Die EU und Nahost


Die EU und Nahost

Gefangen im Zweistaaten-Mantra

von Muriel Asseburg

In den letzten 40 Jahren haben die europäischen Staaten versucht, zu einem friedlichen Ausgleich zwischen Israel und den Palästinenser*innen beizutragen. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer der Politikbereiche, in denen die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedsstaaten eine klar definierte gemeinsame Position entwickelt und ein ausdifferenziertes Instrumentarium eingesetzt haben.1 Obwohl sie nur sehr eingeschränkten Einfluss auf die Konfliktdynamiken vor Ort nehmen konnten, halten die EU und ihre Mitgliedstaaten am Mantra einer (verhandelten) Zweistaatenlösung fest. Eine Überprüfung und Anpassung von Politikzielen, Strategien und Instrumenten wäre dringend angezeigt.

Nach wie vor halten die EU und ihre Mitgliedstaaten an der Zweistaatenregelung „als einzig realistischer Lösung des Nahostkonflikts“ (Delegation of the EU 2020) fest. Dabei ist dieser Glaubenssatz längst zu einer Leerformel verkommen, statt als Leitlinie europäischer Politik zu fungieren. So haben die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar eine klar definierte gemeinsame Position entwickelt, regelmäßig die Prinzipien einer Konfliktregelung auf Grundlage von zwei souveränen Staaten betont und ein ausdifferenziertes Instrumentarium eingesetzt, ihre politischen Entscheidungen aber nicht konsequent an diesen Prinzipien ausgerichtet. Damit konnten sie nicht einmal effektiv zum Erhalt der Option einer Zweistaatenregelung beitragen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten waren in den letzten Jahren auch immer weniger in der Lage, ihr Gewicht geeint in die Waagschale zu werfen, um die Kosten-Nutzen-Rechnung der Konfliktparteien zu beeinflussen.

Das europäische Mantra der Zweistaatenlösung

Entsprechende Inkonsistenzen zeigten sich etwa an der Zweideutigkeit der ausgesandten Signale. Beispielsweise kritisierten die EU und ihre Mitgliedstaaten einerseits die israelische Siedlungspolitik und die zunehmend autoritäre Regierungsführung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Andererseits führte das kritisierte Verhalten in beiden Fällen nicht zu spürbaren Kosten für die Verursacher*innen. So setzten die Europäer*innen zwar 2008 eine formale Aufwertung der EU-Israel-Beziehungen aus und stoppten 2012 die Treffen des EU-Israel-Assoziierungsrates. Gleichzeitig aber vertieften sich seither die Beziehungen zwischen Israel und der EU sowie zwischen Israel und einzelnen EU-Mitgliedstaaten weiter. Dadurch wurde nicht nur das intendierte politische Signal konterkariert, sondern auch die Attraktivität einer formalen Aufwertung der Beziehungen deutlich gemindert. Analog erfuhr auch die PA keine signifikante Reduzierung ihrer Unterstützung durch Europa.

Ähnlich widersprüchlich kündigten die EU und ihre Mitgliedstaaten schon 1999 in der sogenannten »Berliner Erklärung« an, einen palästinensischen Staat zu gegebener Zeit“ anerkennen zu wollen (Europäischer Rat 1999). Doch haben sie – abgesehen von Schweden – diese Anerkennung bis heute mit dem Argument verweigert, dass ein palästinensischer Staat aus bilateralen Verhandlungen mit Israel hervorgehen müsse. Damit haben sie Israel de facto ein Veto über die Verwirklichung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts eingeräumt und eine Chance versäumt, die Grenzen von 1967 zu bekräftigen. Ebenso ist die von der EU und ihren Mitgliedstaaten beschlossene Differenzierungspolitik, also die Unterscheidung im Umgang mit Israel und israelischen Einrichtungen in den besetzten Gebieten, bislang nicht konsequent umgesetzt worden, etwa durch das einheitliche Kennzeichnen von Siedlungsprodukten (EuGH 2019; Lovatt o.J.). Angesichts des normativen Selbstverständnisses der EU ist es besonders irritierend, dass einige Mitgliedstaaten auf die palästinensische Führung dahingehend eingewirkt haben, nicht den internationalen Rechtsweg zu suchen, um ihre Ansprüche durchzusetzen bzw. Völkerrechtsverstöße ahnden zu lassen. So suchten sie die PA zunächst davon zu überzeugen, nicht dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten, und bestritten dann die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Ermittlung von Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten (vgl. etwa ICC 2020).

Darüber hinaus haben die EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren immer weniger an einem Strang gezogen und die Position der EU geschwächt, indem sie gemeinsame Beschlüsse nicht konsistent umsetzten und es versäumten, diese entschlossen zu verteidigen. Sie stellten sich nicht einmal hinter die Hohe Vertreterin der EU für Außenbeziehungen, als diese 2017/18 von der Netanjahu-­Regierung ins Abseits gerückt wurde, weil sie die europäischen Standpunkte zu Jerusalem und zur Zerstörung EU-finanzierter Projekte in den palästinensischen Gebieten durch Israel vertrat. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die europäischen Regierungen sich trotz der an sich klar definierten europäischen Position zur Zweistaatenregelung – vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen, Selbstverständnisse, politischer Kulturen und nicht zuletzt Beziehungen zu den USA – uneins sind, welche Bedeutung der Nahostkonflikt in der gemeinsamen Außenpolitik und in den Beziehungen zu Israel einnehmen und wie ein zielführender Umgang mit den Konfliktparteien aus­sehen soll. Diese Unstimmigkeiten hat die israelische Regierung genutzt, um Allianzen mit einzelnen Staats- und Regierungschefs und subregionalen Gruppen zu schmieden, die EU in dieser Frage zu spalten und den Einfluss der Kommission sowie einzelner besatzungskritischer Mitgliedstaaten zu mindern (Asseburg und Goren 2019).

Aktuelle Herausforderungen als Anlass zur Neubewertung

Eine formale Annexion von großen Teilen des Westjordanlandes ist zwar vorerst aufgeschoben, aber – wie führende israelische Politiker*innen betonen – keineswegs vom Tisch. Zudem hat Israels Regierung 2020 den Siedlungsbau sowie die Zerstörung von palästinensischen Häusern und Infrastruktur in strategisch wichtigen Gebieten – und damit die de-facto-Annexion des Westjordanlandes – noch stärker als zuvor vorangetrieben. Die vorgelegten Infrastrukturplanungen lassen keinen Zweifel an Israels Absicht, dauerhaft an der Kontrolle über Jerusalem und das Westjordanland festzuhalten (Rosen und Shaul 2020). Dabei hat sich in Israel und den palästinensischen Gebieten ohnehin längst eine komplexe Einstaatenrealität verfestigt, in der Israel die übergeordnete Kontrolle hat und den Bewohner*innen abhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer religiös-ethnischen Zugehörigkeit und ihrem Wohnort unterschiedliche Rechte zukommen bzw. verwehrt werden (Asseburg 2014).

Vor diesem Hintergrund sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten ihren Ansatz und ihre Politik gegenüber den Konfliktparteien grundsätzlich auf den Prüfstand stellen. Dabei bestehen entgegen dem europäischen Mantra durchaus Alternativen zu einer Zweistaatenregelung, um den nationalen Identitäten sowie individuellen und kollektiven Rechten kooperativ Geltung zu verschaffen (Asseburg und Busse 2016; Baumgarten 2020). Angesichts der Verfestigung der Einstaatenrealität gilt es, kreative und konstruktive Aspekte solcher Modelle – etwa eines binationalen Staates oder einer Konföderation – auszuloten, die geeignet sein könnten, zu einer Konflikt­regelung beizutragen.

Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten das Mantra der Zweistaatlichkeit zugunsten eines binationalen Staates mit gleichen Rechten aller Einwohner*innen aufgeben werden. Erstens würde dies Europa in direkten Widerspruch zu Israels Selbstdefinition als jüdischer und demokratischer Staat und (exklusiver) Zufluchtsort für Jüd*innen bringen. Dies ist, vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, kaum zu erwarten. Zweitens würde die Abkehr vom Zweistaatenparadigma ein vollständiges Überdenken des europäischen Ansatzes gegenüber Israel/Palästina erfordern. Dies wäre nicht nur aufgrund der Pfadabhängigkeit europäischer Politik eine große Herausforderung. Es dürfte auch aufgrund der grundlegenden Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten kaum von Erfolg gekrönt sein. Das Risiko, den europäischen Acquis zu Israel/Palästina zu verlieren, ohne eine Einigung zu erzielen, wäre groß. Dies hat bislang jede grundsätzliche Überprüfung und Anpassung des europäischen Ansatzes verhindert – und dürfte dies auch künftig tun.

Ebenso wenig ist zu erwarten, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Energie stattdessen darauf konzentrieren, konsequenter als bislang auf die Verwirklichung einer Zweistaatenregelung hinzuwirken. In US-Präsident Joe Biden dürften die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar einen Ansprechpartner finden, der für einen multilateralen Ansatz offen ist und dessen nahostpolitische Positionen deutlich näher am bisherigen internationalen Konsens liegen als die seines Vorgängers. Es ist jedoch davon auszugehen, dass eine Konfliktregelung in Nahost auf der Prioritätenliste der Biden-Administration relativ weit unten rangiert. Vor allem aber ist es eher unwahrscheinlich, dass unter den EU-27 ein Konsens darüber erzielt werden kann, wie ihre Politik künftig mit ihren Werten und erklärten Zielen in Einklang gebracht werden soll. Zudem haben sich die Mitgliedstaaten der EU längst mit einer eher unterstützenden als gestaltenden Rolle abgefunden. So dürfte Europa dem Mantra der Zweistaatenlösung verhaftet bleiben und sich damit bescheiden, den Ansatz der Biden-Administration zu Israel/Palästina zu unterstützen. Das heißt auch: Europa wird die Zahlmeisterin bleiben, die ein Spiel finanziert, das mit europäischen Werten und Interessen nicht in Einklang zu bringen ist.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version von Asseburg 2020.

Anmerkung

1) Zu den Instrumenten zählen u.a. die Ernennung von EU-Sonderbeauftragten, die Entsendung einer Grenz- und einer Rechtsstaatsmission, Assoziierungsabkommen mit Israel und der PLO, finanzielle Unterstützung für die Palästinensische Autonomiebehörde, die israelische und palästinensische Zivilgesellschaft und UNRWA sowie humanitäre Hilfe.

Literatur

Asseburg, M. (2014): Nahost-Verhandlungen vor dem Aus. Die Einstaatenrealität verfestigt sich. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2014 (SWP-Aktuell 28/2014).

Asseburg, M.; Busse, J. (2016): Das Ende der Zweistaatenregelung? Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2016 (SWP-Aktuell 27/2016).

Asseburg, M; Goren, N. (Hrsg.) (2019): Divided and Divisive. Europeans, Israel and Israeli-Palestinian Peacemaking. The Israeli Institute for Regional Foreign Policies (MITVIM); Stiftung Wissenschaft und Politik; PAX, Mai 2019.

Asseburg, M (2020): Europa und der Nahostkonflikt. Wie weiter nach dem Ende der Oslo-Ära? In: Lippert, B.; Maihold, G. (Hrsg.): Krisenlandschaften und die Ordnung der Welt, Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2020 (SWP-Studie 2020/S 18), S. 64-71.

Baumgarten, H. (2020): Befreiung in den Staat? Palästina: Was kommt nach der gescheiterten Zwei-Staaten-Lösung? Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dezember 2020.

Delegation of the European Union to Israel (2020): Declaration by the High Representative Josep Borrell on behalf of the EU on the Middle East Peace Process, Brüssel, 28.1.2020.

Europäischer Rat (1999): Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat in Berlin. 24. und 25.03.1999.

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) (2019): Urteil in der Rechtssache C-363/18. Pressemitteilung Nr. 140/19, Luxemburg, 12.11.2019.

ICC (2020): Situation in the State of Palestine. Observation by the Federal Republic of Germany. Den Haag: International Criminal Court, 16.3.2020.

Lovatt, H. (o.J.): Differentiation Tracker. London: ECFR.

Rosen M.; Shaul, Y. (2020): Highway to Annexation. Israeli Road and Transportation Infrastructure Development in the West Bank. The Israeli Centre for Public Affairs; Breaking the Silence, Dezember 2020.

Dr. Muriel Asseburg, Politikwissenschaftlerin, ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Deutsches Institut für internationale Politik und Sicherheit in Berlin.

Palästinas Weg zu Freiheit und Frieden

Palästinas Weg zu Freiheit und Frieden

von Mustafa Barghouti

Die schlimmste Form der Unterdrückung ist die geleugnete Unterdrückung. Die schlimmste Form der Unterdrückung verweigert den Unterdrückten das Recht auf Widerstand. Das ist heute die Situation der Palästinenser*innen.

Israel und die US-Regierung leugnen die militärische Besatzung durch Israel, mittlerweile die längste in der Geschichte der Neuzeit.

Der palästinensische Widerstand wird von Israel und den USA fälschlich als Terror, Gewalt oder Aufwiegelung eingestuft. Solidarität mit den Palästinenser*innen wird häufig als Antisemitismus dargestellt, und verantwortungsbewusste Jüd*innen, die sich für Rechte der Palästinenser*innen einsetzen, werden als »selbsthassende Jüd*innen« bezeichnet.

Obwohl die Palästinenser*innen den höchsten Bildungsgrad und die niedrigste Analphabetenrate in der arabischen Welt aufweisen, haben sie aufgrund der israelischen Beschränkungen des Zugangs zu ihrem Land und Wasser, zu ihren natürlichen Ressourcen und Grenzen eine der höchsten Arbeitslosenquoten unter gebildeten jungen Menschen weltweit.

Die wenigsten wissen, dass ein*e Palästinenser*in im Durchschnitt nur 50 Kubikmeter Wasser im Jahr verbrauchen darf, während israelische Siedler*innen in den völkerrechtswidrigen Siedlungen pro Person 2.400 Kubikmeter im Jahr zur Verfügung haben – Wasser aus den palästinensischen Wasservorkommen in der West Bank.

Viele wissen nicht, dass die meisten großen Verbindungsstraßen, die die besetzte West Bank kreuz und quer durchziehen, nur von Israelis benutzt werden dürfen. Fährt ein*e Palästinenser*in auf diesen Schnellstraßen, so kann sie*er mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden.

Die Palästinenser*innen haben schon alle Formen des Widerstands ausprobiert, vom militärischem Widerstand über friedliche Demonstrationen bis hin zu Diplomatie und Verhandlungen.

Auch nach 72 Jahren besetzt Israel Land mit militärischer Gewalt, baut seine illegalen Siedlungen aus und bereitet die Annexion großer Teile der Fläche vor, die in den Friedensabkommen im Rahmen einer Zweistaatenlösung als Territorium eines palästinensischen Staates ausgewiesen war.

Gleichzeitig drängt die US-Regierung unter Preisgabe der Rechte der Palästinenser*innen auf die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten. Dabei wird versucht, das Kernproblem der Konflikte im Nahen Osten zu marginalisieren: die palästinensische Frage.

Die Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain untergraben die arabische Friedensinitiative, die jegliche Normalisierung mit Israel an die Beendigung der Besatzung und die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates geknüpft hat.

Die Palästinenser*innen wissen um die Machtasymmetrie zwischen ihnen und der rechtspopulistischen israelischen Regierung. Aber sie wissen auch, dass es keine Option ist, vor der Besatzung und einem System der Occupartheid zu kapitulieren. Die palästinensische Jugend wird sich einem System der Unterdrückung und Diskriminierung niemals unterwerfen.

Wir haben aus früheren Erfahrungen gelernt und verstehen die Bedingungen, unter denen wir heute leben. Daher haben sich die Mehrheit der Palästinenser*innen und die meisten politischen Parteien entschieden, auf gewaltfreien Widerstand zu setzen. Hier folgen sie dem Beispiel Martin Luther Kings und Gandhis und ihren Befreiungskämpfen.

Die Palästinenser*innen sind verzweifelt ob der Vielzahl an Fakten, mit denen Israel die Option auf einen unabhängigen palästinensischen Staates zunichte machen will, aber sie geben nicht auf. Vielmehr sind viele Palästinenser*innen umso überzeugter, dass ihre Freiheit entweder in einem unabhängigen Staat, der die West Bank, Ostjerusalem und den Gazastreifen umfasst, oder auf dem Boden des historischen Palästina und unter der Bedingung vollständiger nationaler und rechtlicher Gleichstellung erreicht werden muss. Solange sie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit garantieren, sind für die meisten Palästinenser*innen beide Lösungen akzeptabel.

Es hängt von Israel ab, welche Variante umgesetzt wird. Dazu müssen aber alle Israelis verstehen, dass rassistische Diskriminierung von Palästinenser*innen weder heute noch in Zukunft akzeptabel ist. Darum ist gewaltfreier Volkswiderstand heute so wichtig für die Palästinenser*innen: um Frieden und eine bessere Zukunft für Palästinenser*innen wie für Israelis zu schaffen.

Mustafa Barghouti ist Arzt, Menschenrechtsaktivist und Kämpfer für die Demokratie. Er ist Gründer und Vorsitzender der »Palestinian National Initiative« und gewähltes Mitglied des Palästinensischen Legislativrats.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

»House Demolitions«

»House Demolitions«

Eine szenische Darstellung ästhetischen Widerstandes in Palästina

von Tim Bausch

Die nachfolgende Erzählung und die damit verbundene Analyse sind Teil einer größeren Recherche, die sich auf Formen ästhetischen Widerstandes in Israel und Palästina konzentriert. Der Beitrag beschäftigt sich im Speziellen mit der ästhetischen Dimension von Hauszerstörungen und den damit verbundenen Widerstandspraktiken. Ästhetik wird hier nicht als Synonym für etwas Schönes/Ansehnliches verstanden, sondern vom ursprünglichen Wortsinn (aisthesis = sinnliche Empfindung) her gedacht.

Die in der folgenden Darstellung erwähnten Personen und Umstände sind real. Die Familie hat gebeten, auf eine Anonymisierung zu verzichten, und sucht die Öffentlichkeit.

I. Szene: Spätsommer 2019. Das Grundstück der Familie Qaisyeh liegt etwas abseits der palästinensischen Stadt Beit Jala. Das Anwesen besteht aus einem Restaurant, einem kleinen Garten und einem Wohnhaus, auf dessen Dach ein großes Holzkreuz wacht. Vor einigen Tagen erhielt die Familie einen amtlichen Bescheid über den Abriss der Gebäude. Nun finden sich die Angehörigen mit einem Vertreter des »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zusammen. Während die
juristische Situation von den Anwesenden diskutiert wird, liegt eine paradoxe
Mischung aus Alltag und Ausnahmesituation in der Luft.

Raum und seine Ausgestaltung sind wesentliche Felder des israelisch-palästinensischen Konfliktes. So kam es, dass der Abriss von Wohnhäusern zum integralen Bestandteil der Auseinandersetzungen wurde. Die Gründe für den Abriss können unterschiedlich sein: als Strafaktion gegenüber Familien palästinensischer Attentäter*innen, als baurechtliches Resultat sicherheitspolitischer Einschränkungen oder schlicht aufgrund fehlender Baugenehmigungen (vgl. Hatz 2018, S. 5 f.).

Um diese Gemengelage zu verstehen, muss man wissen, dass das weitgehend von Israel besetzte Westjordanland in drei administrative Zonen (A, B, C) eingeteilt ist. In den A-Gebieten, die vornehmlich palästinensische Großstädte markieren, hat die Palästinensische Autonomiebehörde Handhabe über zivile und sicherheitsrelevante Angelegenheiten; in den B-Gebieten verfügt sie lediglich über die zivile Hoheit. Die C-Gebiete wiederum (ca. 65 % des Westjordanlandes) markieren die Ländereien rund um israelische Siedlungen. Hier hat die Palästinensische Autonomiebehörde, die als regierungsähnliche
Repräsentanz der Palästinenser*innen fungiert, keinerlei Befugnisse. Die C-Gebiete werden also vollumfänglich von Israel kontrolliert. Dort finden Abrissaktionen palästinensischer Wohnhäuser aufgrund fehlender Baugenehmigungen besonders häufig statt. Während die israelischen Siedlungen wachsen, ist es für Palästinenser*innen sehr schwierig, in diesen C-Gebieten Baugenehmigungen zu erlangen. Trotz fehlender Genehmigung entschließen sich manche Familien zum Hausbau. Dieser wird so zum widerständigen Akt per se. Das Haus der Familie Qaisyeh befindet in einer Region namens al-Makhrour, die in
eben einem solchen C-Gebiet liegt. Die israelische Siedlung Har Gilo ist nur wenige Kilometer entfernt.

Neben diesen politischen und rechtlichen Umständen hat der Komplex »Hauszerstörung/Wiederaufbau« auch eine ästhetische Dimension. Im Zuge des vorliegenden Beitrages wird jener ästhetischen Spur auf den Grund gegangen. Dabei wird unter Ästhetik eine Verschränkung von sinnlicher Darstellung und kognitiven Folgen verstanden (vgl. Baumgarten 1983). Ästhetik ist folglich ein Phänomenkomplex, der sowohl die eigentliche Darbietung als auch die individuellen und kollektiven Folgen in eine direkte Beziehung setzt. Ästhetik als solche erhebt den Anspruch, soziale Wirklichkeit auf eine besondere Art
und Weise darzustellen.

