Kirchen und Friedenspädagogik. Eine heilige Allianz?

Kirchen und Friedenspädagogik. Eine heilige Allianz?

von Sebastian Klusak

Noch immer gilt, was R. Kabel Mitte der siebziger Jahre formuliert hat: „Die Friedenspädagogik sollte bescheidener auftreten. Die Existenz des Wortes Friedenserziehung bedeutet ja noch nicht, daß die mit ihm bezeichnete Sache auch möglich ist.“1 In der Tat: die schizophrene Situation der Friedenspädagogik, nämlich, daß es eine Praxis der Friedenserziehung gibt, aber keine auch nur ansatzweise befriedigende Theoriebildung dazu, läßt Kennern der Szene gerade in letzter Zeit immer öfter die Haare zu Berge stehen.

So führte, um nur ein Beispiel zu nennen, die unter dem Einfluß attributionstheoretischer Konzepte vonstatten gehende sogenannte „kognitive Wende“ der Psychologie dazu, daß die Sozialpsychologie noch weniger als vorher in der Lage ist, der Friedenspädagogik in den für sie lebensnotwendigen Fragen (z.B. die Entstehung von Aggressivität und feindlichen Heterostereotypen wie Feindbildern und der sinnvolle Umgang damit) stringente Erklärungsmodelle zu liefern. Dessen ungeachtet persistiert – gerade im Bereich von Unterrichtsmodellen – eine Vielzahl von friedenspädagogischen Praxisentwürfen, die stillschweigend von einer wie auch immer gearteten Beantwortung dieser Fragen ausgehen.2 Nichts gegen eine Pluralität der Konzepte – aber gerade die Tatsache, daß man wissenschaftstheoretisch (gelinde gesagt) auf mehr a/s tönernen Füßen steht, dient doch den gegenwärtig festzustellenden staatlichen Rückzugstendenzen aus der Friedenspädagogik (Reduzierung des Anteile an den Lehrplänen, Kürzung der Mittel) als willkommenes Alibi.

Hieran zeigt sich einmal mehr, daß wissenschaftstheoretisches Image und gesellschaftliche Anerkennung der Existenzberechtigung eng zusammenhängen Um so erstaunlicher, daß es eine gesellschaftliche Großgruppe gibt, die sich am chronischen Theorie- (und Erfolgs-?) Defizit von Friedenserziehung nicht stört, sondern diese sogar zu ihrem Selbstauftrag gemacht hat: die Kirchen. Im folgenden sollen Ziele und Praxis des kirchlich-friedenspädagogischen Engagements dargelegt werden. Dabei soll außerdem deutlich werden, daß „kirchliche“ Friedenspädagogik zwei alte Grundanforderungen an friedenspädagogische Praxis erfüllt: zum einen, auch anders als rein kognitiv, und zum anderen, den Sozialisationsprozeß über einen längeren Zeitraum begleitend zu wirken. Als Textgrundlage sollen uns zunächst die friedensethische Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz („Gerechtigkeit schafft Frieden“ von 1983, im folgenden „GSE“ abgekürzt) und die des Rats der EKD („Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981, abgekürzt „EKD“) dienen. Mit einer in die Hunderttausende gehenden Gesamtauflage (die Stellungnahmen wurden in den Gemeinden verteilt und diskutiert) brachten die Kirchenleitungen dabei, wie wir gleich sehen werden, nicht nur medienpädagogische Lerninhalte, sondern auch gleich die dazugehörigen Vermittlungsstrategien unters Kirchenvolk: Die Stellungnahmen widmen sich nämlich teilweise jeweils seitenlang (!) folgenden Themen: Ursachen und Geschichte des Ost-West-Konflikts, derzeitige weltpolitische Situation, Ursachen und Stand des Rüstungswettlaufes bzw. Der Abrüstungsverhandlungen, Funktionsweise und Kritik der nuklearen Abschreckung, Interdependenzen von Nord-Süd-Konflikt und Rüstungsspirale, Gefährdungen des Kräftegleichgewichts durch neuere waffentechnologische Entwicklungen, Ursachen und Funktionsweisen von Feindbildern und Bedrohtheitsvorstellungen, menschliche Aggressivität und die Gefahr, diese in den „Gegner“ hineinzuprojizieren etc. pp. Dann nennen sie auch gleich Methoden, mit denen den erwähnten Konfliktursachen zu Leibe gerückt werden solle: Von den Politikern fordern sie, der nuklearen Abschreckung solle zugunsten eines Primats der Friedenssicherung mit politischen Mitteln ein Ende gemacht werden, und setzen sich daher für gradualistische (bei EKD sogar einseitige) Abrüstungsschritte und ein defensives Verteidigungskonzept ein; sie fordern den sofortigen Stop der Rüstungsexporte und die Umstellung der Rüstungsindustrie auf die Produktion ziviler Güter; ferner sollten die Politiker aufhören, bestimmten Staaten eine grundsätzliche Feindschaft gegenüber dem eigenen System zu unterstellen, stattdessen die Öffentlichkeit zwischen den realen Interessensgegensätzen zwischen den Staaten informieren und dazu willens und fähig sein, gemeinsam mit dem „Gegner“ kooperative Konzepte der „gemeinsamen Sicherheit“ (sic!) zu suchen. EKD fordert von Medien und Politikern ein Ende der Darstellung und Verherrlichung von Gewalt; GSF spricht sich gegen eine Erziehung zum Freund-Feind-Denken in den Schulen aus und fordert eine Einbeziehung von Fachleuten wie Psychologen und Friedensforschern in die politische Bildungsarbeit. Dabei nehmen die Stellungnahmen als Adressaten stets besonders die „christlichen“ Politiker in die Pflicht, indem sie an deren „christliche Verantwortung“ appellieren. Aber nicht nur Politiker, sondern auch alle anderen Gruppen und Organe der Kirchen bekommen ihre friedenspädagogischen Ermahnungen auf den Weg. Diese sind indessen nicht als neue friedenspädagogische Hausaufgaben zu lesen, sondern als Beschreibung dessen, was in den Kirchen bereits seit einiger Zeit in Wort und Tat praktiziert wird, weswegen sie uns als – wenn auch unvollständige – Beschreibung der friedenspädagogischen Vermittlungsbemühungen der Kirchen dienen können: den Gemeinden wird neben Gottesdiensten Aktionswochen für den Frieden, Friedensdekaden etc. das Eingehen von Partnerschaften mit Gemeinden in anderen Ländern und das konkrete Einüben von Versöhnung durch persönliche Kontakte mit ausländischen Mitbürgern und verstärktes Engagement in den kirchlichen Entwicklungshilfeorganisationen empfohlen. Die christlichen Eltern und Erzieher werden zu einer Intensivierung der Erziehung zu friedlichem Konfliktaustrag und Einsatz für den Frieden aufgerufen: Erwachsene und Jugendliche werden ermahnt, auch bei Enttäuschungen ihr Engagement nicht aufzugeben und sich besonders fr die Durchsetzung der oben erwähnten sicherheitspolitischen Forderungen an die Politiker stark zu machen; außerdem wird ihnen dringend empfohlen, der öffentlichen Meinung in Friedensfragen kritisch gegenüberzustehen und sich durch sachkundige Information lieber selbst ein Bild von der Lage zu machen. Als Hilfestellung dazu kündigen die Kirchenleitungen eine Verstärkung ihrer Aufklärungsarbeit in Form von weiteren öffentlichen Stellungnahmen, Sachinformationen (besonders für die kirchliche Bildungsarbeit) an und realisierten dies später auch; den kirchlichen Medien wird (ebenfalls erfolgreich) mehr friedenspädagogisches Engagement nahegelegt. Ähnliches gilt für den kirchlichen Religionsunterricht. EKD rät den Eltern zu einem Verzicht auf Kriegsspielzeug und warnt vor einer Vorführung von Gewalt im Schausport; GSF ruft zur Verstärkung der Arbeit für den Frieden bei den kirchlichen Verbänden, Fachgremien und kirchlichen Gemeinden auf.

Die Adressaten dieses Empfehlungskatalogs zeigen uns beispielhaft die ganze Breite kirchlich-friedenspädagogischer Einwirkungsmöglichkeiten auf die (sekundäre und tertiäre) Sozialisation von im kirchlich beeinflußten Raum Heranwachsenden: Das Kirchengemeinderatsmitglied, das die alljährliche Friedenswoche vorbereitet, praktiziert und erfährt ebenso Friedenspädagogik wie der Pfarrvikar, der mit seiner Konfirmandengruppe ein Rollenspiel zur Einübung von friedlichem Konfliktaustrag einübt oder Stellungnahmen seiner Kirchenleitung wie die gerade Besprochenen von der Kanzel verliest. Gleichzeitig gilt es, die starke Präsenz nonkognitiver, besonders handlungsorientierter Lerngelegenheiten für den Frieden zu konstatieren: Ohne dies hier motivationspsychologisch näher ausführen zu können, dürfte doch auf den ersten Blick einsichtig sein, daß der Jugendliche, der mit seiner Pax-Christi- oder Ohne-Rüstung-leben-Gruppe durch einen Informationsstand in der Fußgängerzone Passanten auf die Gefahren der Hochrüstung aufmerksam zu machen sucht, friedenspädagogischen Lernprozessen ganz anderer Art unterworfen ist, als er durch friedenspädagogische Unterrichtseinheiten im Schulunterricht erfährt oder als das Gemeindemitglied, das sich zur Teilnahme an einem der (zahlreichen) friedenspolitischen Seminare der kirchlichen Erwachsenenbildung entschlossen hat.

Wenden wir uns nun den Eigenarten des spezifisch religiös-christlichen Redens vom Frieden zu. Dieses weist nämlich bekanntermaßen einige inhaltliche Parallelitäten mit aus der Sozialpsychologie stammenden Lerninhalten der Friedenspädagogik auf: Erstens findet das psychologische Konstrukt „menschliche Aggressivität“, wie Religionspsychologen immer wieder betonen, 3 seine Entsprechung in der christlichen Vorstellung von der „Erbsünde“ (schon Kain erschlug seinen Bruder Abel). Damit zusammen hängt zweitens der sowohl von Theologie als auch von Sozialpsychologie vertretene Gedanke, daß zwischen dem Frieden mit sich selbst (d.h. auch dem gelungenen Umgang mit der eigenen Aggressivität), dem Frieden mit den „Nächsten“ und dem zwischenstaatlichen Frieden eine Wechselwirkung besteht. Beide dementsprechenden Lerninhalte der Friedenspädagogik sind dem kirchlich Sozialisierten also bereits vertraut. Drittens hat christliches Reden vom Frieden zum einen einen normativen Aspekt (vgl. die neutestamentlichen Aufforderungen zur Feindesliebe) und zum anderen einen prophetisch-eschatologischen Charakter (vgl. die Verheißungen der Bergpredigt). Dadurch entfaltet sowohl die appellative Kraft moralischer Standards als auch die bekanntermaßen mobilisierende und insofern affektive Wirkung 4 von Utopievorstellungen. Darüber hinaus geht kirchlichem Reden vom Frieden sehr oft eine stark metaphorische, genauer: in apokalyptische Termini gekleidete Beschreibung der Schrecken des Kriegs voraus.5 Diese dient (teilweise sogar explizit!) dazu, die Grauen des Krieges vor dem Vergessen zu bewahren und so den Einsam der Rezipienten für den Frieden zu befördern. So sprach z.B. Papst Paul VI. vom Krieg als „den unerhörten und verhängnisvollen Weltbränden, die die Menschheit dezimieren, ja fast völlig auslöschen können“, der immer „das Blutopfer unschuldiger Menschen und unzählige Zerstörungen“ im Gefolge hat und in dem „blinde und fanatische Mörder Massaker von so unglaublicher Brutalität anrichten wie das am 6. August 1945 in Hiroshima.“6 Vor der UN sagte er: „Die Erinnerung müßte genügen, daß das Blut von Millionen von Menschen, unzählbare und unerhörte leiden, nutzlose Gemetzel und schreckliche Ruinen den Pakt, der euch einigt, begründet haben. Dieser Eid müßte die zukünftige Geschichte der Welt ändern: Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg!“7 Und Papst Johannes Paul II. beschwor vor einem Millionen umfassenden Fernsehpublikum 8 die Gefahren des Atomkriegs und sagte dann: „Manche derjenigen, die die Realität eines bewaffneten Konfliktes zwischen Völkern niemals persönlich erlebt haben, möchten vielleicht die bloße Möglichkeit eines Atomkriegs beiseiteschieben. (…) Die fortwährenden Vorbereitungen zum Krieg, auf die die Produktion von immer stärkeren und komplizierteren Waffen hindeutet, zeigen, daß man zum Krieg bereit sein will.“ Daß solche Verbalisierungen des Schreckens der atomaren Drohung nötig und sinnvoll sind, hat die Friedenspädagogik in letzter Zeit zunehmend erkannt – allerdings mit einiger Verspätung, denn die sozialpsychiatrische Fachdiskussion über die psychischen Folgen der nuklearen Drohung beschäftigt sich bereits seit einiger Zeit mit der Tatsache, daß es eine individuelle Verdrängung des durch einen atomaren Krieg drohenden eigenen Todes, eine „nukleare Fühllosigkeit“ (R. J. Lifton) 9 gibt: „Die Angst muß weg – um jeden Preis!“ (H. Keupp) 10 Dieser Tendenz zur Verdrängung und Angstabwehr kann u.U. durch eine Verbalisierung des Schreckens begegnet werden – allerdings nur, wenn sie mit Hinweisen auf Handlungsweisen, in die der Einzelne seine Angst umsetzen und somit mit ihr leben kann, verbunden wird. Franz-Josef Esel formuliert das so: „An dieser Stelle wird vielleicht etwas deutlicher, warum manche Aktionen der Friedensbewegung auf verhältnismäßig wenig Resonanz stoßen, solange sie sich nur auf das Vermitteln von Angst beschränken. Wenn die erlebte Angst nicht zur Resignation führen soll, was lediglich eine noch stärkere Abwehrhaltung zur Folge hätte, dann müssen bei Aktionen, die auf das Vermitteln von Betroffenheit zielen, zugleich stets Handlungsweisen aufgezeigt oder angeboten werden, die es erlauben, wenigstens einen kleinen Teil dieser Angst produktiv umzusetzen.“11 Dieser sozialpsychiatrischen Forderung entspricht, wie wir gesehen haben, kirchliches Reden vom Frieden, denn dieses stellt seinen Hörern ja nicht nur die schrecklichen Wirklichkeiten eines Nuklearkriegs vor Augen, sondern ruft zugleich auch zum Engagement in den kirchlich angebotenen friedenspädapogischen Handlungsmöglichkeiten auf. Dabei wäre es indessen verfehlt, kirchlichem Reden vom Frieden ein generelles Wissen um die psychische Relevanz seiner Inhalte zu unterstellen. Denn dieses Reden geschieht nicht aus therapeutischer (auch nicht seelsorgerischer) Verantwortung, sondern entspringt schlicht traditionell vermittelten Sprach- und Denkgewohnheiten christlicher Theologie.

Nach dem hier Gesagten dürfte uns langsam klargeworden sein, daß es eben kein Zufall ist, daß z.B. die großen Kundgebungen und Demonstrationen der Friedensbewegung ob ihres Publikums häufig „einem Kirchentag ähnlicher als einer Demonstration“ 12 waren (und daß die christlichen Friedensgruppen dementsprechend im Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung dominierten) – obwohl der Anteil kirchlich Sozialisierter an ihren Gesamtjahrgängen derzeit nur bei ca. einem Zehntel anzusetzen ist. Wir wissen nun auch, daß es ebensowenig ein Zufall ist, daß viele der Embleme der Friedensbewegung (von der Friedenstaube über Friedenskreuze bis zum „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Aufstecker) der christlichen Symbolik entstammen oder daß sich z.B. bundesdeutsche Richter noch immer mit schöner Regelmäßigkeit mit pazifistischem Gedankengut vorzugsweise christlicher Provenienz konfrontiert sehen, wenn sie über manche Aktionen zivilen Ungehorsams oder Kriegsdienstverweigerungsverfahren zu befinden haben. 13 Schließlich wundert es uns nun auch nicht mehr, daß die Kirchen eine der wenigen gesellschaftlichen Großgruppen sind, in denen das Thema „Frieden schaffen“ auch nach Vollzug der NATO-Nachrüstung und bis heute eine vieldiskutierte Frage geblieben ist. Wohl aber bleibt eine Frage offen: Wenn Kirchen Friedenspädagogik zu ihrem Selbstverständnis zählen, wenn sie sie (wie wir nun vermuten dürfen, mit einigen Erfolgen) praktizieren – was hindert Friedenspädagogik eigentlich daran, in der Auseinandersetzung um ihre wissenschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Daseinsberechtigung auf, die Arbeit der Kirchen zu verweisen und auch die diesbezügliche institutionelle Zusammenarbeit mit ihnen zu verbessern? Nun: etwas mehr wechselseitige institutionelle Zusammenarbeit im friedenspädagogischen Wissenschafts- und Lernbetrieb wäre sicher möglich und bekäme sowohl der Friedenspädagogik als auch den Kirchen wohl nicht schlecht. Eine heilige Allianz zwischen beiden aber wird es solange nicht geben können, wie der volkskirchliche Charakter der Kirchen und deren damit verbundene Tendenz zur politischen Neutralität die Kirchenleitungen daran hindert, auf die politischen Entscheidungsinstanzen spürbaren Druck zur Erfüllung der eigenen friedenspolitischen Forderungen auszuüben. Denn diese entsprechen zwar, wie wir gesehen haben, inhaltlich dem, was auch in der Friedenspädagogik gelehrt wird, sind aber gerade deswegen im politischen Spektrum eindeutig als progressiv einzuordnen und würden somit eine (vermeintlich) kirchenpolitisch nicht vertretbare „Einseitigkeit“ bedeuten. Die Haltung beider großen deutschen Kirchenleitungen zum NATO-Doppelbeschluß hat dies gezeigt: die Kirchen verurteilten zwar moralisch sowohl Abschreckung als auch (fast) die gesamte staatlich praktizierte Sicherheitspolitik, sagten aber gleichzeitig deren (wenn auch eingeschränkte) vorläufige Duldung zu. So haben also schließlich beide, Friedens Pädagogik und Kirchen, ihre friedenspädagogische Schizophrenie: Beide praktizieren Friedenspädagogik – aber die Friedens Pädagogik selbst hat keine Wissenschaft dazu und die Kirchen nicht den politischen Gestaltungswillen.

Anmerkungen

1 Kabel, K.: Notwendig, wenn auch fast unmöglich: Die Erziehung zum Frieden. In: Materialien zur politischen Bildung 2,1974, S. 50 Zurück

2 So zu.: Dick, Lutz v. (Hg.): Lernen in der Friedensbewegung. Ideen für pädagogische Basisarbeit. Weinheim/Basel 1987 und Buddrus, V., Böversen. F. (Hg.): Auf dem Wege zu einer neuen Lernkultur. Ansätze für Friedenspädagogik. Baltmannsweiler 1987 Zurück

3 Vgl. Drewermann, E.: Der Krieg und das Christentum. Regensburg 1982 Zurück

4 Vgl. dazu Drewermann, E (a.a.O.), S. 338-42 Zurück

5 Textbeispiele hierzu finden sich in dem (sonst wenig überzeugenden) Aufsatz von Eugen Mahler: Christliche Botschaft und Apokalypse. Ein psychohistorischer Prozeß ohne Zukunft? In: Passet, P., Modena, E. (Hg.): Krieg und Frieden aus psychoanalytischer Sicht. München/Zürich 1987, S. 259-89 Zurück

6 Botschaft zum Weltfriedenstag 1976 vom 18.10.1975. Der Weltfriedenstag ist ein nachkonziliar eingerichteter, weltweit gefeierter Friedensgedenktag der katholischen Kirche. Zurück

7 Ansprache zu deren Vollversammlung 1965. Zurück

8 Ansprache vor dem Friedensdenkmal in Hiroshima am 25.2.1981. Zurück

9 Lifton, R. J.: Der Verlust des Todes. ober die Unsterblichkeit des Menschen und die Fortdauer des Lebens. Münster 1986, S. 411 Zurück

10 H.: Das Ende der „atomaren Gelassenheit“? Psychische Kosten der Bewältigung des Nicht-Bewältigbaren. In: Thompson, J.: Nukleare Bedrohung. Psychologische Dimensionen atomarer Katastrophen, München/Weinheim 1986, S. 194 Zurück

11 Esel, F. J.: Neurotische Angstlosigkeit und richtige Angst. Zur belebenden Funktion der Angst für die Friedenspraxis. In: Psychosozial 19, September 1983, S. 39. Vgl. ebenso Wilhelmer, B.: Emotionale Angst und rationales Handeln: kein Gegensatz. In: Bolm G. et al./Dt. Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (Hg.): Bewußtsein für den Frieden. Erster Friedenskongreß Psychosozialer Berufe. Weinheim/Basel 1984, S. 157-61 Zurück

12 FAZ (!)vom 12.10.1981 Zurück

13 In der Bundesrepublik gibt es ca. 750 kirchliche Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer. Zurück

Sebastian Klusak, M.A., ev. Theol. u. Pädagogik, Heidelberg

Allgemeinbildung durch Frieden – Frieden durch Allgemeinbildung (II)

Allgemeinbildung durch Frieden – Frieden durch Allgemeinbildung (II)

von Klaus Rehbein

Befreit die Allgemeinbildung zur Erkenntnis des Urbildes? Wolfgang Klafki schreibt in „Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts“ zustimmend zu Heydorn „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“: „Es ist das Ziel aller Bildung, Macht (bzw. Herrschaft; W. Kl.) aufzuheben, den freigewordenen Menschen an ihre Stelle zu setzen.“76 „Eine der zentralen Bestimmungen das Bildungsbegriffs der deutschen Klassik und gegenwärtiger, dort anknüpfender bildungstheoretischer Bemühungen besteht darin, daß Bildung als Allgemeinbildung ausgelegt wird. (…) Allgemein' besagt hier, daß Bildung eine Möglichkeit und ein Anspruch aller Menschen (…) ist (…). ,Allgemein' zielt weiterhin auf das Insgesamt der menschlichen Möglichkeiten (…). Die Bestimmung Allgemein' im Begriff der Allgemeinbildung meint schließlich, daß Bildung sich zentral im Medium des. Allgemeinen vollzieht (…), d.h. in der Aneignung von und der Auseinandersetzung mit dem die Menschen gemeinsam Angehenden, mit ihren gemeinsamen Aufgaben und Problemen.“77 – Zusammengefaßt: Unter der Kategorie Allgemeinbildung beziehen sich alle Menschen durch das Insgesamt der menschlichen Möglichkeiten auf das die Menschen gemeinsam Angehende. – Was ist das? Wie erfährt man das Allgemeine und wie begreift man seine Verbindlichkeit?

Nach Wolfgang Klafki ist es „eine schwierige, weithin immer noch ungelöste Frage, ob und wie Bildungseinrichtungen Kindern und jungen Menschen im Hinblick auf solche Schlüsselprobleme unserer Zeit auch erste Handlungserfahrungen ermöglichen können, und der Anspruch bleibt hoch, selbst wenn man sich klarmacht, daß Kinder- und Jugendbildung in dieser Hinsicht bestenfalls bis an die Schwelle ernster Entscheidungen, Verantwortlichkeiten, Handlungen vordringen können, Bildung also insofern – wie Erich Weniger das ausdrückte – notwendigerweise „im Vorhof des voll verantwortlichen Lebens verbleibt.“78 – „Es ist also bislang ungeklärt, ob und inwieweit einesteils die Bedingungen für fruchtbare, gegenstandsorientierte Lernprozesse und anderenteils die Bedingungen für fruchtbare Soziale gleichartig oder unterschiedlich sind.“79

Das ist aber das Problem: Der Grammatikunterricht und die Beschäftigung mit dem Lateinischen und Griechischen dienten nicht dazu die antiken Sklavenhaltergesellschaften als solche zu analysieren oder die römischen Zivilrechtsbegriffe in ihrer gesellschaftlichen Funktion zu bestimmen. Sie waren nicht die Grundlage für die Beantwortung der Frage, warum der Pergamonaltar 1886 als ein entscheidendes Symbol klassischer Kultur in das neue hohenzollernsche Macht- und Bildungszentrum Berlin transportiert wurde, wobei in der rechtsförmigen Übernahme der klassischen materialisierten Bildungsgüter – die „bedeutenden Steine“ Schillers 80 in die neuen machtbasierten Bildungszentren dem, aus dem Bildungssystem heraus als Bildungsgut entwickelten, Recht genau die Funktion zukam, zu deren Zweck es entwickelt worden war: Bildung durch Recht für Macht zu funktionalisieren. Bert Brechts spätere „Fragen eines lesenden Arbeiters“:

„Wer baute das siebentürige Theben?

