als Teil der politischen Bildung verstehen und wird derzeit im deutschsprachigen Raum vor allem mit Blick auf den Lernort Schule diskutiert und praktiziert.

Formate und Ziele der Friedensbildung

Direkte Bildungsmaßnahmen umfassen etwa die Bearbeitung friedensrelevanter Themen im Fachunterricht, Workshops für Schulklassen, Projekttage an Schulen oder Streitschlichtungsprogramme. Mit strukturbezogenen Maßnahmen hingegen sind die Entwicklung und Implementierung von Curricula sowie der Aufbau von Infrastrukturen und Netzwerken für Friedensbildung gemeint (vgl. Jäger 2014). Friedensbildung ist demnach nicht nur ein Thema im Unterricht (Bildung über Frieden) und nicht nur die Förderung individueller Fähigkeiten (Bildung für Frieden). Auch die Rahmenbedingungen und Strukturen müssen friedlich und gewaltsensibel gestaltet werden (Bildung durch Frieden), damit sich eine Kultur des Friedens entfalten kann (vgl. Frieters-Reermann 2015, S. 209).

Friedensbildung orientiert sich an anspruchsvollen Zielsetzungen, die auf mehreren Ebenen angesiedelt sind: Auf globaler Ebene sind die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen handlungsleitend. Insbesondere das Ziel 4 »Hochwertige Bildung« und das Ziel 16 »Frieden und Gerechtigkeit« sind wichtige Referenzen. Da in Deutschland Bildungspolitik Ländersache ist, gilt es bei Friedensbildung in der Schule die jeweiligen Schulgesetze und Landesverfassungen zu berücksichtigen. So ist beispielsweise in der baden-württembergischen Landesverfassung in Art. 12 das Ziel der »Erziehung zur Friedensliebe« verankert. In Bildungsplänen werden darüber hinaus Kompetenzansprüche formuliert, die für Lehrkräfte Grundlage für die Entwicklung individueller Lernziele sind. Auf dieser Ebene zielt die Friedensbildung auf die Förderung von Friedenskompetenz (Sachwissen), Friedensfähigkeit (Konflikt- und Dialogkompetenz) und auf die Befähigung zum Friedenshandeln (vgl. Jäger 2018, S. 327). Friedensbildung will einen Beitrag leisten zur Ächtung von Krieg, zur Reduzierung von Gewalt in allen Ausprägungen, zur konstruktiven Konfliktbearbeitung und zur Entwicklung von Visionen eines friedlichen Zusammenlebens.

Bei diesen anspruchsvollen Zielsetzungen stellen sich stets Fragen nach den Zielgruppen und der Umsetzbarkeit direkter und strukturbezogener Friedensbildung in der Praxis. Im Folgenden werden einige Praxiserfahrungen und sich daraus ergebene Fragen und Aufgaben an die Friedensbildung dargestellt. Diese Erfahrungen wurden in der 2015 gegründeten Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg gesammelt.

Frieden lernen – aber wie?

Aktuelle Kriege, der Klimawandel, aber auch Gewalt und unfriedliche Strukturen im eigenen Umfeld, wie Armut, Geschlechterungleichheit, fehlende Partizipationschancen für jüngere Generationen und Rassismus, beschäftigen Kinder und Jugendliche nach Aussage aktueller Studien (Calmbach et al. 2020, S. 405ff.). Die befragten Jugendlichen betonen darüber hinaus den Wunsch nach sozialer Geborgenheit, Halt und Orientierung (ebd., S. 31). Friedensbildung kann diesen Gefühlen wie Ängsten und Hoffnungen begegnen, indem sie Wege für den individuellen und kollektiven Einsatz für Frieden aufzeigt. In der Praxis der Servicestelle heißt das: Hier bearbeiten Schüler*innen in Workshops mithilfe friedenspädagogischer Methoden die großen Themen des menschlichen Miteinanders: Leben wir in einer friedlichen Welt? Was heißt eigentlich Frieden? Warum gibt es Krieg? Wie können Konflikte bearbeitet werden?

Dabei werden die Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen einbezogen. Denn: Frieden ist nicht nur ein abstrak­tes, theoretisches Konzept, sondern ein konkreter Leitwert für das menschliche Miteinander – in der Schule, in der Familie, national und international und speist sich daher direkt aus eigenem Erfahrungswissen der Kinder und Jugendlichen.

Zentral ist also das biographische Lernen und das Lernen von Beispielen: Wie setzen sich andere Menschen in ihrem Umfeld für Frieden ein? Ein konkretes Beispiel dafür ist der Workshop »Peace Counts – Frieden zählt« (vgl. Servicestelle Friedensbildung o.J.). Hier werden Friedensmacher*innen und ihr Engagement vorgestellt: Zum Beispiel Mateo und seine Hip-Hop Gruppe Esk-Lones in Kolumbien, die Jugendlichen Alternativen zur Gewalt der Drogengruppen bietet.

In der Gesamtschau sind die Schüler*innen oft erstaunt und ermutigt von der (ihnen unbekannten) vielfältigen Arbeit der Friedensmacher*innen und den Erkenntnissen, dass gewaltfreies Handeln wirksam ist und dass Frieden nicht nur von Politiker*innen gemacht wird. Die Beispiele bestärken sie zum eigenen Handeln vor Ort. „Wenn die in Ruanda das schaffen, dann ist alles möglich – so die Aussage eines Schülers, nachdem er die begleitende Reportage von Peace Counts über Versöhnung nach dem Völkermord gelesen hatte.

Neben direkten Workshopangeboten müssen Inhalte der Friedensbildung in der heutigen Zeit auch dezentral und online als Lernressource zur Verfügung stehen. Denn angesichts zahlreicher bedrückender Nachrichten über gesellschaftliche Krisen suchen auch jüngere Kinder verstärkt im Internet nach Antworten auf große Fragen: „Wird es zu einem dritten Weltkrieg kommen?“, „Wann wird Corona endlich vorbei sein?“, oder „Wie kann ich Streit verhindern?“ Auf der Online Plattform »Frieden-Fragen« bekommen die Fragenden individuelle und passgenaue Antworten von Mitarbeiter*innen der Berghof Foundation und finden altersgerecht aufbereitete Informationen zu Krieg und Gewalt, aktuellen Konflikten und Friedensansätzen.

Frieden lehren – aber wie?

Bei der Entwicklung von Angeboten für Lehrkräfte und Referendar*innen ist es in der Erfahrung der letzten sechs Jahre Arbeit der Servicestelle wichtig, konkrete Anknüpfungspunkte für Friedensbildung im Bildungsplan in Baden-Württemberg aufzuzeigen. Obwohl sich vereinzelt Schlagworte wie »Friedensbildung« und »Frieden« in den Bildungsplänen finden, gibt es weder ein Fach, noch ein Schul- oder Handbuch zur Friedensbildung für Lehrkräfte und Referendar*innen. Berner und Fleischer (2018) haben mit ihrer Analyse der Bildungspläne gezeigt: Wenig explizite Verankerung der Friedensbildung, aber viel Potenzial für friedensrelevante Fragestellungen und friedenspädagogische Zugänge im Unterricht. In den Lernmedien der Servicestelle werden daher immer konkrete und fachspezifische Bezüge zum Bildungsplan hergestellt. So lässt sich das Bilderset »Menschen im Krieg – Menschen gegen Krieg, 40 Fotos für den Frieden« oder das Begleitheft zur Ausstellung »Frieden machen – gelungene Beispiele aus aller Welt« beispielsweise in Ethik, Deutsch, Gemeinschaftskunde oder Geschichte in verschiedenen Jahrgangstufen einsetzen.

