Israel am Scheideweg

Israel am Scheideweg

Interview mit Moshe Zuckermann

von Moshe Zuckermann und Connection e.V

Moshe Zuckermann zählt seit Jahren zu den israelischen Persönlichkeiten, die sich für ein Ende der Gewalt und einen Friedensprozess mit den Palästinensern einsetzen. Am 11. Mai 2002 interviewten ihn Rudi Friedrich und Karin Fleischmann für Connection e.V. Das Interview erscheint demnächst in: »Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel – Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung«, Hrsg. Connection e.V., Offenbach, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Grafenau. Mit Genehmigung des Verlags und des Autors veröffentlichen wir vorab Auszüge aus diesem Interview.

Gegenwärtig eskaliert die Gewaltspirale. Um dem ein Ende zu setzen, sprechen Sie davon, dass Israel zuallererst die Okkupation beenden müsse. Welche denkbaren Szenarien sehen Sie für die israelische Gesellschaft?

Ich sehe es als ein Horrorszenario. Israel steht am Scheideweg. Eine finale Lösung des Konflikts stellt für die jüdische Bevölkerung Israels mehr oder weniger eine Entscheidung dar zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera. Ich will die verschiedenen Szenarien kurz darstellen:

Im ersten Szenario würde Israel die besetzten Gebiete – und hier rede ich vor allem von der West Bank – zurückgeben. Dann reicht es durchaus aus, dass sich 5.000 Hardliner der Siedlerbewegung in der West Bank verschanzen und sagen: „Nur über unsere Leichen.“ Damit käme es zu einer Situation, in der der Staat Israel gefordert wäre, sein Gewaltmonopol gegen die Siedler einsetzen zu müssen, in der unter Umständen Juden auf Juden schießen würden, was eine Spaltung der israelisch-jüdischen Gesellschaft zur Folge hätte. Dieses Szenario birgt zumindest potenziell die Tendenz eines Bürgerkrieges in sich. Ich sage nicht, dass es so kommen muss, aber es ist eine für viele Israelis zu befürchtende Bedrohung.

Sollte sich Israel aber entscheiden, die Gebiete nicht zurückzugeben, was ja bislang der Fall ist, dann gibt es zwei mögliche Varianten für das zweite Szenario:

Eine Variante würde ich als »linke« bezeichnen, die unter anderem von dem Jerusalemer Meron Benvenisti vertreten wird. Er sagt, dass die in den letzten 25 Jahren entstandene Infrastruktur in den besetzten Gebieten im Grunde irreversibel sei. Es sei schlechterdings unmöglich geworden, alles zurückzugeben, da so viel investiert worden sei und in diesen Territorien inzwischen sehr viele Menschen, über 200.000 Juden, lebten.

Die zweite Variante ist die rechtsextreme, die postulierte Nichtrückgabe der Gebiete. Dies würde objektiv bedeuten, dass Israel in einem Dauerzustand der Okkupation und der akuten Gewalt verharrt.

Weigert man sich, die Gebiete zu räumen – unabdingbare Voraussetzung einer jeglichen künftigen Regelung – dann müsste die gesamte palästinensische Bevölkerung in den israelischen Staat integriert werden. Unabhängig davon, ob sich die Palästinenser je auf eine solche Lösung einlassen würden, hätten damit beide Varianten objektiv zur Folge, dass eine binationale Struktur geschaffen würde, dass quantitativ die Verhältnisse binational durchwirkt sind. So hat Israel also, wenn es von zionistischer Warte zum Schlimmsten kommt, letztlich die Wahl zwischen einem potenziellen Bürgerkrieg und einer binationalen Struktur.

Der entscheidende Punkt ist: Damit wären gerade die zentralen Postulate des Zionismus aufgehoben. Alle aufgezeigten Varianten bedeuten für den jüdischen Israeli, der sich als Zionist versteht, dass das zionistische Projekt historisch mehr oder weniger ad acta gelegt wäre.

Das ist der Grund, warum die israelische Gesellschaft in einem Zustand verharrt, in dem keine Entscheidung getroffen wird. Lieber werden Terroranschläge hingenommen, es wird sogar hingenommen, dass das eigene, so hoch gelobte Militär in die West Bank eindringt und sich dort barbarisch gebärdet. Die jüdische Bevölkerung Israels ist eher bereit, dies alles hinzunehmen, als eine historische Entscheidung an dieser Weggabelung zu treffen. Diese muss aber getroffen werden. Es ist eine Entscheidung, die bedeuten könnte, dass das große zionistische Experiment beendet wird, dass die eigene Identität wesentlich zu transformieren ist, dass man sich von nationalen Mythen verabschieden muss, die seit nunmehr über hundert Jahren bestehen.

Wie stellt sich denn die Situation für die Palästinenser dar?

Was für die jüdischen Israelis 1948 die Gründung eines eigenen Staates und somit ihre nationale Emanzipation war, bedeutete für die Palästinenser, ihre Nachbarn, eine Katastrophe. Diese besteht seit nunmehr über fünfzig Jahren fort, nicht nur als Ideologie, sondern als tagtägliche Realität, als eine Degeneration von ganzen Lebenswelten. Sie zeigt sich in Ausbeutung, Verfolgung, Gewalt und Ermordungen. Es ist eine Repression, die nicht nur dann zutage tritt, wenn Blut fließt, sondern auch im alltäglichen Leben, wenn man beispielsweise sieht, wie Menschen im Flüchtlingslager leben.

Daher wird es eine Sache nicht geben: Dass die Palästinenser mit dem Widerstand, dem Guerillakrieg, auch nicht mit dem barbarischen Terror aufhören, solange die Ursache für all diese Aktionen der Palästinenser nicht aus der Welt geschafft ist: die Okkupation. Ich kenne historisch kein einziges Beispiel eines Landes, eines Volkes, das längerfristig bereit war, die Unterdrückung durch ein anderes Kollektiv hinzunehmen.

Die Gewalt ist geprägt von einem massiv handelnden israelischen Militär und den Guerilla- bzw. Terroraktivitäten der Palästinenser. Es kann nicht von einer militärischen Auseinandersetzung die Rede sein, sondern von einer asymmetrischen Situation zwischen einer der stärksten Militärapparate der Welt und einer Befreiungsbewegung, die zwangsläufig auf den Guerillakrieg angewiesen ist.

Kann denn der von der israelischen Regierung forcierte militärische Einsatz die Selbstmordanschläge beenden?

Den Terror der Selbstmordanschläge kann man gar nicht militärisch bekämpfen – gerade wegen seiner Unsichtbarkeit, wegen seiner elastischen Infrastruktur. Das dürfte eigentlich allen klar sein. Das Militär kann zeitweise Stützpunkte des Terrors ausheben, aber nur um in Kauf zu nehmen, dass dabei immer neue Terroristen geschaffen werden. Man kann nur die ökonomischen, mithin sozialen Ursachen des Terrors bekämpfen. Aber auch der palästinensische Terror, so gezielt und durchdacht er eingesetzt werden mag, kann den fortwährenden Zustand einer Jahrzehnte dauernden Okkupation nicht beseitigen. Es gibt keine militärische Lösung für das politische Problem.

Wenn Israel weiterhin ein Okkupationsregime bleibt, dann wird sich der Terror nicht in Wohlgefallen auflösen. Er stellt doch in diesem Fall die Kampfwaffe der Armen, der Unterlegenen, der Verfolgten dar, so brutal und inhuman er an sich sein mag. Bleibt die Situation so, wird Israel für meine Begriffe längerfristig in seiner Existenz bedroht sein. Es kann nicht ewig im Zustand des Krieges existieren.

Israel – eine militarisierte Gesellschaft

Israel ist ein stark militarisiertes Land. Das spiegelt sich ja unter anderem in einer hohen personellen Übereinstimmung des politischen Establishments mit dem Militär wider. Viele Politiker haben eine Karriere in der Armee durchlaufen. Wie drückt sich diese Situation in Israel aus?

Ich glaube, in der Frage ist schon die Antwort angelegt. Der Übergang vom militärischen zum zivilen Bereich ist sehr fließend. Jeder Jugendliche ist wehrpflichtig und erfährt im Militär eine bestimmte Form der Sozialisation zum israelischen Bürger. Im Militär ist eine eigene, viele Bereich umfassende Subkultur entstanden

Darüber hinaus produziert ein nicht zu unterschätzender Teil der israelischen Industrie Rüstungswaren. Die zivile Ökonomie ist mit dem Militär verkettet; die gegenseitigen Interessen werden tagtäglich ausgetragen und gewahrt.

Letzten Endes gründet sich diese starke Stellung des Militärs darauf, dass die Begriffe der Sicherheit und Wehrhaftigkeit von Anbeginn wesentliche Momente der klassischen zionistischen Ideologie ausmachten.

Nun führt die Allgegenwärtigkeit des Militärs ja nicht nur zur sichtbaren Präsenz von Soldaten, zur Durchdringung der Ökonomie, sondern bestimmt auch den Diskurs der Gesellschaft. Indem auf die Anschläge der palästinensischen Seite nur mit Gewalt reagiert wird, ist offensichtlich die militärische Option gewählt worden. Erklärt sich das allein aus der Ideologie des Zionismus und der Erfahrung des Holocaust?

Das Problem ist nicht so sehr darin zu sehen, dass das Militärische mit der Erfahrung des Holocaust und dem damit einhergehenden historischen Angstsyndrom begründet wird, sondern vielmehr, inwieweit es wiederum ideologisiert, fetischisiert, verdinglicht, mithin zum destruktiven Machtinstrument verkommt. Die zweitausendjährige Verfolgungsgeschichte verstärkt natürlich das Selbstverständnis, dass »wir« stark werden und bleiben müssen. Das Problem liegt ja nicht darin, dass der Zionismus nicht das Recht hätte, sich zu wehren, falls er angegriffen würde. Das Problem ist vielmehr darin zu sehen, dass die Ideologie der Sicherheit und Selbstverteidigung gewendet und umfunktionalisiert wurde, und zwar in ein Aggressionsideologem, welches das Militär zwangsläufig zu einem verlängerten Arm der Aggressionspolitik Israels werden lässt.

Die gesellschaftlich homogenisierende Identifikation kann bis heute nur über das Negative geschaffen werden. Das bedeutet mutatis mutandis, dass das Sicherheitsthema immer die Funktion erfüllte, die normalerweise das staatsbürgerliche Bewusstsein oder die Zivilgesellschaft hätte positiv liefern müssen.