In den Büchern stehen die Namen der Könige“

zu beantworten, wurde bildungsimmanent tunlichst vermieden. Die politisch verbindliche Erklärung vielmehr gab der berühmteste Schüler des Kasseler Gymnasiums, Wilhelm II., anläßlich einer Fahnenübergabe an die Schüler des Gymnasiums am 19.8.1911, aber nicht im Sinne Schillers: „Sie beschäftigen sich mit dem Studium der Antike. Legen Sie dabei den Hauptwert nicht auf die Einzelheiten des politischen Lebens. (…) Wenn die Wogen einmal über Ihnen zusammenschlagen, wenn so manche Erscheinungen der modernen Kunst und Literatur verwirrend und niederziehend wirken, so können sie immer wieder sich emporrichten an jenen Idealen des Altertums.“81 (Gerhart Hauptmann schrieb „Die Weber“ im Jahre 1892, „Die Ratten“ 1911.) Das galt also dann, wenn die so gebildeten Hauptleute und Leutnants den Volksschulabgängern und den späteren Abgängern aus Kerschensteiners Arbeitsschule befehlen mußten, „daß ihr eure eignen Verwandten und Brüder niederschießen oder -stechen müßt“ (Wilhelm II. bei der Rekrutenvereidigung in Potsdam am 23.11.1891).82 – Selbst wenn eingewendet würde, der Begriff Arbeitsschule habe sich gleichermaßen auf das Gymnasium wie die Volksschule bezogen, so ist das sicherlich richtig, hebt aber das Problem nicht auf, weil eben unter dem formalen Begriff der Arbeit inhaltlich unterschiedliche Lern- und Arbeitsvorgänge unterschiedliche Bildungsqualifikationen und damit in der so gewonnenen Herrschaftsstruktur unterschiedliche gesellschaftliche Positionsbeschreibungen bewirkten: Wenn Kerschensteiners Fundamentalsatz ist, daß es für Krieg und Frieden nur ein identisches Erziehungsziel für die sittliche Entwicklung des Charakters und für die Kulturentwicklung des Volkes gibt, weil eben der Frieden nur eine andere Form des Kampfes als der Zielbestimmung des Menschen, der Krieg also nur ein dem Frieden gegenüber gesteigerter Kampfzustand ist, so folgt daraus, daß die Erziehung schon in Friedenszeiten nach diesem Fundamentalsatz zu organisieren ist, denn der Krieg ist dann das kulturelle und gesellschaftliche Movens überhaupt.83 – In diesem Verständnis von Sittlichkeit ist die Aufgabe der öffentlichen Schule zu interpretieren, nämlich

„1. Die Vorbereitung auf den zukünftigen Beruf des einzelnen im Staate;

2. die Versittlichung dieser Berufsbildung;

3. die Befähigung des Zöglings an der Mitarbeit der Versittlichung des Gemeinwesens selbst, dessen Glied er ist.“84

Das entscheidende Definitionselement von Sittlichkeit ist aber für die Volksschüler entsprechend der Aufgabe der Arbeitsschule, „mit einem Minimum von Wissensstoff ein Maximum von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Arbeitsfreude im Dienste staatsbürgerlicher Gesinnung auszulösen“85 um die dem Gesetz der Sache gehorchende Sachlichkeit im Rahmen der Berufsbildung zu erreichen, während die aussichtsreichsten Möglichkeiten zur Durchführung der dritten Aufgabe nur die höheren Schulen bieten: „Alle diese Hindernisse kennt die höhere Schule nicht. Dazu kommt, daß namentlich in den oberen Klassen die Lektüre der deutschen und fremden Klassiker sowohl als auch der intensive Geschichtsunterricht auf die Kulturprobleme der menschlichen Gesellschaft und auf die Aufgaben des Staates führt und daß damit eine wissenschaftliche, das heißt eine objektive Belehrung über die Aufgaben des Staates und über die Pflichten der Staatsbürger von selbst nahegerückt wird.“86 Daß aber die Arbeitsschule im Sinne der behaupteten Kulturaufgabe der Deutschen funktional war, davon ging das gebildete Deutschland aus: „Der Krieg forderte, und fordert jeden Tag neu, ein hohes Maß eigener Initiative. (…) Vielfach das Beste haben unbestritten unsere Reserveoffiziere, unsere älteren, besonders technisch geschulten und erfahrenen Mannschaften vollbracht. (…) Die Arbeitsschule, die hoch differenzierte Einheitsschule Kerschensteiners ist der genaue Ausdruck der pädagogischen Konsequenz dessen, was im Bedürfnis und im lebendigen Strome des Zeitlebens schon lag, diese Losung wird und muß siegen.“87 Das heißt aber: Sowohl der formale Grammatikunterricht als auch die inhaltliche Beschädigung mit dem Lateinischen und Griechischen dienten sehr wohl dazu, durch gegenstandsorientierte Lernprozesse soziale Lernprozesse einzuleiten und zu vollenden, und das heißt weiterhin, daß unter der Kategorie Bildung gegenstandsorientierte und soziale Lernprozesse für die Oberschicht identisch waren und sind. Das hat immer funktioniert und setzte sich im Corps-Studententum fort.88 Damit aber haben die Heranwachsenden der Oberklasse gegenüber den Proletariern der Unterklasse sehr wohl in ihrem Bewußtsein die Schwelle ernster Entscheidungen, Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten in ihrer gesellschaftlichen Lebenswelt existentiell überschritten, und zwar unabhängig davon, ob sie Militärs oder Wissenschaftler wurden, denn Spranger zitiert nach einem Hinweis auf den humanen und humanistischen Wert formaler Abschreibeübungen zustimmend Nietzsches „Der Wille zur Macht“: „Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig; und näher besehen, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. (…) Jede deutsche Schule, wie sie sich auch nenne, welchen Zweig des Wissens und der Arbeit sie auch bevorzuge, muß in dieser Dreieinigkeit (Christentum, Preußentum, Goethe! K. R.) ihren Mittelpunkt haben.“89 Da aber nicht der Volksschüler und der Lehrling, sondern der Gymnasiast und der militärische Einjährige befehlen werden, heißt das, daß die identischen Gegenstands- und sozialen Lernprozesse notwendigerweise nicht im Vorhof des vollverantwortlichen Lebens bleiben, sondern als Bewußtseinsinhalte antizipierter Zukunft vollverantwortliches Leben gegenüber der nachgeordneten Klasse sind. Im Zentrum dieses nachhumboldtschen verwahrlosten und antiaufklärerischen Bildungsbewußtseins, in dem das Glaubensbekenntnis an das klassische Bildungsideal folgerichtig zur Identität von Priester und Erzieher führt 90 und somit die Befähigung zu rationaler, gesellschaftsorientierter Analyse konkret verhindert, steht notwendig die Kriegspädagogik, denn nur durch ihre Vermittlung wird endgültig die Schwelle ernster Entscheidungen, Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten im Spiel und im Ernstfall überwunden werden. Krieg ist der Inhalt von Spiel, Langemark, Guernica, Stalingrad, Auschwitz, Hiroschima und des Genozids, der Frieden kann nicht gespielt werden, als Ernstfall hebt er die Klassengegensätze auf.

Herrschaft durch Bildung ist notwendig eine Handlungsanweisung zum Krieg.

II. Allgemeinbildung ohne Frieden

Bringt herrschaftsfreie Allgemeinbildung Frieden? Folgerungen für eine Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Funktion von Erziehung zu ziehen erweist sich als schwierig. In dem von unterschiedlichen Interessen und auch kapitalgesteuerten Beziehungsgefüge von Staat und Pädagogik kann und darf es wegen der widersprüchlichen Zielvorgaben eine Friedenserziehung als Fundamentalpädagogik noch nicht geben. Zwar ist mit dieser Sachverhaltsfeststellung das Beziehungsgefüge von Frieden und Pädagogik angesprochen. Wenn aber nun Peter Heitkämper aus der prinzipiell richtigen Erkenntnis heraus, daß, systemtheoretisch formuliert, „Friede heute (…) die Ordnungsform des Überlebens“ ist, 91 folgert, daß „Friedenserziehung die Bedingung der Möglichkeit von Überleben“, 92 Friedenspädagogik also keine Bindestrichpädagogik, sondern schlechthin Fundamentalpädagogik sei, 93 so wird damit der Pädagogik als der begrifflichen Einheit von Erziehungsgeschehen, Erziehungsorganisation und deren Wissenschaft genau die gesellschaftliche Funktion zugewiesen, die sie nicht erfüllen kann und nie erfüllt hat. Wir haben es insofern mit einer akratischen Handlungsstruktur zu tun, als systemimmanent „eine Handlungsbeschreibung gewählt wird, die die mit dem Handeln verfolgten Ziele nicht erreichen kann, (obwohl sie wegen dieser Situation als paradox in dem Verständnis zu definieren ist, als die erziehungszielrelevante semantische Überbauproduktion über das Wesen des Menschen und sein Freiheitspostulat in direktem Widerspruch zu den gesellschaftlich unfriedlichen Sozialisationsvoraussetzungen steht. Nachdem die humane Kompetenz der Aufklärung zur humanen Inkompetenz des angeblich guten Herzens des deutschen Bildungsbürgertums verwahrlost wurde und diese die inhumane Kompetenz des verbrecherisch organisierten bösen Willens der SS-KZ gebar – die Organisatoren der KZ-Nebenlager zur Buna-Produktions-Werkstätte Auschwitz zum Beispiel waren sehr gebildete Akademiker und als Absolventen deutscher Gymnasien und Universitäten keine primitiven Mörder der Unterschicht, sondern Täter im gesellschaftlichen Kontext, und das nicht deshalb, weil sie etwa Eheschwierigkeiten gehabt oder in zerrütteten Familienverhältnissen gelebt hätten 95 -, muß der Versuch gewagt werden dürfen, Begriff und Funktion von Erziehung und Bildung in anderem Zusammenhang neu zu bedenken.

Es ist davon auszugehen, daß die Friedensbewegung Erwachsene und Jüngere gleichzeitig erzieht. Die Friedensbewegung „ist insofern das Ende der intentionalen Pädagogik, als sie keine oder kaum souveräne Erwachsene kennt, die Kindern viel voraus haben, sondern eher Solidargemeinschaften der Aufgestörten, der gemeinsam in eine Richtung Schauenden“96 sind. In diesem Zusammenhang ist die Angst der Kinder ein Konstitutionsprinzip gegenwärtiger Erziehung beziehungsweise ihres zunehmenden Versagens in weiten gesellschaftlichen Feldern, und wegen des damit implizierten Mündigkeitsparadoxons 97 gilt entschieden nicht: „Erziehung kann nur die Ansichten der Generation der Erziehenden weitertragen.“98 Allerdings ermöglichen die Versuche einer positiven Neubestimmung des Sinns von Erziehung im Atomzeitalter notwendig noch nicht den Ausblick in ein klassisches Theoriegebäude. Kern-Wittig stellen ihre Frage, welche Bildung notwendig sei, damit wir im Atomzeitalter leben können, im Rückgriff auf Th. S. Kuhn in den wissenschaftstheoretischen Zusammenhang, „daß die Wirklichkeit nur auf die Fragen antwortet, die an sie gestellt werden“.99 Stellen wir aber die richtigen Fragen, oder stauben wir nur Vitrinen in einem brennenden Haus ab? Muß die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis auch in einen neuen erkenntnistheoretischen Zusammenhang gestellt werden? Es gibt dazu viele Versuche, insbesondere aus der Heisenbergschen Unschärferelation und ihrer Kopenhagener Deutung, neuerdings auch aus Maturanas Autopoiesis-Begriff allgemeinwissenschaftliche Folgerungen und vornehmlich solche für die Pädagogik zu ziehen. Wenn z.B. Rolf Huschke-Rhein unter Berufung auf Harald Fritzsch davon ausgeht, daß das viel diskutierte Geist-Materie-Problem nach den Erkenntnissen der modernen Physik eine neue Antwort erhalten habe, „da in der subatomaren Physik keine kleinsten Materieteilchen gefunden wurden, sondern nur Beziehungen (…), ist die Trennung von Geist und Materie falsch.“100 so muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß der Text von Fritzsch diesen Schluß nicht rechtfertigt, den Quarks existieren zwar nicht als freie, sondern nur innerhalb von „weißen“ Teilchen“101: aber sie existieren. Im übrigen sind über Hiroshima und Nagasaki nicht Beziehungen in ein Reaktionsgefüge mit tödlichem Ausgang gesetzt worden, sondern es ist Materie zur Explosion mit den bekannten Folgen gebracht worden. Und wenn weiterhin aus der Heisenbergschen Unschärferelation bzw. den Wahrscheinlichkeitswellen die Folgerung gezogen werden soll: „denn danach leben wir in einer „merkwürdigen Art von Realität“, die „etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht““102, so führt auch dieses Denken notwendig in die Irre. Denn der Wahrscheinlichkeitsbegriff von Niels Bohr bedeutet, wie Heisenberg analysierte, lediglich „die quantitative Fassung des alten Begriffs der Dynamis oder „Potentia“ in der Philosophie des Aristoteles. Sie führte eine merkwürdige Art von physikalischer Realität ein, die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht“.103 Das heißt aber nicht, daß wir in einer solchen Wirklichkeit leben oder diese sind. Da die Quantenmechanik lediglich „von Versuchsanordnungen, bei deren Beschreibung die Ausdrücke „Lage eines Teilchens“ und „Geschwindigkeit eines Teilchens“ nicht zugleich verwandt werden können“104, spricht, folgt, daß die physikalischen Begriffe nicht von der Natur „an sich“, sondern lediglich von den Beziehungen des Menschen zur Natur handeln. Das heißt, „die Quantentheorie (…) führt Objekte als Objekte für Subjekte ein. Aber sie beschreibt die Subjekte nicht (…) (Sie) kennt nur das transzendentale Subjekt, und zwar ohne Reflexion auf die Einheit der Apperzeption.“105 Das bedeutet aber, daß auf diesem Wege die Einheit von Natur – Mensch nicht abgeleitet werden kann, denn, „wenn sich aus Molekülen Menschen entwickeln, sind Moleküle (nur; K. R.) virtualiter cogitantia, der Möglichkeit nach bewußt“106. Damit ist die Identifizierung eines erkenntnistheoretischen Aussagegefüges: Wie erkenne ich Welt?, mit einer ontologischen, also Seins aussage: Was bin ich?, uneingeschränkt falsch und führt damit nicht zu einem als moralisch oder ethisch definierbaren Handeln. Somit müssen die Versuche, mit aus der Unschärferelation abgeleiteten Begriffen eine mehrwertige Logik in die Friedensdiskussion und das Beziehungsgefüge Mensch – Natur einzuführen, 107 letztlich fehlgehen. Die Wahrheitsfrage hinsichtlich Krieg – Frieden kann nur zweiwertig nach dem Entweder-Oder entschieden werden. Ein anderes Entscheidungsschema läßt die Opferfrage unter der Kategorie tot – lebendig nicht zu, und weder Prigogine/Stengers (Dialog mit der Natur) oder Jantsch (Die Selbstorganisation des Universums) noch Bateson oder weitere Analysen gebieten andere Interpretationen. Wir bedürfen in diesem Zusammenhang nicht eines vernetzten Denkens, 103 sondern des Erkennens und Bedenkens der Vernetzung menschlicher Existenz in den verschiedensten Systemen, in denen „die Menschheit sowohl einen Teil der Schöpfung als auch deren Verwalter darstellt; sie ist ein Produkt und ein Instrument der Evolution“109. – Damit ist nichts ausgesagt über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und die Logik der Kausalität. „Die göttlichgegenwärtige Natur bedarf der Rede nicht.“ (Hölderlin) Die Natur bedarf nicht des Menschen, auch wenn sie ihn hervorgebracht hat. Erst mit dem theoriebasierten Erkenntisstreben des Menschen und den nachfolgenden Handlungsstrategien und Handlungsabfolgen ergibt sich das System Mensch – Natur. Erst in diesem Zusammenhang muß der Mensch sowohl um der Natur als auch seiner selbst als eines Teiles der Natur willen die Wahrheitsfrage nach dem Sinn von Sein aus dem Prinzip der Verantwortung heraus für die Natur und sich selbst stellen. Die Natur ist damit dem Menschheitsethos aufgegeben.

Geist als die entscheidende Kollektivform menschlichen Seins ist als Ergebnis des sich selbstorganisierenden Universums die Solidarform des Menschen mit der Natur. Somit ist Friede heute, nach der Kenntnis von der bisherigen historischen Entwicklung der Menschheit, ein Zustand des Geistes und der geistigen Arbeit, nicht der Zustand von Nationen und der todes- und vernichtungsorientierten perversen Dumpfheit ihrer Gefühle im Kapitalverwertungsüberbau. Anders ist Friede nicht möglich.

In diesem Verständnis erfordert eine in eine Theorie des Friedens eingebundene Erziehungstheorie als prima causa nicht die Rekonstitution des Subjekts aus einer zerbrochenen abendländischen Bildungstheorie“110 mit der Folge einer Friedenspädagogik als pragmatischer Disziplin zur Sicherung politischer Grundgegebenheiten, sondern notwendig ist die Konstitution der Gattung als eines weltweiten Bewußtseinskollektivs unter der Kategorie Frieden als einziger Menschheitsalternative zum abendländisch bisher noch nur der Möglichkeit nach geplanten, im Falle des Ereignisses dann aber kollektiv erlittenen Menschheitstod. Wenn wir von der „unbedingten Pflicht der Menschheit zum Dasein“ und damit der Pflicht zur Zukunft“111 ausgehen, die als humane Zukunft auch durch die Ethik der Nichtforschung Nichtentdeckung (Gentechnik!) geprägt sein wird, erweist sich Hegels Bildungsbegriff, geprägt in seiner Theorie der Sittlichkeit und bestimmt für die bürgerliche Gesellschaft, von außerordentlicher Brisanz: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestaltung der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein 112, Wenn die zur Gestalt der Allgemeinheit erhobene unendlich subjektive Substantialität der Sittlichkeit, wenn also Bildung des menschlichen Geschlechts prinzipiell sowohl die Geschichte des Menschen als auch „stetiges Freilegen von Zukunft als Verwirklichungsprozeß des Menschen“113 ist, so muß man für die Gegenwart davon ausgehen, daß der „Bildungsauftrag auf den Trümmern der bürgerlichen Zivilisation an die Gattung zurückgegeben ist.114 Wenn der Mensch sich durch Zerstörung seiner Identität aus Vergangenheit und Zukunft verabschieden will, so ist dieses Ende von Sein auch Ergebnis der dem Ausbeutungskapitalismus durch die Trennung von Bildung und Ausbildung geschuldeten Solidaritätsverweigerung. Der mögliche Zugriff des Menschen auf seine Zukunft durch ihre Beendigung führt vorab zu „fortschreitender Fäulnis, zur psychischen Verelendung des Menschen in den industriellen Zentren und zu neuen Formen eines weltweiten Klassenkampfes der unterdrückten und ausgehungerten Völker“115. – Hitler hat seine persönliche Lebenszeit mit der Weltendzeit gleichzusetzen versucht. Wird durch den im eschatologischen Endzeitbewußtsein erneut versuchten Zusammengriff von Lebenszeit und Weltzeit der Totalfaschismus endgültig inthronisiert.116 Wenn die in unserer Rechtsordnung (Art. 1 GG) 117 festgeschriebene unantastbare Menschenwürde jedem Mitglied des Gattungskollektivs eignet und damit zugleich konstitutiv für alle Menschen als Rechtssubjekte ist, verletzen wir unter der Kategorie Solidarität mit der atomaren Todesdrohung immer mit und in unserem Menschsein das Menschsein aller Menschen. Dieses und nur dieses ist heute das alle Menschen, also die Menschheit angehende Allgemeine. In diesem Verletzungsgefüge lebt die Menschheit unter der Drohung der Atombombe durch die Negation von Recht in einem rechtsfreien Raum. Die sich so selbst Regierende Menschheit produziert als ihre Negation Terrorismus und Krieg. Hieraus und aus der historischen Erfahrung gefolgert ist die Verwirklichung von Frieden die Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung von Recht als einer notwendigen Voraussetzung der Verwirklichung von Bildung als einem Konstitutionsprinzip von Menschsein und Menschheit im ursprünglich aufgeklärten Verständnis. Aufgeklärt handeln heißt heute die Natur nicht als auszubeutendes Material auszumerzen (Horkheimer), weil die Natur uns in ihrer physischen Schöpfung den Weg weist, den wir in der moralischen zu wandeln haben. Denn „nicht eher, als bis der Kampf elementarischer Krähe in den niedrigem Organisationen besänftiget ist, erhebt sie sich zu der edeln Bildung des physischen Menschen.“ Das schrieb Friedrich Schiller bereits 200 Jahre vor Prigogine und Jantsch“118, präzise ist das aber auch in anderem Zusammenhang bereits die Weisheit des Alten Testamentes, nämlich die innige Verbindung von Schöpfung und Bund, von Natur und Moral.119 Es ist uns verheißen, daß wir können; wir müssen das Können aber wollen, denn „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“120 Aufgeklärte Erkenntnis heute hat zum Inhalt, daß der Mensch mit der Vernichtung seiner physischen Basis, der Natur, durch Umkehrung seines Wesens (seiner inneren Natur) mit demselben seine Moralität und dann mit dieser Aufhebung seiner Moral durch Krieg sich selbst endgültig vernichtet. Hiergegen gewendet ist Friede die notwendige und hinreichende Bedingung der Möglichkeit humaner Existenz.121 Er ist ihr systematisch und nach der bisherigen historischen Erfahrung heute auch zeitlich vorgeordnet.

Hieraus gefolgert können Krieg und Frieden heute nicht mehr gleichzeitig bedacht und getan werden, wenn Frieden denn wirklich sein soll. Aus der Kategorie der Allgemeinheit abgeleitet kann es heute nicht Frieden in Europa und zugleich Krieg in Vietnam, Afghanistan, Nicaragua und Südafrika geben. Wenn Krieg und Frieden gleichzeitig sind, ist nur Krieg, wenn denn die philosophische, pädagogische und juristische Rede von der Allgemeinheit und dem friedensbegründenden klassischen Bildungspotential einen Sinn haben soll.

Nach dem Ursprung und Sinn einer ungleichzeitigen Gleichzeitigkeit war schon einmal zu fragen und ist es noch: Als Martin Heidegger von 1942-1944 in seinen Hölderlin- und Heraklit-Vorlesungen dem Nationalsozialismus in dem damals gegenwärtigen planetarischen Krieg geschichtliche Einzigartigkeit zuerkannte und den Deutschen die weltgeschichtliche Besinnung zuwies, das Abendland in seine Geschichte zu retten,122 philosophierte er gegen eine gleichzeitige historische Lage, die Paul Celan in seiner „Todesfuge“ 1952 so beschrieb:

„der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Er ruft streicht dunkler die Geigen. Dann steigt ihr Rauch in die Luft. Dann habt ihr ein Grab in den Wolken daliegt man nicht eng.“

Die Krematorien aber waren noch nicht erkaltet, als 1945 bereits wieder die pädagogische Autonomie gegen „den schmerzgebeugten Zug von Selbstbemitleidung und Hoffnungslosigkeit“123 und für eine innere „Unabhängigkeit (…) gegenüber unserer eigenen Unzulänglichkeit“124 beschworen wurde. Aus der Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes sollte der selbsterteilte, aber bisher unvollendete historische Auftrag zur erneuten Übernahme von Verantwortung für die abendländische Verantwortung innerhalb der Menschheit nunmehr endlich vollendet werden.125

Nein, sie begriffen nicht, daß eine Diskussion über die moralbildende Kraft in unserem Zeitalter 126 einer anderen Ausgangslage bedurft hätte als die frühere Feststellung, daß Ideologien mehr als Wissenschaft seien, weil sie Sinn und Ziel vorgäben und nicht nur Sein und Wege beschrieben wie Wissenschaft.127 Eine Erziehungswissenschaft, die 1937/39 in ihren Denkhorizont den gesunden Sinn des Nationalsozialismus für die Reinerhaltung des Blutes und das Kriegsschlachtfeld als den legitimen Ort für moralische Entscheidungskämpfe eingeschlossen hatte, war zu einer systematischen Wissenschaftlichen Analyse über ihre objektive historische Funktion und ihre Aufgabenstellung weder fähig noch willens.129 Und eine „Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute (1950)“130, die ihre jüngste Geschichte aus ihrem Wahrnehmungshorizont total ausgeblendet, verfehlt ihren Erkenntnisgegenstand und damit ihren historisch begründeten Erziehungs- und Bildungsauftrag. Entsprechend benötigte auch das damals insoweit nur marginal veränderte und strukturell weitergeführte schulische Bildungssystem lediglich unterrichtsdidaktische Beispiele, die etwa in der Ostkolonisations- und Vertriebenenproblematik stecken blieben, sich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich auf formale Gesetzmäßigkeiten bezogen oder das Bewußtsein an der Idylle schulten.131 Jedenfalls wurde Auschwitz – insofern mit Notwendigkeit – nicht gewählt und somit damals die – später 132 geschworene – friedenspädagogische Perspektive der humanistischen Bildungsphilosophie konsequent verfehlt. Aus diesem Grundverhältnis der damaligen deutschen Erziehungswissenschaft zum Nationalsozialismus vor, während und nach 1933-45 gefolgert, kann es, bezogen auf den Krieg, heute keine Friedenserziehung als sogenannte Bindestrichpädagogik neben anderen Pädagogiken geben. Notwendig und damit ausschließlich gefordert ist vielmehr eine Fundamentalpädagogik der Art, daß auch mit ihr und durch sie die Bedingungen der Möglichkeit von Frieden gemeinsam überhaupt erst bedacht, getan, erfahren, gelernt, durchgesetzt und gebildet“ werden müssen. Die Hoffnung auf eine Friedenspädagogik als Fundamentalpädagogik ist die Antwort auf das fundamentale Versagen der Nichtfriedenspädagogik. Diese erzwingt die Pädagogik des Widerstandes gegen den Krieg durch Aufklärung für den Frieden:

Frieden wird nur noch widersprüchig durch aufklärende Bildung und widerständiges Handeln wirklich. Seine Pädagogik ist Fundamentalpädagogik des Widerspruchs und Widerstandes. Ihre Didaktik ist Gewaltlosigkeit.133 Die Divergenz von an Gewaltanwendung gebundener gegenwärtiger gesellschaftlicher Sozialisation und den Verfassungskategorien Würde, Freiheit und Gleichheit wird nur durch solches Friedenshandeln 134 überwunden.