Fortbildungen und Vernetzung für Lehrkräfte sind ein weiterer Baustein der Arbeit. Der Bedarf an Kooperation und Austausch im Schulalltag mit Kolleg*innen zu Friedensbildung ist groß. Zur Ausbildung einer Friedenshaltung braucht es gezielte fachliche Unterstützung und kollegiale Beratung (Berner 2020, S. 84). Daher bietet die Servicestelle Friedensbildung Fortbildungen an, bei denen ganzheitliches, beziehungs- und bedürfnisorientiertes Lernen sowie die Selbstreflexion der Lehrkräfte im Mittelpunkt stehen (vgl. Berner 2020, S. 77ff). Sie bieten einen geschützten Raum zum fachlichen und persönlichen Austausch über friedensrelevante Fragen am Lernort Schule – denn positive Feed­backkultur und gemeinsame Reflexion gehören zur Friedensbildung. So betonen teilnehmende Lehrkräfte, wie
gut es tut, andere zu treffen, denen das Thema ebenso am Herzen liegt“ und mit „ganz neuen Impulsen für den Unterricht und das Miteinander im Schulalltag“ nach Hause zu gehen. Mit dem neu entwickelten praxis­orientierten E-Learning-Kurs zu den Grundlagen der Friedensbildung bietet die Servicestelle nun auch eine dezentrale, asynchrone und digitale Fortbildungsmöglichkeit für Lehrkräfte.

Frieden verankern – aber wie?

Friedensbildung am Lernort Schule systematisch zu stärken bedeutet, nachhaltig auf Strukturen einzuwirken, um die Bedingungen für das Lehren, Lernen und Erfahren von »Frieden« zu verbessern. Dazu gehören Maßnahmen einer vertieften und reflektierten Partizipation aller am Schulleben Beteiligter ebenso wie die Gestaltung der Lernumgebung und einer friedenspädagogischen Betrachtung der Schularchitektur. Friedensbildung und eine Kultur des Friedens werden durch Vernetzung und Austausch gefördert. Genau hier setzt das Pilotprojekt »Modellschulen Friedensbildung« an. Von Ende 2019 bis Ende 2021 arbeitet die Servicestelle orientiert an den Grundlagen der Friedensbildung (siehe Grafik) sehr individuell mit fünf Schulen (zwei Gymnasien, zwei Gemeinschaftsschulen und einem Berufsschulzentrum) zusammen.

Wenn es gelingt, die Selbstwirksamkeit vieler am Schulleben Beteiligter in ihrem Beitrag zu einer Kultur des Friedens an ihrem Lern- und Lehrort zu stärken, dann ist ein wesentliches Ziel von Friedensbildung und des Pilotprojekts erreicht. Schon jetzt zeichnen sich erste Erkenntnisse ab:

  • Die systematische, ganzheitliche Stärkung von Friedensbildung im Schulsystem ist herausfordernd und erfordert von Anfang an die konfliktsensible Einbeziehung möglichst aller am Schulleben Beteiligter, von Schulleitung über Lehrkräftekollegium, Schulsozialarbeit, Schüler*innen bis hin zu den Eltern. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen Formen direkter, struktureller und kultureller Gewalt am Lernort Schule im Sinne des angestrebten Prinzips der Gewaltfreiheit.
  • Es muss eine Übereinkunft geben, prinzipiell an einer Kultur des Friedens mitwirken zu wollen. Hierfür bieten sich bestehende Gremien wie die Gesamtlehrerkonferenz, die Schulkonferenz und auch die Schülermitverantwortung an. Es erscheint sinnvoll, auch explizite Gremien und Teams für Friedensbildung an der Schule ins Leben zu rufen.
  • Außerdem ist die Entwicklung eines »Spiralcurriculums« für Friedensbildung erstrebenswert. Dies bedeutet, Inhalte der Friedensbildung sollten von der ersten bis zur letzten Klasse in Form einer Spirale, also wiederkehrend, aufeinander aufbauend und dem Lernniveau angepasst im Fachunterricht und darüber hinaus unterrichtet werden.
  • Die Vernetzung der Modellschulen spielt eine große Rolle und hat sich als wichtiger Gelingensfaktor herausgestellt. Bewusst wurden jeweils möglichst zwei Schulen derselben Schulart ausgewählt, um den Austausch untereinander zu erleichtern, da sie ähnliche Fragen und Herausforderungen umtreiben.
  • Pilotprojekte benötigen zur Verstetigung nicht zuletzt die Anerkennung durch Akteur*innen auch im erweiterten Schulsystem und in der Bildungspolitik.

Ausblick und offene Fragen

Die Einrichtung der Servicestelle Friedensbildung in Baden-Württemberg ist ein erster, wichtiger Schritt, um Friedensbildung in einem Bundesland ganzheitlich zu denken und umzusetzen. Aus den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Praxiserfahrungen ergeben sich laufend neue Fragen und Aufgaben. Es sollen hier nur einige wenige genannt werden:

1. Frieden lernen: Wie kann Friedensbildung ihrem ganzheitlichen Lernverständnis auch im digitalen Raum gerecht werden? Wie lässt sich bereits vorhandenes (Friedens-)Engagement von Schüler*innen nachhaltig unterstützen? Wie können aktuelle Herausforderungen von Klimawandel bis Alltagsrassismus aus der Sicht der Friedensbildung bearbeitet werden? Es ist ermutigend, dass sich Schüler*innen auch in den aufgrund der Corona-Pandemie online abgehaltenen Workshops auf Inhalte der Friedensbildung eingelassen haben. Ob dies zu nachhaltigen Effekten führen kann, ist offen.

2. Frieden lehren: Wie lassen sich die Bedarfe von Lehrkräften erheben und damit besser erfüllen? Wie können fächerspezifische Angebote v.a. im Bereich der naturwissenschaftlichen Fächer aussehen?

3. Frieden verankern: Wie kann eine gewalt- und konfliktsensible strukturelle Stärkung von Friedensbildung am Lernort Schule vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller, zeitlicher und personeller Ressourcen aller Beteiligten gelingen? Welchen Beitrag kann ein agiles und lernendes Netzwerk von »Schulen für Friedensbildung« dabei leisten?

Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen erfordert kontinuierliche Arbeit und weitere Vernetzung mit schulischen Akteur*innen, sowie den systematischen Auf- und Ausbau einer Infrastruktur für Friedensbildung. Denn nur so lässt sich Frieden am Lernort Schule dauerhaft verankern.

Literatur

Berner, L.; Fleischer, F. (2018): Erziehung zur Friedensliebe – Ansätze oder umgesetztes Ziel? Bestandsaufnahme und Perspektiven der gymnasialen Bildungspläne 2016 des Landes Baden-Württemberg. In: Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, T. (Hrsg): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 207-264.

Berner, L. (2020): Schulen als Lernorte für den Frieden? Theoretisch-konzeptionelle Grundlagen für Friedensbildung im Lernort Schule und deren Bedeutung für Modellschulen Friedensbildung. Tübingen: Unveröffentlichte Masterarbeit.

Calmbach, M. et al. (2020): SINUS-Jugendstudie 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Bonn: bpb.

Frieters-Reermann, N. (2015): Friedenspädagogik als Teil gewaltsensibler Bildung – oder umgekehrt? Denkanstöße aus der konfliktsensiblen Entwicklungszusammenarbeit. In: Frieters-Reermann, N.; Lang-Wojtasik, G. (Hrsg.): Friedenspädagogik und Gewaltfreiheit: Denkanstöße für eine differenzsensible Kommunikations- und Konfliktkultur. Opladen u.a.: Barbara Budrich, S. 209–224.

Jäger, U. (2014): Friedenspädagogik und Konflikttransformation. Online Berghof Handbook for Conflict Transformation. Berlin.

Jäger, U. (2018): Friedensbildung 2020: Grundzüge für eine zeitgemäße „Erziehung zur Friedensliebe“ an Schulen. In: Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, T. (Hrsg): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 325-343.