Sie wissen ja, es ist das erste Gesetz der Sozialpsychologie: Will man eine Gruppe solidarisieren, will man sie zusammenbringen und festigen, muss man einen äußeren Feind schaffen. Solch ein Feind entstand jüngst bzw. wurde wiederbelebt durch die von den Palästinensern entfachte Intifada. In dem Moment, als die Intifada für Israel eine Bedrohung darstellte, als sie im Alltagsleben Opfer von Terroranschlägen forderte, rückte der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung zusammen. Gerade in der derzeitigen Situation scheinen die inneren Widersprüche und Gegensätze »gelöst« zu sein, da es einen neuen-alten Feind von außen gibt.

Welche Gruppen haben denn in Israel ein Interesse an der Fortsetzung des Krieges?

Es gibt zunächst mal die militärische Elite, die bei Sicherheit fast immer in Kategorien militärischer Gewalt denkt. Selbst wenn es keinen Krieg gibt, argumentiert diese für die Aufrechterhaltung einer (in sich durchaus verständlichen) ständigen Bereitschaft des Militärs, was mutatis mutandis heißt, dass militaristisch gedacht wird.

Es ist aber auch das Militär selbst, das mit der Begründung der Wehrhaftigkeit argumentiert, um vergrößerte Budgetanteile zu erhalten. Als jemand, der lange genug selbst beim Militär war, sage ich, dass es dabei seine Forderungen immer völlig überspannt. Das Militär stellt in Israel eine ausgesprochene Berufssparte dar, mithin eine Option für eine Karriere, die sogar politische Perspektiven eröffnet. Auch die Waffenindustrie hat ein sehr starkes Interesse, dass die Wehrhaftigkeit Israels weiter auf der Tagesordnung steht. Auf keinen Fall sollten wir in diesem Zusammenhang diejenigen vergessen, die aus ideologisch-politischen Gründen die besetzten Gebiete nicht zurückgeben wollen. Das können sie am besten garantieren, wenn kein Frieden eintritt, der Krieg oder zumindest ein Ausnahmezustand aufrechterhalten wird.

Wie werten Sie die Rolle der Hardliner auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite?

Zwischen den israelischen und palästinensischen Fundamentalisten gibt es ein Komplementärverhältnis. In ihrem je eigenen Interesse instrumentalisiert jede Seite die Untaten der anderen und macht sie öffentlich-moralisch zum Politikum. Das würde ich in gewissem Maße sogar für die hohe Politik konstatieren. Nichts kann dem israelischen Ministerpräsidenten Sharon mehr zupass kommen, als die Selbstmordanschläge der Palästinenser. Sie gaben ihm die Möglichkeit, das zu tun, was er seit Jahren will: Die Autonomiebehörde zerschlagen, die Palästinenser niederkämpfen. Wäre es ihm nur von Seiten der USA gestattet worden, hätte er auch Arafat liquidiert und damit alle aktuellen Vorbereitungen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zunächst mal außer Kraft gesetzt.

Auf der palästinensischen Seite stellt sich die Sache ähnlich dar, obwohl es ja kein palästinensisches Militär gibt. Die palästinensische Elite instrumentalisiert das ideologische Interesse für den Befreiungskampf. Sie plant nicht den infrastrukturellen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Aufbau der Gesellschaft, sondern erhält über die militärischen Apparate den eigenen Machtstatus aufrecht. Das gilt ganz bestimmt für Arafat, aber auch für nicht wenige Leute in seinem Umfeld. Die haben die von außen eingeflossenen Gelder vor allem dazu benutzt, die militärische Infrastruktur aufzubauen, wie auch die Gewaltapparate für den innerpalästinensischen Gebrauch. Darüber hinaus gibt es auch bei den Palästinensern eine durch den nun schon lange andauernden militärischen Widerstand gestählte und geschärfte Militärelite, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hat.

Das heißt, allein aus dieser Perspektive heraus gibt es einen komplementär verschwisterten Interessenverbund, der sich dahin ausgewirkt hat, dass die hohe Politik auf beiden Seiten bislang eher eine Politik des Machterhalts ist als eine Politik der Versöhnung und Konfliktbeilegung.

Internationale Interessen und Handlungsoptionen

Es ist auch diskutiert worden, ob eine internationale Friedenstruppe sozusagen handstreichartig für Ruhe in Nahost sorgen könnte. Inwieweit kann Ihres Erachtens internationaler Einfluss der USA oder der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges und Konfliktes führen?

Der entscheidendere Punkt ist doch: Israel ist eine der stärksten Militärmächte der Welt. Eine von außen oktroyierte, per Gewalt durchgesetzte Lösung würde – zumindest tendenziell – bedeuten, dass der Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird.

Wir müssen uns aber zunächst fragen, ob denn die USA oder die Europäische Union überhaupt ein ernsthaftes Interesse daran haben, den Konflikt zu lösen. Die immer wieder zu hörende Rhetorik einer vermeintlich amerikanisch-israelischen Gesinnungsgemeinschaft beruht meines Erachtens auf einer Täuschung. Man muss sich von all den diesbezüglichen Slogans der USA verabschieden. Es geht den USA nicht um den Kampf für Menschenrechte, den Kampf für Demokratie und seit dem 11. September den so genannten »Krieg gegen den Terror«. Meines Erachtens geht es vielmehr um die Weichenstellung für die Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts, in dem die USA auch weiterhin eine große wirtschaftliche Rolle spielen werden.

Unter diesem Gesichtspunkt betreiben die US-Amerikaner eine Politik der hegemonialen Einflussnahme. Neben der Präsenz der NATO im Balkan und neben den Aktivitäten der USA in Südamerika betrifft das vor allem zwei Gebiete: die Golfregion und Zentralasien.

Ich will hier nur auf die Golfregion eingehen. Bush senior hatte im Zuge des Krieges des Irak gegen den Iran zunächst Saddam Hussein mit aufgebaut und bewaffnet. Anfang der 90er Jahre, als sich herausstellte, dass Saddam Hussein den US-amerikanischen Interessen entgegen handelte, wurde dieser schlagartig zum neuen »Hitler« erklärt und Krieg gegen ihn geführt. Was der Senior angefangen hatte, könnte der Junior zu Ende führen wollen.

Die USA werden sich daher nur dann in den Nahostkonflikt einmischen, wenn es ihren geopolitischen Interessen konkret entspricht. Es ist ihnen letztlich ziemlich egal, ob die Menschen im Nahen Osten ausbluten oder nicht. Schon während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion wurde der Nahe Osten wiederholt zum Experimentierfeld für die Erprobung neuer Waffenmaschinerien gemacht. Wenn es aber im Interesse der USA liegt, könnten sie durchaus Israel unter starken ökonomischen und politischen Druck setzen.

Was meinen Sie mit starkem ökonomischen und politischen Druck?

Ich gehe z.B. davon aus: Bei einem totalen Boykott Israels, das Israel ins ökonomische Matt setzte, mithin ans existenziell Eingemachte ginge, würde Druck von der israelischen Bevölkerung kommen.

Aber in anderen Ländern, wie in der Bundesrepublik Jugoslawien mit Serbien und Montenegro, hat das über Jahre eher dazu geführt, dass sich die Bevölkerung zusammengeschlossen hat und das Regime gestärkt wurde. Sähe das in Israel wirklich anders aus?

Man kann gerade in einer globalisierten Gesellschaft, gerade in einer Gesellschaft, die so stark vom Export abhängig ist wie Israel, durch einen Boykott Druck erzeugen. Israel könnte aber auch schon politisch dadurch unter Druck gesetzt werden, wenn die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat Israel die Unterstützung entziehen würde, mitunter wenn gegen Israel gerichtete Beschlüsse mit zusätzlicher Zustimmung der USA und der Europäer gefasst werden würden. Spätestens dann, meine ich, geriete Israel in Zugzwang, wenn es keinen politischen Selbstmord begehen wollte.

Unter den israelischen Linken in Israel ist die Frage eines Gesamtboykotts strittig. Die Geister scheiden sich, ob eine solche Initiative aus Israel oder von außen kommen muss. Aber man ist sich sehr wohl im Klaren, dass es objektive Möglichkeiten gibt. Es stimmt wohl, dass sich die Israelis ideologisch verschanzen, viele auch den beliebten Spruch »Die ganze Welt ist gegen uns« leichtfertig benutzen. Aber wenn es wirklich ernst wird, es eine wirklich bedrohliche wirtschaftliche Rezession gäbe, die die Lebensgrundlagen zerstörte: Dann würden, meine ich, viele zur Vernunft kommen.

Kritik an Israel = Antisemitismus?

In Deutschland wird eine intensive Debatte darüber geführt, ob eine Kritik an der israelischen Politik per se auch antisemitisch ist oder doch zumindest den latent vorhandenen Antisemitismus schürt. Wie stehen Sie dazu?

Wo es Antisemitismus gibt, das Paradigma des rassischen Vorurteils, das im Nationalsozialismus in der Shoah kulminierte, muss er ganz unabhängig vom Nahostkonflikt permanent und unnachgiebig bekämpft werden.

Aber sehen Sie, linkes Denken ist für mich ohne eine emanzipative Ausrichtung nicht denkbar. Die Kategorie der Emanzipation muss danach überall in der Welt, in jeder Gesellschaft, zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte anwendbar sein. Im Verhältnis zu Palästina z. B. präsentiert sich Israel als ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung, zumindest in den letzten 33 Jahren. Und wenn dem so ist, muss man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen: Jede Linke auf der Welt – auch eine deutsche – hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage.

Ich glaube, das Dilemma liegt nicht in der Frage, ob die deutsche Linke das Recht hat, Israel zu kritisieren. Entscheidender ist, in welcher Absicht kritisiert wird; ob sich in die Kritik Elemente einschleichen, die sich als zutiefst anti-emanzipativ erweisen und mit denen die Kritik lediglich instrumentalisiert wird.

Prof. Dr. Moshe Zuckermann ist Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv und lehrt am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas. Deutschsprachige Veröffentlichungen sind unter anderem: Gedenken und Kulturindustrie, Berlin und Bodenheim 1999; Zweierlei Holocaust – Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998; Kunst und Publikum – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2002.

Kampf gegen den Terrorismus?

Kampf gegen den Terrorismus?

Worum es bei der jüngsten Konflikteskalation geht

von Rainer Zimmer-Winkel

Der lange Schatten des 11. September und die sich daran entzündende internationale Debatte um den »Kampf gegen den Terrorismus« liefern der israelischen Regierung unter Ariel Sharon den willkommenen Rahmen und das propagandistische Instrumentarium für ihre rüde Herr-im-Hause-Politik gegenüber den Palästinensern. Nach Rainer Zimmer-Winkel handelt es sich aber im Wesentlichen um eine konsequente – und fatale – Fortsetzung der schon von Ehud Barak initiierten Anstrengungen, die unvermeidlichen schmerzhaften Kompromisse hinauszuzögern, um den Traum von Groß-Israel vielleicht doch nicht aufgeben zu müssen.
Wer einmal in den letzten Monaten den Amtsitz von Yassir Arafat, dem Ra’is der Palästinensischen Autonomiebehörde und palästinensischen Präsidenten, besucht hat, wird in der Erinnerung versucht sein, eher an ein surreales Gemälde, an eine kafkaeske Situation zu denken, als an den Besuch bei einem Nobelpreisträger, der an der Spitze der Exekutive eines »Staates im Werden« steht: Die Szenerie wirkt gespenstisch. Vorbei an Panzern, patrouillierende israelische Soldaten rechter Hand, zerbombte Häuser linker Hand, herabhängende Betonteile flimmern in der Hitze…, über leergeräumte Bereiche geht es zum letzen Rest, zum »Amtssitz«, zur Mukatar… Sandsäcke, einige Soldaten, eiserne Schießstände, gespannte Ruhe, freundlicher Empfang, man zwängt sich durch schmale Gänge, vorbei an ein paar Jugendlichen mit Waffen, und gelangt in das Arbeitszimmer des Präsidenten…: Ein Staat im Werden, wie einst die Vision hieß, die mit dem Namen Oslo verbunden ist?

Besatzungsregime im Schatten des 11. September

Der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon hat vor einiger Zeit in einem Interview bekannt, es zu bedauern, daß Arafat 1982 in Beirut nicht getötet worden sei. Drinnen im Bunker spricht der Ra’is vom „Frieden der Tapferen“, zu dem er sich zusammen mit Rabin entschieden habe, und von dem schmerzhaften Weg, der dorthin geführt habe.

Minister der israelischen Regierung fordern offen den „Transfer der Araber“ aus»Erez Israel«, dem Land Israel; Plakate überall in Israel sekundieren: „Transfer = Sicherheit und Frieden“. Ein Vertragspartner wird vor den Augen der Welt zuerst verbal demontiert, dann wird physisch nachgeholt: Mit der Zerschlagung der Autonomie, der Zerstörung ihrer politischen Infrastruktur.

Neun lange Jahre hat die Palästinensische Autonomie (PA) versucht, den Spagat zwischen den eigenen nationalen Aspirationen, den Hoffnungen der eigenen Bevölkerungen und den Forderungen der israelischen Seite auszuhalten. Außer Briefmarken und einem der größten Kabinette der Welt – pro Kopf der Bevölkerung gerechnet – hat die PA heute wenig anzubieten, so die innerpalästinensische Kritik. Die ökonomische Situation der Menschen ist schlechter als jemals zuvor. Nach dem neuesten Bericht von UNICEF1 leiden etwa 20% der palästinensischen Kinder an Unterernährung; die Arbeitslosigkeit läßt sich kaum noch beziffern, liegt aber bei etwa 2/3 der arbeitsfähigen Bevölkerung; Bewegungsfreiheit zwischen Dörfern und Städten gibt es schon lange nicht mehr; das Recht auf freie Religionsausübung ist faktisch aufgehoben; eine palästinensische Polizei, sei es zur Verkehrsregelung oder zur inneren Sicherheit, hat aufgehört zu existieren.

Die Angst vor Terroranschlägen läßt die Fußgängerbereiche in Tel Aviv leer werden. Cafés stellen Wächter vor die Türen, Busbahnhöfe verwandeln sich in Hochsicherheitstrakte ähnlich wie Flughäfen. Und dennoch gelingt es Palästinensern in der Cafeteria der Hebräischen Universität in West-Jerusalem wie auf dem Weg nach Safad/Zefat Sprengstoffanschläge zu verüben.

Wie lautet die Antwort der amtierenden israelischen Regierung, deren Spitze, Ministerpräsident Ariel Sharon, zum Amtsantritt versprochen hatte, binnen hundert Tagen für Ruhe an der palästinensischen »Front« zu sorgen? Die Institutionen der palästinensischen Behörden werden bombardiert (oder gesprengt, wie zum Beispiel in Hebron), besonders die Gebäude der Sicherheitsdienste; die Infrastruktur der besetzten und ehemals teilautonomen Gebiete wird zerstört (wie beispielsweise der Flughafen in Gaza, zahlreiche Straßen und vieles andere mehr); die Städte werden zuerst belagert, eingeschnürt, dann wieder besetzt, tageweise oder wochenlang; Flüchtlingslager werden durchkämmt, Ausgangssperren verhängt, wirtschaftlicher Austausch wird unterbunden; Tausende werden verhaftet (oder genauer: einfach festgesetzt); unzählige Olivenbäume werden vernichtet, Äcker verwüstet – und nicht zuletzt wird in gezielten und geplanten Aktionen politisches Führungspersonal der palästinensischen Seite ermordet (»extralegale Hinrichtungen«). Gerade diese letzte Maßnahme ist, jenseits ihrer moralischen und völkerrechtlichen Dimension, ein probates Mittel, Kompromißbereitschaft und Verhandlungswillen auf der palästinensischen Seite dauerhaft zu schwächen und die militanten und gewaltbereiten Gruppen unter Zugzwang zu setzen.

Ariel Sharon, ein israelischer Politiker mit einer langen und zum Teil außerordentlich blutigen Biographie, hat in seinem Land zwei Ehrentitel (oder Spitznamen): »Vater der Siedlungen« und »Bulldozer«. Beide Namen werfen ein signifikantes Licht auf die politische Persönlichkeit des Regierungschefs, beide Begriffe geben auch Hinweise darauf, was dieser Mann will. Die zionistische Landnahme, das Projekt der Errichtung eines jüdischen Staates im historischen Palästina, ist für ihn noch immer nicht abgeschlossen. Träumt er also weiter von einem »Groß-Israel«, wie es einige Falken von den rechtsnationalistischen und extremen Gruppen in seiner Regierung wünschen? Oder ist er so pragmatisch, die demographischen und politischen Wirklichkeiten anzuerkennen und verzögert er nur das auch ihm Unvermeidliche? Will er ein »Palästina«, das den Namen Staat trägt, ohne die Vorraussetzungen dafür zu erfüllen, verschiedene Bantustans also, Enklaven, die jederzeit abzuschließen wären?

In seiner Rede an die Nation vom 21. Februar 2002 schlug Sharon sog. Pufferzonen um die palästinensischen »Autonomiegebiete« vor, die Israels Sicherheit gewähren sollten. Die so entstehenden palästinensischen »homelands« böten – umgeben von der israelischen Armee – den enormen Vorteil, daß die Siedlungen nicht aufgegeben werden müßten, erhielte eine solche Regelung die Zustimmung der palästinensischen Seite. Ohne genau angeben zu können, was sich dann als »Staatsgebiet« Palästinas herausstellen würde, dürfte es sich um ein Gebiet etwa in der Größenordnung von 40% der Gebiete handeln – 40% von 22% des Mandatsgebietes. Im Kern der Auseinandersetzung geht es deutlich um die Frage, ob es in Israel eine politische Mehrheit dafür gibt, dem Staat im eigenen Selbstverständnis (endlich) anerkannte Grenzen zu geben und die Nationalbewegung der Palästinenser nicht nur als Erfüllungsgehilfen der eigenen politischen Bedürfnisse anzusehen, sondern als gleichberechtigten Partner.

Sharon und seiner Regierung scheint es im Zuge der internationalen und insbesondere us-amerikanischen Debatte nach dem 11. September gelungen zu sein, einen Konnex zwischen der Bekämpfung integrationalistischer islamischer Strömungen und der Besetzung Palästinas durch die eigene Armee herzustellen. Dabei konnte Israel ohne Zweifel an tief sitzende, wenig artikulierte, aber dennoch wirkmächtige Vorbehalte, besonders in den USA gegenüber den Palästinensern und ihrer politischen Spitze, Yassir Arafat, anknüpfen. Der PLO, als einer der (politisch) erfolgreichsten Befreiungsbewegungen im Zuge der Dekolonisierungsbewegung, war es zwar gelungen, weitgehende internationale Anerkennung zu finden; in den Vereinigten Staaten jedoch blieb ihre Position immer schwächlich – ein Umstand, der es Georg W. Bush sehr erleichtert hat, seine unausgewogene, kurzsichtige (und an den nicht erreichten Idealen seines Vaters orientierte) Politik zu realisieren.

Intifada und »Islamischer Terrorismus«

Welchen Hintergrund aber hat die sog. Intifada II, die Jerusalem- oder Al-Aqsa-Intifada? Was verbindet, was trennt sie von der Debatte um den sog. islamischen Terrorismus? Als am 28. September 2000 der damalige Oppositionschef Ariel Sharon in Begleitung Tausender Sicherheitskräfte seinen »Besuch« auf dem Haram as-Sharif, dem sog. Tempelberg, machte, verstieß dieser Besuch nicht allein gegen die orthodox-religiöse Anordnung, derzufolge Juden das Betreten dieser Stätte untersagt ist, liefen sie doch Gefahr, den Ort des antiken Allerheiligsten zu betreten; er erweckte vor allem – sicher bewußt und absichtsvoll – den Eindruck, diese heilige Stätte des Islam anzutasten.