Friede durch Allgemeinbildung? – Allgemeinbildung durch Frieden! Denn Friede sei der Logos aller Dinge.

-> Teil 1

Literaturergänzungen

Forman, Paul – Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918-1927: Adaption by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment, in: Historical Studies in the Physical Sciences, Third Annual Volume, Philadelphia, 1971, S. 1-115
Herrmann, Ulrich; Oelkers, Jürgen (Hrsg.) – Pädagogik und Nationalsozialismus, Zeitschrift für Pädagogik, 22. Beiheft, 1988
Herrmann, Ulrich; Oelkers, Jürgen – Zur Einführung in die Thematik „Pädagogik und Nationalsozialismus“, in: dies. (Hrsg.), 1988, S. 9-17
Huschke-Rhein, Rolf – Systempädagogische Wissenschaftslehre als Bildungslehre im Atomzeitalter, 19882
Nohl, Herman – Die Ideen der auswärtigen Politik 1915 a, in: ders., 1929, S. 135-145
Oelkers, Jürgen; Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.) – Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie, 1987
Rang, Adalbert – Zur Bedeutung des Allgemeinen im Konzept der allgemeinen Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1986, S. 477-487
Selleri, Franco – Die Debatte um die Quantentheorie 1983

Anmerkungen

76 Klafki, 1985, S. 14, Heydorn, 1979, S. 336 Zurück

77 Klafki, 1985, S. 17 f. Zurück

78 „Vgl. E. Weniger, Bildung und Persönlichkeit. In: E. Weniger: Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Weinheim 1953, S. 123-140; Zitat S. 138.“ Zurück

79 Klafki, 1985, S. 24 u. 76 Zurück

80 Vgl. Anm. 75. W. Weiss, S. 9: „Die Eingeweihten (…) sprachen von Kunst, (…) die anderen aber, die nicht einmal den Begriff von Bildung kannten starrten verstohlen in den aufgerissenen Rachen spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch.“ Zurück

81 Johann, 1977, S. 123 f.Zurück

82 ib., S. 56 Zurück

83 Kerschensteiner, 1916, S. 12 f.: „So ist der sittliche Charakter das aus den natürlichen Verhältnissen in des Menschenbebens, das aus seiner Kamptbestimmung gegebene Erziehungsziel, gleichviel, ob wir unser Auge auf den blutigen Krieg oder den unblutigen Frieden richten, der nur eine andere Form des Kampfes sein kann, wenn er ein Frieden der Kulturentwicklung sein soll und nicht ein Kirchhofsfrieden. Das ist der Fundamentalsatz, wenn wir von Krieg und Volkszerziehung reden wollen. Was immer für spezielle Aufgaben der Krieg bringt, aus seinem dem Frieden gegenüber gesteigerten Kampfzustand folgt nur, daß keine dieser Aufgaben gelöst werden kann, ohne daß wir die Erziehung schon in Friedenszeiten nach diesem Fundamentalsatz organisieren.“ Kerschensteiner, 191 1, 1961, S. 99 Zurück

84 Kerschensteiner, 191 1, 1961, S. 99 Zurück

85 ib., i.V.m. S. 60 f. Zurück

86 ib., S. 73 Zurück

87 Natorp, S. 32 f. Zurück

88 Vgl. Doeberl, 1930, Bd. 4, der die Bilder der Wappen der studentischen Verbindungen zum einzigen Inhalt hat! Zurück

89 Spranger, 1968, S. 269 f.; Nietzsche, Nr. 912 Zurück

90 Spranger, 1968, S. 269 u. 271 Zurück

91 Heitkämper, 1984 a, S. 32 Zurück

92 ib., S. 33 Zurück

93 ib., S. 35. – Im Kanon der Schlüsselprobleme als ein Problem unter anderen Problemen gesehen von Klafki, 1985, S. 20 f. – Vgl. insoweit Kern, 1986 a, S. 4. Als eine Pädagogik neben z.B. Verkehrserziehung wahrgenommen z.B. v. Büchner, S.51 Zurück

94 Luhmann, 1987, S. 64 Zurück

95 Vgl. z.B. Borkin; Enzensberger; Ferencz; Schnabel Zurück

96 Frommann, S. 52 Zurück

97 Klemm, S. 169 Zurück

98 Flitner, S. 771; vgl. auch de Haan, S. 209 ff., oder Solle, S. 47: Die Armen sind die Lehrer. Zurück

99 Kern-Wittig, 1985, S. 63 Zurück

100 Huschke-Rhein, S. 90 Zurück

101 Fritzsch, S. 182, vgl. auch z.B. S. 222, 253 Zurück

102 Huschke-Rhein, S. 40. Rolf Huschke-Rhein hat die von ihm so angenommen wissenschaftstheoretischen (vgl. insb. S. 40, 90 u. passim) Voraussetzungen in die zweite Auflage 1988 übernommen Zurück

103 Heisenberg, S. 102 Zurück

104 Frank, S. 308. Vgl. Rehbein 1968, Kap. 1 Zurück

105 Weizsäcker, 1977, S. 581. Vgl. ders., 1979, S. 224 ff., S. 226 und ders. 19862, S. 527: „Phänomen ist, was ein Beobachter wissen kann, seine eigenen Gehirnvorgänge sind aber für den Beobachter kein Phänomen.“ S. 530: „Er wird in der Beschreibung des Experiments nicht mitbeschrieben. Er ist vielmehr derjenige, der es beschreibt. Dabei kommt es aber auf ihn als individuelle Person gerade nicht an.“ Vgl. auch ib. S. 638 über die „Meute auf einer richtigen Spur“, die aber die „Strenge der Philosophie wahrscheinlich meist gar nicht als Möglichkeit wahrgenommen hat“. Gleichwohl wurde man „sich einer Illusion hingeben, wenn man annehme, daß physikalische Gesetze eine äußere Welt unabhängig von einem Beobachter beschreiben. In welchem Sinn sind dann aber die Gesetze noch objektiv? Wir sagen, sie sind objektiv, wenn sie für jeden Beobachter „reproduzierbar“ sind und allen Beobachtern „dasselbe“ sagen.“ (Delbrück, S. 305 u. Rehhein, 1968, S. 16 ff., insb. S. 28). – Zum gegenwärtigen Erkenntnisstand vgl. auch Selleri, 1983, und über den Zusammenhang von gesellschaftlich rückgekoppeltem intellektuellem Milieu und physikalischer Theoriebildung Forman, 1971 Zurück

106 Weizsäcker, 1977, S. 586 Zurück

107 So Heitkämper, Über die Notwendigkeit der Friedenspädagogik, zum systematischen Paradigma fortzuschreiten, MS, S. 3: Prigogine bestärkt uns darin, daß eine mehrwertige Logik friedlichere Zustände hervorbringt; S. 4: Es ist eine lllusion, zumindest nach der grundlegend gültigen HEISENBERGSCHEN Unschärferelation, exakt-linear die Ursache von Wirkungen bestimmen zu wollen. Vgl. ders., 1986 a, S. 46. Zur Logikstnuktur vgl. Maturana, insb. S.224f. Zurück

108 so jedoch Vester, S. 55 ff. Zurück

109 Ferguson, S. 475 Zurück

110 so jedoch Miller-Kipp, 1984, S. 617 Zurück

111 Jonas, S. 80 u. 84 Zurück

112 Hegel, § 187 Zurück

113 Heydorn, 1974, S. 285 Zurück

114 ib., S. 287 Zurück

115 ib., S. 293 Zurück

116 Vgl. Blumenberg, S. 81 ff. Vgl. zur eschatologischen Dimension Fuchs, insb. S. 258 ff. Zurück

117 Bloch, 1961, S. 13: „Dergestalt also, daß weder menschliche Würde ohne ökonomische Befreiung möglich ist noch diese, jenseits von Unternehmern und Unternommenen jeder Art, ohne die Sache der Menschenrechte.“ Vgl. auch Rehbein 1986 u. Rehbein 1987a Zurück

118 Schiller, Siebenter Brief; vgl. Prigogine; Jantsch Zurück

119 Weizsäcker, 1983, S. 370; 3. Mose 26 Zurück

120 Kant, 1. Satz Zurück

121 Falsch Miller-Kipp 1986, S. 796: „Neben Frieden kennt die Erziehung gleichwürdige regulative Ideen: Humanität beispielsweise und Morairtät.“ Der Satz bedeutet logisch, daß es im Krieg Moralität gibt. Dieses Verhältnis von persönlicher und offentlicher Moral Ware aber das z.B. von den Nazigrößen gelebte, die ihrem persönlich bekannten Juden über die Grenze verhalfen und zugleich den Genozid in den KZ betrieben. – Vgl. insoweit z.B. über Eichmann: Klepper, Tagebucheintragungen 7. Dez.-10. Dez. 1942 Zurück

122 Heidegger, 1979, S. 108, 123, 181; ders., 1984, S. 68, 98, 106. – Henrmann/Oelkers, 1988, stellen einen Mangel in der Erziehungswissenschaft fest (S. 10): „Andere Wissenschaften haben längst die Frage gestellt, was der Nationalsozialismus positiv zur Konstituierung oder zur Gesellschaftlichen Etablierung ihres Faches beigetragen hat.“ (nach Abschluß des MS veröffentlicht); die nunmehr zu führende Diskussion dürfte von hoher Brisanz sein Zurück

123 Weniger, 1945/1964, S. 371 Zurück

124 ib.Zurück

125 Weniger, 1949, S. 29 u. 45 Zurück

126 Spranger 1961 Zurück

127 Ders., 1937, S. 242. – Vgl. Weniger, 1938, insb. S. 184 f.,186 f.,191 f., S. 192: „bedingungslose Hingabe an die Verteidigung von Volk und Staat (…) fragloser Gehorsam, Pflichterfüllung bis zum Einsatz des Lebens (…) können weder durch ein historisches noch durch ein psychologisches oder pädagogisches Urteil aufgehoben werden.“ Zurück

128 Spranger, 1939, insb. S. 256, 257, 260; vgl. auch Nohl, 1915, S. 134 u. ders., 1915a, S. 135 Zurück

129 Zur vergleichweisen Situation 1933 vgl. Lingelbach, S. 49; Nohl, 1932, S. 216; im übrigen Rang, 1986 Zurück

130 Weniger, 1950, vgl. auch Nohl, 1949 Zurück

131 Klafki, 1958; vgl. auch Rang, 1986, insb. S. 480 f. Zurück

132 Klafki, 1986, S. 465 Zurück 

133 Bloch, 1967, Abschn. 2: „der sozial-humanen Vernunft.“ Vgl. Kern, 1986b, S. 25 u. Rehhein, 1986 Zurück

134 Zum Verhältnis von Wissenschaft, Staat, Krieg, Frieden, Erziehung vgl. Albert Einstein, 1975, passim, Text 1930, S. 127: Es handelt „sich um die Frage, ob nicht die Erziehung in ihre; Gesamtheit als Mittel zur Förderungpazifistischer Ideen zu betrachten sei“. Zurück

Dr. Klaus Rehbein ist Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg.

Allgemeinbildung durch Frieden – Frieden durch Allgemeinbildung (I)

Allgemeinbildung durch Frieden – Frieden durch Allgemeinbildung (I)

von Klaus Rehbein

Das Leben der Menschheit auch durch Bildung friedlich zu gestalten, ist in diesem Jahrhundert aus bildungsimmanenten Gründen nicht geleistet worden. – Wird die Menschheit überleben, wenn sie sich allgemein bildet?

Wer zum Menschen erzogen werden will, muß zum Kampfe erzogen werden und nicht zum Frieden.“ Georg Kerschensteiner, Deutsche Schulerziehung in Krieg und Frieden, 1916, S. 10.

I. Bildung zum Krieg

1930 hat Eduard Spranger unter dem Titel „Das Wesen der deutschen Universität“ ihre Summe gezogen: „Das Hochschulwesen eines Volkes ist der bedrängteste Ausdruck seines besonderen Kulturwillens. Die Idee der Wissenschaft selbst ist nicht so eindeutig, daß sie nicht mannigfache nationale Ausprägungen gestattete; das Maß und die Art, wie die Wissenschaft in die höchste Stufe persönlicher Bildung aufgenommen wird, können sehr verschieden gedacht werden. (…) Betrachtet man das Verhältnis umgekehrt von der Seite des Staates und seiner gegenwärtigen Träger aus, so liegt die Frage nicht einfach so, daß hier politischer Machtwille und dort reine Wissenschaft steht. Vielmehr ist die wirkliche Universität als historische Korporation selbst ein politischer Machtfaktor, mindestens als Bildungsstätte und als Trägerin einer auf die Öffentlichkeit wirksamen Meinung.“1 Damit ist die Beschreibung des Beziehungsgefüges von in den Horizonten persönlicher Bildung aufgenommener Wissenschaft und aus ihm heraus produzierter Wissenschaft einerseits und andererseits von in der Korporation Universität als politischem Machtfaktor organisierter Wissenschaft mit entsprechender Wirkung in Gesellschaft und Staat hinein wichtig, um das Verhältnis auch universitär verantworteter Allgemeinbildung zu dem Bemühen um Friedensverwirklichung zu klären.

Zwei Jahrzehnte nach Sprangers Aufsatz fragt ein anderer gebildeter Deutscher, Max Horkheimer, in seiner Frankfurter Immatrikulationsrede zum Wintersemester 1952/53 nach dem „Begriff der Bildung“: „Je mehr eine Natur durch die Bedürfnisse der menschlichen Gemeinschaft geformt war und sich zugleich als Natur in dieser Form erhielt, wie im Brot der Geschmack des Korns, die Traube im Wein, der bloße Trieb in der Liebe, der Bauer im Bürger und Städter, desto mehr scheint der Begriff der Bildung im ursprünglichen Sinn erfüllt.“2

Da aber der Prozeß der Bildung in den der Verarbeitung umgeschlagen sei, führe die so produzierte „Ausmerzung der Natur, ihre Vernichtung zu bloßem Material“3 in die Krise der Bildung: „So produziert der industrielle Prozeß zugleich auch ein neues und vielleicht ungeahntes Maß an Barbarei.“4

Die durch das Hochschulwesen als Ausdruck des besonderen Kulturwillens geprägte Bildung in direkter Kausalität zur Barbarei?

Im September 1914 hatte der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930) 5 einen Friedensaufruf verschickt. Aber der deutsche Oberhofprediger Dryander, Berlin wußte als Antwort nur zu hoffen daß, „der große Herr des Friedens der Welt Seinen Frieden (bringen) (…) und ein neugeborenes Christenvolk aus den Wehen der Kriegszeit hervorgehen lassen wolle“.6 Der Dresdner Oberhofprediger Dibelius antwortete: „Wir beugen uns vor Gott unter alle Schrecken dieser Zeit in der freudigen Gewißheit, daß Seine Friedensgedanken auch durch diesen Krieg verherrlicht werden.“7

Der auch vom Rassenhochmut getragene berühmte Aufruf „An die Kulturwelt“ vom 4.10.1914 trägt die Unterschrift der berühmtesten Wissenschaftler und Dichter unter dem Satz: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt.“8 In diesem Verständnis hat die deutsche Universität als Institution den Weltkrieg voll mitgetragen und seine Führung mitzuverantworten. 3016 Hochschullehrer der 53 Universitäten, Hochschulen und Akademien des Deutschen Reiches haben eine Erklärung vom 16.10.1914 unterschrieben, in der es u.a. heißt: „Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens (…). Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche Militarismus erkämpfen wird.“9 – Für den Neukantianer Paul Natorp ergab sich die „unentrinnbare Notwendigkeit (…) des Krieges überhaupt“ „zur Sicherung der Existenz aller existenzkräftigen, also existenzwürdigen Völker“.10 – Der Pädagoge Eduard Spranger kommt in seiner Beschreibung und Analyse der deutschen Universität zu einer wertenden Stellungnahme gegenüber Wissenschaft überhaupt, die er zumindest in seiner konkreten historischen Situation noch durch das Kriegserlebnis überhöht sieht: „Der große Krieg von 1914-1918 bedeutete die Feuerprobe des nationalen Ethos, zu dem sich die deutsche akademische Jugend seit Jahrzehnten bekannt hatte. Was sie geleistet und geopfert hat, wie sie ihren Glauben durch den Tod besiegelte, das wird das deutsche Volk nur vergessen können, wenn es einmal, was Gott verhüte, des Besten in sich vergessen sollte. Die Kriegsbriefe gefallener Studenten sind Zeugnisse einer schlichten Größe, die die deutsche Universität als ihren eigentlichen Ruhmeskranz betrachten darf. Denn hier zeigte sich, daß der deutsche Idealismus, den sie pflegte, doch mehr war, als nur Wissenschaft.“11

Diese Formulierung ist kein, wie man meinen könnte, bloßer ideologischer Unfug, sondern eine präzise Aussage Sprangers über sein Wissenschaftsverständnis. Spranger geht 1930 von der „heiligen Einigkeit von 1914“12 aus und davon, „daß das Leben nur erhalten und erhöht werden kann durch Opfer an Leben, und daß alle Opfer doch nicht das Leben schlechtweg verneinen, sondern es in der Verneinung mitbejahen“.13 Indem er eine soziologisch abgeleitete, positivistische Wohlfahrtsethik zwar einer idealistischen Opferethik zunächst gegenübersetzt, jene aber letztlich doch in dieser aufgehen läßt, und zwar sowohl unter Rückgriff auf den Staatsgedanken: „Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen“,14 als auch auf das Christentum: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“15, kommt Spranger durch die Zuordnung einer Geisteshaltung zu Völkern zugleich zu einer impliziten „wissenschaftlichen“ Bewertung des jeweiligen Volkscharakters: „Stammt also die französische Idee der Menschheitseinigung vorwiegend aus dem Glauben an die einigende Kraft der Wissenschaft, die englische aus der Lehre vom automatischen Fortschritt der Interessenverflechtung in der Gesellschaft, so die deutsche aus dem Rechtsgedanken, der das Verhältnis der Staaten regeln wird, wie er die Rivalität der Einzelpersonen gebändigt hat. Aber die Ausdehnung des Völkerrechts schließt den Krieg nicht grundsätzlich aus. Nur werden auch seine Formen mehr und mehr legalisiert werden. Vor allem wird er Leben und Eigentum der Privatpersonen achten – ein Gedanke, in dem auch Hegel mit Kant durchaus übereinstimmt.“16 – „Das Recht ruht gleichsam vorgebildet in der ewigen Vernunft.“17 Damit ist der Krieg aber selbst in der ewigen Vernunft verankert. Nun haben die Staatsidee und die Wirklichkeit von Weimar dieser Vorgabe zweifellos nicht genügt: „Ein Volk, das ein tiefes und gesundes Verhältnis zu seiner Geschichte hat, braucht den Mythos, auch für sein Staatsleben. Heldengestalten und Taten der Väter müssen so vor seinem Auge stehen: geglaubt, nicht nur gewußt. Alles von dieser Art ist nun in Deutschland zur Zeit traurig zerstört, moralisch zersetzt, intellektuell zerdacht.“18 – Dem entgegenzusteuern ist die Aufgabe der Pädagogik nach Zielsetzung und Methode. Das Ziel wird von Spranger eindeutig bestimmt: „Das Privatkapital muß ebenfalls als doppelseitige Erscheinung gesehen werden: es diente einerseits in volkswirtschaftlicher Funktion dem Ganzen, andererseits war es die unerläßliche Bedingung für die Sicherung der persönlichen Freiheit, ohne die der moderne Mensch nicht leben kann, schon aus dem ganz äußeren Grunde, weil in einer so gearteten Gesamtordnung des Volkslebens keine anderen Institutionen, nach Art der alten frommen Stiftungen, für die Sicherung des einzelnen sorgen. Besitz allein sichert Ellbogenfreiheit, unabhängige Daseinsgestaltung. Nicht nur im Unternehmen, sondern auch in dem Abhängigen Arbeiter herrschte dieser Freiheitsgeist: er hätte auf das Recht des freien Arbeitsvertrages so wenig verzichtet wie auf die Freizügigkeit, die freien Wege der Selbstbildung und auf tausend andere Freiheiten.“19 (1932)

In der Weimarer Republik sieht Spranger die „gesellschaftliche Atomisierung des Volkes“20 lehnt die „egalitäre Demokratie“21 strikt ab, sieht als Ziel „nationale Verantwortlichkeit“ 22 als Weg „das Heer und das Berufsbeamtentum“ 23, fordert vom einzelnen: „Werde Staat“ 24, womit „der Staat in jedem Volksgenossen (…) als der höhere Adel seines Wesens“ 25 leben müsse, „als sittliche Aufgabe, heiliges Gefäß für das Werden lebendigen Menschentums“ 26 und stellt fest: „Ein Staat für den niemand zu sterben bereit ist, ist gar nicht Staat, sondern ein fragwürdiger und gebrechlicher Interessenverband.“27 Zwar sieht auch Spranger 1932 die Gefährdung der Festigkeit des betreffenden Staates durch „schreiende Ungleichheit der Besitzverhältnisse“28, aber sein Lösungsvorschlag ist nicht sehr originell: „Zukunftsreich ist die Besiedlung unbebauten oder freigewordenen Bodens mit gesundem Bauerntum, besonders im Osten, wo die kolonisatorische Kraft des Deutschtums in Gefahr war zu erschlaffen.“29 Das alles erfordert (1932) eine neue Universität. „Eine neue Zeit erfordert neue Menschen, also auch einen neuen Lehrertyp auf allen Stufen und in allen Zweigen des nationalen Bildungswesens.“30 Die Leitlinien dieser Volksbildung sind „Blut, Arbeit, Ordnung, Gläubigkeit“.31

Wenn Spranger, auf die Universität bezogen. zwar feststellt, „der wissenschaftliche Geist läßt sich nicht kommandieren“, so bedeutet diese Formulierung nicht, daß er der Wissenschaft damit eine gesellschaftsstrukturierende Funktion durch ihr Bildungspotential zugeordnet wissen will, denn diesem Satz folgt unmittelbar: „Wo aber wirklich und mit Recht kommandiert wird, da dürfen keine störenden Nebeneinflüsse von akademischen Zwecken her wirksam sein.“32 Und Spranger sagt sehr klar, welche früheren Störungen für die Zukunft vermieden werden sollten. Die Zersetzung des Erziehungswesens nach 1918 sei begleitet gewesen vom „frevelhaften Spiel mit dem Abrüstungsgedanken“(32a), und der nun (1933) aus den Kriegserlebnissen zur Kraft des religiösen und sittlichen Willens Zurvolkswerdung gewordene positive Kern der nationalsozialistischen Bewegung zeige sich auch im Adel des Blutes und der bewußten Eugenik. Diese auf den gewaltigen gemeinsamen Erlebnissen und dem positiven Gehalt des Weltkrieges beruhenden und zu bejahenden Strömungen mündeten nicht zufällig in einen militärischen Geist, „der die neu entstehenden Erziehungsideale bis in die äußere Terminologie hinein“33 bestimme. Der Höchstform der Ausbildung für Nation und Staat, den Hochschulen und der Armee, entspreche einerseits Wahrheit und Recht, andererseits Einordnung und Macht. Zur Wiederherstellung des elementarsten Lebensrechtes des Volkes bedürfe es aber der Erweckung der in verschwiegener Tiefe liegenden Gesinnung durch „Eine Totalerziehung“ zu „einem Geist“34, weil wir als Volk „den Krieg nicht nur als Vergangenheit sehen (dürften), sondern die Notwendigkeit eines zweiten Aufbruches zur Verteidigung aus der gespannten Weltlage heraus vorfühlen müssen.“35

Damit bedeutet der Vorrang von „Arbeit und Wehrkraft“36 den Nachrang der Universität als Organisationsform des „Wehrwillens des Geistes“37 und der durch die Aufrüstung vorbereitete zukünftige Krieg ist damit das vorrangige Strukturprinzip von Bildung.