Servicestelle Friedensbildung (o.J.): Ausstellung „Frieden machen – gelungene Beispiele aus aller Welt“. Ein Peace Counts Projekt. URL: friedensbildung-bw.de

Claudia Möller (M.A.) arbeitet als Abteilungsleiterin »Haus auf der Alb« Bad Urach und Fachreferentin für »Nachhaltigkeit« bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Bis April 2021 war sie Leiterin der Servicestelle Friedensbildung.
Larissa Berner (B.A.) arbeitet als Fachreferentin für die Servicestelle Friedensbildung bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Anne Kruck (M.A.) arbeitet als Advisor für Peace Education Approaches bei der Berghof Foundation Operations gGmbH.
Janna Articus (M.A.) arbeitet als Junior Project Manager bei der Berghof Foundation Operations gGmbH für die Servicestelle Friedensbildung.

Gelingende Friedenslehre – Nordmazedonien

Das »Nansen Dialogue Centre« Skopje (NDC)

Das NDC engagiert sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 im Bereich der interkulturellen (Friedens-)Bildung in Nordmazedonien. Die Gründung erfolgte als Reaktion auf den Krieg in Nordmazedonien. Das NDC ist Teil des Netzwerks von Nansen-Zentren auf dem Balkan. Die Arbeit des Zentrums ist von der Vision einer Gesellschaft geleitet, in der alle den gleichen Zugang zu Bildung haben – einer Bildung, die auf Interkulturalität, interethnischer Integration und Zusammenhalt basiert. Der Fokus der Bildungsprogramme liegt in der Förderung des Dialogs bei Konfliktprävention, Versöhnungsarbeit und Friedensbildung.

In den Gründungsjahren konzentrierte sich das NDC auf die Stärkung der Zusammenarbeit in der Region durch Programme und Foren für Journalist*innen, junge Führungskräfte und Politiker*innen. Die Aktivitäten wurden von der lokalen Bevölkerung stark unterstützt, dadurch konnten 2008 und 2010 die ersten integrierten zweisprachigen Schulen des Landes eingerichtet werden – als Gegenmodell zum segregierten Schulsystem des restlichen Landes. In der Grundschulausbildung wird Kindern aus verschiedenen ethnischen Gemeinschaften ein Umfeld geboten, in dem sie selbst erleben, dass Sprache, Kultur, Tradition, Glaube u.a. Bestandteile der Einheit und nicht der Trennung sind.

Das NDC hat in der Folge das Nansen-Modell für interkulturelle Bildung in Nordmazedonien eingeführt, das mittlerweile in mehr als 30 Grund- und ­Sekundarschulen angewendet wird. Zudem wirkte das NDC an viele strategischen Dokumenten mit, so z. B. dem Konzept für interkulturelle Bildung, das 2016 zur institutionellen Verankerung dem Bildungsministerium übergeben wurde. 2012 gründete das NDC Skopje in Zusammenarbeit mit dem nordmazedonischen Ministerium für Bildung und Wissenschaft das erste Trainingszentrum für interkulturelle Bildung. Dieses bietet theoretische und praktische Schulungen für interkulturelle Bildung zur persönlichen und beruflichen Entwicklung des Bildungspersonals im Land und in der Region.

Mehr Informationen: ndc.org.mk

Totgeglaubte leben länger

Totgeglaubte leben länger

Die Wiederbelebung der Friedensbildung in Deutschland

von Bernd Rieche

Trotz der Erfolge der Friedensbewegung in den 1990er Jahren, war Friedensbildung um die Jahrtausendwende in Deutschland kaum noch sichtbar. Es bedurfte der stärkeren Präsenz der Bundeswehr in den Schulen und der kritischen Auseinandersetzung damit, dass Friedensbewegte wieder verstärkt Friedensbildung als ihre Aufgabe wahrnahmen. In der Folge wurden neue Strukturen geschaffen, aber auch die verfügbaren Materialien und Methoden vielfältiger und das Selbst- und Rollenverständnis geschärft.

Die Friedensbewegung feierte Ende der 90er Jahre große Erfolge: die Mediation hatte sich in Deutschland etabliert, die Zivile Konfliktbearbeitung wurde staatlicherseits anerkannt und dafür Strukturen geschaffen – wie der Zivile Friedensdienst oder das Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF). Nicht zuletzt wurden die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) und später neue Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung aufgebaut. Vermutlich war es noch nie so vielfältig und einfach möglich, mit unmittelbarer Friedensarbeit – als Mediator*in, Konfliktbearbeiter*in oder als Friedensfachkraft sein tägliches Brot zu verdienen. Selbst in den Schulen gab es große Erfolge. Unter anderem wurden Streitschlichtungsprogramme eingeführt und sind heute fast flächendeckend etabliert.

Allerdings wurden alle diese Programme nicht als Friedensbildung (oder Friedenspädagogik, bzw. -erziehung) markiert. Dies beginnt bei der Bezeichnung und reicht bis hin zu den angebotenen Inhalten. Dieser Eindruck bestätigt sich auch mit einem Blick in das Archiv dieser Zeitschrift. Der letzte Artikel, der Friedensbildung/-erziehung/-pädagogik explizit erwähnte, erschien 1995 (vgl. Nolz 1995). Anschließend herrschte für zehn Jahre Stille zu diesem Thema. Gleichermaßen gab es kaum aktuelles Material für die Schule, das militärisches Handeln in aktuellen internationalen Konflikten kritisch behandelt hätte. Fast alle militärkritischen Unterrichtsmaterialien waren aus Zeiten der Ost-West-Konfrontation vor 1990 oder thematisierten Fragen der Kriegsdienstverweigerung. Lediglich im Bereich der Zivilen Konfliktbearbeitung waren, analog zu den Erfolgen und der Etablierung der zivilen Konfliktbearbeitung, einige Materialien entstanden.

Externe Impulse um die Jahrtausendwende

Es brauchte offenbar erst den Anstoß der erneuerten Werbungsanstrengungen des Militärs, um einer Vielzahl an Akteuren die Notwendigkeit von Friedensbildung wieder deutlich zu machen. Eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Schule begann im Jahr 2008. Das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen und das zuständige Wehrbereichskommando II der Bundeswehr unterschrieben eine Kooperationsvereinbarung, wonach Jugendoffizier*e im schulischen Kontext über die „zur Friedenssicherung möglichen und/oder notwendigen Instrumente der Politik“ informieren sollten und dabei
„Informationen zur globalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung genauso wie Informationen zu nationalen Interessen einzubeziehen“ seien (NRW und Bundeswehr 2008, S. 1). Jugendoffizier*e sollten darüber hinaus in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften eingebunden werden, das Besuchen von Einrichtungen der Bundeswehr wurde ausdrücklich vorgesehen und die Bildungsangebote der Bundeswehr wurden durch das Ministerium verbreitet. In den Jahren 2008 bis 2011 folgten in der Grundausrichtung ähnliche Kooperationsvereinbarungen zwischen der Bundeswehr und den Kultusministerien in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen. Obwohl es seit den 1950er Jahren übliche Praxis ist, dass Lehrkräfte Jugendoffizier*e als externe Referent*innen in ihren Unterricht einladen, gingen diese Kooperationsvereinbarungen darüber weit hinaus. Auch wenn die Jugend­offizier*e nicht für Tätigkeiten innerhalb der Bundeswehr werben – denn so ist es zumindest in den Kooperationsvereinbarungen festgelegt – sind doch in der Praxis Information und Werbung oft schwer voneinander zu trennen. Jugendoffizier*e vermitteln eine Sicht auf die politischen und militärischen Handlungsspielräume und Notwendigkeiten, die in der Friedensarbeit in ihrem Grund­ansatz kritisch gesehen werden.

Diese zunehmende Präsenz der Bundeswehr an Schulen war Anlass, dass sich in zahlreichen Bundesländern Akteure der Friedensbewegung zu Bündnissen wie »Schulfrei für die Bundeswehr« zusammenschlossen. Durch kreative Aktionen und politische Arbeit soll die Präsenz der Bundeswehr an Schulen verhindert werden. Die Kooperationsvereinbarungen der Bundeswehr waren jedoch eher Anlass, nicht Grund, sich intensiver mit Friedensbildung an Schulen zu beschäftigen. Denn Friedensbildung ist unabhängig von Bundeswehr und Militär notwendig.