Ästhetischer Widerstand trägt wiederum ein starkes politisches Moment in sich, indem er das Bestehende negiert oder zumindest in Frage stellt. Sinnliche Welterzeugung ist folglich der Modus Operandi des ästhetischen Widerstandes: So kann das Unverfügbare (beispielsweise fehlende politische Rechte) erfahrbar gestaltet werden, es können politische Utopien verkörpert und Möglichkeitsräume für Ideen eröffnet werden.

II. Szene: Der Kampf der Familie dauert schon einige Jahre an. Teile des Anwesens wurden mehrfach wegen fehlender Baugenehmigungen abgerissen. Und so kommt es auch diesmal: Wenige Tage nach dem Zusammentreffen in der ersten Szene ziert das große Holzkreuz nicht mehr den Giebel des Wohnhauses, sondern steht wie ein stiller Zeuge vor dessen Trümmern (Abb. 1). Der staatlich verordnete Abriss konnte trotz juristischer Anstrengungen nicht aufgehalten werden. Nun stehen Hab und
Gut der Familie
aufgereiht auf dem Rasen. Daneben zwei Zelte, in denen die Familie vorerst nächtigen wird (Abb. 2). Und auch in dieser Szene ist die paradoxe Stimmung von Alltag und Ausnahmesituation zu spüren. Neben Wut und Trauer finden sich bereits Überlegungen zum Wiederaufbau. Während der Aufräumarbeiten wird gescherzt, die Stimmung ist wolkig bis heiter.

Wieso ist da trotz der familiären Katastrophe eine Spur Heiterkeit? Wieso wird über einen Wiederaufbau nachgedacht, wo doch bei ausbleibender Baugenehmigung die abermalige Zerstörung die logische Konsequenz sein dürfte?

Um das Phänomen der Hauszerstörungen und des ungenehmigten (Wieder-) Aufbaus zu verstehen, muss auf einen größeren Zusammenhang verwiesen werden: Während der gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen Palästinenser*innen und Israelis, die mit der Gründung des israelischen Staates einhergingen, wurden knapp fünfhundert palästinensische Dörfer zerstört. Von den meisten dieser Dörfer sind heute nur noch die Reste der Grundmauern zu erkennen. Auch ehemals palästinensische Zentren, beispielsweise Jaffa, haben sich seitdem sehr verändert: Hochhäuser schossen empor, Straße wurden umbenannt, und ein
neuer Lifestyle hat Eingang in den Alltag gefunden. Kurz, die Landschaft hat eine neue Sichtbarkeitsordnung bekommen (vgl. Rancière 2002). Die Raumkomponente des Konfliktes wird folglich nicht nur durch die politische Geographie, sondern auch durch dessen ästhetische Gestaltung getragen. Den Konfliktakteuren geht es dabei auch um ihre eigene kulturelle Präsenz und Sichtbarkeit. So kann die (Nicht-mehr-) Existenz eines Olivenhains ebenso zum Konfliktfeld werden wie die Beschaffenheit einer Hausfassade. Dies gilt insbesondere für das so genannte Westjordanland. Während sich israelische
Siedlungen durch ihre Lage auf Anhöhen buchstäblich hervorheben, liegen palästinensische Dörfer oftmals in Tälern. Der Architekt und Aktivist Eyal Weizman (2012) bezeichnet solche Ordnungen auch als „Politik der Vertikalität“. In den C-Gebieten wirken die israelischen Siedlungen somit deutlich markanter als die Dörfer der Palästinenser*innen. Viele Palästinenser*innen verstehen dies bereits als visuelle Repräsentation einer spezifischen Machtordnung.

Widerständige Praktiken haben häufig das Ziel, die herrschende Sichtbarkeitsordnung zu stören. Und so sind palästinensische Häuser, insbesondere jene, die ohne Genehmigung entstehen/bestehen und dadurch die herrschende Sichtbarkeitsordnung stören, die ästhetische Grundierung eines politischen Widerstandsnarratives (vgl. Braverman 2007, S. 335). Für den Soziologen Hermann Pfütze (2018) hat ästhetischer Widerstand das Ziel, dem Zerstörerischen ein schöpferisches Potential entgegenzusetzen. In der palästinensischen Ideengeschichte hat dieses Entgegenstellen einen Begriff: »sumud«, was sich mit
Standhaftigkeit übersetzten lässt. Oder wie Hassan Breijieh vom »Committee Against the Wall and Settlements in Bethlehem« zu sagen pflegt: „Wo palästinensisches Leben ist, hat Okkupation keinen Raum. Also müssen wir Leben kreieren.“ In diesem Sinne fungiert jedes wiederaufgebaute palästinensische Haus als eine visuelle Metapher des »sumud« – der palästinensischen Standhaftigkeit.

Durch den Wiederaufbau wird die Gerichtsbarkeit der israelischen ­Besatzung negiert. Schließlich geht es den hier handelnden Palästinenser*innen weniger um Recht, sondern um Gerechtigkeit. Für sie sind die Verfügungen israelischer Gerichte ein illegitimes Verwaltungsinstrument der Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann bei dieser Auseinandersetzung kaum helfen, weshalb die widerständigen Akteure selbst tätig werden. Der Wiederaufbau ist also Selbsthilfe von unten mit dem Ziel, die eigene Existenz zu sichern und die damit verbundenen Ansprüche auch ästhetisch geltend zu
machen. Das, was augenscheinlich nicht verfügbar ist, also die Selbstbestimmung, wird mittels der ästhetischen Widerstandspraktik des Wiederaufbaus sinnlich erzeugt. Ästhetischer Widerstand ist, wie sich hier zeigt und eingangs bereits festgestellt wurde, eine Form der Welterzeugung. Darüber hinaus ist ästhetischer Widerstand auch immer ein Produzent von Empfindungen. Auch dies zeigt sich an der Geschichte der Familie Qaisyeh: Die Geschehnisse ziehen (Wirk-) Kreise und wecken so die Aufmerksamkeit verschiedenster Akteure.

III. Szene: Einige Tage nach dem Abriss: Das Kreuz wacht noch immer vor den Trümmern des Wohnhauses. Die Familie ist nicht allein. Verwandte, lokale Politiker und Geistliche sind anwesend. Die Tragik der Ereignisse erfährt mediale Aufmerksamkeit und die Familie Zuspruch.

Die Geschehnisse rund um eine Hauszerstörung erfolgen alles andere als klang- und sanglos. Auch wenn die israelischen Soldat*innen während des eigentlichen Aktes der Zerstörung das Terrain um das Anwesen absperren, versammeln sich Pressevertreter*innen in der Nähe. In den Tagen vor und nach der Zerstörung findet sich die Geschichte in sozialen Medien, wie Twitter und Facebook, wieder. Auch die Familie dokumentiert mit Handykameras den Abriss. Die daraus resultierenden Bilder fördern Trauer und Wut, wie in der Kommentarfunktion von Facebook deutlich wird. Aus dem Akt der Zerstörung folgt
also eine weitere ästhetische Ebene, sind die produzierten Bilder doch eindrücklich: Große Maschinen lassen die Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen, aufgeregt versuchen sich die Bewohner*innen und Angehörigen den Abrissbirnen entgegen zu stellen und werden schließlich doch von israelischen Soldat*innen an die Seite gedrängt. Die Szenerie hat eine ritualisierte Theatralik (vgl. Goffman 2011). Ästhetik und Emotionen sind zwei Seiten einer Medaille. Ästhetik ist also eine Form der Welterzeugung, die in einer spezifischen Weltempfindung mündet.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die palästinensische Gesellschaft in unterschiedlichem Maße von der Okkupation betroffen ist. Okkupation kann konkret oder abstrakt sein. Privilegiertere Familien in Ramallah erfahren die Okkupation auf eine andere Weise als etwa Palästinenser*innen in den C-Gebieten. Geteilte Bilder können durch die hervorgerufene Anteilnahme Kollektivität fördern.

Ein weiteres Spezifikum des Ästhetischen wird hier sichtbar: Durch die Empfindungen/Emotionen, die mit den produzierten Bildern einhergehen, erwächst eine Mobilisierung, denn die Anteilnahme, die mit Hauszerstörungen einhergeht, geht über die palästinensische Gesellschaft hinaus: In aktivistisch-akademischen Diskursen (Stichwort »domicide«), von internationalen und nationalen (palästinensischen, aber auch israelischen) Nichtregierungsorganisationen und unterschiedlichsten Medien werden die Geschehnisse verarbeitet und multipliziert.

Das Beispiel der Hauszerstörungen ist nur eines von vielen, in denen Ästhetik eine signifikante Rolle in Konflikten spielt. Oftmals verbinden sich ästhetische Momente mit raumtheoretischen Fragen. Die Stadt Hebron kann hier als Beispiel angeführt werden. Mehrere israelische Siedlungen und (bewaffnete) Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und dem palästinensischen Widerstand haben das Gesicht der Stadt verändert: Verschiedenste Sicherheitszonen und Kontrollpunkte entstanden, Häuser wurden geräumt und zerstört. Das von der Palästinensischen Autonomiebehörde geförderte
»Hebron Rehabilitation Committee« hingegen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die palästinensische Architektur in der umkämpften Stadt zu erhalten und/oder wieder herzustellen. Am so genannten »Land Day« wiederum, der jährlich stattfindet und an staatliche Enteignungen seitens Israel erinnert, pflanzen viele Palästinenser*innen im Westjordanland Olivenbäume. Der Olivenbaum fungiert hier als Symbol für die palästinensische Verwurzelung mit dem Land. Und so zeigt sich, dass Ästhetik und ästhetischen Widerstandspraktiken in Konflikten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. Für die
Familie Qaisyeh ist im Übrigen klar, dass das alte Kreuz auch wieder auf ihrem neuen Haus stehen wird. Auf die Frage, was den Optimismus der Familie nährt, antwortet die Tochter: „Nun, wir sind eben Palästinenser.“

Literatur

Baumgarten, A.G (1983): Theoretische Ästhetik: die grundlegenden Abschnitte aus der
»Aesthetica«. Hamburg: F. Meiner.

Goffman, E. (2011): Wir spielen alle Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. München/Zürich: Piper.

Hatz, S. (2018): Selective or collective? Palestinian perceptions of targeting in house demolition. Conflict Management and Peace Science, 21 S., Online-Publikation 18.9.2018.

Pfütze, H. (2018): „Schönheit ist Personenschutz“. In: Bosch, A.; Pfütze, H. (Hrsg.): Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-25.

Rancière, J. (2002): Das Unvernehmen – Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Weizman, E. (2012): Hollow Land – Israel’s Architecture of Occupation. New York: Verso.

Tim Bausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhles für Internationale Beziehungen an der Universität Jena. In seinem Disserationsprojekt arbeitet er zu ästhetischen Widerstandsformen vor dem Hintergrund spezifischer Herrschaftsformen.

Israel /Palästina


Israel /Palästina

Zur Kampagne gegen Friedenskräfte im israelisch-palästinensischen Konflikt

von Wilhelm Kempf

Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg besteht dringender Bedarf an einem offenen Diskurs, der die Rechte von Israelis und Palästinensern anerkennt und um einen Ausgleich zwischen den beiden Gesellschaften bemüht ist. Dieser Diskurs wird jedoch durch den Widerspruch zwischen Werten belastet, die aus guten Gründen für die meisten Juden sehr wichtig sind: dem Wert des Zionismus, d.h. Israel als jüdischer Staat, und den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit und der Demokratie. „Dieser Widerspruch“, sagt der israelische Philosoph Omri Boehm (2015), „bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben.“

Bei einer Belastung durch widersprüchliche Werte kann der resultierende Verlust an Selbstwertgefühl vermieden werden, indem das konkrete Handeln von den moralischen Standards abgekoppelt wird (Bandura 1999). Im Falle der israelischen Occupartheid1 ist es aber nicht nur der drohende Selbstwertverlust, der zur moralischen Ablösung zwingt, sondern auch die Angst vor einer Renaissance des Antisemitismus, der sich gegen Israel als »den Juden unter den Staaten« wendet.

Diese Befürchtung ist nicht unbegründet, zumal laut Ergebnissen des ASCI-Surveys (Kempf 2015) ein Viertel der Deutschen als antisemitische Israelkritiker einzustufen sind, deren (scheinbare) Parteinahme für die Palästinenser*innen letztlich nur als Mittel dient, »das wahre Gesicht der Juden« zu entlarven, und ein weiteres Zehntel jede Positionierung zur israelischen Politik vermeidet, »weil man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt«.

Immerhin vier von zehn Deutschen kritisierten die israelische Politik jedoch deshalb, weil sie für die Universalität der Menschenrechte eintreten, Antisemitismus und Islamophobie gleichermaßen ablehnen und eine Politik verurteilen, die nicht nur den Palästinenser*innen Unrecht antut, sondern auch Israel von innen heraus zu zerstören droht (Keret 2013).

Seit Israel 2001 auf der UN-Konferenz von Durban der Apartheid bezichtigt wurde und mehr noch seit die – auch von vielen Juden unterstützte – »Boycott, Divestment & Sanctions«-Bewegung (BDS) einige Erfolge zu verzeichnen hat, setzen die Befürworter der Occupartheid jedoch alles daran, die Angst vor einem antiisraelischen Antisemitismus noch weiter zu schüren und die Occupartheid-Gegner als Antisemiten abzustempeln.

Antisemitismus bedeutet Feindschaft gegen Juden als Juden. D.h. der entscheidende Grund für die Ablehnung ist die angebliche oder tatsächliche jüdische Herkunft eines Individuums, einer Gruppe oder auch Israels, als jüdischem Staat (Demirel et al. 2011). Bei BDS ist dies nicht der Fall. BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die auf Israel Druck auszuüben versucht, seine Palästinapolitik zu ändern und die Occupartheid zu beenden. Und BDS ist eine Bewegung, die den israelisch-palästinensischen Konflikt verändern könnte „wenn der Diskurs von Begriffen wie Stärke und Widerstandsfähigkeit auf die Ebene von Rechten und Werten wechselt“ (Burg 2014).

Kompetitive Fehlwahrnehmungen und gesellschaftliche Grundüberzeugungen

Die Trennlinie im israelisch-palästinensischen Konflikt verläuft aber nicht mehr zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen all jenen, die in Frieden leben wollen, und jenen, die ideologisch und emotional auf Gewalt setzen (Grossmann 2014). Selbst unter amerikanischen Juden finden sich nur ca. 8 % bedingungslose Unterstützer von Netanjahus Politik (Ben-Ami 2011), und 60 % der Juden in der Diaspora glauben nicht, dass sich Netanjahus Regierung um Frieden mit den Palästinensern bemüht (Goldmann 2015).

Um diesem Zustimmungsverlust entgegenzuwirken, hat der Vorsitzende der Jewish Agency, Natan Sharansky, den so genannten Drei-D-Test erfunden, mittels dessen sich antisemitische Israelkritik identifizieren lassen soll: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral als Alleinstellungsmerkmale für antiisraelischen Antisemitismus.

So plausibel dieser Test auch scheinen mag, kann er jedoch höchstens einen Anfangsverdacht begründen. Wie jeder eskalierte Konflikt geht auch der israelisch-palästinensische mit kompetitiven Fehlwahrnehmungen (Deutsch 2000) einher, die sich in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten. Diese sind u.a. durch den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und an die eigene Opferrolle sowie durch den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke geprägt (Bar-Tal 1998). Dies findet – völlig spiegelbildlich – auf beiden Seiten statt: Woran die eine Seite glaubt, wird von der anderen strikt zurückgewiesen (Kempf 2015) und als Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral empfunden.

Indem Natan Sharansky die drei Ds aber mit dem Label des Antisemitismus versehen hat, tritt zu ihnen ein viertes D hinzu: die Denunziation derer, die für eine Friedenslösung in Israel/Palästina eintreten. Eine Denunziation, die jegliche – auch noch so kleine – Abweichung von den eigenen Glaubenssätzen als antisemitisch brandmarkt, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschränkt und eine kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Palästinapolitik zu verhindern sucht.

Schon seit geraumer Zeit hat diese Denunziationskampagne auch auf Deutschland übergegriffen, wo sie nicht nur in den Medien, sondern zunehmend auch an den Universitäten geführt wird. Welcher Mittel sie sich bedient und wogegen sie sich richtet, soll im Folgenden anhand von fünf Vorfällen während der zweiten Jahreshälfte 2016 untersucht werden:

1. Kündigung des Bankkontos des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« durch die Bank für Sozialwirtschaft;

2. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« an der Universität Marburg;

3. vom »Tagesspiegel« losgetretene Pressekampagne gegen das aus öffentlichen Geldern finanzierte palästinensische Kulturfestival »After the Last Sky« im Berliner Ballhaus Naunynstraße;

4. Verbot einer Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren in Gaza und den besetzen Gebieten im Foyer des Heidelberger Rathauses und

5. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über Ergebnisse des Surveys »Anti-Semitism and the Criticism of Israel« (ASCI) an der Universität Freiburg.

Rufmord, Verleumdung und Unterstellungen

Die Auswahl dieser fünf Vorfälle ist zwar beliebig, jedoch repräsentativ für das Spektrum an Themen, die aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden müssen, wenn Netanjahus Politik nicht weiter an Unterstützung verlieren soll.

Allen fünf Vorfällen ist gemeinsam, dass sie darauf abzielen, den Occupartheid-Gegnern die Handlungsfähigkeit zu entziehen: von der Kündigung des Bankkontos der »Jüdischen Stimme« und dem Verbot der Ausstellung im Heidelberger Rathaus über die Forderung nach Verhinderung des Vortrags an der Uni Marburg und Schließung des »Cafe Palestine« an der Uni Freiburg bis zur Druckausübung auf den Berliner Senat, die Mittelvergabe im Kulturbereich auf den Prüfstand zu stellen. Ebenso gemeinsam ist ihnen die rechtliche Bedenklichkeit der Mittel: von anonymer Hetze über die Verletzung journalistischer Normen und des Presserechts bis zu Vertragsbruch und mutmaßlicher Verletzung des Bankgeheimnisses.

Das Spektrum der Personen und Institutionen, die offen des Antisemitismus bezichtigt werden, ist (fast) flächendeckend und umfasst die »Jüdische Stimme« und die BDS-Bewegung ebenso wie das frühere Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, Rolf Verleger, und das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung«, den Fachbereich Friedens- und Konfliktforschung an der Uni Marburg sowie die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals. Nur das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft kommt bei seiner Intervention gegen die Ausstellung »Kinder in Palästina« ohne Rufmord aus und verweist stattdessen auf die Neutralitätspflicht der Stadt Heidelberg.

Auffallend ist die neue Sprachregelung. Während man jüdische Kritiker*innen der israelischen Palästinapolitik bisher als »self-hating Jews« zu verunglimpfen pflegte, spricht man nun von jüdischem Antisemitismus. Wurden bislang die »self-hating Jews« zwar als von Selbsthass getrieben, aber dennoch in erster Linie als Juden gezeichnet, so scheint die Entwicklung nun dahin zu gehen, die Unterstützung der Occupartheid zum Definitionsmerkmal dafür zu machen, wer sich zu Recht jüdisch nennen darf. Zumindest aber geht sie in die Richtung, den Zionismus in seiner heutigen Form an die oberste Stelle der Wertehierarchie zu rücken. Dafür spricht auch, dass Antizionismus vor allem den jüdischen Occupartheid-Kritiker*innen zum Vorwurf gemacht wird, nicht aber jenen Leuten, von denen es sich – aufgrund ihrer Nähe zu den Palästinensern – am ehesten erwarten ließe.

Dabei sind es aber nicht nur Etiketten wie Antisemitismus oder Antizionismus, mittels derer man Rufmord an den Occupartheit-Kritiker*innen begeht, sondern handfeste Verleumdungen, mittels derer sie mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden und/oder ihnen unterstellt wird, auf die Vernichtung Israels aus zu sein.

Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral

Um Kritik an der israelischen Occupartheid abzuwehren, bedienen sich ihre Unterstützer*innen (fast) des gesamten Spektrums der von Bandura (1999) identifizierten Mechanismen der moralischen Ablösung: Rechtfertigung durch höhere moralische Ziele, wie die Sicherheit Israels als Schutzraum vor dem globalen Antisemitismus; palliative Vergleiche, die auf Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten abheben; euphemistische Begrifflichkeit, die z.B. Neutralitätspflicht als Chiffre für Unterdrückung des Sichtbarwerdens von für Israel ungünstigen Tatsachen verwendet; Leugnung, Ignorieren und Missdeutung der Folgen der Occupartheid, z.B. als Täter-Opfer-Umkehr; Dehumanisierung der Palästinenser*innen durch Unsichtbarmachen der palästinensischen Bevölkerung, Geschichte und Kultur; Schuldzuweisungen, z.B. gegen die Hamas, aber auch gegen die palästinensische Autonomiebehörde, die Kuratorinnen des Kulturfestivals und den Berliner Senat; Abwälzen der Verantwortung für die zivilen Opfer im Gaza-Krieg (2014) auf die Hamas und/oder für die Occupartheid auf den globalen Antisemitismus.

Die Abkoppelung der Occupartheid von moralischen Prinzipien bildet schließlich die Grundlage, auf welcher die drei Ds Plausibilität gewinnen.

Explizit der Doppelmoral bezichtigt werden u.a. der UN-Menschenrechtsrat und die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals, wobei die Themen, die mittels der drei D aus dem Diskurs ausgeschlossen werden sollen, von der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Besatzung bis zu jener nach der Opferrolle (auch) der Palästinenser*innen reicht. Man sieht darin eine Dämonisierung des jüdischen Staates als »illegitimes rassistisches Regime«.

Ob »ethnische Säuberung«, »Siedler-Kolonialismus« oder »Apartheid« angemessene Begriffe sind, um die Realität der Occupartheid zu beschreiben, ließe sich sachlich diskutieren. Indem unterstellt wird, dass sie bewusst verwendet werden, um Israel schlimmstmöglicher Verbrechen zu beschuldigen, werden aber nicht nur diese Begriffe zurückgewiesen, sondern jeglicher Diskurs über die Sachverhalte, die sie (wenn auch unzureichend) zu benennen versuchen.

Der Vorwurf der Delegitimierung Israels richtet sich dabei nicht nur gegen diese Begrifflichkeit als solche, sondern ad personam gegen die Occupartheid-Gegner*innen, und findet ihr Spiegelbild in der Delegitimierung von Menschrechtspositionen schlechthin, wobei Delegitimierung und Dämonisierung Hand in Hand gehen und die Vorwürfe von Verharmlosung palästinensischer Gewalt und des Antisemitismus über Hetze gegen den Judenstaat bis zur Befürwortung der Zerstörung Israels reichen.

Die Doppelmoral, derer sich die Unterstützer*innen der Occupartheit dabei ihrerseits bedienen, tritt in der Gleichzeitigkeit von Dämonisierung und Dämonisierungsvorwurf bzw. Delegitimierung und Delegitimierungsvorwurf deutlich zu Tage. Nur im Zusammenhang mit dem Ausstellungsverbot äußert sie sich in einer gleichsam »eleganteren« Form: in der »Neutralitätspflicht»«, welche die Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren als »hochpolitisch«, verbietet, während eine Ausstellung über den Jewish National Fond und dessen Aktivitäten (u.a. in den besetzten Gebieten) ohne Proteste gezeigt werden konnte.

Schluss

Man kann sich zu BDS so oder so verhalten. Man kann sich der Bewegung anschließen oder sich davon fernhalten. Man kann sich auch dagegen wehren. Wenn z.B. der Verein »Jüdische Stimme« zum Boykott des Jewish National Fond auffordert und dessen Präsidentin daraufhin Druck auf die Bank für Sozialwirtschaft ausübt, ihre geschäftliche Verbindung mit der »Jüdischen Stimme« zu beenden, dann wird damit zunächst nur Gleiches mit Gleichem vergolten.

Aber könnte man den Meinungsstreit über die israelische Palästinapolitik nicht auch mit fairen Mitteln austragen? Noch vor einem Dutzend Jahren konnte man sich sogar in Israel trefflich streiten. Heute ist dies selbst in Deutschland kaum noch möglich, und die hier untersuchten Vorfälle sind noch nicht einmal der Höhepunkt der laufenden Kampagne gegen die Meinungsfreiheit. Anfang 2017 wurden sie mit der Nichtverlängerung des Lehrauftrages von Eleonora Roldán Mendivil am Otto-Suhr-Insti­tut (OSI) der FU Berlin und durch einen Hackerangriff auf die Website des »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« noch einmal getoppt.

Der Vorfall am OSI ist aus mehreren Gründen besonders brisant: Erstens ging es dabei nicht um Inhalte der Lehrveranstaltung, sondern um einen (im Internet inzwischen gelöschten) Blog der Lehrbeauftragten. Zweitens wurde die Nichtverlängerung des Lehrauftrages bereits verfügt, bevor die Vorwürfe überprüft waren und das Gutachten des damit betrauten Antisemitismusforschers Wolfgang Benz vorlag. Und drittens hat das OSI für den Fall vorgesorgt, dass das Gutachten die Lehrbeauftragte entlasten könnte: Künftig soll ein BA für die Vergabe von Lehraufträgen nicht mehr ausreichen, sondern mindestens ein MA gefordert werden, über den Frau Roldán Mendivil (noch) nicht verfügt. Man hätte es auch gleich so formulieren können: Am OSI darf nur lehren, wer sich vorbehaltlos zur Occupartheid bekennt.

Anmerkung

1) Definiert als Diskriminierung zwischen Bevölkerungsgruppen auf Grundlage der ethnischen Herkunft als Ergebnis einer dauerhaften Besatzung (Bar-Tal 2015).

Literatur

Bandura, A. (1999): Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. Personality and Social Psychology Review, Vol. 3, No. 3 (Special Issue on Evil and Violence), S. 193-209.

Bar-Tal, D. (1998): Societal beliefs in times of intractable conflict – The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, Vol. 9, No. 1, S. 22-50.

Bar-Tal, D. (2015): “Love your neighbor as yourself”. Documentation of an open letter by Prof. Daniel Bar-Tal, Tel Aviv University, Israel. conflict & communication online 14/1.

Ben-Ami, J. (2011): A new voice for Israel – Fighting for the survival of the Jewish nation. New York: palgrave macmillan.

Boehm, O. (2015): Jüdischer Ungehorsam. Interview im Deutschlandfunk, gesendet 8.2.2015, 9:30 Uhr.

Burg, A. (2014): Was ist falsch an Boykotten und Sanktionen? Der Standard, 17.2.2014.

Demirel, A.: Farschid, O.; Gryglewski, E.; Heil, J.; Longerich, P.; Pfahl-Traughber, A.; Salm, M.; Schoeps, J. H.; Wahdat-Hagh, W.; Wetzel, J. (2011): Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7700.

Deutsch, M. (2000): Cooperation and competi­tion. In: Deutsch, M. and Coleman, P. T. (eds.): The handbook of conflict resolution – Theory and practice. San Francisco: Jossey-Bass, S. 21-40.

Goldmann, A. (2015): Diaspora unzufrieden mit Israel – Mehrheit der Juden bezweifelt, dass Jerusalem sich ausreichend um Frieden mit Palästinensern bemüht. Jüdische Allgemeine, 3.8.2015.

Grossmann, D. (2014): Erinnern wir uns an die Zukunft. TagesAnzeiger, 4.8.2014.

Kempf, W. (2015): Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee – Eine Spurensuche. Berlin: verlag irena regener.

Keret, E. (2013): Die Besatzung frisst unsere Seele. Frankfurter Rundschau, 16.2.2013.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (cco.regener-online.de).

Offene »Briefe an die Welt«

Offene »Briefe an die Welt«

Die ILO-Berichte zu den besetzten palästinensischen Gebieten

von Eva Senghaas-Knobloch

In dem lang andauernden Konflikt über Israel und Palästina wird immer wieder heftig über Sachverhalte gestritten, oft auf tagesaktuelle Ereignisse bezogen. Hier wie in anderen gewaltträchtigen Konflikten kommt es aber darauf an, lange Zeitspannen und gesellschaftliche Entwicklungen im Blick zu haben. Langzeitdokumentationen über die soziale und Arbeitssituation, in der die palästinensische Bevölkerung lebt, sind verfügbar; sie sollten für die friedenspolitische Debatte genutzt werden.

Seit fast vierzig Jahren legt der Generaldirektor der International Labour Organization, ILO; Internationale Arbeitsorganisation, IAO) Jahr für Jahr einen Bericht über „[d]ie Lage der Arbeitnehmer der besetzten arabischen Gebiete“ vor. Ausgestattet mit einem Mandat von 1974,1 das 1980 erneuert wurde,2 hatte der damalige Generaldirektor Francis Blanchard 1978 damit begonnen, Missionen nach Israel und in die nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1967 von Israel besetzten Gebiete Gazastreifen, Golanhöhen, Ostjerusalem und Westjordanland zu entsenden.3 Die Missionsberichte könnten einen Grundstock für die friedenspolitisch notwendige Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen vor Ort bilden. Dazu müsste ihre friedenspolitische Relevanz anerkannt werden, wenigstens im 50. Jahr seit Beginn der israelischen Besatzung.

Die seit 1919 bestehende ILO zeichnet sich unter allen heute existierenden Sonderorganisationen der Vereinten Nationen dadurch aus, dass ihre 187 Mitgliedsstaaten nicht nur durch Regierungen, sondern auch durch die gesellschaftlichen Interessengruppen der Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen4 vertreten sind. Darin spiegelt sich die Grundüberzeugung der Organisation, dass die soziale Dimension für den innergesellschaftlichen Zusammenhalt und den internationalen Frieden grundlegend ist und dass das Prinzip des Sozialen Dialogs das geeignete Verfahren ist, um Interessenkonflikte zu einem Ausgleich zu bringen. Missionen zur Klärung von Sachverhalten vor Ort und darauf aufbauende Empfehlungen sind daher ein klassisches Verfahren der ILO.

Die vom Generaldirektor entsandten hochrangigen Missionsmitglieder aus dem Stab der ILO haben den Auftrag und Anspruch, sich während ihrer Reisen, die jeweils im Frühjahr stattfinden, ein möglichst objektives und unabhängiges Bild von den Fakten vor Ort zu verschaffen sowie technische Unterstützung für die Umsetzung grundlegender menschenrechtlicher Normen anzubieten und zu leisten. Sie sammeln Daten und sprechen mit Angehörigen der israelischen und palästinensischen Führung und Behörden, mit israelischen und palästinensischen Gewerkschaftsführer*innen, Vertreter*innen von Arbeitgebern, Kammern und akademischen Einrichtungen sowie – seit der Jahrhundertwende – auch mit Expert*innen weiterer UN-Agenturen und zivilgesellschaftlicher Organisationen.5

Zur grundlegenden politischen Philosophie der ILO gehört die Auffassung, dass kollektive Gewalt und Krieg in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und konkreten Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung stehen und dass es darauf ankommt, einer gewaltträchtigen Unzufriedenheit in der Folge von Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen entgegenzuwirken. Bei der Verfolgung dieses Ziels hat sich die ILO von einer vorrangig normsetzenden internationalen Organisation mit industriegesellschaftlichem Fokus hin zu einer universalen Organisation entwickelt, die bestrebt ist, normative Gesichtspunkte und praktisch-technische Unterstützungen vor Ort miteinander zu verbinden.

Der ILO-Bericht von 1983 hatte einst den Auftrag der Mission in den besetzten arabischen Gebieten präzisiert: „ Bei der Prüfung von Sachverhalten auf dem Gebiet der Arbeit unter dem Blickwinkel der Nichtdiskriminierung und der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung geht das IAA [Internationales Arbeitsamt, der Stab der ILO] von bestimmten, von der Internationalen Arbeitskonferenz angenommenen grundlegenden Normen und Leitprinzipien aus. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Erklärung von Philadelphia über die Ziele und Zwecke der IAO, der zufolge ‚Alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, […] das Recht [haben], materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde, in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Bedingungen zu erstreben’. Als Bezugsnormen dienen im Wesentlichen die Normen über die Diskriminierung und Beschäftigung und Beruf sowie über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes […]. Darüber hinaus muß selbstverständlich der Besatzungsstatus, der seit 1967 für diese Gebiete und ihre Bevölkerung bestimmend ist, berücksichtigt werden, weil er zwangsläufig, wie alle Missionen des Generaldirektors betont haben, die Grundsätze der Gleichheit, der Freiheit und der Würde berührt, die den erwähnten Prinzipien und Normen zugrunde liegen.“6

Die seit 1978 vorgelegten Berichte geben Auskunft über Spannungen, Streiks, Aufstandsbewegungen, Gewalt von palästinensischer und israelischer Seite sowie militärische Aktionen. So fand die Mission von 1996 beispielsweise unter besonders dramatischen Umständen während der Militäroperation der israelischen Armee im Süden des Libanon statt. Die Berichte rekurrieren ebenso auf Verhandlungen und adressieren die politischen und ökonomischen Veränderungen in den besetzten Gebieten vor dem Hintergrund der nie eingestellten israelischen Siedlungsaktivitäten im Westjordanland. Neben Israels Annexion von ganz Jerusalem im Jahre 1980 sind in diesem Zusammenhang zwei politische Entwicklungen besonders bedeutsam: die so genannten Oslo-Abkommen der 1990er Jahre sowie seit dem letzten Jahrzehnt die Spaltung der palästinensischen Führung:

Nach der 1987 gewaltfrei begonnenen ersten Intifada und neuen Verhandlungsrunden in der Folge der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid im Oktober 1991 war es im Zusammenhang mit den Oslo-Abkommen erstmals zu einer gegenseitigen Anerkennung der Konfliktparteien gekommen, ebenso zu einer Grundsatzerklärung über die Regelungen für eine Übergangsselbstverwaltung der Palästinenser (in Washington unterzeichnet am 13.9.1993). Im so genannten Oslo-2-Übergangsabkommen (in Wa­shington unterzeichnet am 28.9.1995) wurden u.a. der Abzug israelischer Truppen aus sechs palästinensischen Städten und die Aufteilung des Westjordanlands in die Zonen A, B und C mit abgestuften Zuständigkeiten für die israelische und palästinensische Seite geregelt.

Zone A mit den großen palästinensischen Städten, die nur 18 % der besetzten Gebiete ausmacht, wurde unter volle Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde gestellt (mit bedeutenden Ausnahmen, insbesondere in Hebron). Zone A deckt zusammen mit der Zone B, in der Israelis und Palästinenser gemeinsam für Sicherheit sorgen sollen, 42 % des Westjordanlandes ab. Diese Gebiete haben weitgehend Enklavencharakter. Das größte Gebiet, die Zone C, das natürliche fruchtbare Hinterland der palästinensischen Dörfer, Gemeinden und Städte, das das gesamte Gebiet verbinden könnte, wurde unter israelische Kontrolle gestellt. Das Übergangsabkommen wurde nie von einer endgültigen Regelung abgelöst.

Schon im Missionsbericht von 1996 (Ziffer 19) wurde angemerkt, dass die „heikelsten Fragen, die noch offen sind, nämlich die Jerusalem-Frage und die Politik der Errichtung jüdischer Siedlungen“ weiterhin der Verhandlungslösung harren, aber die Siedlungstätigkeit seit der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung von 1993 „erheblich zugenommen“ hat. Dass die Siedlungen nach dem Völkerrecht illegal sind, wird in jedem Bericht unterstrichen, u.a. mit Verweis auf die Konferenz der Hohen Vertragsparteien des Vierten Genfer Abkommens (über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, 2001), den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Resolution 484, »Territories occupied by Israel«,1980) und das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zu den rechtlichen Folgen des Sperrmauerbaus (2004).

Zehn Jahre später – nach der zweiten Intifada – hatte sich die israelische Regierung im Kontext des vom so genannten Nahost-Quartett (EU, UN, Russland, USA) initiierten Friedensplans (Roadmap) verpflichtet, alle Siedlungsaktivitäten einzustellen. Insbesondere durch die zahlreichen Außenposten auf den Hügeln im Westjordanland war die israelische Regierung unter Ministerpräsident Scharon außenpolitisch unter Druck geraten. In einem von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten kam die stellvertretende israelische Generalstaatsanwältin Talya Sason im März 2005 zu dem Schluss, dass die zahlreichen Siedler-Außenposten durch die israelische Regierung selbst verdeckt finanziert und gefördert wurden. Sasson sprach von „institutioneller Illegalität“.7 Ministerpräsident Scharon, der seit seiner Zeit als Landwirtschaftsminister im Kabinett Begin umfangreiche Siedlungspläne ausgearbeitet und ihre Umsetzung vorangetrieben hatte, ließ daraufhin 2005 in einem spektakulären Schritt die israelischen Siedlungen in Gaza evakuieren und zerstören. Gleichzeitig wurde allerdings im Westjordanland der Bau jüdisch-israelischer Siedlungen vorangetrieben; zudem kam es zum Bau großer, für Israelis reservierter Verbindungsstraßen zwischen den Siedlungen und Israel.8

Die bis heute anhaltende Spaltung der palästinensischen politischen Führung entstand nach dem Sieg der Hamas bei den von der EU und der internationalen Gemeinschaft immer wieder angemahnten freien Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat im Jahr 2006, auf den westliche Institutionen mit einem finanziellen Embargo reagierten. Angesichts der innerpalästinensischen politischen Konflikte und der Auseinandersetzungen um den politischen und finanziellen Druck des Nahost-Quartetts und Israels kam es trotz zwischenzeitlicher Ansätze und Vermittlungsversuche bis heute nicht zu einer demokratisch legitimierten Regierung der nationalen Einheit, sondern zu einer international anerkannten Regierung der Fatah im Westjordanland und einer faktischen Machtausübung der Hamas in Gaza.

»Facts on the ground« – aktueller Realitätscheck

Der Missionsbericht von 20169 beschreibt die Situation in den besetzten Gebieten nach Zusammenstößen zwischen Palästinenser*innen, israelischen Siedler*innen und dem Militär als „volatil“ und sieht sie von wachsender Armut, Spannungen, Gewalt und Furcht bestimmt.

Armut und Wirtschaftskraft

Bei den Wirtschaftsdaten stützt sich der Missionsbericht unter anderem auf die Weltbank. Diese schätzte für 2014 eine Armutsquote von 30 % in Gaza und 16 % im Westjordanland. Das palästinensische Statistische Zentralamt stellte für 2015 fest, dass 25 % der Palästinenser*innen u.a. wegen hoher Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln von Ernährungsunsicherheit betroffen waren, wobei – wie seit Langem – ein starker Unterschied zwischen Gaza mit 47 % und Westjordanland mit 16 % bestand. In Gaza sind 2016 zwei Drittel der Einwohner*innen (1,3 Millionen) auf humanitäre Hilfe in irgendeiner Form angewiesen, im Westjordanland mehr als eine Million Menschen (ILO 2016, Ziffer 44).

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds lag das reale palästinensische Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf 2015 unverändert auf dem Niveau von 1999. Es betrug im Westjordanland 2.266 US$ und in dem völlig abgeriegelten Gaza 1.003 US$ (dieser Wert liegt unter dem von 1999). Die palästinensische Wirtschaft wächst nach Prognosen mittelfristig um nicht mehr als 3,5 %, müsste aber jährlich um 4,5 % wachsen, um alle neu in den Arbeitsmarkt eintretenden Personen aufzunehmen. Besonders schwierig ist die Situation für Jugendliche und für Frauen, insbesondere, wenn sie gut qualifiziert sind (ILO 2016, Ziffer 31). Mit der Marginalisierung junger Menschen, so heißt es im Bericht, steigen Frustration und Verzweiflung: „Im Westjordanland hing die Zunahme der Gewalt ab dem dritten Quartal 2015 auch mit einer Verschärfung der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit […] und einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit bei sowohl Männern als auch Frauen zusammen.“ (ILO 2016, Ziffer 36)

Der Fertigungssektor in der palästinensischen Ökonomie ist seit dem Abkommen von Oslo erheblich geschrumpft; zusammen mit dem Bergbau und der Arbeit in Steinbrüchen betrug er 2015 nur 13,4 % am BIP, mit einem ungefähr gleichen Anteil an Beschäftigten. Der gemeinsame Anteil von Landwirtschaft und Fertigung am BIP betrug im Jahr 2015 weniger als die Hälfte seines Wertes von 1994. Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft hatten einen BIP-Anteil von nur 3,3 %, beschäftigten aber 7,8 % der Männer und 13,1 % der Frauen. Das spricht für einen hohen Anteil wenig produktiver, prekärer Beschäftigung (ILO 2016, Ziffer 39).

Die palästinensische Wirtschaft wird als hochgradig fragmentiert beschrieben. Die entscheidenden Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung im Westjordanland bestehen nach Auffassung der ILO-Mission in der Beschränkung oder Vorenthaltung produktiver Ressourcen und infrastruktureller Maßnahmen sowie der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung. Das Land der Zone C als »Rückgrat« der Wirtschaft, das die unverbundenen Zonen A und B verbinden müsste, ist nach wie vor unter ausschließlich israelischer Kontrolle und wird für Siedlungstätigkeiten ständig weiter enteignet. Viele Gemeinschaften, u.a. die Beduinen, leben in diesem Gebiet von Viehzucht und kleinbäuerlichen Aktivitäten. Ihre Lebensgrundlagen werden aber immer weiter eingeschränkt, sodass Armut und Verelendung zunehmen. Die Beschädigung und Entwurzelung von teilweise Jahrhunderte alten Olivenbäumen, insbesondere bei Hebron und Ramallah (ILO 2016, Ziffer 15), zerstört nicht nur Güter der Landwirtschaft, sondern Symbole der palästinensische Kultur. Die ILO-Mission 2016 bezeichnet den Zugang zu Land, Wasser und Ressourcen für die palästinensische Wirtschaftsentwicklung als unentbehrlich.

Blickt man zurück auf das Jahr 1990, also die Zeit vor den Oslo-Abkommen, stellte die damalige ILO-Mission fest, dass die Wirtschaft der besetzten arabischen Gebiete größtenteils von den Behörden Israels gesteuert wird, deren Entscheidungen von sehr breit gefassten Sicherheitserwägungen bestimmt seien. „Die Schlüsselelemente der Produktion befinden sich fest in israelischer Hand: Grund und Boden, Wasser, Kapitalströme und Arbeitsmarkt. Eigene Entwicklungsansätze werden aus Verwaltungs- oder Sicherheitsgründen häufig vereitelt oder zunichte gemacht.“ (ILO 1990, Ziffer 17) Im ILO-Bericht von1988 war dazu aus einem Dokument des amerikanischen Außenministeriums zitiert worden, demzufolge die palästinensische Bevölkerung von den Entscheidungsgremien ausgeschlossen und diskriminiert wird: „Ein erheblicher Teil des in staatlichem Besitz befindlichen Grund und Boden in den besetzten Gebieten wird von den Behörden unter Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung genutzt.“10

Wie hat sich die Lage seitdem entwickelt?