Vor dem Hintergrund dieses Grundverhältnisses von Krieg und Bildung stellt Aloys Fischer 1933 wegen der „ungenügenden Raumgrundlage des deutschen Kulturwillens“38 – in diesem gegenseitig abgesicherten Grundverständnis spricht der Völkerrechtler Carl Schmitt 1941 von der „Raumrevolutionierenden Wirkung der Luftwaffe“39; konkreter kann das Verhältnis von Bomben und Recht nicht bestimmt werden – fest, daß erst der Krieg eine Reichskulturpolitik ermöglicht habe, und fordert letztlich, da der Staat den geistigen Inhalt und die Richtung der Erziehung zu bestimmen habe, den Führerstaat. Mit der Überwindung des (Weimarer) „positivistischen Intellektualismus“ und der „Beschneidung der intellektuellen Dressur“ erst sei durch die gebotene Förderung der „großverstandenen emotionalen Bildung“ die Totalbildung zum Ideal des Volkstums an Stelle seines Begriffs 40 durch Erziehung möglich. Das heißt konkret, daß wir die wissenschaftliche begriffliche analytische Klarheit zugunsten der Identifizierung mit einer dumpfen Volksgemeinschaft als pädagogischem Prinzip aufgeben sollen.

Aus dem Spannungsgefüge von „geisterfüllter Menschheit“ (Glaube) und „untergeistiger Natur“ (Blut) folgert Theodor Litt 1926, daß „die Ausübung der Gewalt als unabänderliches Los auch über die Menschenwelt verhängt (sei). Denn nur die Entladung physischer Kräfte kann schließlich über umstrittene Teile und Güter der räumlichen Wirklichkeit die letzte Entscheidung bringen.“41 Indem der Geist den Gewaltgebrauch der launenhaften Willkür entzieht und ihn regelt schafft er die Möglichkeit, sich auf seine eigentlichen Werke zu besinnen.42 Die sittliche Reflexion verdanke so dem Staat durch die Gewissensentlastung die innere Freiheit. „Der Staat nimmt das auf sich, was, allem Leben auferlegt, jeden Ansatz des Sittlichen schon im Keime ersticken muß. Hier gewinnt jene Teilung der Aufgaben ihren tiefsten Sinn.“43 Aus dieser Unauflöslichkeit der Antinomie folgert Theodor Litt: „Ein geschlossenes, nach einem Prinzip durchkonstruiertes ethisches System, das die auf die persönliche und die auf die politische Moral bezüglichen Sätze in einem geordneten Gedankengefüge zusammenschlösse, kann es dem Wesen der Sache nach nicht geben.“44 Indem der Staat die sittlich gezähmte personale Gewaltausübung der Individuen durch Recht regelt und kanalisiert, „erwirbt er einen Anspruch auf Anerkennung in tätiger Hingabe“45 eben dieser Individuen zu „opferbereitem Idealismus“ im Rahmen des von ihm gesetzten Rechtes. In diesem Verständnis kann es für den Staat – keine andere Sittlichkeit als die in der Kontinuität der Geschichte herangewachsene“46 geben. Für den deutschen Staat bedeutet das: „Es gibt keine Versittlichung auch des deutschen Staatsgedankens und der deutschen staatlichen Wirklichkeit, es sei denn, sie erwachse aus den konkreten Erlebnissen, in denen unserem Volke Wesen und Würde des Staats aufgegangen ist.“47 Wegen der nach Litt inkorrigiblen Grundbedingungen des in der menschlichen Existenz verankerten Widerstreits zwischen Staatsräson und persönlichem Gewissen folgt für die Erziehung einerseits, daß die im Zeichen des echten deutschen, d.h. des sittlichen Staatsgedankens stehende Erziehung „bestenfalls eine ganz nützliche Aufklärungsarbeit, eine bescheidene orientierende Belehrung über die Außenseite des staatlichen Wesens leisten“48 könne, andererseits aber für die subjektive Seite die Notwendigkeit eines Erziehungsgedankens bestehe, „der einem heroischen Willen zu dienen bereit ist“49, also einem „Staat, der mit der Härte seiner Forderung, der Doppeldeutigkeit seines Wesens, mit seinem Aufruf zu steter sittlicher Wachsamkeit das genaue Widerspiel ist zu jener Gemeinschaft der seligen Gefühle und der kampflosen Entzückungen, in deren Äther das Ich der zeitgemäßen Erziehungspredigt so gerne verfließen möchte.“50

Damit hat Litt zugleich eine Absage an die Möglichkeit der Bewältigung der Gewaltproblematik durch den menschlichen Geist geliefert: „Geist ist eben wie in allem so auch hier nicht eine glättende und besänftigende Lebensmacht; die Gemeinsamkeit, in der er Menschen bindet, ist voll der dämonischen Zweideutigkeit, von der die reine Natur nichts weiß, jener Zweideutigkeit, vermöge deren er beides, Liebe wie Haß, Tugend wie Laster, Einsicht wie Irrtum sich selbst emportreiben, sich bis zu ihren letzten Konsequenzen ausleben läßt. Fern bleibe also die Meinung, daß, wo die Leidenschaft des Kampfes Menschen und Menschengruppen widereinander aufstehen läßt, geistige Bande zerschnitten seien. Sie verknüpfen auch die, die unversöhnt und rachsüchtig einander den Untergang geschworen haben.“51

Was heißt das? – Das heißt: Die geistigen Bande legitimieren die Handelnden als die persönlich Moralisch-Untadeligen und lassen sie insofern die öffentliche Moral, also das gesellschaftliche solidarische Ethos, verfehlen: Wenn Theodor Litt 1926 dem Staat durch die Entladung physischer Kräfte nach außen die Funktion zuschreibt, gerade dadurch dem Individuum die persönliche Handlungs- und Gewissensfreiheit zu ermöglichen und als deren Inhalt den Anspruch auf tätige Hingabe des Individuums an den Staat bestimmt, dürfte er sich doch eigentlich 1948 einerseits über die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten und damit legitimierten konkreten Handlungen des Volkes im „Dritten Reich“ nicht mehr wundern.52 Andererseits gibt er den jeweils eigenen Historikern der Staaten Und Völker auf die Sittlichkeit des Staates im Zusammenhang mit der Kontinuität der Geschichte zu bewerten.53 Insoweit stellt er fest: „Die Logik des Allgemeinen gibt also entgegengesetzten Ausgestaltungen Raum.“54 Damit ist aber der persönliche Irrtum (des Wissenschaftlers) im Handeln und Bewerten dem Ganzen eines Sinngefüges eingebaut, zumal er für die Völkersubjekte die Sinnfrage in gleicher, paralleler Weise stellt 55 und den historischen Kollektivirrtum erst in der Heilsgeschichte aufgehoben sein läßt. Damit aber verschwindet Auschwitz aus dem Horizont des Menschheitsethos und läßt sich, wie es in der gegenwärtig(1986/88) 56 geführten Historikerdebatte geschieht, letztlich durch fremdes Handeln der Sowjets begründen, indem die Kulakenbeseitigung durch die Sowjets als Vorläufer von und Identifikationsobjekt für Auschwitz ausgegeben wird. Das heißt, daß die sittliche Bewertung der Taten des Hitler-Reiches durch die Deutschen, Franzosen, Angelsachsen und Russen übereinstimmen können, über die Verschiedenheit der historischen Sinneinordnung damit jedoch noch gar nichts gesagt sei.57 Abgesehen von den notwendigen, aber nicht gestellten Fragen nach dem historischen Sinn von Auschwitz für seine Opfer und nach dem Ausbildungsprofil der für ihre Staatsfunktion von Pädagogen zu erziehenden Tätern, ist genau der Widerspruch von persönlicher Moral und öffentlicher Moral als Menschheitsethos, ist der Widerspruch selbst die sinnstiftende Einheit für Idee und Wirklichkeit des Staates und deren Rezeption und Realisierung durch staatsbürgerliche Erziehung: Theodor Litt geht davon aus, daß die empirische Wirklichkeit des Staates im allgemeinen und speziell seine Weimarer Ausprägung der Idee vom Staat im kantischen Verständnis widersprechen. Eine verantwortungsbewußte staatsbürgerliche Erziehung habe die Jugend von der Berührung mit diesem (Weimarer) Staat der Geschäftspolitiker und Traumpolitiker fernzuhalten.58 Litt erfindet deshalb eine auf die Kernsubstanz der „Konkretheit und Erfülltheit der geschichtlichen Stunde“59 eines jeden Staates bezogene, diesem eigentümliche besondere Idee 60, leitet aus diesem Spannungsgefüge einerseits das Recht zum Bruch der dieser Idee widersprechenden Staatsverfassung ab 61 und orientiert andererseits die staatsbürgerliche Erziehung auf die aus der unzugänglichen Unendlichkeit in das Zentrum des Augenblicks geholten Idee hin. 62 Damit aber erfährt zu Lasten einer auf das solidarisch zu verwirklichende Menschheitsethos bezogenen öffentlichen Moral die persönliche Moralität ihre inhaltliche Handlungsanweisung aus der auf die konkrete historische Situation bezogenen besonderen Staatsidee. Auf Deutschland gewendet: Aufrüstung bis zur Gleichrüstung mit den Siegermächten der Weimarer Republik 63, bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland und den Westen: „Antikommunistisch dürfen, ja sollen wir Bürger der westlichen Welt insofern sein, als wir jede kompromißlerische Annähenung an jene Ideenwelt als Verrat am abendländischen Geisteserbe verdammen“64, das zu sichern die Atomforschung sich nicht entziehen darf: „So bleibt als letzte und ausschlaggebende Instanz, genau wie im Inneren des Vaterlandes nur die Gewalt übrig.“65

Kann Bildung (gesellschaftliches) Überleben sichern? – Vor der Analyse dieser Frage Heydorns 66 sei der hier explizierte Bildungsbegriff noch einmal mit einem exponierten Vertreter zusammengefaßt. Eduard Spranger schreibt in „Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung“: „Die Gehalte der Erziehung müssen besser beglaubigt, sie müssen „bewiesene Mächte“ sein. Ausdrucksformen und Formen der Erziehungsgemeinschaft mögen wechseln – die Gehalte dürfen nicht von gestern sein und morgen veralten: sie müssen von klassischem Gepräge sein (…). Klassisch können nur solche Geistesformen werden, die das Allgemeinmenschliche zur Darstellung bringen. Worin dieses Allgemeinmenschliche besteht, ist keineswegs eindeutig festgelegt.“67 „Das Klassische ist nicht rational zu beweisen – kein ethischer Standpunkt kann bewiesen werden (…) Die Forderungen der besonderen historischen Geisteslage kommen durch eine geheime Teleologie der Geistesorganisation von selbst zur Geltung.“68

Was kommt hier eigentlich von selbst zur Geltung? Wem dient diese Aussage, in wessen Interesse erfolgt sie? – Nachdem sich offenbar nach Meinung der Gebildeten zwei Weltkriege ohne deren Beteiligung von selbst ereignet haben, stellt sich zwingend die Frage, ob es eine Möglichkeit der menschlichen Befreiung aus dem Irrtum im ursprünglichen Aufklärungsverständnis (Kant) gibt. Die spätbürgerliche Bildungstheorie geht nach ihrem Selbstverständnis von ihrer gesellschaftspolitischen Unverbindlichkeit aus. Tatsächlich ist diese systemimmanent angenommene Unverbindlichkeit aber eine Voraussetzung dafür, daß der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insoweit depravierte Bildungsbegriff der Aufklärung auf den Verwertungsbegriff, also die Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft und der Naturressourcen bezogen werden konnte. Tatsächlich fand zugunsten des sich entwickelnden Monopolkapitalismus eine Trennung statt von der der bürgerlichen Klasse zugeschriebenen und vorbehaltenen Bildung und der für das Proletariat vorgesehenen Ausbildung.69 Von dieser Trennung geht zum Beispiel auch Wolfgang Klafki aus, wenn er feststellt, daß die allgemeine Menschenbildung zum gesellschaftlichen Privileg verkommen sei und „Bildung zum Stabilisierungsfaktor einer Klassengesellschaft im Obrigkeitsstaat degenerierte.“70 Als Folge dieser Trennung haben wir es mit einem neuen Bildungsbegriff zu tun, der in einem den gesamten Menschen in Anspruch nehmenden Verwertungsprozeß aufgegangen ist, für den der Bildungsbegriff zur Legitimation und allgemein in Anspruch genommen wird, der aber tatsächlich die Entfremdung total und allgemein macht. Unter der Kategorie Verwertung wird der dem Bildungsprozeß ursprünglich immanente Aufklärungsbegriff obsolet, weil das heute seinem Bewußtsein systematisch entzogene Subjekt (auch durch Medien) der gesellschaftlichen und individuellen Selbstzerstörung anheim gegeben ist.

Nachdem die weitgehende Bewältigung der Natur die Organisation der Gesellschaft als Klassengesellschaft nicht mehr unmittelbar nötig macht, allerdings die Organisation der Menschheit als Klassenmenschheit bedingt und zur Folge hat (Nord-Süd-Problematik), wird die institutionell organisierte Bildung (Schule, Universität) zugleich zum entwickeltsten Instrument, „dem Menschen die Erkenntnis seiner eigenen Möglichkeit zu verschließen“.71 In diesem Rahmen sind Recht, Ökonomie, „wertfreie“ Naturwissenschaft und konkrete Forschungsstrategien Sicherungsinstrumente des Systems, das derzeit nur noch sein physisches, nicht aber mehr sein humanes Überleben sichert, und zwar durch Zerstörung des Überflusses (z.B. Landwirtschaft, EG) und Kapitalzerstörung durch Rüstung.

Was aber geschieht, wenn die menschliche Physis ohne ihr Humanum nicht überleben kann? Wenn wir, die Menschheit, überleben wollen, gilt es, die Verwahrlosung der Bildung und ihre Sicherungsinstrumente in der Weise in einem ersten Schritt zu überwinden, daß wir zu einer Bildung des Bewußtseins kommen, „die den Menschen zum wissenden Handeln im verwundbaren Gewebe seiner Bedingung befähigt“.72 – Was heißt das konkret?

Es gibt die Niederschrift einer Diskussionsbemerkung für die Schulkonferenz von 1900 von Wilhelm Dilthey über Inhalt und Funktion gymnasialer Bildung' in der er für die Sicherung der Staatsgesinnung, insbesondere des preußischen Beamtentums und die Ausbildung des Staats- und Rechtsbewußtseins, auf die disziplinierende Kraft der strengen Deduktion in der Mathematik und das Konstruieren der lateinischen Sätze, auf der Ebene der Regelbildungen der Grammatik, abstellt: „Also ganz allgemein die Disziplin des Geistes angesehen, haben die eigentlich logische Bildungskraft die alten Sprachen und die Mathematik sowie ihre Anwendungen; diese allein disziplinieren den menschlichen Geist durch ihre strenge Zucht.“ „Ich fordere nun nichts, als daß der künftige Jurist und Beamte voll und ganz durch diese Schule gehe, aber keine Halbheit. Nicht ein wenig Stümperei im lateinischen Übersetzen, nicht die schnell erworbene Fähigkeit ein paar Stellen der Rechtsquellen notdürftig zu übersetzen.“73 – Das heißt, daß die Schulung z.B. der Juristen durch zu formalen Strukturen deklassierte Bildungsinhalte die Garantie u.a. dafür war, daß die staatssichernden Rechtsbegriffe und ihre Auslegung von Preußen und dem Kaiserreich über Weimar und den NS-Staat bis heute identisch sind und funktional blieben. Bildung ist damit durch Negation des Geistes zur politischen Verwendbarkeit für allgemeine Entfremdung funktionalisiert. Verhindert wurde damit eine humanistische Bildung als Freisetzung des Menschen in seine Wirklichkeit 74 im Sinne Schillers: „Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und auch bewahrt in bedeutenden Steinen; die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, und aus dem Nachbilde wird das Urbild wieder hergestellt werden.75

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Spranger, Eduard – Volksmoral und persönliche Sittlichkeit, 1939, in: Ges. Schr., Bd. V, ed. Hans Wenke, 1969, S. 247-264.
Spranger, Eduard – Die moralbildende Kraft in unserem Zeitalter, 1961, in: Ges. Schr., Bd. V, ed. Hans Wenke 1969, S. 447-463.
Spranger, Eduard – Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung, in: Karl Müller (Hrsg.), Gymnasiale Bildung, 1968, S. 253-271.
Tenorth, Heinz-Elmar – Deutsche Erziehungswissenschaft 1930 bis 1945. Aspekte ihres Stnukturwandels, ZfP, 1986, H. 3, S. 299-321.
Vester, Frederik – Neuland des Denkens, 1986.
Weiss, Peter – Die Ästhetik des Widerstandes, 1975.
Weizsäcker, Carl Friedrich v. – Der Garten des Menschlichen, 1977.
Weizsäcker, Carl Friedrich v. – Die Einheit der Natur, 1979.
Weizsäcker, Carl Friedrich v. – Wahrnehmung der Neuzeit, 1983.
Weizsäcker, Carl Friedhch v. – Aufbau der Physik, 1986.
Weniger, Erich – Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung, 1938.
Weniger, Erich – Die Erziehung im Zusammenbruch unserer Lebensordnungen, 16. Mai 1945, in: ders., Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, 1957, S. 360-372.
Weniger, Erich – Neue Wege im Geschichtsunterricht, 1949.
Weniger, Erich – Die Pädagogik in ihrem Sebstverständnis heute, 1950, in: ders., Ausgewählte Schriften zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ed. Bruno Schonig, 1975, S. 125-155
Weniger, Erich – Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, 1953.

Anmerkungen

1 Spranger, 1930, S. 1 u.7 Zurück

2  Horkheimer, S. 15 Zurück

3 ib., S. 17 Zurück

4 ib. Zurück

5 Vgl. Siegmund-Schultze, 1966, S. 15 Zurück

6 Siegmund-Schultze, 1915, S. 9 Zurück

7 ib. Zurück

8 ib., S. 95. – Zum Gegenentwurf „Aufruf an die Europäer“ des Mediziners Georg Fr. Nicolai, mitunterzeichnet von Albert Einstein und Wilhelm Foerster und sonst von niemandem, vgl. Bernhard vom Brocke, Der Fall Nicolai, in: Nicolai, S. 601 ff. Zurück

9 ib., S. 100 Zurück

10 Natorp, S. 27 u.7 Zurück

11 Spranger, 1930a, S. 28. – Vgl. auch Rehbein, 1985, insb. S. 34 f. Zurück

12 Spranger, 1930b, S. 107 Zurück

13 ib., S. 111 Zurück

14 ib., S. 112 Zurück

15 ib., S. 113 (Math. 10, 39) Zurück

16 ib., S. 125 Zurück

17 ib. Zurück

18 Spranger, 1928, S. 97 Zurück

19 ders., 1932, S. 185 f. Zurück

20 ib., S. 191 Zurück

21 ib., S. 199 Zurück

22 ib., S. 198 Zurück

23 ib. Zurück

24 ib. Zurück

25 ib., S. 199 Zurück

26 ib., S. 201 Zurück

27 ib., S. 204 Zurück

28 ib., S. 204 f.Zurück

29 ib., S. 205 Zurück

30 ib., S. 206 Zurück

31 Spranger, 1930c. S. 138; Tenorth, S. 316, muß sich fragen lassen, ob es sich hier nicht nur um eine Kontinuität in Elementen, sondern vielmehr um eine Kontinuität der Ideen vor und nach 1933 gehandelt hat! Sprangers Aufsatz wurde 1930 geschrieben! Zurück

32 Spranger, 1933, S. 406 (32a) ib., S. 402 Zurück

33 ib., S. 403 Zurück

34 ib., S. 407 Zurück

35 ib., S. 404 Zurück

36 ib. Zurück

37 ib., S. 408 Zurück

38 Fischer, 1933, S. 38 Zurück

39 Schnittt, S. 50. Vgl. Rehhein, 1987 zurück

40 Fischer, 1932, S. 577 u. 1933, S. 164 Zurück

41 Litt, 1924, S. 67 Zurück

42 ib., S. 68 f. Zurück

43 ib., S. 70 Zurück

44 ib., S. 81 Zurück

45 ib., S. 77 Zurück

46 ib., S. 83 Zurück

47 ib. Zurück

48 ib., S. 86 Zurück

49 ib., S. 88 Zurück

50 ib. Zurück

51 Litt, 1926, S. 393 Zurück

52 Litt, 1948a, S. 150 Zurück

53 Litt, 1956, S. 216 i.V.m. 242 Zurück

54 ib., S. 235 Zurück

55 ib., S. 199 ff., insb. S. 202 Zurück

56 Vgl. mit Nachweisen Buckmiller Zurück

57 Litt, 1956, S. 242 Zurück

58 ders., 1931, S. 343, 350, 363 Zurück

59 ib., S. 362 Zurück

60 ib., S. 361 Zurück

61 ib., S. 360 Zurück

62 ib., S. 368 Zurück

63 ib., S. 365 Zurück

64 ders., 1962, S. 90. .- Mit dem Marxismus hat Litt sich nie auseinandergesetzt. Vgl. Klafki, 1982, S. 385 Zurück

65 Litt, 1948 b, S. 51 i.V.m. ders., 1959, S. 236 ff., insb. S. 242: „Kommt es dann trotzdem dahin, daß durch den Einsatz dieser Kräfte die Menschheit vom Erdboden vertilgt wird, so trifft die Verantwortung für dieses Fiasko nicht die Wissenschaft (…)“ Vgl. auch ders., 1920, insb. S. 28 Zurück

66 Heydam, 1974 Zurück

67 Spranger, 1968, S. 258 f. Zurück

68 ib., S. 266 u. 267 Zurück

69 Vgl. Heydorn, 1974 Zurück

70 Klafki, 1986, S. 474 Zurück

71 Heydom, 1974, S. 291 Zurück

72 ib., S. 294 Zurück

73 Dilthey, Pkt. 1 u. 3 Zurück

74 Heydorn, 1971, insb. S. 315 Zurück

75 Schiller, 9. Brief, S. 40 Zurück

Dr. Klaus Rehbein ist Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg.

Friedenserziehung und ihre immanenten Widersprüche

Friedenserziehung und ihre immanenten Widersprüche

von Hans-Jochen Gamm

Friedenserziehung ist im Begriff der Pädagogik enthalten; einer untergeordneten Disziplin bedarf es daher nicht, um etwa den Frieden gesondert zu thematisieren, keiner Spezialdidaktik, um Kinder und Jugendliche zu friedliebenden Bürgern entwickeln zu helfen. Theorie und Praxis der Pädagogik begründeten sich aus der großen bürgerlichen Befreiungsbewegung, die wir unter dem Sammelbegriff Aufklärung fassen, sowie aus den Kräften und Einsichten des Neuhumanismus. Von diesen Fundamenten leitet sich eine Theorie von der befriedbaren Gattung und dem Aufbau menschenwürdiger Verhältnisse her, sofern die Kräfte der Vernunft im einzelnen entbunden und das konstruktive Zusammenwirken aller zu veranlassen ist. Nun weist die Herrschaftsgeschichte der Gesellschaft allerdings unzweifelhaft aus, daß diese Ideen bisher nirgends zum Gestaltungsprinzip der Wirklichkeit gediehen, sondern daß Unterdrückung, Betrug und Verrat die Merkmale empirischer Menschheit darbieten. Erziehung zur Mündigkeit, wie deren entsprechende Friedensgesinnung, scheinen kaum voranzukommen, Resignation hat weithin Plan gegriffen.