Entstehung neuer Netzwerke

Um Friedensbildung bundesweit zu fördern, schlossen sich in der Folge die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK), die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), die in Schulen aktive Gewerkschaft GEW, die katholische Friedensbewegung pax christi und die Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD zusammen, um ab 2009 das Projekt
„Friedensbildung, Bundeswehr und Schule“ zu planen. Ab 2012 konnte das Projekt für drei Jahre in der Praxis erprobt werde, es wurde vorhandenes pädagogisches Material gesichtet und für den Einsatz im Unterricht gemäß der Bildungspläne eingeordnet, weiteres eigenständiges Material erarbeitet und durch die Webseite friedensbildung-schule.de zugänglich gemacht. Die bundesweite Vernetzung von Friedenspädagog*innen wurde durch den sich regelmäßig treffenden Fachrat des Projektes vorangetrieben. Aus diesem entstand nach Ende des Projektes das »Bundesweite Netzwerk Friedensbildung«, unter dem sich auch die inzwischen gegründeten Netzwerke in den einzelnen Bundesländern und Regionen vernetzten. Solche regionalen Netzwerke existieren mittlerweile in NRW, Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Norddeutschland, Mitteldeutschland, im Saarland und seit jüngstem in Niedersachsen.

Neben der Bereitstellung von Material war es auch erklärtes Ziel, einen Pool an Referent*innen für den Bildungseinsatz in Schulen aufzubauen. Dabei wurde nach 2012 schnell deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, eine zentrale Vermittlung aufzubauen, da es hierfür regionale Strukturen braucht – die sinnvollerweise bei den regionalen Netzwerken liegen sollten. Einige Qualifizierungsfortbildungen für Friedensbildner*innen haben seitdem stattgefunden. Beispielhaft können das Kursangebot der evangelischen Kirchen in NRW (vgl. PI-Villigst o.J.) und die Fortbildung des niedersächsischen Netzwerkes mit Förderung des Landes Niedersachsen (Friedensbildung Niedersachsen o.J.) angeführt werden. So stehen mittlerweile einige Friedenspädagog*innen für den expliziten Unterrichtseinsatz zur Verfügung.

Einige der neu gegründeten Netzwerke richten zudem Fachtagungen aus und fördern so die regionale Vernetzung und Fortbildung von pädagogisch Arbeitenden zu Friedensthemen (u.a. das norddeutsche und das mitteldeutsche Netzwerk).

Gemeinsame Definition von Friedensbildung?

In den Netzwerken wurde immer wieder versucht, den Begriff der Friedensbildung umfassend zu definieren. Ein Ergebnis dieser Diskussionen ist die Definition des »Bundesweiten Netzwerks Friedensbildung«.

Die Netzwerke beziehen sich darin auf ein Bildungsverständnis, das zur Mündigkeit befähigen will und sowohl auf die individuelle als auch gesellschaftliche Ebenen abzielt. In der Tradition der Friedensbildungswerke, die in den 1980er Jahren gegründet wurden, fasst das bundesweite Netzwerk die Friedensbildung als „Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit [als] eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Frieden wird dabei verstanden als ein zielgerichteter, dynamischer Prozess kontinuierlicher Konfliktbearbeitung mit gewaltfreien Mitteln – zur Realisierung der Menschenrechte, zur Etablierung von Gerechtigkeit sowie zur Überwindung von Gewalt und Unfreiheit. In diesem Verständnis ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg und mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen.“ (BNF o.J.). Dabei ist dem Netzwerk „die Entwicklung von Kompetenzen zu einem konstruktiven und zivilen, an der Philosophie der Gewaltfreiheit orientierten Umgang in innergesellschaftlichen und internationalen Konflikten“ (ibid.) besonders wichtig. Dazu zählen die Vermittlung von Kompetenzen für die Analyse von Konflikten sowie für die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten. Nur so kann sich in den Augen des Netzwerkes eine
„Kultur des Friedens“ (ibid.) entwickeln, in der die Lernenden auch zu selbstständig Agierenden werden können und das wahre Potential von Konflikten als „Chancen für eine positive Veränderung“ (ibid.) zur Geltung kommen kann.

Neutralität der Friedensbildung?

Friedensbildung wird dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie politisch oder normativ sie sein soll und darf. Für den schulischen Bereich gibt der »Beutelsbacher Konsens« den Rahmen vor. In diesem wurden 1976 drei Grundprinzipien des Politikunterrichts festgelegt: das Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot), das Gebot der Kontroversität (auch: Gegensätzlichkeit) und das Prinzip der Schülerorientierung, d.h. Schüler sollen zu eigenem politischen Verständnis und Handeln befähigt werden.

Das Kontroversitätsgebot bietet dabei auch erst einmal ein Argument dafür, dass auch friedensbewegte Referent*innen eingebunden werden müssten, wenn andererseits die Bundeswehr privilegierten Zugang zu Schulen erhält.1

Erste eigenständige Kooperationsverträge der Friedensbildungsnetzwerke mit den jeweiligen Kultusministerien, u.a. in Rheinland-Pfalz, riefen allerdings heftige Debatten innerhalb der Friedensbewegung hervor. Einerseits bot sich die Chance für die Verankerung von Friedensbildung, anderseits sahen Kritiker*innen aber die drohende Funktion als Feigenblatt für die Legitimierung sowohl des zivilen als auch des militärischen Ansatzes, die als Legitimierung für die Präsenz der Bundeswehr in Schulen missbraucht wurden. Nach einiger Zeit der Klärung des Konfliktes einigten sich die meisten Akteure darauf, beide Forderungen parallel zu vertreten und dabei auf je unterschiedliche Bündnisse zu setzen:
„Bundeswehr raus“ steht also gleichzeitig neben „Friedensbildung rein“.

Die Begründung von Friedensbildung an Schulen ist jedoch keine Frage des Ausgleichs zur Bundeswehr, sondern ergibt sich grundlegend aus dem in den Verfassungen festgeschriebenen Auftrag zur Förderung des Friedens (vgl. für Baden-Württemberg: Meisch, Jäger und Nielebock 2018).

Zum Zweiten müssen Aktive der Friedensarbeit auch für sich ganz direkt reflektieren, wie sie sich in Bezug auf den Beutelsbacher Konsens verhalten. Zwei mögliche Rollen deuten sich an: die Verantwortung verbleibt bei den Lehrer*innen, wenn Friedensbildner­*innen als Zeitzeug*innen oder Fachleute in die Schule eingeladen werden. Wenn sie jedoch Friedensbildung in Form von Projekten oder selbstverantwortetem Unterricht durchführen, müssen sie den Beutelsbacher Konsens einhalten, wobei allerdings zentrale normative Bezugspunkte der Friedensbildung (u.a. Menschenrechte oder die allgemeine Friedensliebe) Verfassungsrang haben und nicht kontrovers sind.

Nicht zuletzt gilt Drittens der Beutelsbacher Konsens auch für die Bewertung friedenspädagogischer Materialien. Diese sollten nicht allein aufgrund der primären Rolle eines Auftraggebers (wie der Bundeswehr) ausgeschlossen werden. Für die Webseite friedensbildung-schule.de wurden daher passende Qualitätskriterien entwickelt. Diese sind:

  • allgemeine pädagogische Kategorien wie die methodisch-didaktische Eignung und die Nutzungsfreundlichkeit,
  • inhaltlich-konzeptionelle Kriterien, wie die Mehrdimensionalität des dargestellten Themas und
  • friedenspädagogische Kriterien. D.h. „friedensfördernde Werte wie Gewaltlosigkeit und Menschenrechte. Militäreinsätze werden kritisch reflektiert, Möglichkeiten und Beispiele ziviler Konfliktbearbeitung betont.“

Positionen zur Stärkung der Friedensbildung in der schulischen und außerschulischen Bildung

(Bundesweites Netzwerk Friedensbildung, gekürzter Auszug, Juni 2021)

Friedensbildung soll dazu beitragen, auf gesellschaftlicher und individueller Ebene Friedensprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen.