Die auf diesen Besuch folgenden Unruhen waren ungleich heftiger als die bei Öffnung des sog. Tunnels wenige Jahre zuvor schon blutig ausgebrochenen. Innerhalb zweier Monate starben 212 Palästinenser, nicht zuletzt aufgrund völlig unangemessener, auf Eskalation statt auf Deeskalation angelegter Reaktionen der israelischen Sicherkräfte auf die Proteste der Palästinenser. Eine Reihe von Beobachtern, auch in Israel, sah in den Unruhen und der israelischen Reaktion eine gerade Linie seit dem Ende der Camp-David-II Verhandlungen wenige Monate zuvor.2Nachdem es dort Barak gelungen war – nicht zuletzt mit Hilfe des US-amerikanischen Präsidenten Clinton –, das Ende oder Scheitern des hastig und schlecht vorbereiteten Gipfels in die alleinige Verantwortung Arafats zu schieben, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die angespannte Stimmung explodieren würde.3 Denn damit begann eine Kette von Maßnahmen, die zum Ziel hatten, nicht allein Arafat zu diskreditieren, sondern in der israelischen Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, das Land habe auf der »anderen Seite« keinen Partner für Frieden mehr.4 Sharon hat diese Linie konsequent fortgesetzt und mit seinem unseligen Vergleich zwischen Arafat und Saddam Hussein den Höhepunkt eines politischen Verbalattentats erreicht.5 Psychologisch wurde damit das Fundament dafür gelegt, daß heute in Israel zwei Drittel der Menschen Frieden wollen, aber zugleich eine ähnlich hohe Zahl hinter der »harten« Politik der Regierung Sharon steht. Die (internationale) Debatte um den sog. Kampf gegen den Terrorismus lieferte dazu den willkommenen Rahmen und das nötige Vokabular.Mit dem Besuch Sharons auf dem Haram/Tempelberg wurden die Möglichkeiten einer symbolischen Politik erneut in ihrer deutlichsten Form vorgeführt. Was als Besuch tituliert war, wurde als Angriff wahrgenommen: Jahrelange Vertröstungen der nationalen palästinensischen Aspirationen, die hinausgeschobene Staatsgründung, die intensivierte Siedlungstätigkeit,6 die ständig wachsende Zahl schikanöser Checkpoints, der sinkende Lebensstandard…, all das stieß zusammen mit der brutalen Antwort der israelischen Armee auf die ersten Proteste gegen den Besuch: Das Pulverfaß explodierte.Diese Entwicklungen betrachteten die militanten Kräfte auf palästinensischer Seite als Grund für einen Strategiewechsel, in dessen Folge sich das Verhältnis der Opfer von sieben getöteten Palästinensern auf einen getöteten Israeli in den ersten zwei Monaten des Aufstandes veränderte. Lag das Verhältnis im Jahresdurchschnitt 2001 noch bei drei zu eins, sank es Anfang 2002 weiter auf zwei zu eins.7 In dieser Logik der Gewaltopfer und mit Blick auf den im Mai 2000 erfolgten israelischen Rückzug aus dem Libanon, den viele Palästinenser auch als einen Sieg der Widerstandsstrategie der Hisbollah ansahen, war die Entscheidung für die zweite Intifada also richtig. Die massiven Ansehensverluste, die Arafat und seine Fath-Bewegung in den ersten Monaten der Intifada II hinnehmen mußten, führten dazu, daß sich mit den Al-Aqsa-Brigaden auch Fath-nahe Gruppierungen am militärischen Widerstand gegen die israelische Politik beteiligten und damit immer weitere Teile der palästinensischen Gesellschaft in eine Spirale von Gewalt und Destruktion hineingezogen.8

Blick aus einiger Distanz

Überblickt man/frau die inzwischen fast 24 Monate der Intifada II, so läßt sich relativ leicht eine Politik ausmachen, bei der Phasen relativer Ruhe in aller Regel durch spektakuläre Aktionen Israels zu Ende gingen. Das prägnanteste Beispiel ist die Bombardierung eines Wohnhauses in Gaza am 23. Juli 2002, bei der neben dem Führer des militärischen Arms der Hamas-Bewegung, Salach Schehade, weitere 14 Menschen durch eine 1.000 kg-Bombe ums Leben kamen. Die Aktion mitten im einem dicht bebauten Wohnviertel im Norden von Gaza-Stadt erfolgte nur Stunden nachdem sich durch Presseberichte abzeichnete, daß es eine reelle Möglichkeit für ein Abkommen zwischen den verschiedensten palästinensischen Fraktionen (einschließlich Hamas und Fath) geben könnte, das zu einer Art Waffenstillstandsangebot hätte führen können und zu einer Einstellung von Angriffen auf Zivilisten im israelischen Kernland. Hierher gehören auch, neben vielen weiteren Beispielen, die Ermordung von Abu Ali Mustapha (PFLP) im August 2001 oder der groß angelegte Angriff auf die Autonomiebehörde im Frühjahr 2002, nachdem der Arabische Gipfel in Beirut den Vorschlag Saudi Arabiens akzeptiert hatte: Volle Anerkennung für vollen Rückzug.

Solche israelischen Aktionen verstoßen gegen internationale Konventionen ebenso wie gegen die Prinzipien eines Rechtsstaats und sind auch nicht mehr mit einem legitimen Recht auf Selbstverteidigung oder einem Verweis auf Unzulänglichkeiten oder Fehlentscheidungen einer Seite zu rechtfertigen. Yossi Sarid, Meretz-Politiker und Oppositionsführer im israelischen Parlament, der Knesset, nannte sie in einer Veranstaltung Ende Juli Kriegsverbrechen.9 Mit Notwehr, wie sie von Israel geltend gemacht wird, hat eine Bombe wie die vom 23. Juli nichts zu tun. Israels Existenz steht, anders als die Regierung Sharon behauptet, nicht auf dem Spiel. Zu einem erheblichen Teil schafft sie die Gewalt erst, die sie zu bekämpfen vorgibt. Für jeden Getöteten melden sich neue Kämpfer; zu verlieren haben sie nichts, denn Israel als der Stärkere bietet ihnen keinerlei Perspektive. Aber diese Militäraktionen heizen auch immer wieder die Spirale von Gewalt und Destruktion an, mindern die Chancen auf Deeskalation. Nichts aber ist für den politischen Ansatz, den heute die Mehrheit der israelischen Regierung vertritt, gefährlicher, als Zeichen der Entspannung, als Hinweise auf gewaltfreien, politischen Widerstand. Hier entstünde die eigentliche Bedrohung des Szenarios, das Sharon vorschwebt: Jede Regelung mit den Palästinensern hinauszuzögern, Fakten zu schaffen, auf Zeit zu spielen, um so den notwendigen schmerzhaften Kompromissen, dem Verzicht auf den Traum von Groß-Israel, doch noch entgehen zu können.

Die abstrakte Forderung nach Gewaltverzicht an die Adresse der schwächeren Seite ignoriert allerdings die strukturelle Gewalt der Besatzung und treibt die Menschen in eine immer verzweifeltere Situation. Nicht zuletzt die Politik der gezielten Tötung, wie sie Israel praktiziert, richtet sich gegen alle Chancen, den Konflikt in absehbarer Zeit zu regeln und beiden Völkern eine Zukunftsaussicht in der Region zu geben. Die Verhaftung von politischen Führern – wie zuletzt die von Marwan Barghouti, Mitglied im palästinensischen Parlament und hoher Fath-Funktionär in der West Bank – und ihre drohende Verurteilung zielen darauf ab, jene auszuschalten, die, obwohl noch relativ jung, Erfahrungen aus der ersten Intifada mitbringen und ihr Prestige für einen Abschied von der Gewaltoption einbringen könnten. Dies macht einen Mann wie Barghouti für bestimmte Kräfte in Israel zu einem viel gefährlicheren Gegner als Arafat.

Solange aber in dem Prozeß, der zu einem Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse beider beteiligten Völker führen soll und dessen gewaltreduzierte Variante eng mit dem Begriff Oslo verbunden war (ist), das Recht der einen Seite dem Recht der anderen Seite untergeordnet wird – solange also diese koloniale Attitüde weiter Teile der israelischen Regierung wie der Öffentlichkeit nicht zu einem Ende kommt –, solange gibt es keine Perspektive für einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina.

Anmerkungen

1) Vgl. entsprechende Berichte der UNICEF; siehe auch DER SPIEGEL vom 25. Juli 2002: Lage in Palästina: US-Botschafter spricht von humanitärer Katastrophe.

2) Zur Frage der Bewertung von Camp David II vgl. Gresh, A.: Das großzügige Angebot, das keines war. In: Le Monde diplomatique, Juli 2002, S. 18.

3) Nachdem Arafat Barak noch unmittelbar vor dem bevorstehenden Besuch Sharons aufgesucht und ihn vergeblich beschworen hatte, diesen Besuch nicht zu genehmigen, war sein schon durch Camp David-II schwer angeschlagenes Vertrauen endgültig aufgebraucht; möglicherweise wird es die Geschichtsschreibung einmal als einen – den wirklichen – Fehler Arafats darstellen, daß er auf die Provokation Sharons nicht noch stärker und länger deeskalierend zu antworten versuchte.

4) In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Barak schon als Generalstäbler gegen die Osloverträge war und als Innenminister unter Rabin gegen die Oslo-II Verträge gestimmt hatte.

5) Laut Spiegel-online vom 26. August äußerte sich zwischenzeitlich auch der israelische Armeechef Mosche Jaalon entsprechend: Er bezeichnete die Palästinenser als »Krebsgeschwür« und forderte einen endgültigen militärischen Sieg.

6) Siehe dazu die Berichte der Foundation of Middle East Peace: http://www.fmep.org

7) Vgl. Johannsen, M.: Krieg in Palästina. In: Der Schlepper, Nr. 19/Sommer 2002, S. 39-41.

8) Möglicherweise haben diese Kräfte damit – um einen sehr hohen Preis – die Perspektiven des säkularen Teils der palästinensischen Nationalbewegung gewahrt.

9) Briefing für die internationalen Vertreter in Israel, Tel Aviv 29. Juli 2002, eigene Aufzeichnung.

Anmerkung der Redaktion: W&F richtet sich seit Januar 1999 nach der neuen deutschen Rechtschreibung, der vorliegende Artikel weicht hier ab, da der Autor grundsätzlich nur in der alten deutschen Rechtschreibung publiziert.

Rainer Zimmer-Winkel, M.A., Theologe und Politikwissenschaftler, beschäftigt sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit dem Nahen Osten (Schwerpunkt Israel-Palästina). Er gehört der Nahostkommission von Pax Christi Deutschland an, ist Mitglied im Deutsch-Israelischen AK für Frieden im Nahen Osten (DIAK), Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und arbeitet im Vorstand des Fördervereins Willy Brandt-Zentrum Jerusalem.

Vom Frieden weit entfernt

Vom Frieden weit entfernt

Der israelisch-palästinensische Konflikt eskaliert / Uri Avnery im Interview

von Tobias Pflüger

Tobias Pflüger: Die Wahlen in Israel am 6. Februar sind erwartungsgemäß ausgegangen. Ariel Scharon ist neuer israelischer Ministerpräsident. Sie haben lange Zeit für die Abgabe von weißen Stimmzetteln geworben, weil Ehud Barak wesentlich für das brutale Vorgehen der israelischen Militärs gegenüber Palästinensern verantwortlich sei. Ehud Barak hatte aber im Westen den Nimbus eines Friedensministerpräsidenten.

Uri Avnery: Der Eindruck, Barak sei ein Friedensministerpräsident gewesen, ist eine Legende. Unter Barak wurden die Siedlungen in den besetzten Gebieten stärker erweitert als unter all seinen Vorgängern. Der Krieg gegen die Palästinenser ging uneingeschränkt weiter. Auch die Aussage, er hätte den Palästinensern Zugeständnisse gemacht, die einen Frieden ermöglicht hätten, ist eine Legende. Barak war weit davon entfernt, das zu tun, was nötig gewesen wäre um einen Frieden zu ermöglichen. Er war nicht bereit auf die israelische Souveränität über den Tempelberg zu verzichten, er war nicht bereit irgendeinen Kompromiss zur Lösung der Flüchtlingsfrage zu machen, er wollte große Teile des Westjordanlandes durch Israel annektieren. Positionen, die es keinem palästinensischen Führer ermöglicht hätten, einen Kompromiss mit Israel zu schließen.

Pflüger: Sie haben kurz vor der Wahl dann doch noch aufgerufen, Ehud Barak statt Ariel Scharon zu wählen, mit welcher Begründung?

Avnery: Im Vergleich zu Scharon sind alle anderen weniger schlimm. Ich hatte die Wahl zwischen einem sehr schlimmen Ministerpräsidenten und einem noch viel schlimmeren, da habe ich den schlimmen gewählt.

Pflüger: Was erwarten Sie von Scharon und wie denken Sie, wird sich die Situation insbesondere in Bezug auf die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete entwickeln?

Avnery: Scharon ist ein Kriegsministerpräsident, in allen praktischen Punkten vertritt er das Gegenteil von dem, was die Palästinenser wollen. Im Augenblick ist er damit beschäftigt, seine Legitimität in den Augen der Welt zu erhöhen, in dem er die zerrüttete Arbeitspartei für einen billigen Preis einkauft. Praktisch hat er Shimon Peres mit dem Amt des Außenministers bestochen und die Partei mit dem Amt des Verteidigungsministers. Die Arbeitspartei gibt Scharon ein Alibi, in dem sie die zwei wichtigsten Sektoren des zukünftigen Krieges, nämlich Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten, übernimmt. Alles was jetzt unter Scharon passieren wird, wird damit auf die »Konten« der Arbeitspartei geschrieben. Für die Eskalation der Gewalt in den besetzten Gebieten, die praktisch unabwendbar ist, wird ein Arbeitspartei-Verteidigungsminister verantwortlich gemacht werden, und Shimon Peres wird die Kriegspolitik von Scharon unterschreiben. Diese Situation ist das Allerschlimmste, was überhaupt passieren konnte.

Pflüger: Wieso macht Shimon Peres das mit?

Avnery: Aus persönlichen Ehrgeiz. Shimon Peres ist 78 Jahre alt, er ist besessen von der Angst, seinen Posten zu verlieren und von der politischen Bühne zu verschwinden und darum tut er, was andere vor ihm schon getan haben: Er verkauft seinen Nimbus in der Welt, seinen Friedensnobelpreis, um an der »Macht« zu sein.

Pflüger: Welche Position nehmen die verschiedenen Gruppen der israelischen Friedensbewegung zum Israel-Palästina-Konflikt ein?

Avnery: Die israelische Friedensbewegung ist jetzt in einem sehr, sehr schwierigen Zustand. Besonders nach dem Ausbruch des Freiheitskrieges, Intifada genannt, ist ein großer Teil der sogenannten Friedensbewegung umgefallen. Nur der harte Kern der Friedensbewegung hat standgehalten. Dieser harte Kern ist jetzt dabei, sich auf die neue Situation einzustellen und den Friedenskampf weiter zu führen. Dabei sind wir in der israelischen Öffentlichkeit ziemlich isoliert, und durch die Eskalation des palästinensischen Freiheitskampfes sind auch die Beziehungen zu den Palästinensern komplizierter geworden. In einem Freiheitskampf will jedes Volk seine nationale Einheit bewahren. Nationale Einheit auf der palästinensischen Seite bedeutet aber ein großes Bündnis zwischen der Fatah-Bewegung, der fundamentalistischen Hamas-Bewegung, der extremistischen Djihad-Bewegung und vielen anderen. Das macht natürlich die Arbeitsbedingungen der Friedensbewegung sehr kompliziert.

Pflüger: Wird es wieder mehr Widerstand von anderen israelischen Gruppen unter Scharon geben, weil man jetzt glaubt, nicht mehr so viel Rücksicht auf die Arbeitspartei nehmen zu müssen?

Avnery: Der große Teil der israelischen Friedensbewegung, besonders die Bewegung »Peace Now« (Frieden jetzt, Shalom Ahshav) ist traditionell abhängig von der Arbeitspartei und von der Meretz-Partei. Die Arbeiterpartei ist in der Koalition mit den Rechtsradikalen, mit den extremsten Rechtsradikalen. Ein anderer Teil der Arbeitspartei ist gegen diese Koalition, aber man weiß noch nicht, wie sie sich praktisch verhalten wird. Die Meretz-Partei wird in der Opposition sein. Alles das wird einen Teil der Friedensbewegung »Peace Now« vor eine sehr schwere Prüfung stellen. Ich glaube, man kann heute noch nicht sagen wie das ausgehen wird. Zur Zeit hat »Peace Now« noch keine klare Position, sie befasst sich lediglich mit nebensächlichen kleinen Zwischenfällen. Es wird wohl noch einige Wochen oder Monate dauern, bis wir sehen, ob diese Bewegung überhaupt noch funktioniert. Der harte Kern der Friedensbewegung, zu dem auch ich gehöre, besonders die Bewegung Gush-Shalom, der Friedensblock, sieht seine Aufgabe darin, kompromisslose Opposition gegen diese Regierung zu machen und eindeutige Friedenspositionen zu vertreten. Ganz egal was die öffentliche Meinung dazu heute sagt, wir setzen uns ein für die Rückgabe von Ostjerusalem an die Palästinenser – inklusive Tempelberg, für die Aufgabe aller Siedlungen, die Wiederherstellung der alten Grenze, der sogenannten »grünen Linie«, für einen unabhängigen Staat Palästina und einen vernünftigen Kompromiss in der Flüchtlingsfrage. Wir erwarten, dass in den nächsten Monaten die Lage im Lande noch viel schlimmer wird, der gewalttätige Kampf sich weiter verschärft. Wir hoffen aber, dass nach dieser Phase der Gewalt eine Ernüchterung eintritt und dann unsere Position eine klare Basis für einen Frieden bieten kann.

Pflüger: Keine guten Aussichten…

Avnery: … schlimme Aussichten! Doch ich bin trotzdem auch optimistisch. Man muss immer bedenken, dass wir in einem Kampf sind, der schon 120 Jahre lang andauert, in den schon eine 5. Generation hineingeboren wurde. Es wäre utopisch zu erwarten, dass die Friedensarbeit leicht oder schnell zum Erfolg kommen könnte. Es ist ein langer Weg mit Schritten vorwärts aber auch mit Schritten zurück. Im Augenblick machen wir einem großen Schritt rückwärts, aber wir hoffen, dass wir danach auch wieder einen großen Sprung vorwärts machen können.

Pflüger: Wir hatten in Tel Aviv im November ein Gespräch mit einem israelischen Politologen, der die Siedler in verschiedene Gruppen – in ökonomische und ideologische Siedler – einteilte. Er sprach von 200.000 Siedlern, die unter der Regierung Barak im besetzten Gebiet lebten, soviel wie nie zuvor. Von diesen Siedlern seien ca. 50.000 extrem religiös motiviert und ca. 500 gewalttätig und gefährlich. Er meinte außerdem, dass ein Grossteil der israelischen Siedler durchaus bereit wäre, Regierungshilfen vorausgesetzt, die besetzten Gebiete sofort zu verlassen.

Avnery: Man darf die Differenzierung der Siedler nicht übertreiben. Der harte Kern der Siedler ist eine ultrareligiöse, messianische, rechtsradikale Sekte und die beherrscht alle Siedlungen, d.h. die Institutionen der Siedler werden vollkommen von diesem harten Kern beherrscht. Das sind dieselben Leute, die gestern vorgeschlagen haben, Jassir Arafat umzubringen. Natürlich gibt es viele Siedler, die dort nicht aus ideologischen Gründen hingegangen sind, sondern deshalb, weil sie praktisch für umsonst »Luxusvillen« bekommen haben oder weil sie aus den israelischen Städten in diese pastorale Landschaft gehen wollten, um dort eine neue »Lebensqualität« zu suchen. Aber dadurch, dass sie in den Siedlungen leben, auf geraubtem arabischen Boden, mit geraubtem arabischen Wasser, werden sie langsam genauso schlimm wie die ideologischen Siedler. Die große Frage ist: Wenn jemals eine israelische Regierung ans Ruder kommt, die den Frieden will und bereit, ist Frieden zu machen, wenn dann alle Siedler oder ein großer Teil der Siedler die besetzten Gebiete räumen muss, wird es dann zu einem Bürgerkrieg kommen? Ich würde sagen, wenn der Abzug aus den besetzten Gebieten gescheit und vernünftig gemacht wird, kann man einen Bürgerkrieg vermeiden, obwohl der harte Kern der Siedler, der ideologische Kern, ganz sicher gewalttätigen Widerstand leisten wird.

Pflüger: In Deutschland sind relevante Teile der Linken nicht bereit, die israelische Besatzungs- und Kriegspolitik zu kritisieren. Es heißt, aufgrund der Geschichte dürfe man Israel nicht kritisieren. Immer wieder werden auch moderate Kritiker der israelischen Regierungspolitik mit dem Vorwurf des Antisemitismus überzogen.