Doch sind seit der Studentenbewegung und den Bürgerprotesten gegen Tendenzwende und konservative Politik gesellschaftliche Kräfte erstmalig wirksam. Die Bedrohtheit des Friedens wie des ökologischen Gleichgewichts Ist erkannt, Militär und Rüstung gelten zunehmend als Vermehrung der Kriegsgefahr. Friedenserziehung wird auch international diskutiert. Seit Beginn der siebziger Jahre sind bemerkenswerte Studien zur Friedensforschung wie zur Friedenserziehung zustandegekommen, deren Bedeutung hoch einzuschätzen ist, weil sie die Felder umgrenzen, denen vermehrte Aufmerksamkeit gebührt, um spezifischen Gefahren der hochtechnisierten Industrienationen und ihrer archaisch verbliebenen Bewußtseinsinhalte zu begegnen. Doch hat sich durch diese dankenswerten Anstrengungen der Wissenschaft die generelle Bedrohtheit keineswegs vermindert. So besteht Grund, zum Begriff der Pädagogik zurückzukehren, sie selbst für die Analyse der allgemeinen Situation zu bemühen.

Der aufgesplitterte Mensch

Pädagogik richtet, wie bereits bemerkt, ihr Forschungs- und Erkenntnisinteresse auf die konstruktive Utopie befriedeter allgemeiner Verhältnisse; dazu gewinnt sie Maßstäbe aus der Kritik vorfindlicher Umstände, soweit diese der Mündigkeit hinderlich sind. Folglich ist die Frage nach qualifizierter Bildung aller Menschen das zentrale Problem für den Fortbestand der Gattung angesichts ständig wachsender Gefahren sowohl aus den gleichsam verselbständigten Mitteln, die sich gegen ihre Erzeuger richten, als auch aufgrund psychischer Umstände, die den globalen Kommunikationsanforderungen nicht mehr nachzukommen vermögen.

Die erste Perspektive zur Friedenserziehung richtet sich auf die geistige Konstituierung des Subjekts. Denken und Empfinden stehen im pädagogischen Prozeß weithin beziehungslos zueinander. Die Vermittlung von Kenntnissen, die Pflege des Gefühlsbereichs und die ästhetische Rezeption der Welt, als dreifache Aufgabe der Erziehung, gelangt nicht zur Integration. Sofern das körperliche Bewegungspotential – unter dem Begriff Motorik gefaßt – aus dem Bereich des Ästhetischen zusätzlich ausgegliedert wird, entstehen gar vier miteinander unverbundene Bereiche, die den aufgesplitterten Menschen zum gesellschaftspolitischen Chaos weiterleiten, die gegebenen Verhältnisse fortsetzen. Ein unverkennbarer Verlust an Geschichtsbewußtsein tritt hinzu, so daß die Zerrissenheit der Person sich in historischer Zusammenhanglosigkeit erhält, verstärkt und befestigt.

In welchem Zusammenhang stehen solche Überlegungen zur Anthropologie des Lernens und zur Bildungsproblematik mit Friedenserziehung und gesellschaftlichem Unfrieden? Man kann auf den Bereich der alltäglichen Erfahrung zurückgreifen. Die Widersprüche der kapitalistischen Verhältnisse werden ständig wahrgenommen; sie sind der Tenor des Lebens schlechthin, man richtet sich mit ihnen ein. Gleichwohl bieten sich dazwischen aber auch solche Ereignisse, bei denen sich die Absurdität des gesamten Systems grell anzeigt und jeder seinem Verstande folgende Mensch erkennen muß, daß es unverantwortlich wäre, den Kurs fortzusetzen. Über die nicht wieder gutzumachende Zerstörung der Natur und der allgemeinen Lebensgrundlagen hat der „Club of Rome“ bereits vor vielen Jahren eindrucksvolle Forschungsresultate dargeboten; viele andere naturwissenschaftliche, statistische und prognostische Daten liegen vor; im Zuge der Technikfolgenforschung werden die düsteren Konturen der nächsten Jahrzehnte kenntlich. Jeder kann zudem wissen, daß die weitere Rüstung insofern absurd ist, als sie nicht größere Sicherheit Scham, sondern durch das Ringen um Vorsprung und Überlegenheit dem Gegner um jeden Preis entsprechende Reaktionen aufnötigt; die Militarisierung des Weltraums ist die bisher letzte Stufe auf dem Schachbrett globaler Strategie.

Die Völker könnten ihre Regierung zwingen, sogleich auf sämtliche weiteren Atomwaffentests zu verzichten, da die Tötungskapazität ohnehin auf ein Mehrfaches des erforderlichen schlichten Umbringens menschlicher Population angewachsen ist, sie könnten den Abbau von Raketen durchsetzen und die wissenschaftliche Beteiligung an den geplanten Weltraumwaffen unterbinden, um nur wenige Möglichkeiten zu benennen. Die moralische Achtung aller atomaren, biologischen und chemischen Waffen ließen sich nachziehen, die Reaktorkatastrophe in der UdSSR zu einer vollständigen Revision der Nutzung der Nuklearenergie auch hinsichtlich deren friedlicher Möglichkeiten verwenden.

Blockade menschlicher Kapazitäten

Der Eindruck verstärkt sich jedoch, daß die Bevölkerungen der europäischen Länder nicht bereit sind, aus ihren Erfahrungen mit den Widersprüchen des Systems und des Zeitalters politische Konsequenzen zu ziehen, um die Realität zu verändern. Vielmehr breitet sich Lethargie aus, man hofft, von schwerwiegenden Unglücksfällen verschont zu bleiben und daher nicht an den Schlaf der Welt rühren zu sollen. Werden gelegentlich bedrohliche Nachrichten durch die Medien verbreitet, entstehen allenfalls spontane emotionale Aufwallungen, die rasch wieder in sich zusammensinken, wenn die Stimmungen abflauen, Vergessenheit eintritt, dem Verdrängen zu Hilfe kommt, ein rationaler und damit konsistenter Protest ergibt sich kaum. Die Medienhörigkeit der Massen verstärkt zudem die Bereitschaft, sich beschwichtigen zu lassen. Die politischen Machtträger wissen es und operieren damit für ihre Zwecke, indem sie beständig abwiegeln, die Realität verharmlosen, die Wahrheit nicht nur unterdrücken, sondern offenkundig Lügen verbreiten.

Damit läßt sich ein Faden der zuvor erörterten pädagogischen Problematik erneut aufgreifen. Jene Zerrissenheit des bürgerlichen Menschen, die Unverbundenheit seiner psychischen Potentiale bietet die Voraussetzung für den unwürdigen politischen Umgang, den die Politiker ihrem Souverän, dem Volk, beständig zumuten. Weil Denken, Fühlen und Handeln kein verbindliches Fundament finden, läßt sich der Wähler mißbrauchen; immer ist er nur auf einem Segment der Person angesprochen. Er kann z.B. eine offensichtlich gezielte Falschmeldung rein kognitiv als solche erkennen und sie vielleicht sogar ironisch kommentieren – das schafft subjektive Entlastung und vermittelt Abstand zur Torheit der politischen Szene – aber als Beleidigung des Empfindens muß ein entsprechender politischer Manipulationsversuch gar nicht wahrgenommen werden; insofern bleibt das andere wichtige Segment der Person unbeansprucht. Gerade dies aber wäre vorzüglich geeignet, die Mißachtung seiner Würde mit längerem Groll zu quittieren, als es im allgemeinen nach einer kurzen intellektuellen Bestandsaufnahme möglich ist. Die Angelegenheit gilt damit oft bereits als erledigt. Nimmt man schließlich noch die Handlungsdimension als entscheidende dritte menschliche Kraft hinzu, die aus Denken und Empfinden gleichermaßen angeleitet sein muß, um Gültigkeit zu erhalten, so wird die Blockade dieser Kapazität erst recht zum gesellschaftlichen Unfrieden beitragen. Überwinden ließe er sich nur, sofern er bekämpft wird. Erziehung also, die Handeln in Hinsicht auf Protest und Widerstand ausschließt, ermöglicht jene Perversion der politischen Szene, in der die Praxis der Bürger zur Beglaubigung politisch vorbereiteter Muster dient, Kräfte von der Basis jedoch nicht mehr ausgehen sollen.

Chiffre der Sachzwänge

Die Schwächung des Potentials an Gesamtkritik wirkt sich auf das oppositionelle Moment gegenüber den Widersprüchen des Systems aus. Was nicht mehr angegriffen wird, gewinnt an Legitimation einzig durch sein Dasein sowie durch stille Teilhaber- und Nutznießerschaft der Umwelt. Wenn die Existenz nachfolgender Generationen durch gegenwärtige Unbedachtheiten zumindest erheblich beeinträchtigt sein dürfte, so würde unbeirrter Protest gegen dergleichen Verhalten die humane Dreiheit von Denken, Empfinden und Handeln nachhaltig zusammenführen, denn diese drei auf Integration hin angelegten Kräfte sind auf jede besondere Art mit dem Schicksal künftiger Menschheit verknüpft; jede von ihnen bietet einen Aspekt von Zukunft.

Mangelnde Integrität der subjektiven Potentiale bürgerlich erzogener Subjekte fördert die Determinanten des gesellschaftlichen Unfriedens. Entwickelte Intellektualität verbindet sich möglicherweise mit archaischen Emotionen, deren Charakter sich am Umgang mit Gegnern beweist. Wo dem Kontrahenten ein Mißgeschick widerfährt, ein Unfall zustößt, Fehler unterlaufen, Katastrophen unabsehbar schädigen, dort wächst Schadenfreude, primitiver Triumph, hämische Genugtuung. Das kapitalistische Konkurrenzprinzip legt dergleichen Verhalten im engeren Bereich nahe. Auf die internationale Ebene übersetzt es sich folgerichtig und gerät zum schlechten Systemvergleich, weil es die erforderlichen historischen Erwägungen ausschließt, dem anderen Gerechtigkeit verweigert.

Die moralische Konstituierung des Subjekts, von der die Überlegungen ausgegangen waren, fordert Bildung für den einzelnen als Gestalter des persönlichen Lebens und für die Gattung als Subjekt ihrer Geschichte. Auch formal demokratische Gesellschaften enthalten ihren Individuen solche qualifizierte Bildung vor. Wie die Anteile in der Person zerspalten sind, so auch das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben in Hinsicht auf persönliche Verantwortung aller. Die gesellschaftlichen Kräfte bleiben unbegriffen, das Kapital ist eine unverstandene Größe. Wo aber Rationalität als klärende Kraft aussetzt, gelangen an ihre Stelle Formen schicksalhafter Abhängigkeit, oder Rationalität rangiert unter der unbefragbaren Chiffre der Sachzwänge.

Alternatives Denken wird bereits als unnütz oder gar gefährlich verworfen, von alternativem Handeln nicht erst zu reden. Bekanntlich besteht in der westlichen Welt offiziell kein Informationsmonopol, Zensur findet nicht statt, Meinungen dürfen frei geäußert werden. Bemerkenswert ist jedoch, daß grundsätzliche Opposition sich außerordentlich selten kundtut. Die Publizistik stellt sich freiwillig darauf ein, daß im eigenen System prinzipiell kaum etwas falsch sei, radikales Denken nur Radikalen eigne und folglich rechtens unter den Radikalenerlaß falle. Das Ausmaß an Heuchelei, wie es im politischen Leben der Republik an der Tagesordnung ist, setzt sich in den Organen fort, die zur Kritik der politischen Kultur berufen sind. Wer freilich die Chefsessel in den Redaktionsstuben bei den Medien nicht verfehlen will, wird zuvor seine journalistische Geschmeidigkeit unter Beweis stellen, ein Witterungsvermögen für politische Trends entfalten müssen. Wirklich unbequeme – nicht nur scheinbar aufmüpfige – Kommentare sind durchaus selten. Wo sie erscheinen (können), steht zugleich die Einflußlosigkeit des Blattes fest oder es schließt sich durch seine Linkslastigkeit von der öffentlichen Beachtung aus, wird nicht zitiert, gelangt kaum in den Pressespiegel.

Die Akklamation der Dummheit – Generaldispens der Macht

Grundlegende Bildung in Hinsicht auf Krieg und Frieden wird durch die Perfektion der Medien ständig schwieriger. Der Präsident der USA erteilt den Befehl, libysche Städte zu bombardieren, weil er es für erwiesen hält, daß von dort trainierte Terroristen den Anschlag auf die Diskothek in West-Berlin ausgeführt hätten. Westberliner Spezialisten, die alle Spuren überprüften, erklären, es sei keineswegs eindeutig, daß die Sache mit Libyen zu tun habe. Diese bemerkenswerte Differenz der Auffassungen wird jedoch kaum bekannt und noch weniger diskutiert.

Bestürzend ist, daß der amerikanische Präsident nach dem von ihm veranlaßten Luftangriff auf libysche Städte sich per Television über alle Kanäle in den amerikanischen Wohnzimmern zu Wort meldet und erklärt, die große eigene Nation habe es nicht länger hinnehmen dürfen, vom libyschen Staatschef gedemütigt zu werden; eine derbe Lektion hätte ihm erteil werden müssen. Die anschließende Blitzumfrage ergibt, daß weit über die Hälfte aller amerikanischen Bürger das Vorgehen ihres Präsidenten gutheißen. Wenig später bekundet dieser, man müsse evtl. auch Damaskus und Teheran züchtigen, falls die Spuren der Terroristen dorthin führten. Käme es dazu, dürfte wieder die Mehrzahl der Amerikaner, auf ihre Ehre angesprochen, ähnlich antworten. Die Akklamation der Dummheit ist gewiß. Emotionen lassen sich für militärische Unternehmen entfachen und die Meinungsforscher erteilen alsbaldige Absolution, verbürgen die Zustimmung der amerikanischen Seele. Die Konsequenz gegenüber solcher nationalen Einmütigkeit ist, daß auch Senat und Repräsentantenhaus nicht umhin können, die vom Präsidenten angeforderten Mittel etwa zum Kampf gegen Nicaragua zu bewilligen, da sie sich sonst gegen ihr Volk und seinen erklärten Willen stellten. Die Primitivität von oben und von unten ist kurzgeschlossen. Schwer vorstellbar bleibt, wie im Medienzeitalter dieser Sperrkreis aus Borniertheit, Macht und Inhumanität aufzubrechen wäre. Selbst wenn man den renommierten amerikanischen Soziologen Norman Birnbaum hört, der die Kretins an der Regierungsspitze bloßstellt 1, so ist dies letztlich ein zwar respektables, aber einsames Votum amerikanischer Intellektueller, deren Kritik ohnmächtig bleibt, da sie von den Mächtigen ignoriert werden darf.

Ein apokalyptischer Zirkel

Als im Frühjahr 1986 die Sprengung an der Gefängnismauer in Celle als eine Aktion des Verfassungsschutzes aufgedeckt wurde, der einen sogenannten V-Mann in die Terrorszene hatte einschleusen wollen, geriet eine bemerkenswerte Notiz in die Nachrichten: Generalbundesanwalt Rebmann sei befremdet, daß die Staatsgewalt sich selbst höchst illegaler Mittel bediene; doch blieb dies ein augenblickliches Statement. Man hat nicht gehört, daß der oberste Strafverfolger der Republik daraufhin einen Verantwortlichen angeklagt hätte. In gefährlichen Situationen, so hieß es später, dürfe der Staat auch zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. Nach solchen Erklärungen und dem selbstausgefertigten Generaldispens wird man bei allen künftigen Sprengstoffanschlägen und ähnlichen Aktionen größtes Mißtrauen gegenüber den öffentlichen Verlautbarungen zu kultivieren haben, denn es ist hinfort nicht auszumachen, ob bestimmte terroristische Gruppen oder der Staat selbst als Urheber eines Verbrechens zu benennen sind. Die Herrschaftsträger folgen damit freilich nur einer Praxis, die vom US-amerikanischen CIA, jedoch auch von den Geheimdiensten anderer Staaten unwiderleglich bezeugt sind. Bestimmte erwünschte Situationen werden hergestellt, wenn sie real nicht vorhanden sind. Es kann sich um die Vernichtung landwirtschaftlicher Vorräte handeln, damit massenweise Hunger entsteht, um ausgelöste Naturkatastrophen, um nachhaltige Schädigung der Infrastruktur, Zerrüttung des Währungssystems, Betriebsunfälle, Anzettelung von Revolten durch Unterstützung illegaler oppositioneller Kräfte, Anwendung von Folter usw. Auch die Beseitigung unliebsamer Personen – zumindest indirekt – gehört in den schaurigen Katalog möglicher Eingriffe und beläßt die Bürger demokratischer Staaten ratlos angesichts der Zwielichtigkeit, die sie umgibt. Kein Unbefugter erhält Einsicht in die geheimen Praktiken. Denken, Fühlen und Handeln sind gleichermaßen irritiert. Mit solchen Bescheiden wird sich die Pädagogik jedoch nicht abfinden; sie kann die Verstümmelung des Menschen nicht hinnehmen.

Nicht fern scheint übrigens der Zeitpunkt, an dem der Zirkel von Gewalt und Gegengewalt sich apokalyptisch auftut. Nach Meinung von Experten ließen sich Atomsprengsätze bald in bescheidenen Laboratorien herstellen, als Erpressungsmittel nutzen oder unmittelbar im Terrorakt zünden. Träfe es zu, wäre die Szene unausdenkbar: Verzweifelter Protest gegen die vorhandene Gesellschaftsordnung erhielte die letzte unwiderrufliche Wucht, der Bürgerkrieg erfolgte offen. Über die wahren Ursachen solcher gesellschaftlicher Zerrissenheit und der durch sie ausgelösten katastrophalen Folgen aber wäre dringend nachzudenken. Die Tendenzen zur kollektiven Vernichtung hängt mit der durch Herrschaft einhergehenden Zerstörung des menschlichen Wesens zusammen. Wer sich mit seiner Gesellschaft nicht mehr zu einigen vermag, verfehlt den Sinn des Lebens schlechthin sowie die Fähigkeit zur barmherzigen oder zornigen Anteilnahme. Unbeanspruchte und nicht sublimierte Liebesbedürfnisse schlagen in Haß um. Alle anderen in die Selbstzerstörung hineinzuziehen bietet dann perverse Befriedigung. Der Gedanke einer Rettung durch Bildung aber steht kontrovers zum Interesse der Herrschaftsträger, doch verheißt Bildung für alle den einzig möglichen Weg der Rettung, da nur Menschen selbst ihre Verhältnisse, d.h. die Ursachen ihres Elendes auszusetzen vermögen.

Selbstbestimmung als Aufgabe

Friedenserziehung unter gesellschaftlichen Widersprüchen muß auf das Zentrum dessen zurücklenken, was Pädagogik einzig heißen darf: Kritik an den Verhältnissen im Namen und Horizont der Bildung. Damit ist sie Friedenserziehung schlechthin, denn sie zeigt die Gründe des innergesellschaftlichen Unfriedens auf, die in der Herrschaft von Menschen über Menschen liegen, Regression und Aggression beständig auslösen, schließlich die mentale und moralische Verkrüppelung der Person veranlassen. In den etablierten Rängen der Publizistik entspricht dem die fugenlose Willfährigkeit; „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist alltäglich. Peter Glotz, Bundesgeschäftsführer der SPD, hat kürzlich bemerkt, die meisten „Hoffnungsträger“ der Partei hätten keine Biographie, sondern nur eine Karriere. Das dürfte allenthalben zutreffen, nur wird es nicht überall gleichermaßen ausgesprochen. Pädagogik wirkt dieser gesellschaftlichen Korrumpiertheit nicht mit speziellen Maßnahmen entgegen, sondern versucht, Kinder und Jugendliche zur selbständigen Prüfung aller ihnen dargebotenen Materialien zu veranlassen, ihren Mut zu gegenläufigen Auffassungen nicht nur zu tolerieren, sondern zu stärken und damit letztlich ihre Selbständigkeit voranzubringen. Dieses mühsame Geschäft heißt Friedenserziehung, indem es Konflikte offenlegt, Betrug entlarvt, Beschwichtigungen nicht durchgehen läßt, Analyse und Kritik des innergesellschaftlichen Unfriedens betreibt. Es geschieht unter der moralischen Rechtfertigung, daß die künftige Generation kühner als die vorhergegangene auf ihre Selbstbestimmung zu verweisen lernt und qualifizierte Demokratie über die formale hinaus erringt.

Das Problem aber ist nicht ohne Blick auf den Pädagogen zu diskutieren, der diese Veränderung veranlassen soll und doch selbst unter den Herrschaftsbedingungen deformiert ist. Immerhin hat seine Arbeit zum Ziel, den gesellschaftlichen Emanzipationsprozeß zu fördern; zugleich nimmt er wahr, daß er auf manchen Feldern seines Wirkens auf Unbelehrbarkeit stößt und daß seine Lektionen verworfen werden. Der politisch Denkende muß sich zudem erst mit einem großen Zeitmaß vertraut machen.

Zu fragen ist, wie der Pädagoge inmitten von Lüge, Falschinformation und dem Zynismus der Macht Identität aufbaue und wahre, da jemandes Lebenszeit nicht ausreicht, Stadien des Fortschritts eindeutig zu erkennen. Aber ohne dauerndes angestrengtes pädagogisches Handeln – als ob von ihm alles abhinge – wird kein Fortschritt eintreten. Diese Konsequenz bleibt indessen auch für den Pädagogen eine harte Zumutung.

Anmerkungen

1 N. Birnbaum: Feuer frei auf Gaddafi. In: Der Spiegel Nr. 17/1986, S. 134 f. Der Soziologe Norman Birnbaum ist Professor an der Washingtoner Georgetown-Universität und Mitherausgeber des US-Magazins „The Nation“.Zurück

Dr. Hans Jochen Gamm, Professor der Pädagogik an der Technischen Hochschule Darmstadt.

Krieg und Theater. Zur Funktion von Komödien nach Kriegen

Krieg und Theater. Zur Funktion von Komödien nach Kriegen

von Jürgen Hein

Daß der Erste Weltkrieg für die Kunst wie für die Wissenschaft offensichtlich nur in wenigen Fällen als bedeutender Einschnitt empfunden wurde und Germanistik wie Theaterwissenschaft weiterhin im „Einsatz“ blieben, belegt u. a. eine Dissertation „Das deutsche Fronttheater 1914-1920“, die im Buchhandel gar unter dem Titel „Theater als Waffengattung“ erschien. Darin weist Hermann Pörzgen für diesen Zeitraum an die zweihundert Front- und Gefangenentheater nach; in der Einleitung heißt es u.a.: „Die enge Beziehung zwischen Theater und Krieg ist also so alt und beständig wie Theater und Krieg überhaupt. Die großen Versammlungen unterhaltungsbedürftigen Publikums, wie Heere und Truppenlager sie darstellen, sind ein fruchtbarer Boden für jede Gattung theatralischen Lebens, manchmal begünstigt durch bestimmte Methoden der Kriegsführung.“

Auf den Spielplätzen solcher Theater, die zur Truppenbetreuung eingesetzt wurden oder als „Heimatfronttheater“ eine „kriegstüchtige Stimmung“ – wie Pörzgen schreibt – erzeugten, standen Stücke, die dieser „vaterländischen“ Aufgabe gemäß waren, daneben natürlich eine Fülle „ablenkender“ Schwänke und Komödien. Letztere dienten dann bei den Kriegsgefangenen der „Kompensation des Lagerlebens“. Pörzgen spricht den Lagertheatern sogar eine friedensstiftende Funktion zu, indem Sieger und Besiegte unterschiedlicher Nationalität gemeinsame Theateraufführungen durchgeführt hätten.

Nach dem Krieg wurde die Komödie erneut in „Dienst“ genommen. Nun sollte der „Neue Humor“ seinen Beitrag zum Wiederaufbau und zur Ausbildung des Lebenswillens leisten. Die komödienhafte Verarbeitung und satirisch reflektierende Bewältigung der schrecklichen Ereignisse traten gegenüber der Fülle unterhaltender Stücke in den Hintergrund. Die noch in Kriegszeiten entstandene und von den Ereignissen selbst „überholte“ Monumentalgroteske „Die letzten Tage der Menschheit“ (1919) von Karl Kraus blieb eine Ausnahme und ohne Nachfolge; Ödön von Horvaths „Heimkehrerstück“ „Don Juan kommt aus dem Krieg“ (1937) ist als Fragment zu Lebzeiten des Autors nicht auf die Bühne gekommen. So bleibt als Ausnahme Hugo von Hofmannsthals Komödie „Der Schwierige“ (1921).