Grund und Boden

War im Missionsbericht schon 1980 vor der Tendenz gewarnt worden, den arabischen Arbeitnehmer*innen der besetzten Gebiete die kulturelle und nationale Eigenständigkeit zu versagen (ILO 1980, Ziffer 58), so hieß es drei Jahre später, dass „die Verzweiflung und Frustration in dem Maße steigen, in dem die Besatzungsbehörden ihre Kontrolle über den Boden und das israelische Recht auf die neuen Siedlungen ausdehnen“ (ILO 1983, Ziffer 45). 1988, nach weiteren fünf Jahren, wurde festgestellt:

„Die Aneignung von Land erfolgte und erfolgt auch weiterhin durch Beschlagnahme von Land, das von ausgewanderten Bevölkerungsgruppen aufgegeben wurde, sowie von Grund und Boden, der vordem als Eigentum des jordanischen Staates eingetragen war (im Fall des Westjordanlands), oder kraft einer Erklärung, wonach nicht bestelltes oder nicht im Grundbuch eingetragenes Land als Staatsland eingestuft wird, oder unter Berufung auf staatliche Notwendigkeit oder das öffentliche Interesse. Solches Land kann für militärische Zwecke benutzt werden, für die Errichtung zusätzlicher Siedlungen, für den Bau von Zufahrtsstraßen zu diesen Siedlungen bzw. von Straßen, die sie an das Fernverkehrsstraßennetz anschließen, für öffentliche, von den Siedlungen genutzte Einrichtungen oder für die Erweiterung bereits bestehender Siedlungen. Zu »Staatsland« erklärter Grund und Boden darf nur von Israelis genutzt werden, wobei die Militärbehörden das Vorrecht haben.“ (ILO 1988, Ziffer 64)

Dieses Vorgehen wurde und wird durch verschiedene Militärerlasse legitimiert.11 Der Militärerlass 363 von 1969 stellt bestimmte Gebiete, die als Naturreservate ausgewiesen wurden, unter starke Nutzungseinschränkungen. Der Militärerlass 393 von 1970 verleiht dem Militärkommandeur in Judäa und Samaria (so die amtliche Bezeichnung der israelischen Regierung für Gebiete des besetzten Westjordanlands) die Befugnis, aus Gründen der Sicherheit für Israels Streitkräfte oder der öffentlichen Ordnung palästinensische Baukonstruk­tionen zu verbieten.12 Auch nach der Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde im Zusammenhang mit dem Oslo-1-Abkommen hat sich an diesen Einschränkungen nicht geändert.

Siedlungen

Die Angaben zur Anzahl israelischer Siedler*innen im Westjordanland weichen in verschiedenen Quellen voneinander ab (ILO 2016, Ziffer 53-57). Im ILO-Bericht 2016 wird deshalb eine Spanne von 550.000 bis 650.000 Siedler*innen genannt, davon mindestens 200.000 in Ostjerusalem. Demnach ist in der Zone C des Westjordanlandes die Zahl der Siedler*innen inzwischen größer als die Zahl der Palästinenser*innen. Und verglichen mit der Zahl im Dezember 2002, als sich die israelische Regierung im Zusammenhang mit der Roadmap des Nahost-Quartetts auf einen Stopp aller Siedlungsaktivitäten und den Abbau der Außenposten verpflichtet hatte, zeigt sich eine Vervielfachung: 2002 gab es 123 Siedlungen mit etwa 207.800 Einwohner*innen (ILO 2004, Ziffer 32).

Im Frühjahr 2016 ging die Mission außerdem von etwa 100 Außenposten aus, die nicht genehmigt sind; andere wurden nachträglich legalisiert und es wurde ihnen Siedlungsstatus nach israelischem Recht zuerteilt. Der Bericht 2016 weist darauf hin, dass die Praxis rückwirkend erteilter Genehmigungen zum weiteren Bau von Außenposten ermuntert (ILO 2016, Ziffer 55). Mit Bezug auf Angaben der israelischen Nichtregierungsorganisation »Peace Now« vom Februar 201613 wird zudem darüber informiert, dass 2015 mit dem Bau von 1.800 neuen Wohneinheiten in den Siedlungen (etwa 15 % davon in Außenposten) begonnen und die Infrastruktur weiterer 734 Einheiten entwickelt wurde; des Weiteren wurden Ausschreibungen für 583 Einheiten in Ostjerusalem und 560 im Westjordanland veröffentlicht (ILO 2016, Ziffer 54). Unter Verweis auf den Bericht des Sonderkoordinators der Vereinten Nationen für den Nahost-Friedensprozess (UNSCO) an das Verbindungsbüro in Brüssel und einen Bericht der israelischen Zeitung Haaretz vom 15. März 2016 wird dargelegt, dass ein großes Gebiet südlich der Stadt Jericho zu »staatlichem Land« erklärt wurde, um eine Erweiterung von israelischen Siedlungen zu ermöglichen, und dass ein Plan für eine Direktverbindung zwischen Jerusalem und der Siedlung Ma’ale Adumim (bekannt als E-1) wieder aufgenommen wurde (ILO 2016, Ziffer 56).

Die israelischen Siedlungsaktivitäten im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, werden als grundlegendes Hindernis sowohl für eine lebensfähige palästinensische Wirtschaft als auch für die Verwirklichung grundlegender Rechte palästinensischer Arbeitnehmer*innen identifiziert:

„Der Ausbau und die Verfestigung der Siedlungen beeinträchtigen weiterhin alltäglich die Lebensgrundlagen palästinensischer Männer und Frauen, weil solche Siedlungen nicht nur zu Wohnzwecken dienen, sondern auch Industriegebiete und landwirtschaftliche Betriebe umfassen, unterstützt von entsprechender Infrastruktur um sie herum. Außerdem verfügen Letztere in vielen Fällen über das fruchtbarste Land und wichtige Wasserressourcen.“ (ILO 2016, Ziffer 70)

Wasserressourcen

Palästinenser können nicht selbständig über die Wasserressourcen ihres Landes verfügen, sei es durch Bohren nach Wasser, den Bau von Brunnen oder Investitionen in und Instandsetzung von Wasserinfrastrukturen. Auch dem Sammeln und Speichern von Wasser für Trinkwasser- und Bewässerungszwecke stehen erhebliche Hindernisse im Weg,14 da die notwendigen Genehmigungen für das Anlegen neuer Brunnen oder für Instandsetzungsarbeiten fast nie erteilt werden.15

Im Zusammenhang mit dem nie abgelösten so genannten Übergangsabkommen Oslo-2 war ein israelisch-palästinensisches Joint Water Committee (JWC) eingerichtet worden, für das in einem speziellen Anhang genaue Wasserzuteilungen, Regulierungen und Prozeduren vorgesehen sind. In der Praxis brachte dieses Wasserregime in dem wasserreichen palästinensischen Land einen extrem ungleichen Zugang zu Wasser mit sich.16 „Die Aneignung von Wasserressourcen für Siedlungen hatte 2013 zu der Situation geführt, dass der Wasserverbrauch der mehr als 500.000 Siedler im Westjordanland sechsmal höher war als der der 2,6 Millionen Palästinenser.“ (ILO 2016, Ziffer 74; gemeint ist der Pro-Kopf-Verbrauch)

Zerstörung von Bauten

Angesichts der verschwindend geringen Aussicht auf Genehmigung werden landwirtschaftliche Bauten, Brunnen und Bewässerungssysteme von den palästinensischen Bauern ohne Genehmigung gebaut (ILO 2016, Ziffer 72). Sie riskieren dabei ebenso wie die Familien, die sich gezwungen sehen, auch Wohnhäuser ohne Genehmigung zu errichten, die Zerstörung ihrer Bauten durch die israelische Armee oder durch die von ihr beauftragten und begleiteten Personen. Ebenso werden Abrissverfügungen erteilt, deren Ausführung von den palästinensischen Familien selbst zu bezahlen ist. Wann Abrissverfügungen vollzogen werden, wird nicht mitgeteilt.17 Nach Angaben des ILO-Berichts 2016 (Ziffern 14 und 73) fanden im Jahre 2016 allein bis zum 2. Mai 607 Zerstörungen statt; 2015 waren 521 Bauwerke zerstört worden, davon wie auch in den ersten Monaten 2016 108 Bauten, die durch internationale Geber und Hilfsorganisationen finanziert worden waren.

2016 wurden unter anderem in „der Hirtengemeinde Khirbet Tana (nahe Nablus), die in einem als »Schießzone« für Militärübungen ausgewiesenen Gebiet liegt, 34 Bauten zerstört, darüber wurden 69 Palästinenser, darunter 49 Kinder, vertrieben (ILO Bericht 2016, Ziffer 75).

Die Zerstörung palästinensischer Bauten gibt es, seitdem 1967 palästinensische Gebiete von Israel besetzt wurden. Zerstörungen werden neben dem Verweis auf fehlende Baugenehmigung auch mit militärischen Notwendigkeiten oder Aktionen begründet. Und spätestens seit 1983 finden Hauszerstörungen auch als erklärte (aber völkerrechtswidrige) kollektive Straf- oder Abschreckungsmaßnahme gegen Familien statt, aus deren Kreis mutmaßlich gewaltsame Widerstandshandlungen begangen wurden. Diese Praxis durch israelische Behörden wurde im Herbst 2015 und März 2016 wieder aufgenommen (ILO 2016, Ziffer 61).

Absperrungen und Kontrollen im Westjordanland

Die Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen der palästinensischen Bevölkerung in der Zone C werden auch durch die zahlreichen physischen Blockaden von Wegen und Absperrungen sowie durch Hunderte von festen oder mobilen Kontrollstellen im Land behindert. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) für die besetzten palästinensischen Gebiete zählte im September 2014 490 Hindernisse zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit, darunter 60 Kontrollstellen. (Nach Zwischenfällen mit tödlichem Ausgang 2015 nahm deren Anzahl noch beträchtlich zu.) Darüber hinaus gab es 111 Sperrungen in der H2-Zone von Hebron (in der unter dem Schutz israelischer Militärpräsenz etwa 500 Siedler*innen wohnen). Besonders fruchtbares palästinensisches Agrarland liegt in der so genannten Rand- oder Saumzone, d.h. zwischen der Grünen Linie (der Waffenstillstandslinie von 1949) und der Sperrmauer, die zu zwei Dritteln fertig gebaut ist und ein Gebiet von etwa „zehn Prozent der Landmasse des Westjordanlands isoliert“ (ILO 2016, Ziffer 45). Da sie weitgehend auf palästinensischem Gebiet verläuft, wurde sie am 9. Juli 2004 in einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs für völkerrechtswidrig erklärt. Die damit verbundene Forderung nach Einstellung und Rückgängigmachung des Baus sowie nach einer Wiedergutmachung wurden von der UN-Vollversammlung unterstützt. Außer kleineren Veränderungen im Verlauf der Mauer ist aber nichts geschehen.

Eine Genehmigung für den Zugang zur Randzone zu bekommen ist kostspielig. Zudem werden Genehmigungen „vielfach verweigert. Tore können geschlossen sein, und Bauern haben Schwierigkeiten, Landmaschinen durch die Sperrmauer zu transportieren“ (ILO 2016, Ziffer 71). Insbesondere die Tatsache, dass die Palästinenser*innen keinen Zugang zum größten Teil von Gebiet C haben, das sie landwirtschaftlich, infrastrukturell und industriell zur Entwicklung ihrer Wirtschaft brauchen, „resultiert in einem Verlust von 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), was die Gesamthilfe der Geber übersteigt“ (ILO 2016, Ziffer 13).

Auch unternehmerische Aktivitäten, Geschäftsbeziehungen und Institutionen zu ihrer Unterstützung unterliegen Restriktionen, besonders in Gaza und Ostjerusalem, sowohl durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit als auch durch Verwaltungsrestriktionen. So wurde die Handelskammer von Jerusalem mit ihren 1.400 Mitgliedern zwar 2015 wieder eröffnet, im Februar 2016 aber auf Anordnung erneut geschlossen. Ladenbesitzer in der Altstadt berichteten der ILO-Mission von der regelmäßigen Schikanierung durch Polizei und Siedler*innen, was u.a. zur Schließung von Souvenirläden führte (ILO 2016, Ziffer 69).

Außer durch die Arbeitsbedingungen sind die Lebensbedingungen in Ostjerusalem durch Besatzung und Sperrmauer (deren Verlauf jüdische Siedlungen einschließt, aber eine Reihe von zu Jerusalem gehörenden palästinensischen Gemeinden ausschließt) stark beeinträchtigt. Die vom Stadtzentrum ausgegrenzten Bewohner*innen müssen durch Kontrollstellen, um zu Bildungs-, Gesundheits- und anderen öffentlichen Diensteinrichtungen zu gelangen. Nach Angaben der »Association for Civil Rights« in Israel lebten 75 % der Einwohner*innen von Ostjerusalem 2014 unter der Armutsgrenze (ILO 2016, Ziffer 66).

Im nach wie vor abgeriegelten Gaza werden die Wirtschafts- und Lebensbedingungen als außerordentlich besorgnis­erregend dargestellt. „Mehr als acht Jahre der Blockade und drei Kriege haben die ohnehin begrenzten Produktionsgrundlagen so gut wie vollständig zunichte gemacht, und ihre Wiederherstellung ist eine Voraussetzung für dauerhaftes Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen jenseits der kurzfristigen Wiederaufbauphase.“ (ILO 2016, Ziffer 52) Nach Informationen des Sonderkoordinators der Vereinten Nationen für den Nahost-Friedensprozess (UNSCO) bringen die täglichen Stromausfälle von 12 bis 16 Stunden in Gaza eine chronische Energie- und Wasserknappheit mit sich, die nicht nur die „produktive Kapazität und die wirtschaftliche Entwicklung weiter“ begrenzt. Sie hat vor allem auch unmittelbar „negative Auswirkungen auf die Existenzgrundlagen“ (ebenda). Erschwerend kommt hinzu, dass Israel die erlaubte Fischereizone beschränkt (sie wurde zwar auf neun Seemeilen ausgedehnt, dies liegt aber immer noch unterhalb den in den Oslo-Abkommen vereinbarten 20 Seemeilen) und für ein Drittel der kultivierbaren Fläche Zugangsbeschränkungen bestehen (ILO 2016, Ziffer 49). Entsprechend wird unter Verweis auf das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) von der Befürchtung berichtet, „dass ohne eine Kehrtwende Gaza bis 2020 unbewohnbar werden könnte“ (ILO 2016, Ziffer 22).

Rechte der palästinensischen Arbeitnehmer*innen in Israel und in den israelischen Siedlungen

Schon der Missionsbericht von 1988 hatte aufgezeigt, dass durch die Siedlungen die Wirtschaftsstruktur in den besetzten Gebieten zum Nachteil der Palästinenser*innen verändert wird: Palästinenser*innen berichteten, dass Bäuerinnen und Bauern, die ihre Ländereien verlieren, sich gezwungen sehen, in nahe gelegenen israelischen Siedlungen eine Beschäftigung als Tagelöhner*innen oder in Israel als Hilfsarbeiter*innen anzunehmen. Palästinensische Wasservorräte konnten von den Siedler*innen unbegrenzt und zu Vorzugspreisen genutzt werden, während Wasser für die arabische Bevölkerung rationiert war (ILO 1988, Ziffer 65-67).18 1990 war die Mission zu dem Schluss gekommen: „Die von Israel seit über zwanzig Jahren betriebenen Maßnahmen und Praktiken haben die Gebiete praktisch zu einer Arbeitskräftereserve und gleichzeitig zu einem erstrangigen Exportmarkt gemacht.“ (ILO 1990, Ziffer 19)

Eine Beschäftigung in Israel ist wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Westjordanland und weil der Tageslohn in Israel etwa 2,3-mal höher ist als dort, trotz aller entgegenstehenden Faktoren attraktiv. (Für Palästinenser*innen aus Gaza ist der Arbeitsmarkt in Israel seit 2006 verschlossen). Palästinensische Frauen und Männer, die in Israel Beschäftigung suchen, können nur mit (befristeten) gültigen Arbeitsgenehmigungen täglich die Kontrollstellen passieren. „An den Grenzübergangsstellen nach Israel sind palästinensische Arbeitnehmer häufig mit harschen Bedingungen und Schikanierung konfrontiert.“ (ILO 2016, Ziffer, 76) Die Missionsmitglieder berichten, dass ihre israelischen Gesprächspartner*innen einräumten, dass die Wartezeit verkürzt werden müsse: Selbst wer aus nahen Dörfern kommt, braucht bis zu vier oder fünf Stunden, um die Arbeitsstelle in Israel zu erreichen. Eine Genehmigung, über Nacht in Israel zu bleiben, wird nur sehr selten erteilt.19

Seit Jahren erhalten viele palästinensische Arbeitskräfte ihre Beschäftigung durch Vermittler, denen sie Gebühren zu zahlen haben; sie sind von Ausbeutung, Gewaltübergriffen, Demütigungen, Inhaftierung und Eintragung in schwarze Listen bedroht (ILO 2016, Ziffer 78).20 Der Mission wurde berichtet, dass beispielsweise die ohnehin niedrigen Löhne der Frauen aus dem Flüchtlingslager Balata bei Nablus, die in Fabriken einer nahe gelegenen Siedlung vermittelt werden, durch Abgaben an die Vermittler und Transporteur nochmals mehr als halbiert werden: 90 NIS (Schekel) sind an diese zu zahlen, so dass die Frauen faktisch nur einen Tageslohn von 60 NIS erhalten (das ist weniger als der palästinensische Mindestlohn, der viel geringer ist als der israelische) (ILO 2016, Ziffer 81).

Palästinensische Frauen haben besonders große Probleme, Beschäftigung zu finden, und sind oft (auch irregulär) in den israelischen Siedlungen im Westjordanland tätig. Die Beschäftigten in den Siedlungen sind in ganz besonderer Weise von Ausbeutung bedroht, weil noch immer unklar ist, welches Arbeitsrecht hier gilt und wie seine Durchsetzung kontrolliert wird. In den Siedlungen hat die Palästinensische Autonomiebehörde21 gemäß den Oslo-Abkommen keine Möglichkeit, palästinensisches Arbeitsrecht zur Geltung zu bringen. Israel hat gemäß Militärerlass einen kleinen Teil seiner Arbeitsgesetzgebung, einschließlich des Mindestlohns, dort für gültig erklärt, den größeren Teil (Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitsaufsicht) nicht. Wie auch im israelischen Baugewerbe werden in der Praxis nicht selten Wege eingeschlagen, um z.B. keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen (ILO 2015, Ziffer 84).

Die Beschäftigungsgenehmigungen werden von der Abteilung für Zahlungsverkehr der Einwohner- und Einwanderungsbehörde im israelischen Innenministerium ausgestellt; diese übernimmt auch die Lohnabrechnungen. Dazu gehören auch die Abzüge für Sozialversicherungsbeiträge, die bis zum Aufbau eines eigenen Sozialversicherungsfonds der Palästinensischen Autonomiebehörde einbehalten wurden, obgleich palästinensische Arbeitskräfte daraus nicht den gleichen Nutzen wie israelische Arbeitnehmer ziehen konnten. Im Baugewerbe, in dem palästinensische Arbeitskräfte in besonders hohem Maß tätig sind und die Mehrzahl der Arbeitskräfte bilden, wurden vom Präsidenten des israelischen Gerichtshofs im Jahre 2014 in dieser Hinsicht „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten“ aufgedeckt, die korrigiert werden sollen (ILO 2016, Ziffer 78). Die starke Abhängigkeit der palästinensischen Arbeitnehmer*innen erschwert allerdings eine Korrektur in der Praxis. 2016 ist ein neues palästinensischen Gesetz über soziale Sicherheit für Arbeitnehmer*innen in der Privatwirtschaft in Kraft getreten. Daran knüpft sich die Frage, ob und wie die von Israel einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge nun überwiesen werden.

Positiv wurde von der Mission verzeichnet, dass im November 2015 ein Gesamtarbeitsvertrag zwischen dem Verband israelischer Bauunternehmer und der Gewerkschaft der Bau- und Holzarbeiter in Kraft getreten ist, die dem israelischen Gewerkschaftsdachverband His­tadrut angeschlossen ist. An Sitzungen des vereinbarten Beschwerdeausschusses kann auch ein*e Vertreter*in der palästinensischen Gewerkschaft teilnehmen

Institutionenaufbau in Palästina

Die ILO bemüht sich seit Jahrzehnten, gemäß dem erklärten Willen der internationalen Gemeinschaft Institutionen eines lebensfähigen Palästinenserstaats aufzubauen und zu stärken. Sie unterstützte u.a. die Bildung des palästinensischen Arbeitsministeriums sowie die Sozialdialoge über das Arbeits- und Sozialrecht und hilft bei der Stärkung unabhängiger, demokratisch verfasster palästinensischer Arbeitsnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, so bei der Überarbeitung des Gewerkschaftsgesetzes. Sie stellte Kompetenzen bei der Formulierung des palästinensischen Gesetzes über soziale Sicherheit für Arbeitnehmer*innen in der Privatwirtschaft zur Verfügung (das im März 2016 in Kraft trat), bei der Ausarbeitung des Palästinensischen Landesprogramms für menschenwürdige Arbeit für den Zeitraum 2013-2016 und für das nationale Arbeitsschutzprogramm. Seit geraumer Zeit setzt sie sich in besonderer Weise für die Verbesserung der Teilhabe und der Rechte von Frauen und Jugendlichen ein.

Doch macht der Generaldirektor in seinem Vorwort zum Bericht 2016 auch deutlich, dass so „gut wie alle Maßnahmen, die die Palästinensische Behörde eigenständig ergreifen kann, um ein besseres Investitionsklima und die Beschäftigung zu fördern […], durch die Realitäten der Besatzung stark beschränkt“ sind (ILO 2016, S. IV).

Nach dem Beitritt der Palästinensischen Autonomiebehörde zu verschiedenen Menschenrechtsverträgen bemüht sich die ILO zusammen mit weiteren Organisationen der Vereinten Nationen, Kapazitäten für die Umsetzung und Berichtspflicht zu schaffen. Zu den internen Hindernissen für den Aufbau von Rechtstaatlichkeit und Entwicklung wird insbesondere die innerpalästinensische politische Spaltung gezählt. Die mangelnde Einheit gilt der ILO-Mission als Faktor, der den Belagerungszustand von Gaza verlängert und nicht dazu beiträgt, nach außen verhandlungsfähig zu sein (ILO 2016, Ziffer 24).

Die ILO-Berichte als Chronik

Von Beginn an gehörten zu den Themen der ILO-Missionen die »irreguläre«,22 d.h. ungeschützte Arbeit von Palästinenser*innen, Fragen ihrer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen in Israel, die Nichtbeachtung grundlegender Arbeitsrechte für palästinensische Arbeitnehmer*innen, ihre Nichtgleichbehandlung bei sozialer Sicherheit und Arbeitsschutz sowie die Auswirkungen einer stetig zunehmenden Anzahl israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten. Die Darstellungen sind erfahrungsgeleitet an gesellschaftlichen Voraussetzungen für friedliche Koexistenz und menschenrechtlich orientiert. Dazu passt, dass auf der Agenda der Internationalen Arbeitskonferenz für 2017 eine Neufassung der ILO-Empfehlung 71 von 1944 über den Arbeitsmarkt im Übergang von einer Kriegs- zu einer Friedensökonomie steht, die jetzt unter dem Titel »Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit für Frieden und Resilienz« geführt wird.23

Schon seit Langem wird auf entwürdigende Kontrollen hingewiesen (so z.B. schon in ILO 1997, Ziffer 33), auf willkürliche Beschlagnahme gültiger Magnetkarten und Genehmigungen (für deren Rückgabe Bestechungsgelder oder auch die Kooperation als Informant*in für die israelischen Sicherheitskräfte gefordert werden), auf Verprügelungen durch Soldat*innen und Grenzbeamte (vom israelischen Generalstaatsanwalt in seinem Schreiben vom 26.11.1996 an den Minister für innere Sicherheit bestätigt) und auf Beschimpfungen, Schläge und Angriffe durch Siedler*innen. U.a. im Bericht von 2007 (Ziffer 19) wurden die Gefahren einer Abwärtsspirale, einer Ent-Entwicklung“ (UNCTAD), und einer schleichenden Auflösung des palästinensischen sozialen und wirtschaftlichen Gefüges aufgezeigt. Immer wieder wurde die so genannte Verwaltungsinhaftierung (d.h. ohne Anklageerhebung und Verteidigungsmöglichkeit), selbst von Kindern, benannt.

2016 wird konstatiert, dass 25 Jahre nach Oslo für den Weg zu der von den Vereinten Nationen befürworteten Zwei-Staaten-Lösung „die Karten und Kompasse verloren gegangen sind“ (ILO 2016, Ziffer 29). Gemäß dem ILO-Ansatz säumen soziale Gerechtigkeit und menschenwürdige Arbeit den Weg zu nationalem und internationalem Frieden. Dies gründet auf der Erfahrung, dass der Zirkel von Repression, Gewalt und Gegengewalt nur überwunden werden kann, wenn nicht nur staatliche Sicherheitsimperative die Politik leiten, sondern die Förderung menschlicher Sicherheit sowie der konkreten Erfahrung menschenwürdiger Existenzbedingungen im Alltag Priorität haben.

Das Erleiden täglicher Demütigungen und direkter Gewalt fördert Verzweiflung und Verzweiflungstaten, insbesondere von jungen Menschen. Wenn sich immer mehr Menschen durch die etablierten politischen Führungskräfte und Institutionen nicht mehr vertreten sehen und von ihnen nicht mehr kontrolliert werden und wenn es sich „bei denjenigen, die gewaltsame Handlungen begehen oder Opfer von solchen sind, um junge Menschen und Kinder sowie auch Frauen handelt, klingeln die Alarmglocken“, heißt es mahnend (ILO 2016, Ziffer 11). Dieser Weckruf scheint von den internationalen Akteuren und der deutschen Politik noch immer nicht gehört zu werden – trotz der vielfältigen kritischen Stimmen auch aus Israel.

Anmerkungen

Die Bezeichnung »Briefe an die Welt« stammt vom früheren ILO-Generaldirektor Juan Somavía; ich danke Martin Ölz (ILO) für diesen und weitere Hinweise.

1) International Labour Conference, 59th Session: Resolution concerning the Policy of Discrimination, Racism and Violation of Trade Union Freedoms and Rights Practised by the Israeli Authorities in Palestine and in the Other Occupied Arab Territories; angenommen am 20. Juni 1974.

2) International Labour Conference, 66th Session: Resolution concerning the Implications of Israeli Settlements in Palestine and Other Occupied Arab Territories in Connection with the Situation of Arab Workers; angenommen am 24. Juni 1980. Der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) war 1975 in der ILO ein Beobachterstatus zuerkannt worden. Zu den Streitfragen im politischen Hintergrund siehe die Darstellung des früheren ILO-Generaldirektors Francis Blanchard (2004): L’Organisation internationale du travail – de la guerre froide à un nouvel ordre mondial. Paris: Seuil, S. 101 ff und 109 ff. Ich danke Anne Trebilcock (vormals ILO) für diesen und weitere Hinweise.

3) Israel annektierte Ostjerusalem 1980 und die Golanhöhen 1981 völkerrechtswidrig – und von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. Israel erlaubt aber den Missionsbesuch der annektierten Gebiete unter Verweis auf sein eigenes, davon abweichendes Rechtsverständnis. Die Berichte umfassen immer auch Besuche der Golanhöhen; auf die Situation dort kann in diesem Text nicht eingegangen werden.

4) Die deutsche Fassung der ILO-Berichte ist nicht genderneutral formuliert.

5) Seit Ende der 1990er Jahre werden die Gesprächspartner*innen, deren Liste immer länger wird, namentlich aufgeführt. Die Mission nimmt auch schriftliche Berichte entgegen, die sie anhand weiterer Quellen prüft. Seit der Jahrhundertwende gehören zu den Gesprächspartner*innen der Mission auch Angehörige der zuständigen Einrichtungen der Vereinten Nationen, z.B. OCHA (Jerusalem, Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, besetztes palästinensisches Gebiet) sowie israelischer, palästinensischer und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen, z.B. Peace Now, B’Tselem, Machsom Watch (Women against the Occupation and for Human Rights), Kav LaOved (Worker’s Hotline) auf israelischer Seite und Al-Haq (Ramallah) und Zentrum für Frauenfragen (Gaza) auf palästinensischer Seite.

6) Internationale Arbeitskonferenz, 69. Tagung: Bericht des General-Direktors. Anhänge, Genf 1983, S. 18, Ziffer 8. Entsprechende Hinweise finden sich in allen Berichten. Im Folgenden wird aus den Berichten nur mit Jahreszahl und der Ziffer zitiert.

7) In der von Sason verfassten Zusammenfassung heißt es, dass sie in der verfügbaren Zeit nur einen Zwischenbericht vorlegen konnte, der überwiegend auf Informationen beruht, die im Verteidigungsministerium, bei den israelischen Streitkräften, im Ministerium für Bau und Wohnen, der Siedlungsabteilung der Word Zionist Organization und dem Innenministerium gewonnen wurden. Siehe Talya Sason: Summary of the Opinion Concerning Unauthorized Outposts. 10 March 2005; mfa.gov.il.

8) U.a. in diesem Zusammenhang wurde der Begriff der Apartheid als Ausdruck getrennter Lebensräume geprägt, so von Dror Etkes von Peace Now im zweiteiligen Film »Die Siedler« des israelischen Filmemachers Shimon Dotan von 2016.

9) Internationales Arbeitsamt: Bericht des Generaldirektors zur Internationalen Arbeitskonferenz, 105. Tagung, 2016 – Beilage: Die Lage der Arbeitnehmer der besetzten arabischen Gebiete. Im Weiteren kurz als »ILO 2016« zitiert.

10) U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices for 1987, Washington, Feb. 1988, S. 1198, zitiert nach Internationale Arbeitskonferenz, 75. Tagung 1988: Bericht des Generaldirektors, Beilagen Band 2, S. 29, Ziffer 64.

11) Siehe dazu den israelischen Anthropologen und Gründer des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen, Jeff Halper (2010): An Israeli in Palestine – Resisting Dispossession, Redeeming Israel. London/New York: Pluto Press, second edition.

12) Halper, a.a.O., S. 154 verweist auf weitere spezifische Militäranordnungen: Anordnung 59 von 1967 verleiht der »Israeli Custodian of Abandoned Properties« (Israelische Behörde zur Verwaltung herrenlosen Eigentums) die Vollmacht/Amtsgewalt, unkultiviertes Land zu israelischem Staatsland zu erklären. Da Israel ottomanische oder britische Urkunden nicht anerkennt und die Militärverordnung 291 von 1968 die Registrierung von Land beendete, war Israel in der Lage, 72 % des Westjordanlands als Staatsland zu klassifizieren und auf diese Weise palästinensische Eigentümer zu enteignen. Militäranordnung 270 von 1968 designierte 400 Quadratmeilen als Militärzonen, die als solche dann für Siedlungen oder israelische Infrastruktur genutzt werden können. Darüber hinaus autorisiert die Militäranordnung 977 von 1982 die israelischen Streitkräfte oder die von ihr eingesetzte Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten, auch ohne Genehmigung Ausgrabungen und Bauten vorzunehmen. Das ist besonders in Jerusalem hoch konfliktträchtig.

13) Peace Now (2016): No settlement freeze, especially not in isolated settlements – 2015 in the settlement. Settlement Watch, February.

14) Halper, a.a.O., S. 163 verweist mit Bezug auf den israelische Architekten Eyal Weizman 2007 darauf, dass israelische Siedlungen oft über Grundwasserleitern (Aquifern) gebaut werden. 80 % der Wasserressourcen des Westjordanlandes und Gazas sind Halper zufolge unter israelischer Kontrolle, und 80 % der Wasserressourcen des Westjordanlands gehen nach Israel und in die israelischen Siedlungen im Westjordanland. Der in Ramallah ansässige Hydrologe Clemens Messerschmidt spricht bei den Berggrundwasserleitern von einem durchschnittlichen Anteil von nur 10,4 % für die palästinensische Bevölkerung (Vortrag am 8.11.2016 in Bremen).

15) C. Messerschmidt verweist hier auf die Wirksamkeit der israelischen Militärerlasse Nr. 92 vom 15.8.1967 (Zuständigkeit des Militärs), Nr. 158 vom 19.11.1967 (Genehmigungssystem) und Nr. 291 vom 19.12.1968 (Ermächtigung des Militärkommandeurs).

16) Siehe die Studie von Jan Selby (2013): Cooperation, Domination and Colonisation – The Israeli-Palestinian Joint Water Committee. Water Alternatives, 8(1), S. 1-24.

17) Siehe dazu die Homepage des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen, icahd.org/.

18) Die völlig andere Sicht auf die Dinge in »Judäa, Samaria und im Distrikt Gaza« vonseiten der israelischen Regierung findet sich in Anhang 3 des Berichts.

19) An den Kontrollstellen bilden sich daher schon in den Nachtstunden Schlangen.

20) Um willkürlichen Handlungen der Grenzsoldat*innen (die von der israelischen Veteranenorganisation »Breaking the Silence« anonym dokumentiert sind) Einhalt zu gebieten, engagieren sich israelische, meist ältere, Frauen der Vereinigung »Machsom Watch« an den Kon­trollstellen, um den meist jungen Soldaten und Soldatinnen zu zeigen, dass sie nicht unbeobachtet sind; sie unterstützen auch Beschwerden vor Gericht über willkürlich einbehaltene oder zurückgezogenen Passier- und Arbeitsgenehmigungen von Palästinenser*innen.

21) In den deutschen Versionen der ILO-Berichte ist lediglich von der »Behörde« die Rede.

22) Dieser Begriff ist im Originaltext des Berichts in Anführungsstriche gesetzt.

23) Siehe dazu Internationales Arbeitsamt: Internationale Arbeitskonferenz, 105. Tagung, 2016 – Bericht V(1), Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit für Frieden und Resilienz – Neufassung der Empfehlung (Nr. 71) betreffend den Arbeitsmarkt (Übergang vom Krieg zum Frieden); Dokument ILC.105/V/1.

Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin mit Engagement in der Friedensforschung, lehrte Arbeitswissenschaft an der Uni Bremen und ist gegenwartig Senior Researcher im Forschungszentrum Nachhaltigkeit – artec.

Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal?

Gaza-Krieg – bis zum nächsten Mal?

von Udo Steinbach

Regierungen von 50 Staaten schickten Vertreter nach Kairo. Am 12. Oktober trafen sie sich dort in Sachen Gaza, diesmal als Geber für den Wiederaufbau der Stadt und des »Streifens«. Das Ergebnis (mehr als vier Milliarden Euro) übertraf sogar die palästinensischen Erwartungen.

Die Hilfsbereitschaft ist löblich, und es kann nach außen Aktionismus verbreitet werden. Unüberhörbar aber war der Zweifel unter den Anwesenden an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Skepsis lag in der Luft, ob Gaza wirklich wiederaufgebaut werden kann, solange es keinen stabilen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern gibt. Die defätistische Formel »nach dem Krieg ist vor dem Krieg« ist fast schon zur Binsenweisheit geworden.

In einem offenen Brief deutscher Nahostexperten an Bundesregierung und Bundestag vom 19. August 2014 heißt es kategorisch: „Ohne Aufhebung der Blockadepolitik gibt es keinerlei Perspektive für die Menschen in Gaza und keine Chance für die Zweistaatenlösung.“ Nichts freilich ist in den Wochen seitdem geschehen. Wo keine Chance ist, gibt es nur zwei »Lösungen«: die Suche nach einem besseren Platz auf der Welt und die Fortführung des Kampfes mit immer radikaleren Mitteln. Demgemäß ist der Anteil der Flüchtlinge aus Gaza, die in Europa Asyl suchen, sprunghaft gewachsen. Und der Gaza-Krieg 2014 war länger, grausamer und verlustreicher als der Gaza-Krieg 2008/9.

Wird aber aus dem Aktionismus von Kairo ein politischer Prozess? Diese Frage richtet sich an die Regierenden in den Ländern, die ihre Vertreter geschickt hatten, namentlich an die USA und die Europäische Union. Die Antwort muss wohl eher skeptisch ausfallen. Schon der Gaza-Krieg selbst ließ den fatalen Eindruck entstehen, er werde in einem politischen Vakuum geführt: keine entschiedenen Proteste oder entschlossenen Bemühungen, den Krieg anzuhalten. An der Spitze der politischen Agenda standen andere Konflikte: die Bedrohung Europas durch die Entwicklungen in der Ukraine und der Schock über den Vormarsch einer Terrormiliz im arabischen Nahen Osten. Demgegenüber war Gaza nur ein Nebenschauplatz, der die Sicherheit der USA und der EU nicht unmittelbar berührte. Einige arabische Regierungen ließen nahezu unverhohlen erkennen, dass sie nichts gegen eine Schwächung der Hamas, einen Ableger der ihnen bedrohlichen Muslimbruderschaft, hätten. So blieb es dem Generalsekretär der Vereinten Nationen überlassen, ohnmächtige Aufrufe an die Krieg führenden Parteien zu adressieren.

Gaza ist zum weißen Fleck auf der politischen Landkarte der westlichen Mächte geworden. Dies nutzt vorerst der israelischen Politik. Und die Regierung Netanjahu zögert nicht, die Gunst der Stunde zu nutzen. Neue Siedlungsprojekte wurden beschlossen, nicht zuletzt im Stadtgebiet von Ost-Jerusalem. Zugleich instrumentalisiert der israelische Premierminister die – nicht unverständliche – Phobie der internationalen Gemeinschaft vor der islamistischen Terrorgruppe des »Islamischen Staates«: Zwischen Hamas und IS(IS) gebe es keinen Unterschied; beide seien gleichermaßen Terrorbewegungen. Darin folgt er seinem Vorgänger und Lehrmeister Ariel Scharon, der nach dem Terrorakt des 11. September 2001 erklärt hatte, was dem einen sein bin Laden, sei dem anderen sein Arafat. Das sehen die bereits zitierten Nahostwissenschaftler anders:
„Die Hamas bleibt, ungeachtet der Aktivitäten ihres militärischen Flügels“, so schreiben sie,
„eine populäre politische Partei“, mit der der – kritische – Dialog nicht länger verweigert werden sollte. Die Gleichsetzung des palästinensischen Kampfes mit der Mordbrennerei einer Bande vom Schlage der Qa'ida und IS(IS) ist das Bekenntnis zur Verweigerung eines jeglichen Dialogs über eine politische Lösung.

Der Vorgänger von US-Präsident Obama, George W. Bush, war dem Diktum Ariel Scharons gefolgt; man hat gesehen, wohin das führte: in vier weitere Kriege um Palästina zwischen 2006 und 2014. Dass die internationale Gemeinschaft seinem Nachfolger nicht vehement widersprochen hat, ist Symptom fehlender Entschlossenheit, in Palästina endlich einzugreifen und eine politische Lösung herbeizuführen. Die Folge dürfte sein, dass Netanjahus Diktum zu einer »self fulfilling prophecy« wird. Wer nicht physisch auswandert, wandert geistig aus – ins Lager der Radikalen. Diese versprechen die »Lösung« auf einem Weg, dem eine aus der Religion begründete Radikalität das Ziel sowie die Gewissheit auf Erfolg verleiht. Die Gefolgschaft des islamistischen Radikalismus rekrutiert sich aus den vielen Spannungen, Konflikten und Entwicklungsdefiziten politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Natur im Vorderen Orient. Das soziale Elend, das sich in den letzten Jahren in weiten Teilen des Nahen Ostens verschärfte, hat das Rinnsal des Extremismus zu einem breiten Strom werden lassen. Die Not in Syrien, wo sich die Hälfte der Menschen auf der Flucht befindet, und in Gaza, wo die Menschen keine Chance auf ein menschenwürdiges Dasein mehr sehen, ist der Boden, auf dem Radikalismus gedeiht.

Während die Menschen in Gaza in Erstarrung verharren, sind auch in Israel die Kräfte erlahmt, die auf eine Kursänderung in Richtung auf einen Frieden mit den Palästinensern drängen. Ihre Stimmen klingen nur matt herüber; sie werden von einer Walze der öffentlichen Meinung erstickt, die weiterhin auf Konfrontation setzt. Sie erwarten Unterstützung aus dem Westen: aus den USA, aus Europa – auch aus Deutschland. Aber wo bleibt diese Unterstützung hierzulande? Aufrufe besagter Akademiker und anderer, in erster Linie humanitärer Organisationen, verhallen. Die politische Klasse lässt sie ins Leere laufen. Bei ihr gilt – weithin – der Grundsatz, dass in Deutschland »mit seiner Vergangenheit« Kritik an Israel nicht statthaft sei. Bemühte Erklärungen – vor allem zum Recht Israels, sich zu verteidigen – treten an die Stelle von Positionen, die Bezug nähmen zu den Prinzipien, auf denen die deutsche und europäische Außenpolitik beruht.

Ignoriert wurden auch die kritischen Einlassungen jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland, die forderten, die Vergangenheit nicht länger als Vorwand zu nehmen, um zu Verletzungen von Recht und Humanität zu schweigen.
„Aber ist es nicht ziemlich billig, die Schuld bei den eigenen verstorbenen Vorfahren zu belassen und auf Gedenktagen zu zelebrieren und gleichzeitig aktuelles Unrecht zu rechtfertigen?“, schrieb Prof. Rolf Verleger, der Teile seiner Familie im Holocaust verlor.

Das fast reflexartig auf die Tagesordnung kommende Thema »Antisemitismus« – diesmal unter muslimischen Jugendlichen – erschien wie ein Ablenkungsmanöver. Wenngleich es kaum bestreitbar ist, dass Antisemitismus auch unter muslimischen Jugendlichen zu finden ist, war es doch irreführend, die aggressiven Parolen auf Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg mit jenem irrationalen Rassismus gleichzusetzen, der zur Katastrophe des Holocaust geführt hat. Für den Umgang mit dem Islam in Deutschland wird es wichtig sein, sensibel zwischen Antisemitismus und einem Zorn zu unterschieden, der sich durch die Unterdrückungs-, Besatzungs- und Landnahmepolitik Israels insbesondere unter einem Teil der arabischen Jugendlichen aufgestaut hat. Mehr und mehr machen sie die westlichen Regierungen mitverantwortlich, und zunehmend bläst die ungelöste Palästinafrage dem islamistischen Radikalismus auch hierzulande Wind in die Segel. Es ist kurzsichtig, das Elend in Gaza und den Kampf gegen IS(IS) voneinander getrennt zu sehen.

So ist es also höchste Zeit zu handeln. Um der Palästinenser willen: Das menschliche Elend und die täglichen Schikanen einer Besatzungsmacht können nicht länger hingenommen werden. Um Israels willen: Es fühlt sich als starke Macht; das ist eine Fehleinschätzung, denn mit jedem Krieg wachsen Hass und Radikalität und die Zerstörungskraft der Waffen auf palästinensischer Seite. Allein der gelegentliche Beschuss des Flughafens von Tel Aviv hat angedeutet, wie verwundbar das Land ist. Nur ein Frieden mit den Palästinensern bewahrt Israel davor, in eine existenzbedrohende Lage zu geraten. Und um Europas willen: Eine stabile und friedliche Nachbarschaft ist eine elementare Voraussetzung seiner Sicherheit. Die mit Recht viel beklagten doppelten Standards sind kein Kavaliersdelikt. Sie zerstören die Glaubwürdigkeit der europäischen Politik fundamental in einer Zeit, da die Kräfte in der islamischen Nachbarschaft, die bemüht sind, einen Keil zwischen »den Islam« und »den Westen« zu schlagen, so stark sind wir selten zuvor. Dass auch Muslime in Europa (auch in Deutschland) den Rattenfängern verfallen, stellen wir mit Erschrecken fest. Nur die Rückkehr zu einer Politik, deren Grundlagen transparent und glaubhaft sind, wird Europa in seiner Nachbarschaft, die sich im Prozess eines tiefgreifenden Umbruchs und einer Orientierungskrise befindet, für die Zukunft attraktiv machen.

Der materielle Wiederaufbau Gazas kann nur im Kontext eines politisch abgesicherten Friedens gedacht werden. Europa muss handeln, dies auch dann, wenn die USA aus welchen Gründen immer nicht mitgehen können oder wollen. Während sich die Geldgeber in Kairo versammelten, tagte in Gaza – vier Monate nach ihrer Vereinigung – erstmals die palästinensische Einheitsregierung aus Fatah und Hamas.
„Dieser Moment ist außergewöhnlich“, hieß es aus Gaza; das Treffen stärke die Versöhnung des palästinensischen Volkes. Die EU sollte diese Regierung stärken. Mit der Anerkennung des Staates Palästina hat Schweden soeben einen ersten wichtigen Schritt getan; andere Staaten der EU (auch Deutschland) sollten folgen. Auch die Bemühungen Palästinas, in möglichst zahlreichen Unterorganisationen der Vereinten Nationen vertreten zu sein, sollten Unterstützung finden. Extrem unfreundliche Reaktionen aus Jerusalem sind programmiert; sie sollten von der EU gelassen hingenommen werden. Brüssel kann auf die Vorteile verweisen, die Israel aus den vielfältigen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Formen der Zusammenarbeit zieht. Die Regierung in Jerusalem muss vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie diese weiter ausbauen und vertiefen oder ihre aggressive Besatzungspolitik fortsetzen will, die allem widerspricht, wofür Europa gern stehen möchte. Dafür aber müsste Jerusalem künftig die Kosten tragen.

„Niemand will Infrastruktur aufbauen, nur damit sie kurz darauf wieder zerstört wird“, kommentierte das Außenministerium nach der Geberkonferenz, auf der Deutschland erhebliche finanzielle Verpflichtungen eingegangen ist. Nun, der Ball liegt auch im Hof in Berlin. Er muss endlich gespielt werden. Andernfalls wird die nächste Geberkonferenz stattfinden, bevor der jetzt anstehende Aufbau abgeschlossen wird.

Udo Steinbach war von 1976-2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg. Von 2007-2010 lehrte er an den Universitäten Marburg und Basel und leitete von 2012-2014 das Governance Center Middle East/North Africa an der HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance in Berlin.

Drei Kriege in sechs Jahren

Drei Kriege in sechs Jahren

von Jürgen Nieth

Sonntag, 27. Juli 2014: Seit dem 8. Juli schießt die Hamas Raketen auf Israel, bombardiert Israel Gaza. 75.000 israelische Soldaten führen in Gaza Krieg – deutlich mehr als 2008/9 oder 2012. 200.000 Palästinenser sind innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Mehr als 1.000 tote und 5.400 verletzte Palästinenser, die überwiegende Mehrheit Zivilisten, 40 getötete Soldaten und drei Zivilisten auf israelischer Seite, das ist Bilanz zum heutigen Tage (nach ARD).

Krieg als Rachefeldzug

„Es begann damit, dass drei israelische Teenager im Westjordanland entführt wurden“, schreibt Yuval Diskin, bis 2011 Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Und weiter: „Nach allem, was ich weiß, wurde die Hamas-Führung davon überrascht. Sie scheint die Tat weder geplant noch befohlen zu haben.“ (Der Spiegel, 21.7.14, S.77) Ganz anders äußerte sich Israels Regierung. „Dass Einzeltäter, die der Hamas sehr nahe stehen, dahinterstecken könnten […,] wurde von der israelischen Regierung kategorisch ausgeschlossen […] Es war nur zu hören: ‚Die Hamas hat unsere Kinder entführt, und wir werden sie zurückholen. Die Hamas wird dafür bezahlen!‘“ (Marlen Kästner in ND, 19.7.14, S.21)

Es folgte der grausame Mord eines jungen Palästinensers durch rechtsextreme Israelis. Dazu nochmal Yuval Diskin (s.o.): „ Es mag paradox klingen, aber es gibt auch beim Töten Unterschiede. Man kann jemand erschießen und seine Leiche unter Steinen verscharren, wie es die Mörder der drei jüdischen Teenager taten. Oder man füllt ihm Benzin in die Lungen und zündet ihn an, lebendig, wie bei Mohammed Abu Chidar […] Leute wie Naftali Bennet haben dieses Klima geschaffen, gemeinsam mit anderen extremistischen Politikern und den Rabbinern.“

Die Hamas nahm diesen Mord zum Anlass, Raketen auf Israel abzufeuern. Der dritte Krieg innerhalb von sechs Jahren nahm seinen Lauf, und die Schuldzuweisung war in den deutschsprachigen Medien zu Beginn eindeutig.

»Die Hamas hat begonnen«

So schreibt z.B. der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann: Es ist „Israels Pflicht und legitimes Recht seine eigene Bevölkerung zu schützen. Und dafür ist es unausweichlich, die Terror-Infrastruktur zu zerstören. Bedauerlicherweise kommen dabei auch unschuldige Menschen ums Leben. Jedes zivile Opfer ist eines zuviel. Doch die Verantwortung dafür trägt alleine die Hamas mit ihrer Dschihad-Ideologie.“ (SZ, 16.7.14, S.2)

Das, was auf den ersten Blick wie eine Wiederholung der vorigen Kriege aussieht, hat aber neue Charakteristika.

Arabische Regierungen an der Seite Israels

„In Israels Nachbarländern hat sich die Stimmung radikal verändert und die Frontenbildung hat sich verschoben“, schreibt Julia Gerlach in der FR (11.7.14, S.7). Als Grund sieht Rainer Hermann (FAZ, 22.7.14, S.8): „Die drei mächtigsten arabischen Staaten […] sehen in der Muslimbruderschaft den bedrohlichsten politischen Feind und wollen ihn auslöschen.“ Und Hannes Stein stellt in der WaS (20.7.14, S.9) fest: „Das Bündnis [Israels] mit dem ägyptischen Regime unter al-Sisi, mit Jordanien, Saudi- Arabien und den anderen Golfstaaten wird beinahe schon in aller Öffentlichkeit zelebriert […] Die Hamas steht vollkommen allein da. Niemand steckt ihr heimlich Waffen zu, niemand hilft ihr mit antiisraelischer Propaganda.“

Eine Position der Stärke Israels, die leider nicht für eine politische Lösung genutzt wird. Im Gegenteil, die innerisraelische Debatte wird offensichtlich immer aggressiver.

Machtzunahme der Rechtsnationalen

Aus Tel Aviv berichtet Susanne Knaul (taz, 24.7.14., S.2): „In Haifa forderten Tausende rechtsnationale Demonstranten »Tod den Arabern« und »Schickt die Linken in die Gaskammern«.“ Ein Friedensmarsch der Hadasch konnte nicht stattfinden, „weil die Pazifisten von der rechten Menge auseinandergetrieben und verjagt wurden“. Die BZ (22.7.14., S.6) zitiert den israelischen Schriftsteller Gideon Levy, nach dem „die Diffamierungen und Todesdrohungen […] [gegen die Kriegsgegner] alles übertreffen […], was er sich je habe vorstellen können“. Der Friedensaktivist Uri Avnery spricht davon, dass „rechte Gruppen, die einst marginal waren, […] [heute] von der Mitte der Gesellschaft akzeptiert“ werden (ND, 26.7.14, S.9). Der eingangs zitierte Yuval Diskin sieht skeptisch in die Zukunft, „denn die Zahl der Nationalreligiösen an den Schalthebeln der Macht und im Militär wächst unaufhörlich“ (Der Spiegel, 21.7.14, S.78).

Wie weiter

Für Peter Münch (SZ, 23.7.14, S.4) braucht es eine Paketlösung. „Darin müssen garantiert sein: Ruhe für Israels Bevölkerung, aber auch eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen für die palästinensische Bevölkerung. Der Gazastreifen braucht neue Hoffnung.“ Micha Brumlik geht noch einen Schritt weiter (SZ, 25.7.14, S.2). Da „die politischen Mehrheiten Israels sowie eine entscheidende Minderheit unter den Palästinensern auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein werden, von sich aus Frieden zu schließen […], wäre es an der Zeit, dass die weltpolitisch (noch) zuständigen Mächte – die USA, Russland und die EU – Israel und den Palästinensern eine Zweistaatenlösung diktieren“. Die politischen Hebel sieht er u.a. im ökonomischen Bereich und den Waffenexporten in diese Region.

In der FAZ (22.7.14, S.10) beschreibt der israelische Schriftsteller Etgar Keret »Warum Israel nicht siegen kann«: „Bei jeder Militäroperation gibt es Politiker aus dem konservativen Lager und politische Kommentatoren, die uns erklären, dass die Zeit, freundlich zu sein, vorbei sei und die Sache nun endlich zu einem Ende gebracht werden müsse. Und wenn man sie dann auf dem Bildschirm anschaut, fragt man sich: Welches Ende meinen sie? Worauf zielen sie? Denn selbst, wenn jeder einzelne Hamas-Kämpfer getötet wird, glaubt doch niemand wirklich, dass der palästinensische Wunsch nach nationaler Anerkennung damit vernichtet wäre […] Die israelische Armee kann einen Kampf gewinnen, aber nur ein politischer Kompromiss wird den israelischen Bürgern Sicherheit und Ruhe bringen.“

Doch bis dahin werden wahrscheinlich noch viele, viele Menschen sterben.

Abkürzungen: BZ (Berliner Zeitung), FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), FR (Frankfurter Rundschau), ND (Neues Deutschland), SZ (Süddeutsche Zeitung), taz (tageszeitung), WaS (Welt am Sonntag)

Jürgen Nieth

Antisemitismus und Israelkritik

Antisemitismus und Israelkritik

Mythos und Wirklichkeit eines spannungsreichen Verhältnisses

von Wilhelm Kempf

Israelkritik wird (nicht nur) in Deutschland mit großer Regelmäßigkeit über einen Kamm geschert und als antisemitisch gebrandmarkt. Die Bundestagsdebatte über den angeblichen Antisemitismus der Linken (vgl. Melzer 2011), der Medienaufruhr über das (zweifellos recht naive) Gedicht von Günther Grass (vgl. Krell & Müller 2012) und die Auseinandersetzung um Jakob Augstein, den Herausgeber der linken Wochenzeitung »Der Freitag«, sind dramatische Beispiele dafür. Glaubt man dem Kulturredakteur beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, Matthias Matussek (2013, S.15), dann droht die Gefahr „nicht von ewiggestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu“. Aber kann man ihm glauben? Worauf gründet sich der Antisemitismusvorwurf gegen die Kritiker Israels denn überhaupt? Ist das rechte Spektrum tatsächlich vernachlässigbar? Und ist es wirklich das linke Spektrum, von dem die Gefahr einer Renaissance des Antisemitismus droht?

Dass zwischen Antisemitismus und Israelkritik eine empirische Korrelation besteht, ist noch lange kein Beleg für den antisemitischen Charakter der Israelkritik. Wer die israelische Politik bedingungslos unterstützt, wird wohl kaum antisemitisch vorbelastet sein, und ausgewachsene Antisemiten werden der israelischen Politik kaum wohlwollend gegenüberstehen. Diese beiden Extremgruppen bewirken zwar eine moderate Korrelation zwischen Israelkritik und Antisemitismus, die jedoch nichts darüber aussagt, ob und in welchem Maße Israelkritik antisemitisch motiviert ist.

Die »Projektgruppe Friedensforschung Konstanz« hat in den Jahren 2009-2012 daher ein DFG-unterstütztes Forschungsprojekt über »Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus« in Angriff genommen und u.a. eine Feldstudie durchgeführt, deren Hauptergebnisse im Folgenden skizziert werden.

Theorie und Methodologie

Ausgangspunkt der Studie war die in der Antisemitismusforschung verbreitete Auffassung, dass der Antisemitismus trotz Diskreditierung offen antisemitischer Einstellungen nach Ende des Dritten. Reichs nicht gänzlich verschwunden ist, sondern subtilere Formen angenommen hat. Entsprechend unterscheidet man zwischen verschiedenen Facetten des Antisemitismus (vgl. Frindte 2006).

  • Als »manifesten« Antisemitismus bezeichnet man die auf traditionelle Vorurteile zurückgreifende Diffamierungen von Juden als Juden.
  • Der Begriff des »sekundären« Antisemitismus bezieht sich auf den Umgang der Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit, dem Holocaust und der Schuld- und Verantwortungsfrage und bezeichnet die Relativierung, Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust ebenso wie die Forderung, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.
  • Als »latenten« Antisemitismus bezeichnet man den Versuch, das Thema Antisemitismus und Juden öffentlich zu meiden.

Es gibt weitere Facetten, deren Subsummierung unter das Konzept des Antisemitismus nicht so offensichtlich ist:

  • Der »Antizionismus« lehnt die zionistische Staatsideologie Israels ab und macht die Juden schlechthin dafür verantwortlich (generalisierende Israelkritik).
  • Auf Bergmann & Erb (1991) zurück geht das Konzept der »antisemitischen Israelkritik«, welche die Kritik an der israelischen Palästinapolitik – im Sinne einer Ersatzkommunikation – dazu benutzt, das Kommunikationstabu für antisemitische Einstellungen zu umgehen.

Mit seinem Eingang in den öffentlichen Diskurs hat das Konzept der antisemitischen Israelkritik jedoch einen Bedeutungswandel durchgemacht, und spätestens seit der Konferenz von Durban1 macht sich unter Politikern und Publizisten eine Tendenz bemerkbar, jegliche Israelkritik als antisemitisch zu brandmarken (z.B. Cotler 2006). Viele (nicht-jüdische und jüdische) Kritiker der israelischen Politik befürchten daher, dass sie mittels des Antisemitismusvorwurfes mundtot gemacht werden sollen. Umgekehrt befürchten aber auch viele Israelis, Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen (aber auch nicht-jüdische Deutsche, welche die Lehren aus der Geschichte gezogen haben), dass die zunehmende Israelkritik Anzeichen für ein Wiederaufleben des Antisemitismus sein könnte.

Beide Befürchtungen sind berechtigt, und ein Ausweg aus dieser vertrackten Situation lässt sich nur dann finden, wenn man beide Möglichkeiten in Rechnung stellt und Israelkritik weder pauschal verurteilt noch pauschal rechtfertigt. Dass Israelkritik antisemitisch motiviert sein kann, steht außer Zweifel. Aber es kann auch nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass sich die Kritik aus anderen Motiven speisen kann – etwa aus Pazifismus und/oder aus dem Engagement für die Menschenrechte der Palästinenser. Auch die Lehre von Auschwitz, „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, ist ja keineswegs eindeutig und kann bezüglich der Menschenrechtsfrage in zweierlei Weise interpretiert werden: 1. als Eintreten für die unmittelbaren Opfer des Nationalsozialismus, was eine Tendenz zu unbedingter Solidarität mit Israel nahelegt, oder 2. als Eintreten für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, was eine Tendenz zur Distanzierung von zumindest einigen Aspekten der israelischen Politik und ein gewisses Maß an Empathie für die palästinensische Seite impliziert.

Zugleich muss man auch in Rechnung stellen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht nur einer zwischen Juden und Nicht-Juden ist, sondern eben ein Konflikt, der als solcher denselben sozialpsychologischen Mechanismen folgt wie andere Konflikte auch. Und man muss zwischen pauschal israel- oder palästinenser-feindlichen Einstellungen und der Art und Weise unterscheiden, wie sich Menschen den Konflikt erklären – oder anders ausgedrückt: mittels welcher mentaler Modelle sie ihn zu verstehen versuchen.

Bereits Morton Deutsch (1973) hat nachgewiesen, dass die Eskalation von Konflikten mit spezifischen Wahrnehmungsverzerrungen einhergeht, und Daniel Bar-Tal (1998) hat gezeigt, dass sich diese Wahrnehmungsverzerrungen in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten, die Bestandteil der psychischen Infrastruktur sind, welche die Mitglieder einer Gesellschaft befähigt, solche Konflikte aushalten zu können.

Diese Grundüberzeugungen beinhalten u.a. den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und die eigene Opferrolle, die Delegitimierung des Feindes und den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke. Wenn man eine Friedenslösung anstrebt, muss man diese Wahrnehmungsverzerrungen überwinden und die o.g. Grundüberzeugungen (die gleichsam einen »War-Frame« bilden) durch einen anderen Interpretationsrahmen ersetzen: durch einen »Peace-Frame«. Der Peace-Frame gesteht der Gegenseite die Berechtigung der (oder zumindest einiger ihrer) Anliegen zu, anerkennt die beidseitige Opferrolle, hebt die Delegitimierung des Gegners auf und sucht persönliche und nationale Sicherheit durch eine Friedenslösung zu erreichen.

Auch Dritte, die den Konflikt verstehen wollen, stehen vor der Wahl, ihn entweder im Sinne eines War-Frame oder im Sinne eines Peace-Frame zu interpretieren. Dabei sind beide Frames durchaus ambivalent, denn beide versprechen Sicherheit und schaffen zugleich Unsicherheit. Der War-Frame bietet Sicherheit, weil an bewährten Verhaltensmustern festgehalten werden kann, und er schafft Unsicherheit, weil die Fortsetzung der Gewalt droht. Der Peace-Frame bietet Sicherheit, weil er ein Ende der Gewalt verspricht, und er schafft Unsicherheit, weil neue Verhaltensmuster erprobt werden müssen, deren Effektivität noch ungewiss ist.

Entsprechend haben die mentalen Modelle, mittels derer man einen Konflikt zu verstehen sucht, sowohl eine kognitive als auch eine affektive Komponente. Die kognitive Komponente besteht in der Art und Weise, wie man sich zu dem Konflikt positioniert (in welchem Frame und zugunsten welcher Partei?). Die affektive Komponente besteht in der emotionalen Nähe zu dem Konflikt und in der Sensibilität für die Ambivalenz der beiden Frames (vgl. Kempf 2011).

Methodik und Ergebnisse

Der Fragebogen, den wir in unserer Feldstudie verwendet haben, umfasste daher nicht nur eine Reihe von Skalen zur Messung von manifestem, sekundärem und latentem Antisemitismus, Antizionismus, antiisraelischen und antipalästinensischen Einstellungen, sondern auch ein Israelquiz, mittels dessen wir das Wissen über den israelisch-palästinensischen Konflikt erhoben, Skalen zur Erfassung der kognitiven und affektiven Komponenten der mentalen Modelle, mittels derer die Befragten den Konflikt interpretierten, sowie Skalen zur Messung von Pazifismus, Menschenrechtsorientierung und moralischer Ablösung.

Die Datenerhebung fand in der Zeit zwischen Juni und November 2010 statt. Die Stichprobe setzte sich aus einer nach Alter, Geschlecht und Schulbildung für Deutschland repräsentativen Stichprobe von je 499 Befragten aus einem alten (Baden-Württemberg) und einem neuen Bundesland (Thüringen) zusammen sowie aus 464 Teilnehmern einer Online-Befragung, mittels derer es uns nach dem Schneeballprinzip gelang, an aktive Israelkritiker heranzukommen. 86% dieser Teilstichprobe, in der ältere Personen (ab einem Alter von 55) überrepräsentiert waren, verfügten über Abitur oder einen vergleichbaren Schulabschluss, weitere 10% immerhin über einen Realschulabschluss.2

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten – insbesondere in den alten Bundesländern – ein besorgniserregend hohes Potenzial für Antisemitismus in Deutschland:

  • 8% aller Deutschen meinen, dass man mit Juden besser nichts zu tun haben sollte;
  • 14% der Westdeutschen und 11% der Ostdeutschen halten es für eine vertretbare Meinung, dass die Juden selber schuld sind, dass man sie nicht mag;
  • 22% (West) bzw. 17% (Ost) meinen, dass man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt;
  • 24% (West) bzw. 14% (Ost) meinen, dass die Juden zu viel Einfluss auf der Welt haben;
  • 26% (West) bzw. 20% (Ost) meinen, dass so mancher Jude aus dem Holocaust heute seinen Vorteil zieht;
  • 47% (West) bzw. 39% (Ost) meinen, dass man mit dem Gerede (!) über unsere Schuld gegenüber den Juden Schluss machen sollte;
  • und wenn man die Frage etwas gemäßigter formuliert sind sogar 53% (West) bzw. 42% (Ost) dafür, dass man einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen sollte.

Auch eine generalisierende Israelkritik, die

  • »den Juden« unterstellt, dass ihnen der Holocaust eine willkommene Rechtfertigung sei, um die Politik Israels zu rechtfertigen (West: 31%; Ost: 21%),
  • davon ausgeht, dass sich Israel ohne die »weltweite Macht des Judentums« nicht so einfach über internationales Recht hinwegsetzen könnte (West: 33%; Ost: 25%) und/oder
  • fordert, dass wir uns von »den Juden« nicht weiterhin unter Druck setzen lassen sollten, die Palästina-Politik Israels unwidersprochen hinzunehmen (West 36%, Ost: 29%), ist in den alten Bundesländern weiter verbreitet als in den neuen.

Hier zeigen sich die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR, die (auch wenn man dies gerne verleugnet) bei der Bekämpfung des Antisemitismus offensichtlich etwas erfolgreicher war als die BRD. Gleichzeitig zeigen sich die Nachwehen des Kalten Krieges aber auch darin, dass die Menschen in den neuen Bundesländern bis heute etwas stärker dazu neigen, Israel die Alleinschuld an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Konflikte im Nahen Osten zu geben (West: 13%; Ost: 19%).

Die Art und Weise, wie sich die Menschen in Deutschland zum israelisch-palästinensischen Konflikt positionieren, fällt deutlich zugunsten der Palästinenser aus. Zwar gibt es eine relativ große Gruppe von Befragten (15% der Quotenstichprobe), die überhaupt keine Position beziehen. Die überwiegende Mehrheit (45%) interpretiert den Konflikt jedoch in einem Peace-Frame mit teilweise pro-israelischer (12%), weit häufiger jedoch mit pro-palästinensischer Tendenz (33%), und eine große Gruppe (21%) interpretiert den Konflikt in einem pro-palästinensischen Frame, der schon sehr deutlich polarisiert und gleichsam an der Schwelle zu einem War-Frame steht. Pro-israelische und pro-palästinensische Hardliner, die den Konflikt in einem War-Frame interpretieren, sind mit 10% bzw. 9% etwa gleich große Minderheiten.

Mit Ausnahme der pro-israelischen Hardliner teilen alle diese Gruppen (selbst jene, die mit Israel sympathisieren) die Auffassung, dass das Ziel der israelischen Politik in der fortgesetzten Unterdrückung und Entrechtung der Palästinenser besteht. Trotzdem werden die palästinensischen Terroranschläge (fast) durchgehend schärfer verurteilt als die israelischen Militäroperationen. Einzige Ausnahme sind die pro-palästinensischen Hardliner, aber auch diese rechtfertigen die Terroranschläge nicht.

Wie wir mittels Latent-Class-Analyse nachweisen konnten, gibt es jedoch zwei verschiedene Formen der Israelkritik, denen völlig entgegengesetzte Motivationssysteme zugrunde liegen (vgl. Kempf, im Druck). Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung (69%) positioniert sich relativ bis sehr stark zugunsten der Palästinenser und kann in zwei Gruppen eingeteilt werden: antisemitische Israelkritiker (zusammen 26%), die starke bis sehr starke antisemitische Vorurteile teilen, sowie Israelkritiker (zusammen 44%), die sich zwar zugunsten der Palästinenser positionieren, antisemitischen Vorurteilen jedoch (fast) durchgehend ablehnend gegenüberstehen. Lediglich eine kleine Teilgruppe der radikalsten unter diesen Kritikern (2%) zeigt vereinzelte antisemitische Vorurteile.

Antisemitische Israelkritik ist typisch für NPD-Wähler, aber auch in der Mitte der Gesellschaft (insbesondere bei den CDU/CSU-Wählern) fest verankert. Bei den Grünen und der Linken kommt sie etwas weniger vor.

31% der deutschen Bevölkerung ergreifen eher eine pro-israelische Position und können ebenfalls in zwei Subgruppen unterteilt werden, deren eine (20%) sich überwiegend in einem pro-israelischen War-Frame positioniert und keine antisemitischen Einstellungen zeigt. Die andere Gruppe (11%) positioniert sich dagegen eher in einem Peace-Frame, bezieht aber meist überhaupt keine Position und zeigt trotz ihrer tendenziellen Unterstützung für Israel einzelne antisemitische Vorurteile.

Der Verdacht, dass wir es bei dieser Gruppe mit latentem Antisemitismus zu tun haben könnten, erhärtet sich dadurch, dass dieses Muster das einzige ist, das sich neben offen antisemitischer Israelkritik auch bei den NPD-Wählern findet, und zwar häufiger als in allen anderen Teilen der Gesellschaft. Auch hier sind es wieder die Wähler der Grünen und der Linken, bei denen sich dieses Muster etwas seltener zeigt.

Stellt man die antisemitischen und nicht-antisemitischen Israelkritiker einander gegenüber, so zeigt sich, dass die nicht-antisemitischen Israelkritiker besser informiert sind und eine größere emotionale Nähe zu dem israelisch-palästinensischen Konflikt zeigen. Ihr Pazifismus ist stärker ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung ist konsistenter. Ihre Positionierung zugunsten der Palästinenser wird umso radikaler, je besser sie über den Konflikt informiert sind, je größer ihre emotionale Nähe zu dem Konflikt ist, je stärker ihr Pazifismus ausgeprägt ist, je konsistenter ihre Menschenrechtsorientierung ist, je mehr sie die Einschränkung von Menschenrechten ablehnen, je weniger sie zu moralischer Ablösung neigen und je stärker sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eintreten.

Bei den antisemitischen Israelkritikern ist es genau umgekehrt. Je radikaler sie sich zugunsten der Palästinenser positionieren, desto schlechter sind sie informiert, desto weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt haben sie, desto geringer ist ihre pazifistische Einstellung, desto inkonsistenter ist ihre Menschenrechtsorientierung und desto weniger treten sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Die antisemitischen Israelkritiker zeigen sich generell vorurteilsbeladen. Sie teilen starke antisemitische, antizionistische, antiisraelische und antipalästinensische Einstellungen und positionieren sich weniger radikal zugunsten der Palästinenser als die nicht-antisemitischen Kritiker.

Die nicht-antisemitischen Israelkritiker dagegen lehnen sowohl antisemitische als auch antipalästinensische Vorurteile ab. Die radikaleren unter ihnen zeigen jedoch antizionistische und antiisraelische Einstellungen.

Nicht-antisemitische Israelkritiker, die sich in einem Peace-Frame positionieren, zeigen sich trotzdem besonders sensibel für die Ambivalenz ihres Frames. Sie sind sich des israelischen Sicherheitsdilemmas bewusst oder zeigen sich zumindest unsicher, ob eine Friedenslösung Israel Sicherheit bieten kann. Was sie dazu bringt, sich dennoch in einem Peace-Frame zu positionieren, sind ihr starker Pazifismus und ihre ausgeprägte Menschenrechtsorientierung sowie ihre strikte Ablehnung jeglicher Vorurteile, seien sie nun antisemitischer, antizionistischer, antiisraelischer oder antipalästinensischer Art.

Auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik läuft jedoch Gefahr, in die Entwicklung antisemitischer Vorurteile abzugleiten: Jene unter ihnen, die sich am radikalsten zugunsten der Palästinenser positionieren, spalten sich in zwei Gruppen, von denen eine keinerlei antisemitische Vorurteile zeigt, die andere jedoch zu dem Glauben neigt, dass die Behandlung der Palästinenser in Israel »das wahre Gesicht der Juden zeigt« und dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt (ohne die Israel seine Politik nicht durchsetzen könnte). Deshalb möchten sie auch einen Schlussstrich unter die deutsch-jüdische Vergangenheit ziehen.

Im Vergleich zu den nicht weniger radikalen Israelkritikern, die solche Einstellungen nicht entwickeln, sind sie über den israelisch-palästinensischen Konflikt etwas weniger informiert und haben etwas weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt. Ihr Pazifismus ist etwas weniger stark ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung etwas weniger konsistent. Sie neigen etwas stärker dazu, Einschränkungen der Menschenrechte zu rechtfertigen, zeigen eine etwas stärkere Tendenz zu moralischer Ablösung und treten etwas weniger stark für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Fazit

Das antisemitische Potenzial in Deutschland ist besorgniserregend. Nicht nur wegen seines Ausmaßes, sondern auch, weil es in der Mitte der Gesellschaft fest verankert ist. Dort und am rechten Rand finden sich nicht nur die antisemitischen Israelkritiker, sondern auch eine Gruppe von Befragten, die sich zum israelisch-palästinensischen Konflikt meist überhaupt nicht positionieren und des latenten Antisemitismus verdächtig sind.

Unter den aktiven Israelkritikern waren diese Muster dagegen nicht zu finden. Die aktiven Israelkritiker und mit ihnen die überwiegende Mehrheit der Deutschen, die sich zugunsten der Palästinenser positionieren, teilen keinerlei antisemitische Vorurteile, sondern kritisieren die israelische Politik in Folge ihres Menschenrechtsengagements und Pazifismus. Während die aktiven Kritiker dazu neigen, sich trotz ihres ausgeprägten Pazifismus in einem pro-palästinensischen War-Frame zu positionieren, sind diese radikalen Spielarten der Israelkritik in der allgemeinen Bevölkerung extrem selten. Diese radikalen Kritiker wählen Die Linke oder Bündnis 90/Die Grünen, und in der Mitte der Gesellschaft (bei den Wählern von CDU, SPD und FDP) finden sie sich überhaupt nicht.

Dass gerade sie es sind, die so oft des Antisemitismus bezichtigt werden, muss zu denken geben. Zum einen entsteht der Verdacht, dass es bei den erhobenen Antisemitismusvorwürfen gar nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus geht, sondern darum, vom tatsächlichen Antisemitismus in Deutschland abzulenken. Zum anderen muss man sich fragen, welche Konsequenzen diese Hexenjagd für die Reanimation antisemitischer Vorurteile haben kann. Wenn man hinreichend naiv ist, fällt es nur allzu leicht, dahinter eine jüdische Weltverschwörung zu sehen. Dass auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik Gefahr läuft, in die Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile abzugleiten, lässt sich angesichts unserer Befunde daher nicht von der Hand weisen.

Literatur

Bar-Tal, D. (1998). Societal beliefs in times of intractable conflict: The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, 9/1, S. 22-50.

Bergmann, W., Erb, R. (1991). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland: Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989. Opladen: Leske + Budrich.

Cotler, I. (2006). The disgrace of Durban – five years later. National Post, 12. September 2006, S. A20.

Deutsch, M. (1973). The resolution of conflict. New Haven: Yale University Press.

Frindte, W. (2006). Inszenierter Antisemitismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kempf, W. (2011): Mental Models of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal for the Study of Antisemitism, 3/2, S.101-136.

Kempf, W. (im Druck). Anti-Semitism and the criticism of Israel: Methodology and results from a survey in Germany. In: Baum, S. K. and Cohen, F. (eds). Antisemitism in North America. Theory, Research and Methodology. Leiden, The Netherlands: Brill.

Krell, G. & Müller, H. (2012). Noch ein Krieg im Nahen Osten? Zum misslungenen Anstoß von Günter Grass zu einer überfälligen öffentlichen Debatte. HSFK Report 2/2012.

Mattusek, M. (2013). Die Gefahr droht nicht von ewig gestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu. Idea-Spektrum 4, 24. Januar 2013, S.15.

Melzer, A. (2011): Eine Debatte, die keine war, über Antisemitismus, der keiner ist. Protokoll einer Hexenjagd im Deutschen Bundestag. Der Semit, 3/Sondernummer 1/2011, S.4-31.

Anmerkungen

1) In Durban/Südafrika fand vom 31.8.-7.9.2001 die »World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« statt.

2) Für einzelne Analysen konnten wir zusätzlich auf eine Stichprobe aus vor allem jüngeren Personen mit guter Schulbildung (Abitur oder vergleichbarer Schulabschluss) und/oder auf die Daten aus drei experimentellen Studien zurückgreifen, die im Rahmen des Projektes durchgeführt wurden.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (www.cco.regener-online.de).

Zwischen al-Tahrir und Puerta de Sol

Zwischen al-Tahrir und Puerta de Sol

Entwicklung und Herausforderungen der sozialen Protestbewegung in Israel

von Uri Weltmann

Nach den Rebellionen in mehreren arabischen Ländern ist es auch in Israel zu Protesten gegen soziale Missstände gekommen. Zeltlager und große Demonstrationen haben deutlich gemacht, dass für die Bevölkerung nicht nur der Konflikt mit der palästinensischen Bevölkerung relevant ist, sondern auch Armut und der Abbau sozialer Sicherungssysteme sowie der Zugang zu ausreichendem und bezahlbarem Wohnraum.

Der Verweis ist eindeutig: »Al-Tahrir-Platz, Ecke Rothschild Avenue«. So steht es auf einem großen Transparent, das an der Rothschild Avenue in Tel Aviv aufgehängt wurde, dem Ort des zentralen Protestlagers. Das Lager nahm am 14. Juli 2011 seinen Anfang und hat zum Aufstieg dessen geführt, was gelegentlich als »Bewegung des 14. Juli« (July 14th Movement bzw. J14) bezeichnet wird. Diese Bewegung hat hat einen Sommer mit vielen Demonstrationen und Massenmobilisierungen initiiert, wie das in Israel in dieser Größenordnung bisher unbekannt war.

Tatsächlich hat der revolutionäre Geist, der den Nahen Osten erfasst hat und der als »Arabischer Frühling« bezeichnet wird, nun auch Israel erreicht – freilich in einer deutlich anderen Form und mit anderen Inhalten. Welche gesellschaftlichen Kräfte haben zur Entstehung dieser breiten Protestbewegung beigetragen, die sich in einer Welle sozialer Unruhe über das ganze Land ausgebreitet hat?

Die neoliberalen Umstände

Während die israelische Regierung mit dem gewaltigen ökonomischen Wachstum der letzten Jahre prahlt, das sogar jenes der OECD-Staaten übertraf,1 nahmen gleichzeitig Armut und Einkommensunterschiede zu. Eine Mehrheit der Israelis leidet auch weiterhin an der Abnahme des Lebensstandards, da die Lebenshaltungskosten steigen, die Gehälter jedoch unverändert geblieben sind.

Einer Untersuchung des Nationalen Versicherungsinstitut Israels zufolge „ist das Ausmaß der Armut in Israel doppelt so hoch wie im OECD-Durchschnitt, und die Einkommensunterschiede sind eineinhalb Mal so hoch. […] Das Ausmaß der Armut hat zugenommen und einen drastischen Höhepunkt erreicht.“ 2 Ein Drittel der Kinder in Israel leben unterhalb der Armutsgrenze; bei den arabisch-palästinensischen Bürger_innen Israels, die etwa 20% der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachen, sind es sogar zwei Drittel der Kinder.3

Die zunehmende Armutsquote in Israel ist kein neues Phänomen. Seit den frühen 2000er Jahren und besonders seit 2003, als Benyamin Netanyahu zum Finanzminister im Kabinett von Ariel Sharon ernannt wurde, sind strenge neoliberale Maßnahmen umgesetzt worden: die umfassende Privatisierung bis dahin öffentlicher Unternehmen, Kürzungen bei Sozialleistungen für Kinder und bei der Unterstützung von Behinderten und alten Menschen sowie die Senkung von Unternehmenssteuern bei gleichzeitigen Einschnitten bei den öffentlicher Ausgaben.

Zugleich stiegen die Lebenshaltungskosten. Dies betraf praktisch alle Haushalte in Israel: Die Ausgaben für Strom stiegen gerade erst um zehn Prozent, und in den vergangenen Monaten sind wir zudem Zeugen von Kostensteigerungen bei öffentlichen Transportmitteln, Benzin, Wasser und Grundnahrungsmitteln geworden. Die Weigerung der Regierung, eine Lösung für diese Preissteigerungen zu finden – entweder in Form einer Subventionierung der Lebenshaltungskosten oder durch Eingriffe in die Preisgestaltung –, hat viele arbeitende Menschen und Familien verärgert.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung hat in Verbindung mit steigenden Preisen und stagnierenden Einkommen nicht nur dazu geführt, dass diejenigen Menschen, die gerade noch über der Armutsgrenze lebten, rasch unter diese fielen, sondern auch dazu, dass immer mehr derjenigen, die zur Mittelschicht gezählt werden, sich anstrengen mussten, über die Runden zu kommen. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, von denen viele in prekären Jobs ohne Arbeitsplatzsicherheit und ohne langfristige soziale Absicherung beschäftigt sind.

Menschen, die sich im Regelfall nicht zu den ärmeren Schichten der Bevölkerung zählen, also solche mit Universitätsabschlüssen, aus den größeren urbanen Zentren Israels oder aus Familien mit gesicherten Arbeitsplätzen, mussten feststellen, dass ihre ökonomische Perspektive entgegen den Aussagen der Regierung völlig unsicher ist. „Die Wirtschaft ist auf dem richtigen Weg“, sagt die Regierung. „Warum aber“, so fragen sich die Menschen „ist es dann so schwer, ein menschenwürdiges Leben zu führen?“.

In keinem gesellschaftlichen Bereich ist die Proletarisierung der israelischen Mittelschicht so offensichtlich wie beim Wohnen. Die Mieten sind in den letzten sechs Jahren um 34% gestiegen, in Tel Aviv sogar um 49%.4 Die Menschen zahlen bis zur Hälfte ihres Gehalts für die Miete, und der Traum, ein eigenes Haus zu besitzen, bleibt für die Mehrheit der Israelis genau das: ein ferner Traum.

Auf diese Weise hat der Neoliberalismus die Grundlagen dafür gelegt, dass ein breites Spektrum der israelischen Gesellschaft, das ansonsten politisch passiv und untätig ist, bereit war, auf die Straße zu gehen. Was noch fehlte, war ein auslösender Funke.

»Tentifada« – die Zelt-Protestbewegung entsteht

Am 14. Juli versammelten sich einige hundert junge Menschen nach einem Facebook-Aufruf mit Zelten und Schlafsäcken in der Rothschild Avenue, einem zentralen Ort Tel Avivs. Ihr Lager, das große Medienresonanz hervorrief, richtete sich gegen die irrsinnig hohen Mieten in Israel und besonders in Tel Aviv und zielte darauf ab, dem Ärger der Mittelschichten Ausdruck zu verleihen.

Während die Organisator_innen, die von der Zeltstadt in Puerta de Sol in Madrid inspiriert waren, davon ausgingen, dass der Protest nur einige Tage anhalten würde, wurden immer mehr Zelte aufgestellt, und der Protest nahm deutlich zu. Die erste Demonstration wurde für den 23. Juli angesetzt. An ihr beteiligten sich 30.000 Menschen; das ist für israelische Verhältnisse eine große Demonstration.

Die Nationale Studierendenunion schloss sich der Protestbewegung an, und Dutzende Zeltlager wurden im ganzen Land errichtet. So war es nicht mehr eine auf Tel Aviv beschränkte Aktion, sondern eine Angelegenheit, die den Nerv der Menschen im ganzen Land traf.

Bereits wenige Tage nach ihrem Beginn wuchs die Bewegung nicht nur in die Breite, sondern auch in ihrer thematischen Vielfalt. Die Wohnfrage war nur noch ein Thema von mehreren, aufgrund derer die Menschen protestierten: Junge Eltern organisierten Demonstrationen gegen die hohen Kosten für Kindergartenplätze und Tagesstätten; Lehrer_innen und Erzieher_innen richteten ihren Protest gegen die fatale Situation des unterfinanzierten öffentlichen Bildungssystems; und Krankenhausärzte, die bereits seit April im Streik waren, traten der Protestbewegung bei und forderten höhere Löhne und mehr staatliche Ausgaben für das öffentliche Gesundheitssystem.

Die stark fragmentierte israelische Gesellschaft, die nicht auf eine gewerkschaftliche Tradition der Solidarität und sozialer Kämpfe zurückgreifen kann, wurde plötzlich Zeuge einer lebendigen und dynamischen sozialen Protestbewegung, die von jungen Leuten angeführt wurde, aber Menschen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zusammenführte.

Am 30. Juli fand in Tel Aviv eine Demonstration mit 150.000 Menschen statt. Zeitgleich wurden große Versammlungen auch in Jerusalem und Haifa durchgeführt. Eine Woche später marschierten 300.000 durch Tel Aviv in einer der größten Demonstrationen, die bis dato in Israel stattgefunden hatten. Am 3. September fand der »Marsch der Millionen« statt, an dem sich eine halbe Millionen Protestierende beteiligten – 300.000 in Tel Aviv und nahezu 200.000 in siebzehn Städten in ganz Israel. Das sind fast 6% der Bevölkerung des Landes. Zum Vergleich: In Deutschland entspräche dies einer Beteiligung von fünf Millionen Menschen.

Kurz nach Beginn der Proteste geriet die Führung der Protestbewegung in die Kritik, weil sie lediglich allgemein soziale Gerechtigkeit reklamiere, aber keine konkreten Forderungen auf die Tagesordnung setze. Wenig später gab es dann verschiedene Forderungen nach einer Erhöhung der öffentlichen Ausgaben, insbesondere im Bereich des öffentlichen Wohnungsbaus, aber auch bezüglich kostenloser Bildung für alle.

Vom »Arabischen Frühling« zum »Israelischen Sommer«?

Die Protestbewegung in Israel entwickelt sich in einer internationalen Atmosphäre sozialer Unruhe: Im Februar gab es in Portugal die größte Demonstration seit der Nelken-Revolution von 1974; im Mai begannen junge Menschen in Spanien mit Protesten gegen die Regierungspolitik, und im Juni gingen auch die griechischen Studierenden auf die Straße. Die J14-Bewegung in Israel muss vor diesem Hintergrund verstanden werden.

Allerdings liegt Israel nicht in Europa, sondern im Nahen Osten. Die Auswirkungen der regionalen Ereignisse in Tunesien, in Ägypten, auf der Arabischen Halbinsel und anderswo auf die Entwicklung des sozialen Protestes in Israel dürfen daher nicht ignoriert werden. Viele Jahre lang förderte das israelische Establishment bei der jüdischen Bevölkerung die Vorstellung, das Land sei eine »Villa im Dschungel«. Es wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen, dass Israel Teil des arabischen Nahen Ostens ist, und es wurde Misstrauen und Angst geschürt gegenüber der arabischen Kultur sowie gegenüber fortschrittlichen politischen Bewegungen in der arabischen Welt. Als dann die arabischen Bevölkerungen rebellierend auf die Straße gingen und die Diktatoren Mubarak und Ben Ali stürzten, verfolgten viele Israelis diese Entwicklungen mit gemischten Gefühlen.

Diese gemischten Gefühle verhinderten aber nicht, dass die Massenproteste in Israel auf Resonanz stießen, auch wenn es nicht zu einer Imitation des »Arabischen Frühlings« kam. Die Demonstrationsparole der J14-Bewegung, die im Laufe des »Israelischen Sommers« am bekanntesten wurde, lautete: „Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit“ und wurde im selben Rhythmus gerufen, in dem die Protestierenden auf dem Kairoer al Tahrir-Platz „Das Volk fordert den Sturz des Regimes“ riefen. Einige Protestierende trieben es sogar noch etwas weiter und riefen: „Mubarak, Assad, Netanyahu“.5 Die Gleichsetzung von Mubarak und Netanyahu war auch bei der Demonstration am 6. August in Tel Aviv zu beobachten, bei der Protestierende ein großes Transparent entrollten, auf dem in hebräischer Sprache „Ägypten ist hier“ zu lesen war, gefolgt von der ägyptischen Parole und – gerichtet an den Regierungschef – „Verschwinde“ in arabischer Sprache.6

Auch wenn man sich darüber freuen kann, dass Teile der israelischen Öffentlichkeit etwas von der Symbolik der arabischen Rebellion aufgenommen haben, so müssen wir uns doch zugleich der Unterschiede zwischen den Protesten in Israel und jenen an anderen Orten des Nahen Ostens bewusst sein. Die Protestbewegung hat vor allem so große Unterstützung bei den Israelis gefunden (laut einer Umfrage von »Kanal 10« von Anfang August fanden 85% der Israelis die Proteste richtig), weil sie – anders als ihr ägyptisches Gegenstück – nicht gefordert hatte, die von der Likud getragene Regierung zu ersetzen. Viele israelische Demonstrierende beharren darauf, dass ihre Forderung nicht im Sturz Netanyahus besteht, sondern darin, von ihm gehört zu werden, damit er zur Lösung der Probleme schreitet.

So liefen Kommunist_innen und Likud-Wähler_innen (aber keine Likud-Politiker_innen) gemeinsam in den selben Demonstrationen, riefen ähnliche Parolen, hatten jedoch entgegengesetzte Vorstellungen davon, was als nächstes zu passieren hätte.

Die Führung der J14-Bewegung trug zu dieser Mehrdeutigkeit hinsichtlich der Protestziele bei, indem sie ihre Position gegenüber Netanyahu und seiner Regierung nicht deutlich machte. Sie beharrten darauf, dass „dies kein Protest der Linken oder der Rechten, sondern der gesamten Bevölkerung ist“. Während diese Strategie sicherlich dazu beitrug, dass die allgemeine Öffentlichkeit positiver auf die Protestbewegung blickte, bedeutete der Mangel an Klarheit zugleich, dass die Massenmobilisierungen bisher keine konkreten Erfolge auf politischem Feld erzielen konnten: nicht die Ablösung der Regierung oder die Durchsetzung von Neuwahlen, ja nicht einmal ein sozial gerechteres Budget für das Jahr 2012.

Zudem hat es die Protestbewegung nicht vermocht, die besonderen sozialen Probleme zu berücksichtigen, denen sich die arabisch-palästinensische Minderheit in Israel gegenübersieht, insbesondere in Wohnungsfragen. Arabische Städte und Dörfer sind mit einem akuten Wohnungsmangel konfrontiert, der sich in fehlenden Baugenehmigungen und der Beschlagnahmung von Grundstücken ausdrückt. Regionale und örtliche Rahmenpläne für arabische Städte und Dörfer sind unzureichend und weisen keinen angemessenen Bereich für die Entwicklung des Wohnungsbaus aus. Baugenehmigungen werden nach nicht nachvollziehbaren Maßstäben vergeben. Eine brutale Politik der Zerstörung von Gebäuden wird verfolgt, insbesondere in den »nicht anerkannten Dörfern« der Beduinenstämme im Süden Israels.

Angesichts einer solch »unpolitischen« Rhetorik hat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Israels festgestellt, dass es dringenden Bedarf gibt, den ideologischen Charakter des grundlegenden Kampfes zu klären, der eine Auseinandersetzung zwischen zwei Wegen ist: ein Staat, der für alle Bürger_innen und Bewohner_innen verantwortlich ist, oder ein Staat, der diese den Kräften des Marktes ausliefert. Es sei zudem wichtig, den politischen Charakter des Kampfes zu betonen, d.h. dass jede wirkliche Veränderung zugunsten der Durchschnittsbevölkerung den Sturz der Netanyahu-Regierung voraussetzt.7

Obwohl sich die Führung der Bewegung also mehrdeutig äußert, sind erhebliche Fortschritte gemacht worden – nicht in der politischen Sphäre, aber ideologisch, im Bewusstsein der Bevölkerung. Allein die Tatsache, dass Hunderttausende mobilisiert wurden und Tausende von ihnen aktiv an der demokratischen Durchführung der Protestcamps beteiligt waren, ist nicht zu unterschätzen. In einer Gesellschaft wie Israel, in der politische Apathie weit verbreitet ist, ist die Beteiligung einer großen Zahl von – insbesondere jungen – Leuten an täglichen Diskussionen über die Strategie und Taktik des Aufbaus einer Bewegung, an der Organisierung von Nachbarschaftsvorträgen über Privatisierung und an Diskussionen über das Wesen des Kapitalismus etwas grundlegend neues.

Die Protestbewegung und der israelisch-palästinensische Konflikt

Nach 43 Jahren israelischer Besetzung der palästinensischen Gebiete füllt sich das Schwarzbuch der Menschenrechtsverletzungen und offenen Verbrechen jeden Tag mehr. Die Besatzung hat die israelische Gesellschaft entstellt, die am Anfang zwar keine »heile« Gesellschaft war, aber inzwischen immer gewaltsamer und hasserfüllter, immer intoleranter und undemokratisch wurde. Die moralischen Kosten der Besatzung, die die Gesellschaft der Besatzer zu tragen hat, sind enorm.

Wenig bekannt, aber dokumentiert und erforscht, sind die ökonomischen Kosten der andauernden Besatzung.8 Mit einem riesigen Militärbudget, das die Staatsausgaben auffrisst, mit wachsenden Rüstungskäufen in den USA und mit der Aufrechterhaltung und der fortgesetzten Expansion der Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten haben die verschiedenen israelischen Regierungen unabhängig von der jeweiligen Regierungspartei die Ressourcen des Landes zum Nachteil der Bedürfnisse der Bevölkerung – Gesundheitswesen, Wohnungswesen, Wohlfahrt und Bildung – eingesetzt.

Die radikale Linke, insbesondere die Kommunistische Partei Israels, hat darauf hingewiesen, dass ein Ende der Besatzung durch die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates neben Israel erhebliche Budgetmittel für den Bau von Schulen, Wohnungen, Krankenhäusern und Bibliotheken freisetzen würde. Daher ist ein umfassender, dauerhafter und gerechter Frieden im Interesse der israelischen Öffentlichkeit und der arbeitenden Menschen Israels.

Da die Führung der Protestbewegung aber auf die Mitte des Mainstreams zielte, blieben Forderungen nach einer Verbindung zwischen dem Ende der Besatzung und der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit in der Bewegung meist randständig. Zwar hatten einige Redner bei den Massendemonstrationen der J14-Bewegung dieses Thema aufgegriffen – so vor allem Dr. Zuheir Tibi in Tel Aviv und Raja Zaatry in Haifa –, und die Botschaft der beiden Redner, die beide der nationalen Führung von HADASH9 angehören, wurde von der Menge positiv aufgenommen, aber als Bewegung insgesamt hat J14 die Frage der israelischen Besatzung in ihre öffentlichen Forderungen an die Regierung nicht aufgenommen.

Das bedeutet nicht, dass die Frage ganz unter den Tisch fiel. Nach einem ganzen Monat israelischer Luftangriffe auf den Gazastreifen fielen am 18. August in der Nähe der südlich gelegenen Stadt Eilat mehrere Israelis einem Terroranschlag zum Opfer. Die israelische Regierung erklärte, es sei eine in Gaza beheimatete Organisation verantwortlich, und ordnete tödliche Luftangriffe an. Die J14-Bewegung wurde auf die Probe gestellt: Würde sie ihre Transparente in dem Moment einpacken, in dem ein blutiger Konflikt die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog? Würde ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit den Protest für soziale Gerechtigkeit verdrängen?

Bemerkenswerterweise hat die J14-Bewegung den Test bestanden. Proteste fanden selbst in den Tagen unmittelbar nach dem Terroranschlag und den Angriffen auf Gaza statt. In einer militarisierten Gesellschaft wie Israel, in der man von gewissen Kreisen verunglimpft wird, wenn man nicht ausreichend »patriotisch« auftritt, ist es eine mutige Aktion, offen dafür einzutreten, dass auch in solchen Zeiten dem Protest für soziale Gerechtigkeit ein Platz vorne und nicht am Rande der öffentlichen Bühne zukommt.

Wie geht es weiter?

Die soziale Protestbewegung des Sommers 2011, die mit ihren Zeltstädten die Phantasie des Landes angeregt hat, ist ein Wendepunkt in der Geschichte Israels. Für viele Teilnehmer_innen war klar, dass sie an einem Ereignis teilnahmen, das die israelische Politik für Jahre mitprägen wird.

Es ist davon auszugehen, dass die meisten, die an der Bewegung teilgenommen haben – die geholfen haben, die Camps zu organisieren, die an den weit verbreiteten Diskussionen teilnahmen, die sich an Massendemonstrationen beteiligten, wie es sie zuvor in dieser Größenordnung in Israel niemals gegeben hatte –, vermutlich weiterhin im hegemonialen Weltbild verharren werden. Aber diejenigen, die daraus ausbrechen und politische Schlussfolgerungen über die israelische Gesellschaft und die Fragen, mit denen diese konfrontiert ist, ziehen, werden ohne Zweifel einen wichtigen qualitativen Beitrag dazu leisten, das Kräfteverhältnis zu verschieben – weg vom ungezügelten Kapitalismus und von der fortgesetzten kriminellen Besatzung.

Der palästinensische Dichter Mahmoud Darwish hat einmal geschrieben: „Dieses Land hat etwas in sich, das das Leben rechtfertigt.“ Wir werden aus der überwältigenden Energie der jüngsten sozialen Protestbewegung schöpfen und den Kampf für ein besseres Leben in diesem Land fortsetzen – für alle.

Anmerkungen

1) OECD raises Israel 2011 growth forecast to 5.4%. tinyurl.com/globes01; Israel Economic Growth Unexpectedly Accelerates to Fastest Pace Since 2008. tinyurl.com/bloomberg01.

2) Poverty and Social Gaps – Annual Report for 2009. tinyurl.com/6gkwxpo.

3) The Equality Index of Jewish and Arab Citizens of Israel (published by Sikkuy – The Association for the Advancement of Civic Equality in Israel). tinyurl.com/sikkuy-01.

4) Rental prices in Tel Aviv rose 49% in six years, says report. tinyurl.com/themarker01.

5) Israelis Chant: »Mubarak, Assad, Bibi Netanyahu« (video). tinyurl.com/realnews01.

6) flickr.com/photos/activestills/6015827664/in/set-72157627619257964.

7) From Social Protest to Political Change (Resolution of the Central Committee of the Communist Party of Israel). 13.8.2011. tinyurl.com/cpi130811.

8) Swirski, Shlomo. The Cost of the Occupation – The Burden of the Israeli-Palestinian Conflict (2010 Report, published by Adva Center). tinyurl.com/adva-01.

9) HADASH (hebräisches Akronym für »Democratic Front for Peace and Equality«) ist eine radikal linke Koalition, die 1977 gegründet wurde und der neben der Kommunistischen Partei Israels einige andere, kleiner Gruppen angehören. Bei den kürzlichen Wahlen zum israelischen Parlament (Knesset) erzielte HADASH 3,32%, das entspricht vier von 120 Parlamentssitzen.

Uri Weltmann ist Mitglied des Nationalen Sekretariats von HADASH (HaChasit haDemokratit leSchalom uleSchiwjon = Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung), der Wahlformation der Kommunistischen Partei Israels.
Übersetzt von Fabian Virchow

Macht- statt Realpolitik

Macht- statt Realpolitik

von Jürgen Nieth

Am 23. September 2011 hat der palästinensische Präsident Mahmud Abbas UN-Generalsekretär Ban Ki-moon offiziell den Antrag auf Vollmitgliedschaft des Staates Palästina in den Grenzen von 1967 übergeben. 127 Staaten haben Palästina bereits anerkannt, „rund 150 Mitglieder der Generalversammlung würden nach bisherigen Bekundungen für den Antrag stimmen – weit mehr als die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 129 der 193 UNO-Staaten“. Doch dass es zu dieser Abstimmung kommt ist unwahrscheinlich: Die USA haben ihr Veto angekündigt und bemühen sich „unterstützt von Deutschland und Israel, dass der Antrag im Sicherheitsrat erst gar nicht die für seine Annahme erforderliche Mehrheit von mindestens 9 der 15 Mitglieder bekommt.“ So berichteten bosnische Diplomaten von „massivem Druck und Drohungen aus Washington, Berlin und Tel Aviv“. (Andreas Zumach, taz 22.09.11) Bei Redaktionsschluss von W&F am 28.09.2011 hatte der Sicherheitsrat die Abstimmung über den Antrag vorläufig verschoben.

Verhandlungen statt Aufnahme

Statt UN-Aufnahme erneute Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern, diese Linie der USA wird von der Bundesregierung unterstützt. Und Frankreichs Präsident Sarkozy plauderte vor den Vereinten Nationen Details eines Plans aus, den das Nahost-Quartett (USA, EU, Russland und UN) ausgehandelt hat: „Abbas könnte dadurch besänftigt werden, dass ihm eine Erklärung […] in Aussicht gestellt wird, die einen klaren zeitlichen Fahrplan für Verhandlungen mit den Israelis über die Endstatusfragen, also Grenzziehungen eines künftigen Staates ausschließlich einiger jüdischer Siedlungsblöcke, sowie das Ostjerusalem- und das Flüchtlingsproblem […] umfassen würde.“ (FAZ 24.09.11) Ein Verhandlungsvorschlag, den Inge Günther (FR, 26.09.11) als „zu vage“ bezeichnet. „Alle inhaltlichen Referenzen wurden vermieden, auch die Erwähnung der Waffenstillstandslinien von 1967, die die Palästinenser als Bezugsgröße verlangen.“ Hinzu komme, dass „Ähnliches […] bereits US-Präsident Barack Obama 2010 versprochen [hatte], als er einen palästinensischen Staat in einem Jahr in Aussicht stellte, ohne dass viel passierte.“

Die palästinensische Regierung macht Verhandlungen von einem Siedlungsstopp abhängig. So erklärte ihr Außenminister Riad Maliki: „Wir können uns nicht zurück lehnen und zusehen, wie Israel Fakten schafft.“ Die Zweistaatenlösung werde mit dem Anwachsen der Siedlungen immer unmöglicher. „Wenn sich Israel eines Tages entschließt, mit uns zu verhandeln, dann wird es nichts mehr geben, worüber sich verhandeln lässt.“ (Susanne Kaul, taz 16.09.11)

Die Rolle der USA

„Mit Bestürzung und Wut reagierten die Palästinenser auf Obamas UN-Auftritt, der als fast komplette Übernahme der israelischen Position gewertet wird […] Mit einem solchen Gütesiegel kann sich Obama getrost als Nahostvermittler verabschieden.“ (Peter Münch , SZ 23.09.11) „Obama hat in seiner Rede nicht mit einem Wort an das Leid des Volkes unter der Besatzung erinnert. Er erwähnte weder die israelischen Siedler noch die Grenze von 1967, die die PLO für Palästina fordert. »Ich hätte die Rede nicht besser schreiben können«, soll Israels nationalistischer Außenminister Avigdor Liebermann kommentiert haben, während die liberale israelische Ha‘aretz Obama auf der Titelseite ihrer Wochenendbeilage mit Kipa zeigt und als »ersten jüdischen Präsidenten« bezeichnet.“ (Susanne Knaul, taz 24.09.11) In »Die Welt« (24.09.11) schreibt Michael Borgstede über Obamas Vor-Vorgänger: „Bei den Treffen mit US-Präsident Clinton muss es hingegen manchmal wüst zugegangen sein: Der Präsident habe Netanjahu bisweilen angebrüllt.“ Für Stefan Kornelius (SZ 23.09.11) macht die Tatsache, dass Sarkozy vor der Vollversammlung ohne Absprache den Nahost-Plan des Quartetts ausplauderte, sichtbar, „dass die USA ihre vermittelnde Rolle im Nahen Osten verloren haben.“ Und für den ehemaligen israelischen Botschafter in Deutschland, Avi Primor, „zeigt sich der Westen in New York […] verkrampft und versteinert. Die Innenpolitik der Vereinigten Staaten blockiert Washington.“ (FR 24.09.11)

Der Einfluss des arabischen Frühlings

Für Avi Primor bekommt das Israel-Palästina-Problem „zusätzliches Gewicht durch den Ausbruch des arabischen Frühlings“. (FR 24.09.11) Für Lutz Herden wäre ein Veto der USA „ein Affront gegen alles, wofür der arabische Frühling steht. Eine deutsche ablehnende Haltung im Übrigen auch. Wer unablässig den Durchbruch zu Volkssouveränität, Demokratie und Menschenrechte in Nahost bejubelt, kann von den Palästinensern nicht ernsthaft erwarten, sie sollten unter der Besatzung aushalten, bis Israel irgendwann einmal bereit ist, konstruktiv zu verhandeln.“ (Freitag, 15.09.11) „Die meist gewaltlosen Volksaufstände [haben] die historische Architektur des Nahen Ostens erschüttert. Noch immer ist das Drama zwischen Israelis und Palästinensern ein Schlüsselkonflikt der Region. Aber er spielt sich vor neuem Publikum ab […] Selbst Saudi Arabien warnt Amerika, ein Veto gegen den palästinensischen Antrag könne zu einem Bruch der historischen Freundschaft führen.“ (Sonja Zekri, SZ 23.09.11)

Wie weiter?

Nicht nur Andreas Zumach sieht die Gefahr neuer Kriege: „Je länger die israelische Regierung die Realisierung einer Zweistaatenlösung in den Vorkriegsgrenzen von 1967 verhindert, desto stärker werden die Kräfte unter den Palästinensern sowie in den arabischen Staaten, die entweder für zwei Staaten in den Grenzen der UNO-Resolution von 1947 plädieren oder für einen gemeinsamen Staat.“ (taz 26.09.11). „Macht- statt Realpolitik wird am Ende von selbstmörderischer Konsequenz sein. Wenn der NATO-Staat Türkei ostentativ die Seiten wechseln sollte, drohen Israel Konflikte, die mit den Mehrfronten-Kriegen von 1967 und 1973 nur noch wenig gemein haben.“ (Lutz Herden, Freitag 15.09.11). „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Spannungen friedlich auflösen, sind nicht groß […] der nächste militärische Konflikt könnte sich an der Frage eines Palästinenserstaates entzünden.“ (Sonja Zekri, SZ 23.09.11) Aber sie sieht auch „viele andere Möglichkeiten“. Avi Primor sieht die aber erst nach „der Wahl eines neuen US-Präsidenten […] Ein wiedergewählter Obama wird […] dann vielleicht mehr Mut auch in der Nahostfrage beweisen können.“ (FR 24.09.11)

Jürgen Nieth