Sie ist Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. […]

Damit die Friedensbildung ihren Auftrag und ihre Funktion erfüllen kann, muss sie ausgebaut, abgesichert sowie strukturell und politisch verankert werden.

Hierzu fordern wir folgende Maßnahmen:

  • Personelle und finanziellen Ressourcen
    Die schulische und außerschulische Friedensbildung wird bisher vielfach auf Projektbasis geleistet und ist abhängig von Förderkonjunkturen. Zur strukturellen Verankerung von Friedensbildung und zur konkreten Umsetzung in Bildungsprozessen gehören institutionelle Unterstützungsstrukturen. Dies können Koordinations- und Servicestellen auf Landes-, regionaler und kommunaler Ebene leisten, die Qualifizierungs-, Beratungs-, Vernetzungs-, Veranstaltungs- und Materialangebote entwickeln.
    Das ist zum Beispiel zu schaffen durch (a) Servicestellen Friedensbildung bei den Landeszentrale für politische Bildung (Beispiel Baden-Württemberg), (b) den Ausbau von Lehre, Beratung und Weiterbildung an Hochschulen (Beispiel Rheinland-Pfalz), die Schaffung von Stellen an Landesinstituten für die Lehrer*innenfortbildung und -beratung (Beispiel Saarland) bzw. für die landesweite Koordinierung der Friedensbildung (Beispiel Niedersachsen), oder (c) die finanzielle Förderung von Friedensbildung örtlicher, regionaler, landes- oder bundesweit tätiger NGOs, Vereine und Jugendverbände durch Kommunen, Länder und Bund.
  • Curriculare Verankerung
    Friedensbildung muss systematischer und verlässlicher in den Angeboten von Trägern der Jugendarbeit und Jugendbildung sowie in den Bildungs-, Lehr- und Rahmenlehrplänen der Schulen verankert werden.
    Dasselbe gilt für Angebote und Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals, z. B. an Hoch- und Fachschulen, Studienseminaren, Landesinstituten und anderen öffentlichen und freien Weiterbildungsträgern. Schulische Friedensbildung hat ihren Ort zumeist in den sozialwissenschaftlichen Fächern, Politik, Ethik, Religion oder auch im Rahmen der Projektarbeit. Sie muss aber auch als fächerverbindende und fächerübergreifende Aufgabe implementiert werden.
    Friedensbildung ist nicht in Konkurrenz zu anderen gesellschaftspolitisch relevanten Bildungszielen zu sehen – wie etwa Demokratiebildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, die Umsetzung und Vermittlung der Weltnachhaltigkeitsziele (SDGs) oder die rassismuskritische Bildungsarbeit. Vielmehr müssen diese verschiedenen Bildungsaufgaben und ihre »Verwandtschaften« sinnvoll aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden, ohne dass die Friedensbildung ihre eigenen Spezifika und ihr Profil einbüßt.
  • Institutioneller Rahmen
    Die Friedensbildung ist nicht nur als »Bildungsinhalt«, sondern auch als Philosophie bzw. Kultur der Bildungseinrichtungen selbst zu verstehen, zu der alle Fächer sowie die Bildungseinrichtungen selbst ihren Beitrag leisten (»whole institution approach«). Friedensbildung lässt sich nur erfolgreich vermitteln, wenn die Träger, die Bildungseinrichtungen, das Personal und die Rahmenbedingungen ein friedliches und auf Respekt und gemeinsame Werte gegründetes Lernen und Leben ermöglichen.
  • Medien
    Von besonderer Bedeutung sind die Förderung und Entwicklung von Bildungsmaterialien sowie die Aufnahme von Themen und Perspektiven der Friedensbildung in Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern.
  • Verankerung an Hochschulen
    Um die Friedensbildung wie auch die notwendige Qualifizierung und Professionalisierung zu verstetigen und wissenschaftsorientiert zu gestalten, müssen entsprechende Professuren und Institute an Hochschulen eingerichtet und deutlich ausgebaut sowie Forschungsprogramme zur Friedensbildung entwickelt werden.

Zivilgesellschaftlicher Impuls, staatliche Förderung?

Inzwischen konnten auch staatlich getragene Strukturen der Friedensbildung etabliert werden. In Baden-Württemberg startete 2015 eine staatlich finanzierte »Servicestelle Friedensbildung«, angesiedelt bei der Landeszentrale für politische Bildung in gemeinsamer Trägerschaft von Kultusministerium, Berghof Founda­tion und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen. In jüngster Zeit hat das Land Niedersachsen eine Stelle für die Koordination der Friedensbildung ausgeschrieben und auch die 2014 gegründete Friedensakademie an der Universität Landau in Rheinland-Pfalz hat u.a. einen friedenspädagogischen Auftrag. Diese Initiativen werden von den Akteuren der Friedensbildung aktiv vorangetrieben und unterstützt, auch wenn es im Konkreten dabei Konflikte mit staatlichen Stellen beispielsweise um die Rolle der Bundeswehr in Schule gibt.

Generell ist jedoch die Friedensbildung strukturell immer noch schwach aufgestellt und die Arbeit in den Netzwerken wird durch die mehr oder weniger ehrenamtliche Arbeit der Beteiligten getragen. Unter diesen Bedingungen ist der bundesdeutsche Bildungsföderalismus eine große Herausforderung, da Lobbyarbeit für Friedensbildung auch Ressourcen vor Ort benötigt. Im Gegensatz zu anderen Bildungsansätzen, wie Globalem Lernen oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei denen sich einzelne Bundesministerien für zuständig erklären, gibt es auch kein entsprechendes Gegenüber für Friedensbildung auf Bundesebene.

So versucht sich Friedensbildung derzeit über Fördertöpfe des Globalen Lernens, der politischen Bildung oder der Bildung für Nachhaltigkeit zu finanzieren, unterliegt in dieser Einschränkung aber immer einer klaren Begrenzung ihres Themenspektrums. Eine umfassende Friedensbildung, wie vom bundesdeutschen Netzwerk postuliert, ist so nur schwer zu gestalten.

Doch »Totgesagte leben länger« und die ermutigenden Entwicklungen der regionalen und bundesweiten Netzwerke für Friedensbildung lassen für die Zukunft hoffen. So ist die Friedensbildung inzwischen wieder lebendig, entwickelt viele kreative Bildungsangebote und kämpft für angemessene Ausstattung und Strukturen.

Angebote zur Friedensbildung

netzwerk-friedensbildung.de
Seite des Bundesweiten Netzwerkes mit Links zu den regionalen Netzwerken, die Referent*innen der Friedensbildung vermitteln

friedensbildung-schule.de
Sammlung von Materialien für den Unterricht

ziviler-friedensdienst.org
Ausstellung »Wir scheuen keine Konflikte« mit umfangreichem Material für Unterricht und Projektarbeit

friedensbildung.de
»Frieden geht anders!« – Ausstellung plus Unterrichtsmaterial

peace-counts.de
Ausstellung, Reportage und Material für Bildungsarbeit über Friedensmacher*innen aus aller Welt

friedenskreis-halle.de/projekt/weltentausch.html
»ene mene muh – und raus bist DU!«- Interaktives Lernspiel zu Flucht und Asyl in Deutschland

civilpowker.de
ein systemisches Lernspiel zum zivilem Engagement in internationalen Konflikten

integrationsmatrix.de
Ein Spiel und Workshops zum Verbindenden und Trennenden

Anmerkung

1) Nach entsprechendem Druck aus der Friedensbewegung verlieh die von der rot-grünen Landesregierung überarbeitete Kooperationsvereinbarung für NRW von 2012 dem Ansinnen Ausdruck, dass „unterschiedliche Institutionen und Organisationen gleichberechtigt und gleichgewichtig einbezogen und berücksichtigt werden“ sollen (NRW und Bundeswehr 2012, S. 2). Andere Bundesländer folgten mit ähnlichen geänderten Kooperationsverträgen.

Literatur

Bundesweites Netzwerk Friedensbildung (o.J.): Unser Gründungspapier. URL: netzwerk-friedensbildung.de

Friedensbildung Niedersachsen (o.J.): Vermittlung von Expert*innen in ziviler Konfliktbearbeitung als Referent*innen für sicherheitspolitische Fragen in den schulischen Unterricht. URL: friedensbildung-niedersachsen.de

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nolz, B. (1995): Atomare Frage und Individualisierung. Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung. In: Wissenschaft und Frieden 1/1995.

NRW und Bundeswehr (2008): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 29.10.2008.

NRW und Bundeswehr (2012): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 30.08.2012.

PI-Villigst (o.J.): Ausbildung zur Friedensbildungsreferentin/zum Friedensbildungsreferenten an Schulen, Modularisierte Ausbildung. URL: pi-villigst.de

Bernd Rieche ist Referent für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensbildung bei der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF). Er koordiniert u.a. das Bundesweite Netzwerk Friedensbildung mit.

»No More Wars«

»No More Wars«

Friedenserziehung in Japan

von Jongsung Kim, Hiromi Kawaguchi und Kazuhiro Kusahara

In Japan spielte Friedensbildung eine zentrale Rolle darin, nach dem Zweiten Weltkrieg die Antikriegsstimmung in der Gesellschaft zu verbreiten. Jedoch fokussierte sie stark auf die Verletzungen der gewöhnlichen Menschen während des Krieges und verlagerte so die Kriegsmitverantwortung auf den »bösen Staat voller unschuldiger Bürger*innen«. Die Autor*innen problematisieren diese Tradition und betonen eine Friedensbildung, die Eigenständigkeit und Kommunikationsfähigkeit von Schüler*innen und Studierenden zentriert.

Antikriegsstimmung ist der japanischen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeprägt (Berger 1993). Der Hass des japanischen Volkes auf den Krieg trug zur Schaffung der »Friedensklausel« bei, die 1947, als Japan unter der Besetzung der Alliierten stand, in die japanische Verfassung aufgenommen wurde: „Das japanische Volk strebt aufrichtig nach einem internationalen Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Ordnung und verzichtet für immer auf Krieg als souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.“ (Artikel 9 der Verfassung des Staates Japan).

Seitdem ist Japan offiziell ein pazifischer Nationalstaat, der keine militärischen Fähigkeiten zur Beilegung internationaler Streitigkeiten nutzt. Der Regierung stehen zwar die japanischen Selbstverteidigungskräfte zur Verfügung, aber technisch gesehen besteht deren Rolle darin,
„eine ausschließlich verteidigungsorientierte Politik aufrechtzuerhalten und keine Militärmacht zu werden“ (Ministry of Defense Japan o.J.). Es gab immer wieder Versuche – vor allem von einigen Untergruppen in den konservativen Parteien – den Artikel zu überarbeiten und Japan zu einem Land zu machen, das militärische Macht ausüben kann (vgl. Liff 2015; Pence 2006). Allerdings haben die – innerhalb der japanischen Zivilgesellschaft fest verankerte – Antikriegsstimmung und die Feindseligkeit gegenüber Militarismus die Friedensklausel bis heute geschützt.

Seit jeher hat Friedenserziehung eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Antikriegsstimmung in Japan gespielt (vgl. Ishikida 2005). Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Japan der 1950er Jahre, bereuten viele Lehrer*innen bitterlich, ihre Schüler*innen auf das Schlachtfeld geschickt zu haben und riefen dementsprechend zahlreiche Friedensbewegungen gegen Totalitarismus und Militarismus ins Leben. Unter dem Motto »No More Wars« hat sich die japanische Friedenserziehung mit der Trauer und dem Leid der Menschen durch die Militärmacht während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, inklusive der Kriegs­erinnerungen an Orten der Tragödien, in Hiroshima, Nagasaki und Okinawa. Die Auswirkungen von Krieg auf das Leben der Menschen begreifbar zu machen und das Versprechen, Militarismus und Totalitarismus zu entsagen, sind in der Vergangenheit ein Weg gewesen, den Frieden in Japan zu verfolgen.

Die Tragödie und das Leid der Bürger*innen

„Chii-chan no Kageokuri“ (Chii-chan und das Schattenspiel), eine sehr bekannte Kindergeschichte, die in einem bekannten japanischen Lehrbuch für Drittklässler*innen (8–9 Jahre) veröffentlicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den erwähnten Trend der japanischen Friedenserziehung. Die fiktive Geschichte entfaltet sich anhand der Erlebnisse des Mädchens Chii-chan während des Krieges. Sie erzählt aus der Perspektive des Mädchens – das im selben Alter wie die Schulkinder ist – ihre Erfahrungen und die ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs. Während des Unterrichts bitten die Lehrer*innen die Schüler*innen in der Regel, in Chiis Rolle zu schlüpfen und zu versuchen, ihre Erfahrungen nachzuempfinden. Die meisten japanischen Lehrbücher enthalten ähnliche Kriegsgeschichten, in denen japanische Familien beschrieben werden, die Freiheit, Wohlstand und sogar ihr Leben verloren haben. Aus Sicht der normalen Bürger*innen, insbesondere durch Kinderaugen, erhalten diese Geschichten die kollektive Erinnerung daran, dass Krieg das Leben der Menschen zerstört hat und dass dies niemals mehr passieren dürfe.

Ähnliche Beispiele, die das Leiden der einfachen Menschen betonen, finden sich sehr häufig in japanischen Geschichtslehrbüchern für die Grundschule. Im Gegensatz zu anderen Unterrichtseinheiten, die sich eher auf Machthaber wie Politiker, Kaiser oder Premierminister konzentrieren, nimmt die Einheit zum Zweiten Weltkrieg gewöhnliche Menschen in den Fokus, die für den Krieg geopfert wurden. Das Narrativ zum Ersten Weltkrieg konzentriert sich z. B. hauptsächlich auf die Außenminister, die die ursprünglich »ungleichen« Verträge korrigierten, und darauf, wie Japan anschließend die Macht erlangte, um den anderen Nationalstaaten auf Augenhöhe zu begegnen. Das Narrativ zum Zweiten Weltkrieg hingegen hebt die Tragödie der einfachen Leute hervor – mit Fokus auf ausgewählte historische Ereignisse, wie dem »Great Tokyo Air Raid«, dem Brandbombenanschlag auf Tokio am 10. März 1945, und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki.

Das Bemühen, eine Welt ohne Krieg zu realisieren, könnte allerdings auch als Vernachlässigung bzw. Versäumnis interpretiert werden, sich der Kriegsverantwortung des eigenen Landes zu stellen. Wie die von Japan während des Zweiten Weltkriegs überfallenen Länder kritisierten, lässt eine Friedenserziehung, die sich auf die Brutalität des Krieges per se konzentriert, Japans eigene Kriegsverantwortung im Unklaren. Die Beschreibungen des Zweiten Weltkriegs in japanischen Geschichtslehrbüchern der Grund- und Mittelstufe sind Beispiele, die die Vagheit und Unschärfe im Umgang mit Japans Kriegsverantwortung verdeutlichen: Es findet sich keine eindeutige Darstellung davon, wer für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien verantwortlich war. Die verheerenden Schäden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Luftangriffe auf Tokio sind ausführlich dargestellt, aber es gibt kaum Erklärungen dafür, warum die amerikanische Regierung beschloss, in Japan militärisch zu intervenieren.

Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit Betonung der Opferrolle (vgl. Orr 2001; Pyle 1992; Dierkes 2010) erzeugt den Eindruck von »schlechtem Staat, unschuldigen Menschen«. Dieses Bild ist von den meisten politischen Parteien trotz ihrer ideologischen Unterschiede akzeptiert und wurde gezielt zur Einigung des Landes im Chaos der Nachkriegszeit genutzt. Die Friedens­erziehung und -pädagogik ist von diesem Diskurs stark geprägt. Konkret trugen die beiden illustrierten Beispiele japanischer Friedenserziehungsrhetorik, (a) Betonung der Opferrolle und (b) vage Beschreibungen für die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Asien, dazu bei, dass die Japaner*innen zwischen gewöhnlichen Bürger*innen und der damaligen Militärregierung unterscheiden (vgl. Fujiwara 2001). Das Verständnis, dass der Staat allein und nicht die Bürger*innen den Krieg verursacht hätten, führt zu einer Entfernung der Bürger*innen von ihrer Kriegsmitverantwortung und verortet die Bürger*innen als Kriegsopfer und Prediger*innen des Friedens. Mit anderen Worten, die Friedenserziehung in Japan hat Japans Rolle als Aggressor im Zweiten Weltkrieg und die Kriegsverantwortung nicht nur des Staates, sondern auch seiner Bevölkerung vernachlässigt.

Erneuerungen der Friedenspädagogik seit den 1970er Jahren

Die erwähnte Kritik ernst nehmend, gibt es seit den 1970er Jahren unter japanischen Friedenspädagog*innen Versuche, ihre eigenen Unterrichtspraktiken im Lichte der Kriegsverantwortung zu reflektieren und über die Notwendigkeit zu sprechen, sich dem zu stellen, was Japan während des Zweiten Weltkriegs getan hat. Die »History Educationalist Conference of Japan« (Konferenz für Geschichtserziehung) geht hier mit praxisorientierten Ansätzen voran. Ein Beispiel dafür ist der Geschichtslehrer Mera (1992), der ausführt, dass er seit etwa 1970 Geschichtsunterricht gegeben habe, der auf Japans Invasionen anderer asiatischer Länder hinwies und Japans Verantwortungslosigkeit bei Kriegsverbrechen, wie Zwangsarbeit oder den sogenannten Trostfrauen in Korea, verurteilte. Ein weiteres Beispiel ist Yasuis (1977) Praxis namens »Der fünfzehnjährige Krieg mit den Eltern«. In den 1970er Jahren hatten die meisten Eltern Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Mit den Erinnerungen und Geschichten der Eltern als Anschauungsmaterial fragte Yasui die Schüler*innen, warum die Menschen damals den Krieg nicht stoppen konnten, und hinterfragte die Verantwortung der »unschuldigen Menschen«.

Obwohl einzelne Ansätze, die die Kriegsverantwortung Japans diskutieren, umgesetzt worden sind, sind sie dennoch nie Teil der allgemeinen japanischen Friedenserziehung geworden. Lehrende, die die Kriegsverantwortung diskutierten, wurden manchmal als politisch voreingenommene Pädagog*innen, Kommunist*innen oder Verräter*innen kritisiert. Obwohl der Druck auf Japan und in Japan selbst, Verantwortung für Kriegsereignisse wie Zwangsarbeit, Zwangsprostitution der sogenannten »Trostfrauen« und das Massaker von Nanking zu übernehmen, seit den 1980er Jahren zugenommen hat, hat die Friedenserziehung in Japan es versäumt, die Anforderungen an die Aufarbeitung im Bildungssystem umzusetzen (Takeuchi 2011).

Probleme der dominanten Friedenserziehung

Neben dem politischen Backlash haben Friedensbildungsangebote, die die Kriegsverantwortung betonen, aus Sicht der Autor*innen zwei weitere pädagogische Probleme.

  • Erstens werden die Lernenden als passive Wesen betrachtet, von denen erwartet wird, dass sie von Pädagog*innen entworfene Friedensbilder akzeptieren. Lehrkräfte konzipieren und implementieren friedenspädagogische Angebote basierend auf ihren idealen Friedensbildern, wie »No More War« oder »Taking War Responsibility«. Bis heute gibt es für die Schüler*innen im Rahmen der japanischen Friedenserziehung keinen Raum, den Frieden der Lehrenden zu dekonstruieren und ihr eigenes Verständnis von Frieden zu konstruieren. Letzteres ist jedoch eine Grundvoraussetzung für das Heranwachsen aktiver Friedensagenten.
  • Zweitens ist es der Friedenserziehung in Japan zwar gelungen, Schüler*innen auszubilden, die der Welt Frieden »schwören« können, allerdings bleibt dieser Schwur seltsam leer, indem er primär den Wert des Friedens betont. Die japanische Friedensbildung hat bislang nicht darauf abgezielt, diejenigen Fähigkeiten der Schüler*innen auszubilden, die für wirkliche Friedensmacher*innen notwendig wären – wie beispielsweise Kommunikation mit denen, die eine andere Perspektive auf Kriegsmitverantwortung haben. Laut Murakami (2009), der die Friedenswahrnehmung von Kindern untersuchte, hielten 70 % der Schüler*innen die Schaffung einer friedlichen Gesellschaft für wichtig; 60 % antworteten jedoch auch, dass sie nicht wüssten, was sie tun können, um dieses Ideal zu verwirklichen. Diese Daten zeigen, dass die Schüler*innen nicht genügend Möglichkeiten hatten, eigene Vorstellungen vom Aufbau einer friedlichen Gesellschaft mit anderen zu entwickeln.

Eine Gruppe von Forschenden des Educational Vision Research Institute (EVRI) der Universität Hiroshima hat es sich zur Aufgabe gemacht, öffentliche Räume durch authentische Kommunikation zu schaffen, die
„der eigentliche Dialog der Agenten des gegenseitigen Verstehens“ (Kim 2020, S. 44) ist, um den mangelnden Handlungsspielräumen der Schüler*innen und Studierenden in der japanischen Friedenserziehung zu begegnen, ihre Friedensverständnisse mit anderen selbstständig auszuhandeln. Innerhalb dieser öffentlichen Räume können die Schüler*innen und Studierenden über die Friedensbilder der anderen sprechen und auf diese Weise sowohl ihre eigenen als auch vorhandene Friedensbilder dekonstruieren und gemeinsam neue konstruieren. Darüber hinaus können die japanischen Schüler*innen und Studierenden hier echte, d.h. authentische Diskussionen mit »anderen« führen, die andere Diskurse als »wir« kennen. Indem sie dies tun, können sie sich die Eigenständigkeit über ihr Lernen von den Lehrenden zurückerobern und individuell als aktive Friedensagenten reifen.

Neue Praktiken der Friedenslehre

Im Folgenden stellen die Autor*innen zwei repräsentative friedenspädagogische Maßnahmen des EVRI vor. Das erste Beispiel ist das Projekt »Making a Better Hiroshima Textbook« (»Für ein besseres Lehrbuch zu Hiroshima«) – ein gemeinsames Projekt Studierender in Japan und den USA (vgl. EVRI 2021). In amerikanischen Lehrbüchern werden die Atombombenabwürfe über Japan als Trumpfkarte für die Beendigung des Zweiten Weltkriegs beschrieben. In japanischen Lehrbüchern hingegen wird der Einsatz der Atombomben als unmenschlicher Akt beschrieben, durch den eine enorme Zahl von Zivilist*innen getötet wurden. Diese Asymmetrie in den Hiroshima-Diskursen beider Länder war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Lehrbuchvorschlägen. Während des Prozesses, Entwürfe für neue Lehrbücher zu entwickeln, entdeckten die Teilnehmenden weitere Diskurse und Narrative. Sie durchlebten Konflikte darüber, wie an Hiroshima erinnert werden sollte; aber mit dem gemeinsamen Ziel vor Augen, ein besseres Hiroshima-Lehrbuch entwickeln zu wollen, konnten die Studierenden die Unterschiede in den Vorstellungen akzeptieren und gemeinsam vorankommen. Als ein Resultat konnten die Teilnehmenden den einseitigen Hiroshima-Diskurs ihres eigenen Landes relativieren und ihren gemeinsamen Diskurs entwickeln, der über diese jeweiligen Diskurse hinausgeht. Die Teilnehmenden lernten den Austausch mit Dritten, die andere Debatten über die Ermöglichung einer friedlichen Welt führen, zu schätzen (Kim 2020).

Das zweite Beispiel ist das Projekt »Re-designing ‚The Last 10 Feet‘ of the Museum« (vgl. Kim und Kusahara 2020, »Die letzten 10 Meter des Museums neu entwerfen«). Jedes Museum möchte seinen Besucher*innen ein bestimmtes Leitbild vermitteln. Während das »Hiroshima Peace Memorial Museum« die physischen und psychischen Narben des Atombombenabwurfs betont, um über die Gefahr von Atomwaffen zu informieren, erzählt das »National Museum of the Pacific War« in Texas, USA, von den großen Taten der Soldaten und beschreibt die Technologien, die den Sieg für die Vereinigten Staaten und Freiheit für die Menschheit brachten. In einem Studierendenaustausch zwischen der Universität von Hiroshima und der Universität von Texas in Austin wurden Studierende gebeten, die jeweiligen Ausstellungen der beiden Museen und ihre Leitbilder zu dekonstruieren und gemeinsam ihre je eigenen »10 letzten Meter« der Museen neu zu gestalten, in denen das jeweilige Leitbild des Museums komprimiert dargestellt ist (vgl. EVRI 2020). Durch den Austausch von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und daraus resultierender Friedensbilder konnten die Teilnehmenden ihr Verständnis von beidem verfeinern und lernen, wie man mit anderen eine friedliche Welt aufbaut.

Aufgaben für eine neue Friedenslehre

Als Mitglieder des EVRI verstehen die Autor*innen, dass die vorgestellten praktischen Beispiele, die maßgeblich auf authentischer Kommunikation basieren, grundsätzlich noch weiter gehen müssen. Eine Hauptaufgabe besteht darin, den Studierenden Gelegenheiten zu geben, über Kriegsverantwortung zu diskutieren. Authentische Kommunikation übergibt die Lerninitiative an die Studierenden – daher ist es nicht möglich, den Inhalt der Kommunikation zu kontrollieren. Pädagog*innen können jedoch den Kontext authentischer Kommunikation gestalten, der die Studierenden dazu anleitet, über die Rhetorik der japanischen Friedenserziehung nachzudenken (die exemplarisch durch die »Opferrolle« und die »unklare Kriegsverantwortung« zum Ausdruck kommt), und darüber, wie diese Rhetorik ihr Verständnis von Frieden beeinflusst hat. Mit dieser Art von Diskursdesign, das die Meta-Erkenntnis der Studierenden erleichtern soll, können die auf authentischer Kommunikation basierenden Praktiken der Friedenserziehung sicherstellen, dass die Studierenden über die Kriegsverantwortung nachdenken und ihre Rolle bei der Verwirklichung einer friedlichen Gesellschaft bedenken.

Die andere Aufgabe besteht darin, eine neue Friedenserziehung auszubauen, wie z. B. die Praxisübungen auf Grundlage authentischer Kommunikation, die die traditionellen Prämissen der japanischen Friedenserziehung aufheben. Die Dekonstruktion des Opferdiskurses und die Auseinandersetzung mit der Kriegsverantwortung sind in Japan noch immer äußerst umstritten. Doch trotz dieses sozialen Drucks entwerfen und implementieren einige Pädagog*innen ihre eigenen neuen Friedenserziehungspraktiken, um die japanische Friedenserziehung voranzubringen und die historische Aussöhnung in Asien zu verwirklichen. Bildungseinrichtungen wie das EVRI müssen ihre Praktiken offenlegen und sie als die neue Welle der Friedenserziehung kennzeichnen. Die Aufgabe der Bildungsinstitutionen sollte es nach Ansicht der Autor*innen auch sein, Lehrende auszubilden, die neue Konzepte der Friedenserziehung entwerfen und umsetzen und die in der Lage sind, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer neuen Friedenserziehung zu überzeugen.

Literatur:

Berger, T. U. (1993): From sword to Chrysanthemum. Japan’s culture of anti-militarism. In: International Security 17(4), S. 119-150.

Dierkes, J. (2010): Postwar history education in Japan and the Germanys. Oxon: Routledge.

EVRI (2020): Lessons from the “Redesigning ‘The Last 10 Feet’ of the Museum” Project. URL: evri.hiroshima-u.ac.jp/7791.

EVRI (2021): EVRI-Hiroshima Global Academy collaboration. URL: project.evri.hiroshima-u.ac.jp/evri_higa

Fujiwara, K. (2001): Senso wo kiokusuru: Hiroshima, Holocaust to ima [Remembering war: Hiroshima, the Holocaust, and present]. Tokyo: Kodansha.

Ishikida, M. Y. (2005): Toward peace: War responsibility, postwar compensation, and peace movements and education in Japan. Lincoln: iUniverse.

Kim. J. (2020): Educating citizens who are open to the discourse of others: “The Last 10 Feet” Project and the “Making a Better Hiroshima Textbook” Project. In: E-Journal of Philosophy of Education: International Yearbook of the Philosophy of Education Society of Japan 5, S. 42-51.

Kim, J.; Kusahara, K. (2020): What is the lasting impact of the use of nuclear weapons during WWII in Japan? In: Maguth, B. M.;Wu, G. (Hrsg.): Global learning based on the C3 Framework in the K-12 social studies classroom. New York: Routledge, S. 139-154

Liff, A. P. (2015): Japan’s defense policy: Abe the evolutionary. In: The Washington Quarterly 38(2), S. 79-99.

Mera, S. (1992). Nihon kindai no juudaina ketten nozikakuto sonokokuhukuheno tenbouwo kodomotatitotomoni [Awareness of the severe shortcomings of Japanese modernity and the prospects for overcoming them with children]. In: Nishikawa, M. (Hrsg.): Jikokushi wo koeta rekishi kyoiku [History education that goes beyond national history]. Tokio: Sanseisha.

Ministry of Defense, Japan. (o.J.): Other basic policies. mod.go.jp/en/d_policy/basis/others/index.html.

Murakami, T. (2009): Ima heiwa toha nanika? [What is peace now?]. Tokio: Horitsu Bunkasha.

Orr, J. (2001): The victim as a hero: ideologies of peace and national identity in postwar Japan. Honolulu: University of Hawai’i Press.

Pence, C. (2006): Reform in the Rising Sun: Koizumi’s bid to revise Japan’s pacifist constitution. In: NCJ Int‘l L. & Com. Reg. 32, S. 335.

Pyle, K. (1992): The Japanese question: Power and purpose in a new era. Washington: AEI Press.

Takeuchi, H. (2011): Heiwa kyouiku o toinaosu: Zisedai eno hihanteki keisyo [Reconceptualizing peace education: Critical inheritance for next generation]. Tokio: Horitus Bunkasha.

Yasui, T. (1977): Kodomo to manabu rekishi nojugyo [History learning with children]. Tokio: Chirekisha.

Jongsung Kim ist Associate Professor an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Hiroshima Universität, Japan und Mitherausgeber des »Asian Pacific Journal of Education«.
Hiromi Kawaguchi ist Associate Professorin an der Graduiertenschule für Sozialwissenschaften der Universität Hiroshima.
Kazuhiro Kusahara ist Direktor des Forschungsinstituts EVRI und Professor an der Universität Hiroshima.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Harnack.