Lehre vernetzen

Lehre vernetzen

Jahrestagung des AK Curriculum der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), 17.-19. September 2010 in Leipzig

von Markus Hesse, Marcus Hornung, Thomas Nielebock, Tatjana Reiber und Klaus Roscher

Was sind die Kerninhalte der Friedens- und Konfliktforschung (FuK)? Wie kann die Internationalisierung der FuK-Lehre gefördert werden? Was macht gute Lehre überhaupt aus und wie kann die didaktische Kompetenz von Friedens- und KonfliktforscherInnen gefördert werden?

Fragen wie diese beschäftigen den Arbeitskreis (AK) Curriculum der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) bei seiner Jahrestagung »Lehre vernetzen. Curricula und Didaktik in der Friedens- und Konfliktforschung«. Der Arbeitskreis widmet sich drei Aufgaben: Zum einen dient er dem Informationsaustausch, der Vorstellung neuer Entwicklungen und der Abstimmung der Studiengänge zur FuK. Zum zweiten ist es sein Ziel, die Lehre im Bereich der Friedensforschung zu verbessern und die Lehrenden untereinander zu vernetzen. Dazu dienen die Angebote von hochschuldidaktischen Fortbildungen, die ein Element der Jahrestagungen des AK ausmachen, aber auch der alle zwei Jahre angebotene viertägige Didaktik-Workshop »Das Lehren lernen«. Zum dritten ist der AK bestrebt, ortsübergreifende Angebote für die Studierenden der FuK anzubieten, die von den einzelnen Studiengängen nicht oder nur in einem kleineren Rahmen angeboten werden können und die auch dazu dienen sollen, die Studierenden dieser Fachrichtung stärker zu vernetzen.

Die Leipziger Tagung des AK Curriculum

Auf seiner Jahrestagung vom 17. bis zum 19. September 2010 in Leipzig diskutierten rund 25 WissenschaftlerInnen zu dem Thema »Lehre vernetzen – Curricula und Didaktik in der Friedens- und Konfliktforschung«. Die Tagung wurde organisiert vom AK Curriculum in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Leipzig und finanziell gefördert von der Deutschen Stiftung Friedensforschung.

Zunächst stand das Treffen der VertreterInnen der friedenswissenschaftlichen Master-Studienorte (Augsburg, Duisburg, Frankfurt, Hamburg, Konstanz, Magdeburg, Marburg, Tübingen) auf dem Programm. Den Kern des jährlichen Austauschs bildete die gegenseitige Information über aktuelle Bewerbungs-, Zulassungs- und Studierendenzahlen, was auch eine Diskussion über die unterschiedlichen Bewerbungs- und Zulassungsverfahren für MA-Studiengänge umfasste. Insgesamt, das zeigen die Zahlen, erfreut sich die MA-Ausbildung in der FuK konstanter Beliebtheit unter den Bachelor-AbsolventInnen. Zusätzlich wurden Themen des Studienalltags erörtert, wie die Anerkennung im Ausland erbrachter Studienleistungen im Bewerbungsverfahren, der Umgang mit Plagiatsfällen, Erfahrungen mit Akkreditierungsabläufen und die bisher problemlos vollzogene wechselseitige Anerkennung von erbrachten Prüfungsleistungen unter den MA-Studiengängen in Deutschland. Darüber hinaus wurde besprochen, wie der Kontakt der AbsolventInnen mit ihrem jeweiligen Studienstandort im Sinne der angestrebten Vernetzung verbessert werden könnte. Die TeilnehmerInnen regten dazu regelmäßige gemeinsame Veranstaltungen, Alumni/ae-Vereine und Fortbildungsangebote an.

Ein zweiter Abschnitt der Tagung diente der Ausarbeitung konkreter Projekte des AK Curriculum. Die TeilnehmerInnen entwickelten in Arbeitsgruppen gemeinsame Initiativen wie eine »Online-Repräsentanz« für Interessierte an einem friedenswissenschaftlichen Studium, eine »Lehrenden-Plattform« zum Austausch von Lehrerfahrungen und -materialien, eine »Praxis School« und die Weiterführung der bereits erfolgreichen Didaktikausbildung. Letztere wird bspw. im März 2011 im Rahmen eines mehrtägigen »Workshops« fortgeführt, der in den vergangenen Jahren stark nachgefragt wurde. Gemeinsame Projekte sollen Synergieeffekte nutzbar machen und damit eine effektivere Lehre in der FuK sicherstellen.

Künftig wird eine tabellarische Darstellung aller MA-Studiengänge auf der AFK-Internetpräsenz InteressentInnen eine zentrale Übersicht bieten. So werden wesentliche Informationen zu den MA-Studienangeboten gebündelt. Den StudieninteressentInnen wird dadurch die aufwändige Recherche bei der Suche nach einem passenden Studienangebot erleichtert. Die fundierte Darstellung der passenden Studienprogramme ist nach Ansicht der TagungsteilnehmerInnen eine wichtige Grundlage der erfolgreichen Ausbildung in der FuK.

Im Zuge der Tagung erarbeiteten die TeilnehmerInnen ferner die Konzeption einer Internetplattform als »Materialbörse« für Lehrende der FuK. Mit Hilfe einer derartigen Plattform können Lehrende bspw. Seminarpläne zur Verfügung stellen, didaktisches Material austauschen und Ideen für Exkursionen oder andere Lehrveranstaltungen erarbeiten. Somit soll die Plattform zur ständigen Vernetzung der Lehre(nden) beitragen.

Im Austausch über die MA-Studiengänge identifizierten die TagungsteilnehmerInnen einen Mangel an praktischen Bezügen der Lehre zu potentiellen Berufsfeldern von AbsolventInnen. Im Jahr 2011 wird daher eine mehrtägige »Praxis-School« zum Thema Berufseinstieg konzipiert, die Studierenden aller Standorte offen steht und mehrere Themenbereiche wie Informationsveranstaltungen potentieller Arbeitgeber, ein Training zum eigenen Selbstverständnis und Konfliktverhalten sowie praxisrelevante Schnuppertrainings, z. B. in Techniken der Mediation oder gewaltfreier Kommunikation, umfassen könnte.

Nach der intensiven Auseinandersetzung mit curricularen Aspekten der FuK-Studiengänge sowie der Erörterung von Didaktik- und Vernetzungsaspekten, bildete ein »Training zum Einsatz von Planspielen in der Lehre« den dritten großen Programmpunkt der Leipziger Tagung. Das Planspieltraining wurde durch Simon Raiser von »Planpolitik Berlin« durchgeführt. Der Workshop selbst war in eine Einführung in die Lehrmethode »Planspiel« im universitären Kontext, das Erarbeiten eigener Planspielkonzeptionen in Kleingruppenarbeit sowie einen Testlauf eines in den Gruppen selbst entwickelten Planspielentwurfs untergliedert.

Im ersten Abschnitt thematisierten die TeilnehmerInnen die Ursprünge der Planspielmethode, ihre bevorzugten Einsatzgebiete und unterschiedlichen Ausgestaltungsformen. Des Weiteren wurden der idealtypische Ablauf eines Planspiels sowie spezifische Herausforderungen im praktischen Einsatz der Methode in der Lehre erörtert. Neben dem Einsatz von Planspielen behandelte das Training auch die eigenständige inhaltliche Entwicklung von Planspielkonzeptionen. Um dies wiederum üben zu können, wurde das Plenum erneut in Gruppen aufgeteilt, die eigene Planspiele erarbeiteten. In einem letzten Schritt wurde eines der im Rahmen des Trainings entwickelten Planspiele von den TagungsteilnehmerInnen angespielt und anschließend ausgewertet.

Insgesamt konnten im Rahmen der Leipziger Tagung des AK Curriculum erneut konkrete und nachhaltige Ergebnisse erarbeitet werden. Gemeinsame Projektideen der letzten Tagung(en) wurden erfreulicherweise aufgegriffen und weitergeführt. Die Kombination der AK-Treffen mit didaktischer Fortbildung wurde von den TeilnehmerInnen begrüßt, weshalb eine Beibehaltung dieses Formats angestrebt wird.

Die nächste Tagung des AK Curriculum wurde für den 11. bis 13. November 2011 terminiert. Tagungsort wird voraussichtlich die Universität Magdeburg sein.

Markus Hesse, Marcus Hornung, Thomas Nielebock, Tatjana Reiber und Klaus Roscher

Ausbildung für die Friedensarbeit

Ausbildung für die Friedensarbeit

von Anna Ammonn und Christiane Lammers

Die Zunahme von Gewaltkonflikten, bei denen die traditionellen Instrumente der Frühwarnung, die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mittel zu ihrer Eindämmung, ja selbst die Begriffe zu deren Verständnis angesichts der Komplexität vollständig versagten, haben seit den 1990er-Jahren zu neuen Konzepten in der Friedens- und Entwicklungsarbeit geführt. Unbenommen der klassischen Militärkritik werden Handlungsfelder im Sinne einer konstruktiven Friedensarbeit aufgebaut und professionalisiert.

Vor fast vier Jahren erschien als Beilage zum W&F-Heft 1/2005 ein Dossier, das die neue Landschaft der universitären Friedenslehre dokumentierte. Seither haben sich nicht nur die damals neu begonnenen Masterstudiengänge weitgehend etabliert, zwischenzeitlich sind weitere hinzugekommen und auch die einsatzbezogenen Aus- und Fortbildungen haben sich ausdifferenziert. Gerade in diesem Stadium stellt sich die Frage, wie sich das neue Berufs-/Arbeitsfeld und die damit korrespondierenden Ausbildungswege weiterentwickeln müssen, um nachhaltig wirken und sich gegenseitig befruchten zu können. Hinzu kommt ein rapide wachsender Bedarf an qualifiziertem Personal.

Mit dem Aktionsplan »Krisenprävention« wurde seitens der rot-grünen Bundesregierung ein politischer Handlungsrahmen für internationale Friedensarbeit geschaffen. Nicht so sehr auf dem Feld der traditionellen Aufgaben von Friedenspolitik, wie z.B. der Sicherheits-, Rüstungsexport- oder Abrüstungspolitik, sondern vielmehr im Bereich der Entwicklungspolitik hat der Aktionsplan den Stellenwert ziviler Interventionen deutlich gestärkt, auch wenn er in weiten Teilen noch der Realisierung bedarf. Trotzdem ist gerade im Haushaltsbereich des BMZ in zweierlei Richtung in den letzten 8 Jahren die Projektförderung auf Friedens- und Konfliktsensitivität ausgerichtet worden: 1. durch die veränderten Förderlinien in der »klassischen« Entwicklungshilfe, damit friedensfördernde Wirkungen sichergestellt werden können und 2. durch den Ausbau der Förderlinie »Ziviler Friedensdienst«.

Mit den jüngsten Planungen der Bundesregierung, die Projektmittel für den Zivilen Friedensdienst vom nächsten Jahr an um ca. 60% auszuweiten, kündigt sich ein weiteres Wachstum des schon heute zu verzeichnenden Mangels an qualifiziertem Fachpersonal für Konfliktbearbeitung auf internationaler Ebene an.

Die Anforderungen an das Fachpersonal sind vielschichtig und höchst anspruchsvoll.

Friedensarbeit verlangt nicht nur entsprechend überzeugte Menschen, sondern Fachkräfte, die das Handwerkszeug erlernt haben, um – gemessen an den projektimmanenten Zielen – erfolgreich handeln zu können. Umso wichtiger also, dass adäquate und auch praxiskohärente Ausbildungskonzepte diskutiert werden, die gewährleisten, dass genügend (quantitativ) und adäquates (qualitativ) Personal ausgebildet wird. Dazu kommt, dass Friedensarbeit sich einem ganz anderen Legitimationsdruck gegenübersieht als dies z.B. für militärische Einsätze der Fall ist.

Vielfältige Kompetenzen werden erwartet

Neben einer entsprechenden normativen Grundhaltung, hoher Motivation und einer gefestigten Persönlichkeit verfügen Fachkräfte über ein hohes Maß an fachlicher und sozialer Kompetenz. Sie müssen über das allgemeine politische Engagement hinaus genau wissen, wie sich gewaltsame Konflikte aufbauen, und welche Schritte zu ihrer nachhaltigen und konstruktiven Lösung notwendig bzw. möglich sind.

Verlangt werden außerdem Kenntnisse in Projektmanagement und die Planung der Arbeit im Blick auf eine vorher definierte Wirkung bzw. Methoden zur Vermeidung von unerwünschten Wirkungen; Kompetenzen im Umgang mit Genderaspekten, in der Team-, Personal- und Organisationsentwicklung und in der Beratung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen; schließlich die Fähigkeit, den Mehrwert und die Erfolge des eigenen Handelns gegenüber Zielgruppen und Öffentlichkeit überzeugend zu vertreten. Je nach Arbeitsfeld ist außerdem Spezialwissen in Bereichen wie Transitional Justice, Mediation oder konfliktsensiblem Journalismus gefragt.

Zum Professionalitätsverständnis der Friedensfachkraft gehört schließlich das Bewusstsein der Konsequenzen des eigenen beruflichen Handelns, die Kenntnis der eigenen Fähigkeiten und Grenzen und kompetenter Umgang mit belastenden Erlebnissen und Aufgaben. Wer kann was in der Ausbildung leisten?

Neue Qualität der Hochschulausbildung

Die Neustrukturierung der Studiengänge in Deutschland durch das Bachelor- und Mastersystem ermöglichte es, Masterstudiengänge zu entwickeln, die – aufbauend auf einem grundständigen, eher traditionell fachorientierten Bachelor – Problem- oder Berufsfeld-Schwerpunkte setzen. In allen nun angebotenen friedenswissenschaftlichen Mastern sind disziplinenübergreifende Studienanteile integriert. Dem bis dato in der Friedens- und Konfliktforschung dominierenden Teilgebiet Internationale Beziehungen der Politikwissenschaft wurden soziologische, psychologische, geschichtswissenschaftliche oder auch pädagogische Komponenten hinzugefügt, um der Komplexität von gewaltförmigen Konflikten gerecht zu werden. Die Abgrenzungen der Kultur- und Sozialwissenschaften werden (mit allen methodischen und theoretischen Schwierigkeiten) zumindest teilweise aufgelöst, und beispielsweise auch naturwissenschaftliche Kenntnisse vermittelt, um (Ab-)Rüstungspolitik in ihrem materiellen Kern beurteilbar zu machen.

Insgesamt werden inzwischen pro Jahr ca. 180 neue Studienplätze in Deutschland in den ein- bis zweijährigen Angeboten vergeben, d.h. jährlich werden ab 2009 ca. 100 Wissenschaftler/innen mit einem ausgewiesenen friedenswissenschaftlichen Abschluss dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Darüber hinaus gibt es einige Angebote im europäischen Ausland: so z.B. des Department of Peace der University of Bradford (UK) oder des European University Center for Peace Studies in Stadtschlaining (Ö), die auch von deutschen Studierenden seit langem genutzt werden.

Die friedenswissenschaftliche Lehre ist, so darf man schon heute resümieren, zum größten Teil mit Erfolg an den Hochschulen etabliert worden. Ob die Schwierigkeiten, die zum Teil systemimmanent und zum Teil der Umbruchsituation an den Universitäten geschuldet sind, die weitere Entwicklung belasten werden, ist offen. Nicht zuletzt die Überlastung durch ausufernde Ansprüche bei gleich bleibenden – wenn nicht geringeren – staatlichen Ressourcenzuweisungen für den universitären Bereich könnte ein wesentliches Hindernis darstellen. Daneben müssen inhaltlich-strukturelle Fragen, wie die ungeklärte Definition des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der akademischen Ausbildung, das Problem der Qualitätssicherung, die Trennung zwischen Lehre und Forschung, das Fehlen einer Generation in den Sozialwissenschaften und das Überhandnehmen von ökonomischen Prämissen diskutiert bzw. geklärt werden.

Traditionell verbindet man mit Fachhochschulen (FH) zunächst wohl weniger eine Kompetenzinstitution im Bereich Internationale Arbeit, da die inhaltlichen Bezüge zur Internationalen Politik eher marginal waren und sind. Ein Pendant zur Politikwissenschaft der Universitäten ist, abgesehen von verwaltungswissenschaftlichen Studiengängen, an den FH nicht vorhanden.

Angesichts der sehr vielfältigen Qualifizierungsansprüche an die professionelle Friedensarbeit ist dieser Blick jedoch wohl kaum problemgemäß: Auch für die universitären friedenswissenschaftlichen Studiengänge gilt, dass in dem einen oder anderen Bereich ergänzende Qualifikationsmodule notwendig sind. Insbesondere in den Fachbereichen für Sozialwesen der FH wird Vieles an Kompetenz entwickelt, das für das Berufsfeld Friedens- und Konfliktarbeit professionell nutzbar ist:

Die unterschiedlichsten Verfahren der Konfliktbearbeitung beispielsweise sind nicht nur Seminar- oder Projektbestandteile grundständiger Studiengänge, sondern unter den Stichworten Konfliktmanagement und Mediation haben verschiedene FH umfangreiche Studien- und Weiterbildungsangebote im Programm. Auch der Blick auf Masterstudiengänge lohnt sich, entdecken kann man hier z.B. den MA Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession, den MA Intercultural Conflict Management, den MA Sozialarbeit/Sozialpädagogik in globalisierten Gesellschaften oder den MA Public Management & Governance. Das Ausbildungsangebot wird sich sicherlich zukünftig noch weiter ausdifferenzieren und verdient bei den weiteren Überlegungen Beachtung.

Professionelle Weiterbildung durch Organisationen der internationalen Zusammenarbeit

Seit den 1990er Jahren werden in Deutschland verstärkt Qualifizierungsangebote in Ziviler Konfliktbearbeitung entwickelt. Mit der Akademie für Konflikttransformation, die aus einem gemeinsamen Qualifizierungsverbund mehrerer Trägerorganisationen hervorging, hat das Forum Ziviler Friedensdienst e.V. eine eigene Struktur geschaffen, um systematisch die in Projekten des ZFD gewonnenen Erfahrungen in Angebote zu überführen, die das gesamte Spektrum professioneller Qualifizierungsbedarfe in der internationalen Zivilen Konfliktbearbeitung abdecken.

In ihren Kursen und Trainings vermittelt die Akademie Kompetenzen und Kenntnisse zu Friedens- und Konflikttheorien, Handlungsfeldern des Zivilen Friedensdienstes, Instrumenten der Konfliktanalyse, Instrumenten und Methoden der Konfliktbearbeitung auf unterschiedlichen Ebenen, zu Teamfähigkeit und Kommunikation, Projektmanagement und Wirkungsanalyse, zur Stärkung der Beratungskompetenz sowie zum Ressourcen- und Selbstmanagement.

Bislang bilden vor allem zwei Formate das Kerngeschäft der Akademie: ein- bis fünftägige Trainings for Peace, die vor allem von den Trägerorganisationen des ZFD für die Vorbereitung und Weiterbildung von Fachkräften, aber auch von anderen Interessenten gebucht werden; und Qualifizierungskurse von 9 Wochen bzw. 4 Monaten (je nach Vorkenntnissen), die alle oben beschriebenen Kompetenzen und Kenntnisse vermitteln, wobei die intensive Weiterentwicklung der für die Feldarbeit notwendiger persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen durch Coaching und Lernfortschrittbegleitung hinzukommt. Für die erfolgreiche Teilnahme an einem Qualifizierungskurs wird ein Zertifikat vergeben, das bei den Entsendeorganisationen als Ausweis fundierter Qualifizierung anerkannt ist.

Neben weiteren zivilgesellschaftlichen Trägern (z.B. KURVE Wustrow, Oekumenischer Dienst/Schalomdiakonat u.a.) sind auch staatliche Durchführungsorganisationen in der Qualifizierung für ZKB aktiv, z.B. bietet InWEnt (Internationale Weiterbildung und Entwicklung GmbH) in der Vorbereitungsstätte für Entwicklungszusammenarbeit (V-EZ) neben den Themen der klassischen EZ auch einzelne Trainings zur Konfliktbearbeitung an.

Die Perspektive: Eine Verlinkung der Qualifizierung

Die Qualifizierungskurse für Friedensfachkräfte können und sollen jedoch nicht die fachliche akademische Ausbildung und einschlägige Vorerfahrungen ersetzen. Es fehlt ein wichtiger Link zwischen Studium und Praxis, sofern man denn dies anstrebt: Ein Qualifikationsangebot, das die Lücke zwischen theoretischer Aneignung der Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung und dem Praxiseinsatz schließt.

Beide Qualifizierungswege, also der akademische Ausbildungsweg, der theoriebezogen zu einer beruflichen Qualifizierung führen soll, und der mehr praxisbezogene Fortbildungsweg, der seine Ursprünge in der Freiwilligenkultur hat, haben ihre spezifischen Wurzeln und Ziele. Zu diskutieren ist nun, ob sie sich so miteinander verknüpfen lassen, dass weder die je eigene, originäre Schwerpunktsetzung aufgegeben wird noch durch Addition der Ansprüche an Professionalisierung die Qualifizierungszeiten erheblich verlängert werden.

Diesem Rechnung tragend, ist es an der Zeit, weitergehende, kohärente Konzepte zu entwickeln, um systematisch die Lücke zwischen Praxisanforderungen in der professionellen Friedensarbeit und der anspruchsvollen akademischen Ausbildung der Studienabgänger aus den Bereichen der Friedens- und Konfliktforschung zu schließen.

Bausteine einer solchen Verlinkung könnten sein: Gemeinsame, studienbegleitende und praxisnahe Qualifizierungsmodule, die die theoretische Aneignung der Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung mit dem Praxiseinsatz verbinden. Weitere Überlegungen beziehen sich auf Beratungsangebote, die nicht bei der Vermittlung von Praktikaplätzen stehen bleiben, sondern in Anlehnung an Berufsberatungs- und Coachingmodelle die Tuchfühlung mit der Praxis der Friedensarbeit, wie z.B. internationale Workcamps, niederschwellige Freiwilligendienste etc., ermöglichen, Einbindung von Profilentwicklungen mit regionalen Spezialisierungen in die Studienstruktur, Trainee- oder Juniorprogramme, projektbegleitende Forschungsdesigns, Networking zwischen Studienanbietern und Projektträgern zur Qualifizierung des jeweiligen Arbeitsfeldes, in das auch Studienabsolventen/innen integriert werden, um »Alumni«-Effekte zu erzielen.

Im Auge zu behalten ist, dass zeitnahe Lösungen vonnöten sind: Der Bedarf an qualifiziertem »Nachwuchs« steigt, und dies in einer Situation, in der aktuell bereits ein Mangel an qualifizierten Akteuren zu verzeichnen ist. Auch das BMZ hat die dringende Notwendigkeit, mehr Fachpersonal – auch im Nachwuchsbereich – für den ZFD zu qualifizieren, erkannt. Beide Seiten – Friedenswissenschaft und Friedensarbeit – müssten ausgehend von ihrer gemeinsamen normativen Basis ein Interesse daran haben, sich diesem Anspruch zu stellen. Dass dies nicht ohne entsprechende gesellschaftliche Unterstützung und staatliche Mittel realisierbar ist, versteht sich von selbst. Unbenommen der Möglichkeiten die Qualifizierungsstrukturen zu verbessern, bleibt die Notwendigkeit über die Attraktivität des Arbeitsfeldes nachzudenken: Was hindert qualifizierte Leute, sich als Projektmitarbeiter/innen dem Zivilen Friedensdienst zur Verfügung zu stellen? Ist es die Unkenntnis über dieses Programm, ist es die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung, die geringe finanzielle Gratifikation in Form des Entwicklungshelfer-Unterhaltsgeldes, die Unsicherheit der beruflichen Perspektiven für die »Rückkehrer«? Auch dieses sind Fragen, aus denen Konsequenzen zu ziehen sind, damit Menschen sich im Zivilen Friedensdienst engagieren.