Den Kriegsheimkehrer Don Juan, der seine „Heimat“ nicht findet und überall auf Heimatlosigkeit stößt, läßt Horvath in der 1. Szene vor einem „Fronttheater“ auftreten. Stärker kann der Kontrast zwischen „Theater“ – als Ablenkung, Illusion und „Fassade“ – und der illusionslosen „Realität“ nicht dargestellt werden. Ähnlich kann man Hans Karl Bühls, des „Schwierigen“, Auftritt vor der „Gesellschaft“ sehen. Ihn hat der Krieg desorientiert und isoliert; für kurze Zeit verschüttet findet er nicht mehr in die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen, sie sind für ihn ebenfalls „verschüttet“. Auf der Suche nach neuer Lebensform helfen ihm sein durch die Kriegsereignisse geschärftes Bewußtsein, das sich in Sprachskepsis artikuliert, und – darin „Minna von Barnhelm“ vergleichbar – seine Verlobte Helene Altenwyl als verkörperte „Humanität“. Hans Karl und Helene stehen als Repräsentanten des „wiedergefundenen Menschen“ zwischen der „alten Gesellschaft

und den Vertretern der Neureichen, Opportunisten, Oberflächlichen, die die „neue Gesellschaft“ sein wollen.

Die Bewältigung der in Österreich wohl auch anders erfahrenen Kriegsereignisse und Kriegsfolgen durch Formen subtiler Komik ist ohne Beispiel. Durchgesetzt haben sich die anderen, die eher schwankhaften Stücke mit „Überlebenskomik“, die in der Zwischenkriegszeit die problematische Ideologie der Kompensation und Rehabilitierung übernahmen, wie z. B. Karl Bunjes „De Etappenhas“ (Der Etappenhase, 1935). Dieses Stück, das in der Spielzeit 1936/ 37 allein 283 Vorstellungen erlebte (davon 50 in der niederdeutschen Fassung), lebt von der schwankhaften Darstellung des „kleinen Mannes“ in Uniform, der seine Knochen für die anderen hingehalten hat, sich dann aber „sein Recht“ holt und sich mit List gegenüber den „Großen“ behauptet. Die Komik des Überlebens und des privaten Durchhaltens überwiegt, tiefergehende grundsätzliche Kritik am Militarismus wird nicht geübt. – Im „Volksstück“ „Die vier Musketiere“ (1932) von Sigmund Graff, Regierungsrat im Propagandaministerium, glauben vier einfache Landser an die „Dolchstoßlegende“ und mobilisieren neue Wehrkraft. Diese Form von „Überlebenskomik“ kam – besonders durch die Verfilmung des Stücks unterstützt – den Machthabern des „Dritten Reiches“ sehr entgegen, die gleichzeitig Aufführungen bedeutender Komödienautoren verboten (u. a. Wedekind, Sternheim, Zuckmayer, Kaiser, Rehfisch). In dieses Bild paßt auch die verfälschende Umdeutung des am meisten gespielten Bühnenklassikers „Minna von Barnhelm“ (Film: „Das Fräulein von Barnhelm“, 1940) als Apotheose des Preußentums. Daß Lessings Stück durch alle Kriegs- und Friedenszeiten hindurch – wenn auch umgedeutet, fehlinterpretiert und zum prämilitärischen Stück inszeniert – seine Wirkkraft und Aktualität behalten hat, gehört zum Geheimnis dieser eigentlich gegen den Krieg geschriebenen Komödie. Dies gilt auch für den Stellenwert des Stücks im Spielplan des „Fronttheaters“.

Die Funktion des „Fronttheaters“ im Zweiten Weltkrieg wird am Beispiel der Millowitschbühne deutlich. Diese Kölner Theatergruppe wurde zur Wehrbetreuung und überregionalen Verbreitung rheinischen Frohsinns eingesetzt und gab 1939/ 40 Gastvorstellungen in den Barackenlagern der Westwall- Arbeiter, u. a. mit dem schon erwähnten Stück „Der Etappenhase“ in einer rheinischen Version. Willy Millowitsch erinnerte sich in einem Interview 1981 an die intensive Wechselbeziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern, die die Grenzen zwischen Realität an der Front und theatralischer Fiktion zum Fallen brachte:

„Wir betraten die Bühne als Soldaten, die aus dem Schützengraben in die Etappe zurückgekehrt waren, und begannen zu schimpfen: „Scheiße, nix ze esse! Mir hann Hunger.“ Da stand einer der Arbeiter aus dem Zuschauerraum von seinem Platz auf, kam die drei Stufen zu uns herauf auf die Bühne und drückte uns sein Butterbrotpaket in die Hand: „Hier Kameraden, da habt ihr meine Ration, das reicht Für heute.“ Dann ging er wieder runter und setzte sich auf seinen Stuhl. Im Saal war es ganz still.“

„Kölner Humor“ sollte zum „Durchhalten“ animieren, und die Darstellung „intakter Bühnenfamilien“ erweckte die Hoffnung, daß auch zuhause alles in Ordnung sei. Das Bild vom unverwüstlichen Kölner wurde dann auch zur Heimatbetreuung eingesetzt; Lokalstücke vom „alten Köln" sollten über die starken Bombenangriffe und die Zerstörung hinwegtrösten. Wenn auch von „oben“ zu Kriegsende diese Art von „Fronttheater“ wegen „zersetzender Oberflächlichkeit“ teilweise untersagt wurde, hielt man doch am propagandistischen Wert des Unterhaltungstheaters fest. Zu denken gibt, daß die erste Fernsehübertragung nach dem Zweiten Weltkrieg am 27. Oktober 1953 ausgerechnet das Stück „Der Etappenhase“ brachte. Von Bertolt Brechts „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ (1942/ 43) abgesehen, ist Franz Werfels „Komödie einer Tragödie“ „Jacobowsky und der Oberst“ (1943) der erste und bislang einzige komödienhafte Reflex auf den Zweiten Weltkrieg. Am Rande kann noch die „Tragische Posse“ „Der Bockerer“ (1946) von Peter Preses und Ulrich Becher genannt werden.

Nach Helmut Koopmann demonstriert Werfels Stück, wie in der aus allen Fugen geratenen Welt Lachen als Fähigkeit zur Überwindung möglich wird. In der Umkehr der Redensart „Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst“ zeigt sich, daß aus der Tragödie eine Komödie geworden ist, und dies durch die Befreiungstat des Geistes der verfolgten und erniedrigten Menschen. Umgekehrt wird aus dem militärischen Helden ein verzagter, demoralisierter Antiheld; mit Recht stellt Koopmann die Verwandlung einer „klassischen“ Komödienfigur, des Bramarbas, in einen „Menschen“ heraus. Die Überwindung der grauenvollen Realität gelingt durch die Kraft der Sprache, und sie gelingt nur als „Spiel“ auf der Bühne, aber mit einem Blick in die hoffnungsvolle Zukunft der Freiheit, die nicht Utopie bleiben muß.

Der Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg war, wie Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ (1947) beweist, keiner komödienhaften Darstellung fähig, zu grauenhaft waren die Ereignisse, daß die Komödie ihnen hätte „beikommen“ können – um eine Formulierung Friedrich Dürrenmatts aufzugreifen. Einzig in der Form des „Überlebenden“ wie in Brechts „Schweyk“, im „Bockerer“ oder in der Figur des Jacobowsky schien eine dramatische Aufarbeitung möglich. Weder das ernste noch das komische Drama haben diese Linien weiterverfolgt. Den „Komödien nach Kriegen“ folgten „Komödien gegen den Krieg“: Brechts „Mit Pauken und Trompeten“ (1955), „Die Schlacht bei Lobositz“ (1956) von Peter Hacks, Rolf Hochhuths „Lysistrate und die Nato“ (1973) und Friedrich Dürrenmatts „Porträt eines Planeten“ (1971).

Anlaß für Brechts Stück soll die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO gewesen sein; Brecht verschärft gegenüber seiner englischen Vorlage aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Verbindung von Kriegs- und sozialer Thematik. Hacks setzt ein Jahr später beim Problem des preußischen Militarismus an. Aus der literarischen Biographie des Ulrich Bräker konstruiert er den Modellfall einer Auseinandersetzung mit den menschlichen Bemühungen um die Abschaffung des Krieges, der als Verschwörung der Offiziere gegen die Menschen verstanden wird. Bräker hängt zum Schluß „sein Gewehr an einen Weidenstumpf“ und singt:

Frei steh ich im Sonnenlicht, im warmen.

Ledig nun des Kleids, des ich mich schäm.

Ich könnt jede Kreatur umarmen

Wenn ich den Herrn Korporal ausnehm.

Ich häng mein Flint

An den Weidenbaum im hellen Wind.

Häng Bruder, deine auch dazu.

Dann habn wir alle Ruh.

Mein Befehl hab selber unterschrieben.

Mein Weg ist nicht der vom Regiment.

Weil damit mein letzter Marsch, ihr.

Lieben,

Nicht mit meinem letzten Stündlein end.

Ich häng mein Flint

An den Weidenbaum (…)

Zwischenvorhang

Fürcht den Tod, besonders den der Helden,

Krieger- Tod, auch preußisch Tod genannt.

Eh sie dich von dieser Welt wegmelden,

Meld dich do. .'Z weg vom Soldatenstand.

Und häng dein Flint,

Wo schon viel blanke Flinten sind.

Und häng dein König auch dazu.

Eja, dann ist Ruh.

Während Brecht und Hacks mit den Mitteln historischer Verfremdung die aktuelle Problematik theatralisch verarbeiten wählt Hochhuth einen eher „direkten“ Weg der Abbildung, der aber infolge mangelnder poetischer Distanzierung wenig geeignet ist, die politische Dimension in theatralische Bilder von eindringlicher Wirkkraft umzusetzen. Dürrenmatt hat angesichts des Unmaßes „von banalen, schrecklichen, gewöhnlichen, außergewöhnlichen, absurden, monotonen, grotesken, unglücklichen, aber auch unglücklichen Szenen“ von Krieg und Vernichtung gemeint, daß diesem „gigantischem Stoff“ nur „gigantische Mittel“ gewachsen zu sein scheinen, daß aber letztlich jedes Kunstmittel versagen müsse: „Auch die bis ins Enorme aufgeschwollene Tragödie von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ war schließlich ihrem Gegenstande doch nicht gewachsen. (…) Der Erste Weltkrieg rollte über die kunstreiche und wortgewaltige Parodie hinweg, die einmal Wirklichkeit war. (…)“ Dürrenmatt folgert, nur durch die „dramatische List“, den gigantischen Stoff „mit den kärglichsten Mitteln“ darzustellen, sei eine angemessene Realisierung möglich: „Sind bei einem Stoff unermeßlich viele Szenen möglich, kann er auch mit wenigen dargestellt werden: um so wichtiger werden dann diese wenigen Szenen, mögen sie auch an sich banal erscheinen.“ Dürrenmatt hat dies unter Verzicht auf das „Theaterliterarische“ im „Porträt eines Planeten“ versucht und dabei die schon früher in seinen Theaterproblemen aufgeworfene Frage gestellt, ob die komische Distanzierung auch in unserer Welt noch ein Korrektiv des Furchtbaren sein, ob uns noch die Komödie „beikommen“ könne, oder ob, wie es Horst Meixner am Ende seiner Betrachtung „Vom Major Tellheim zum braven Soldaten Schwejk“ ausdrückt, „die Darstellungsmittel der Komik und der Groteske letztlich versagen in einer Welt, die absurd und deren Grauen unvorstellbar geworden ist.“

Wenn es stimmt, was Hugo von Hofmannsthal nach dem Ersten Weltkrieg formulierte, daß nach verlorenen Kriegen Lustspiele zu schreiben seien, in denen das Grauenvollste und Schwerste durch die kritische Heiterkeit der Kunst erträglich wird, dann hat die Literatur im Laufe der Jahrhunderte davon nur wenig realisiert. Und die Literaturwissenschaft hat häufig darauf verzichtet, ihre kritisch- analytische wie „bildende“ Funktion zur Erhellung solcher Konstellationen von Ästhetik und Politik auszuüben.

Auf den ersten Blick scheinen in den Spielplänen die Unterhaltungsstücke zu dominieren, die weiterhin an der theatralischen Wirkung von Uniformen festhalten. Auch der „kompensatorische“ Gebrauch von Theater, auf dem Lustspiele zum „Aushalten“ in der Heimat und an der Front gespielt wurden, hat dazu beigetragen, die kritische Potenz der Komödie zugunsten einer schwankhaften Besänftigung abzubauen. Ähnliches ist übrigens beim Spielfilm, insbesondere im Genre des „Lustfilms“ zu beobachten. Die Literarisierung des „Militärmotivs“ ist sowohl fr die Kriegs- wie für eine Friedensideologie offen und zum Teil ambivalent. So brachte die Ästhetisierung des Militärs Verherrlichung neben Entfremdung und spottender Kritik. Die Mimus-Formen bewahrten kritisches Potential, verstärkten zugleich aber auch die „positive“ Wirkung; selbst die „Karnevalisierung“ des Militärischen konnte schließlich in affirmative Bewunderung umschlagen.

Aufgabe der Komödie wäre es, ihre kritische und utopische Funktion zurückzugewinnen, indem sie durch komische Konstellationen, die aus konkreter sozialer und geschichtlicher Erfahrung gewonnen sind, die Verkettung von Gesellschaft und Militär in theatralische Bilder bringt und Machtansprüche satirisch bricht. Komödien können zum. literarischen Diskurs über den Friedensgedanken beitragen, indem sie Konfliktlösungen durchspielen, kritisches Bewußtsein wachhalten und mit den ihnen eigenen Mitteln keiner „theatralischen Mobilmachung“ Vorschub leisten.

Dr. Jürgen Hein ist Professor für Germanistik an der Universität Münster.

Den Frieden lehren

Den Frieden lehren

Seminar „Experimentelle Kernphysik“ an der Ruhr-Universität Bochum

von Bernhard Gonsior

Angeregt durch die Ereignisse der letzten Zeit haben wir das vorliegende Seminarthema gewählt. Will man „Den Frieden lehren“, so muß man auch auf die engen Verbindungen zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und dem „Fortschritt“ in Waffensystemen hinweisen. Die Themen, die wir gewählt haben, sind naheliegend, aber sie sind gleichzeitig auch eine Darstellung von Beispielen für durchgehende Verbindungen zwischen reiner und angewandter Wissenschaft einerseits und militärischer Bedürfnisse andererseits.

Viel zu wenig wird die schwerwiegende Problematik herausgestellt, der sich die Menschen zu Zeit gegenüber sehen und die direkt mit dem Fortschritt in der Wissenschaft zu tun hat. Den engen Verbindungen zwischen Wissenschaft und dem fortgesetzten Wettrüsten schenken wir fast keine Aufmerksamkeit, jedenfalls nicht in unserem Ausbildungsprogramm.

Der Charakter des gegenwärtigen Wettrüstens hat sich von einer Überdimensionierung von Megatonnen hin verschoben zu sensitiver Technik ständig zunehmender Präszision und Flexibilität. Schon vor einigen Jahren wurde darauf hingewiesen, daß die Technologie Stück für Stück die Charakteristika der Waffensysteme so verändert, daß gewisse stabilisierende Eigenschaften unterminiert werden. 1

Indem wir aus dem Gesagten Folgerungen ziehen, wollen wir uns dem Problem zuwenden, wie wir es anstellen sollen, um in unserer Ausbildung entsprechend zu reagieren, d. h. wie sollen wir unser Seminar gestalten?

Der Lehrende in Physik ist im allgemeinen der Ansicht, daß Wissenschaft und Technologie separate Bereiche menschlicher Tätigkeit sind, daß man den Wissenschaftler nicht verantwortlich machen sollte für den Gebrauch, der mit neuen Erkenntnissen gemacht wird. Es handelt sich hierbei um das Dogma der Wertfreiheit von Wissenschaft, und ich vermute, daß es der Entlastung dienen soll. Auf jeden Fall halte ich es für richtig, daß den Studenten eine Diskussion in dieser Richtung – aufbauend auf den physikalischen Grundlagen, die wir beherrschen – geboten werden muß. Wenn wir dieses ausführlich tun, so werden wir auf die technologische Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse mehr Augenmerk haben.

Welche Probleme gibt es bei der Vorbereitung eines solchen Seminars

Beispiele für Seminare gibt es inzwischen an vielen Universitäten. Auch haben wir Erfahrungen von amerikanischen Universitäten zu Rate gezogen. Dabei spielt zunächst eine wichtige Rolle, wo man Material in der Literatur finden kann. Man macht dabei die Erfahrung, daß bei weitem nicht soviel geheimgehalten ist, wie man glauben möchte, jedenfalls nicht bezüglich der relevanten physikalischen Grundlagen. Trotzdem findet man das Material nicht da, wo man es zunächst vermuten möchte. In den Lehrbüchern findet man nur wenig einschlägiges Material, was für den Einstieg zu gebrauchen ist. Im allgemeinen fühlen sich wohl die Autoren und auch die Lehrenden für dieses Thema nicht kenntnisreich genug, d. h. hinsichtlich der Anwendung unserer Wissenschaft auf die militärische Technologie. Diese Vermutung bestätigte sich auch im großen ganzen im Kollegenkreis.

Warum wollen wir uns mit der wissenschaftlich-technischen Natur der Kernwaffen beschäftigen? Hinsichtlich der demokratischen Entscheidungfindungen scheint immer klarer zu werden, daß die gegenwärtige Generation von Entscheidungsträgern in den meisten Ländern keine persönlichen Kenntisse über Kernwaffen und ihre Auswirkungen hat. Wir müssen uns daher bemühen, möglichst weitgehend die technischen Fakten über die Art und über die zerstörerischen Wirkungen der Kernwaffen klarzulegen.

Aus all diesen Gründen ist es erforderlich dem Studenten und der Öffentlichkeit eine möglichst tiefgehende Diskussion anzubieten. Der Student wird später wenig Möglichkeit haben, etwas zu erfahren über den Drang nach wissenschaftlicher und technologischer Überlegenheit und dessen Wechselwirkungen mit dem Wettrüsten.

Die Breite der Physikausbildung und der Zusammenhang mit der Forschungsentwicklung für militärische Zwecke sind bedeutsam. Moderne Waffensysteme enthalten so viele verschiedene wissenschaftlichtechnische Details, erfordern so viel unterschiedliche Entwicklungsarbeit, daß man Schwierigkeiten hat, sich einen Forschungsbereich vorzustellen, der nicht mit militärischen Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht werden kann. SIPRI, das Stockholm International Peace Research Institute, hat abgeschätzt, daß von den Forschern in Physik und in den Ingenieurwissenschaften mehr als 50 % voll für militärische Forschung arbeiten.

Man muß sich klar darüber werden, daß die physikalische Forschungsentwicklung stillschweigend ein Partner in der Entwicklung und Beschleunigung des Wettrüstens geworden ist. Wir sollten einen Beitrag dazu leisten, um diesen Trend umzukehren. Auch und besonders in der Ausbildung in den Naturwissenschaften muß erkannt werden, daß eine Erziehung vonnöten ist, die die Menschen später befähigt, den korrektiven demokratischen Druck so aufzubauen, daß das Wettrüsten zum Stehen gebracht werden kann.

Die Themen des Seminars im WS 1983/84

1. Einführung in das Thema

2. Physikalische Grundlagen der Kernspaltung

3. Physikalische Grundlagen der Kernverschmelzung

4. Energieabschätzung für nukleare Sprengstoffe. Aufbau und Wirkung von Spaltungsbomben

6. Aufbau und Wirkung von Fusionsbomben

7. Zur Geschichte der Göttinger Erklärung 1957

8. Aufbau und Wirkung der Neutronenbombe

9. Welche Radioaktivität wird bei einer Kernexplosion freigesetzt?

10. Anwendung des Lasers bei der Isotopentrennung

11. Marschflugkörper; der K-Faktor

12. Pershing II und SS 20

13. Nuklearwaffentests und ihre Überwachung für einen allgemeinen Teststop

14. Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen

Anmerkungen

1 Science, Bd. 201, S. 1102, 1197; Bd. 202, S. 289 Zurück

Prof. Dr. Bernhard Gonsior, Ruhr-Universität Bochum, Fachbereich Physik.

Seminar „Friedenspädagogik“ an der Philipps-Universität Marburg

Seminar „Friedenspädagogik“ an der Philipps-Universität Marburg

von Klaus Rehbein

Ist die Friedensproblematik ein „wissenschaftlich“ zu fundierendes Thema? Spätestens seit Kants philosohischem Entwurf „Zum ewigen Frieden“ von 1795 kann es darüber eigentlich keinen Zweifel mehr geben.

Eine im Sommersemester '84 begonnene Ringveranstaltung der Philipps-Universität wird im Wintersemester 84/85 unter dem Titel „Krieg und Frieden“ fortgesetzt. – Die zweite Veranstaltung am 29. November, mein Vortrag über „Friedenserziehung als Verfassungsauftrag“, wurde von 24 Personen einschließlich Vizepräsident, Dekan und Hochschulassistent besucht und fand ohne Beteiligung weiterer Kollegen oder wissenschaftlicher Mitarbeiter statt. Die wissenschaftliche Grundaussage zwischen Erziehungswissenschaft und Recht konnte mangels kritischer Öffentlichkeit nicht fundiert diskutiert werden.

Um so erfreulicher verlief ein Seminar über Friedenspädagogik im SS 84. Es beteiligten sich zwischen 30 – 40 Studierende, die ihre durchweg sehr qualifizierten Beiträge jeweils in Arbeitsgruppen erarbeitet hatten. Entsprechend den zeitlichen Möglichkeiten des Sommersemesters fanden zwölf Sitzungen zu folgenden Themen statt:

Nach einer ersten Einführung in das Thema auch hinsichtlich des Wissenschaftscharakters der Veranstaltung und Bezugnahme auf Kants bekannte Schrift in der ersten Sitzung, stellte ich in der zweiten Sitzung meine eigene Position dar zur „Friedenserziehung als Verfassungsauftrag“: Die Erziehung zur Grundrechtsmündigkeit ist eine wichtige Voraussetzung zur Verwirklichung einer Ethik des Friedens. Entscheidend ist, daß vor dem Hintergrund einer Analyse von Präambel und Art. 1, 2, 6, 7, 8, 20 (IV), 24, 25, 26, 79 (III) des Grundgesetzes in Verbindung mit §§ 80, 80a StGB der Auftrag zur Friedensverwirklichung als Staatszielbestimmung der BRD begriffen und verstanden wird, daß die hieraus entwickelte Übernahme von Verantwortung für den Frieden selbst ein die anderen Menschen- und Grundrechte strukturierendes und begrenzendes Hauptfreiheitsgrundrecht ist.

Diese Gegenwartsposition kann nicht ohne die Kenntnisnahme der historischen Entwicklung der Krieg – Frieden – Problematik und ihrer rechtlichen und theologischen Begründung verstanden werden. Die dritte Sitzung war deshalb der „Lehre vom gerechten Krieg“ gewidmet.

Damit konnte übergeleitet werden zur konkreten Analyse der Waffenproblematik und ihrem in dieser Form erstmaligen Bezug zur Verfassung. Die Frage wurde vor dem Hintergrund von Wolfgang Däublers (Bremen) bekannter Analyse zu: „Stationierung und Grundgesetz“ erarbeitet.

Welche auch ökonomisch sinnvollen Alternativen gibt es zur auch ökonomisch sinnlosen Rüstung? – Zum Thema: „Wachstum – Ökonomie – Ökologie / Alternative Technologien als Voraussetzung Für den Frieden“, konnten wir mit dem Bremer Kollegen Jörg Huffschmidt diskutieren. Hierzu hatte es allerdings kein studentisches Papier gegeben.

Mit diesem Thema war aber zugleich die allgemeine Forschung und speziell auch die naturwissenschaftliche Forschung hinsichtlich ihrer Funktionalisierung für den Krieg bzw. ihrer Verantwortung für den Frieden angesprochen. Der „Verantwortung der (Natur)Wissenschaft für den Frieden“ war eine eigene Sitzung gewidmet.

Wissenschaftliche Analysen zu diesem Themenkreis finden ihren Sinn nicht in der „reinen“ Wissenschaft, sondern in der Umsetzung in gesellschaftliche Wirklichkeit. Mit den Referaten „Grundzüge einer humanistischen Friedensethik“ und „Der christliche Friedensauftrag“ waren Grundsatzprositionen abgesteckt, die Veranlassung zu engagierter wissenschaftlicher Diskussion vor dem Hintergrund jeweils eigener persönlicher Grundüberzeugungen gaben. Das Thema „Der christliche Friedensauftrag“ war nicht nur von einer Studentengruppe vorbereitet worden, sondern konnte auch mit der Journalistin Vilma Sturm, Köln/Bonn, diskutiert werden. Die Studierenden waren beeindruckt, wie hier eine alte Mitbürgerin ihren Weg zur Friedensbewegung schilderte und zu qualifizierter Sachdiskussion herausforderte.