Avnery: Deutschland hat eine schlimme Vergangenheit und muss sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen. Doch es gibt eine Art unangenehmen Philosemitismus, der mich genauso unangenehm berührt, wie der Antisemitismus. Das ist eine Sonderbehandlung, eine positive Sonderbehandlung, die im Prinzip nicht sehr weit entfernt ist von der negativen Sonderbehandlung. Israel muss genauso betrachtet werden wie jeder andere Staat der Welt, mit denselben moralischen Maßstäben.Teile der deutschen Öffentlichkeit drücken sich vor einer klaren Positionierung mit dem Vorwand, dass der Holocaust es verbietet. Der Holocaust hat aber überhaupt nichts damit zu tun, was israelische Politik heute macht. Es gibt, das muss man hinzufügen, antisemitische Einstellungen, es gibt auch einen Antisemitismus der sich tarnt als ein Antizionismus. Dieser muss natürlich bekämpft werden. Es ist übrigens sehr dumm, wenn Palästinenser oder Araber diese Art Antisemitismus unterstützen, denn es ist ja der Antisemitismus, der die Juden nach Israel getrieben hat und treibt. Eine Million Juden sind in den letzten Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Israel gekommen, getrieben durch den Antisemitismus. Der Antisemitismus ist also genau so ein Feind der Araber wie ein Feind der Juden.

Pflüger: Was ist die richtige Konsequenz aus der deutschen Geschichte? Wie sollen sich Deutsche zum Israel – Palästina-Konflikt verhalten?

Avnery: Deutschland sollte eine moralische Innen- und Außenpolitik betreiben. Eine moralische Außenpolitik bedeutet, gegenüber allen Staaten der Welt, inklusive Israel, dieselben moralischen Maßstäbe anzulegen. Wenn die Deutschen glauben, dass Israel eine falsche Politik betreibt, dann sollen sie das klar ausdrücken. Eine unkritische Einstellung Israel gegenüber zeugt nicht davon, dass man positiv zu Israel steht, wirkliche Freundschaft bedeutet, dass man auch kritisch ist und sagt, was man glaubt, dass es gut für Israel sei. Deutschland sollte eine wirkliche Friedenspolitik unterstützen in Europa, auf internationalem Gebiet, überall. Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel geben: Wir glauben, dass die Siedlungen das Haupthindernis zu einem Frieden sind. Weil die Siedlungen von Beginn an aufgestellt wurden, um einen Frieden unmöglich zu machen, um das palästinensische Gebiet so zu zerschneiden, dass ein palästinensischer Staat nicht zustande kommen kann. Deshalb haben wir schon vor 5 Jahren hier in Israel zu einem Boykott gegen die Erzeugnisse aus den Siedlungen aufgerufen. In der Europäischen Union ist das registriert und aufgegriffen worden. Die EU hat einen Handelsvertrag mit Israel, der Israel sehr große Vergünstigungen gewährt, der aber nur auf das israelische Hoheitsgebiet beschränkt ist. Jetzt werden die Erzeugnisse aus den Siedlungen als israelische Erzeugnisse nach Europa hineingeschleust. Es handelt sich um Produkte für ungefähr 200 Millionen Dollar pro Jahr. Die Bürokratie in Brüssel weiß das, will etwas dagegen unternehmen, kann es aber nicht, weil einige europäische Staaten, besonders Deutschland, sich sperren. Europa unterstützt diese illegalen Siedlungen also jährlich mit rund 200 Millionen Dollar. Ich finde das unerhört!

Pflüger: Im Jahr 2000 wurde in Israel ein Armutsbericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass es vor allem bei den palästinensischen Israelis und den orientalischen Juden viel Armut gibt. Das alltägliche Leben der Palästinenser ist durch Absperrung, Einschränkungen, durch nächtliche Bombardierungen geprägt. Welche Möglichkeiten gibt es, der unter diesen Bedingungen lebenden Bevölkerung von hier aus wirksam zu helfen?

Avnery: Man kann sich überhaupt nicht vorstellen wie heute ein gewöhnlicher Palästinenser lebt: In einem Dorf, das durch die israelischen Streitkräfte von der ganzen Welt abgeschnitten ist, in dem jeder Handel und überhaupt jede wirtschaftliche Tätigkeit so gut wie unmöglich ist, wo die große Mehrheit der Menschen arbeitslos ist, wo täglich von beiden Seiten geschossen wird, wo täglich Leute umkommen. Täglich! Das ist ein schrecklicher Zustand, und um das zu überstehen braucht die palästinensische Bevölkerung jede mögliche Unterstützung, Lebensmittel, Medikamente und besonders Geld. Doch so viel ich weiß, kommen nur sehr sehr wenige Hilfsleistungen. Es sind Tropfen, Tropfen ins Meer. Zu Israel: Die Armen werden ärmer, und die Reichen werden reicher. Die israelische Gesellschaft ist so eingerichtet, dass die Wohlhabenden meistens aus Europa stammen und die Armen aus den orientalischen Ländern. Die ärmste Schicht sind die arabischen Staatsbürger Israels, die eine Minderheit von 20% im Staate ausmachen.

Pflüger: Wie bewerten Sie die Vermittlung der US-Regierung im Israel-Palästina-Konflikt? Sind die USA neutraler Vermittler? Welche Rolle sollten Ihrer Ansicht nach die europäischen Regierungen spielen?

Avnery: Die Amerikaner können nicht wirklich vermitteln. Selbst Präsident Clinton, der wirklich große Vermittlungsversuche unternommen hat, war von den jüdischen Stimmen in Amerika abhängig, seine Frau ist mit den jüdischen Stimmen gewählt worden. Seine letzten Vorschläge, die Vorschläge die er veröffentlicht hat, kurz bevor er sein Amt verlassen musste, sind zwar bei weitem positiver als frühere amerikanische Einstellungen, aber auch diese sind noch weit entfernt davon, eine wirkliche unparteiische Vermittlung zu sein. Die neue Regierung sieht auch nicht sehr gut aus in dieser Beziehung, obwohl wir noch abwarten müssen, wie sie sich auf diesen Konflikt einstellen wird. Ich glaube, sie hat überhaupt weniger Interesse an diesem Konflikt, sie konzentriert sich auf den Irak und versucht die arabische Koalition gegen den Irak wieder herzustellen. Ich bedauere, dass Europa, das eine viel wichtigere Rolle spielen könnte, schon seit langem im Nahen Osten abgedankt hat, keine eigenen Interessen mehr vertritt. Für uns im Nahen Osten ist Europa Mätresse der USA, es tanzt nach der amerikanischen Musik.

Pflüger: Sehen Sie Möglichkeiten für friedensorientierte Basisgruppen hierzulande und in Europa zur Unterstützung palästinensischer und israelischer Basisgruppen, praktisch von Initiative zu Initiative?

Avnery: Es gibt viele Möglichkeiten, Friedensorganisationen auf beiden Seiten materiell oder auch moralisch zu unterstützen. Die Organisation zu der ich gehöre, Gush-Shalom, bekommt z.B. Unterstützung aus Holland und einigen anderen Staaten aber so gut wie keine Unterstützung aus Deutschland. Deutschland hat verschiedene Stiftungen, die alle möglichen offiziellen Organisationen unterstützen, aber keine Friedensbewegungen. Lassen sie mich eine konkrete Sache ansprechen: Auch in der gegenwärtigen schwierigen Situation wäre es z.B. möglich, in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern Konferenzen durchzuführen, zu denen Israelis und Palästinenser eingeladen werden, um die Punkte zu diskutieren, die für die Einleitung eines erneuten Friedensprozesses wichtig sind: Die Flüchtlingsfrage, die Frage Jerusalems, die Frage der Siedlungen usw. Auch wenn es in diesem Augenblick sehr schwer für Palästinenser ist, sich mit Israelis zu treffen. Es gibt viele mutige Palästinenser und es gibt auch mutige Israelis. Man kann sehr viel tun, um diese Gruppen zu unterstützen.

Pflüger: Eine abschließende Frage: Häufig ist es ein Problem, dass auch die engagierten Leute nicht wissen, wo sie sich informieren sollen, über welche Presseorgane, wo im Internet. Was würden Sie denen empfehlen?

Avnery: Das Bild in den europäischen Medien ist geprägt von israelischer Propaganda. Wie in Israel selbst ist es auch in Europa äußerst schwer ein wirkliches und unabhängiges Bild zu bekommen. Wir bei Gush-Shalom haben eine Internetseite: www.gush-shalom.org, dort können Sie auch die Adressen anderer Friedensorganisationen und Medien finden.

Pflüger: Vielen Dank und alles Gute für Ihre Arbeit und die von Gush-Shalom.

Uri Avnery lebt in Tel Aviv und arbeitet als Publizist. Er wurde 1923 in Berkum/Westfalen geboren und ist 1933 nach Palästina ausgewandert. Er war mehrfach Mitglied der israelischen Knesset und gründete in Fortsetzung seiner – seit 1948 andauernden – Friedensarbeit gemeinsam mit anderen 1992 die Gruppe Gush-Shalom (Friedensblock).
Tobias Pflüger war im November letzten Jahres in Israel und Palästina. Dabei besuchte er u.a. auch Gush-Shalom. Das vorliegende Interview führte er für W&F am 28.02.2001. Die ungekürzte Version findet sich auf folgenden Internetseiten: www.iwif.de, www.imi-online.de und www.tobias-pflueger.de

Palästina: Frieden mit Gerechtigkeit?

Palästina: Frieden mit Gerechtigkeit?

Interview mit Felicia Langer

von Felicia Langer und Klaus D. Fischer

Für die Osloer »Verhandlungslösung« zwischen Israel und der PLO bekamen Shimon Peres und Yassir Arafat den Friedensnobelpreis. Die Welt blickte erwartungsvoll auf die Entwicklung im Nahen Osten. Erschrecken nach dem Mord an Rabin 1994 und Ernüchterung nach der anschließenden Wahl Netanjahus. 1999 verspricht die neue Regierung Barak am »Friedensprozess« wieder anzuknüpfen. Wie stehen die Chancen für den Frieden und die Zukunft des Palästinensischen Volkes?
Klaus D. Fischer interviewte Felicia Langer, die erste jüdische Rechtsanwältin und die bekannteste, die sich in Israel unermütlich für die Rechte der PalästinenserInnen einsetze und dafür 1990 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Fischer: Felicia, als 1993 in Washington die Nachricht vom Durchbruch in den geheimen Verhandlungen zwischen Israel und der PLO in Oslo bekannt wurde, äußerte nach Newsweek ein israelischer Diplomat: „Das ist so unwirklich. Als Nächstes werden wir hören, dass Rabin und Arafat sich mit Elvis Presley in einem UFO treffen.“ Es wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit wie ein Wunder betrachtet und es herrschte bei vielen eine geradezu euphorische Stimmung. Wenn ich mich richtig erinnere, warst du damals sehr zurückhaltend und eher skeptisch bis kritisch. Hat sich diese Haltung bei Dir im Laufe der Zeit verfestigt? Sind Deine eher negativen Erwartungen erfüllt worden oder ist damals trotz aller Widrigkeiten auch eine positive Entwicklung auf den Weg gebracht worden?