Überblick über Studiengänge mit friedenswissenschaftlichem Schwerpunkt an deutschen Universitäten
Anbietende Universität In Kooperation mit, bzw. inhaltlich verantwortet von Abschluss Schwerpunkt
Universität Hamburg Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg Master of Peace and Security Studies – M.P.S. Friedensforschung und Sicherheitspolitik
www.ifsh.de/IFSH/studium/mps.htm
Universität Marburg Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg Master in Peace and Conflict Studies Gesellschaftliche Konfliktanalyse und -bearbeitung
www.uni-marburg.de//konfliktforschung/studium/master
FernUniversität Hagen * Landesarbeitsgemeinschaft Friedenswissenschaft in NRW Master of Peace Studies Grundlagenorientierte, Praxis reflektierende
www.fernuni-hagen.de/FRIEDEN
Universität Tübingen Institut für Politikwissenschaft Master Friedensforschung und Internationale Politik Internationale Konflikte – Akteure und Verfahren
www.uni-tuebingen.de/masterfip/
Universität Magdeburg Institut für Politikwissenschaft Master Friedens- und Konfliktforschung Theorien und Methoden der sozial- und kulturwissenschaftlichen Konfliktforschung
www.fkf.ovgu.de
Universität Frankfurt / Universität Darmstadt Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) Internationale Studien / Friedens- und Konfliktforschung Forschungsbezogene Analyse von Konflikten in der regionalen und globalen Ordnung
www.gesellschaftswissenschaften.uni-frankfurt.de/index.pl/ma_internationale_studien
Universität Augsburg In Vorbereitung Gesellschaftliche Konflikte und politische Integration In Vorbereitung
http://www.philso.uni-augsburg.de/lehrstuehle/politik/politik1/master_pol_soz/
Universität Duisburg-Essen Institut Entwicklung und Frieden Internationale Beziehungen und Entwicklungs Ein Studienschwerpunkt ist Friedens- und Konfliktforschung
www.ib-master.de/
Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) In Zusammenarbeit mit einem europäischen Universitätsverbund International Humanitarian Action Akademische Professionalisierung für das Berufsfeld »Humanitäre Hilfe«
http://www.ifhv.rub.de/courses/noha.html
* Die FernUniversität in Hagen hat die Neueinschreibung in den Master of Peace Studies zum WS 2008/09 eingestellt;
damit geht das einzige berufsbegleitende Universitätsangebot verloren.

Anna Ammonn ist Leiterin der Akademie für Konflikttransformation im Forum Ziviler Friedensdienst e.V. Christiane Lammers ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut Frieden und Demokratie der FernUniversität in Hagen und seit vielen Jahren W&F-Redaktionsmitglied.

Atomwaffen… sooo veraltet!

Atomwaffen… sooo veraltet!

Wie ein partizipatives Bildungsprojekt ein Thema aus der Versenkung holt

von Julia Kramer

Atomwaffen: Thema des letzten Jahrhunderts?

Das Thema Atomwaffen wird in der Breite der Bevölkerung selten als eines der dringlichen Themen wahrgenommen. Lediglich 12% der Bundesbürger wissen mit Bestimmtheit, dass in Deutschland US-Atomwaffen lagern (StratCom 2006). Bei einer (nicht repräsentativen) Passantenbefragung der Friedenswerkstatt Mutlangen im Jahr 2004 fehlte insbesondere unter den Befragten im Schul- und Studienalter oft selbst das Wissen über den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Atomwaffen in Europa: Keine Nachricht wert?

Ursachen des Nichtwissens bzw. der geringen Wahrnehmung des Themas können sowohl bei den Medien als auch in den Lehrplänen gefunden werden: Während über mögliche Atomwaffenprogramme des Irans und Nordkoreas durchaus berichtet wird, werden die in Europa existierenden Atomwaffen und die Atomwaffendoktrin der NATO ausgeblendet.

Auch in den schulischen Lehrplänen und Lehrmaterialien wird das Thema Atomwaffen seit Ende des »Kalten Krieges« im Allgemeinen nicht oder peripher behandelt – es gibt keine entsprechenden Unterrichtsmaterialien in deutscher Sprache.

Empowerment: Jugendliche schaffen Bewusstsein

Nach dem Scheitern der letzten Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags 2005 nahmen einige Jugendliche aus ganz Europa die Frage nach der atomaren Abrüstung selbst in die Hand. Sie gründeten BANg (Ban All Nukes generation), das europäische Jugendnetzwerk für atomare Abrüstung. Damit wollen sie sich und andere Jugendliche informieren und Aktionen für atomare Abrüstung organisieren. Sie agieren dabei nach dem Prinzip der »Empowerment-Spirale«:

Bewusstseinsbildung: Mit ihrer multilingualen DVD »Genie in a Bottle – Unleashed«, einem Postkarten-Set u.a. entwickeln die Jugendlichen selbst Informations-Medien, die zum Nachdenken anregen (erhältlich bei www.BANg-europe.org).

Selbstorganisation: BANg ist ein selbst organisiertes Netzwerk von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 2008 koordinieren beispielsweise drei 17-jährige Mädchen eine Jugendaktionsreise zur Atomwaffensperrvertragskonferenz nach Genf im Mai.

Gewaltfreie Aktion: Mit Mahnwachen, Performance, Clowning, gewaltfreien Blockaden und weiteren Aktionen bringen die Jugendlichen zum Ausdruck, dass sie eine atomwaffenfreie Welt erben wollen.

Dialog mit Entscheidungsträgern: Auf Konferenzen zum Atomwaffensperrvertrag und in Gesprächen mit Regierungsvertretern suchen die Jugendlichen den direkten Dialog (www.wien. pressehuette.de/pg001.html).

Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit: Durch Workshops an Schulen, Zeitungsberichte etc. werden wiederum weitere Jugendliche in die »Empowerment-Spirale« eingeladen.

Basiswissen an die Schulen bringen

Am Jugendnetzwerk BANg beteiligten sich seit seiner Gründung 2005 etwa 150-200 junge Menschen aus 15 Ländern. Um jedoch Basiswissen in die Breite der jugendlichen Bevölkerung zu bringen, entwickelte der deutsche Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen« 2007 in Zusammenarbeit mit BANg das Projekt »Atomwaffenpolitik: lernen – erfahren – mitgestalten«. Grundgedanke ist: Ohne Wissen kein Bewusstsein, ohne Bewusstsein keine Aktion. Die Jugendlichen von heute werden über den Umgang mit der Atomwaffentechnik in der Zukunft zu entscheiden haben.

Daher entwickelt der Projektkreis (u.a. IPPNW Deutschland, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern) Materialien für Schule und Freie Jugendarbeit. Die Materialien sollen leicht zugänglich und anwendbar sein. Jugendliche und wissenschaftliche ExpertInnen wirken an ihrer Entwicklung mit.

Unterrichtsmaterial

Auf der Internetseite www.atomwaffenlernen.info ist bereits das Poster »Atomwaffen in Europa« erhältlich. Mit seinen Vertiefungsblättern zu »Technik – Naturwissenschaft«, »Geschichte – Politik«, »Kultur – Psychologie« und »Was habe ich damit zu tun?«, sowie einem Begleitblatt für LehrerInnen ist es interdisziplinär einsetzbar. Für eine DVD haben Heidelberger Jugendliche der »Aktion Völkerrecht« bereits zahlreiche Interviews mit ExpertInnen, NRO-VertreterInnen und EntscheidungsträgerInnen geführt.

Schließlich sind es die Jugendlichen selbst, die uns allen die Augen öffnen können, um was es bei der Atomwaffenfrage geht: „Wir wollen nicht, dass unsere Regierungen »unsere Sicherheit« als Vorwand für den Besitz von Atomwaffen missbrauchen. Wir fühlen uns nicht »sicher«. Wir fragen, wer die Verantwortung übernehmen kann für die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung, eine Last die den zukünftigen Generationen aufgebürdet wird. (…)

Hör nicht auf, Dir die Welt vorzustellen von der Du als Kind geträumt hast. Arbeite daran, all das zu schützen, das Du liebst. Wir wissen dass Atomwaffen keinen Platz in der Welt haben, die wir wollen.“ (aus dem Jugendappell von BANg und Peace Boat, Nagasaki Tag 2007 bei der UNO in New York)

Julia Kramer, Conflict Resolution M.A., ist Koordinatorin von »Atomwaffenpolitik: lernen – erfahren – mitgestalten«

Atomare Frage und Individualisierung

Atomare Frage und Individualisierung

Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung

von Bernhard Nolz

Meine didaktische und methodische Vorbereitung als Friedenspädagoge auf die Vermittlungsarbeit, die die atomare Frage in vorwiegend schulischen Bildungszusammenhängen zum Inhalt hat, gleicht der Beschäftigung mit einem Puzzle: Viele Teile ergeben ein Ganzes – doch bin ich nicht sicher, ob es denn je dazu kommen wird, ein Ganzes zu werden!

Die atomare Frage ist ein wichtiges Bildungsthema. Im Themenkanon der naturwissenschaftlichen und der historisch-politischen Schulfächer hat sie ihren festen Platz. Im Politikunterricht war sie in die Behandlung des Ost-West-Konfliktes eingebettet, mit dem sich atomares Wettrüsten auf finalem Destruktionsniveau politisch legitimieren ließ. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schwand auch bei Friedenspädagogen und -pädagoginnen das Interesse an der Problematik der atomaren Rüstungspotentiale. Wie in anderen Disziplinen wurde in den Friedenswissenschaften die Dominanz der internationalen Perspektive zugunsten subjektbezogener Betrachtungsweisen verdrängt. Auf diese Weise gewinnen innerhalb des atomaren Themenkomplexes die friedenspädagogischen Forschungs- und Vermittlungsarbeiten an Bedeutung, die beispielsweise Opfer- und Minderheitenproblematiken offenlegen oder die Bedingungen untersuchen, unter denen neue Solidaritäten entstehen oder gewaltfreie Handlungsoptionen wahrgenommen werden können. Dafür könnte das Jahr 1995 mit seinen vielen Jahrestagen und wichtigen Daten ausreichenden Anlaß geben: 20 Jahre: Verhinderung des Atomkraftwerkes Wyhl durch Besetzung; 25 Jahre: Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen; 40 Jahre: Todestag von Albert Einstein; 50 Jahre: 1. Zündung einer Atombombe in USA, Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki; unvorstellbare Atomwaffenarsenale und Bedrohungspotentiale bestehen weiter und suchen sich neue Märkte; die »Störfälle« von Atomkraftwerken in aller Welt reißen nicht ab und damit verbundene Gesundheitsrisiken nehmen zu; atomare End- und Zwischenlagerprobleme erscheinen unlösbar …1

Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten können Lehrende und Lernende entwickeln angesichts der an der atomaren Thematik erkennbaren Erscheinungsformen der Gegenmoderne?

„Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, die die Moderne aufwirft, auftischt und auffrischt. (…) Sie erlaubt, sichert, stellt Fraglosigkeit im Horizont der Bewußtheit her.“ 2

Wer sich darauf einläßt, wird kaum noch fähig sein, sich in Friedensutopien verwickeln zu lassen. Friedensfähigkeiten würden in ihrer Weiterentwicklung blokkiert, beispielsweise die Fähigkeit der Empathie, der Aggressionskontrolle, des politischen Engagements oder der Selbstreflexion. Das bestehende Bildungssystem bietet – trotz aller Beteuerungen der Verantwortlichen – wenig Raum für Reflexions- und Selbstfindungsprozesse des einzelnen (und gewinnt immer mehr Züge eines Projektes der Gegenmoderne). Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Atomthematik in der Schule, die eine mögliche Organisationsform für Individualisierungsprozesse erst noch finden muß, könnte ein pädagogischer Weg erkennbar werden, auf dem der Abbau von personaler, struktureller und kultureller Gewalt thematisiert und praktiziert werden kann.

„“Individualisierung« meint vieles nicht (…) beispielsweise nicht: Atomisierung, Vereinzelung, Vereinsamung, das Ende jeder Art von Gesellschaft, Beziehungslosigkeit… »Individualisierung« meint erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern müssen.“ 3

Hitzler/Honer sprechen von einer „Bastelexistenz“ 4, wobei „die alltägliche Lebenswelt des Menschen zersplittert (ist) in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es (nicht trotz, sondern wegen der breiten Angebots-Palette) keine verläßlichen »Rezepte« mehr gibt. Für jeden einzelnen besteht mithin ein Anspruch und ein Zwang zugleich zu einem (mehr oder weniger) »eigenen« Leben.“ 5

Dabei hat der einzelne in der Regel durch die vielfältigen Medieninformationen einen Überblick über die aktuellen Lebenssinn- und Lebensstil-Angebote und kann sich zwischen den vorhandenen Alternativen „(stets: bis auf weiteres) zugunsten einer Sinn-Heimat entscheiden.“ 6 Die Jugendforschung hat ähnliche Individualisierungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen7, verweist aber auch auf die Bedeutung von Orientierungsangeboten für die Jugendlichen.

Die Ausstellung »Bombensicher«

Wie können Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule darauf reagieren? Für die Beschäftigung mit der atomaren Frage ist »Bombensicher« ein interessantes Angebot. »Bombensicher« ist eine Fotoausstellung der Atomic Photographers Guild (AFG), die versucht, das breite Spektrum der atomaren Frage zu zeigen.8 23 Fotografinnen und Fotografen präsentieren eine faszinierende Palette von Darstellungen zur Atomproblematik. Z.B. Robert Del Tredici, der Begründer der AFG, der das Unsichtbare des Atoms endlich einmal sichtbar machen wollte, indem er dort eindringt, wo mit dem Atom gearbeitet wird. Oder Hans Madej, der die Kinder von Tschernobyl portraitiert hat, solange sie noch leben. Carole Gallagher dokumentiert die gesundheitlichen Auswirkungen der Atomversuche auf die Beschäftigten auf dem Nevada-Testgelände. Barbara Norfleet führte ein Fotoprojekt über eine Atomfabrik und die Leute durch, die ihre Höfe oder ihre Geschäfte – ihre Heimat, wie sie sagen – verloren haben.

23 unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen, 23 unterschiedliche Zugänge zur Thematik werden vorgestellt, die in einer fast gleich großen Anzahl von Schulfächern für eine Auseinandersetzung aufgegriffen werden können. Die Fotografien beinhalten Themenkomplexe wie: Uranbergbau, Bombenproduktion, Bombentest, Der Atomstaat, Beschäftigte, Die Opfer, Widerstand. Das differenzierte oder in immer wieder neuen Kombinationen differenzierbare Bildmaterial ist es, das das Angebot »Bombensicher« spannend macht für Pädagoginnen und Pädagogen, die mit den Schülerinnen und Schülern in unbekannte Wissensräume und mehrdimensionale Gedankengefüge aufbrechen wollen. Ein solches Unternehmen ist für Lehrende und Lernende ungewohnt; dann können gemeinsame Zweifel und die Kommunikation darüber den an einem Partnerschaftsmodell orientierten Lernprozeß fördern.

„Die Hereinnahme der Unsicherheit in unser Denken und Tun kann genau die Verkleinerung der Zwecke, die Langsamkeit, die Revidierbarkeit und Lernfähigkeit, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Toleranz, Ironie erringen helfen, die zum Wechsel in eine andere Moderne notwendig sind.“ 9

In einer Schule dieser anderen Moderne wird nach individuellen Lernentwicklungen gefragt, die in Lerngruppen mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten, in unterschiedlichen Kombinationen, Größen und Zeiträumen realisiert werden. Dafür stellt »Bombensicher« ein geeignetes Medium dar, weil es individuelle Zugänge der Fotografinnen und Fotografen zum Thema präsentiert, mit denen sich Besucher/innen individuell auseinandersetzen können. Ein friedenspädagogisches Programm als Schulveranstaltung wird neben der Ermöglichung von Freiräumen für individuelle Lerninteressen und -entwicklungen immer auch Anregungen geben und Voraussetzungen dafür schaffen, daß Kommunikation untereinander stattfinden kann. Auf diese Weise werden soziale Aspekte des Lernens (in der Klasse, in der Gruppe, mit der Partnerin/mit dem Partner) gewährleistet bzw. sind zumindest als Lern- und Erfahrungsangebot gegenwärtig. Allerdings können in einer nach Fächern gegliederten und im 45-Minuten-Takt organisierten Schule fächerübergreifende Aspekte nur in Maßen oder gar nicht zum Tragen kommen. Projektarbeit bzw. projektorientierter Unterricht, in denen noch am ehesten die Komplexität und die Globalität der atomaren Frage- und Problemstellung in Bildung umgesetzt werden könnte, wird nicht oder nur selten realisiert.

In Konzepten zur Friedenserziehung in der Schule werden am konsequentesten Bildungsaspekte der atomaren Frage, ihre Dimension der politischen Bildung und die Notwendigkeit einer interdisziplinären bzw. einer integrativen Herangehensweise entwickelt.10 Ein Beispiel dafür ist die Realisierung der Ausstellung »Bombensicher« als friedenspädagisches Projekt in Schleswig-Holstein. Den Veröffentlichungen dazu können weiterführende Anregungen entnommen werden.11 Die Städte Kiel und Itzehoe, in denen das Projekt durchgeführt wurde, gehören dem internationalen Bündnis »Städtesolidarität Hiroshima/Nagasaki« an. Das Städtebündnis will die Verwirklichung einer friedlichen Ordnung der Welt fördern und verfolgt das Ziel der vollständigen Abschaffung der Atomwaffen. In einer Erklärung der deutschen Solidaritätsstädte aus dem Jahre 1987 heißt es: „Durch eigene Initiativen können die Kommunen im Rahmen ihrer Aufgaben dazu beitragen, das Friedensengagement ihrer Bürger zu wecken und zu unterstützen. Sie können so die Voraussetzungen schaffen helfen, daß die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung in der Welt, eines gewaltfreien Umgangs miteinander, immer mehr Menschen bewußt wird und so die Chance eröffnet wird für eine Welt ohne Waffen.“12

up>Mit der Durchführung des Ausstellungsprojektes »Bombensicher« können vor allem Kommunikationsprozesse angeregt werden. In der Regel wird sich für die Realisierung des Projektes ein breiter Unterstützer/innen-Kreis bilden, in dem die Vertreter/innen von Gruppen, Organisationen und Initiativen aus dem Anti-Atom-, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsspektrum, aus Parteien, Kirchen, Gewerkschaften usw. zusammenkommen. Die Unterstützergruppen ergänzen durch ihre speziellen Informations- und Unterhaltungsangebote während des Ausstellungszeitraumes die Themenpalette, die im Gesamtprojekt zur Geltung kommen kann. Daran kann auch ein Schul- oder Unterrichtsvorhaben beteiligt sein, in dem sich Schüler/innen mit einem ausstellungsrelevanten Aspekt auseinandergesetzt haben. Es entspricht einer optimistischen, aber durchaus realistischen Einschätzung, wenn behauptet wird, daß ein derartiges Ausstellungsprojekt einen Rahmen schaffen kann für die Festigung oder Erweiterung bzw. den Aufbau eines Netzwerkes der kommunalen Friedensarbeit. Friedensarbeit wird von individuellem Engagement einzelner Menschen getragen, läßt sich aber nur in solidarischen Organisationsformen wirkungsvoll gestalten.

Eine wichtige Motivation für die Akteure in sozialen Bewegungen ist die durchaus berechtigte Erwartung, aus einer aktuellen Minderheitensituation – eventuell mit Hilfe verschiedenartigster Zusammenschlüsse – die Machtposition der Mehrheit einnehmen zu können.13 Allerdings ist der Versuch, über den Aufbau eines Netzwerkes der alternativen Bewegungen längerfristig einen entscheidenden Einfluß auf die Politik auszuüben oder gar stabile Mehrheiten mit reformerischem Impetus zu schaffen, in den meisten Kommunen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien stekkengeblieben. Heute kommt es m.E. insbesondere darauf an, Möglichkeiten der Kommunikation zu organisieren und offene Foren einzurichten, wo Ad-hoc-Bündnisse geschlossen sowie neue Formen der Zusammenarbeit konzipiert und erprobt sowie Alternativen entwickelt werden können, denn nur Nein z.B. zur Atomenergie zu sagen, reicht nicht aus.14

Ein Aspekt, der möglicherweise individuelle Zugänge zur Atomthematik ermöglicht, könnte die »Bearbeitung« von Ängsten im atomaren Kontext sein. Natürliche Anknüpfungspunkte bieten die in »Bombensicher« dargestellten Opfer des Atoms, aber auch ihr unermüdlicher Widerstand gegen atomare Einrichtungen bzw. ihr Abwehrkampf gegen die Fortsetzung von Verseuchung, Enteignung und Entmündigung. Pädagoginnen und Pädagogen werden einen ihnen spezifischen Zugang zur atomaren Frage finden, der sich aus ihrer individuellen Lebens- und Arbeitsbiographie oder der ihrer Schüler/innen ergibt. Ich denke z.B. an die vielen Pädagoginnen und Pädagogen, die in der Arbeit der Anti-Atomkraft-Bewegung alt geworden sind. Vor ihren heutigen Schülerinnen und Schülern oder sonstigen »Schutzbefohlenen« zitieren sie nun Ulrich Beck: „Der Hauptgegner der Atomindustrie (…) sind nicht die Demonstranten vor den Bauzäunen, die kritische Öffentlichkeit (…), der überzeugendste und andauerndste Gegner der Atomindustrie ist – die Atomindustrie selbst. (…) Der Protest kann erlahmen, der Skandal der Gefahr bleibt.“ 15

Und es sind die Vorstellungen der Politik und der Atomwirtschaft von einer angebotsdominierten Atomtechnikentwicklung und -umsetzung gewesen, die zu entsprechender staatlicher Finanzierung und öffentlicher Legitimation verholfen haben. Dagegen haben z.B. »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF) Widerstand geleistet. Sie bekennen sich zu einem aktiven Pazifismus und verpflichten sich, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „in ihrer Kritik an jedem militärischen und nationalistischen Denken zu bestärken und ihnen friedliche Alternativen positiv erlebbar zu machen; (…) ihnen auch bei der Entscheidung für einen zivilen Friedensdienst praktische Hilfen zu bieten und sie vor Diskriminierungen zu schützen.“ 16

Deshalb wäre es in ihrem Sinne, daß Deutschland im Lichte des Atomwaffensperrvertrages und des »2+4-Vertrages« als politisches Vorbild dastehen könnte: „Derzeit (hat) kein anderes Land eine vergleichbar starke nichtnukleare Verpflichtung.“ 17 Aber: „In der Bundesrepublik wird die quantitative Abrüstung derzeit von einer materiellen und ideologischen Umrüstung der Bundeswehr und einer Militarisierung von Politik konterkariert.“ 18

Diese widersprüchlichen Aspekte beschreiben die augenblickliche politische Entwicklung und gewinnen Bedeutung für den Bildungsprozeß des einzelnen Menschen, weil er mit ihnen leben muß. Das gilt unabhängig davon, ob die Frage ein öffentliches oder pädagogisches (Mode-) Thema ist oder in den Medien Konjunktur hat. Die Konjunktur eines Themas in den Medien darf auch nicht mit thematischer Orientierungshilfe für die sich informierenden Menschen gleichgesetzt werden, sondern weist eher auf pädagogische Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungsnotwendigkeiten hin. Denn die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes allenthalben – z.T. auch in Teilen der Friedensbewegung – geradezu schlagartig einsetzenden Verharmlosungs- und Verdrängungstendenzen atomarer Bedrohungen – die sich allerdings auch qualitativ, nicht quantitativ! verändert haben – erscheinen angesichts unsicherer Politikentwicklungen nicht angemessen.19 Tatsächlich entlasten diese Verhaltensweisen viele Menschen von Ängsten. Andere aktivieren sich als politisch denkende und handelnde Menschen und kehren auf eine Weise in die Gesellschaft zurück, was „zunächst auf eine Erschwerung, Verhinderung alter Politik hinaus(läuft)“.20 Dabei müssen Handlungsfelder für eine eingreifende Politik von unten nicht erst lange in den unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbereichen der Menschen gesucht werden. Für die schulische Arbeit gilt es, sie wahr- und aufzunehmen. Z.B. durch die Realisierung einer Ausstellung wie »Bombensicher«. Der Vorteil der (Pflicht-)Schule – insbesondere der Gesamtschule – ist es ja gerade, daß in ihr Menschen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zusammenkommen, um an einem Bildungsprozeß teilzunehmen. Hier werden – zumindest ist es intendiert – Chancen für die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Leistungen angeboten. Zukünftig wird es darauf ankommen, den Bildungsprozeß in der Schule bzw. das schulische Bildungsangebot so offenzuhalten und zu differenzieren, daß seine Wahrnehmung den Lernenden nicht nur sinnvoll erscheint, sondern daß es auch individuelle Gestaltungsfreiräume eröffnet und Entscheidungskompetenzen einräumt, die im derzeitigen Schulsystem undenkbar erscheinen. Von der Projektarbeit sind sie aber intendiert, im Projekt »Bombensicher« könnte damit begonnen werden.