Daß das Thema „Widerstand und Friede – Gibt es ein Widerstandsrecht?“ (Art. 20 (IV) GG) eine logische Folge insbesondere der unmittelbar vorausgegangenen Sitzungen war, ist unmittelbar einsichtig. Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam haben ihren Ort als Wissenschaftsthematik gleichermaßen im Verfassungsrecht und in der Ethik. Ein entsprechendes Ziel der Lehrveranstaltung war auch von vornherein, fächerübergreifend wissenschaftliche Ansätze aufzuspüren, aber auch ihre Funktion in der derzeitigen politischen Diskussion zu bestimmen.

Auch insofern durfte die Thematik „Wehrdienstverweigerung und Sozialisation in der Bundeswehr“ nicht fehlen. Die Diskussion mit einem Jugendoffizier der Bundeswehr entfaltete sich ebenfalls engagiert, verließ aber auch nicht den durch die Sachproblematik geforderten Rahmen. Analyseversuche zum Thema „Friedenserziehung in Familie und Schule“ nahmen wieder die Erziehungsproblematik im engeren Sinne auf.

Insgesamt stieß das Thema „Friedenspädagogik“ bei den Studierenden auf engagierte Arbeitsbereitschaft. Durch die Mitarbeit von auswärtigen Gästen konnte das Gesamtergebnis wesentlich beeinflußt werden.*

Literatur:

Eine Literaturliste zur Friedenserziehung kann zum Preis von DM 4,- pro 100 Stück bei der DFG-VK, Schwanenstr. 16, 5620 Velbert 1, bestellt werden.

Noch ein Tip: Die Juso-Hochschulgruppen haben ein Heft zur Friedenserziehung herausgegeben, mit Beiträgen von G. V. Staehr, J. Frank H.-J. Jost, A. Kuhn, K. Konrad, D. Kinkelbur und M. Ristau. Bestellungen bei Juso HSG, Ollenhauerstr. 1, 5300 Bonn.

Prof. Dr. Klaus Rehbein ist Erziehungswissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg

»Hallo Krieg«

»Hallo Krieg«

Internationale Videoprojekte zur politischen Bildung

von Andreas von Hören

Das Medienprojekt Wuppertal konzipiert und realisiert seit 1992 erfolgreich Modellprojekte aktiver Jugendvideoarbeit unter dem Motto »das bestmögliche Video für das größtmögliche Publikum«. Innerhalb kurzer Zeit hat sich das »Medienprojekt« zur bundesweit größten und ambitioniertesten Jugendvideoproduktion entwickelt. Jugendliche und junge Erwachsene werden im Rahmen von pädagogischen Institutionen oder frei organisiert bei ihren eigenen Videoproduktionen unterstützt, ihre Videos im Kino, in Schulen, Jugendeinrichtungen etc. in Wuppertal präsentiert und als Bildungsmittel bundesweit vertrieben. Alle Projekte dienen der aktiven Medienerziehung und dem kreativen Ausdruck jugendlicher Ästhetiken, Meinungen und Lebensinhalte.

Die Doku-Serie »Hallo Krieg«

Unter dem Titel »Hallo Krieg« produzierte das Medienprojekt Wuppertal von Januar bis August 2003 mit Jugendlichen eine Doku-Serie zum Irakkrieg. Deutsche, irakische und amerikanische Jugendliche dokumentierten in diesem weltweit einzigartigen tri-nationalen Projekt mit der Videokamera ihr Leben und ihre Gedanken über mehrere Monate vor, während und nach dem Krieg. Sie wurden dabei angeleitet von Medienpädagogen und Filmemachern. Die Doku-Serie wurde in Bagdad, Wuppertal, Iowa und Oklahoma produziert. Mit dem Filmprojekt sollte erreicht werden, Krieg und seine Auswirkungen für Jugendliche in allen drei Ländern aus den verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen nachvollziehbarer zu machen.

»Hallo Krieg« wurde in 30-minütigen Folgen von Februar bis Mai alle 3 Wochen veröffentlicht und bundesweit als politisches Bildungsmittel für Schulen, Jugendeinrichtungen, Veranstaltungen und Privatpersonen vertrieben. Ausschnitte und Making-of-Reportagen aus dem Projekt wurden regelmäßig aktuell im Fernsehen gezeigt. Für den abschließenden fünften Teil reisten im August 2003 drei Schülerinnen mit dem Projektleiter nach Bagdad, um dort eine Reportage über den Krieg und die Kriegsauswirkungen im Irak aus junger Sichtweise zu drehen.

Der medienpädagogische Ansatz des Projektes

Der medienpädagogische Ansatz setzt auf Peereducation/Peerinvolvement: Jugendliche klären Jugendliche am besten auf. Jugendliche sollen sowohl medial als auch politisch partizipieren und ihre junge mediale Artikulation in Verbindung mit ihrer breiten öffentlichen Publikation gefördert werden.

Viele Jugendliche sind nicht politikverdrossen, sondern Politikerverdrossen, d.h. frustriert und ablehnend gegenüber dem in den »großen Medien« i.d.R. lancierten personenbezogenen Politikstil mit offensichtlichen Unmoralitäten. Andererseits engagieren sich viele Jugendliche für moralische Zwecke aus ihrem Lebensumfeld, wenn man sie lässt und dabei unterstützt. Dieses ist auch für sie oftmals ungewohnt und muss erst mal gelernt werden – von den produzierenden Jugendlichen, von den unterstützenden Medienpädagogen, von den kritisierten Politikern.

Unpolitische PädagogInnen machen unpolitische Medienarbeit. Als negative Vorbilder für Jugendliche sind viele MedienpädagogInnen mit ihrer journalistischen oder künstlerischen Artikulation traditionell näher an der Pädagogik als an den Medien. In politischen Projekten geht es nicht nur um das klassisch-pädagogische »Reden über« sondern um ein »Engagieren für«. Außerdem müssen die Jugendlichen das Medium technisch und künstlerisch beherrschen und nicht andersherum das Medium die Jugendlichen.

Politische Gruppen haben für ihre Videoarbeit oftmals weder ausreichendes Know-how noch adäquates Equipment oder Publikationsmöglichkeiten außerhalb ihrer Subkultur. Video bietet die Möglichkeit einer Verbindung von kognitiven und emotionalen Inhalten, von Kommunikation und Aktion und gleicht damit der politischen Einmischung selbst. Video ist als publiziertes Medium massenwirksam, politisiert informell und schafft so politische Partizipation für Jugendliche. Politisch partizipative Videoarbeit versucht Jugendliche zu unterstützen, individuelle und gesellschaftliche Grenzlinien zu überschreiten und somit auszudehnen. Hierbei stößt sie an institutionelle Grenzen, in dem sie politische Reaktionen provoziert. Was für den Medienpädagogen eine Gefahr ist, wird für Jugendliche zum Erfolg.

Politische Bildungsarbeit via Medienpädagogik ist dann erfolgreich im Sinne der Zielgruppe, wenn sie keinen individuell-defizitären sondern einen positiven, gesellschaftskritischen Ansatz verfolgt. Politische Filmarbeit versucht reflektiert Parteilichkeit, Emotionalität und Spaß miteinander zu verquicken. Wenn Demokratie individuell und gesellschaftlich das Ziel ist, so gilt es demokratische Mittel zu nutzen. Unsere Projekte zeichnen sich durch die inhaltliche Autonomie der jugendlichen FilmemacherInnen, filmgestalterische Unterstützung »learning by doing« durch »Film-Profis« mit politischem Bewusstsein, mobiles Digital-Videoequipment für Produktion und Postproduktion, massenwirksame öffentliche und szenemäßige Publikationsforen mit entsprechendem Marketing und begleitende Medienkampagnen aus.

In ihren Videos bearbeiten Jugendliche nicht abstrakte oder recherchierte Themen sondern Selbstthematisierungen, wo sie tatsächlich involviert sind. Deswegen sind ihre Filme oft dynamischer, authentischer, direkter und kompromissloser als Fernsehproduktionen.

Die produzierende Gruppe

Die Doku-Serie wurde hauptsächlich von 8 Wuppertaler Jugendlichen (7 Mädchen und 1 Junge) im Alter zwischen 18 und 19 Jahren produziert. Die Gruppe arbeitete mehrere Monate mit bemerkenswerten Engagement an allen Stufen dieses Projektes: Konzeption, Recherche, Dreh, Interviews, Schnitt, Organisation von Werbung für Aufführungen, Pressetermine, Gesamtorganisation und Konzeption von Aktionen. Ermutigt wurde die Gruppe, die zum großen Teil im Abitur stand, durch den politischen Anlass und das positive Feedback im persönlichen Kreis sowie in der bundesweiten Berichterstattung. Die Gruppe merkte, dass sie tatsächlich etwas bewegen konnte. Neben dieser Kerngruppe arbeiteten noch zwei Austauschschüler in den USA mit amerikanischen Jugendlichen an dem Projekt. Sie produzierten zahlreiche Interviews, die per Post alle 3 Wochen nach Wuppertal geschickt wurden. Mit Studenten aus Bagdad nahm die Wuppertaler Gruppe einen langfristigen Kontakt auf, zunächst in Telefoninterviews, später mit einem Besuch vor Ort. Es fand auch eine enge Zusammenarbeit mit in Wuppertal lebenden Irakis statt, die zunächst reine Interviewpartner waren. Später entstanden private Kontakte mit der produzierenden Gruppe und sie nahmen Pressetermine gemeinsam wahr. Neben der Kerngruppe arbeiteten diverse weitere Jugendliche an dem Projekt auf vielen Ebenen: Als Synchronsprecher, ein aus Kanada stammender Student beteiligte sich an der Übersetzung, bei Straßenaktionen wirkten weitere SchülerInnen mit.

Bei der Bagdadreportage für Teil 5 der Serie bestand die Gruppe aus 3 Mädchen, die zu der Kerngruppe zählen, welche seit Beginn beim Projekt teilnehmen. Das Projekt war sehr Mädchen-dominant, weil Mädchen nach unseren Erfahrungen – im Durchschnitt – neben gleichen filmischen Kompetenzen höhere kommunikative, sensitive Fähigkeiten, die für Dokumentarprojekte wichtig sind, mitbringen sowie eine größere Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit aufweisen.

Die RezipientInnen

Die Filme wurden vor, während und nach dem Irakkrieg alle drei Wochen aktuell in einem Wuppertaler Kulturzentrum vor mehreren hundert Zuschauern uraufgeführt. Die Altersstruktur war gemischt. Sie bestand zu ca. 2/3 aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen (12 bis 25 Jahre), zu ca. 1/3 aus Erwachsenen jeglichen Alters. Die Aufführungen erfolgten immer zeitnah zu den aktuellen Geschehnissen. Außerdem fanden Aufführungen in einer Wuppertaler Kirche statt. Die einzelnen Serienteile wurden in einer Auflage von je ca. 250 Stück bundesweit als Bildungsmittel vertrieben und wurden so von mehreren 10.000 Personen gesehen. Ferner bekamen alle Wuppertaler Schulen kostenfrei und unmittelbar nach der Fertigstellung Exemplare für den Schulunterricht geliefert. Die Filme wurden auch flächendeckend als Unterrichtsmaterial eingesetzt. Extra für Unterrichtsstunden gibt es optional auch eine Kurzfassung von 15 Min. auf dem Videotape, um den Film auch in einer Einzelstunde behandeln zu können.

Nach Erscheinen der aktuellen Teile tourten Mitarbeiter und jugendliche Filmemacher mit Videoleinwand und Beamer durch Kneipen, Clubs und Discos. Es gab eine breite mediale Berichterstattung und regelmäßige Fernsehausstrahlungen von Ausschnitten der Filme und Making-of-Reportagen. Ein 60minütiger Zusammenschnitt aller Serienteile wurde nach Abschluss des Projektes bundesweit als Bildungsmittel vertrieben. Dieser soll nicht nur über den immer noch aktuellen Krieg berichten, sondern zeigen, welche Auswirkungen Krieg im Verlauf auf junge Menschen in verschiedenen Ländern hat

Auszeichnungen

Die Doku-Reihe »Hallo Krieg« wurde mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, wie dem 1. Preis des Dieter-Baacke-Preises 2003, dem Jugendkulturpreis NRW 2004 und demHans-Götzelmann-Preis 2004. Auszeichnungen sind nicht nur als qualifiziertes Feed Back und zur Anerkennung der medienpädagogischen, künstlerischen und inhaltlichen Leistung aller ProjektteilnehmerInnen wichtig. Die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung ist zum einen wichtig, weil politische Filmprojekte bei politischen Entscheidungsträgern oft umstritten sind und von diesen nur auf Grund der veröffentlichten Meinung wahrgenommen und wertgeschätzt wird: Was gilt der Prophet im eigenen Land, und gerne tötet man den Überbringer von »bösen« Nachrichten. Zum anderen ist die Filmarbeit finanziell von Förderungen abhängig, qualifizierte Bewertungen helfen hierbei perspektivisch.

Andreas von Hören ist Gründer und Geschäftsführer des Medienprojektes Wuppertal e.V.

Menschenrechtsbildung – eine gesellschaftspolitische Aufgabe

Menschenrechtsbildung – eine gesellschaftspolitische Aufgabe

von Gert Sommer und Jost Stellmacher

Menschenrechte sind zu einem zentralen Thema nationaler und internationaler Politik geworden. Menschenrechtsbildung ist daher eine bedeutsame Aufgabe. Dies ist nicht erst seit der Veröffentlichung jüngerer Studien deutlich, die erhebliche Defizite in der Menschenrechtsbildung in Deutschland aufgezeigt haben (u.a. Druba, 2006; Lohrenscheit & Rosemann, 2003; Mihr, 2005; Sommer u.a., 2005). Was bedeutet aber Menschenrechtsbildung? Der vorliegende Artikel gibt einen kurzen Überblick darüber, welchen Stellenwert Menschenrechtsbildung nach nationalen und internationalen Erklärungen haben sollte, welche Ziele sie verfolgt und wie gut sie bislang umgesetzt wurde. Dabei wird ein besonderer Schwerpunkt auf Deutschland liegen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR; Vereinte Nationen, 1948; 2002) besteht aus 30 Artikeln mit etwa 100 unveräußerlichen Rechten. Zu diesen bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten gehören u.a. Recht auf Leben, Verbot von Diskriminierung, Folterverbot, Asylrecht, Rechtssicherheit, Meinungs- und Informationsfreiheit, Recht auf Arbeit, Schutz vor Arbeitslosigkeit, Recht auf Bildung sowie Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung (dokumentiert sind die wichtigsten Menschenrechtsdokumente in Bundeszentrale, 2004, oder United Nations, 2002).

Der Stellenwert von Menschenrechtsbildung in der AEMR

Da die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte folgenlos zu bleiben drohte, wenn die Menschenrechte nicht bekannt und anerkannt sind, wurde schon in der Präambel der AEMR ausdrücklich auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Menschenrechtsbildung hingewiesen (ähnlich Art. 26 der AEMR, Zwillingspakte und Rechte des Kindes): „… verkündet die Generalversammlung die vorliegende AEMR als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereiche ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung … zu gewährleisten.“

Weitere Dokumente, die Menschenrechtsbildung fordern

Ausgehend von der AEMR ist die Forderung nach Menschenrechtsbildung in einer Vielzahl weiterer Dokumente erhoben worden (vgl. Sommer & Stellmacher, i.V.). Zwei Erklärungen, auf die wir im Folgenden kurz eingehen, sind konzeptionell von besonderer Bedeutung.

Empfehlung der Kultusminister (1980; 2000)

Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder verabschiedete 1980 eine »Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule«. Darin wurden drei Hauptziele formuliert:

  • „Kenntnisse und Einsichten“ zur Menschenrechtsthematik sollen vermittelt werden;
  • Die Verwirklichung von Menschenrechten soll ein wichtiger „Maßstab zur Beurteilung der politischen Verhältnisse im eigenen wie in anderen Ländern“ sein;
  • Bei den Schülern soll die „Bereitschaft“ geweckt und gestärkt werden, für ihre „Verwirklichung einzutreten und sich ihrer Missachtung und Verletzung zu widersetzen.“

Damit werden drei Ebenen von Menschenrechtsbildung deutlich: Wissen, Bewertung und Handlungsbereitschaft. Die Forderung, politische Verhältnisse hinsichtlich der Verwirklichung von Menschenrechten zu bewerten, war ursprünglich – zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes – wohl als Instrument zur Kritik des »real existierenden Sozialismus« gedacht; eine angemessene Umsetzung dieser Forderung führt aber zwangsläufig auch zu einer deutlichen Kritik an Deutschland und anderen westlichen Staaten (z.B. Heinz, 2005; Lochbihler, 2005; Sommer, Stellmacher & Wagner, 1999).

Die Kultusminister-Konferenz hat die Beschlüsse von 1980 im Jahr 2000 nochmals bekräftigt und Menschenrechtserziehung als „oberstes Bildungsziel“ bezeichnet. Explizit wird u.a. auf die Verletzung wirtschaftlicher Menschenrechte Bezug genommen, z.B. „die tägliche Bedrängnis durch Mangel und Not in vielen Ländern.“

UN-Dekade der Menschenrechtserziehung 1995-2004

International erhielt die Menschenrechtsbildung insbesondere dadurch einen hohen politischen Stellenwert, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1994 eine Resolution sowie einen Aktionsplan zur »Dekade der Menschenrechtserziehung 1995-2004« verabschiedete1. In der Resolution (dokumentiert in Europäisches Universitätszentrum u.a., 1997, 138-141) wird daran erinnert, dass Menschenrechtsbildung „an sich schon ein Menschenrecht“ ist und dass sie „unabdingbar ist … für den Frieden.“ Staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen werden aufgefordert, „nationale Pläne für Menschenrechtserziehung“ zu erstellen (6); an dieser Erziehung sollen sich auch nichtstaatliche Organisationen beteiligen, „insbesondere soweit sie sich mit Frauen-, Arbeits-, Entwicklungs- und Umweltfragen befassen.“ (12) Zur Relevanz von Menschenrechtsbildung ist die folgende Aussage zentral: „… jede Frau, jeder Mann und jedes Kind (müssen) in Kenntnis aller ihrer Menschenrechte – bürgerlicher, kultureller, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Art – gesetzt werden…, um ihr volles menschliches Potential entwickeln zu können.“

Da die Dekade nicht zu den erwünschten Ergebnissen führte (s.u.), beschloss die UN-Generalversammlung 2004 (Res. A/59/113) ein »Weltprogramm für Menschenrechtsbildung 2005-2015«. In diesem wird nochmals betont, „dass die Menschenrechtsbildung eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bildet und einen bedeutsamen Beitrag zur Förderung der Gleichheit, zur Verhütung von Konflikten und Menschenrechtsverletzungen und zur Stärkung partizipativer und demokratischer Prozesse leistet…“

In der ersten Phase 2005-2007 des Weltprogramms liegt der Schwerpunkt auf der Grund- und Sekundarschulbildung (UN GA Res. A/59/525/Rev.1).

Ziele von Menschenrechtsbildung

Menschenrechtsbildung hat das Ziel, das Konzept der Menschenrechte bekannt zu machen und ihm zur Akzeptanz zu verhelfen (z.B. Benedek, 2006; Deutsches Institut für Menschenrechte, 2006). Im Einzelnen sollen 3 Komponenten vermittelt werden:

Wissen

Dazu gehören Grundkenntnisse über die Menschenrechts-Charta, insbesondere Grundkenntnisse über die AEMR, inkl. deren Strukturierung in 5 Gruppen: bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Damit sollen die 3 Dimensionen – bürgerliche Rechte, wirtschaftliche Rechte, Recht auf Entwicklung – bekannt gemacht werden und als Grundprinzipien: Universalität der Menschenrechte, Unteilbarkeit der einzelnen Rechtsgruppen und ihre Interdependenz. Zudem sollen Grundkenntnisse vermittelt werden über Mechanismen – vom Menschenrechtsrat bis zum Internationalen Strafgerichtshof – (Edinger, 2005) und Akteure – insbesondere Nichtregierungsorganisationen wie z.B. amnesty international, pro asyl oder fian (FoodFirst Informations- und Aktionsnetzwerk) (Sierck u.a., 2006).

Einstellungen und Bewertungen

Das Menschenrechtskonzept und damit die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit sollen positiv und Menschenrechtsverletzungen negativ bewertet werden. Basierend auf den Konzepten der Universalität und der Nichtdiskriminierung gilt dies nicht nur für die eigenen Rechte, sondern ganz entschieden auch für die Rechte der anderen. Zudem ist ein Bewusstsein zu schaffen für die individuellen Möglichkeiten, einen Beitrag zu leisten für die Verwirklichung der Menschenrechte.

Handlungskompetenzen

Diese vermutlich schwierigste Komponente beinhaltet die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich – allein oder in einer Gruppe oder Organisation – für Menschenrechte und gegen Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Dazu sind vielfältige Kompetenzen Voraussetzung, z.B. Empathie, Problemlösen und Kooperation. Zu den möglichen Aktivitäten zählen u.a. die Hilfe für von Menschenrechtsverletzungen Betroffene (von Asylbewerbern in der eigenen Gemeinde bis hin zu Hungernden im In- oder Ausland), Unterschriften geben, an Demonstrationen teilnehmen, Leserbriefe schreiben, mit politisch Verantwortlichen reden, in einer Menschenrechtsorganisation mitarbeiten oder sie finanziell unterstützen.

Die genannten 3 Komponenten von Menschenrechtsbildung sind nicht unabhängig voneinander, es gibt fließende Übergänge. Bei der Menschenrechtsbildung soll auch deutlich werden, dass die Verantwortung für die Verwirklichung und Verletzung von Menschenrechten nicht nur bei staatlichen Organen, sondern auch bei gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen und nicht zuletzt bei Individuen liegt. Schließlich soll auch die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte zum einen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und zum anderen für Frieden und Demokratie vermittelt werden. Zudem muss auch auf bestehende Konflikte – und die dahinter stehenden Interessen – eingegangen werden. Dies betrifft z.B. die Halbierung von Menschenrechten in Politik und Medien (d.h. die selektive Betonung von bürgerlichen und politischen Rechten bei Vernachlässigung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten) oder auch den möglichen Missbrauch des Menschenrechtskonzeptes, u.a. durch militärische »Humanitäre Interventionen« (vgl. Haspel & Sommer, 2004).

Das Forum Menschenrechte hat »Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen« (2006) erarbeitet. Für vier Schulniveaus (von Ende der 4. Grundschulklasse bis Ende der Sekundarstufe II) werden Konkretisierungen für (1) menschenrechtsbezogene Urteilsfähigkeit, (2) Handlungsfähigkeit und (3) methodische Fähigkeiten vorgenommen. Beispiele für menschenrechtsbezogene Urteilsfähigkeit am Ende der Sekundarstufe I sind: „haben Grundkenntnisse über die AEMR und ihre Kontroversen…; kennen Kategorien von Menschenrechten… und verstehen ihren universellen Gültigkeitsanspruch; …kennen exemplarisch weltweite soziale Problembereiche wie Armut, Hunger, Bildung und Entwicklung und können sie in Zusammenhang mit den Menschenrechten stellen…“ Damit werden für die schulische Menschenrechtsbildung (konkrete) Ziele vorgegeben, die wiederum eine Evaluation der Umsetzung von Menschenrechtsbildung erleichtern.

Zielgruppen und Adressaten der Menschenrechtsbildung

Jeder Mensch hat ein Recht auf Menschenrechtsbildung, daher sollte ein Kernwissen schon in Kindergarten und Schule vermittelt werden. Als (politische) Bürgerinnen und Bürger sind Menschen zudem – direkt oder indirekt, bewusst oder häufig auch nicht bewusst – ständig mit Menschenrechtsfragen befasst (Fritzsche, 2004), z.B. als Täter oder Opfer bei Menschenrechtsverletzungen oder als Bürger, die sich für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzen oder auch nicht.

Darüber hinaus wird im Aktionsplan zur Dekade auf die Unterrichtung u.a. folgender Berufsgruppen hingewiesen, da sie in besonderem Ausmaß mit menschenrechtsrelevanten Aufgaben befasst sind: Polizei und Strafvollzugsbedienstete; Juristen; Lehrerinnen; Entwicklungshelferinnen; Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen; Mitarbeiter von Medien; Parlamentarier; UNO-Mitarbeiter; Wissenschaftler.

Zur Durchführung von Menschenrechtsbildung sind neben staatlichen Organen (u.a. Kultusministerien, Lehreraus- und fortbildungsinstitutionen, Schulen) insbesondere – die bislang schon besonders aktiven – Nichtregierungsorganisationen aufgerufen, aber auch solche regionalen, nationalen und internationalen Organisationen, die sich mit »prekären« Gruppen wie Frauen und Kinder sowie mit Themen wie Arbeit, Entwicklung und Umwelt befassen (UN Res. A/59/525/Rev.1).