Langer: Ich war damals wirklich gleich sehr skeptisch, habe aber auch gesagt, dass ich mich in diesem Fall gerne irren würde, aber leider habe ich mich nicht geirrt. Alle meine Befürchtungen traten ein. Meine frühe Skepsis beruhte darauf, dass ich sehr schnell feststellen musste, dass in der »Grundsatzerklärung« von damals die wichtigsten Fragen ausgeklammert worden waren: die Wasserfrage, die Souveränitätsfrage, die Flüchtlingsfrage, die Fragen der Landnahme, der Siedlungen und Jerusalems.

Es gab keine Vertragsklausel und es gibt bis heute keine solche, die klar feststellt, dass die Siedlungen völkerrechtswidrig sind. Und nicht nur das: ich habe gleich bemerkt, dass das Völkerrecht völlig vernachlässigt wurde. Man sprach zwar UNO-Resolutionen an, aber in einer ganz und gar unverbindlichen Weise. Und es war und ist doch bekannt, dass Israel die UNO-Resolution 242 nicht völkerrechtlich interpretiert. Für Israel bedeutet sie nicht, dass die besetzten Gebiete geräumt werden müssen. Auch die Ungleichheit war für mich sofort offensichtlich: Die PLO erkannte Israel an, aber Israel erkannte nicht die Rechte der Palästinenser an, sondern die PLO als Vertreterin der Palästinenser. Peres sagte schon damals: „Bei uns hat sich nichts geändert, die PLO hat sich geändert. Wir verhandeln mit dem »Schatten« der PLO.“ Als ich das hörte, war ich überzeugt, dass die israelische Regierung die Politik der vollendeten Tatsachen fortführen würde, ihre Siedlungspolitik, nun aber mit einer Art »Segen« der Palästinenser, einer Art von »Legitimierung« durch sie. Als ich das in Betracht gezogen hatte, hatte ich Ängste und ich wusste, dass das keine positive Dynamik geben wird. Deshalb glaube ich bis heute nicht, dass etwas wesentlich Positives passiert ist. Und jedes weitere Abkommen – Oslo II, danach Hebron, danach Wye und danach Sharm El Sheik – man verkauft dieselbe Ware drei-, viermal. Abkommen nach Abkommen, eine Kette von Interimsabkommen, das alles verbesserte nicht die Situation weil die Grundlage, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der palästinensischen Bevölkerung und das Völkerrecht, überhaupt nicht in Betracht gezogen wurden. Die Maxime, die die Grundlage der UNO-Resolution 242 bildet, dass nämlich Landerwerb durch Krieg unzulässig ist, wurde von Israel total abgelehnt und die PLO hat sich dazu nicht geäußert. Ich weiß, dass man nichts rückgängig machen kann und dass es auch total unsinnig wäre, aber wenn der bisher beschrittene Weg in der gleichen Weise fortgesetzt wird, dass nämlich Israel diktiert und die Palästinenser zustimmen – dazu mit dem Applaus des Auslandes und mit der Fähigkeit, das ganze so schön wie möglich zu verkaufen – das wird nicht zum Frieden führen.

In den letzten Wochen wurde – auch von offizieller palästinensischer Seite – der Eindruck vermittelt, dass nun mit dem neuen Ministerpräsidenten Barak innerhalb eines Jahres alle noch offenen Fragen geregelt werden könnten. Wie schätzt du den Unterschied zwischen den Regierungen Netanjahu und Barak beim Herangehen an die zu lösenden Probleme ein. Eröffnen sich nun mit Barak nach der langen Zeit des Stillstandes neue Chancen für reale Fortschritte?

Es ist wirklich schade, dass dieser Eindruck von offizieller palästinensischer Seite erweckt wird. Das ist jedenfalls nicht die Meinung des »Mannes auf der Straße« und es ist auch nicht die Meinung der Friedenskräfte in Israel, insbesondere nicht derjenigen, die Frieden mit Gerechtigkeit wollen. Deren Meinung ist total anders, sie sind der Meinung, dass wir zur Zeit nur Augenwischerei und Austricksungsmanöver von Seiten Baraks erleben. Diese ständigen Interimsphasen seiner Politik sollen bis zur Unendlichkeit ad infinitum weiter gehen. Nach dem Sharm El Sheik-Abkommen hat Barak eine Erklärung abgegeben, dass die große Siedlung Maale Adumim nicht weit von Jerusalem, die jetzt schon 25.000 Einwohner hat, Teil von Jerusalem und weiter ausgebaut werden wird. Die »Taube« in der Regierung Barak, Chaim Ramon, hat gesagt, wir werden möglicherweise innerhalb eines Jahres Rahmenbedingungen schaffen, aber bis zum Ende kann es auch zehn Jahre dauern und während der zehn Jahre wird unsere „Politik der natürlichen Entwicklung der Siedlungen“ – eine orwellianische Sprache übrigens – weiter gehen. Barak hat klar gesagt, dass die Siedlungen als Blöcke weiter unter israelischer Souveränität bleiben werden, das heißt man muss diese Gebiete annektieren. Dazu auch ein paar Zahlen zur Siedlungspolitik unter Barak:

In der Zeit zwischen dem 17. Juni und dem 12. August dieses Jahres gab es nach Informationen der angesehenen palästinensischen Menschenrechtsorganisation »Law« Siedlungsaktivitäten wie Landplanierungen, Konfiskationen von Land, Rodungen und den Beginn von Neubauten auf einer geschätzten Gesamtfläche von 11.791 Dunum (1.179 ha) palästinensischen Landes. In diesem Zeitraum wurden außerdem 5.116 Wohneinheiten zum Bau ausgeschrieben und 770 Bäume gerodet. All das macht die Barak-Regierung.

Du siehst, sie reden vom Frieden und sie tun gleichzeitig alles, um den Frieden unmöglich zu machen. Wenn man das nicht sieht, wenn man von diesen Dingen abstrahiert und eine illusorische, eine virtuelle Situation beschreibt, dann ist das kontraproduktiv, denn ohne internationalen Druck und Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung wird man auch keinen Frieden erringen können. Schon 1993 wurde von manchen palästinensischen Politikern Gaza als ein mögliches »Hongkong« oder »Singapur« des Nahen Ostens der Zukunft gesehen…

Die reale Situation ist anders. Bis hin zur Zerstörung palästinensischer Häuser ist alles beim Alten geblieben, auch unter Barak. Aber seine Worte sind schöner und es wird Verhandlungen geben, einen Prozess ohne Frieden, keinen wirklichen Friedensprozess. Barak ist nicht wie Netanjahu, er ist viel geschickter. Aber manchmal nennt man ihn schon Barakjahu, um auf die Ähnlichkeiten der politischen Substanz hinzuweisen.

Was hat man mit dem Sharm El Sheik-Abkommen gemacht? Man hat dort abgesichert was man im Wye-Abkommen vom Oktober 1998 vereinbart hat. Was hat man im Wye-Abkommen vereinbart? Man hat dort abgesichert was man im Oslo II-Abkommen vom 28. September 1995 vereinbart hat. Das heißt nichts anderes als dass man dieselbe Ware mehrmals verkauft. Es gibt keine wirklich positiven Ergebnisse. Wenn die israelische Regierung die Haltung einnimmt, dass die Flüchtlinge kein Recht auf Rückkehr haben, wenn sie sagt, dass sie die besetzten Gebiete nicht räumen wird und die meisten Siedlungen bleiben und zu Blöcken miteinander verbunden werden, wenn Israel über das Wasser auf eine abstrakte Weise spricht, obwohl es noch 83 Prozent des Wassers kontrolliert und sich 80 Prozent des Wassers der Westbank nimmt, wenn man sagt, dass Jerusalem für immer und ewig nur Hauptstadt Israels sein wird und nicht auch von Palästina, wenn man die Häuser weiter zerstört, wenn man weiter die Siedlungen ausbaut – wenn man all das tut, welche Atmosphäre von Frieden erzeugt man dann?

Die Palästinenser leben in Bantustans und daran hat sich nichts geändert. Wenn man z.B. über sieben Prozent Land spricht, das man jetzt den Palästinensern »gegeben« hat, dann muss man sich vor Augen führen, dass es Land ist, das man von solchem der Zone C, das unter voller Kontrolle Israels ist, in solches der Zone B umgewandelt hat. Und Zone B ist unter dualer Kontrolle, aber Israel hat auch hier die totale Kontrolle in Sicherheitsfragen und das heißt, Israel herrscht weiter, das israelische Militär ist weiter präsent, alles geht dort weiter wie bisher.

Lass mich das mit den Zonen erklären: Es gibt z.B. die sogenannte Zone A unter palästinensischer Oberhoheit, das sind die Städte mit Ausnahme Jerusalems. Hebron wurde in zwei Zonen geteilt. Dort leben 120.000 Palästinenser und 400 Siedler, die 20 Prozent von Hebron zugeteilt bekommen haben, plus 15.000 Palästinenser, die unter direkter israelischer Besatzung leben. So hat man eine Pufferzone geschaffen. Wer bei der autonomen Zone A aus- und einreisen darf und was ex- und importiert wird, das bestimmt Israel. In der Zone B hat Israel das Sagen in Sicherheitsfragen, während die Palästinenser die zivilen Fragen regeln. In Zone C, die mehr als 60 Prozent des Landes umfasst, hat Israel weiterhin alle Rechte. Wenn Israel die Gebiete, die den Bantustans in Südafrika ähnlich sind, abriegelt, werden sie zu einem Gefängnis. In Zone C gibt es für Palästinenser keine Baugenehmigung und man zerstört Häuser, die ohne Baugenehmigung gebaut worden sind. Nach Verwirklichung des Sharm El Sheik-Abkommens im Jahr 2000 wird Zone A unter palästinensischer Autorität etwa 18,1 Prozent des Territoriums umfassen. Das ist alles. Das sind im Wesentlichen die Städte und die Ortschaften, viele von ihnen ohne territorialen Zusammenhang. Wenn das Land abgeriegelt wird, dann sind diese Städte Gefängnisse. Schau Dir die aktuelle Karte an: Palästina ist ein Flickenteppich. Schau Dir die Umgehungsstraßen für die Siedler an: Man hat sie auf enteignetem palästinensischem Boden gebaut und sie verbinden die Siedlungen miteinander und mit Israel selbst.

Das alles geht zum größten Teil auf die Regierungszeit der Arbeitspartei zurück. Le Monde diplomatique hat eine Statistik veröffentlicht über die Zeit vor Netanjahus Likud-Regierung: „In den vier Jahren von Juni 1992 bis Mai 1996 ist die Zahl der Siedler im Westjordanland und im Gaza-Streifen um 49 Prozent, d.h. um 49.000 auf 150.000 gestiegen. 50.000 neue Bewohner ließen die Zahl der jüdischen Einwohner im annektierten Ostjerusalem um 33 Prozent auf 200.000 anwachsen. Über 100 Siedlungen hatten einen Einwohnerzuwachs, 13 einen Rückgang zu verzeichnen. Die Arbeitspartei hat also der Regierung Netanjahu die Struktur der Siedlungen in stabilerer Verfassung ausgehändigt, als sie selbst sie einmal übernommen hatte, und zwar in politischer wie in geografischer und in baulicher Hinsicht.“ Das war alles vor Netanjahu. Das waren die Friedensnobelpreisträger Rabin und Peres.

Als Juristin konnte ich schon damals nicht begreifen, wie man mit Israel ein Abkommen unterschreiben konnte, ohne die Frage der Siedlungen zu regeln. Das hat man 1993 nicht gemacht, das hat man 1995 nicht gemacht, das hat man in Wye nicht gemacht und jetzt auch nicht. Und Netanjahu hat weitergebaut und Barak macht es auch weiter so und bekommt international eine kolossale Unterstützung für seine »Friedenspolitik«.

Wenn du mir so ungeschminkt die Lage der Palästinenser schilderst, dann gewinne ich den Eindruck, dass ihre Lage letzten Endes heute hoffnungsloser ist als zur Zeit der Intifada vor zehn Jahren. Was müsste denn Deines Erachtens geschehen, damit es zu einem Friedensprozess kommt, der diesen Namen wirklich verdient?

Sicher, die Lage der Palästinenser ist heute ziemlich hoffnungslos, denn auch die Opposition ist total gelähmt. Es gibt keine Demokratie, es gibt Menschenrechtsverletzungen durch die Autonomiebehörde, durch ihre Sicherheitskräfte. Es gibt acht oder mehr Geheimdienste in Palästina – die genaue Zahl kenne ich gar nicht. Ich bekomme von amnesty international Berichte, die beschämend sind, z.B. über Folterungen. Sie haben von uns gelernt, aber auch von den arabischen Ländern. Das ist ein Konglomerat. Und sie stehen unter israelischem und US-amerikanischem Druck, die Opposition zu zerstören. Das ist doch mal wieder diese doppelte Moral der USA.

Die Palästinenser haben einen Sicherheitsgerichtshof errichtet. Das Gericht ist noch schlimmer als unsere israelischen militärischen Gerichte, die schlimm genug sind und die ich jahrelang bekämpft habe. Es gibt keine Demokratie und keine Pressefreiheit. Und in so einer Situation mit schlechten ökonomischen Aussichten, hoher Arbeitslosigkeit, in der Israel weiter alles entscheidet, einer Situation, die gleichzeitig durch Nepotismus und Bestechung gekennzeichnet ist, gedeiht der Nährboden für Fundamentalismus und für Anschläge. Das ist ein Teufelskreis. Doch die Welt schweigt, es werden Zweckoptimismus und Illusionen verbreitet und deshalb entsteht auch kein Druck auf Israel. Auf diese Art wird alles so weitergehen wie in den letzten sechs Jahren.

Aber zu Deiner Frage: Eine friedliche und gerechte Lösung wäre möglich. Voraussetzung dafür ist, dass Israel die seit 1967 besetzten Gebiete komplett räumt, auch seine Siedlungen. Ein unabhängiger und lebensfähiger palästinensischer Staat muss mit Ostjerusalem als Hauptstadt errichtet werden. Und es muss die Flüchtlingsfrage – der UNO-Resolution 194 entsprechend – gelöst werden, d.h. mit der Anerkennung ihres Rechts auf Rückkehr.

Eine solche Lösung ist aber nur möglich ohne israelische oder US-amerikanische Dominanz, Hegemonie und Überheblichkeit.

Damit das geschehen kann, muss weltweit die internationale Solidarität mit dem palästinensischen Volk und mit den jenigen in Israel, die Frieden mit Gerechtigkeit wollen und sich dafür einsetzen, entwickelt und verstärkt werden. Nur auf diesem Wege kann auch ein entsprechender und notwendiger Druck auf Israel ausgeübt werden, der eine friedliche und gerechte Lösung ermöglicht. Dafür werde ich mich bis zum letzten Atemzug engagieren.

Es gibt immer noch auch einen »heißen« Krieg an Israels Grenze, und zwar in der sogenannten Sicherheitszone im Südlibanon. Manche Beobachter sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer Art »Vietnam« Israels, das Barak gerne loswerden würde. Gleichzeitig werden von der Presse Hoffnungen genährt, dass es zum Friedensschluss mit Syrien kommen könnte. Wie realistisch ist es, dass sich Israel wegen der vielen Verluste an eigenen Soldaten aus dem Libanon zurückziehen könnte und wie schätzt du die Perspektive der israelisch-syrischen Beziehungen ein?

Es mag seltsam klingen, aber das wird mit dem Libanon ein bisschen leichter sein als ein wirklicher Friede mit den Palästinensern. Die Verluste an israelischen Soldaten sind in den Augen der israelischen Öffentlichkeit enorm. Die israelische Öffentlichkeit ist für einen Rückzug. Es gibt fast einen Konsens, dass diese »Sicherheitszone« eine »Unsicherheitszone« ist und dass man Galiläa auch ohne diese Zone schützen kann. Mag sein, dass Barak hier einlenken wird, denn ich glaube, es gibt in diesem Fall auch eine Mehrheit in Israel, die das will und ich glaube, es gibt auch eine Mehrheit für die Rückgabe des Golan. Ich weiß nicht, ob es eine Mehrheit für einen unabhängigen palästinensischen Staat mit totalem Rückzug und mit Ostjerusalem als Hauptstadt der Palästinenser gibt, da bin ich mir nicht so sicher. Die »Golan-Lobbypartei« ist total zerschlagen, sie existiert in der Knesset nicht mehr und die Öffentlichkeit ist auch müde. Jedem ist klar, dass man in Bezug auf den Südlibanon ohne Syrien nichts erreichen kann und dass man deshalb auch gleichzeitig die Probleme mit Syrien lösen muss. Deshalb kann es schon sein, dass hier eine friedliche Lösung zustande kommt, aber leicht wird auch das nicht sein. Aber im Nahen Osten Prophet sein zu wollen, das ist schon sehr gefährlich.

Welche Rolle spielt eigentlich im Zusammenhang sowohl mit dem Südlibanon als auch mit den syrischen Golanhöhen das Wasser? Anders gefragt, kann Israel es sich überhaupt »leisten«, die dortigen Wasserressourcen zurückzugeben?

Das ist in diesem Zusammenhang natürlich eine wichtige Frage, aber ich glaube das kann geregelt werden. Sicher: Israel ist sehr, sehr durstig. Das Wasser hat immer eine große Rolle gespielt, auch in der »Litani-Operation« von 1976.

Die israelische Presse die eine freie und sehr vielfältige Presse ist glaubt nicht, dass die Wasserfrage eine unlösbare Frage ist, dass sie ein Hindernis für den Frieden sein könnte. Kann sein, dass ich mich irre, aber alle meine Informationen die ich aus den verschiedenen seriösen israelischen Zeitungen habe sprechen dagegen.

Letzte Frage Felicia: In den vergangenen 51 Jahren hat es viele verlustreiche große Kriege im Nahen und Mittleren Osten gegeben, vier davon mit Beteiligung Israels. Wie ist Dein Ausblick auf die nächsten 50 Jahre für die Menschen in dieser Region?

Ich will doch sehr hoffen, dass es keine Kriege mehr geben wird. Es hat sich auch etwas geändert. Die Einschätzung in Israel, dass man nur durch Krieg oder durch Macht und Gewalt etwas erreichen kann, hat sich durch die Intifada geändert. Das begann schon 1973 durch den »Yom Kippur-Krieg«. Es gibt auch so etwas wie Kriegsmüdigkeit in unserer Bevölkerung. Sicher, der Militarismus ist noch stark, aber eine Begeisterung für Kriege wird es nicht mehr geben und man wird nicht mehr so einfach die »Unausweichlichkeit« von Kriegen »einsehen«. Verhandlungen, politische Lösungen werden heute als etwas Positives angesehen.

Andererseits darf man mit Blick auf die Zukunft nicht vergessen, dass wir ein großes atomares Arsenal haben. Nach Informationen des USA-Energieministeriums besitzt Israel 250 atomare Sprengköpfe und es ist, was das Plutonium-Arsenal betrifft, an 6. Stelle in der Welt – nach Russland, den USA, England, Frankreich und China. Das ist das größte Gefahrenpotenzial. Bis jetzt sind wir die einzigen im Nahen Osten, aber für wie lange? Bis jetzt erlaubt unsere Regierung keine Kontrolle der atomaren Waffen, das ist in Israel kaum je ein Thema. Hier sehe ich für die Zukunft die größte Gefahr, die mir auch Angst macht. Wusstest du eigentlich, dass der »Vater« der atomaren Bewaffnung bei uns der Friedensnobelpreisträger Peres war? Da bin ich schon sehr stolz, dass ich den Alternativen Nobelpreis bekommen habe und nicht zu dem Club von Peres und Rabin gehöre.

Felicia Langer, Menschenrechtsanwältin, erhielt neben dem Alternativen Nobelpreis u.a. 1991 den Bruno Kreisky-Preis für Menschenrechte. Sie lebt seit 1990 als freie Autorin in der BRD.
Klaus D. Fischer ist Politologe und Redakteur von »Z« und lebt in Frankfurt.