Meine Überlegungen zu einer Bildungsarbeit zur atomaren Frage finden ein vorläufiges Ende. Didaktische und methodische Aspekte des Themas aus der Sicht eines Friedenspädagogen konnten nur angedeutet werden. Ihre schriftliche Fixierung ist von einer Unsicherheit geprägt, die Offenheit und Lernbereitschaft signalisieren möchte für das, was dem Frieden dienen könnte.

„Hier wie in anderen Bereichen auch: Mit den Chancen, die die Moderne eröffnet, kommen zugleich neue Fragen, neue Konflikte. Und die Traditionen, aus denen sich Antworten ableiten lassen, sind längst brüchig geworden. So ist das Grundmerkmal der Moderne wohl nicht Autonomie, sondern eher Bastelbiographie, vielleicht auch Bastelmoral.“ 21

Bernhard Nolz ist Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF); er ist als Gesamtschullehrer und als Moderator in der Lehrerfortbildung tätig.

Die Ausstellung »Bombensicher« eröffnet die Beschäftigung mit folgenden Aspekten und Themen:

Anmerkungen

1) Zur friedenspädagogischen Bedeutung der atomaren Frage vgl.: Edgar Weiß: Nukleare Bedrohung, ihre Darstellung und deren friedenspädagoische Bedeutung, in: Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991, S. 37 – 58. Zurück

2) Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zur Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/M. 1993, S. 102/103. Zurück

3) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 149 f. Zurück

4) Ronald Hitzler/Anne Honer: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung; in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 307 – 315. Zurück

5) Hitzler/Honer, S. 308. Zurück

6) Hitzler/Honer, S. 311. Zurück

7) Vgl.: Peter Büchner/Anna Brake/Burkhard Fuhs: Wie geht es unseren Kindern? Erste Ergebnisse des Marburger Kinder-Surveys. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 4, Marburg 1994; Peter Büchner/Burkhard Fuhs: Kinderkulturelle Praxis: Kindliche Handlungskontexte und Aktivitätsprofile im außerschulischen Lebensallltag. Marburger Beiträge zur Kindheits- und Jugendforschung Nr. 5, Marburg 1994; Sigrid Metz-Göckel: Jugend '92. Zur 11. Shell-Jugendstudie. In: Jugendliche und politische Kultur. SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 47 – 63; Jürgen Mansel: Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Risiken. In: SPD-Schriftenreihe Jugendpolitik, Band IV, S. 31 – 46. Zurück

8) Siehe hierzu das kurze Portrait in dieser Ausgabe. Information und Ausstellungskatalog: kultur publik, Killertalstr. 13, 72379 Hechingen, Tel: 07477/1606; Fax: 07477/8206. Zurück

9) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 260. Zurück

10) Vgl. Jörg Calließ/Reinhold E. Lob (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung, 2 Bde. Düsseldorf 1988; Carsten Budke/Bernd Nolz/Walter Westphal: Grundsätze zur Friedenserziehung in den Schulen. PFK-texte Nr. 2. Kiel 1991. Zurück

11) Bernd Nolz/Edgar Weiß (Hrsg.): Bedrohung – Bilder – Bildung. Atomfotografie und Friedenspädagogik. Hamburg 1991. Siehe auch: Bernd Nolz: »Bombensicher« – ein Ausstellungsprojekt zur Friedenserziehung, in: Peter Häußler (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung. Kiel 1992; Bernhard Nolz: Projektarbeit in der Friedenserziehung als Beitrag zur Politischen Bildung. Hamburg 1993; Ilse Valentin: Atomare Bedrohung und Friedenspädagogik. Manuskript. Kiel 1994. Zurück

12) Zitiert nach: Günther Gugel/Uli Jäger (Hrsg.): Handbuch Kommunale Friedensarbeit. Tübingen 1988, S. 201. Zurück

13) Vgl.: Wolfgang Gessenharter/Helmut Fröchling: Vom Umgang mit Minderheiten – ein soziokulturelles Problem in der politischen Kontroverse; in: dies. (Hrsg.): Minderheiten – Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft? Baden-Baden 1991. Zurück

14) Vgl.: Günter Wippel: Die neue Internationale der Atomopfer; in: Klemens Ludwig/Susanne Voigt (Hrsg.): Phantom Atom. Abgründe der Atomtechnologie und Wege aus der Gefahr. Gießen 1993. Zurück

15) Ulrich Beck: Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M. 1988. S. 153/163. Zurück

16) Aufruf der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« (PPF): Gegen den neuen Militarismus – Für einen aktiven Pazifismus! Vgl.: »et cetera ppf« Nr. 3/93, 1/94, 2/94. Zurück

17) Annette Schaper: Die Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages: Schlüssel zur nuklearen Rüstungskontrolle; in: Hanne-Margret Birckenbach/Uli Jäger/ Christian Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1995. Konflikte – Abrüstung – Friedensarbeit. München 1994, S. 155. Zurück

18) Martin Grundmann: Die Bundeswehr: Eine Bilanz nach vier Jahren »Abrüstung«; in: Birckenbach/Jäger/Wellmann, S. 144. Zurück

19) Vgl. B. Marquardt/J. Mayer/H. Mikelskis (Hrsg.): Umwelt. Lexikon ökologisches Grundwissen. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 68 ff. Zurück

20) Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 170. Zurück

21) Elisabeth Beck-Gernsheim: Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten, S. 332. Zurück

Alternativen, Anti-Atombewegung, Atomforschung, Atomkraftwerke, Störfälle, Krankheitsbilder, Atomstaat, Bastelbiographie, Beschäftigte der Atomindustrie, Biographisches Arbeiten, Bombenproduktion, Bombentests, Deutsche Atompolitik, Erziehung zum Frieden, Fotoanalyse, Friedensfähigkeiten, Friedensutopien, Gefahrenminimierung, Geschichte der Atomtechnologie, Hiroshima/Nagasaki, Individualisierungsprozesse, Kommunale Friedensarbeit, Mediendarstellung, Militarisierung, Moderne – Gegenmoderne, Modethemen, Neue Weltordnung, Opfer, Pazifismus, Politische Bildung, Politische Entscheidungsprozesse, Projektunterricht, Protestbewegung, Risikogesellschaft, Soziales Lernen, Städtesolidarität, Technikentwicklung, Tschernobyl, Uranbergbau, Verantwortung, Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Verweigerung, Widerstand, Wissensvermittlung, Zeitbombe.

Let the sunshine in!

Let the sunshine in!

Die Europäische Jugendakademie: Ein neuer Ansatz in der Friedenserziehung

von Werner Wintersteiner

Unsere Schule ist klein, sie hat bloß 250 SchülerInnen, aber diese kommen aus neun verschiedenen Ländern. Die Unterrichtssprache ist Deutsch, aber die Verständigung erfolgt in vielen Sprachen, und nicht nur mit Sprache. Die Schule hat nur ein Unterrichtsziel, ein friedliches Zusammenleben, aber sie hat viele Fächer: Töpfern und Karikaturen zeichnen, Theaterspielen und Blumenbinden, Zeitung machen und Bilder malen … . In unserer Schule dauerte der Unterricht nur eine Woche, aber die Wirkungen dieses Unterrichts werden die Jahre überdauern.

Die Rede ist von der Ersten Europäischen Jugendakademie, die im April 1994 in Villach (Kärnten) abgehalten wurde. Die persönliche Begegnung von Jugendlichen aus Slowenien und Kroatien, aus Tschechien und der Slowakei, aus Ungarn und aus Österreich, aus Belgien, Holland und Italien war der Höhepunkt einer einjährigen Zusammenarbeit. Bereits ein Jahr vorher kamen die Lehrkräfte und einzelne ausgewählte Jugendliche in die Draustadt, um die Jugendakademie zu planen. Von Anfang an sollten LehrerInnen wie SchülerInnen ein Mitspracherecht haben. In dieser ersten Woche konnten sie sich mit der Umgebung und den Rahmenbedingungen vertraut machen und durch praktische Übungen erste Erfahrungen im Projektunterricht sammeln. Dann begann die 2. Phase, die Arbeit zu Hause: Unter dem gemeinsamen Motto »Zusammen leben« führten die Schulklassen Unterrichtsprojekte durch und bereiteten sich damit auf die Jugendakademie vor. In regionalen Treffen lernten sich einige Klassen bereits während des Schuljahres kennen. Wo das nicht möglich war, halfen Videoporträts, einen ersten Eindruck voneinander zu bekommen. Die dritte Phase war die eigentliche Akademie-Woche in Villach. Zunächst lernten sich die Jugendlichen durch interaktive Spiele kennen und stellten einander die Projektergebnisse vor. Nach diesem Auftakt wurden Workshops eingerichtet, in denen die eigentliche Arbeit der Jugendakademie verlief. Ein großes Abschiedsfest beschloß die viel zu kurze Woche der Begegnung. Die Jugendakademie ist zu Ende, aber viele Freundschaften werden weiterbestehen. Einzelne Klassen haben Partnerschaften miteinander vereinbart. Und was am meisten zählt: Das Erlebnis der interkulturellen Begegnung und die Erfahrungen mit einer alternativen Form von Unterricht, die SchülerInnen und Lehrkräfte gemacht haben, werden auch den »normalen« Unterricht zu Hause nicht unbeeinflußt lassen.

Bleibender Eindruck für alle Beteiligten war die herzliche und frohe Atmosphäre während der ganzen Woche. Die Begeisterung der Jugendlichen steckte auch die Erwachsenen an. »Let the sunshine in your heart«, dieser Song aus den 60ern tauchte nicht zufällig bereits am ersten Tag auf und begleitete als inoffizielle Hymne die gesamte Jugendakademie-Woche. Die Lust, einander kennenzulernen, der Wunsch nach Verständigung, die Erfahrung eines friedlichen Zusammenlebens bestimmten den gesamten Verlauf der Veranstaltung.

Das pädagogische Konzept

In der letzten Zeit ist eine erfreuliche Zunahme an internationalen Jugendkontakten im schulischen und im außerschulischen Bereich zu verzeichnen. Die Konzeption der Jugendakademie hat sich aus dem Studium und der Kritik bisheriger interkultureller Kontakte (Vgl. Gruber 1991 und 1993) entwickelt. Sie unterscheidet sich von den meisten ähnlichen Veranstaltungen durch eine einzigartige Kombination bestimmter bewährter Arbeitsmethoden. Der leitende Grundgedanke dabei ist es, weniger auf spektakuläre Aktionen als auf intensive Arbeit zu setzen und langfristige Veränderungen anzustreben.

Der Jugendakademie liegt eine lebensweltliche Konzeption von Schule zugrunde, wie sie seit der Reformpädagogik immer wieder gefordert wurde. Durch praktisches Tun können SchülerInnen viel mehr lernen und viel nachhaltigere Erfahrungen machen als durch reproduzierendes Lernen. Die Lerninhalte können ihren Wert erst entfalten, wenn sie in die eigenständige Tätigkeit der SchülerInnen integriert werden: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Das gilt unserer Meinung nach erst recht für wertorientierte Erziehungsziele wie Friedenserziehung. Die »didaktische Rückständigkeit« der Friedenspädagogik ist ja in den letzten Jahren zu Recht kritisiert worden (Vgl. Duncker 1988). Nur wenn die SchülerInnen das »Abenteuer Frieden« praktisch erleben und dabei eigene Gestaltungsmöglichkeiten erproben können, wird sich ihr Verhalten nachhaltig verändern. Diese pädagogische Orientierung erfordert auch die Öffnung der Klassenzimmer. Bedeutsame Erfahrungen werden durch direkte Begegnung und aktives Handeln »vor Ort« gemacht. Projektunterricht ist eine zentrale, wenn auch nicht die einzige Form, dieses Konzept in die Praxis umzusetzen.

Ein Kennzeichen der Jugendakademie ist die Kombination der Projektmethode mit interkulturellem Lernen. Das ist in den letzten Jahren bei vielen österreichischen Schulen bereits gängige Praxis, meist in der Form, daß Kontakte zu einer Partnerschule im Ausland bestehen, mit denen gemeinsame Projekte durchgeführt werden. Neu an der Jugendakademie ist jedoch, daß es sich nicht bloß um zwei Partnerschulen handelt, sondern eben um elf Klassen aus neun Ländern. Das relativiert alle spezifischen nationalen Zugänge. Die Chancen auf einen „Pakt mit der Fremdheit“ ( Alix 1989) stehen günstiger. Dieser sehr wichtige und kaum ersetzbare interkulturelle Lernprozeß ist etwa auch auf internationalen Sommerlagern usw. zu beobachten. Im Gegensatz zu diesen kamen aber nicht einzelne Jugendliche in den Ferien zusammen, sondern ganze Klassen innerhalb der Schulzeit. Trotz der lockeren Arbeit und der kreativen Tätigkeit in den Workshops handelte es sich um Schule und Unterricht. Dieser Punkt war uns besonders wichtig: Zu zeigen, daß es sich hier um ein praktikables Modell einer anderen Schule handelt, daß Schule auch so sein kann und daß sie so sein sollte. Dabei war uns auch die Herausforderung einer Großgruppe bewußt. Es ist etwas ganz anderes, ob man eine Kleingruppe der Erfahrung mit »anderen« aussetzt, oder man dieses Experiment mit 250 Leuten durchführt. Die Großgruppe stellt für uns ein unverzichtbares demokratiepolitisches Lernfeld dar.

Die Jugendakademie setzt auf eine langfristige Planung und eine über einjährige Zusammenarbeit. Die persönliche Begegnung der Jugendlichen ist dabei ein sehr wichtiges Moment, im Unterschied zu Partnerschaften, die nur brieflich oder per Video erfolgen. Die Aussicht auf die Jugendakademie-Woche spornte die Jugendlichen an, die Projekte ernstzunehmen und gut vorzubereiten. Umgekehrt wurde dadurch die Jugendakademie in einen pädagogischen Kontext eingebettet, wodurch der unverbindliche Charakter der oft üblichen »Feiertagstreffen« vermieden werden konnte.

Die Verwendung von Deutsch als Kommunikationssprache (Englisch spielte im Plenum nur eine untergeordnete Rolle) war aus praktischen Gründen vorgegeben und wohl auch die Sprache, die am meisten TeilnehmerInnen gut beherrschten. Aber wir waren bemüht, zumindest in symbolischer Form, bei Begrüßung, im Programmheft usw. alle Sprachen zur Geltung zu bringen. Selbstverständlich konnten auch Fragebogen und alle anderen Auswertungstexte in der Muttersprache abgefaßt werden. Innerhalb der Kleingruppen (Workshops) und in der Freizeit entwickelte sich schnell ein System von Ketten-Übersetzungen, oder es wurde Englisch zu Verständigung verwendet.

Eine zentrale Organisationseinheit der Jugendakademie waren die Workshops. Sie waren nicht nur die wichtigsten Lern-Orte, in ihnen fand auch die intensivste Begegnung zwischen den SchülerInnen aus verschiedenen Ländern statt. Da die Gruppen ziemlich klein gehalten wurden (10 bis max. 30 TeilnehmerInnen), hatten auch introvertierte oder sprachlich weniger gewandte Jugendliche die Chance, KollegInnen kennenzulernen. Die Auseinandersetzung mit Lerninhalten und die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen waren immer miteinander verknüpft und wurden oft thematisiert. Die interkulturelle Begegnung hat sowohl die Auswahl als auch die Ausrichtung der Workshops stark beeinflußt. Wir bevorzugten Themen und Arbeitsformen, die nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten boten, z.B. Theater, bildende Künste, Musik. Wo es explizit um sprachliche Kommunikation ging, wie etwa bei den Arbeitskreisen »Journalismus« und »Sprachliche Kommunikation«, wurde in geeigneter Weise das Problem der sprachlichen Verständigung bearbeitet. Die Workshops folgten den drei Kriterien, die Peter Fauser als grundlegend für »praktisches Lernen« anführt (Fauser 1988):

  • ökologische Erfahrung durch Bearbeitung von natürlichen Materialien: z.B. Keramik; Bau von Nistkästen.
  • ästhetische Erfahrung durch künstlerisches Gestalten: z.B. Malerei, Musik, Tanz.
  • personale und politische Erfahrung durch soziale Kontakte: z.B. Rechtsradikalismus, aber auch die beiden Theater-Workshops.

Die Ausstrahlung der Jugendakademie

Nach der bisherigen Auswertung der Erfahrungen läßt sich sagen, daß sich das Grundkonzept sehr bewährt hat. Es ist uns darum gegangen, »Strukturen der Freiheit« zu organisieren, bei denen die Jugendlichen möglichst viel mitbestimmen können, aber die organisatorische Umsetzbarkeit jederzeit gewahrt werden kann, bei denen Verbindlichkeiten festgelegt werden, aber auch noch genug Platz für Spontaneität bleibt. Viele Jugendlichen haben uns erstaunt bestätigt, daß sie viel Freiheit hatten „und doch kein Chaos“ eingetreten sei.

Und es stellte sich heraus, daß die Jugendakademie bereits in der Vorbereitungsphase große Auswirkungen auf den weiteren alltäglichen Unterrichtsablauf hatte. Projektunterricht und praktisches Lernen waren für eine Reihe von Schulen vor dem ersten Seminar 1993 völlig fremd, und die Lehrkräfte erzählten, daß sie durch dieses Vorbereitungstreffen sehr ermutigt wurden, neue Wege im Unterricht zu gehen. Die Schule aus Zagreb nahm zum Beispiel für die Vorbereitung der Jugendakademie Kontakt mit der lokalen Antikriegsbewegung auf und absolvierte einen Kurs für Konfliktmanagement unter Anleitung dieser Gruppe.

Auch für die veranstaltende Stadt Villach sind die Impulse der Jugendakademie unübersehbar. Für den Verein »Alpen-Adria-Alternativ«, der friedenspolitisch wie friedenspädagogisch tätig ist, stellt sie einen wichtigen Pfeiler kommunaler Friedensarbeit dar. Erstaunlich ist für uns, daß es gelungen ist, gerade mit einer pädagogischen Initiative so viel politische Resonanz und Diskussion hervorzurufen. Ohne die Entscheidung der Stadtverwaltung, die Jugendakademie mit beträchtlichen Mitteln zu finanzieren, wäre sie gar nicht zustande gekommen. Aber die Auswirkungen waren auch viel unmittelbarer. Es nahmen zwei Schulklassen aus der Stadt teil, einige ReferentInnen kamen auch aus den anderen Höheren Schulen. Die öffentliche Präsentation der Jugendakademie auf dem Rathausplatz sowie die mediale Berichterstattung trugen dazu bei, daß die Veranstaltung zumindest in gewissen Kreisen zum Tagesgespräch wurde. Die Idee der »community education« wurde, nicht zuletzt durch Besuche eines Workshops im Krankenhaus und in einem Altersheim, in die Tat umgesetzt.

Eine pädagogische Utopie

Die Jugendakademie bezog ihren Charme aus der Kürze der Zeit, die sie dauerte. Dadurch erschien sie den TeilnehmerInnen wie ein permanentes Fest, und der Schulcharakter trat in den Hintergrund, obwohl hart gearbeitet wurde. Um wirklich wirksam zu sein, müßte so eine Veranstaltung wesentlich länger dauern. Daß die meisten SchülerInnen die Kürze der Jugendakademie kritisierten, war nicht bloß Nostalgie und die Wehmütigkeit einer Abschiedsstimmung. Es war auch das richtige Empfinden, daß sich das »Zusammen leben« erst nach einer gewissen Zeit entfalten kann. Es war z.B. unmöglich, innerhalb einer Woche demokratische Formen einer Großgruppenleitung zu etablieren. Es gab auch keine größeren Konflikte, einfach deshalb, weil die Begeisterung über die gelungene Aktion Differenzen zunächst zudeckte. Zu einer Jugend-Akademie im vollen Sinn des Wortes wäre ein Zeitraum von zwei bis vier Wochen sicher angemessener gewesen.

Ein weiterer Schwachpunkt ist in meinen Augen, daß die politische Dimension der Idee vom »zusammen leben« nur sehr am Rande erörtert wurde. Wenn Friedenserziehung aber ihr Ziel erreichen will, darf sie sich nicht damit begnügen, ein positives Klima für menschliche Begegnungen zu erzeugen, die dem staatlichen Unfrieden den grenzübergreifenden, aber privaten Kontakt gegenüberstellen. Vielmehr muß es darum gehen, an einer Vermittlung von persönlicher Haltung und politischem Handeln zu arbeiten. Dies könnte zum Beispiel dadurch erreicht werden, daß sich die Jugendlichen in der Vorbereitungsphase mit der politischen Situation der beteiligten Länder auseinandersetzen und davon ausgehend in der Jugendakademie-Woche eine Debatte darüber führen, wie ein Europa zu gestalten ist, das Ost und West umfaßt und nicht an den Grenzen der EU haltmacht.

Unsere Utopie wäre eine Jugendakademie als fixe Einrichtung, die von Jugendlichen aus ganz Europa frequentiert wird, und die als ein Praktikum im Rahmen der schulischen Laufbahn anerkannt wird. Ähnlich wie viele Jahrhunderte lang die Handwerksburschen »auf der Walz« ihre Erfahrungen sammelten, sollten Jugendakademien ein gewisses Mindestmaß an internationaler Bildung garantieren. Es wäre also ganz in unserem Sinne, wenn unser Beispiel Schule machte und es bald in Europa viele verschiedene Jugendakademien gäbe, die jeweils eine ganz spezifische Orientierung hätten. Das mag utopisch klingen, weil es Geld kostet und eine internationale Koordination erfordert. Wenn aber Friedenserziehung die angemessene „Allgemeinbildung im Atomzeitalter“ ( Buddrus/Schnaitmann 1991) ist, wenn die europäische Integration mehr Sinn haben soll als die Integration der europäischen Großkonzerne und Waffenhändler, dann wird man auf pädagogischen Gebieten wohl nicht an einer Orientierung vorbeikommen, wie sie durch die Europäische Jugendakademie gewiesen wird.

Für 1995/1996 ist eine zweite Jugendakademie geplant und in den Grundzügen bereits bewilligt. Wir werden uns bemühen, eine »Politisierung« und »Intensivierung« des Kommunikationsprozesses zu erreichen. Der enge Rahmen wird, das läßt sich heute schon abschätzen, freilich nur an einigen Rändern erweiterbar sein.

Eine ausführliche Dokumentation der »Jugendakademie« ist als Heft 3/1994 der Zeitschrift »alpe-adria« erschienen. Bestelladresse: Alpen-Adria-Alternativ, Rathausgasse 8, A-9500 Villach. Tel. (0043) 4242/22864, Fax: (0043) 4242/238 396.

Die Jugendakademie in Stichworten

  • Finanzierung: Österreichisches Unterrichtsministerium und Stadt Villach
  • Pädagogisches Konzept und Organisation: Verein Alpen-Adria-Alternativ, Villach,
    Projektleitung: Bettina Gruber
  • Beteiligte Länder: Belgien, Italien, Kroatien, Niederlande, Österreich,
    Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn

Dokumentation: Videofilm, Sonderheft der Zeitschrift »alpe-adria«

Chronik

Mai 1993

  • Einwöchiges Vorbereitungsseminar in Villach; das Konzept der Jugendakademie wird
    festgelegt.

Juni 1993

Erste Nummer von »together«, der Zeitschrift der Jugendakademie

Lehrkräfte und SchülerInnen beginnen die Planung ihrer Projekte

Herbst 1993

  • Arbeit an den Projekten
  • Herstellung und Austausch von Videobriefen
  • Regionaltreffen in Banska Bistrica und Wien

November 1993

  • Erstes Treffen der Workshop-LeiterInnen in Villach

Frühjahr 1994

  • Regionaltreffen in Villach und in Bozen
  • Abschluß der Projekte
  • Weiteres Treffen der Workshop-LeiterInnen
  • Einteilung der SchülerInnen in Workshops

April 1994

Jugendakademie-Woche in Villach

Mai/Juni 1994

  • Eintreffen der Rückmeldungen (Fragebögen und Berichte)
  • Fertigstellung des Videofilms
  • Dokumentation

Literatur

Alix, Christian: Pakt mit der Fremdheit? Frankfurt: Verlag für interkulturelle Kommunikation, 1989.

Buddrus, Volker; Schnaitmann, Gerhard W.(Hrg): Friedenspädagogik im Paradigmenwechsel. Allgemeinbildung im Atomzeitalter: Empirie und Praxis. Weinheim (Deutscher Studienverlag) 1991.

Duncker, Ludwig (Hrg.): Frieden lehren? Ulm (Armin Vaas) 1988.

Duncker, Ludwig; Götz, Bernd (Hrg): Projektunterricht als Beitrag zur inneren Schulreform. Ulm (Armin Vaas) 1988.

Fauser, Peter: Tätigsein und Lernen. Bildungstheoretische und schultheoretische Überlegungen im Anschluß an Hannah Arendt. In: Fauser/Muszynski: Lebensbezug als Schulkonzept? Weinheim: Juventa, 1988, 149-172.

Fennes, Helmut; Gruber, Bettina; Larcher, Dietmar; Radnitzky, Edwin; Wintersteiner, Werner: Grenzübergänge. Schulkontakte als interkulturelle Begegnung. Erfahrungen, Methoden, Beispiele, ed. BMUK, Wien 1993.

Gruber, Bettina: Interkulturelle Schulkontakte im Alpen-Adria-Raum, Villach, 1991.

Gruber, Bettina: Osteuropakontakte an österreichischen Schulen. Fragebogenerhebung. Hrsg. vom BMUK, Wien, 1993.

Mag. Werner Wintersteiner, Deutschdidaktiker an der Universität Klagenfurt; Herausgeber der Zeitschrift »informationen zur deutschdidaktik« (ide); Obmann des friedenspädagogischen und friedenspolitischen Vereins »Alpen-Adria-Alternativ« (Villach).

Schulische Friedenserziehung in den neunziger Jahren

Schulische Friedenserziehung in den neunziger Jahren

Erziehung zur Gewaltfreiheit und zur Gewaltakzeptanz?

von Bernhard Nolz

Der Autor plädiert für eine Erziehung zur Veränderung der Welt und macht deutlich, daß eine Erziehung gegen Gewalt nicht gleichzeitig eine Erziehung zur Akzeptanz militärischer Gewalt als Konfliktlösung sein kann. Es soll deutlich werden, daß Friedenserziehung in der Schule ohne einen historischen Kontext in bezug auf ihre Entwicklung und ihre Grundlagen wenig bewegen kann. Am Schluß soll ein Beispiel aus Schleswig-Holstein vorgestellt werden, von dem neue Impulse für die Friedenserziehung in der Schule erhofft werden können. In der Mitte stehen mögliche Schwerpunkte einer Friedenserziehung in der Schule.

„Erziehung zum Frieden ist Erziehung zur Veränderung der Welt“1. Dieser handlungs- und praxisorientierten Auffassung von Friedenserziehung, die nur auf der Grundlage eines gesicherten Fundamente von Friedenspädagogik in Theorie und Praxis postuliert werden kann, stehen andere Auffassungen gegenüber. Aus einer politologischen Perspektive wird beispielsweise formuliert, daß die Welt sich verändert habe (z.B. durch das Ende des Ost-West-Konfliktes), so daß die Friedenserziehung „nun neu begründet werden (muß)“ 2. Öffentlichkeitswirksam wird die regierungs- bzw. parteipolitische Auffassung vertreten: Wir verändern die Welt (z.B. durch Grundgesetzänderungen zu Asyl und Bundeswehr), Friedenserziehung hat zu deren Akzeptanz beizutragen.

Die friedenspädagogisch begründbare Zurückweisung der dritten Auffassung hat insbesondere die Friedensarbeit der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« geprägt. Ein solches Bemühen erscheint unablässig aktuell, denn zu umfassend ist die ständige Bilanz von Krieg und Gewalt, kaum zu bewältigen die Arbeit am Frieden:

Krieg in Jugoslawien, Kriegseinsätze am Golf, in Somalia …; über 40 Kriege in der Welt wurden im letzten Jahr gezählt, und es sind auch 1993 nicht weniger3;

Gewalt gegen Ausländer; Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus in Deutschland nehmen zu4;

Militarisierung der Außenpolitik; der Aufbau von Blauhelmverbänden, schnellen Eingreiftruppen und Krisenreaktionskräften verbraucht die »Friedensdividende«5.

Nicht nur von Politikerinnen und Politikern wird verstärkt der Ruf nach vermeintlichen pädagogischen Allheilmitteln erhoben. Und wieder werden die angeblichen Versäumnisse der Schule in den Blick genommen; wieder sollen Lehrerinnen und Lehrer die Verantwortung dafür tragen, daß mehr getan wird gegen die Gewalt auf den Straßen, gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen den Verlust friedlicher Formen des demokratischen Zusammenlebens.

Die Frage, ob in der Schule genug für den Frieden und für die Entwicklung von Friedensfähigkeit getan worden ist, ist allerdings durchaus berechtigt.

Doch kann es eine Friedenserziehung, die der zuerst dargestellten Auffassung entspricht (Erziehung zur Veränderung der Welt) und für die hier plädiert wird, mit doppelter, sich widersprechender Aufgabenstellung, wie sie beispielsweise von Politikerinnen und Politikern erwartet wird, nicht geben: Erziehung gegen Gewalt in der Gesellschaft und Erziehung zur Akzeptanz militärischer Gewalt als Konfliktlösung überall in der Welt6.

Denn nach wie vor hat folgende Aussage ihre fundamentale Bedeutung für die Erziehung zum Frieden: „Das Feld, in dem nach der regulativen Idee des Friedens gedacht, gelernt und gehandelt werden soll, ist bestimmt durch die Polarität zwischen der Wirklichkeit, in der organisierte Friedlosigkeit herrscht, und der Hoffnung und Erwartung, daß ein Zustand geschaffen werden könnte, in dem – unbeeinträchtigt durch Unfreiheit und Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg – dem Menschen ein gelingendes Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen möglich wäre“ (Calließ, 1988, S. 4)7.

Ansätze, diesem Ziel näherzukommen, möchte ich im folgenden diskutieren. Dabei gehe ich von dem von Galtung (1975) entwickelten Friedensbegriff aus. „Frieden ist Abwesenheit von Gewalt. … Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung. … Gewalt wird hier definiert als die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist. … Mit anderen Worten, wenn das Potentielle größer ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor.“ 8

Kleine Geschichte der Friedenserziehung

Das Ansinnen an die pädagogischen Institutionen, gleichzeitig zur militärischen (d.h. staatlich gewünschten) Gewaltbereitschaft und zum persönlichen Gewaltverzicht zu erziehen, ist in der Geschichte der BRD nicht neu. Es wurde immer wieder auch als Friedenserziehung bezeichnet. Die pädagogische Aufhebung dieses Widerspruches in seiner negativen Form ist die Erziehung zum Krieg. Von ihr wird nicht geleugnet, daß der Krieg menschenunwürdige Verhältnisse schafft. Zur Durchsetzung höherer Ziele (z.B. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) ist kriegerische Gewalt unter bestimmten Umständen ein legitimes Mittel der Politik, die erwartet, daß Bürgerinnen und Bürger den Krieg tatkräftig oder bewußtseinsmäßig unterstützen. Die strukturelle, personale und kulturelle Gewalt, die vom eigenen Staat und von der Gesellschaft ausgeht, wird folgerichtig positiv beurteilt oder verdrängt. Eine perfide Ausdrucksform dieser totalen Gewaltbereitschaft auf der Grundlage eines staatlichen Gewaltmonopols ist die Vergewaltigung von Frauen im Krieg. Sie wird von den BefürworterInnen militärischer Gewalt häufig heuchlerisch gebrandmarkt, obwohl sie genauso eine Gewalt-Normalität des Krieges darstellt wie beispielsweise die Verstümmelung von Männern und Kindern oder die Ermordung von Verweigerern und Deserteuren.

Die Geschichte der BRD zeigt aber auch, daß der aus innerer Überzeugung gesprochene Satz »Nie wieder Krieg!« noch keine Friedenserziehung ist.

Die positive Variante der pädagogischen Bewältigung des Antagonismus von Gebot und Verbot staatlicher bzw. persönlicher Gewalt, die vor und im Krieg von KriegsbefürworterInnen als Pazifismus verleumdet wird, tritt besonders häufig nach Kriegen als Friedenserziehung in Erscheinung.

Ein Blick auf die deutsche Geschichte bestätigt diese These. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges und der Nazi-Diktatur bestand auch in Deutschland ein allgemeiner Konsens darüber, daß es nie wieder Krieg geben dürfe. Es entstand eine pazifistische oder zumindest antimilitaristische Grundstimmung. Mit dem pädagogischen Programm der Völkerverständigung sollten Nationalismen überwunden werden. Es wurde versucht, die Aufforderung der UNESCO, „mit der Verteidigung des Friedens in den Köpfen der Menschen zu beginnen“, in die pädagogische Praxis umzusetzen. Entscheidend für die geringe Verbreitung dieses Konzeptes erscheint die Tatsache, daß mit dem Abbau individueller Aggressionen nur ein erster – allerdings wichtiger – Schritt bei der Friedensarbeit getan ist. Zur Friedensfähigkeit einer Gesellschaft gehört aber auch, „Frieden durch kollektives Handeln herzustellen und zu erhalten“ (Nicklas/Ostermann 1993, S. 60)9, die gesellschaftlichen Ursachen der Friedlosigkeit wahrzunehmen und an ihrer Überwindung zu arbeiten.

Gesellschaftskritik war verständlicherweise im Nachkriegsdeutschland nicht gefragt. In Krisenzeiten – die Nachkriegszeit war eine für Deutschland – wird all zu gerne simplifiziert und harmonisiert nach innen sowie polarisiert nach außen. Auf ähnliche Weise wurde von den Politikern der Ost-West-Konflikt – zum Nachteil einer friedlichen Entwicklung – erfunden und beide deutsche Staaten wurden bewaffnet.

Die Erfahrung von Auschwitz, die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki, sie wurden vergessen gemacht wie so viele andere Erinnerungen auch.10 Dabei ist eine individuelle Identitätsbildung langfristig nur möglich, wenn ein kollektives Gedächtnis die Vergangenheit bewahrt (vgl.Negt) und umgekehrt. Weiterzuleben als wüßte man nichts (vgl.Anders), war auch für viele Pädagoginnen und Pädagogen dann für etliche Jahre die Devise, so als würde man nicht erkennen, daß der Unfrieden für die gesellschaftliche Struktur der Staaten genauso bestimmend ist wie für die staatengesellschaftliche Organsiation (z.B. die der UNO).

Die schulische Friedenserziehung erhielt ihre bedeutenden Impulse im Jahre 1974 durch die „Empfehlung über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Weltfrieden sowie die Erziehung im Hinblick auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten“ der UNESCO. In den Kultusministerien der Bundesländer wurde diese Empfehlung verwaltungsgemäß bearbeitet, das hieß in diesem Fall, sie wurde für fast ein Jahrzehnt mehr oder weniger vergessen bzw. in der Diskussion über die Schule nicht zur Sprache gebracht. Denn als sie sich 1983 auf einen gemeinsamen Erlaß zur Friedenserziehung in der Schule nicht einigen konnten, gaben die KultusministerInnen vor Pädagoginnen und Pädagogen, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern und der gesamten Öffentlichkeit ein Bild politischer Unfähigkeit ab, deren Auswirkung wir heute auch als Politikverdrossenheit wahrnehmen und erleben können. Damals war es der Bundeswehrminister Apel (SPD), der – ohne es je so zu formulieren – eine Wehrerziehung durch die Schule einforderte, woraufhin die CDU-regierten Bundesländer parierten, während die »SPD-Länder« u.a. auf die UNESCO-Empfehlungen zurückgriffen.11 Heute sind es nicht nur der zuständige Minister Rühe (CDU) und der ehemalige SPD-Vorsitzende Engholm, die in vortrefflicher Einigkeit Jugend und Volk zur Wehrfähigkeit erzogen gesehen wollen. Wenn sie eine derartige Erziehung ihre Bildungsministerinnen und -minister »Friedenserziehung« nennen lassen, werden wir an George Orwell erinnert werden.

Die offizielle Friedenserziehung in der DDR kann ohne Einschränkung als Wehrerziehung bezeichnet werden. Daneben existierte eine glaubwürdige pädagogische Praxis der Völkerverständigung, vornehmlich mit den sozialistischen Staaten in aller Welt. Eine beträchtliche Zahl von Lehrerinnen und Lehrern versuchte darüber hinaus, die Nischen, die es auch im DDR-Bildungssystem gab – vor allem aber im kirchlichen Rahmen –, für eine alternative Friedenserziehung auszunutzen. Die Hoffnungen der LehrerInnen in der ehemaligen DDR, mit dem Anschluß an die BRD ihre friedenserzieherische Arbeit zum Kern ihrer pädagogischen Arbeit in der Schule machen zu können, haben sich nicht erfüllt.12 Vielmehr bleibt zu befürchten, daß derartige Aktivitäten als abwicklungsfördernd eingestuft wurden. So sehen sich viele Pädagoginnen und Pädagogen, ohne es gewollt zu haben, in Opposition zu einem demokratischen Staat, für den sie den Weg bereitet haben. Auf diese Weise wiederholen sich hier »Extremisten«-Verfolgung und Berufsverbotspraxis aus vornehmlich den siebziger Jahren der BRD. Mit dem Sicherheitsbegriff wird heute wie gestern versucht, den Antagonismus der Gewalt aufzulösen, indem Bilder von inneren und äußeren Feinden geschaffen werden, gegen die Gewalt legitim erscheinen soll. „Der innere Zusammenhang von innerer und äußerer Sicherheit ist aber unaufhebbar. Die Bereitschaft, Verfassungsfeinde von allen wichtigen Stellen im Staat fernzuhalten, gehört ebenso zum Begriff der abwehrbereiten Demokratie wie die Bereitschaft, unser Land gegen äußere Feinde zu verteidigen“ (Hampel 1978, S.3).13 Rund fünfzehn Jahre später ist die Bundeswehr auf dem Wege, die deutsche Sicherheit überall auf der Welt zu verteidigen, und diskriminiert die »siegreiche« Demokratie einen Großteil der Ostdeutschen als Sicherheitsrisiko.

Aspekte einer Friedenserziehung in den neunziger Jahren

Politische Veränderungen der Welt, im Sinne von Hentigs, können in der Schule nur erreicht werden, wenn Widerstand entwickelt wird und LehrerInnen sich nicht von der globalen „neuen Unübersichtlichkeit“ (vgl. Habermas), die für die Industriegesellschaften bestimmend geworden ist, überwältigen lassen. Ihre Aufgabe ist es, SchülerInnen Orientierungen zu geben und ihnen beispielsweise bei der Entwicklung von Friedensfähigkeit zu helfen. Die Unübersichlichkeit scheint Regierungen und Verwaltungen, was eine gestaltende Friedenspolitik betrifft, bereits ergriffen zu haben. PolitikerInnen wissen aber auch die Unübersichtlichkeit mit medialer Hilfe zu instrumentalisieren, wie man am Beispiel des deutschen Neo-Militarismus z.Z. erkennen kann.

Deshalb erscheint es notwendig, mit dem Versuch fortzufahren, auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens eine Kultur des Friedens aufzubauen, wobei die vorhandenen, zumeist schwachen Friedensstrukturen weiterentwickelt werden können. Für viele LehrerInnen ist mit der Übernahme dieser Aufgabe ein Umdenken verbunden.

Die Diskussion der letzten Jahre über das Spektrum, das Friedenserziehung in der Schule umfassen soll, hat das Problem deutlich gemacht. Es wird sowohl für eine relativ enge Begrenzung der Friedenserziehung als auch für eine weitgefaßte Begrifflichkeit plädiert.

Für die erste Position, die verkürzt die »antimilitaristische« genannt werden könnte, spricht vor allem die Orientierung an Organisation und methodischem Vorgehen der Fachwissenschaft und des Fachunterrichts. Außerdem erfährt die Friedenserziehung in der Abgrenzung von anderen sogenannten Bindestrich-Erziehungen (z.B. Umwelt-, Dritte-Welt-, Demokratie-, interkulturelle Erziehung) eine deutlichere Profilierung.14

Der zweiten Position liegt eine holistische Betrachtungsweise zugrunde. Bildungs- und Erziehungsprozesse, in denen kognitive, affektive und instrumentelle Fähigkeiten entwickelt werden können, sollten von einer ganzheitlichen Auffassung menschlichen Lebens ausgehen. Auf die Komplexität und Globalität menschlicher Problemlagen kann nur mit »One-World-« und »One-Mankind-Konzepten« reagiert werden. Solche Konzepte lassen sich auch als »Menschenrechtserziehung« oder »Erziehung zur Humanität« bezeichnen. Sie integrieren wichtige Elemente der »Bindestrich-Erziehungen«, die als eigenständige Erziehungskonzepte – wenn es sie denn je gegeben hat – keinen Bestand mehr haben können.

Gewalt bleibt das wichtigste Thema der Friedenserziehung. „Frieden ist Abwesenheit von Gewalt“ (Galtung). In Westeuropa zeigt sich eine doppelte Entwicklung: „Auf der einen Seite scheint die Brutalisierung der Gesellschaften voranzuschreiten, auf der anderen Seite aber wächst die Sensibilität immer größerer Gruppen von Menschen für diese Gewalt“ (Nicklas/Ostermann, S. 63). Die Frage, ob schulische Friedenserziehung einen Beitrag zu der konstatierten Bewußtseinsveränderung hat leisten können, kann nicht beantwortet werden. Friedenserziehung in der Schule kann vor allem Lehrende und Lernende für die eigene Täterschaft im Kreislauf der Gewalt sensibilisieren – eine tägliche Aufgabe, die zu häufig vernachlässigt wird. Für die schulische Friedenserziehung erscheint es darüber hinaus notwendig, in altersgemäßer Weise Erscheinungsformen der Gewalt auf der individuellen, einzelgesellschaftlichen und internationalen Ebene im Unterricht zu thematisieren. Dabei kommt es darauf an, Friedenswissen und Friedenskompetenz zu vermitteln.

Eine zentrale Problematik bleibt das staatliche Gewaltmonopol in Form von Militär. „Aufgabe der Friedenserziehung ist es, den Delegitimierungsprozeß des Militärs voranzutreiben und Versuche der Neulegitimation zu kritisieren“ (Nicklas/Ostermann, S. 65). Unterricht und Erziehung gegen den Krieg, d.h.im Dienste des Friedens, werden vor allem dann bei Schülerinnen und Schülern auf Interesse und Akzeptanz stoßen, wenn sie im Rahmen handlungsorientierter Unterrichtsorganisation die Auseinandersetzung mit Alternativen zu Gewalt und Krieg ermöglichen. Mögliche Themenbereiche sind beispielsweise »Internationale Friedensdienste«, »Konversion«, »Soziale Verteidigung«.

Im Problem der Wanderungsbewegungen (Migration) in und nach Europa und in den Reaktionen darauf manifestieren sich strukturelle und kulturelle Gewalt. Große Teile der europäischen Bevölkerung verfügen noch nicht über die aufzubringende Friedenskompetenz, die sich in Toleranz, kultureller Flexibilität und der Fähigkeit, Multikulturalität leben zu können, äußert. In Lernprozessen kann die Bereitschaft, das Fremde bzw. Andersartige wahrzunehmen und damit verbundene Ängste zu ertragen und zu bearbeiten, als Teilkompetenz einer umfassenderen Friedenskompetenz gefördert werden.

Nicklas/Ostermann sehen Lösungsmöglichkeiten für die multikulturelle Gesellschaft in der Bearbeitung der Dialektik von Koexistenz- und Nicht-Koexistenzfähigkeit unterschiedlicher Normen. Die Menschenrechte, obwohl in den meisten Staaten der Welt nur unvollkommen verwirklicht, erscheinen derzeit als die einzige Grundlage, auf der ein akzeptabler Konsens über die Normenfragen erzielt werden könnte.

Eine multikulturelle Gesellschaft halten Nicklas/Ostermann nur für realisierbar, „wenn die Menschen mehrstufige oder multiple Loyalitäten (Zugehörigkeitsgefühle von Menschen, BN) herausbilden, also beispielsweise gleichzeitig eine türkische, eine deutsche und eine europäische Loyalität leben können“ (S. 67). Die verbreiteste Loyalität der letzten hundert Jahre ist die nationale gewesen, die zu neuer »Blüte« aufzusteigen scheint, obwohl sie als Friedenslösung nie »Früchte getragen« hat und Millionen zu ihren Opfern geworden sind. Im Sinne einer Relativierung der nationalen Loyalität müßte Friedenserziehung in der Schule versuchen, bei der Entwicklung gemeinsamer Loyalitäten in lokalen und regionalen Lebenszusammenhängen Hilfe zu leisten. Ein entsprechendes friedenspädagogisch fundiertes »Loyalitätsprogramm« kann von den in den Familien, Kindergärten oder anderen sozialen Gruppen entstandenen Zugehörigkeitsgefühlen der Schülerinnen und Schüler ausgehen, indem zunächst Gruppenloyalitäten in der Schule entwickelt werden.

Ein weiterer Schwerpunkt der Friedenserziehung ist es, Autonomie und Handlungsfähigkeit der Menschen zu stärken. Kindergärten und Schulen sind Räume, in denen Kinder und Jugendliche Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit üben können und einen bewußten „Umgang mit Gewalt und Aggressionen, aber auch mit Zärtlichkeit und Sexualität im pädagogischen Kontext“ (van Dick, S. 174) erfahren können. Wichtig ist, „daß Kinder schon in ihrer frühen alltäglichen Sozialisation die Erfahrung machen können, nicht mit Angst oder Flucht reagieren oder auch zur Gewalt greifen zu müssen, sondern selbst handeln zu können und solidarische Unterstützung zu erhalten“ (Nicklas/Ostermann, S. 69).

Friedenserziehung ist Erziehung zu demokratischem Handeln und demokratischer Partizipation. Unterrichts- und Schulorganisationsformen, die demokratische Partizipation ermöglichen (z.B. Projektunterricht, Schularbeitsgemeinschaften), sollten verstärkt angeboten und ausgebaut werden. Dabei sollte auch überlegt werden, wie der Schulöffentlichkeit und darüber hinaus einer lokalen Öffentlichkeit die Arbeit an der Demokratie und für den Frieden, die im Unterricht und im Schulleben geleistet wird, dargestellt werden kann, um als Modell für andere gesellschaftliche Bereiche wirksam werden zu können. Die beispielsweise im Community-school-Konzept verwirklichten Ideen, auch die Lernerfahrungen sozialer Bewegungen in die Schularbeit einzubeziehen (z.B. lokale Friedens-, Umwelt-, Selbsthilfegruppen), haben sich in Schulen der »Dritten Welt« und in »Spannungsgebieten« (z.B. Israel) als tragfähig erwiesen. Sie müßten hier weiterentwickelt und erneut zur Diskussion gestellt werden. Schulische Friedenserziehung wird dann Erfolge zeigen, wenn auch Eltern in angemessener Weise in die pädagogische Arbeit einbezogen und ihre vorhandenen, aber zu wenig in Anspruch genommenen Kapazitäten für eine Friedenserziehung – auch unter dem »Loyalitätsgesichtspunkt« – nutzbar gemacht werden, z.B. in Form der Beteiligung an außerunterrichtlichen und Freizeitangeboten.

Gewalt ist ein zu oft angewandtes Mittel der Konfliktlösung. Zur Gewalt greifen Menschen häufig, „wenn sie unfähig sind, kommunikative Mittel zu verwenden. … Kommunikative Strategien sind die potentiell gewaltfreie Alternative zur Gewalt“ (Nicklas/Ostermann, S. 69/70). Kommunikations- bzw. Gesprächsfähigkeit kann als Friedenskompetenz in der Schule wirksam werden, wenn Zeit und Räume vorhanden sind, um einander zuhören zu können.

(Friedens-)PädagogInnen sind „mitverantwortlich dafür, daß Aufwachsen und selbständiges Entdecken noch möglich bleiben in unserer Welt, daß Vertrauen und Mitgefühl, Verstehen und Begreifen von Zusammenhängen wachsen können und mangelndes Wissen nicht ausgenutzt wird“ (van Dick, S. 174).

Lehrpläne im Dienste des Friedens?

Vereiteln Lehrpläne eine wirkungsvolle Friedenserziehung in der Schule, wie immer wieder von Lehrerinnen und Lehrern behauptet wird, die – meist ohne es zu bemerken – sich aus den Zwängen der Lehrplanvorgaben nicht zu befreien vermögen. Sind Lehrpläne im Dienste des Friedens denkbar? Wenn die Zielsetzungen der schleswig-holsteinischen Lehrplanrevision verwirklicht werden, wird die Antwort positiv ausfallen können. Das »Kernproblem Frieden« wird bestimmendes Strukturelement der Lehrpläne aller Fächer der Primarstufe und der Sekundarstufe I aller Schularten. (Die Sekundarstufe II soll folgen.) Schlüsselqualifikationen sollen festgelegt, eine Grundbildung erarbeitet, Verbindungen zu anderen Schulfächern hergestellt werden. Eröffnen sich neue Perspektiven für die Friedenserziehung in der Schule?

Zunächst steht das Kernproblem Frieden in Konkurrenz zu anderen Kernproblemen, die ebenfalls in den Lehrplänen Berücksichtigung finden sollen.

Die vom Bildungsministerium vorgegebenen Kernprobleme sind folgendermaßen formuliert:

Kernproblem Frieden: Die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens, insbesondere der Frieden, die Menschenrechte und das Zusammenleben in der einen Welt mit unterschiedlichen Kulturen, Gesellschaftsformen, Völkern und Nationen als individuelle und globale Aufgaben.

Kernproblem Umwelt: Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der eigenen Gesundheit und der anderer Menschen.

Kernproblem Arbeitswelt: Die Bedeutung wirtschaftlicher, technischer und sozialer Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Lebensverhältnisse.

Kernproblem Gleichstellung: Die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern, Jungen und Mädchen in Familie, Beruf und Gesellschaft.

Kernproblem Partizipation: Das Recht aller Menschen zur Gestaltung ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, ihre Mitwirkung und Mitverantwortung in allen Lebensbereichen.15

Bereits die Definitionen der Kernprobleme lassen erahnen, daß die Neufassung der Lehrpläne ein umfassendes pädagogisches Programm darstellt, dessen prozeßhafter Charakter wahrgenommen werden sollte. Das komplizierte Spektrum der Kernprobleme und ihre vielfältigen Beziehungen untereinander erschweren ihre schulische Umsetzung in Lehrpläne erheblich.

Der Friedenserziehung geht es also vor allem um das Kernproblem Frieden in der Lehrplanrevision und um die Frage, welche Schlüsselqualifikationen Schülerinnen und Schüler entwickeln können, wenn im Fachunterricht das Kernproblem Frieden bearbeitet wird. Von der Friedenspädagogik werden entsprechende Fähigkeiten unter dem Begriff Friedenskompetenz zusammengefaßt, die als eine Integration von Fähigkeiten und Fertigkeiten, Zuständigkeitswillen und Bereitschaft zu verstehen ist. Friedenskompetenz läßt sich als eine Summe von komplementären Teilkompetenzen beschreiben, die untereinander in Beziehung zu setzen sind und zu denen beispielsweise die Abneigung gegen Gewalt, die Fähigkeit zur kommunikativen Konfliktlösung und diskursiven Willensbildung, eine prinzipiengeleitete Moralorientierung, die Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive anderer, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Aggressionskontrolle und entsprechende kognitive Fähigkeiten gehören.

Bei der Gestaltung der Fachlehrpläne soll u.a. die Frage beantwortet werden, was ein Fachunterricht zum Erwerb von Friedenskompetenz beitragen kann. Alte und neue Fachthemen und -inhalte stehen auf dem Prüfstand und müssen sich an ihrer Relevanz für die Lösung der gefundenen Kernproblematiken messen lassen. Eine spannende Aufgabe, die Kreativität und Innovationsfähigkeit von den Akteuren verlangt und bei der von Anfang an deutlich geworden ist, daß eine der grundlegenden Teilkompetenzen einer umfassenden Friedenskompetenz, die Lernfähigkeit,16 entwickelt werden kann.

Verändern wir die Welt!

Friedenserziehung in den neunziger Jahren – das ist ein Fazit dieser Abhandlung – wird in der Schule ohne einen reformerischen, d.h. emanzipatorischen Ansatz und ohne historischen Bezug wenig erfolgreich sein. Doch die Prozeßhaftigkeit ist wechselseitig. Ohne friedenspädagogische Komponente wird jegliche Schulreform unvollständig bleiben.

Die Welt verändern, aus diesem Motto ziehen Friedenspädagoginnen und -pädagogen weiterhin ihre Kraft. Die Friedensarbeit fängt klein und vor Ort an. „Erziehung zum Frieden kann nur Erziehung zur Politik heißen. Und Erziehung zur Politik wiederum ist Sache der ganzen polis – zu vollziehen an der ganzen Person und wohl das ganze Leben lang“ (von Hentig, S.9). Dem ist nichts hinzuzufügen, oder ein ganz neuer Artikel!

Anmerkungen

1) Hartmut von Hentig: Arbeit am Frieden. Übungen im Überwinden der Resignation, München/Wien 1987. Zurück

2) Hanne-Margret Birckenbach: Grundlagen und Perspektiven von Friedenserziehung in den 90er Jahren; in: puzzle, Zeitschrift für Friedenspädagogik, Nr. 3 (Dezember 1992), S. 4 – 8. Zurück

3) Vgl. Birckenbach/Jäger/Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1993, München 1992. Zurück

4) Vgl. Thema: Nationalismus, in: et cetera ppf 1/93, S. 12 – 23. Zurück

5) Vgl. Thema: Grundgesetzänderung – Bundeswehr, in: et cetera ppf 3/92, S. 7 – 12. Zurück

6) Vgl. Bernhard Nolz: Blauhelm-Militarismus. Was Politikerinnen und Politiker und was Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden wollen; in: et cetera ppf 3/92, S. 8 – 11. Zurück

7) Jörg Calließ: Einleitung; in: Jörg Calließ/Reinhold E. Lob (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 3: Friedenserziehung, Düsseldorf 1988, S. 4 – 6. Zurück

8) Johann Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 9. Zurück

9) Nicklas/Ostermann: Friedensfähigkeit. Aspekte der bisherigen friedenspädagogischen Diskussion und Perspektiven für die Zukunft; in: Galtung/Kinkelbur/Nieder (Hrsg.): Gewalt im Alltag und in der Weltpolitik, Münster 1993, S. 59 – 70. Zurück

10) Vgl. Lutz van Dick: Positiven Frieden lernen. Pädagogische Wege zum Erwerb von Kompetenzen zur Friedensfähigkeit; in: Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Mut zum Frieden, Darmstadt 1990, S. 164 – 175. Zurück

11) Vgl. Dieter S. Lutz (Hrsg.): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit der Kultusministerkonferenz 1980/83 – Arbeitsmaterialien zum Thema Frieden in Unterricht und Politischer Bildung, Baden-Baden 1984. Zurück

12) Vgl. Bernhard Nolz: Zur Aktualität der Friedenspädagogik nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten; in: Bernhard Claußen/Birgit Wellie (Hrsg.): Bewältigungen. Politik und Politische Bildung im vereinigten Deutschland, Hamburg 1992. Vgl. Bericht »Friedenskarawane« in: et cetera ppf, Nr. 1/92. Zurück

13) Johannes Hampel: Ja zur abwehrbereiten Demokratie; in: Verteidigungsbereitschaft als Aufgabe politischer Bildung, Politische Studien, Sonderheft 2/1978, S. 3. Zurück

14) Vgl. Walter Westphal: Kriegsgegnerischer Physikunterricht – ein fachspezifischer Beitrag zur Friedenserziehung in Schule und Hochschule; in: Peter Häußler (Hrsg.): Physikunterricht und Menschenbildung, Kiel: Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, 1992, S. 55 – 74. Zurück

15) Vgl. Die Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Sport des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Lehrplanrevision in Schleswig-Holstein, Kiel 1992. Zurück

16) Vgl. Birckenbach/Jäger/Wellmann (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1991, München 1990, S. 13, die von einer „kollektive(n) Lernunwilligkeit“ als globalem Problem sprechen. Zurück

Bernhard Nolz ist Lehrer, Mitglied der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« und z.Z. als Friedenspädagoge beim Projektverbund Friedenswissenschaften Kiel (PFK) an der Kieler Universität tätig.

Forschungsparadigmen

Forschungsparadigmen

Instrumentarien psychologischer Friedensforschung

von Elfriede Billmann-Mahecha

„Die derzeitige psychologische Friedensforschung macht sich keine Illusionen über das Gewicht ihres Beitrages. Sie weiß, daß zwischen ihrer methodologisch-individualistischen empirisch-experimentellen Forschungspraxis und den gesellschaftlichen Phänomenen »Frieden« und »Krieg« Welten liegen.“ (Kroner 1988, S. 207) Wie bescheiden der Beitrag psychologischer Friedensforschung immer anzusetzen ist, irrelevant ist er keineswegs.

Inwieweit psychologische Forschung nicht-triviale Analysen friedens- und konfliktrelevanten menschlichen Handelns bereitstellen kann, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit es gelingt, sinnvolle, dem Gegenstand angemessene Forschungsansätze zu realisieren. Ein wesentlicher Aspekt in dieser Diskussion dürfte die Frage der Übertragbarkeit empirischer Befunde aus der psychologischen Forschung auf gesellschaftliches oder gar weltpolitisches Geschehen betreffen (vgl. auch Thomae 1977, S. 255 ff.). Diese Frage ist aber nur dann wissenschaftlich fundiert zu beantworten, wenn sich die Psychologie in interdisziplinärer Orientierung der Kontextualität menschlichen Handelns mit der gleichen methodischen Sorgfalt annimmt wie den tradierten individuum- und gruppenzentrierten Forschungsinstrumentarien. So kann beispielsweise eine psychologische Analyse der uns derzeit beunruhigenden Gewalttaten von Jugendlichen zwar sicherlich wichtige Problemaspekte beleuchten; ein umfassendes Verstehen erfordert aber die Einbeziehung gesellschaftlich-politischer und zeitgeschichtlicher Kontexte.1

Die sozialwissenschaftliche Methodendiskussion der letzten 20 Jahre ist nicht unwesentlich geprägt von dem Spannungsverhältnis zwischen dem »interpretativen« und dem »normativen« Paradigma (Wilson 1973). Nachdem in der Auseinandersetzung um Erklären und Verstehen (v. Wright 1974), zwischen quantitativer und qualitativer Forschung bzw. zwischen nomothetischem und hermeneutischem Vorgehen zunächst die Abgrenzungsbemühungen dominierten, sind in jüngerer Zeit vermehrt theoretische und methodologische Bemühungen der Integration beider Paradigmen zu verzeichnen (z.B. Groeben 1986). Deutlich wird an solchen Integrationsbemühungen auch, daß sich die zwei als gegensätzlich herausgearbeiteten »Paradigmen« in wissenschaftstheoretischer Hinsicht jeweils doch nicht als so kohärent darstellen, wie das in manchen Lehrbüchern erscheinen mag.2

Ich werde im folgenden keinen umfassenden Überblick über die psychologische Friedensforschung geben.3 Auch möchte ich Paradigmen psychologischer Friedensforschung nicht abstrakt methodologisch diskutieren, sondern exemplarisch an konkreten Forschungsbeispielen veranschaulichen. So eignen sich zum Beispiel die bekannten, friedensthematisch durchaus relevanten Milgram-Experimente sehr gut, um die Möglichkeiten und Grenzen des nomothetischen Programms in der Psychologie zu diskutieren.

Die Milgram-Experimente als Beispiele nomothetisch orientierter Forschung

Stanley Milgram untersuchte in den 60er Jahren an der Yale-Universität die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten. Bereits im Einführungskapitel des Buches, in dem er seine Experimente darstellte, zitiert Milgram ausführlich C.P. Snow: „Wenn man sich die lange und düstere Geschichte der Menschheit ansieht, entdeckt man, daß mehr scheußliche Verbrechen im Namen des Gehorsams begangen worden sind als jemals im Namen der Rebellion. Wer dies bezweifelt, sollte William Shirers »Aufstieg und Fall des Dritten Reiches« lesen. Das deutsche Offizierskorps wurde nach einem äußerst rigorosen Gehorsamskodex ausgebildet … Im Namen des Gehorsams waren diese Leute an den übelsten Massenaktionen der Weltgeschichte beteiligt und unterstützten sie.“ (Milgram 1974, S. 17f.)

Mit dieser zentralen Bezugnahme auf Snow stellt Milgram seine Untersuchungen zur Gehorsamsbereitschaft von vorneherein in den Kontext der Friedensthematik. Als klassisch ausgebildeter Sozialpsychologe konzipierte er eine experimentelle Basissituation, die er im folgenden, um weitere Einflußvariablen zu kontrollieren, mehrfach variierte. Die Basissituation sieht folgendermaßen aus:

„Zwei Leute betreten ein Psychologie-Labor, um an einer Untersuchung über Erinnerungsvermögen und Lernfähigkeit teilzunehmen. Einer von ihnen wird zum »Lehrer« bestimmt, der andere zum »Schüler«. Der Versuchsleiter erklärt ihnen, daß sich die Untersuchung mit den Auswirkungen von Strafe auf das Lernen befaßt.“ (Milgram 1974, S. 19) In Wirklichkeit ist nur die als »Lehrer« bestimmte Person Versuchsperson. Sie hat die Aufgabe, dem »Schüler«, der in einem Nebenraum sitzt, eine festgelegte Reihe von Aufgaben zu stellen. Bei richtiger Beantwortung wird in der Liste fortgefahren; bei jeder falschen Antwort soll ein Elektroschock in steigender Höhe, angefangen bei 15 Volt, gegeben werden. Möchte die Versuchsperson das Erteilen von Elektroschocks beenden (der »Schüler«, der in Wirklichkeit natürlich keine Schocks erhält, beginnt bei 75 Volt mit deutlichen Unbehagensäußerungen), so fordert der Versuchsleiter die Versuchsperson nachdrücklich auf, mit dem Experiment fortzufahren. Milgram versuchte, mit dieser Versuchsanordnung eine menschliche Konfliktsituation experimentell zu realisieren: „Für die Versuchsperson ist die gegebene Situation kein Spiel; ihr Konflikt ist heftig und deutlich erkennbar. Einerseits drängt die offenkundige Qual des Schülers sie dazu, die Sache aufzugeben. Andererseits befiehlt ihr der Versuchsleiter – also eine legitimierte Autorität, der sie sich in gewisser Weise verpflichtet fühlt –, das Experiment fortzusetzen.“ (S. 20)

In den ersten 4 Experimenten, an denen jeweils 40 männliche Versuchspersonen verschiedener Alters- und Berufsgruppen teilnahmen4, wurde die Nähe zum »Opfer« variiert. Die Ergebnisse dieses Experimentes und seiner Variationen erschütterten die Öffentlichkeit: Nur „35 Prozent der Versuchspersonen widersetzten sich dem Versuchsleiter bei der Fernraum-Anordnung, 37,5 Prozent bei der akustischen Rückkopplung, 60 Prozent im Raumnähe-Versuch und 70 Prozent bei der Berührungsnähe“ (S. 52f.). Umgekehrt ausgedrückt: 30 Prozent der Versuchspersonen waren selbst dann noch dazu bereit, mit dem Experiment fortzufahren, wenn der Versuchsleiter ihnen befahl, die Hand des »Opfers« mit Gewalt auf die Schockplatte zu drücken (»Berührungsnähe«). Weitere 14 Varianten des Experimentes und Wiederholungen in anderen Ländern zeigten prinzipiell ähnliche Ergebnisse.

Selbstverständlich kann dieses Experiment methodenimmanent kritisiert werden; das ist hier aber nicht mein Anliegen.5 Auch die bedeutsame ethische Frage, ob es gerechtfertigt ist, Menschen im Rahmen eines solchen Experimentes erheblichen Streßsituationen, wenn nicht gar traumatischen Erfahrungen auszusetzen (auch bei post-experimenteller Aufklärung), muß hier ausgeklammert werden.6 Unter methodologischen Gesichtspunkten interessiert hier insbesondere die Frage, ob Milgram mit der von ihm konstruierten Konfliktsituation eine friedensthematisch bedeutsame Situation erfassen konnte.

Milgram selbst war der Auffassung, daß zwar erhebliche Unterschiede zwischen der experimentellen Situation und der Befolgung von Befehlen in Kriegszeiten bestehen, daß aber die Grundvariablen solcher Situationen dennoch übereinstimmen. So vertritt er zum Beispiel mit Bezugnahme auf das bekannte CBS-Interview mit einem Beteiligten am Massaker von My Lai die Auffassung: „Im Vietnamkrieg enthüllte das Massaker von My Lai mit besonderer Deutlichkeit das Problem, dem dieses Buch gewidmet ist.“ (S. 211)

Allerdings gibt es nach Milgrams Einschätzung auch Grenzen der Übertragbarkeit, z.B. auf das Verhalten in totalitären Regimen. Mit weiteren Variationen des Experimentes konnte nämlich gezeigt werden, daß der Gehorsam der Versuchspersonen drastisch abnahm, wenn der Versuchsleiter nicht anwesend war. „Die Formen von Gehorsam in Nazi-Deutschland waren in weit größerem Maße abhängig von einer Verinnerlichung der Autorität und wahrscheinlich weniger an ständige Überwachung gebunden.“ (S. 204) Der hier angesprochene, über mehrere Jahre dauernde, politisch gesteuerte soziale Lernprozeß autoritätsgläubiger Verhaltensweisen kann nicht mehr im sozialpsychologischen Labor untersucht werden. Diese historische Dimension menschlichen Handelns bedarf anderer Analysemittel.

Ein weiterer Aspekt betrifft differentialpsychologische Fragen. Was bewegt die eine Person dazu, im Experiment gehorsam zu reagieren, und die andere, sich zu verweigern? Diese Frage stellte sich Milgram natürlich auch. Er und namhafte Kollegen suchten nach Persönlichkeitsunterschieden, nach Unterschieden im Bildungsniveau und nach Unterschieden in der moralischen Entwicklung zwischen gehorsamen und verweigernden Versuchspersonen. Aussagekräftige Zusammenhänge ließen sich nicht finden, so daß Milgram zu dem Schluß kam: „Es ist oft nicht so sehr die Wesensart eines Menschen, die seine Handlungsweise bestimmt, wie die Eigenart der Situation, in der er sich befindet.“ (S. 235) Diese Aussage erstaunt angesichts der oben erwähnten Lerngeschichte, die nicht unwesentlich unser Verhalten beeinflußt. Sie zeigt uns aber, daß auch testpsychologische Persönlichkeitsuntersuchungen nicht hinreichen, um konkretes Verhalten in menschlichen Grenzsituationen vorherzusagen.

Insgesamt betrachtet haben die Milgram-Experimente, sofern wir von ihrer Gültigkeit ausgehen können, zwar einen bedeutsamen deskriptiven Wert: Sie zeigen uns, daß vermutlich die Mehrheit sogenannter Durchschnittsbürger in extremen Konfliktsituationen durch eine von ihr anerkannte Autorität dazu gebracht werden kann, andere Menschen zu quälen. Warum das so ist und wie gesellschaftlich mehr Zivilcourage erreicht werden könnte, zeigen uns solche Experimente allerdings nicht. An einer neueren empirischen Arbeit soll nun angedeutet werden, welche friedensthematisch relevanten Fragestellungen innerhalb hermeneutisch orientierter psychologischer Forschung sinnvoll bearbeitet werden können.

Biographische Analysen als Beispiele hermeneutisch orientierter Forschung

Während die experimentelle psychologische Forschung methodisch am Ideal der klassischen Physik orientiert ist und letztlich das Ziel verfolgt, Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens zu ermitteln (nomothetisches Paradigma), setzt die hermeneutisch orientierte Forschung andere Akzente. Ihr geht es eher um die Sinngehalte menschlichen Handelns und um die Genese dieser Sinngehalte: „Das Selbst- und Weltverständnis sowie die Praxis von Individuen können häufig nur in einer historischen und lebensgeschichtlichen Perspektive angemessen beschrieben, verstanden und erklärt werden.“ (Straub 1993, S. 21).

Eine solche Perspektive wurde von Straub in seiner Konzeption einer erzähltheoretisch begründeten Biographieforschung7 theoretisch und methodologisch ausgearbeitet (Straub 1989). Sie bildet auch die Ausgangsbasis der empirischen Studie „Geschichte, Biographie und friedenspolitisches Handeln“ (Straub 1993), die hier als Beispiel hermeneutisch orientierter psychologischer Friedensforschung erwähnt werden soll. Empirische Grundlage waren narrative Interviews8 mit 22 Naturwissenschaftlern und Naturwissenschaftlerinnen, die sich in den 80er Jahren aktiv an der Friedensbewegung beteiligt haben. Narrative Interviews ermöglichen es, „daß die jeweiligen Erzähler temporal und sozial verfaßte Ereignis-, Handlungs- und Lebenszusammenhänge aus ihrer Perspektive, nach ihren Relevanzsetzungen und in ihrer Sprache artikulieren und reflektieren können.“ (S. 49)9

Ziel der interpretativen Studie10 war, auf dieser Basis lebensgeschichtlicher Erzählungen das friedenspolitische Engagement der Informanten „in seiner zeitlichen Struktur und damit als Resultat oder Bestandteil eines in autobiographischen Erzählungen artikulierten lebensgeschichtlichen Prozesses“ zu analysieren (S. 31). Die hermeneutische Analyse erschöpft sich allerdings nicht in der Einzelfallbearbeitung. Einzelfallanalysen versteht Straub nur als einen methodischen Zwischenschritt „in der psychologischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung […], die letztlich auf Typisierungen und Typiken abzielt“ (S. 67). Straub entwickelte aus seinem Material drei Typiken, eine Generationstypik, eine Berufstypik und eine Geschlechtstypik, die er mit Bezug auf die Erfahrungshorizonte seiner Interviewpartner zur Darstellung bringt. Da sich hermeneutische Analysen wie die von Straub nicht so griffig zusammenfassen lassen wie die Egebnisse eines sozialpsychologischen Experimentes, möchte ich zur Veranschaulichung nur einen Aspekt aus diesen Typiken herausgreifen.

Im Rahmen der Generationstypik analysiert Straub die zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen für die individuell-biographische Entwicklung seiner Interviewpartner. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der »Göttinger Erklärung«11 vom 12.4.1957 zu, mit der sich fast alle Interviewpartner in der einen oder anderen Weise auseinandergesetzt haben. Nach einer gesellschafts-politischen Einordnung der »Göttinger Erklärung« analysiert Straub deren Stellenwert für die Lebensgeschichten seiner Informanten. Er kommt dabei zu dem Ergebnis: „Die »Göttinger Erklärung« ist, wie die vorliegenden empirischen Materialien nahelegen, wohl längst auch ein allgemeineres Symbol für einen Typus des politischen Denkens und Handelns, dem für die Explikation des Selbstverständnisses und der Praxis der in unseren Tagen friedenspolitisch engagierten Naturwissenschaftler eine wichtige Bedeutung zukommt.“ (S. 205) Diese Bedeutung liegt u.a. in dem durch die Erklärung gestifteten Bewußtsein, „daß sich die Frage nach der individuellen Mitverantwortung des einzelnen Naturwissenschaftlers für gesellschaftliche und politische Prozesse keineswegs ohne weiteres beiseite schieben läßt“. (ebenda)

Um einen – sicherlich unzureichenden, minimalen – Einblick in das solchen Analysen zugrundeliegende empirische Material zu geben, sei noch eine kurze Interviewpassage zitiert. (Der männliche Informant ist 46 Jahre alt, war also zur Zeit der »Göttinger Erklärung« selbst noch im Schulalter.):

„Der M (Name) ist ein Chemiker, der aber auch alles mögliche macht, der hat also auch den X-Preis (öffentliche Auszeichnung für besondere Leistungen, J.S.) mal gekriegt, das ist ein sehr berühmter Naturwissenschaftler eigentlich, Namen, die man eigentlich kennt, so als Student ist man ganz ehrfürchtig davor, daß die, und das ist eigentlich das, das im Grunde sehr Motivierende, daß sich also berühmte Wissenschaftler, die man kennt von der Wissenschaft her, daß sich die stark engagieren.“ (zit. nach Straub 1993, S. 204)

Auch wenn diese Passage aus dem Gesamtzusammenhang des Interviews »gerissen« ist und hier weitere für das friedenspolitische Engagement des Informanten relevante biographische Erfahrungsbereiche nicht angesprochen sind, so zeigt sie doch, welche Rolle dabei anerkannte Autoritäten spielen können. Während in Milgrams Experimenten in einer fingierten Situation »anerkannte Autoritäten« (Wissenschaftler) Menschen dazu gebracht haben, andere vermeintlich menschenunwürdig zu behandeln, wird hier die Orientierung an Autoritäten in der realen Lebenspraxis thematisiert, allerdings im Hinblick auf das Prinzip Verantwortung.12

Biographische Analysen erhellen den lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang solcher und anderer lebenspraktisch bedeutsamer Orientierungen. Die zitierte Studie von Straub erhellt insbesondere die Bedeutung zeitgeschichtlicher Ereignisse sowie berufs- und geschlechtsspezifischer Erfahrungen für die individuelle Entwicklung friedenspolitischen Engagements. Wissen dieser Art ist im sozialpsychologischen Experiment nicht zu gewinnen. Das Experiment untersucht demgegenüber situationale Einflüsse unter weitgehender Abstraktion von lebensgeschichtlichen Erfahrungsbereichen. Versteht man Methoden und damit auch Paradigmen der Forschungspraxis als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck oder gar Weltanschauung, so haben wohl beide bisher angesprochenen Forschungsparadigmen, bezogen auf je eigene Fragestellungen ihre Berechtigung. Weder das sozialpsychologische Experiment noch der biographische Ansatz können allerdings Veränderungswissen im Hinblick auf gesellschaftliche Konfliktlagen bereitstellen. Straub (1993) versteht mit Bezug auf Taylor die Humanwissenschaften sogar prinzipiell als unabänderlich historisch, d.h. rückwärtsschauend (S. 19f.).

Als drittes Beispiel soll nun noch die handlungstheoretisch orientierte Konfliktforschung betrachtet werden. Mit der Biographieforschung teilt sie die zentrale Bezugnahme auf den Handlungsbegriff und damit auf ein Menschenbild des reflexiven Subjekts. Mit der experimentellen Sozialpsychologie teilt sie den zentralen Bezug auf konkrete soziale Interaktionssituationen.

Handlungstheoretisch orientierte Konfliktforschung

Die handlungstheoretisch orientierte Konfliktforschung hat einen wesentlichen Ursprung in der sog. Erlanger Schule des Konstruktivismus (Kamlah & Lorenzen 1967; Lorenzen & Schwemmer 1975). In engem Zusammenhang mit dieser wissenschaftstheoretischen und philosophischen Grundlegung entwickelte Werbik (1974) eine „Theorie der Gewalt“. Schwemmer (1976) formulierte zwei Prinzipien, das praktische Vernunftprinzip und das Moralprinzip, zur Lösung von Konfliktsituationen, auf deren Basis Kempf (1978) ein Modell der argumentativen Konfliktlösung entwarf. Kaiser & Seel (1981) entwickelten und erprobten, ebenfalls an diese Tradition anknüpfend, in einem groß angelegten Beratungsforschungsprojekt eine Konfliktberatungsstrategie. Einher ging diese Entwicklung der Erlanger Konfliktforschung mit der Entwicklung handlungstheoretischer Konzepte und einer ausführlichen Beschäftigung mit der Aggressionsforschung (Hilke & Kempf 1982).13

Als jüngstes Beispiel dieser Forschungstradition, zu der letztlich auch – unter Einbeziehung weiterer, soziologischer und geschichtswissenschaftlicher, Theorietraditionen – Straub (1993) zu zählen ist, sei hier ein Beitrag von Kempf (1993) vorgestellt. In diesem geht er von dem Ziel einer argumentativen Konfliktlösung aus und benennt als deren grundlegende idealtypische Bedingung den »herrschaftsfreien Dialog«. Die Orientierung an einem »herrschaftsfreien Dialog« ist selbst dann aufrechtzuerhalten, wenn die konkreten Konfliktgespräche weit entfernt von einem solchen Ideal sind: „Es gibt also ein Nebeneinander von Diskurs, Veränderung der Wahrnehmung und Veränderung der Realität – und nicht ein Nacheinander, wonach erst die Machtbasis gleich und die gegenseitige Anerkennung gewährleistet sein muß, bevor man überhaupt in ein Gespräch eintreten kann. Man findet sich zum Gespräch zusammen und tut so, als seien die Voraussetzungen gegeben, um in Wahrheit erst den Boden zu bereiten, auf welchem sie wachsen können.“ (S. 58) Anerkennt man diese Notwendigkeit der – kontrafaktischen – Unterstellung eines »herrschaftsfreien Dialogs«, so kann es auch gelingen, Friedensgespräche selbst dann fortzusetzen, wenn der Konflikt außerhalb dieser Gespräche fortdauert.

Sind diese Voraussetzungen für eine argumentative Konfliktlösung gegeben, so hängt deren Gelingen wesentlich davon ab, inwieweit die Bedeutungsviefalt von Handlungen von den an den Beratungen Beteiligten in Rechnung gestellt werden kann. Kempf verweist hier auf die prinzipielle Kontextabhängigkeit der Bedeutungen unserer Handlungen. Dieser Kontext „besteht sowohl aus dem Kontext der gesellschaftlichen und ökologischen Lebensbedingungen der Subjekte als auch aus dem jeweils individuellen Kontext ihrer Biographien, ihrer Lebenserfahrungen, Wünsche, Hoffnungen, usw. […] Handlungen gehören somit grundsätzlich zu mehreren Kontexten gleichzeitig.“ (S. 60f.) Aus dieser nicht zu reduzierenden Bedeutungsvielfalt entsteht auch das Problem, in Konfliktsituationen eine Perspektive einzunehmen, die nicht der eigenen Position in den konflikthaften Handlungszusammenhängen entspricht.

Nach diesen grundlegenden Überlegungen stellt Kempf ein Modell vor, das die Eigendynamik von Konflikten, die sich unabhängig von den Intentionen der beteiligten Konfliktparteien autonom entfalten kann, zu verstehen erlaubt. Es geht dabei insbesondere um die Wirkungen nicht-intendierter und nicht-wahrgenommener Nebenfolgen von Handlungen in Konfliktsituationen, die in bestimmten Konstellationen zu einer Stabilisierung oder Eskalation des Konfliktes (anstatt zu seiner Lösung) führen. Solche Prozesse können am Modell veranschaulicht und damit bewußt gemacht werden.

Kempf erläutert sein Modell am Beispiel eines Ehekonfliktes, in dem nur zwei Handlungsweisen (der Ehefrau und des Ehemannes) miteinander unverträglich sind. Es ist das Wesen von Modellen, faktische Komplexität auf relevante Variablen zu reduzieren, wobei sich die Relevanz der Variablen aus der jeweils eingenommenen theoretischen Perspektive ergibt. Der Vorteil solcher Modelle von Handlungszusammenhängen mehrerer Akteure ist, komplexe Situationen – wenn auch stark vereinfacht – übersichtlich und strukturiert zu veranschaulichen und damit Lösungsmöglichkeiten gedankenexperimentell (auf dem Papier) durchspielen zu können.

Kempf selbst konstatiert, daß politische Konflikte viel komplexer sind als der von ihm als paradigmatisches Beispiel verwendete Ehekonflikt. Es wäre eine »sträfliche Vereinfachung«, politische Konflikte auf die von ihm erläuterten Aspekte zu reduzieren. Der Fortschritt handlungstheoretischer Analysen von Konfliktsituationen besteht also weniger darin, bereits – über normative Prinzipien hinausgehendes – praktisch nutzbares Veränderungswissen auch für politische Konfliktlagen bereitzustellen, sondern darin, die Komplexität menschlichen Handelns erst einmal an ganz einfachen Beispielen aufzuzeigen. Hierzu gehört die Unterscheidung mehrerer Ebenen von Handlungsorientierungen (Kempf 1982), die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Bedeutungen einzelner Handlungsweisen sowie die Untersuchung der historisch und sozial vermittelten lebensgeschichtlichen Genese von Handlungsorientierungen und deren individuelle und kollektive Bedeutungen.

Handlungstheoretisch orientierte Konfliktforschung muß, wenn sie in der Anwendung über den Bereich interpersonaler Konflikte hinausgehen soll, prinzipiell interdisziplinär ausgerichtet sein. So können wir beispielsweise Konflikte in Institutionen meist erst dann »richtig« verstehen, wenn wir sie nicht auf interpersonale Konflikte reduzieren. Die Herausbildung und die tiefere Bedeutung bestimmter, möglicherweise konfliktträchtiger, Handlungsmuster und -orientierungen innerhalb einer Institution können oft erst über eine Analyse der Geschichte dieser Institution verständlich und damit argumentationszugänglich werden. Wie bereits in dem zitierten Aufsatz von Kempf angedeutet, bedarf eine handlungstheoretische Konfliktforschung, die von einem komplexen, nicht nur zweckrationalen Handlungsbegriff ausgeht, also ganz wesentlich auch einer hermeneutischen Orientierung. Auch wenn eine hermeneutische Orientierung von vornherein zum Selbstverständnis der handlungstheoretischen Arbeiten in der hier angesprochenen Forschungstradition gehört, so ist deren forschungspraktische Integration z.B. auch in Kempfs Prozeßmodellen doch erst ansatzweise zu erkennen.

Schlußbemerkungen

Die drei hier vorgestellten Studien sollten einen exemplarischen Einblick in Paradigmen psychologischer Friedensforschung geben. Dabei dürfte deutlich geworden sein, daß jeder Ansatz seine Berechtigung hat, indem er friedensthematisch relevantes Wissen um menschliches Verhalten und Handeln in gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen und in Konfliktsituationen bereitstellt. Dieses Wissen kann aber immer nur als ein Beitrag zum Verstehen bestimmter Aspekte von Konfliktlagen aufgefaßt werden. So dürfte auch die Notwendigkeit interparadigmatischer und interdisziplinärer Zusammenarbeit angesichts der uns drängenden gesellschaftlichen und politischen Problemlagen kaum in Frage stehen.

Während das sozialpsychologische Experiment dem nomothetischen Paradigma verpflichtet ist, gelten die Biographieforschung und die handlungstheoretische Konfliktforschung als subjektorientiert. Subjektorientierung heißt aber nicht, daß nur die subjektiven Sichtweisen der handelnden Personen in den Blick genommen werden. Vielmehr werden in diesen Ansätzen den subjektiven Sichtweisen auch gesellschaftlich vermittelte »objektive« Bedeutungen von Handlungsweisen, die den Handelnden gar nicht bewußt oder zugänglich sein müssen, gegenübergestellt. Insofern wäre es verkürzt, diese Ansätze als bloß subjektive zu etikettieren. Im übrigen ist auch der sozialpsychologische Experimentator nicht prinzipiell desinteressiert an den subjektiven Bedeutungen, die die Versuchspersonen mit ihren Handlungen verbinden. Milgram führte z.B. nach seinen Experimenten ausführliche Nachgespräche, einmal, um die Versuchspersonen über das wahre Anliegen seiner Versuche zu informieren, und zum anderen, um etwas über die Gründe für ihr Verhalten im Experiment und über ihre Gefühle dabei zu erfahren. Auch zeichnete er die Gespräche zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter während des Experimentes auf. Der Unterschied zu hermeneutischen Forschungsansätzen liegt darin, diese Gespräche nur als Illustration der Forschungsergebnisse (Prozentzahlen der Verhaltensweisen in den einzelnen Experimenten) aufzufassen und sie nicht selbst als »Datenbasis« für eine eingehende Analyse zu verwenden.14 Trotz dieser Unterschiede zeigt dieses Beispiel aber, daß sozialpsychologisches Experimentieren und hermeneutische Analysen in der Forschungspraxis auch miteinander verbunden werden könnten. Auf wissenschaftskonzeptioneller Ebene wäre bei einer solchen Methodenverknüpfung allerdings zu klären, welche Art von Theoriebildung jeweils angestrebt wird und welche unveräußerlichen »Kernannahmen« (z.B. Menschenbildannahmen) dabei die tragende Rolle spielen.

Eskola (1993) schlägt beispielsweise für die psychologische Friedensforschung einen handlungstheoretischen Zugang vor, in dem auf der einen Seite der Akteur als reflexives Subjekt mit seinen geschichtlich gewordenen und sozial vermittelten Orientierungen untersucht wird. Gleichzeitig wird aber davon ausgegangen, daß der Akteur in konkreten Handlungssituationen selbst bestimmte »Gesetzmäßigkeiten« in Rechnung stellt bzw. stellen muß. So werden unsere Handlungsweisen in Konfliktsituationen zum Beispiel nicht unerheblich davon bestimmt, welche Art von Wissen über menschliches Verhalten uns zur Verfügung steht.

Unter »Gesetzmäßigkeiten« (»laws«, »rules«) versteht Eskola sowohl naturwissenschaftliche als auch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse (z.B. über soziale Regeln) der Form »wenn x, dann y«. Menschliches Handeln funktioniert zwar nicht schlicht nach solchen Zusammenhängen, aber es ist besser zu verstehen über die Art und Weise, wie der einzelne Akteur solche Zusammenhänge bei seinem Handeln konkret in Rechnung stellt. Dieser Ansatz erinnert an das Forschungsprogramm »Subjektive Theorien« (Groeben u.a. 1988), in dem das Wissen des Handelnden in Parallelität zu wissenschaftlichen Theorien aufgefaßt und als sog. subjektive Theorien rekonstruiert wird.

Abschließend möchte ich einschränkend nochmals erwähnen, daß ich mit den hier besprochenen Paradigmen selbstverständlich nicht die ganze Breite friedenspsychologischer Forschung veranschaulichen konnte. So stellen insbesondere sprachanalytische Überlegungen einen wichtigen Beitrag zur Friedensforschung dar, wenn man bedenkt, daß unsere Wahrnehmung der »sozialen Wirklichkeit« ganz wesentlich auch von den Möglichkeiten der Sprache abhängt, diese zu benennen. Insbesondere die Verwendung der Termini »Aggression« und »Gewalt« ist inzwischen eingehenden Untersuchungen unterzogen worden. Ein weiteres Feld, das hier nicht angesprochen worden ist, ist die Mediationsforschung, in der Modelle der Konfliktvermittlung praktisch erprobt und dabei optimiert werden. Einen Einblick in diese hier nicht angesprochenen Forschungsbereiche mag der jüngst erschienene, von Kempf u.a. herausgegebene Band „Gewaltfreie Konfliktlösungen“ geben.

Literatur

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Kamlah, Wilhelm & Lorenzen, Paul (1967): Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Mannheim: Bibliographisches Institut.

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Kempf, Wilhelm (1982): Formen der Aggression und das Problem des Inneren Friedens. In Reinhard Hilke & Wilhelm Kempf (Hrsg.), Aggression. Naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Perspektiven der Aggressionsforschung (S. 112-147). Bern: Huber.

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Kempf, Wilhelm u.a. (Hrsg.) (1993): Gewaltfreie Konfliktlösungen. Interdisziplinäre Beiträge zu Theorie und Praxis friedlicher Konfliktbearbeitung. Heidelberg: Asanger.

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Wright, Georg H. v. (1974): Erklären und Verstehen. Frankfurt a.M.: Athenäum.

Anmerkungen

1) Die öffentlichen Spekulationen reichen hier von rechtsradikaler Indienstnahme an sich unpolitischer Jugendlicher bis zu der These, die Jugendgewalt von rechts sei eine Folge der linken Aufklärung. Mit der zweiten These setzt sich kritisch und sehr differenziert von Hentig (1993) auseinander. Zurück

2) Zur Heterogenität von Theorie- und Empirie-Auffassungen in den Sozialwissenschaften vgl. z.B. die Diskussionseinheit „Formen und Aufgaben von »Theorieforschung« in den Sozialwissenschaften“ (Hauptartikel von Patzelt, Metakritik von Billmann-Mahecha) in Heft 1/1993 der Zeitschrift „Ethik und Sozialwissenschaften“. – Zur Heterogenität speziell qualitativer Forschungsansätze vgl. z.B. den Sammelrezensions-Aufsatz von Lüders (1993). Zurück

3) Vgl. hierzu z.B. Boehnke, Macpherson & Schmidt (1989) und die Bibliographie von Müller-Brettel (1993). Zurück

4) Insgesamt nahmen an den Milgram-Experimenten über tausend Versuchspersonen teil. Zurück

5) Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob die Versuchspersonen wirklich glaubten, daß den »Schülern« echte Elektroschocks erteilt wurden. Milgram führte dazu Nachbefragungen durch. Etwa 20 Prozent der Versuchsteilnehmer gaben darin Zweifel an (vgl. Milgram 1974, S. 199f.). Zurück

6) Vgl. dazu Milgrams Stellungnahme (1974, S. 221ff.). Zurück

7) Zur Geschichte der Biographieforschung in Soziologie und Psychologie sowie zu verschiedenen methodologischen und methodischen Ansätzen vgl. z.B. Jüttemann & Thomae (1987). Zurück

8) Zur Methode des narrativen Interviews, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. Schütze (1976). Zurück

9) Dies ist auch ein wesentlicher Unterschied etwa zu Fragebogenerhebungen, in denen die Relevanzsetzungen und meist auch die Antwortalternativen sowie die sprachlichen Formulierungen vom Forscherteam bereits vorgegeben sind. Zurück

10) Die einzelnen interpretativen Schritte sind ausführlich in Kap. 6 der zitierten Arbeit dargestellt. Zurück

11) Die »Göttinger Erklärung« beginnt mit den Worten: „Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge …“. Der gesamte Wortlaut befindet sich in Straub (1993, S. 302f). Unterzeichnet wurde die Erklärung von 18 namhaften Naturwissenschaftlern. Zurück

12) Zu verschiedenen Formen autoritären Handelns und zur Unterscheidung zwischen autoritärem, autonomem und kommunikativem Handeln vgl. Popp (1989). Zurück

13) Selbstverständlich ist diese Entwicklung hier verkürzt und nur exemplarisch dargestellt; es geht mir nur darum, einige Zusammenhänge aufzuzeigen. Zurück

14) Dies entspricht auch der Auffassung von Anselm Strauss, der den eigentlichen Unterschied zwischen quantitativen und qualitativen Forschungsrichtungen darin sieht, wie das Datenmaterial analytisch behandelt wird (1991, S. 26). Zurück

Elfriede Billmann-Mahecha

Begründung einer Friedenspädagogik: der Ansatz Kants

Begründung einer Friedenspädagogik: der Ansatz Kants

von Karl Brose

Die Begründung einer Friedenspädagogik kann sich noch immer auf die Philosophie Kants berufen. Sein Traktat „Zum ewigen Frieden“, die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sowie Passagen der „Rechtslehre“ aus der „Metaphysik der Sitten“ bilden den Hintergrund zu einer Erziehung zu Frieden und Friedfertigkeit, die bis in die heutige Philosophie, Pädagogik und Erziehungswissenschaft reicht. Im folgenden geht es um Kants Pädagogik, und zwar um jene Einleitungspassagen, die sich der Friedensproblematik öffnen. Kant formuliert hier Sätze, die sich zur Begründung einer Friedenspädagogik eignen.

Erziehung zur Vollkommenheit

Kant beginnt seine Pädagogik mit Sätzen, welche die Friedenserziehung sehr weit fassen, nämlich anthropologisch – und schließlich kosmopolitisch: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß“; „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.“ 1 Er wird nur durch Menschen erzogen, die selbst erzogen sind. Mangel an solcher Erziehung macht die Menschen wieder zu schlechten Erziehern. Kant formuliert dann einen politischen Gedanken, der auf die Großen seiner Zeit zielt – aber auch für eine gegenwärtige Friedenserziehung Bedeutung hat; denn Kant sieht, „wie die Großen meistens nur immer für sich sorgen, und nicht an dem wichtigen Experimente der Erziehung in der Art Teil nehmen, daß die Natur einen Schritt näher zur Vollkommenheit tue“ (700). Trotz dieser Beobachtung Kants – die auch in seinen anderen Friedensschriften über die Kriege der Großen wiederkehrt – läßt er nicht ab von der Idee einer Erziehung zur Vollkommenheit der menschlichen Natur und deren Glück, so daß sich eine immer bessere Erziehung auch einem vollkommeneren Menschengeschlecht und dessen Humanität nähert: „denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur … Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte“ (700).

Der Entwurf einer solchen Erziehung ist für Kant ein „herrliches Ideal“, wenn es auch nicht sofort realisierbar ist. Man muß nicht gleich diese Idee für eine Schimäre und einen bloßen Traum halten. Kant bezieht diese Erziehungsgedanken sowie seine Friedensidee weitgehend von Rousseau, den er auch in seiner Pädagogik laufend zitiert. Kant verteidigt ihn überall gegen den Vorwurf der Schwärmerei und Phantasterei. Was für die Idee des „Ewigen Friedens“ als eines weltbürgerlichen Zustands bei Kant sowie Rousseau gilt, gilt auch für die Idee einer vollkommenen Erziehung und Erziehung zur Vollkommenheit. Hier liegt die Propädeutik einer Erziehung zu Frieden und Friedfertigkeit und damit die Grundlegung und Begründung einer Friedenspädagogik. Kant kann sie sich politisch nur in einem vollkommenen republikanischen Staat vorstellen: „Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet. Z.E. die Idee einer vollkomnen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik! Ist sie deswegen unmöglich? Erst muß unsere Idee nur richtig sein, und dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar nicht unmöglich … Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft.“ (700)

Das Gute als Ziel der Friedenserziehung Kants

Die Idee der Vollkommenheit des Menschen durch immer bessere Erziehung öffnet sich in Kants Pädagogik nach zwei Seiten, die miteinander zusammenhängen: das moralisch »Gute« – letztlich wohl „Gott“ (754ff.) – und die künftige Nachkommenschaft und Menschengattung: „Soviel ist aber gewiß, daß nicht einzelne Menschen, bei aller Bildung ihrer Zöglinge, es dahin bringen können, daß dieselben ihre Bestimmung erreichen. Nicht einzelne Menschen, sondern die Menschengattung soll dahin gelangen.“ (702) Was jenes Ziel des Guten anbelangt, so erscheint hier eine Assoziation zu den Begriffen des Friedens und der Friedfertigkeit durchaus herstellbar, obgleich die politisch-juristische Komponente fehlt: „Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll, und spricht, so zu sagen, zum Menschen: 'Gehe in die Welt,' (…) 'ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln, und so hängt dein eignes Glück und Unglück von dir selbst ab.'“ (702)

Diesen kategorischen Erziehungsauftrag mildert Kant dann ab bzw. zeigt seine ganze Komplexität und Schwierigkeit. Denn der Mensch soll seine Anlagen zum Guten ja erst entwickeln, sie sind nicht schon fertig in ihn gelegt: „Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch.“ (702) Diese Selbsterziehung ist aber eines der schwersten Probleme des Menschen. Denn die Einsicht in solche Probleme hängt von der Erziehung ab und die Erziehung wieder von jener Einsicht: „Daher kann die Erziehung auch nur nach und nach einen Schritt vorwärts tun, und nur dadurch, daß eine Generation ihre Erfahrungen und Kenntnisse der folgenden überliefert, diese wieder etwas hinzu tut, und es so der folgenden übergibt, kann ein richtiger Begriff von der Erziehungsart entspringen.“ (702f.) Kant beschließt seine Argumentation mit einem Zitat, das eine Verbindung zum politischen Aspekt seiner Friedensschriften herstellt: „Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schweresten ansehen: die der Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich.“ (703) Der Zusammenhang zwischen der politischen Komponente seines Friedensdenkens und dem praktisch-moralischen Aspekt seiner Pädagogik wird bei der Begründung einer Friedenspädagogik durch Kant im folgenden noch deutlicher werden.

Zukunft, Kosmopolitismus und Weltbürgertum bei Kant

Mit dem Aspekt des Politischen ist ein Ziel der Pädagogik Kants erreicht, das auch hinter seinen Friedensschriften steht: Weltbürgertum. Dabei ist die Richtung auf Zukunft vorrangig: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“ (704) Eltern erziehen ihre Kinder oft nur so, daß diese in die gegenwärtige Welt passen bzw. in ihr gut vorankommen: „Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.“ (804) Neben den Eltern und deren hinderlichen Erziehungsabsichten nennt Kant noch die Herrschenden („Fürsten“), die ihre Untertanen wie Instrumente zu ihren Absichten betrachten: Eltern und Fürsten „haben nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzwecke. Die Anlage zu einem Erziehungsplane muß aber kosmopolitisch gemacht werden … Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt. Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden. Denn die Gründe zum Bösen findet man nicht in den Naturanlagen des Menschen. Das nur ist die Ursache des Bösen, daß die Natur nicht unter Regeln gebracht wird. Im Menschen liegen nur Keime zum Guten“ (704f.).

Von diesem Rousseauschen Ansatz seiner Erziehungskonzeption aus leistet Kant eine scharfe Kritik an den politischen und pädagogischen Verhältnissen seiner Zeit. Kern dieser Kritik ist – die fast wörtlich auch in seinen anderen Friedensschriften begegnet – daß er von den gegenwärtig Herrschenden kaum eine Besserung der politischen und pädagogischen Verhältnisse erwartet; er kann sie allenfalls postulieren oder utopisch erhoffen. Denn diese Herrschenden („Fürsten“) wurden in ihrer Jugend oft ungenügend erzogen, das „man ihnen in der Jugend nicht widerstand“; deshalb ist es besser, „daß sie von jemand aus der Zahl der Untertanen erzogen werden, als wenn sie von ihresgleichen erzogen würde“ (705). Diese mangelhafte Erziehung der Herrschenden muß sich schließlich in deren schlechter, politisch-ökonomisch verfehlter Staatsführung äußern. Kant bezeichnet sie in seinen sämtlichen Friedensschriften als die Hauptursache von Kriegen. In der Pädagogik heißt es: „Das Gute dürfen wir also von oben her nur in dem Falle erwarten, daß die Erziehung dort die vorzüglichere ist! Daher kommt es hier denn hauptsächlich auf Privatbemühungen an, und nicht sowohl auf das Zutun der Fürsten … denn die Erfahrung lehrt es, daß sie zunächst nicht sowohl das Weltbeste, als vielmehr nur das Wohl ihres Staates zur Absicht haben, damit sie ihre Zwecke erreichen. Geben sie aber das Geld dazu her: so muß es ja ihnen auch anheimgestellt bleiben, dazu den Plan vorzuzeichnen. So ist es in allem, was die Ausbildung des menschlichen Geistes, die Erweiterung menschlicher Erkenntnisse betrifft. Macht und Geld schaffen es nicht, erleichtern es höchstens. Aber sie könnten es schaffen, wenn die Staatsökonomie nicht für die Reichskasse nur im voraus die Zinsen berechnete.“ (795)

Kants Pädagogik: die bessere Erziehung entscheidet über den Frieden

Die kritische Sicht der politischen und pädagogischen Verhältnisse im niedergehenden Preußen nach Friedrich d. Gr. und angesichts der revolutionären Vorgänge in Frankreich prägen die Friedenskonzeption Kants, besonders auch was die Staatsschulden der kriegführenden Mächte betrifft. Diese Kriegskosten – die im Traktat „Zum ewigen Frieden“ sogar zum Ende von Krieg und Rüstung überhaupt beitragen sollen – tauchen andeutungsweise auch am Schluß des folgenden Zitats auf; dabei hält Kant am philosophisch und pädagogisch zentralen Begriff der »Aufklärung« fest: „Demnach sollte auch die Einrichtung der Schulen bloß von dem Urteile der aufgeklärtesten Kenner abhängen. Alle Kultur fängt von dem Privatmanne an, und breitet von daher sich aus. Bloß durch die Bemühung der Personen von extendierteren Neigungen, die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Idee eines zukünftigen bessern Zustandes fähig sind, ist die allmähliche Annäherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich. Siehet hin und wieder doch noch mancher Große sein Volk gleichsam nur für einen Teil des Naturreiches an, und richtet also auch nur darauf sein Augenmerk, daß es fortgepflanzt werde. Höchstens verlangt man dann auch noch Geschicklichkeit, aber bloß um die Untertanen desto besser als Werkzeug zu seinen Absichten gebrachen zu können.“ (705f.) Mißbrauchen zu können – müßte es wohl heißen, nachdem das Volk vermutlich vor allem wegen der Steuereintreibung und des nächsten Krieges vermehrt wurde.

Aber derart scharfe Worte formuliert Kant in der Pädagogik nicht – im Gegensatz zu seinen anderen Friedensschriften. Kant sieht in seiner Pädagogik wohl letztlich die Kinder und Jugendlichen als Adressaten. Dennoch wurden im Vorhergehenden jene Eröffnungspassagen der Pädagogik herausgehoben, die fast wörtlich auch in seinen Friedensäußerungen im Traktat „Zum ewigen Frieden“, der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und der „Rechtslehre“ der „Metaphysik der Sitten“ vorkommen – und in der Pädagogik nur praktisch angewandt werden auf den Erziehungszweck des Friedens und der Friedfertigkeit. Die beiden Hauptteile der Pädagogik über „physische“ und „praktische Erziehung“ können dann ebenfalls im Hinblick auf Kants Friedenskonzeption und die Begründung einer Friedenspädagogik in der Gegenwart gelesen werden. Dazu sollten die eben genannten Friedensschriften Kants jedoch immer wieder neu studiert werden. Ein chronologisches Vorgehen ist dabei nicht einmal so wichtig, sondern Umfang und Bedeutung des Themas Frieden, das in diesen Schriften behandelt wird. Dabei ist Kants Traktat „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ aus dem Jahr 1795 – dem Jahr des Basler Friedensschlusses zwischen Preußen und der Französischen Republik – bestimmt der erste Schritt, gleichsam das philosophische Fundament für eine an Kant orientierte Begründung der Friedenspädagogik und Erziehung in der Gegenwart.

Anmerkungen

1) I. Kant: Über Pädagogik. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von W. Weischedel. Darmstadt 1983. Bd. 10, S. 691-761. Im folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern zitiert; hier S. 697ff. Zurück

Prof. Dr. phil Karl Brose lehrt an der Universität Münster.

Neue Wege in der Friedenspädagogik

Neue Wege in der Friedenspädagogik

Plädoyer für offensivere Schritte und Strategien in der Friedenserziehung

von Jugendakademie Walberberg

Die Jugendakademie Walberberg veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Gruppenberatung (Wien), der Université de Paix (Namur), der Peace Education Commission (London) u.a. Ende März eine friedenspädagogische Fachtagung mit dem Thema „Grenzüberschreitungen“. Die Teilnehmer/innen aus 11 Nationen verabschiedeten am Schluß der Tagung folgende Entschließung:

Die Friedenserziehung kann inzwischen eine langjährige Mitwirkung im friedenspolitischen Bereich vermerken. Sie hat nicht nur Visionen einer Weltgesellschaft entwickelt, die zu großen Hoffnungen Anlaß geben, sondern auch konkrete Anstöße für das alltägliche Zusammenleben der Menschen vermittelt.

Aber die vielen Impulse, die in den siebziger und achtziger Jahren in die Friedenserziehung einflossen, haben am Übergang zum letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts merklich nachgelassen. Selbst der Golfkrieg und die derzeit zahlenmäßige Erhöhung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt, z.B. in Kurdistan, in Serbien und Kroatien, in Teilen der GUS, haben kaum neue Anfragen an die Friedenspädagogik hervorgerufen. Dabei ist die Liste der ganz ungelöst erscheinenden Fragen von Tag zu Tag größer geworden: Krieg, Hunger, Vertreibung, Unterdrückung, Folter, Arbeitslosigkeit, Leben in einer krank-machenden Umwelt …

Friedenserziehung kann nicht auf diese offenen Fragen eine sachgerechte und endgültige Antwort geben. Die Instrumentarien in Politik, Wirtschaft und Kultur sind nach wie vor unverzichtbar. Selbst IWF, Weltbank, UNO und GATT stehen hier nicht grundsätzlich zur Disposition. Sie sind allerdings dringend reformbedürftig, da sie in ihren gegenwärtigen Strukturen eher Abbild der herrschenden Weltmacht-Verhältnisse als welt-demokratische Institutionen darstellen. Erst nach solchen Reformen könnte von diesen Instrumentarien eine menschenrechtsverträgliche Politik ausgehen.

Gewiß sind in den letzten beiden Jahrzehnten viele kritische Analysen und alternative Programme zu den offiziellen Maßnahmen in Politik und Wirtschaft erstellt worden. Hervorragende Papiere haben die Ströme der kriminellen Rüstungsexporte bloßgelegt, Ursachen und Verursacher der Zerstörung des Regenwaldes sind beim Namen genannt worden, die immer weiter klaffende Schere zwischen Reich und Arm ist in nüchternen und unwidersprochenen Zahlen dokumentiert, die Gründe einer Jahrhunderte alten Abstinenz in der Begegnung der Religionen wurden inzwischen ausgiebig publiziert. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese guten und wichtigen Darstellungen und Grundlagen von der Friedenserziehung und Friedensarbeit in entsprechender Weise aufgenommen und vor allem in praktische Handlungsmodelle umgesetzt worden sind. Dabei geht es – um es noch einmal zu betonen – nicht darum, auf die „Liste der ganz ungelösten Fragen“ definitive Antworten zu präsentieren, als vielmehr um eine unmißverständlichere Form der Methodik und Konsequenz, mit der sich Friedenserziehung und Friedensarbeit in das öffentliche Geschehen einmischen sollte.

Drei „Grenzüberschreitungen“ sind hier von besonderer Bedeutung:

  1. Die Überwindung der Grenze, der Distanz zum anderen, Andersdenkenden, Fremden;
  2. Die grenzüberschreitende Offenheit Europas in seinen internationalen Beziehungen und in seiner Praxis der »offenen Tür«;
  3. Aufhebung der Grenzen des Anstands und diplomatischer Rücksichtnahme, um mit den Betroffenen zu schreien, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Die Begegnung mit Menschen, die unbekannt sind, fremd aussehen, andere Lebensgewohnheiten haben, birgt Spannung in sich. Das kann interessant und aufregend sein. Zuviel Spannung kann aber auch Angst machen.

Nur durch konkrete Erfahrungen in der Begegnung mit anderen können Hemmungen, Ängste und Konflikte abgebaut und Grundlagen für ein multikulturelles Zusammenleben geschaffen werden.

Hierfür ist die Bereitstellung von »Räumen der Begegnung« buchstäblich erforderlich. Das vorhandene Bildungskonzept basiert noch viel zu sehr auf der Qualifizierung der einzelnen Person für deren gesellschaftliche oder wirtschaftliche Verwertbarkeit und viel zu wenig auf Stärkung eigenständiger Persönlichkeiten und auf der Kommunikation von Menschen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher Gruppen.

Mehr Begegnung und Bewegung, offenere Kommunikation, konkrete Erfahrungen miteinander, Weckung von Neugierde und Interesse füreinander …, das multikulturelle Zusammenleben durch persönliches Handeln einen Schritt näher bringen – mit diesen pädagogischen, technischen, organisatorischen Aufgaben sollte sich Friedenspädagogik noch phantasievoller und konkreter befassen und hierfür die notwendigen Räume der Begegnung fordern und schaffen. Dazu gilt es, dem in allen europäischen Ländern anzutreffenden Fremdenhaß und der Verfolgung von ausländischen Menschen und von Minderheiten im eigenen Land viel deutlicher als bisher (als einzelner sowie als Gruppe) zu begegnen. Auch in dieser Hinsicht sollte die Friedenserziehung Ideen und Handlungsformen für eine unmißverständliche Präsenz und Einnmischung entwickeln.

Mit dem Blick auf das Jahr 1993 baut Europa derzeit eine eigene Identität auf, die einem eurozentrierten Nationalbewußtsein nahe kommt. Zugleich werden im Asylrecht, in der Wirtschafts- und Handelspolitik, in der Militär- und Außenpolitik neue Maßnahmen und Ziele verankert, die zur Schaffung einer »Festung Europa« wesentlich beitragen. Für diejenigen, die »draußen« sind, sei es in Osteuropa, in Afrika, Lateinamerika oder in Asien bringt die neue europäische Entwicklung eine neue unzumutbare Hürde, eine noch härtere Grenze.

Diese Tendenzen stehen im krassen Gegensatz zu den demographischen Entwicklungen in der Weltbevölkerung, zu den tiefgreifenden Veränderungen in der Situation unseres Planeten: ökonomisch, ökologisch, kulturell etc.

Friedenserziehung in Europa muß sich mit diesen Tendenzen und Entwicklungen kritisch auseinandersetzen und überall da Grenzüberschreitungen wagen, wo Menschen ausgegrenzt, verachtet, abgeschoben werden.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ – heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Unzählig sind die Verletzungen dieses Grundsatzes weltweit seit seiner offiziellen Verkündigung im Jahr 1948. Nicht nur einzelne Menschen sind hieran beteiligt, sondern viele Staatsführungen selbst und ihre polizeilichen und militärischen Helfershelfer. Die Berichte von Amnesty international und anderer Menschenrechtsorganisationen sind Jahr für Jahr voll von dieser grausamen Wirklichkeit. Sie wird uns täglich durch die Medien vor Augen geführt.

Dennoch pflegen die meisten Staaten mit den meisten Staaten sogenannte ordentliche und fruchtbare Beziehungen. Das diplomatische Spiel kennt keine Grenzen, es sucht stets den eigenen Vorteil des Landes und sei es auf Kosten der Würde, des Friedens oder des Lebens vieler Menschen in der Welt.

Zu sehr verstummt auch hier vielfach eine Friedenserziehung, sei es aus einem Ohnmachtsgefühl, sei es aus mangelnder Phantasie, mit den Opfern zu schreien.

Was brauchen wir:

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine „Bewegungspädagogik“ (W.V. Lindner) verstehen, die möglichst intensiv und zugleich in möglichst kurzer Zeit – in Untergruppen – eine Vertrauensbasis schafft, die zu Aktionen befähigt.

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine „entwickelte Protestkultur“ (W. Wette) verstehen, die sich deutlich und selbstbewußt in die Politik einmischt („Das Volk sind wir“).

Friedenserziehung muß sich in Reflexion und Aktion als Anwalt der Armen, der Unterdrückten der weitverbreiteten „Kultur des Schweigens“ (Paulo Freire) verstehen und ihnen eine laute Stimme verleihen.

Friedenserziehung muß nicht nur intellektuell, sondern auch emotional deutlicher die tiefe Besorgnis angesichts der lebensbedrohenden Weltentwicklung zeigen und öffentlich bekennen, daß „im Ungehorsam gegenüber falschen Autoritäten“ (E. Fromm) die wahrscheinlich einzige Möglichkeit besteht, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.

Kritische Distanz, Verweigerung und Ungehorsam müssen deshalb in der Friedenserziehung mehr denn je einen Lernort erhalten. Nicht durch Gehorsam sind die Probleme im Weltmaßstab zu lösen, sondern nur in der Aufkündigung der Ziele und Strukturen unserer Todeskultur. Zu diesen „Grenzüberschreitungen“ müssen sich Friedenserziehung und Friedensarbeit unverzüglich aufmachen.

Walberberg, den 29.3.1992

Kontaktadresse: Jugendakademie Walberberg D-5303 Bornheim 3

Gewalt und Frieden in der Kindersprache

Gewalt und Frieden in der Kindersprache

von Karl Brose

Gewalt und Frieden sind Polaritäten, die das politische und soziale Leben der Gegenwart beunruhigen, besonders aber das pädagogische Denken und Handeln. Friedenspädagogisch bedeutsam ist, daß sich Gewaltpotentiale und Möglichkeiten der Friedfertigkeit bereits in der Kindersprache zeigen. Die folgenden Ausführungen haben besonders die Gewalt- und Friedensphänomene der Kindersprache in der Grundschule zum Thema. Denn hier liegt die Ausgangsbasis für Frieden oder Gewaltsamkeit der künftigen Jugendlichen und Erwachsenen, damit aber auch ihrer Instanzen und Institutionen im Rahmen der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Staaten und Völkern.

Definitionen von Frieden und Gewalt

Brauchbar für einen friedenspädagogischen Aspekt der Kindersprache sind die philosophischen und politischen Maximen C.F. v. Weizsäckers: „Die Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit ist nicht eine Frage der formalen Erfüllung inhaltsneutraler Handlungsnormen. Sie ist selbst eine Frage der Substanz, also … der Wahrheit…Ich kann nicht Gewalt üben wollen, wenn ich nicht will, daß gegen mich Gewalt geübt wird… Deshalb führt die Frage der zulässigen Mittel weiter zur substanziellen Frage des angemessenen Gesellschaftssystems. Friedenspolitik im weiteren Sinne kann daher nicht umhin, zugleich Gesellschaftspolitik zu sein “ 1.

Diese Gesellschaftssicht muß stärker auf einen speziellen Gewaltbegriff eingeengt werden. Hier unterscheidet Habermas drei Gewaltbegriffe: gesellschaftliche oder strukturelle Gewalt bedeutet, „daß die asymmetrische Verteilung von legitimen Chancen der Bedürfnisbefriedigung in einem Normensystem festgeschrieben wird…Sobald jedoch der Glaube an die Legitimität einer bestehenden Ordnung schwindet, wird die ins Institutionensystem eingelassene latente Gewalt freigesetzt – entweder als manifeste Gewalt von oben (was nur temporär möglich ist) oder in Form einer Erweiterung der Partizipationsspielräume “ 2.

Diesen drei Begriffen der strukturellen, latenten und manifesten Gewalt muß noch der Begriff der personalen Gewalt hinzugefügt werden, wie ihn der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung definiert: „Den Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, bezeichnen wir als personale oder direkte Gewalt; die Gewalt ohne einen Akteur als strukturelle oder indirekte Gewalt. In beiden Fällen können Individuen im doppelten Sinne der Wörter getötet oder verstümmelt, geschlagen oder verletzt und durch den strategischen Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche manipuliert werden. Aber während diese Konsequenzen im ersten Fall auf konkrete Personen als Akteure zurückzuführen sind, ist das im zweiten Fall unmöglich geworden: hier tritt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügen könnte; die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen3“.

Das Hauptgewicht ist bei diesen Definitionen vor allem auf den Faktor der personalen oder direkten Gewalt zu legen. Denn im pädagogischen Handeln liegt hier der Schwerpunkt, während der strukturelle Faktor in den die Schule umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht werden muß. Die pädagogische Arbeit auf der Basis der Kindersprache zielt aber letztlich auf das unmittelbare persönliche Verhältnis zwischen den Menschen, d.h. hier ein friedliches Verhalten zwischen Kindern und Erwachsenen, Schülern urd Lehrern, Jungen oder Mädchen.

Elemente der Kindersprache

Ohne jene theoretischen Positionen noch im einzelnen zu nennen, sollen sie im folgenden durch die Erfahrungen mit der gesprochenen Kindersprache der Grundschule angereichert werden. Inwieweit lassen sich Gewaltphänomene in der Kindersprache nachweisen? Jedes Gespräch mit den Kindern zeigt, daß das Gewaltphänomen nur im situativen Kontext möglich ist, d.h. im Gesamtzusammenhang von verbaler und nonverbaler Kommunikation. Es handelt sich um den grammatischen Zusammenhang von »Sprachspiel und Lebensform«, um das Regelfeld von „Oberflächen- und Tiefengrammatik “ 4, in dem die einzelnen Wörter und Sätze ihren Platz und funktionalen Stellenwert haben. Ohne dieses Regel- und Strukturgefüge bliebe die Kindersprache ein „empirischer Sandhaufen “ (James).

Zum Beispiel bezeichnen Wörter wie: auffressen, ausbrechen oder Giftbonbon erst in einer bestimmten Relationalität im Strukturgefüge der Alltagssprache Gewaltsamkeit. Der situative Kontext wird sichtbar in Gewalt signalisierenden Wörtern wie: zertrampeln, kaputtmachen oder schubsen. Dabei kennzeichnet die Vulgärsprache jene Gewaltwörter offenbar eindeutiger als die Hochsprache. Genauer: Gewaltsamkeit bezeichnende Wörter stammen meistens aus der Vulgärsprache. Oder sie sind derart tabuisiert und stigmatisiert, daß sie magisch für sich Gewalt beanspruchen oder suggestiv auf Gewaltsamkeit hinweisen: totmachen, Pistole, Befehl.

Bei diesen Phänomenen alltäglicher Gewalt ist die Rolle der Medien nicht zu vergessen, besonders des Fernsehens: „Die Gewalt kennzeichnenden Wörter kommen insgesamt gesehen aus dem Bereich der durch Massenmedien induzierten Vorstellungen (»Krimi«, »Verbrecher«), dem gesellschaftlich legitimierten Bereich (»Polizei«, »Kripo«), und vor allen Dingen aus dem persönlichen Bereich, in dem schon mannigfach gewaltsam gehandelt (»schubsen«, »kloppen«, usw.) bzw. mit Worten Gewaltsamkeit ersetzt wurde (»ausmeckern«, »schimpfen«)“ 5. In dieser Sphäre latenter Gewaltsamkeit kommen oft die Begriffe des Befehlens und Gehorchens vor. Sie werden in der heutigen Pädagogik zwar nicht mehr verwendet, sind aber der Sache nach vorhanden und müßten von der Friedenserziehung erörtert werden.

Gewaltsamkeit wird in der Hoch- und Schulsprache zumeist durch eine Beziehungskette von Wörtern hergestellt: „Wohnzimmer. Ich muß immer fragen, wenn ich da rein will “. Hier bezeichnet keines dieser Wörter an sich Gewaltsamkeit. Aber der Kontext und dessen Analyse würde die latente Gewaltsamkeit, den Mechanismus von Befehl und Gehorsam zeigen. Dabei scheint die Hochsprache die Gewaltsamkeit eher auf der Bewußtseinsebene zu beschreiben und vom unmittelbaren Vorgang abzutrennen. Hingegen nennt die Vulgärsprache die Gewaltsamkeit selbst beim Namen. Sie drückt sich plastisch gewaltsam im Sinn des Handlungsvollzugs aus. Das könnte dann aber heißen, daß die Hochsprache Gewaltsamkeit legitimiert; wenn auch verborgen und latent statt manifest.

Dennoch soll hier eine These lauten: die Veränderung der Wirklichkeit und deren Gewaltverhältnisse läßt sich durch Sprache bewerkstelligen. Haben Philosophen, Dichter und Wissenschaftler die Welt durch Gedanken verändert – wie hier die 11. Feuerbach-These von Marx umzukehren ist – so wäre dies doch nicht ohne Sprache möglich gewesen. Daß sich durch Sprache und Denken die Welt verändern könnte, davon lebt eine sprachphilosophisch fundierte, ethisch-kommunikative Friedenspädagogik. Der Abbau der Gewaltsamkeit in der Kindersprache ist dazu ein erster Schritt.

Kategorien der Gewaltsamkeit in der Kindersprache

Sprachliche Gewalt kann vordergründig vulgär oder hintergründig reflektiert sein, unmittelbar aggressiv oder systematisch geplant, eintönig stereotyp oder gesellschaftlich verankert. Solche Unterscheidungen sagen nur oberflächengrammatisch etwas über die Intensität von Gewalt aus, wenn sie auch Horizont und Umfeld sprachlicher Anwendung von Gewalt andeuten. Vielleicht würde hier eine Semantik oder Tiefengrammatik der Alltagssprache für friedenspädagogische Gewaltanalysen weiter führen. Mit einem eher praktisch-empirischen Blick auf die gesprochene Kindersprache der Grundschule lassen sich jedoch möglicherweise vier Arten von Gewaltwörtern unterscheiden6:

  1. Wörter, die direkt Gewalt verbalisieren: totschießen, streiten, ärgern, schubsen, kaputtmachen, zertrampeln, hauen, boxen. Weniger eindeutig: auffressen, brechen, ausbrechen, angreifen, betäuben, anpacken. Letztere Wörter bezeichnen keine geringere oder subtilere Art von Gewalt, sondern ihr Verwendungscharakter wird erst im Zusammenhang der gesamten Sprech-, Denk- und Handlungssituation deutlich: Gerade die vielfältigen undurchschauten Gebrauchsaspekte der Sprache, der Wörter und Sätze der Gewalt lassen Situationen zu, in denen Aggressivität und Gewaltsamkeit als normal empfunden werden.
  2. Instrumentelle Wörter, die Gewalt bezeichnen: Pistole, Pfeil, Pulverplättchen, Kanone, Gewehr, Knüppel.
  3. Institutionelle Wörter des Gewaltbereichs: Polizei, Kripobeamter, Cowboy, Tarzan, Pirat, Bundeswehr, Verbrecher, Marschall, Winnetou. Die Bedeutung dieser Wörter ergibt sich aus ihrer gesellschaftlichen Legitimierung oder Sanktionierung von Gewaltanwendung. Bei dieser handeln nicht Einzelmenschen, sondern Träger von positiv oder negativ besetzten Rollen der gesellschaftlichen Institutionen. Solche instrumentellen wie institutionellen Gewaltwörter haben den Charakter der Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit. In ihrer Verbundenheit sind sie Ausdruck struktureller Gewalt.
  4. Gewaltwörter der Vulgärsprache: ausmeckern, klauen, umlegen, Fresse, stibitzen; aber auch hier nicht zu nennende Fäkalwörter. Schon die Lautmalerei dieser Wörter zeigt auf deren Verwendungssinn. Die Äußerungen der Vulgärsprache sind Ausdruck einer Gewaltsituation, die dem Sprechenden selten bewußt ist. Sie tritt kaum deutlich in Erscheinung und müßte erst durch die Friedenspädagogik voll ins Bewußtsein gehoben werden.

Um zusammenzufassen: Gewalt muß als Relation im alltäglichen Kontext der Umgangssprache lokalisiert, analysiert und möglichst auch beseitigt werden. Nur in diesem Kontext kann sie erforscht werden. Hier entsteht sie, drückt sich aus und vergeht auch wieder. Dies gilt besonders für die ständig sich wandelnde Kindersprache.

Faktoren der Angst und Gewalt in der Kindersprache

Das normale Grundschulkind scheint die ihm zustoßende sowie die es ausübende Gewalt in seiner Umgebung bzw. der gegenwärtigen Gesellschaft unauffällig zu verarbeiten. Ein Großteil der kindlichen Äußerungen bezieht sich auf die täglichen Streitereien und Rangordnungskämpfe. Anteile erfahrener Gewalt sind in den einzelnen Elternhäusern verschieden aufgrund unterschiedlicher Sozialisation. Manche Kinder überkompensieren Gewalt, andere lassen sich einschüchtern. Sie äußern sich in dem Grad über Gewalt, als sie sie erleiden oder selbst ausüben.

Fast alle Kinder spüren Gewaltsamkeit durch Angst, die sie vor Eltern, Nachbarn, großen Tieren oder heimlichen Orten haben7. Ihren Heimlichkeiten und schlechtem Gewissen hinsichtlich der Eltern stehen deren Verbote oder Gebote gegenüber. Auch die Geschwister sind Versuchsobjekte und Vorboten künftiger gesellschaftlicher Gewaltsamkeit. Dabei tritt die Rolle des Fernsehens als Vermittler von Angst und Gewalt hervor. Viele Kinder sehen gerne gewaltsame Fernseh- und Videofilme. Eine erzieherische Verarbeitung findet oft nicht statt. Die unterdrückte Angst führt dann zu Horror- und Gewaltphantasien, die sich in offenen Aggressionen gegenüber der Umwelt entladen können. Auch die Angst vor Tieren und deren Gewaltsamkeit wird oft von den Medien angeregt. Tiere als Kameraden werden heute mit Recht von der ökologischen Friedenspädagogik ernstgenommen.

Schwieriger gestaltet sich das Verhältnis der Kinder zu den Nachbarn. Deren Aggressionen gegenüber Ruhestörungen durch die Kinder ist ein Abbild der kinderfeindlichen Gesellschaft der Gegenwart: Auto und sauberer Rasen werden über die Spielmöglichkeiten der Kinder gesetzt. Besonders ältere Leute schimpfen mit ihnen und üben mit ihren Vorstellungen von Ruhe und Ordnung eine gleichsam privilegierte und institutionalisierte Gewalt aus. Freilich gehört ein Großteil der Spiele der Kinder in den Gewaltbereich. Das zeigen immer wiederkehrende Wörter wie: Verbrecher, überfallen, Krieg, Polizei oder Bundeswehr. Derartige Wort- und Satzketten werden von den Erwachsenen nicht genügend korrigiert. Das liegt wohl an der Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese sollte der Friedenspädagoge bewußt machen, sonst schreiten sie über den Einzelnen hinweg. Opfer dieses Prozesses ist dann das schwächste Glied der Gesellschaft, das Kind.

Für Kinder ist Gewalt nicht nur etwas im Spiel zu Verarbeitendes. Sie ist für sie auch eine Realität, der sie sich bedienen können. Dabei zeigt sich in entsprechenden Aussagen, wie mit der Zunahme der Gewalt auch die Sprache verroht. Die allzu natürlichen und rigorosen Formulierungen einer solchen Kindersprache scheinen die Gewaltstrukturen der tatsächlichen Welt abzubilden, ja fast zu rechtfertigen. Von Standpunkt der Sprache und deren Korrekturen aus muß hier der Friedenspädagoge sehr vorsichtig vorgehen, um von den Kindern nicht nachteilig erlebt zu werden. Letztere handeln ihren Verhältnissen entsprechend. Sie scheinen bei allzu starken Eingriffen durch die Pädagogen sonst ihre Identität zu verlieren: „Ich hab` doch keine Angst, guck mal was ich für Muskeln habe. Ja denks nicht, das mach ich immer alleine, das macht jeder alleine“.

Schulangst und pädagogische Gewalt in der Kindersprache

Diesen individuellen Rigorismus und Durchsetzungsmechanismus kindlicher Gewaltsamkeit zu relativieren, ist eine friedenspädagogische Aufgabe schlechthin. Daß die kritische Analyse der Kindersprache einen Ansatz zur Erkenntnis und damit auch zum Abbau verbaler und schließlich tatsächlicher Gewalt liefern könnte, sei als eine Hauptthese dieser Ausführungen nochmals wiederholt. Denn neben den negativen Äußerungen der Kinder finden sich auch positive oder zumindest offene Ansätze zur Veränderung der Gewaltanwendung, Einsicht in die Willkür gewaltsamer Handlungen und verbaler Kraftakte. Diese erweisen sich bei Kindern oft als überflüssig und peripher, obgleich sich ein Großteil des Schulalltags in solchen Gewaltformen abspielt.

Pädagogisch auffällig sind die oft unrealistischen Vorstellungen der Kinder über die Macht der Schule und Lehrer, ähnlich wie bei Polizei oder Bundeswehr verdrängen sie ihre Ängste in Verharmlosungen oder Übersteigerungen. Diese können dann in verbale oder tatsächliche Gewalt umschlagen, wenn sie nicht korrigiert werden. Flüche, Vorurteile oder Pejorationen hinsichtlich der religiösen oder Intimsphäre der Lehrer, aber auch der Eltern oder Klassenkameraden können die Folge sein. Reflexion über Gewalt in der Sprache ist dann oft nicht mehr möglich. Statt sprachlichem Lernen und Erfinden neuer Wörter in zivilen Umgangsformen findet sich ein Ritual naheliegender Termini aus der Analsphäre mit sadistischer Komponente. Erst im Reflektieren der Kinder auf ihren Wortschatz könnte sich die Möglichkeit friedenspädagogischer Korrektur von Gewalt eröffnen.

Die Kindersprache der Grundschule zeigt, welches Gewaltpotential auf die späteren Schulklassen und schließlich die gesamte Gesellschaft zukommt. Jedoch sind für die Manifestationen direkter und verbaler Gewalt nicht nur die Kinder allein verantwortlich, sondern auch die indirekte und strukturelle Gewalt der gesellschaftlichen Unfriedensverhältnisse. Diese Art von legalisierter und institutionalisierter Gewalt rückt den Kindern täglich in der Schule zu Leibe und drückt sich auch in ihrem Sprachkodex aus. Dabei ist das personale Zwangsmoment des Lehrers kaum von den institutionellen Sanktionen der Schule zu trennen. Die Angst vor dem Leistungsprinzip der Schul- und Hausarbeiten sowie die erwähnte mangelnde pädagogische Aufarbeitung des von den Kindern im Fernsehen Erlebten zeigt die Versäumnisse der Schule und Lehrer.

Zwar können sich die Kinder an bestimmten Schwachstellen des Schulsystems wehren, ja ihre schlechten Schulleistungen als einen immanenten Protest gegen Überforderungen und unfähige Lehrer darstellen. Aber das geschieht selten und meistens zu ihrem eigenen Schaden. Vor allem läßt bei derartigen Protesten von Gegengewalt und Durchsetzung im Sinn von Lohn und Strafe die sprachliche Genauigkeit und pädagogische Sensibilität nach, Vulgärwörter, unverständlicher Dialekt und Jargon stellen sich ein. Letzterer wird oft aus dem Amerikanischen entlehnt und ist dem Außenstehenden kaum noch verständlich. Es werden Klischees, Idiome und Verhaltensnormen von Erwachsenen übernommen, die nicht durchschaut und daher oberflächlich oder abfällig gebraucht werden. Was beim Erwachsenen als nicht mehr korrigierbar erscheint, kann jedoch beim Kind auf ein Sensorium für Sprache und Abscheu vor verbaler Gewalt stoßen. Hier könnte eine erzieherische Friedensethik die Gewaltsamkeit in der Kindersprache eindämmen. Ja das Ziel einer sprachphilosophisch fundierten Friedenspädagogik müßte eine solche Ethik sein. Diese hat sich letztlich in der Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber seiner eigenen Sprachführung zu zeigen; wenn auch bei wechselndem Sprachkodex und Kontext.

Resümee über Gewalt und Frieden in der Kindersprache

Ein Resümee des bisher Gesagten stellt zunächst die Frage nach der Aufarbeitung von Gewalt in der gesprochenen Kindersprache. Gewalt muß, wie erwähnt, für die Kinder als ein normales und natürliches Phänomen aufgefaßt werden. Wenn sie als personale und direkte Gewalt auftritt, reagieren die Kinder meistens mit Aggressionen und Gegengewalt. Manchmal antworten sie mit Ersatzhandlungen, Fiktionen und Projektionen auf ältere Geschwister, bewunderte Freunde oder Idole, deren Gewaltverhalten sie nachahmen. Fast nie aber reagieren sie mit rationalen Lösungsversuchen. Die meisten sprachlichen Äußerungen der Kinder erscheinen dann egozentrisch und undistanziert gegenüber Gewalt. Dieser sind sie ausgeliefert und reagieren eher reflexiv als reflektiert. Sie folgen einer Hack- und Gewaltordnung, der sie sich anpassen; oder sie schlagen zurück.

Die Kinder besitzen nicht die Verdrängungs-, Verschiebungs- und Sublimierungsmechanismen, mit denen Erwachsene ihren eigenen infantilen Bedrohungsängsten entgehen und Gewaltsamkeit verarbeiten. Zwar verfügen die Kinder noch über das freie Spiel, auch das „Sprachspiel“ (Wittgenstein), das sie oft weit von ihren tatsächlichen Erfahrungen einsetzen. Das Gewaltphänomen ist dann als realitätsferne Phantasie mit einem abenteuerlichen Reiz versehen, das die Neuen Medien ausbeuten8. Gerade wegen solcher phantastischen und irrationalen Momente im Gewaltverhalten ist jedoch dem Kind die Differenzierung von Gewaltsamkeit im Umgang mit Sprache und Menschen zuzumuten.

Friedenspädagogische Konsequenz aus diesen Problemen ist, daß die Fähigkeit zur Gewaltanwendung gelernt und eingeübt wird. Deren Ursachen liegen in Erfahrungen der Sozialisation und mißlungenen Kommunikation. Die Kinder werden die von ihnen erlittene und auch ausgeübte Gewalt in ihr späteres Erwachsenenleben mitbringen. Dieses Potential kann je nach Erziehung und Umwelt eskalieren oder sich sublimieren. Unkorrigierte und unreflektierte kumulative Gewalterfahrungen werden jedoch zur Steigerung der infantilen Verhaltensweisen führen: bis hin zur personalen Gewalt der Erwachsenen im privaten Bereich oder zur strukturellen Gewalt im sozialen Raum von Staat und Gesellschaft.

Schluß

Aus der Kindersprache der Grundschule lassen sich unter friedenspädagogischem Aspekt etwa folgende Konsequenzen und Diskussionspunkte ziehen9:

  1. Rationales und logisches Sprechen macht das Kind kritik- und widerstandsfähiger gegenüber Gewalt. Es reflektiert auf seine eigene Sprachlichkeit und relativiert dadurch seine Handlungen. Es bemächtigt sich also nicht sofort seiner Umgebung, sondern lernt in kritischer Distanz den adäquaten Stellenwert seiner Wörter und Sätze in offenen und komplexen Situationen zu durchschauen, einzuüben und anzuwenden. Friedenspädagogischer Ansatzpunkt ist also die Einübung kritisch-analytischer und logischer Fähigkeiten beim Kind mit dem Ziel praktischer Sprachkompetenz im Umgang mit der Unfriedlichkeit der gesellschaftlichen Umgebung.
  2. Obgleich das Kind im Sprechen und Handeln ein spezifisch naives und infantiles Verhalten zur Gewalt ausdrückt, zeigt es doch oft eine richtige Einschätzung der eigenen und fremden Kräfte sowie einen empfindlichen Gerechtigkeitssinn. Friedenspädagogischer Ansatzpunkt ist hier die Bestärkung dieser Sensibilitäten durch Erfolgserlebnisse, durch entsprechende Strukturierung der Umwelt sowie Einübung der Distanz zu unmittelbarer Befriedigung aggressiver Bedürfnisse.
  3. Gewaltverhältnisse werden vom Kind oft schicksalhaft und passiv empfunden und im Sinn von Befehl und Gehorsam erlitten und akzeptiert. Das eigene Verhalten wird dabei als normal und natürlich aufgefaßt, Die Situation, meistens repräsentiert durch Erwachsene oder Gruppen, erscheint dem Kind oft als übermächtig. Es paßt sich an, flüchtet in Projektionen oder reagiert mit Gegengewalt. Friedenspädagogisch bedeutet dies das Lernen und Einüben konkreter Verhaltensweisen in solchen Gewaltsituationen. Das heißt aber auch deren sprachliche Aufarbeitung: mit den Kindern sollte ein Analysieren, Üben und Anwenden passender Wörter und Sätze in den entsprechenden sozialen und kommunikativen Lebensformen stattfinden. Dies könnte schließlich auch die Kritik und Beseitigung der Gewalt durch die Kinder selbst bedeuten.

Die Einbindung dieser Programmpunkte in eine noch weiter voranzutreibende Analyse der Gewalt wäre eine wichtige Aufgabe bei der Darstellung der gesprochenen Kindersprache in erweiterten Projekten, z.B. durch die Analyse der Lehrersprache. Solche Projekte müßten schließlich in einer entwickelten Friedensethik und Philosophie der Kindersprache ihren Höhepunkt finden, der sich über der Unfriedlichkeit und Friedlosigkeit des Alltags erhebt. Dadurch würde die Gewaltsamkeit der noch immer nicht voll miteinander kommunizierenden Menschen beseitigt oder zumindest gemildert.

Prof. Dr. phil. Karl Brose ist Privatdozent an der Univ. Münster.