Materialien und Quellen

Es gibt inzwischen eine kaum mehr überschaubare Zahl an spezifischen Materialien zur Menschenrechtsbildung. So haben z.B. amnesty international, die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen und die UNESCO schon seit vielen Jahren Materialien für Menschenrechtsbildung heraus gegeben (im Internet s. u.a. www.amnesty.de; www.dgvn.de; www.forum-menschenrechte.de; www.hrea.org; www.hri.ca; www.menschenrechtserziehung.de mit Online-Journal; www.ohchr.org; www.pdhre.org.)

Zwei neuere Bücher sind aus unserer Sicht besonders empfehlenswert. Dies ist zum Einen das vom Deutschen Institut für Menschenrechte herausgegebene Buch »Kompass« (2005). Es bearbeitet in 5 Kapiteln die Themen (1) Menschenrechtsbildung, (2) praktische Aktivitäten und Methoden der Menschenrechtsbildung, (3) Aktiv werden, (4) Informationen zu den Menschenrechten allgemein und (5) kurze Informationen zu 15 ausgewählten Themen, u.a. Armut, Bildung, Demokratie, Diskriminierung, Frieden, Gesundheit, Medien, Umwelt.

Zum Anderen ist das von W. Benedek (2003) herausgegebene Buch »Menschenrechte verstehen« hervor zu heben. Es besteht – neben Informationen über das Menschenrechtssystem – im Kern aus Modulen mit umfangreichen Informationen, positiven Beispielen und ausgewählten Aktivitäten zu 13 spezifischen Themen wie Folterverbot, Armut, Diskriminierung, Frieden und Gewalt, Gesundheit, Globalisierung, Frauen-, Kinderrechte, Bildung, bewaffnete Konflikte, Recht auf Arbeit, Medien.

Zum Stand der Menschenrechtsbildung

Wir haben aufgezeigt, dass es viele nationale und internationale Resolutionen gibt, die Menschenrechtsbildung fordern – wie aber sieht die Realität aus?

Bei einer umfangreichen Analyse der Menschenrechtsbildung in Deutschland – befragt wurden u.a. Ministerien, Polizeischulen, Bildungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes, Lehreraus- und -fortbildungsinstitutionen, Nichtregierungsorganisationen – kommen Lohrenscheit und Rosemann (2003) zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik „etwa zehn Jahre hinter den internationalen Entwicklungen zurück“ liege (S.14).

Auch am Ende der UN-Menschenrechtsdekade (und bis heute) fällt das Resümee kaum positiver aus (Mihr, 2005): Die Richtlinien der Kultusministerkonferenz sind in keinem Bundesland verpflichtende Erlasse; es gibt keinen Nationalen Aktionsplan für Menschenrechtsbildung; eine breite Menschenrechtsbildung für die Bevölkerung hat nicht statt gefunden; die wesentlichen Impulse zur Menschenrechtsbildung gehen von Nichtregierungsorganisationen aus.

Erhebliche Defizite in der Menschenrechtsbildung werden auch durch eine Schulbuchanalyse bestätigt. Obwohl die o.g. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz hätten erwarten lassen, dass Schulbücher angemessen über Menschenrechte informieren, zeigt die Studie von Druba (2006), dass dem nicht so ist; bei der empirischen Analyse baden-württembergischer Lehrbücher unterschiedlicher Schulniveaus werden u.a. folgende Hauptprobleme aufgezeigt:

  • Die Bildungspläne (1990/1994) enthalten die Menschenrechtsthematik überwiegend als fakultativen, nicht als verpflichtenden Lerninhalt.
  • 30% der relevanten Schulbücher behandeln die Menschenrechtsthematik nicht.
  • Nur wenige Schulbücher erwähnen u.a. folgende wichtige Aspekte: Menschenrechte als Maßstab zur Beurteilung der politischen Verhältnisse; das Verhältnis von persönlichen Freiheitsrechten zu sozialen Grundrechten; Gründe für die unzureichende Verwirklichung von Menschenrechten; unterschiedliche Auffassungen von Menschenrechten in verschiedenen Kulturen.

Auch die bislang einzige empirische Studie mit einer repräsentativen Stichprobe kommt zum Ergebnis, dass Menschenrechte in Deutschland zwar als sehr wichtig angesehen werden, dass aber das Wissen über Menschenrechte und die Bereitschaft zum Engagement für Menschenrechte in der deutschen Bevölkerung gering sind (Sommer, Stellmacher & Brähler, 2005, 2006).

Trotz des hohen Stellenwerts, den Menschenrechtsbildung in offiziellen Dokumenten besitzt, fällt das Kapitel Menschenrechtsbildung im Bericht der Bundesregierung recht dürftig aus (Auswärtiges Amt, 2005). Auf den vier Seiten zu dem Thema wird neben wohlklingenden Absichtserklärungen – wie z.B. zu den Richtlinien der Kultusministerkonferenz – hauptsächlich auf die begrüßenswerte Förderung des Deutschen Instituts für Menschenrechte (gegründet 2001 auf Grundlage eines Bundestags-Beschlusses) und auf Menschenrechtsbildung bei der Polizei verwiesen.

Die internationale Bilanz sieht nicht wesentlich besser aus. Der Zwischenbericht des Hochkommissars für Menschenrechte (GA A/55/360) verweist positiv darauf, dass die AEMR inzwischen in über 300 Sprachen übersetzt worden und daher in das Guinnessbuch der Rekorde eingegangen sei, aber es bestehen nach wie vor gravierende Probleme: U.a. gebe es nur sehr wenige nationale Pläne für Menschenrechtsbildung; etliche Aktivitäten seien kurzfristig und einmalig (z.B. Tagungen), die Revision von Schulbüchern und Curricula sei unzureichend; die Öffentlichkeit scheine wenig interessiert an Menschenrechtsfragen; es stünden kaum (zusätzliche, z.B. finanzielle) Ressourcen zur Verfügung; es gebe kaum Forschung und so gut wie keine Evaluationen zur Wirksamkeit der Dekade. Der Endbericht brachte wenig neue Informationen. Zudem basieren beide Berichte des Hochkommissars auf einer völlig unzureichenden, zudem nicht überprüften Datenbasis.

Ausblick

Unser Artikel zeigt auf, dass Menschenrechtsbildung als eine zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden muss. Sie ist nicht nur für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen wichtig, sondern auch für die Stärkung von Demokratie und Frieden. Mangelnde Menschenrechtsbildung erhöht die Gefahr, dass Menschenrechtsverletzungen hingenommen und Menschenrechte für bestimmte Interessen instrumentalisiert und missbraucht werden. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Dokumenten und Absichtserklärungen zur Menschenrechtsbildung einerseits und der Realität andererseits ist vermutlich u.a. damit zu erklären, dass es vielen Mächtigen und Herrschenden nicht angenehm ist, wenn die Bevölkerung umfassend über ihre Rechte informiert ist und sich für deren Realisierung aktiv einsetzt. Man stelle sich einmal vor, die nationale und internationale Politik – u.a. die Wirtschaftspolitik – würde realistisch am Standard der Verwirklichung der Menschenrechte gemessen.

Um dem Ziel der Verwirklichung von Menschenrechten näher zu kommen, ist eine umfassende Menschenrechtsbildung eine unabdingbare gesellschaftspolitische Aufgabe: Es geht um eine Veränderung der Gesellschaften im Sinne einer (stärkeren) Verwirklichung der Menschenrechte auf nationaler und internationaler Ebene.

Literatur

Auswärtiges Amt (2005): Siebter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen. Berlin: Auswärtiges Amt.

Benedek, W. (Ed.)(2006): Understanding Human Rights – Manual for Human Rights Education. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. (Aktualisierte Fassungen, unterschiedliche Sprachen und didaktische Hilfen unter www.etc-graz.at).

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.)(2004): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Bonn: Bundeszentrale.

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.)(2005): Kompass – Handbuch zu Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Berlin: DIMR (engl. Orig. Europarat, 2002). (http://eycb.coe.int/compass/; http://kompass.humanrights.ch).

Druba, V. (2006): Menschenrechte in Schulbüchern. Frankfurt: Peter Lang.

Edinger, M. (2005): Institutionen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes. In Frech & Haspel, S.41-74.

Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien, Deutsche UNESCO-Kommission, Österreichische UNESCO-Kommission (1997): Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO-Kontext. Bonn: Dt. UNESCO-Kommission.

Forum Menschenrechte (Hrsg.)(2006): Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen. (www.forum-menschenrechte.de/docs/fmr_standards_der_menschenrechtsbildung.pdf).

Fritzsche, K.P. (2004): Menschenrechte. Paderborn: Schöningh.

Haspel, M. (2005): Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart. In Frech & Haspel, S.15-40.

Haspel, M. & Sommer, G. (2004): Menschenrechte und Friedensethik. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S.57-75). Weinheim: Beltz.

Heinz, W.S. (2005): Internationale Terrorismusbekämpfung und Menschenrechtsschutz. In Frech & Haspel, S.165-187.

Lochbihler, B. (2005): Die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union. In Frech & Haspel, S.75-90.

Lohrenscheit, C. & Rosemann, N. (2003): Perspektiven entwickeln – Menschenrechtsbildung in Deutschland. (www.institut-fuer-menschenrechte.de).

Mihr, A. (2005): Die UN-Dekade für Menschenrechtsbildung – Eine Bilanz. In Frech & Haspel, S.189-209.

Sierck, G.M., Krennerich, M. & Häußler, P. (Hrsg.)(2006/07): Handbuch der Menschenrechtsarbeit (www.fes.de/handbuchmenschenrechte).

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.)(1980): Empfehlung zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule. (KMK Erg.-Lfg.46, 2.6.1982).

Sommer, G. & Stellmacher, J. (i.V.): Menschenrechte.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Wagner, U. (Hrsg.)(1999): Menschenrechte und Frieden. Marburg: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für Friedens- und Abrüstungsforschung.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler, E. (2005): Menschenrechte in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Handlungsbereitschaft. In Frech & Haspel, S.211-230.

Sommer, G., Stellmacher, J. & Brähler,E. (2006): Menschenrechte – Paradoxien einer bahnbrechenden Idee. Wissenschaft & Frieden, 1/06, 40-43.

UNESCO (1998): All human beings … Manual for human rights education. UNESCO.

United Nations (2002): Human Rights – A compilation of international instruments. New York: UNO.

Anmerkungen

1) Vorangegangen waren als besonders wichtige Ereignisse u.a. die UNESCO-Empfehlung zur internationalen Erziehung (1974), die 2. Weltkonferenz über Menschenrechte (Wien, 1993) sowie UNESCO-Erklärung und Rahmenaktionsplan zur Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie (1994) (dokumentiert in Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien u.a., 1997) – bei letzteren ist insbesondere die Interdependenz von Menschenrechten, Frieden und Demokratie beachtenswert.

Prof. i.R. Dr. Gert Sommer, bis 2006 am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg, war viele Jahre Vorsitzender des Forum Friedenspsychologie und ist stellvertretender Vorsitzender von W&F. Forschungsschwerpunkte: Psychologische Analysen von Menschenrechten und Feindbildern. Dr. Jost Stellmacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg. Tätigkeitsschwerpunkte sind Intergruppenprozesse, Fremdenfeindlichkeit, Aggression und Gewalt sowie Menschenrechte.

Erfolgreiche Simulanten

Erfolgreiche Simulanten

Zum didaktischen Potential von Model United Nations-Planspielen

von Dagmar Eichert und Kai Hebel

Die Vereinten Nationen befinden sich, mal wieder, in einer Krise: Korruption im »Öl für Lebensmittel«-Programm, sexueller Missbrauch durch Blauhelmsoldaten, weitgehende Reformunfähigkeit u.v.m. überschatten das 60. Gründungsjubiläum. Letzteres sollte trotzdem Anlass sein, sowohl Erfolge der Organisation als auch der VN-bezogenen, akademischen Lehre hervorzuheben. Dieser Artikel diskutiert Model United Nations (MUN)-Simulationen als ein besonders gelungenes Beispiel für das immense pädagogische Potential von Planspielen. Die politischen Mittel für eine grundlegende Erneuerung der Weltorganisation mögen fehlen; die Lehre zu den Vereinten Nationen – und, darüber hinaus: zu weltgesellschaftlichen Prozessen im allgemeinen – kann jedoch leicht und effektiv durch diese Methode reformiert werden.

Planspiele sind ebenso wie Rollenspiele Methoden simulativen Handelns. Kennzeichnend für die Simulation ist die möglichst realitätsgetreue Imitation eines realen Prozesses. Simulationsspiele eröffnen somit die Chance, „Entscheidungsfähigkeit in ungewohnten Zusammenhängen zu trainieren und mit neuen Sichtweisen zu experimentieren.“ (Hellert, S. 135)

Plan- und Rollenspiel stellen keine fest umrissenen Methoden dar, können jedoch trotzdem von einander abgegrenzt werden. Rollenspiele sind wenig verregelt; häufig werden nur Grundsituation und Rollenvergabe festgelegt. Die individuelle Ausgestaltung der Rollen durch die Teilnehmer beeinflusst somit das Spiel maßgeblich (Buddensiek, S. 369). Rollenspiele thematisieren häufig Konflikte, die nicht institutionalisiert sind, beispielsweise familiäre Streitigkeiten. Der didaktische Fokus liegt auf dem Verlauf des Konfliktaustrags und weniger auf der konkreten Problemlösung.

Planspiele hingegen sind vergleichsweise stark verregelt, ergebnisorientiert und behandeln institutionalisierte Konfliktaustragungs- und Regelungsmechanismen. Neben der prozessualen Konfliktlösung steht im Planspiel der Entscheidungszwang im Vordergrund. Dieser soll den Teilnehmern Einblicke in Kontexte sozialen Handelns bieten, in denen Machtgefüge, Interessendivergenzen sowie die Grenzen der damit verbundenen Kommunikationsabläufe das Handeln der Teilnehmer führen. Um dieses Lernziel zu erreichen, muss in einem Planspiel die Realität möglichst detailgetreu simuliert werden; es unterliegt dabei jedoch immer dem Prinzip der didaktischen Reduktion. Die Methode empfiehlt sich so nicht nur im Sinne gesteigerter Teilnehmer- und Handlungsorientierung (vgl. Geutling, S. 26f), sondern erweist sich als hervorragend für Inhalte der Sozial- und Geisteswissenschaften geeignet.

Der didaktische Wert dieser Methoden gilt in der Literatur als unbestritten (Gold, S. 57ff; Scholz, S. 81f). Dennoch werden sie nur selten in der universitären Lehre eingesetzt. Dieses Defizit erstaunt um so mehr, bedenkt man, dass ein sehr großer Teil aller Schüler und Studenten aufgrund der Dominanz herkömmlicher, direktiv-rezeptiver Formen der Stoffpräsentation nicht optimal lernen (Portele, S. 9). Direkt-rezeptiven Lernarrangements fehlt Handlungsorientierung, weswegen sie die Lernenden kognitiv wie affektiv zu wenig ansprechen. Ferner sind sie nicht genügend an den neuen Qualifikationsbedarf angepasst, so dass Schlüsselkompetenzen nicht ausreichend vermittelt werden. Planspiele als handlungsorientierte Methode stellen ein hervorragendes Mittel dar, den traditionellen Lehrbetrieb zu ergänzen und dessen Defizite zu mildern.

Welche Vorteile bieten Planspiele im Vergleich zu den vorherrschenden Lehrmethoden? Planspiele motivieren in hohem Maße, weil sie verschiedene Lerntypen ansprechen. Sie verbessern insbesondere soziale und kommunikative Fähigkeiten sowie die Selbstkompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darüber hinaus wird auch inhaltlich effektiv gelernt. Politisch-gesellschaftliche Planspiele mit hohem Konfliktpotential helfen Lernziele zu erreichen, die häufig lediglich beschworen werden: aktives Erfahren politikfeldspezifischer Prozesse im Gegensatz zu rezeptivem Lernen aus Vorlesungen und Büchern, Anregung eigener Lektüre, Kennenlernen typischer Verläufe von und Verhaltensmuster in Verhandlungen sowie die Fähigkeit im Krisenmoment zu entscheiden und die Konsequenzen zu tragen (vgl. Gold, S. 58; Portele, S. 17).

Diese Ziele werden in Schule und Universität oft teils oder gar komplett verfehlt. Das allgemeine Wehklagen hierüber führte jedoch bisher nicht zu einer konsequenten Anwendung von Planspielen als Bereicherung des Lehrportfolios. Das ist erstaunlich, denn Ausmaß und Vehemenz mit der an den eingeschliffenen, defizitären Methoden festgehalten wird, stehen in keinem Verhältnis zu den moderaten Bedenken, die in der Literatur vereinzelt zu finden sind. Im folgenden soll kurz auf Model United Nations-Planspiele eingegangen werden, um im Anschluss einen theoretisch-didaktischen Einwand gegen das Planspiel-Format per se an einem praktischen Beispiel diskutieren zu können.

Model United Nations-Simulationen werden insbesondere im anglo-amerikanischen Raum eingesetzt, um internationale Verhandlungen zu simulieren. Die TeilnehmerInnen agieren als Delegierte eines Mitgliedsstaates in einem Ausschuss der Vereinten Nationen und versuchen, die Interessen »ihres« Landes1 zu aktuellen Fragestellungen von weltpolitischer Tragweite so nachdrücklich wie möglich zu vertreten.2 In den grundsätzlich auf Englisch und gemäß VN-Verfahrensregeln durchgeführten Deliberationen werden die Positionen des Landes in formal gehaltenen Reden umrissen bevor in den informellen Verhandlungsrunden das Tauziehen um konkrete Formulierungen beginnt. Hier liegt der Teufel im diplomatischen Detail und so entscheidet sich oft erst nach langwierigen Verhandlungen, ob – um ein Beispiel zu nennen – die Generalversammlung die durch den Generalsekretär angestoßenen Reformen »begrüßt« oder lediglich von diesen »Notiz nimmt«. Am Ende der MUN-Konferenzen stehen durchweg in Fachsprache verfasste Resolutionsentwürfe, über die in UN-Manier nach dem Grundsatz »one state, one vote« abgestimmt wird.

MUNs blicken auf eine Tradition zurück, die bis ins Jahr 1923 zurückreicht als zum ersten Mal eine Simulation des Völkerbunds stattfand. Seit 1964 wird das renommierte National Model United Nations (www.nmun.org) in New York durchgeführt, an dem weit über 2.000 Studierende alle wichtigen UN-Organe simulieren. Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen geht davon aus, dass weltweit bis zu 200.000 Studenten und Schüler an MUNs teilnehmen. Mittlerweile kann auch in Deutschland von einer jahrelangen MUN-Tradition gesprochen werden,3 an einigen Universitäten sogar von einer »Simulationskultur«. Diese Hochschulen entsenden nicht nur Gruppen zu Simulationen, sondern integrieren MUNs regelmäßig in den eigenen Lehrbetrieb. Dass studentische Initiativen auch hierbei häufig entscheidenden Anteil haben, lässt auf ein Informationsdefizit in Bezug auf MUNs von Seiten des hauptamtlichen Lehrpersonals schließen. Oder können didaktische Einwände die Zurückhaltung erklären?

Zu den gehaltvolleren Kritiken gegen die Planspiel-Methodik zählt sicherlich, dass sie den zu betrachtenden Gegenstand in wissenschaftlich unzulässiger Weise verkürze. Das Prinzip der didaktischen Reduktion gilt jedoch gezwungenermaßen auch in der universitären Lehre, um soziale Komplexität überhaupt handhabbar zu machen. Gerade der Vergleich zwischen Realität und Simulation bietet eine wertvolle Gelegenheit, um gesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Die gewonnene Erkenntnis der Teilnehmer um die Kontexte und Probleme politischen Handelns ermöglicht eine vertiefte Einsicht in das betrachtete Objekt, die besonders in den Nachbesprechungen zutage tritt. Diese Besprechungen, die obligatorisch jedem Planspiel folgen sollten, bilden die Grundlage für Analysen, die in ihrer Qualität herkömmlichen Diskussionen im Seminar in der Regel weit voraus sind.

Die didaktischen Vorzüge der Planspiel-Methodik im allgemeinen und der Model United Nations im speziellen legen nahe, die universitäre Lehre zu den Vereinten Nationen konsequent durch MUNs zu ergänzen. Dieses Konzept sollte jedoch nicht wie bisher auf Spezialistenkurse zu internationalen Organisationen beschränkt bleiben. Unsere eigenen Lehrerfahrungen ermutigen, das MUN-Format generell auf Seminare mit weltgesellschaftlichem Bezug auszuweiten sowie verschiedene Lehrveranstaltungen durch ein gemeinsames Planspiel miteinander zu verbinden – Model United Nations-Simulationen sind höchst facettenreiche und flexible didaktische Werkzeuge4, die weit mehr als Faktenwissen vermitteln. Das anstehende Jubiläum der Vereinten Nationen sollte Anlass sein, das Potential dieses Konzepts voll auszuschöpfen. Es gibt keinen Grund bis zum nächsten runden Geburtstag zu warten.

Literatur

Buddensiek, Wilfried: Rollen- und Simulationsspiele, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 1997, S. 369-373.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.): UN Basis Informationen: Model United Nations. Bonn, DGVN, 2001, http://www.dgvn.de/pdf/bi-mun.pdf.

Edel, Andreas: Planspiele im Geschichtsunterricht – Ein Arbeitsbericht. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jahrgang 50, Heft 5-6, 1999, S. 321-339.

Fröhlich, Manuel/ Gros, Jürgen: Außenpolitik erfahren und verstehen – Planspiel und Seminarkonzept zur Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa und der Welt. Mainz, Eigenverlag, 1995.

Geuting, Manfred: Soziale Simulation und Planspiel in pädagogischer Perspektive, in: Herz, Dietmar/Blätte, Andreas (Hrsg.): Simulation und Planspiel in den Sozialwissenschaften, Münster, Lit, 200, S. 15-62.

Gold, Volker: Probleme der Simulation politischer Prozesse im Planspiel. in: Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Simulations- und Planspiele in der Schule, Bad Heilbronn, Kleinhardt, 1977, S. 57-75.

Hellert, Inga Beningna: Interkulturelle Spiele zwischen Simulation und Alltag, in: Friesenhahn, Günter (Hg.): Praxishandbuch internationale Jugendarbeit. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2001, S. 135-140.

Klippert, Heinz: Planspiele – Spielvorlagen zum sozialen, politischen und methodischen Lernen in Gruppen. Weinheim/Basel Beltz, 1996.

McIntosh, Daniel: The Uses and Limits of the Model United Nations in an International Relations Classroom. International Studies Perspectives (2001) 2, S. 269-280. Malden/Oxford, Blackwell, 2001.

Portele, Gerhard: Zur Theorie des Simulationsspiels, in: Lehmann, s.o, S. 9-18.

Scholz, Lothar: Spielerisch Politik lernen – Methoden des Kompetenzerwerbs im Politik- und Sozialkundeunterricht. Schwalbach/Ts., Wochenschau, 2004.

United Nations Society Marburg e. V., www.unsociety.de.

Anmerkungen

1) Um das Verständnis für die Positionen anderer Staaten zu vertiefen, wird bei den meisten MUNs darauf geachtet, dass die Teilnehmenden nicht ihr Herkunftsland repräsentieren.

2) Die Organisatoren der Simulation stellen die Themenliste (Agenda) zusammen und zirkulieren sie vorab, um eine sorgfältige Vorbereitung zu ermöglichen. Als Indiz für die Komplexität und Detailfülle von MUNs kann gelten, dass schon die Reihenfolge, in der die einzelnen Items debattiert werden sollen, ein Politkum darstellt. Viele Delegierte versuchen durch strategisch geschicktes »Agenda-setting« Themen, denen »ihr« Land Priorität einräumt, an den Anfang zu stellen, um möglichst lange über sie verhandeln zu können.

3) Schätzungsweise nehmen jährlich 1.000-1.500 deutsche Studentinnen und Studenten an MUNs im In- und Ausland teil.

4) Die ausführlichen VN-Geschäftsregeln können stark gekürzt und vereinfacht werde ohne dass der pädagogische Nutzen leidet; MUNs dauern häufig mehrere Tage, funktionieren jedoch auch, wenn nur wenige Stunden zur Verfügung stehen usw.

Dagmar Eichert unterrichtet Englisch, Geschichte und Politik an einem Gymnasium. Zur Zeit leitet sie die Delegation ihrer Schule zu »The Hague International Model United Nations« (THIMUN) in Den Haag. Kai Hebel arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg.