Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?

Kommt der Rechtsstaat unter die Räder?

von Margret Johannsen

Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung will Frieden und sie spricht sich für eine Zweistaatenlösung aus. Daran kann man die Hoffnung knüpfen, dass der Krieg, der seit Ausbruch der Intifada vor fast zwei Jahren mehr als 2.000 Menschen das Leben gekostet hat, irgendwann ein Ende haben wird. Irgendwann, denn Voraussetzung dafür ist sicher die Ablösung der Regierung Sharon. Doch danach sieht es im Moment nicht aus: Betäubt von den Terroranschlägen in ihren Städten sieht gleichfalls eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung keine Alternative zur Gewaltstrategie Ariel Sharons.
Auf den Zusammenhang von Besatzung und Terror macht der israelische Friedensblock Gush Shalom1 mit dem Slogan „Die Besatzung tötet uns alle“ aufmerksam. Doch das Argument überfordert den Bürger, der Angst hat Bus zu fahren, einzukaufen oder Essen zu gehen und um das Leben der eigenen Kinder fürchtet, wenn sie nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kommen. Die Bomben töten nicht nur »wahllos«, wie amnesty international jüngst kritisch vermerkte,2 sie vermitteln auch dem »Mann auf der Straße« die Botschaft, dass es den Palästinensern um die Zerstörung Israels geht.3 Und da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Forderung, für das eigene Überleben den Aufstand der Palästinenser mit allen Mitteln niederzuschlagen.

Mit allen Mitteln? Israel ist keine Militärdiktatur, sondern eine Demokratie mit Gewaltenteilung, politischer Kontrolle des Militärs, einer unabhängigen Justiz und einer freien Presse, die Verstöße gegen rechtsstaatliche Normen kritisieren und auf Abhilfe dringen kann. Nicht nur solche Verstöße, die den Bürger des Staates Israel in seinen Rechten verletzen. Auch die Bevölkerung der besetzten Gebiete kann sich auf diese Normen berufen und hoffen, dass Verstöße bemerkt und geahndet werden. Nur: Dazu braucht sie eine Lobby und eine kritische Öffentlichkeit in Israel.

Doch damit steht es nicht zum Besten: Viele Israelis sind offensichtlich nicht bereit sich für die Rechte von Palästinensern einzusetzen, wenn sich unter ihnen immer wieder welche finden, die als lebende Bomben Tod und Zerstörung nach Israel tragen. Das ist kein Spezifikum Israels und würde mit Sicherheit in anderen Teilen der Welt genauso sein. In Zeiten des Krieges geraten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter die Räder, wenn sich nicht kritische Minderheiten ihrer annehmen. Sie sind der Sand im Getriebe eines kriegführenden Staates, dessen Führer von militärischen Lösungen besessen sind. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Folter für Informationen

Am 6. September 1999 erklärte das Oberste Gerichts Israels die gängige und von der israelischen Justiz bis dahin gebilligte Praxis der Geheimpolizei Shin Beth, palästinensischen Häftlingen mit »physischem Druck« Informationen abzupressen, für illegal.4 Bereits wenige Jahre nach der Besetzung der West Bank und des Gazastreifens waren Berichte über Misshandlungen von Palästinensern in israelischen Gefängnissen an die Öffentlichkeit gelangt. Im Oktober 1987 wurde der Versuch unternommen, durch ein präzise festgelegtes Antrags- und Bewilligungsverfahren klare Grenzen zwischen verbotenen und erlaubten Verhörmethoden zu ziehen. Vergeblich, wie sich zeigen sollte. Seit dem Ausbruch der ersten Intifada im Dezember 1987 stieg die Zahl der bekanntgewordenen Fälle steil an. Nach offiziellen Schätzungen verhörte der Shin Beth während der Intifada rund 30.000 Palästinenser. Tausende von ihnen wurden mit Methoden traktiert, die Folter (im Sinne von Artikel 1) oder andere grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung (gemäß Artikel 16 der Anti-Folter-Konvention) darstellen. Israel begründete diese Praxis mit der besonderen Sicherheitslage des Staates, der sich gegen Gewalt und Terror zur Wehr setzen müsse.

Die jahrelange Kampagne von Menschenrechtsorganisationen und die Empfehlungen des UN-Komitees gegen Folter sowie des UN-Menschenrechtsausschusses, diese Praxis einzustellen, hatten schließlich Erfolg. Als es noch einen Friedensprozess gab, konnten die obersten Richter Israels nicht auf Dauer die Kritik im In- und Ausland, die der jüdischen Diaspora eingeschlossen, an der Verhörpraxis des Geheimdienstes und der damit verbundenen Rechtsbeugung ignorieren.

Allerdings enthält das Urteil von 1999 Schlupflöcher. Die Richter gründeten es nämlich auf die Feststellung, dass die Rechtsgrundlage für die Anwendung der inkriminierten Vernehmungsmethoden fehlte. Nötigenfalls könne auf dem Wege der Gesetzgebung die Anwendung »physischen Drucks« autorisiert werden. Seit dem Urteil streiten sich in Regierung und Parlament die Befürworter und die Gegner eines solchen Gesetzes, das die Anwendung »besonderer Methoden« seitens des Shin Beth legalisieren würde. Es würde allerdings seine Schranken in dem israelischen »Grundgesetz über Menschenwürde und Freiheit«5 finden müssen, mit dem der Einsatz von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung in Verhören nicht vereinbar wäre. Doch wo liegt die Grenze? Wer definiert sie im Einzelfall? Dass Grauzonen die Tendenz haben sich auszudehnen zeigte sich schon vor Ausbruch der zweiten Intifada. Die Vertreter des Staates Israel haben vor den UN-Gremien stets bestritten, dass die angewandten Verhörmethoden die in der Anti-Folter-Konvention verbotenen Tatbestände darstellten. Umso zweifelhafter wäre eine legislativ begründete Legalisierung von Misshandlungen im Zeichen des »Krieges gegen den Terror«.

Seit Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 wächst der Druck des Shin Beth auf Regierung, Parlament und Gericht. Die Geheimpolizei argumentiert, unter der Drohung einer Strafverfolgung könnten die Beamten ihre Aufgabe, Terrorattentate zu verhindern, nicht effizient wahrnehmen. Noch ist der Streit nicht entschieden. Die alte Praxis lebt wieder auf, mit gerichtlicher Billigung. Aber es scheinen Einzelfälle zu sein.6 Schließlich gibt es auch andere Methoden, an Informationen zu gelangen: Die Geheimpolizei macht systematisch von Informanten Gebrauch, die sie zumeist unter den palästinensischen Insassen israelischer Gerichte rekrutiert. Rund 6.000 der Planung oder Ausführung von Gewaltakten Verdächtigter, von Israel pauschal als »verdächtige Terroristen« bezeichnet, wurden im Laufe der zweiten Intifada festgenommen. Es ist zumeist die nackte wirtschaftliche Not, die Palästinenser dazu treibt, aktive Kämpfer zu verraten und damit das Risiko einzugehen, von den militanten Gruppen als Kollaborateure getötet zu werden.7 Die Folgen – ausufernde Lynchjustiz in den Palästinensergebieten – hat die palästinensische Zivilgesellschaft und nicht das israelische Rechtssystem zu tragen.

Deportationen zur Abschreckung von Terror

Heute, nach zwei Jahren Intifada, steht Israels Oberstes Gericht unter enormem Druck von zwei Seiten: Aus den Reihen des Militärs und der Regierung wird Kritik laut, die Richter seien lediglich um den Ruf Israels im Ausland besorgt und gefährdeten das Leben israelischer Bürger. Menschenrechtsorganisationen kritisieren, die Richter wichen vor der militanten öffentlichen Mehrheitsmeinung in Israel zurück, nach der die Verletzung elementarer Menschenrechte der Palästinenser angesichts der Sicherheitslage Israels eine lässliche Sünde ist.

Dass die Rechtsprechung den gesellschaftlichen Konsens nicht schlichtweg ignorieren will, zeigte sich bereits 1993, als das Oberste Gericht die Deportation von 415 Aktivisten der Hamas und des Islamischen Jihad in den (damals von Israel besetzten) Südlibanon für rechtens erklärte. Es hagelte juristische Kritik im In- und Ausland. Doch 91% der jüdischen Bevölkerung Israels billigten damals die Entscheidung, und das Oberste Gericht sah sich offenkundig außerstande, der geballten Front einer entschlossenen Regierung in Verbindung mit einer eindeutigen öffentlichen Meinung zu widerstehen. Aharon Barak, Vorsitzender des Obersten Gerichts, steht dazu. Seiner Ansicht nach muss das Gericht dem sozialen Konsens im Lande Rechnung tragen und sollte in Fällen, wo Menschenrechte und Sicherheitserfordernisse in Konflikt geraten, nach Lösungen suchen, die diesem Konsens nicht zuwiderlaufen.8 Dahinter steht die Auffassung, dass die Gerichte eines demokratischen Staates des Vertrauens seiner Bürger bedürfen. Aber was bedeutet dieser Grundsatz, wenn Krieg herrscht und die Rechte der »Feinde« auf dem Spiel stehen?Für das israelische Verteidigungsestablishment sind die palästinensischen Selbstmordanschläge die größte strategische Bedrohung, der sich Israel gegenwärtig gegenüber sieht. Seit Wochen erörtern Armee, Polizei und Geheimdienste neue Strategien gegen den Terror, der trotz der Wiederbesetzung der palästinensischen Städte weiter geht. Aus den Brainstorming Sessions ging unter anderem der Vorschlag hervor, die Familien von Selbstmordattentätern aus der West Bank in den Gazastreifen zu deportieren. Das Militär bezeichnet kollektive Deportationen, wie auch die Zerstörung von Häusern der Familien von Selbstmordattentätern, als Waffe im Krieg um das Bewusstsein der palästinensischen Gesellschaft. Ziel sei es, die Heroisierung der Täter und die Akzeptanz des Terrors langfristig zu unterminieren und potenzielle Terroristen abzuschrecken.9Nach Bekanntgabe der Deportationspläne hatten sich die Reaktionen begeisterter Israelis förmlich überschlagen. Doch am 19. Juli 2002 durchkreuzte der israelische Generalstaatsanwalt Elyakim Rubinstein die Pläne der Sicherheitskräfte. Er entschied, dass die Deportation der Familienangehörigen von Terroristen nur dann rechtens sei, wenn ihnen direkte Verbindungen zu Terrororganisationen nachgewiesen würden.10

Gemäß der Vierten Genfer Konvention (1949)11 sind Deportationen, als Kollektivstrafe verhängt, verboten. Sie verstoßen gegen den Rechtsgrundsatz, dass niemand für Handlungen anderer bestraft werden darf. Was aber, wenn Deportationen keine Strafe darstellen, sondern zur Abschreckung dienen? Bereits 1996 urteilte der Oberste Gerichtshof, dass Sanktionen gegen die Familien von Terroristen rechtmäßig seien, wenn sie dazu bestimmt seien, Terroristen abzuschrecken. Solange dabei mit „Zurückhaltung und Vernunft“ vorgegangen werde, habe das Gericht aufgrund der in den besetzten Gebieten geltenden Notstandsverordnungen keine Möglichkeit, in das Ermessen des Militärs einzugreifen.12 So wurden die Häuserzerstörungen in den Palästinensergebieten legalisiert. Das Militär glaubt, dass diese Maßnahme die Rekrutierung von Selbstmordattentätern erschwert, die zwar nicht an ihrem Leben, wohl aber an ihren Familien hingen, die unter den Vergeltungsmaßnahmen zu leiden hätten.

Werden die geplanten Deportationen der gleichen Logik folgen? Am 3. September 2002 befasste sich das Oberste Gericht mit der Frage, ob die Deportation der Familienangehörigen von verdächtigten Terroristen rechtens sei. Unter anderem war zu klären, ob die Armee überhaupt berechtigt sei, sich auf die Notstandsverordnungen zu berufen, um Deportationen anzuordnen. Schließlich sind die Besatzer gemäß den Oslo-Verträgen aus den palästinensischen Städten und Dörfern abgezogen und haben damit die sogenannte »kriegerische Besetzung« von 1967 beendet. Würde das Gericht entscheiden, dass die Wiederbesetzung dieser Gebiete eine erneute »kriegerische Besetzung« darstellt und damit eine rechtliche Grundlage für die Anwendung der Notstandsverordnungen gegeben ist, so bliebe immer noch die Frage zu beantworten, ob die geplanten Maßnahmen »vernünftig und verhältnismäßig« sind. Das Militär versuchte darum den doppelten Nachweis zu führen, dass erstens die Familienangehörigen Helfershelfer der mutmaßlichen Täter gewesen seien und dass zweitens die Deportationen auf potenzielle Terroristen abschreckend wirkten.13 Mit Erfolg: Die Armee erhielt grünes Licht für zwei der drei vorerst geplanten Deportationen.14 Aber man fand ein anderes Wort für die Sache: Den Betroffenen wurde ein „Wohnort zugewiesen“ – was die Vierte Genfer Konvention nicht verbietet.

Doch auch nach dieser Gerichtsentscheidung wird es kaum zu Massendeportationen kommen. Zur Umsiedlung oder Vertreibung soll die Maßnahme ohnehin nicht dienen. Und wenn sich herausstellen sollte, dass der Gazastreifen Deportierte wie Helden empfängt, wird das Militär von sich aus darauf verzichten. Nicht das Völkerrecht, sondern Sicherheitsgründe dürften hierbei ausschlaggebend sein.

Extralegale Hinrichtungen

„Jedes Opfer ist eine Tragödie“, erklärte Ariel Sharon in der Sendung »Achtung Friedman«, die der Hessische Rundfunk in der ARD am 24. Juli 2002 ausstrahlte. Gutes oder schlechtes Timing? Am Vortag hatte eine 1.000-Kilo-Bombe ein dreistöckiges Wohnhaus in Gaza-Stadt in Schutt und Asche gelegt und weitere Häuser in der Umgebung zerstört.15 Der Angriff galt Salah Shehada, dem Gründer und Kommandanten des militärischen Hamas-Flügels Azal-Din al-Kassam. Weitere 16 Menschen starben, darunter elf Kinder.

Das Ausland zeigte sich schockiert. Weltweit wurde die Attacke, vorgetragen mit einem F-16-Kampfflugzeug gegen ein dichtbesiedeltes Wohnviertel, als inakzeptabel und schädlich bezeichnet. Arabische Stimmen sprachen zudem von einem gezielten Sabotageakt gegen eine bevorstehende Selbstverpflichtung der größten palästinensischen Milizen, die Angriffe gegen israelische Zivilisten einzustellen, um den Rückzug der israelischen Armee aus den palästinensischen Städten zu ermöglichen.

Der israelische Premier feierte die Aktion in einem ersten Statement als einen der größten Erfolge Israels im Kampf gegen den palästinensischen Terror. Später erklärte er, er hätte den Befehl zum Angriff nicht gegeben, wenn er gewusst hätte, dass sich in Shehadas Nähe Zivilisten aufhielten. Die interne Debatte in Israel konzentrierte sich auf die Fehlleistungen des Nachrichten- und des Geheimdienstes, die den Entscheidungsträgern offenbar falsche Informationen über die Lage vor Ort vorgelegt hatten.

Es waren die »Kollateralschäden«, die im In- und Ausland die Wellen hochschlagen ließen. Gewiss, schon vorher waren immer wieder auch Zivilisten gestorben, wenn israelische Kommandos führende Köpfe militanter Oppositionsgruppen exekutierten. 78 so genannte präventive Liquidierungen zählt die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem seit Ausbruch der zweiten Intifada; dabei starben 30 Unbeteiligte.16 Die Verantwortlichen versicherten immer, dass sie stets größte Sorgfalt walten ließen, damit Unbeteiligte verschont blieben. Am 23. Juli aber waren militärische Gesichtspunkte anscheinend wichtiger. Geht es Sharon, dem »Krieger« (so der Titel seiner Autobiographie), nur noch um den Sieg?

Kaum jemand, weder in Israel noch im Ausland, äußerte sich kritisch über das eigentliche Ziel, die Hinrichtung eines Terroristen ohne Gerichtsverfahren. Die Regierung sagt, es gehe um Selbstverteidigung, Menschenrechtler nennen die Aktionen der israelischen Todeskommandos Mord.

Vor dem Obersten Gericht ist eine Klage gegen die Politik der Liquidierungen anhängig. Doch Zweifel sind angebracht, ob die Richter dieser Praxis ein Ende machen.

Menschenrechtler im Kreuzfeuer

Wieviele tote Unbeteiligte bei Militäraktionen in Kauf zu nehmen sind wenn es darum geht, Terror zu verhindern, kann der Oberkommandierende der Luftwaffe, Generalmajor Dan Halutz, nicht sagen. Doch dass die Liquidierung des Hamas-Führers die 16 zivilen Opfer der 1.000-Kilo-Bombeauf Gazastadt rechtfertige, steht für ihn außer Frage.17 In seinem ersten Interview nach der umstrittenen Bombardierung vom 23. Juli 2002 bezeichnete er den Entscheidungsprozess als korrekt, ausgewogen und umsichtig. Ein Problem habe es allerdings mit der Information gegeben.

Dieses Interview veranlasste Gush Shalom dazu, eine umgehende Untersuchung des Vorgangs und der Rolle des Beteiligten – des Oberkommandierenden der Luftwaffe, des Kommandeurs der Fliegerstaffel und des Piloten – zu fordern. Der Befehl, eine 1.000-Kilo-Bombe auf ein Haus in einer dichtbesiedelten Wohngegend zu werfen, sei offenkundig illegal und die ausführenden Offiziere seien verpflichtet gewesen, ihn zu verweigern.18 Die Rechtfertigung der Operation durch den Oberkommandierenden der Luftwaffe, so die Friedensaktivisten, lasse künftig ähnliche Operationen erwarten, es sei also Gefahr im Verzug.

Gush Shalom setzte mit der Forderung einer sofortigen Untersuchung seine offensive Kritik an der israelischen Kriegführung fort. Der zentrale Vorwurf der Menschenrechtsorganisation lautet: Die israelischen Streitkräfte begehen im Krieg gegen die Intifada Kriegsverbrechen. Und Gush Shalom ging weiter: Der Friedensblock stellte die Fähigkeit des Staates in Frage, aus eigener Kraft dafür zu sorgen, dass die Streitkräfte in ihrem Krieg gegen die Palästinenser die Normen des Kriegsvölkerrechts einhalten. Nachdem eine zu Beginn des Jahres von Gush Shalom organisierte Konferenz in Tel Aviv über Kriegsverbrechen von den Massenmedien mehr oder weniger totgeschwiegen worden war, wandten sich die Menschenrechtsaktivisten direkt an die Soldaten und Offiziere. Sie verteilten an die Soldaten Materialien über die Verbotstatbestände gemäß den Genfer Konventionen – Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Erschießung unbewaffneter Zivilisten, Folter, Verweigerung medizinischer Behandlung, Töten Verwundeter, Aushungern, Deportationen – und riefen die Soldaten dazu auf, die Ausführung offenkundig widerrechtlicher Befehle zu verweigern sowie Kriegsverbrechen, deren Zeuge sie wurden, anzuzeigen, um sich davor zu schützen, im Ausland bzw. vor einem internationalen Gericht wegen Kriegsverbrechen angeklagt zu werden. 15 Kommandeure erhielten zudem Briefe mit der Warnung, dass die von ihnen zu verantwortenden Operationen zu einer Anklage vor einem israelischen oder internationalen Gericht führen können. Die Organisation fügte hinzu: Sie werde das von ihr gesammelte Belastungsmaterial den Gerichten – den israelischen oder notfalls auch dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag – zur Verfügung stellen.19

Die Aktion zeigte Wirkung und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Bei seinem Besuch einer Luftwaffenbasis am 13. August 2002 erfuhr der Ministerpräsident, die Offiziere seien »besorgt«; sie fürchteten, künftig nicht mehr sorglos ins Ausland reisen zu können, weil sie dort – ähnlich wie der Ministerpräsident (der in Belgien mit einem Prozess wegen Kriegsverbrechen, begangen 1982 in Libanon, zu rechnen hat) – mit Strafverfolgung rechnen müssten. Gush Shalom-Aktivisten wurden mit Beschimpfungen und Drohungen überschüttet und als „Verräter“, „Informanten“, „Capos“, „Judenrat“ und dergleichen mehr bezeichnet. Der Ministerpräsident empörte sich darüber, dass „diese Leute unsere Soldaten dem Feind ausliefern“ wollten, und forderte die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Gush Shalom. Justizminister Melir Shitret sprach von „Fünfter Kolonne“ und „Hochverrat“; sollte der Generalstaatsanwalt in den israelischen Gesetzen keine rechtliche Basis für ein Strafverfahren finden, so müsse ein Gesetz her, das dem Treiben der Friedensaktivisten ein Ende mache.

Selbst die liberale Presse in Israel tut sich schwer mit diesem Fall.20 In ihrem Editorial vom 6. August 2002 wertete die Tageszeitung Ha’aretz die Ankündigung Gush Shaloms, nötigenfalls mit dem Internationalen Gerichtshof zusammen zu arbeiten, als „Misstrauensvotum gegenüber den Institutionen und der öffentlichen Meinung Israels“. Ha’aretz Korrespondent Gideon Levy, einer der couragiertesten Kritiker der Besatzung und des Krieges gegen die Palästinenser, machte dagegen geltend, dass das im Ha’aretz-Editorial inkriminierte Misstrauen gegenüber den Institutionen des Staates nicht grundlos sei. Er stellte fest, das die Soldaten in den besetzten Gebieten inzwischen vermummt operierten, dass die Streitkräfte – anders als während der ersten Intifada – Todesfälle kaum mehr untersuchten und dass das Oberste Gericht in Fragen der Sicherheit mehr oder weniger verstummt sei. Die Obersten Richter hätten es z.B. bisher abgelehnt, sich mit der Praxis der sogenannten präventiven Liquidierungen zu befassen, mit der Begründung, die Regeln des Kriegsrechts seien hierauf nicht anwendbar. In einer Situation, in der die Legislative, das Oberste Gericht, der Generalstaatsanwalt und die herrschende öffentliche Meinung die Augen davor verschließen, was Israel anderen und sich selbst in diesem Krieg zufüge, sei es, so Levy, im Interesse eines besseren Israel legitim, als letztes Mittel Abhilfe von Außen zu suchen.Gideon Levy ist einer derjenigen, die den Sand im Getriebe bilden, ohne den der israelische Rechtsstaat im Krieg unter die Räder kommt. Am 11. August 2002 war er unterwegs in der West Bank, um die Umstände des Todes eines palästinensischen Bauern zu recherchieren, dem ein Koordinationsfehler der Armee zum Verhängnis geworden waren. In Tulkarem feuerte ein Soldat der dort stationierten Fallschirmjägerbrigade fünf oder sechs Schüsse auf Levys Taxi ab.21 Wieder, so die Armee, ein Koordinationsfehler.. Eine Kugel traf den Motor, eine andere die Wagenseite, zwei oder drei Kugeln die Windschutzscheibe. Die Insassen – der Journalist, ein Photograph, ein Repräsentant der Organisation »Ärzte für Menschenrechte« und der palästinensische Fahrer – hatten Glück. Die Windschutzscheibe war aus Panzerglas.

Anmerkungen

1) Zum Profil von Gush Shalom vgl. Maren Qualmann: Die israelische Friedensbewegung und die Al Aqsa-Intifada, in: Bruno Schoch et al.: Friedensgutachten 2002, Münster 2002, S. 226-234.

2) Vgl. amnesty international, Israel and the Occupied Territories and the Palestinian Authority. Without distinction – attacks on civilians by Palestinian armed groups, July 2002: http:// web.amnesty.org/ai.nsf/Index/MDE020032002.

3) Vgl. Israel Gilead: The Dilemma of Israel’s High Court of Justice: The Battle for Human Rights in Times of War, in: Jurist, http://jurist.law.pitt.edu/world/Israelhcj.php.

4) Vgl. Avishai Ehrlich/Margret Johannsen: Folter im Dienste derSicherheit?, in: Jana Hasse et al. (Hg.): Menschenrechte, Baden-Baden 2002, S. 332-359.

5) Israel besitzt keine Verfassung. Statt dessen gibt es eine Reihe so genannter „Grundgesetze“, in denen Grundsätze von Verfassungsrang niedergelegt sind.

6) Vgl. Amos Harel, Shin Bet tested by legal restraints and a growing caseload, in: Ha’aretz, 25.7.2002.

7) Vgl. Palästinenserin auf offener Straße exekutiert, Neue Zürcher Zeitung, 28.8.2002.

8) Vgl. Ze’ev Segal: Stop, High Court ahead, Ha’aretz, 26.8.2002.

9) Vgl. Amos Harel, Analysis / No easy answer to stopping the attacks, in: Ha’aretz, 21.7.2002.

10) Vgl. Moshe Reinfeld/Baruch Kra/Amos Harel, Cmte. Begins open debate on expelling militants’ families, in: Ha’aretz, 4.8.2002.

11) Die Genfer Konventionen wurden von Israel zwar 1951 ohne Vorbehalt unterzeichnet, nicht aber ausdrücklich in innerstaatliches Recht übernommen. Ihre humanitären Bestimmungen sind vor israelischen Gerichten darum nicht justiziabel. Die israelische Regierung bestreitet ihre Anwendbarkeit auf die besetzten Gebiete, weil diese genau genommen von Israel nicht besetzt seien, sondern verwaltet würden. Die herrschende Meinung im Völkerrecht teilt diese Auffassung nicht. Vgl. Ludwig Watzal: Der Nahostkonflikt als Problem des Völkerrechts, in: Jana Hasse et al. (Hg.): Menschenrechte, Baden-Baden 2002, S. 179-196.

12) Vgl. Ze’ev Segal, Analysis / The legality of demolition, in: Ha’aretz, 21.7.2002.

13) Vgl. Moshe Reinfeld: High Court hears sides in deportation; told deterrents work, Ha’aretz 27.8.2002.

14) Vgl. Moshe Reinfeld/Gideon Alon: Court okays ‚relocating‘ two to Gaza, Ha’aretz 4.9.2002.

15) Vgl. Amos Harel, Analysis / From a ‘pinpoint’ operation to massive caualties, in: Ha’aretz, 24.7.2002.

16) Vgl. die Statistik der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem: www.btselem.org

17) Vgl. Vered Levy-Barzalai: IAF chief strongly defends Shehadeh bombing mission, in: Ha’aretz, 21.8.2002.

18) Vgl. Moshe Reinfeld: Gush Shalom demands probe of Shehadeh bombing, in: Ha’aretz, 22.8.2002.

19) Vgl. Israels Friedensbewegung ist wieder da, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.8.2002. Einzelheiten über die Aktion und die Reaktionen in den Medien und in der Politik sind den Informationen entnommen, die Gush Shalom über seinen E-mail-Verteiler publiziert.

20) Vgl. Amos Harel: Peace group warns IDF officers: We have evidence of war crimes, in: Ha’aretz 4.8.2002; Amos Harel/Gideon Alon: Sharon tells AG to probe Gush Shalom over Hague threats, in: Ha’aretz 4.8.2002; The blindness of political purity (Editorial), in: Ha’aretz, 6.8.2002; Gideon Levy: The last recourse, in: Ha’aretz, 11.8.2002.

21) Vgl. Gideon Levy, Nothing happened, in: Ha’aretz, 17.8.2002.

Dr. Margret Johannsen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Die Zivilgesellschaft in der Bewährung

Die Zivilgesellschaft in der Bewährung

von Angelika Timm

Das in deutschen Medien verbreitete Israel-Bild wird häufig recht einseitig durch den Nahostkonflikt und die zugespitzte israelisch-palästinensische Konfrontation ausgefüllt. Unterhalb und neben dieser zentralen Konfliktebene existieren jedoch mehrere Widerspruchsachsen, die die aktuelle Befindlichkeit der israelischen Gesellschaft mitbestimmen und sie auch künftig prägen dürften. Es handelt sich dabei um Gegensätze auf national-kultureller bzw. sozio-ethnischer Ebene, um divergierende Haltungen zum Verhältnis von Staat und Religion und um soziale Disparitäten – innergesellschaftliche Antagonismen, die seit Herbst 2000 zwar weitgehend durch die Al Aqsa-Intifada überlagert werden, jedoch keinesfalls verschwunden sind. Ihr Austrag erfolgt nicht nur auf parteipolitischer, sondern insbesondere auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene.1
Bereits vor der Gründung des Staates Israel begannen sich im »Jischuv«2 zivilgesellschaftliche Strukturen auszuformen. Sowohl in der Periode des britischen Mandats als auch während der ersten zwei Jahrzehnte nationalstaatlicher Existenz waren gemeinnützige Vereine und Organisationen jedoch weitgehend an politische Parteien gebunden; bis Ende der Sechzigerjahre stellten sie kein nennenswertes Gegengewicht zur zentralen Rolle des Staates dar.

Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen

Erst nach dem Sechstagekrieg von 1967 und nach dem Debakel des Oktoberkrieges 1973 begann sich eine neue politische Kultur herauszubilden. Es entstanden Protestbewegungen wie die Organisation der orientalischen Juden (Black Panthers), die Siedlerbewegung Gush Emunim oder die Friedensorganisation Peace now. In den Siebziger- und Achtzigerjahren verstärkte sich die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft. Insbesondere die Wahlniederlage der Partei der Arbeit 1977 und der Libanonkrieg 1982 trugen zur Gründung von zivilgesellschaftlichen Organisationen bei, die sich nicht dem Staat bzw. politischen Parteien verpflichtet fühlten, sondern sich bewusst der kollektivistischen Staatsideologie entgegenstellten.

Das politische Establishment zeigte sich zunächst nicht bereit, die neue Tendenz zu akzeptieren. Die Behörden verweigerten den neugegründeten Organisationen die Anerkennung und suchten ihre Beteiligung am politischen Kräftespiel zu minimieren. Yael Yishai spricht für diese Phase davon, dass „der Staat seine Macht gegenüber der Zivilgesellschaft durchsetzte“.3 Erst 1980 wurde ein Gesetz über die Registrierung öffentlicher Vereine und gemeinnütziger Organisationen (»Law of Amutot«) verabschiedet.4 Es befreite eingetragene Vereine von der Steuerpflicht, ermöglichte es ihnen, Vermögen anzuhäufen und gab ihnen das Recht, als öffentliche Körperschaft vor Gericht aufzutreten.

Liberalisierung der Wirtschaft, demographischer Wandel und Veränderungen im politischen System führten in der Folgezeit zur Herausbildung neuer Trends im gesellschaftlichen Leben Israels. Fragen kollektiver und individueller Identität rückten in das Zentrum öffentlicher Debatten und beeinflussten zunehmend den politischen Diskurs. Im Zusammenspiel mit internationalen und regionalen Einflussfaktoren haben sie den Charakter der israelischen Zivilgesellschaft verändert. In wenigen Jahren vervielfachte sich die Zahl neu gegründeter NGO’s: Während 1982 lediglich 3.000 gemeinnützige Vereinigungen (hebräisch: Amutot) existierten, waren im Jahr 2000 bereits über 30.000 Verbände registriert. Ihre gesellschaftliche und politische Akzeptanz erhöhte sich; neue Aktionsfelder wurden erschlossen bzw. neue Strategien entwickelt; die Einflussmöglichkeit auf politische Entscheidungen nahm zu.

Charakter, Aufgaben und Ziele

Der Evolution zivilgesellschaftlicher Strukturen in Israel lagen und liegen miteinander kooperierende, z. T. jedoch auch konkurrierende oder einander ausschließende Ursachen, Interessen, Ziellinien und Aufgabenfelder zugrunde:

  • Als bürgernahe Diversifizierung des Systems der parlamentarischen Demokratie bzw. der Herrschaft und Konkurrenz politischer Parteien stellen die zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Bekräftigung, Ergänzung und Ausweitung der Demokratie, nicht selten jedoch auch ein Korrektiv undemokratischer Traditionen im politischen System bzw. aktueller Verstöße gegen die Demokratie dar, u. a. in Form von Bürgerrechtsbewegungen.
  • Die Zivilgesellschaft ist gleichermaßen Ausdruck und Bestandteil der multiethnischen und multikulturellen Verfasstheit der israelischen Gesellschaft; in ihr und durch sie werden in hohem Maße Interessen- und Identitätswidersprüche zwischen den divergierenden Bevölkerungssegmenten ausgetragen bzw. Gruppeninteressen wahrgenommen.
  • In ihrem Wesen ist die Zivilgesellschaft ein Ergebnis des sich in der israelischen Gesellschaft vollziehenden Wertewandels und gleichzeitig der Suche nach individueller und nationaler Identität angesichts weltweiter Globalisierungsprozesse wie auch regionaler und innerstaatlicher Veränderungen. Im Selbstverständnis und im Wirken vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen verbinden sich exogene Einflussfaktoren mit endogenen Herausforderungen bzw. werden Brücken zwischen den innergesellschaftlichen Gegebenheiten und weltweiten Gesellschaftsumbrüchen geschlagen.
  • Als Strukturelemente einer modernen Bürgergesellschaft nehmen die zivilgesellschaftlichen Organisationen Aufgaben und Pflichten wahr, denen die staatlichen Einrichtungen nicht oder ungenügend gerecht werden. In ihnen verbinden sich – mit zum Teil komplizierten Ausprägungen und Interaktionen – generelle oder partikulare gesellschaftliche Anliegen mit individuellen Interessenlagen der jeweiligen Akteure (Selbstverwirklichung, Verfügung über Spendenmittel, Schaffung von Arbeitsplätzen u.a.).

Aktionsfelder und Wirkungsebenen

Das Spektrum der gemeinnützigen Organisationen, Vereinen und Gesellschaften spiegelt zunächst und vor allem die Verwandlung der israelischen Gesellschaft in ein Mosaik unterschiedlicher Interessen und Identitäten wider. Es folgt weitgehend den multiethnischen, religiös-kulturellen, weltanschaulich-politischen und sozio-ökonomischen Widerspruchsachsen des Landes bzw. den entsprechenden Herausforderungen an die israelische Gegenwart und Zukunft.

Die Akzeptanz ethnischer Diversität wurde während der 90er Jahre Teil der political correctness; sie beförderte neben bereits existierenden landsmannschaftlichen Vereinigungen das Entstehen von Organisationen, die jeweils die kulturellen, sozialen und politischen Interessen einer spezifischen Bevölkerungsgruppe artikulieren. Insbesondere die Misrachim, die orientalischen Juden, die sich seit ihrer Einwanderung durch die aus Europa und Amerika stammenden Aschkenasim diskriminiert fühlen und denen in der Mehrzahl auch in der zweiten Generation der Aufstieg ins Establishment nicht gelang, gründeten Verbände, um ihre Interessen aktiv zu vertreten. Von Bedeutung wurden insbesondere die durch die sephardisch-orthodoxe Shas-Partei ins Leben gerufenen gemeinnützigen Vereine, die vor allem im Bildungsbereich tätig sind und sich der Vermittlung religiöser Werte an die Jugend sowie der Unterstützung sozial schwacher bzw. kinderreicher orientalisch-jüdischer Familien widmen. Jüngeren Datums sind Vereinigungen der »neuen Misrachim«, die sich bewusst als Gegenpol zu den religiös orientierten bzw. traditionsgebundenen orientalisch-jüdischen Vereinen konstituiert haben (z.B. Keschet Demokratit Misrachit – Demokratische Regenbogenfraktion).

Das Bild der israelischen Zivilgesellschaft wird gleichermaßen durch zahlreiche Amutot russischer Neueinwanderer geprägt. Es entstanden Klubs, Bildungseinrichtungen, Jugend- und Veteranenvereine, Studenten- und Berufsverbände. Die »russischen« Organisationen, die zunächst das Ziel verfolgten, den Neuankömmlingen Wissen über den Staat Israel, über ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger sowie über jüdische Kultur, Religion und Geschichte zu offerieren, verwandelten sich bald in Interessenvertretungen der indessen ca. eine Million umfassenden russischsprachigen Bevölkerungsgruppe. Neben den drei Einwandererparteien Jisrael ba-Alijah, Mifleget ha-Bechirah ha-Demokratit und Jisrael Beitenu werden sie von den Immigranten genutzt, um sich am politischen und gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Allein die Dachorganisation Zionistisches Forum5 umfasst 59 Vereinigungen von Neueinwanderern.

Ein zweites bedeutendes Feld öffentlicher Aktivitäten ist mit dem Verhältnis von Staat und Religion bzw. mit der Debatte über den künftigen Charakter Israels verbunden. Der »Kampf um den Staat« wird zwar vor allem auf der Ebene der politischen Parteien und staatlichen Institutionen geführt, blieb jedoch nicht darauf beschränkt. So entstand in den 90er Jahren eine kaum noch überschaubare Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich mit jüdischer Identität, Menschen- und Bürgerrechten sowie mit der religiösen bzw. säkularen Ausformung der israelischen Gesellschaft befassen. Viele der Vereinigungen, häufig den religiösen Parteien nahestehend und auf kommunaler Ebene wirkend, stehen für die Bewahrung des ultra-orthodoxen Lebensstils. Aber auch religiöse Frauengruppen, Zentren des Reform- und konservativen Judentums sowie Einrichtungen und Vereine, die eine Minderung von Spannungen zwischen religiösen und säkularen Juden anstreben, wurden aktiv.

Die weltanschauliche Gegenseite wird durch Dutzende von Organisationen der »säkularen Orthodoxie« repräsentiert. Sie propagieren die Vision Israels als eines aufgeklärten westlichen Staates, wenden sich gegen religiösen Zwang und fordern die Trennung von Staat und Religion. Ein neues Phänomen ist das Wirken von Organisationen, die sich den pluralistischen, humanistischen und demokratischen Werten des Judentums verschrieben haben und jüdische Identität stärken wollen (allein die Organisation Panim6 verweist auf 79 unter ihrem Dach mit diesem Ziel wirkende Vereinigungen).Eine dritte zivilgesellschaftliche Strukturebene entspringt dem Streit um das künftige Schicksal der besetzten palästinensischen Territorien. Die betreffenden Kontroversen verstärkten sich während der ersten Intifada und spitzten sich wiederholt in Zusammenhang mit dem Oslo-Prozess zu. Neu für die Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts ist, dass die Zahl außerparlamentarischer Organisationen auf beiden Seiten des politischen Spektrums schnell anwuchs, wobei insbesondere Siedlerorganisationen (z. B. Women in Green7) ob ihrer Militanz auf sich aufmerksam machten. Besonders aktiv und wenig kompromissbereit zeigte sich seit Beginn des Oslo-Prozesses Moezet JESCHA, der Rat der Siedler von Judäa, Samaria und Gaza.Das Lager der Friedensaktivisten beeinflusste im selben Zeitraum die politische Landschaft Israels dagegen in geringerem Maße als noch ein Jahrzehnt zuvor. Die Verhandlungen über beidseitig getragene Regelungen lagen in staatlicher Hand und schienen – so die Sicht Mitte der 90er Jahre – auf einem guten Weg. Dennoch entstanden neben den bereits existierenden Gruppen neue Organisationen, die sich dem israelisch-palästinensischen Frieden verschrieben hatten, den Dialog mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten suchten bzw. innerhalb Israels für einen Friedensschluss warben. Wie die Initiativgruppe Four Mothers, die den Abzug der israelischen Armee aus Südlibanon forderte, oder das durch Jizchak Frankenthal initiierte Forum der Berieved Parents8 (Eltern, die ihre Kinder verloren haben) zeigten, erwuchs gesellschaftliches Friedensengagement nicht selten aus tragischer individueller oder familiärer Erfahrung. Impulse für einen Friedenskonsens kamen in den 90er Jahren auch von neuetablierten Forschungseinrichtungen und Think Tanks wie dem Peres-Friedenszentrum, dem Rabin-Center oder der Stiftung für wirtschaftliche Zusammenarbeit ECF.Während der ersten Monate der Al Aqsa-Intifada waren es vor allem die Organisationen der »radikalen« Linken, wie Gush Schalom9, Coalition of Women for a Just Peace10 und New Profile11, die ernsthafte Friedensschritte, u. a. die Rücknahme der Siedler, forderten. Seit Frühjahr 2001 tritt auch die größte israelische Friedensorganisation, Peace now12, mit verstärkten Aktivitäten wieder an die Öffentlichkeit. Sie brandmarkt vor allem die Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten als Haupthindernis für einen Friedensschluss mit den Palästinensern und organisiert Protestdemonstrationen gegen den militanten Gewalteinsatz der Regierung in der West Bank und im Gazastreifen. Im Mai 2002, während eines Höhepunkts der Konfrontation zwischen israelischer Armee und Palästinensern – vermochte es die Organisation im Zusammenwirken mit anderen Friedensvereinen 70-80.000 humanitätsverpflichtete und friedensbewegte Israelis auf die Straße bzw. auf den Rabin-Platz in Tel Aviv zu bringen.

Die vierte Ebene zivilgesellschaftlicher Aktivitäten – die Auseinandersetzung über soziale Fragen, Demokratienormen, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung von Mann und Frau – rückte seit Beginn des Friedensprozesses und der erneuten Intifada zeitweilig in den Hintergrund. Dennoch ist seit den Neunzigerjahren eine deutliche Zunahme von Aktivitäten auf diesen Gebieten zu verzeichnen. Bedeutung erlangten u. a. Organisationen, die sich generell oder problembezogen sozialer Fragestellungen annehmen, diese in die Öffentlichkeit bringen (ADVA Center13) bzw. den Betroffenen umfassende Rechtsberatung bzw. konkrete Unterstützung geben (z. B. Workers’ Hotline14 oder Yedid15). Ähnlich agieren zivilgesellschaftliche Organisationen, die durch juristische Vorstöße auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen suchen und den Stellenwert rechtlicher Normen im öffentlichen Bewusstsein zu erhöhen trachten (z. B. Movement for Quality Government in Israel16). Nicht zuletzt internationale Trends und Einflüsse führten dazu, dass NGO’s, die sich für die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten einsetzen und als »watch dogs« gegenüber der Regierung fungieren (ACRI17, Be-Zelem18, Rabbis for Human Rights19 u.a.), verstärkt in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

In Israel existieren heute mehr als 90 Frauenorganisationen. Als Vereinigung unabhängiger Frauengruppen und Bürgerinitiativen wirkt das 1984 gegründete Frauennetzwerk (Schdulat ha-Naschim)20. Eine große Zahl der Frauenorganisationen richtet die Hauptaktivitäten auf Probleme, die mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt und der Situation in den besetzten Gebieten in Zusammenhang stehen. Hierzu zählen Friedensgruppen wie Frauen in Schwarz oder Bat Schalom (Tochter des Friedens)21, aber auch die Siedlerorganisation Naschim be-Jarok (Frauen in Grün). Für das Recht religiöser Frauen, gleichberechtigt mit den Männern an der Klagemauer beten zu dürfen, setzt sich die Gruppe Frauen an der Klagemauer22 ein. Darüber hinaus existieren mehrere feministische Menschenrechtsorganisationen sowie eine Anzahl von Schwulen- und Lesbenorganisationen.In Europa seit langem präsente Umweltschutzorganisationen und Ökologiegruppen spielen in Israel dagegen noch eine marginale Rolle. Vereinigungen, wie Israel Union for Environmental Defense (Adam, Teva we-Din23), Green Action24 und das Israelische Wirtschaftsforum für Umweltschutz25, initiierten in den neunziger Jahren zwar wiederholte Kampagnen zum Schutz der Umwelt und konnten dabei auch begrenzte Erfolge erringen; ökologische Aktionen werden von der israelischen Öffentlichkeit jedoch nach wie vor zumeist als »Luxus« betrachtet, den sich das Land erst erlauben könne, wenn ein dauerhafter Frieden in der Region hergestellt sei.

Die palästinensisch-arabische Zivilgesellschaft

Zu den Besonderheiten Israels zählt, dass sich parallel zueinander zwei Zivilgesellschaften (eine jüdische und eine arabische) herausgebildet haben.26 Wenngleich beide – zumindest hinsichtlich ihres jeweiligen Einzugsbereichs, ihrer Programmatik und ihrer inneren Struktur – noch weitgehend getrennt voneinander wirken, entwickelten sich in den 90er Jahren doch erste Formen der Zusammenarbeit. Der Erfolg bzw. Misserfolg gemeinsamer jüdisch-arabischer Vereinigungen war und ist in hohem Maße an die Höhen und Tiefen des Friedensprozesses gebunden. Ansätze für binationale Organisationen verbreiterten sich im Gefolge der Vereinbarungen von Oslo (als Beispiel sei neben den Aktivitäten von Neveh Shalom/Wahat as-Salam27 und Givat Haviva28 die Tätigkeit von Sikkuy29 genannt); seit dem vorläufigen Scheitern der Friedenssuche finden sie auf beiden Seiten wieder geringere Resonanz bzw. abwartende Skepsis. Während sich die arabische Bevölkerung Israels zunehmend selbständig für nationale, politische, kulturelle und soziale Rechte engagiert, wird in der jüdischen Gesellschaft nicht selten die Auffassung vertreten, vor einer jüdisch-arabischen Verständigung müsse zunächst »schlom ha-bajit« (»Frieden im eigenen Haus«) hergestellt werden.

Die israelischen Staatsbürger palästinensischer Nationalität – nahezu 20% der Gesamtbevölkerung – haben im letzten Jahrzehnt einen deutlichen Politisierungsprozess durchlaufen. Ihr gewachsenes Selbstbewusstsein – resultierend aus demographischen Veränderungen, dem Generationswechsel und insbesondere dem internationalen Prestigezuwachs für den palästinensischen Faktor – widerspiegelt sich auch in der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen. So erhöhte sich die Zahl öffentlicher Vereine und Gesellschaften mit ausschließlich arabischen Mitgliedern zwischen 1990 und 1999 von 180 auf 656. Heute ist innerhalb Israels von ca. 1.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen im arabisch-palästinensischen Sektor auszugehen, die sich als kommunale Hilfsvereine vorwiegend mit Fragen der Gesundheitsfürsorge, Kultur, Sport, Bildung und Jugendarbeit beschäftigen, oder als politische und juristische Interessenvertretung der arabischen Minderheit gegenüber dem israelischen Establishment (Adalah30; Arab Association for Human Rights31 u. a .) wirken. Beide Ziellinien sind nicht selten miteinander verbunden.

Unübersehbar hat innerhalb der palästinensischen Bevölkerung Israels auch die islamische Bewegung an Einfluss gewonnen; sie initiiert den Bau von Moscheen, Bildungs- und Rehabilitationszentren, Kindertagesstätten oder Sporteinrichtungen und mobilisiert auf diese Weise ihre Mitglieder und Sympathisanten für die Teilnahme an freiwilligen Aktivitäten.

Die Zivilgesellschaft – eine Herausforderung an die israelische Demokratie

Israel stellt kein typisches Beispiel für die Formierung demokratischer Existenzbedingungen und zivilgesellschaftlicher Strukturen dar. Die Spezifik der Staatsgründung, die permanente Einflussnahme exogener Faktoren auf die Bevölkerungsentwicklung, der andauernde Kriegszustand mit den arabischen Nachbarn, die Herrschaft über eine große Gruppe nichtjüdischer Staatsbürger bzw. Bewohner besetzter Territorien, jedoch auch die Politik der permanenten Zugeständnisse gegenüber religiösen Parteien und Interessengruppen u. a. innergesellschaftliche Hürden verhinderten die strikte Umsetzung des liberalen Demokratiemodells. Sie schufen zugleich den NGO’s im Lande ein spezifisches Wirkungsfeld.

Währen der 90er Jahre wurde die Tätigkeit der gemeinnützigen Vereinigungen zum festen Bestandteil israelischer Innenpolitik – auch wenn Uri Ben Eliezer einschätzte, dass sich Israel zwar zu einer Gesellschaft von Bürgern (»chevrah schel esrachim«), noch nicht jedoch zu einer Zivilgesellschaft (»chevrah esrachit«) entwickelt habe.32 Im Mittelpunkt aller zivilgesellschaftlichen Aktivitäten stehe bisher der Bürger mit seinen Interessen, nicht die Veränderung des Charakters der Gesellschaft. Diese Wertung wird durch die Zielstellung der meisten auf die Interessen des Individuums bzw. einzelner Gruppen ausgerichteten Vereinigungen belegt. Zugleich lässt sich nicht übersehen, dass daneben jüdische und arabische Amutot entstanden sind, die den Staat als Ganzes zu reformieren trachten und qualitativ neue Relationen zwischen Staat, Parteien und zivilgesellschaftlich organisiertem Bürgerinteresse anstreben. Diskussionen über individuelle Bürger- und Menschenrechte sowie über Gruppeninteressen, Verfassungsgrundsätze und Rechtstaatlichkeit oder über Transparenz politischer Entscheidungen und öffentliche Kontrolle wurden zum Bestandteil des politischen Lebens. Ihren vorläufigen Höhepunkt hatte diese Entwicklung in den »friedlichen« 90er Jahren. Einen schweren Rückschlag erfuhr sie, als mit dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada die Sicherheitsproblematik wieder zum dominierenden Thema wurde und die innergesellschaftlichen Widersprüche aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurden.

Die zweite Intifada hat insbesondere die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen erschwert bzw. nahezu unmöglich gemacht, die sich bemühten, Strukturen der Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern aufzubauen und zu diesem Zweck eine Vielzahl von »people-to-people«-Projekten ins Leben riefen. Betroffen sind auch Vereinigungen, die sich dem innerisraelischen Dialog zwischen jüdischer Mehrheit und arabisch-palästinensischer Minorität verschrieben hatten. Viele binationale Friedengruppen stellten – aufgrund ausbleibender Sponsoren, geringer Erfolge und zunehmender Desillusionierung bzw. wachsenden Misstrauens gegenüber den bisherigen Partnern – ihre Arbeit ein. Konkretes Krisenmanagement trat an die Stelle mittel- und langfristiger Programme. Es entstanden jedoch auch neue grassroots Organisationen, die gegen die Regierungspolitik protestieren und eine Antwort auf die neue Situation zu geben suchen. Beispiele sind Aktivitäten der jüdisch-arabischen Friedensgruppe Taayush33 oder die Initiative der Wehrdienstverweigerer34.

Der Blick auf Geschichte und Gegenwart lässt das Fazit zu, dass die israelische Demokratie seit der Staatsgründung 1948 erheblichen, bisher nicht bewältigten Herausforderungen und Wandlungen ausgesetzt war. Die von israelischen Politikern und Politikwissenschaftlern wiederholt kritisierten Unzulänglichkeiten – der 1948 eingeführte und permanent verlängerte Ausnahmezustand, das Fehlen einer Verfassung mit klaren Aussagen über Charakter und Grenzen des Staates, die praktische Diskriminierung einzelner Bevölkerungsgruppen, insbesondere der arabischen Staatsbürger, u. a. m. – sind bisher nicht produktiv verarbeitet worden. Liberalisierungstendenzen in der Wirtschaft und im politischen System haben jedoch dazu geführt, dass die Notstandverordnungen gelockert, politische Reformen eingeleitet und die übermächtige Rolle des Staates bzw. die »kollektivistischen« Impulse zurückgenommen wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die diesen Prozess in nicht geringem Maße beeinflussten, werden auch bei der weiteren Ausgestaltung der israelischen Demokratie – nicht zuletzt bei der Durchsetzung der in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 versprochenen gleichen sozialen und politischen Rechte für alle Bürger „ohne Unterschied der Religion, der Rasse oder des Geschlechtes“ – eine wachsende Rolle spielen. Erforderlich dafür ist jedoch vor allem ein friedliches Umfeld. Die Beendigung der Gewaltspirale, die Ausrufung eines eigenständigen palästinensischen Staates und die Herstellung kooperativer Staaten- und Völkerbeziehungen in der Region sind somit nicht nur vitale Interessen der palästinensischen und arabischen Bürger des Nahen Ostens, sondern von eminenter, wenn nicht gar existentieller Bedeutung für den Staat Israel.

Anmerkungen

1) Der Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten und an der Freien Universität Berlin (Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients) 1999-2002 durchgeführten Projekts »Wertewandel und Zivilgesellschaft in Israel«.

2) Jischuv – hebr. Besiedlung. Bezeichnung sowohl für das jüdische Siedlungsgebiet als auch für die jüdische Bevölkerungsgruppe Palästinas.

3) Yishai, Yael: Civil Society in Transition: Interest Politics in Israel, in: Annals, Vol. 555, January 1998, S. 155.

4) Kaz, Ofir (Hrsg.): Chok ha-Amutot, 1980, Halachah le-maaseh, Jerusalem o. J. (Hebr.)

5) www.zforum.org.il

6) www.panim.org.il

7) www.womeningreen.org

8) www.parentscircle.israel.net

9) www.gush-shalom.org

10) www.coalitionofwomen4peace.org

11) www.newprofile.org

12) www.peacenow.org.il

13) www.adva.org

14) www.kavlaoved.org.il

15) www.yedid.co.il

16) www.mqg.org.il

17) www.acri.org.il

18) www.btselem.org

19) www.rhr.israel.net

20) www.iwn.org.il

21) www.batshalom.org

22) www.womenofthewall.org

23) http://iued.org.il

24) www.greenaction.org.il

25) www.inem.org/htdocs/ipex6/iefe-popup.html

26) Vgl. Doron, Gideon: Two Civil Societies and one State: Jews and Arabs in the State of Israel. In: Norton, Augustus Richard (Hrsg.): Civil Society in the Middle East, Vol. II, Leiden/New York/Köln 1996, S. 193-220.

27) www.nswas.com

28) www.inter.net.il/~givat_h/givat/arabcent.htm

29) www.sikkuy.org.il

30) www.adalah.org

31) www.arabhra.org

32) Ben-Eliezer, Uri: Is Civil Society Emerging in Israel? Politics and Identity in the New Associations, in: Israeli Sociology, Vol. 2, No. 1, 1999, S. 88 (Hebr.).

33) taayush.tripod.com

34) www.seruv.org.il

Angelika Timm ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin, Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Politik Israels, u.a.: Israel – Geschichte des Staates seit seiner Gründung, Bonn 1998 und Hammer, Zirkel, Davidstern – das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997.

Die Kehrseite des Krieges

Die Kehrseite des Krieges

Risse im sozialen Gefüge Israels

von Claudia Haydt

Die Abriegelung der Palästinensischen Gebiete und besonders die »Operation Schutzschild« haben Hunger, Armut und tiefe wirtschaftliche Not in die palästinensischen Gebiete gebracht. Doch auch in Israel selbst hinterlässt der Krieg auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene tiefe Wunden. Die innerisraelische soziale Destabilisierung begann jedoch nicht erst mit der Al-Aqsa-Intifada, sie zeichnete sich schon einige Jahre früher ab.
Israel war in den letzten zwei Jahrzehnten – bis zum Ausbruch der Al-Aqsa Intifada – geprägt von einem deutlichen ökonomischen Wachstum. Die Früchte dieses Wachstums wurden jedoch sehr ungleich verteilt: Ein relativ kleiner Prozentsatz der Israelis konnte einen starken Anstieg seines Einkommens verzeichnen, während der große Rest weit weniger davon profitierte. Die Nichtregierungsorganisation ADVA (hebräisch für »Welle«) zeigt in ihren regelmäßig erscheinenden Sozialberichten1 den dringenden Bedarf auf, für langfristige, stabile sozioökonomische Politikkonzepte, die es ermöglichen würden, das Niveau der Bildung und des Einkommens in der israelischen Gesellschaft gleichmäßig anzuheben. „Diesem Bedarf wird durch die momentane Regierungspolitik keine Rechnung getragen. Im Gegenteil, alle Regierungen der letzten Zeit – egal ob links oder rechts – haben ihre soziale Verantwortung de facto aufgegeben, haben die Steuern für den Unternehmensbereich gesenkt und die Lasten für Privathaushalte erhöht.“2 In diesem Jahr gab es – im Kontext des andauernden militärischen Konfliktes und der Rezession – nur zwei Bereiche, an denen nicht gespart wurde: »Sicherheit« und »Infrastruktur« (v.a. beim Bau von Siedlungen, Umgehungstrassen und des »Sicherheitszauns«). Diese Regierungspolitik entlarvt Dr. Daphna Lavit (Ben-Gurion University Business School) als gefährliche, aber wirksame Taktik: Sie „verschleiert die Wirklichkeit und konzentriert die nationale Aufmerksamkeit auf eine unmittelbare drohende Auslöschung… Verlasst euch darauf, dass wirtschaftliche Zahlen und Aufstellungen langweilig und weitgehend unverständlich sind, dann wird euch die Bevölkerung unterstützen – bis zum Staatsbankrott. Wenn diese Taktik richtig angewandt wird, dann wird jede Opposition gegen Militärausgaben als unpatriotisch gelten …“3

Ökonomisches Wachstum und soziale Ungleichheit

Durch das starke Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte gehört Israel heute zu den Ländern mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt. Es stieg von 5.612 $ pro Kopf im Jahr 1980 auf 16.531 $ im Jahr 1999. Damit holte Israel einen Teil des ökonomischen Abstandes zu den Ländern der EU auf: Von knapp 60% des EU-Niveaus (1980) auf fast 75% (1999).

Gleichzeitig entwickelten sich die Einkommen der israelischen Bürger aber überaus unterschiedlich: Während das Einkommen des obersten Dezils (also der obersten 10% der Bevölkerung) parallel zum Bruttoinlandsprodukt stieg, hat sich das Einkommen in den mittleren und unteren Schichten kaum verändert. Waren 1990 die Einkommen im obersten Dezil durchschnittlich 8,9 mal höher als die im untersten Dezil so vergrößerte sich diese Kluft bis 1999 auf das 11,8-fache. Den Einkommensbeziehern aus den zwei obersten Dezilen gelang es, ihren Anteil am Kuchen zu vergrößern, während sich der Anteil des Rests der Bevölkerung verringerte. So verfestigt sich auch in Israel der weltweite Trend, dass immer weniger Menschen ein immer größer werdendes Einkommen zur Verfügung steht, während sich die ökonomische Situation der übergroßen Mehrheit – bis weit in die Mittelschichten hinein – verschlechtert.

Ethnische und Gender-Ungleichheiten

Zwischen Israelis unterschiedlicher ethnischer Herkunft sind soziale Unterschiede tief verankert. Das Einkommen der arabischen Bürger Israels ist traditionell am niedrigsten und ist seit 1995 sogar noch weiter gesunken. Das Einkommen von Juden mit asiatischem oder afrikanischem Hintergrund (Sepharden) ist etwas höher, ihr durchschnittliches Einkommen ist während der letzten Jahre gestiegen und hat sich vom durchschnittlichen Einkommen der Araber entfernt. Die »innerjüdische« Einkommens-Kluft zwischen Sepharden und den Juden europäischer bzw. US-amerikanischer Herkunft (Ashkenasen) hat sich kaum verändert. Das Einkommen der ashkenasischen Juden liegt weit über dem der anderen Gruppen: 1999 war das Einkommen eines durchschnittlichen ashkenasischen Arbeitnehmers um 50% höher als das eines sephardischen und um 100% höher als das eines arabischen.

Auch geschlechtsbedingt gibt es deutliche Einkommensunterschiede in Israel: 1999 erzielten Frauen im Durchschnitt nur 60% des Einkommens von Männern. Berücksichtigt man, dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten und zieht den Stundenlohn als Vergleichsgröße heran, dann ergibt sich immer noch eine um 19% schlechtere Bezahlung für Frauen.

Armut und Reichtum

Die Einkommen des oberen Managements entfernen sich auch in Israel immer weiter von den Durchschnittslöhnen. Dadurch wird auch das Bild des »Durchschnittslohnes« immer trügerischer: Es suggeriert, es handle sich hier um einen Betrag, den die meisten Menschen verdienen, das tatsächliche Einkommen der meisten Israelis liegt jedoch unter dem Durchschnittslohn. 1999 verdienten nur 27% der Israelis mehr als den Durchschnittslohn, während für 63% nur drei Viertel oder weniger zur Verfügung stand.

Für eine wachsende Anzahl von Israelis garantiert der Arbeitsmarkt nicht einmal mehr ein Einkommensminimum. Die Anzahl der Israelis deren Einkommen unter der Armutsschwelle4 liegt, stieg von 23,8% (1979) auf 32,2% (1999). Darunter sind viele, die nicht arbeitslos sind, deren Lohn aber nicht ausreicht für ein akzeptables Existenzminimum. Besonders hart betroffen sind davon Familien und Kinder: 1999 lebten 36,7% der Kinder unter der Armutsgrenze. Arbeitslosigkeit ist in arabischen Vierteln wesentlich höher als in jüdischen, unter Frauen höher als unter Männern und unter arabischen Frauen höher als unter jüdischen Frauen. Arbeitslosigkeit trifft überproportional diejenigen, bei denen das Bildungssystem versagt hat.

Bildung und Ungleichheit

Das Bildungssystem ist in jedem Staat eine zentrale – wenn nicht die zentrale – Möglichkeit, um sozialer Ungleichheit gegenzusteuern. Das israelische Schulsystem fungiert jedoch nicht als Instanz, die Ungleichheiten verringert, sondern verstärkt diese noch. Die Ungleichheiten des Schulsystems werden dann besonders auffällig, wenn man den Bildungserfolg nach Regionen getrennt betrachtet. Beinahe 60% aller Jugendlichen scheitern daran, einen High School-Abschluss zu erreichen. Die meisten davon stammen aus arabischen Wohngegenden oder aus jüdischen Armenvierteln.

Eine Studie verfolgte den Bildungsweg von Jugendlichen, die 1991 17 Jahre alt waren, bis ins Jahr 1998. Es wurde dabei unterschieden nach Jugendlichen aus wirtschaftlich starken Städten (z.B. Tel Aviv, Herzliya), aus strukturschwachen Städten (z.B. Safed, Tiberias) und aus arabischen Städten (z.B. Umm al Fahm, Kafar Kanna). Beinahe 50% der Jugendlichen aus arabischen Städten verließen die Schule vor der zwölften (und letzten) Klasse. Von denen die dort verblieben, versuchten dennoch viele erst gar nicht, einen Abschluss zu machen und effektiv bestanden nur 20% aller Schüler in arabischen Städten die Prüfungen. Ein Studium an einer Universität nahmen nur 5% auf. Für Jugendliche aus den wirtschaftlich starken Städten sieht die Bilanz deutlich besser aus, 56% bestanden die Prüfungen und 32% nahmen ein Studium auf.

Die Rolle, die die Ausstattung der Schulen mit Lehrern und deren Qualifikation sowie die angebotenen Curricula für das Bildungsniveau der Schüler spielen, fällt besonders auf, wenn man untersucht wie viele der erfolgreichen Schul-Absolventen an den Universitäten abgewiesen werden. Durchschnittlich 50% bis 60% der Schüler aus arabischen Städten werden nicht aufgenommen, weil ihre Prüfungsergebnisse oder die Anzahl und Qualität der an der Schule belegten Fächer den Anforderungen der Universitäten nicht entsprechen. Bei Schülern aus den wirtschaftlich stärkeren Regionen liegt die Quote in der Regel zwischen 15% und 20%.

Ein schlechter oder kein Schulabschluss verschlechtert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, verurteilt viele Menschen zu oft ungesicherten Gelegenheitsjobs. Auch die steigende Arbeitslosigkeit trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark: Über die Hälfte der Israelis, die die Schule vorzeitig (vor dem 10. Schuljahr) verlassen haben, ist arbeitslos. Bei den Ultraorthodoxen ist diese Quote sogar bei 78%. Doch während die »Schulversager« überwiegend unfreiwillig arbeitslos wurden, ist Arbeitslosigkeit bei vielen Ultraorthodoxen frei gewählt.Viele leben von Lohnersatzleistungen und Kindergeld, das bei jedem Kind pro Kopf steigt.

Niedrige Einkommen führen zu sozialer Marginalisierung, zu schlechterer Gesundheitsversorgung, zu schlechten Startchancen für die nächste Generation und so fort. Die Ungleichheiten setzen sich bis ins hohe Alter fort. In Israel existiert keine allgemeine Rentengesetzgebung und viele sind auf die äußerst dürftige staatliche Altersversorgung angewiesen. Auch hier sind arabische Israelis und sephardische Juden besonders häufig unter den Verlierern.

Auswege aus der Armutsspirale?

Seit dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada erlebt Israel eine Wirtschaftskrise. Im ersten Halbjahr 2001 verzeichnete es ein negatives Wirtschaftswachstum von 1,8% und im zweiten Halbjahr waren es sogar minus 5,3%. Im Jahr 2002 schrumpft die Wirtschaft weiter und für das Jahr 2003 gehen die Prognosen von bis zu minus 2,5 % aus. Die weltweite Rezession und die Krise der Hightech-Branche verstärken die Folgen der Intifada auf die israelische Wirtschaft. Um die sehr teure »Operation Schutzschild« und den Einsatz zehntausender Reservisten bezahlen zu können, hat die Knesset weitgehende Budgetkürzungen beschlossen. Diejenigen, die bisher schon unter der Wirtschaftskrise leiden, müssen nun im Rahmen der Haushaltskürzungen zusätzliche Einbußen in Kauf nehmen. Die Befürworter dieser Entscheidung argumentieren, der Konflikt und die Rezession erforderten eine »Pause« im Kampf gegen soziale Ungleichheit. In der Praxis heißt das aber, soziale Ungleichheiten verfestigen sich und wachsen auf hohem Niveau weiter.

Die Brüche in der Gesellschaft werden immer deutlicher; dabei ist die Verstärkung der sozialen Unterschiede entlang ethnischer Zugehörigkeit offensichtlich nicht nur ein Nebeneffekt, sie scheint zumindest teilweise politisch gewollt. Dies fällt besonders bei der beschlossenen Kürzung des Kindergelds auf: Bei Eltern, die Ihren Militärdienst abgeleistet haben, wird das Kindergeld um 4% gekürzt, bei Eltern die keinen Militärdienst abgeleistet haben, beträgt die Kürzung 24%. Dies trifft besonders die arabische Bevölkerung, da diese vom Militärdienst ausgeschlossen ist. Viele Ultraorthodoxe leisten ebenfalls keinen Wehrdienst, haben jedoch mit ihrer starken Lobby in der Knesset Sonderregelungen durchgesetzt, die für sie die Kürzungen abfedern.

Die fortgesetzte kriegerische Auseinandersetzung mit der palästinensischen Bevölkerung verschärft die strukturellen und auch die z.T. bewusst verursachten sozialen Unterschiede – innerjüdische Unterschiede ebenso wie die zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung. Der Krieg kostet Geld, er schmälert die Produktivität indem er Reservisten aus dem Wirtschaftsprozess herausholt und er isoliert Israel im Rahmen der Weltwirtschaft. Der einzige Ausweg aus Krieg und Verelendung ist ein tragfähiger Kompromiss mit der palästinensischen Autonomiebehörde, ein Abschied aus der in jeder Hinsicht kostspieligen Siedlungspolitik und ein Ende der Besatzung.

Anmerkungen

1) Die Daten dieses Berichtes stammen, wenn nicht anders erwähnt, aus den Berichten von ADVA. Vgl. www.adva.org.

2) Dr. Shlomo Swirski / Etty Konor-Attias: Israel – A Social Report, Tel Aviv 2002, S. 4.

3) Daphna Levit, Where Have All our Shekels Gone?, Juni 2002 (http://www.coalitionofwomen4peace.org/articles/wherehaveallourshekelsgone.htm)

4) »Armutsschwelle« bezeichnet in Israel ein Äquivalenzeinkommen von höchstens 50% des Durchschnittseinkommens, wobei der Durchschnitt hier als Median gerechnet wird; d.h. es geht um den Wert, bei dem tatsächlich die eine Hälfte der Bevölkerung mehr und die andere Hälfte weniger verdient.

Claudia Haydt ist Soziologin und Religionswissenschaftlerin. In der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. bearbeitet sie den Schwerpunkt Israel/ Palästina und Islam.

Geheimnisumwittert

Geheimnisumwittert

Die deutsch-israelische Rüstungszusammenarbeit

von Otfried Nassauer, Yves Pallade und Christopher Steinmetz

Die Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Israel hat Tradition. Noch bevor die Bundesrepublik offiziell wieder Waffen produzieren durfte, wurden 1955/56 zwei Patrouillenboote an Israel geliefert. Seither ist die Rüstungszusammenarbeit immer wieder ein wichtiger Faktor der bilateralen Beziehungen. Drei Merkmale prägen sie. Der Schleier weitgehender Geheimhaltung, der Nutzen auf Gegenseitigkeit und der Wandel von der staatlichen zur industriellen Zusammenarbeit.

„Seit Beginn der Zusammenarbeit mit Israel ist es ständige Praxis aller Regierungen gewesen, diese Kooperation möglichst wenig öffentlich zu gestalten oder zu formalisieren.“1 Ein altes aber immer noch zutreffendes Zitat des Bundesverteidigungsministeriums aus dem Jahr 1991. Die deutsch-israelische Rüstungskooperation umhüllt ein Mantel des Schweigens. Selbst Vereinbarungen aus den 50er und 60er Jahren unterliegen noch immer der Geheimhaltung. Daran sind schon die Zuständigen interessiert: Zumindest bis Ende der 80er Jahre wurde die Kooperation oft über die Auslandsgeheimdienste, den deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) und den israelischen Mossad, koordiniert oder abgewickelt. Damit bewegten sich auch die Geschäfte schnell in einer Grauzone – geduldet von den jeweiligen Regierungen. Das belegen nicht zuletzt skandalträchtige Beispiele wie der CERBERUS-Vorgang Ende der 80er Jahre und die Lieferung von NVA-Waffen als »land- und forstwirtschaftliches Gerät« 1991.

Hintergrund ist das geschichtlich-prekäre deutsch-israelische Verhältnis. Während die Tabuisierung der Ermordung der europäischen Juden die unmittelbaren Nachkriegsjahre in Deutschland kennzeichnete, wurden auf israelischer Seite offizielle Kontakte mit der BRD aufgrund des Holocausts strikt abgelehnt. Verbindungen wurden nur inoffiziell geknüpft, oft durch die Geheimdienste. Auch nach der gegenseitigen diplomatischen Anerkennung 1965 blieb die Kooperation heikel und deshalb unauffällig. Deutsche Kennzeichen und Firmenlogos wurden von Waffen und Komponenten entfernt, die nach Israel geliefert wurden. Deutsche Schiffs- und U-Boot-Typen wurden auf französischen und britischen Werften für Israel gefertigt. Die Kooperation über »kurze und informelle Wege« jenseits einer öffentlichen Kontrolle erwies sich für beide Seiten als vorteilhaft. Deutschland hatte einen Abnehmer für Überschusswaffen und manchmal auch für seine junge Rüstungsindustrie. Mit den Nahostkriegen wurde Israel zudem ein wichtiger Partner bei der Auswertung sowjetischer Waffentechnologien. Israel dagegen hatte eine neue verlässliche Quelle für Ersatzteile und Waffensysteme – selbst in Krisenzeiten. Lieferungen an Israel wurden nicht selten von Deutschland bezahlt. Alle Bundesregierungen –auch die rot-grüne – zeigten kein Interesse, den Umfang und den politischen Stellenwert der Rüstungskooperation mit Israel offen zu legen.

Ein Embargo das keines war

Im Frühjahr 2002 berichtete die Presse über eine vorübergehende Aussetzung der Lieferung von Waffensystemkomponenten nach Israel. Wichtige Ersatzteile für Waffen der israelischen Armee und Komponenten für den neuen Kampfpanzer Merkava 4 würden zurückgehalten. Öffentlich drohte der israelische Verteidigungsminister Deutschland kurz darauf mit einer neuen Holocaustdebatte. Das Thema fand den Weg in die Schlagzeilen während die israelischen Streitkräfte ihre seit Jahren größten und härtesten Operationen in den Autonomiegebieten des Westjordanlandes durchführten. Die Bundesregierung begründete das Ausbleiben deutscher militärischer Lieferungen allerdings nicht mit der angespannten Lage in Israel oder mit einer konsequenten Anwendung der neuen Rüstungsexportrichtlinien und mit den darin niedergelegten Kriterien der Einhaltung der Menschenrechte und der Gewaltprävention. Im Gegenteil, sie beeilte sich klarzustellen, dass von einem Embargo, einer Liefersperre, nicht die Rede sein könne.

Am 25. April beseitigte Bundeskanzler Schröder alle Zweifel am Fortbestand der Rüstungszusammenarbeit mit Israel: „Ich will ganz unmissverständlich sagen: Israel bekommt das, was es für die Aufrechterhaltung seiner Sicherheit braucht, und es bekommt es dann, wenn es gebraucht wird.“2 Genauso plötzlich, wie Rüstungsexporte nach Israel im April ihren Weg in die Zeitungen fanden, waren sie nach dem Machtwort Schröders wieder verschwunden. Man gewann den Eindruck, dass es der Bundesregierung unangenehm war, öffentlich Stellung zu beziehen.

Auch in den veröffentlichten Rüstungsexportberichten 1999/2000 finden sich kaum nähere Anhaltspunkte. Außer dem Export von drei dieselgetrieben U-Booten (Typ Dolphin) im Wert von 1,283 Mrd. DM wurden nur tatsächliche Rüstungsexporte im Wert von 4 Mio. DM angeführt. Glaubt man diesen Zahlen, können zwischen Deutschland und Israel keine engeren Rüstungsbeziehungen bestehen.

Mehr als die Addition von Waffenlieferungen

Die Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Sie berücksichtigen nicht den Export von Rüstungsgütern aus Bundeswehrbeständen, die tatsächliche Ausfuhr von sonstigen Rüstungs- und Dual-Use-Gütern, den Export von Komponenten über Drittstaaten im Rahmen von Ausfuhr- und Sammelausfuhrgenehmigungen oder die Genehmigungen für Dual-Use-Exporte. Die Angaben in den Rüstungsexportberichten erlauben keine klare Aussage über das finanzielle Gesamtvolumen des Rüstungsexportes nach Israel und über die Qualität der Kooperation.

Ein anderes Bild entsteht, wenn man die Rüstungsexporte als einen Bestandteil der Rüstungskooperation betrachtet, die wiederum ein Aspekt der sicherheitspolitischen und militärischen Kooperation ist. Zu den Bereichen des Wissens- und Waffentransfers gehören:

  • die Zusammenarbeit im Bereich Forschung, Entwicklung und Erprobung
  • der Export kompletter Waffensysteme
  • der (Re-)Export von Komponenten für Waffensysteme

In diesem Kontext zerfließen – politisch gewollt – oft die Grenzen zwischen der Lieferung von Rüstungsgütern, dem Technologietransfer, dem Austausch von Informationen und der Lieferung von Ersatzteilen, Peripheriegerät und Verbrauchsgütern.

Forschung, Entwicklung und Erprobung

Die Kooperation in diesem Bereich begann Mitte der 60er Jahre. Immer wieder arbeiteten Deutschland und Israel – oft im Verborgenen – bei der Auswertung östlicher Waffensysteme, bei der Entwicklung neuer Waffen und bei der Erforschung neuer Technologien zusammen.

Bis in die Neunzigerjahre kam dem 1967 vereinbarten Austausch bei der Auswertung von Wehrmaterial sowjetischer Herkunft große Bedeutung zu. Israel und Deutschland verpflichteten sich gegenseitig, Auswertungsergebnisse über und Waffen sowjetischer Technik zur Verfügung zu stellen. Israel lieferte der Bundeswehr Kenntnisse und Waffen, die es in drei Kriegen – dem Sechs-Tage-Krieg 1967, dem Jom-Kippur-Krieg 1973 und dem Libanonkrieg 1982 – von Nachbarstaaten erbeutet hatte. So konnten die Ergebnisse der Auswertung russischer Panzer für die Modernisierung der deutschen Gegenstücke genutzt werden. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes revanchierte sich die Bundesregierung und überließ Israel Rüstungsgüter der NVA in erheblichem Umfang, u.a. Ersatzteilpakete für den T-72 Kampfpanzer und die Luft-Luft-Rakete AA-11 sowie das Radar des Trägerflugzeugs MiG-29.

Beide Staaten konnten so ihr Waffenarsenal und ihre Schutzmaßnahmen mit geringerem finanziellem Aufwand qualitativ verbessern. Der umstrittene Störsender CERBERUS/TSPJ zeigt, dass zumindest seit 1972 insgeheim auch Waffensysteme gemeinsam konzipiert und auf Grundlage der Auswertungsergebnisse entwickelt wurden. Die Auswertung der sowjetischen Luft-Luft-Raketen vom Typ AA-11 (Archer) und der MiG 29, ermöglichte es beiden Seiten, modernste Luft-Luft-Raketen – Python 4 (Israel) und IRIS-T (Deutschland) – zu entwickeln.

Während die Auswertung russischen Wehrmaterials an Bedeutung verliert, ist von einer wachsenden Zusammenarbeit bei Forschung & Entwicklung auszugehen. Neben der laufenden »zivilen« F&E-Kooperation, z.B. in der Raumfahrt oder Mikroelektronik, wird künftig auch die offene militärische Kooperation an Bedeutung gewinnen. Seit 1996 kann Israel am Europäischen Rahmenprogrammen für Forschung und Entwicklung der Europäischen Union teilnehmen, das schon heute Dual-Use Vorhaben fördert und nach dem Willen mancher Politiker für europäische Rüstungsforschungsvorhaben geöffnet werden soll. Nach Unterzeichnung eines Geheimschutzabkommens mit der NATO im Jahr 2001 kann sich Israel nun auch an militärischen Forschungsprogrammen der NATO beteiligen. Am 24. November 1998 trat ein Übereinkommen zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und dem israelischen Verteidigungsministerium über die Zusammenarbeit bei der Forschung und Technologie auf dem Gebiet der Verteidigung in Kraft. Es gilt für zehn Jahre. 3

An Bedeutung gewinnt auch die industrielle Entwicklungszusammenarbeit. Traditionsreich ist die Zusammenarbeit in der Panzertechnik. Israelische Rüstungsunternehmen übernahmen in den 70er und 80er Jahren wesentliche technische Neuentwicklungen aus Deutschland, die sie heute teilweise als Eigenentwicklungen erachten. Dazu gehören z.B. die Reaktiv-Panzerung, die 120mm-Glattrohrkanone und Stabilisierungssysteme für den Gefechtsturm. Umgekehrt erhielten deutsche Rüstungsfirmen Mitte der 90er Jahre Einblick in israelische Submunitionstechnologien und haben eigene Produktionslinien aufgebaut. Derzeit scheint die Ende der 80er Jahre begonnene Zusammenarbeit bei der Drohnen-Technologie vor der Wiederbelebung zu stehen.

Großwaffensysteme

Der Export kompletter Waffensysteme ist eine Ausnahme in der deutsch-israelischen Rüstungskooperation. Das einzige nennenswerte Vorhaben in den 90er Jahren war der Export von drei U-Booten des Typs Dolphin (1998-2000). Allerdings eignet sich der Projektverlauf des Vorhabens zur Illustration mancher Besonderheit, die die deutsch-israelische Rüstungskooperation auch bei kleineren Projekten prägt.

Keine israelischen Devisen für Waffensysteme

Israel ist chronisch klamm und leidet unter Devisenmangel. Dies erlaubt keine eigenständige Finanzierung des Imports von Großwaffensystemen, die meist in Dollar bezahlt werden müssen. Das »Dolphin-Geschäft« mit Israel konnte nur durchgeführt werden, weil sich die Bundesregierung bereit erklärte, mit 1,1 Mrd. DM etwa 85% der Gesamtkosten zu übernehmen. Wahrscheinlich wurde der Kostenanteil Israels durch kompensatorische deutsche Rüstungskäufe in Israel abgedeckt. Ähnliches scheint sich gegenwärtig bei der Torpedobewaffnung für die U-Boote fortzusetzen. Israel wollte schwere Torpedos mit US-Geldern finanzieren und plante, US-Torpedos zu kaufen. Als die US-Regierung den Export verweigerte, wurde eine andere Lösung gefunden. Ein deutscher Torpedo der Firma STN Atlas wird nun von der US-Firma Lockheed Martin Tactical Systems als »Seahake« angeboten. Der Umweg ermöglicht die Finanzierung durch das US-Militärhilfeprogramm. Während die Bundesregierung den Export 2000 genehmigte, ist unbekannt, ob das 65 Mio. $-Vorhaben tatsächlich durch die USA finanziert wird.

Vorteile für beide Seiten

Der U-Boot-Export war trotzdem für beide Seiten von Vorteil. Als das Vorhaben 1991 geplant wurde, zeichnete sich bereits ab, dass Deutschland aufgrund seiner Zahlungen für den Golfkrieg und der Kosten der deutschen Einheit militärische Großvorhaben aus Kostengründen verschieben musste. Die Dolphin-Produktion überbrückte die Auslastungslücke bis zum U-212 Bau und erlaubte es, einige Technologien vorab zu testen.

Auf israelischer Seite waren Ingenieure an allen Planungs- und Produktionsschritten beteiligt, so dass am Ende ein eigener U-Boot-Typ entstand, in den auch Komponenten israelischer Firmen eingebaut wurden. Die U-Boote wurden nach der Auslieferung weiter ausgerüstet und verändert. Israelische Komponenten werden sich – angepasst an die Bedürfnisse der deutschen Marine – auch in den U-Booten vom Typ 212 wiederfinden, so z.B. das israelische »EloKa«-System.

Blindes Vertrauen?

Das U-Boot-Geschäft illustriert auch problematische Aspekte der Rüstungskooperation. Mit Vorhaben dieser Art ist immer ein gewisser Technologietransfer und damit die Gefahr der Weiterverbreitung von Technologien verbunden. Israels Beteiligung an der Entwicklung des U-Bootes führte dazu, dass Israel Designrechte und Blaupausen für die U-Boote vom Typ Dolphin besitzt, da es Entwicklungsarbeiten finanzierte. Presseberichten zufolge bemüht sich Israel derzeit, mit Taiwan und/oder den USA über acht geplante U-Boote für Taiwan ins Geschäft zu kommen.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung mit Blick auf die technischen Anforderungen Israels an die neuen Boote offensichtlich beide Augen zugedrückt: Die U-Boote wurden als erste westliche U-Boote mit zwei unterschiedlichen Torpedorohren gebaut – sechs Rohre mit dem Standarddurchmesser von 533mm, vier mit dem in der Sowjetunion für schwere Torpedos und Langstreckenflugkörper genutzten Durchmesser von 650mm. Letztere können mit nuklear bestückten Flugkörpern größerer Reichweite ausgestattet werden oder wurden dies bereits. Damit würde Israel – mit deutscher Hilfe – über eine seegestützte atomare Abschreckung verfügen. Vor Sri Lanka sollen bereits entsprechende Raketentests durchgeführt worden sein. Israel dementiert dies. Gefragt, weshalb die zusätzlichen Rohre installiert wurden, wies die Bundesregierung alle Befürchtungen zurück: Zwar wisse man nicht, was Israel vorhabe, doch seien die großen Torpedorohre vor der Auslieferung mit Metallschienen auf das normale Kaliber von 533mm verjüngt worden. Ein Argument, das angesichts der Mehrkosten für eine neuartige Torpedosektion alle Qualitäten eines »Grundgängers des Jahres« aufweist.

Komponenten für Israel

Solche Besonderheiten finden sich auch bei Geschäften mit Rüstungskomponenten, wenn auch selten so gebündelt. Der Export von Komponenten besitzt einen wachsenden Stellenwert. Es ist ein lukrativer Markt, da viele Staaten dazu übergegangen sind vorhandene Waffen mit modernen Komponenten und Technologien (z.B. Elektronik) zu verbessern.

Drei weitere Faktoren kommen hinzu:

  • Der Import kompletter Waffensysteme wird von Israel als Schwächung der einheimischen Industrie und der nationalen Verteidigungsfähigkeit gesehen.
  • Er ist mit dem Einsatz knapper Devisen verbunden.
  • Die Beschränkung auf den Export von Schlüsseltechnologien reduziert für die deutsche Regierung das Risiko einer öffentlichen Debatte über diese Rüstungsexporte.

Problemlos ist auch diese Art der Rüstungskooperation nicht: Israel reexportiert aus Deutschland erhaltene Komponenten auch in Staaten, in die direkte Lieferungen kaum möglich wären.4 Mit der Mitsprache Deutschlands beim Reexport nimmt es Israel dabei nicht allzu genau.5 Die deutsche Seite ist gezwungen abzuwägen, ob eine Verweigerung des Reexports oder eine rigide Überprüfungspraxis des Endverbleibs das bilaterale Verhältnis belasten würde – wenn dadurch größere israelische Exportgeschäfte scheitern würden.6 Zudem könnte Israel seinerseits Deutschland Komponenten verweigern.

Das aktuellste Beispiel für den Export von Komponenten nach Israel sind die 400 MTU-Motoren mit Renk-Getriebe für den neuen Kampfpanzer Merkava 4. Der Auftragswert beträgt 265 Mio. $. Sie werden über das amerikanische Unternehmen General Dynamics Land Systems geliefert, das eine Lizenz für den Bau dieser Motoren hat. Auch im Vorläufermodell, dem Merkava 3, stecken deutsche Teile: ein Automatikgetriebe von Renk und das Stabilisierungssystem der Firma Extel Systems für den Panzerturm.

Für den Reexport deutscher Komponenten via Israel steht auch folgendes Beispiel: Israel Military Industries IMI/TAAS unterzeichnete am 30. März 2002 einen (Vor-)Vertrag mit der Türkei. In den nächsten sechs Jahren sollen 170 M60 Panzer für etwa 700 Mio. US-$ modernisiert werden. Auch hier sollen Motoren und Getriebe aus Deutschland zum Einsatz kommen.

Gemeinsam sind wir stärker – Kooperation für Drittstaaten

Mit wachsenden Fähigkeiten und leistungsfähigen Technologien wurde die Rüstungsindustrie Israels in den 90er Jahren zu einem Anbieter, mit dem auch für die deutsche Rüstungsindustrie Kooperation zu lohnen versprach. Aus den technologischen Fähigkeiten deutscher und israelischer Firmen kombinierte Angebote besaßen gute Marktchancen. In Zukunft werden solche Vorhaben für die bilaterale Rüstungskooperation an Bedeutung gewinnen.

Kooperationen dieser Art gibt es z.B. zur Modernisierung von Großwaffensystemen. So erhielten die DASA und Elbit 1999 den Auftrag zur Modernisierung von 39 griechischen F-4E Phantom II Kampfflugzeugen. Hauptauftragnehmer ist die DASA. Elbit lieferte das amerikanische APG-65 Radar sowie die Displaytechnologie.

Neben technischen Faktoren existiert auch eine ökonomische Logik für eine veränderte Kooperation. Die israelische Rüstungsindustrie muss neue Absatzmärkte erschließen, um weiterhin für die eigene Regierung finanzierbare Waffensysteme produzieren zu können. Bereits jetzt sind etwa 75% der gesamten Rüstungsproduktion Israels für den Export bestimmt. Nach Angaben der Exportagentur des israelischen Verteidigungsministeriums (SIBAT) wurden in den Jahren 2000 und 2001 Rüstungsexportverträge im Wert von 2,5 und 2,6 Mrd. $ unterzeichnet. Obwohl Israel dem Volumen nach damit zu den zehn größten Waffenlieferanten weltweit gehört, ist es auf dem lukrativen europäischen Markt noch wenig präsent (12% der Exporte).

Für den Einstieg in diesen braucht es europäische Partner. Deutschland könnte aus israelischer Sicht »Brückenkopf« sein. Die deutsche Industrie könnte es attraktiv finden, als »Vermarkter« israelischer Technik Gewinn zu machen, eine breitere Angebotspalette zu haben, deutsche Komponenten beizusteuern und Einblicke in die israelische Technik zu gewinnen.

Eines der ersten Joint-Ventures dieser Art wurde 1995 zwischen der Zeiss Optronik GmbH und der israelischen Rüstungsfirma Rafael vereinbart. Neben der gemeinsamen Produktion von 20 Zielbeleuchtungsbehältern (Litening Pod) für die Luftwaffe sollte Zeiss auch eine Produktionslinie in Deutschland aufbauen und den Verkauf in Europa übernehmen. Dazu wurden Exportvarianten des Systems entwickelt, z.B. der Aufklärungsbehälter Recce-Lite. Inzwischen verhandelt Zeiss mit Griechenland, Norwegen, Schweden und Spanien. Weitere Beispiele sind die Gründung des Eurospike-Konsortiums zur Vermarktung von Panzerabwehrraketensystemen und die Zusammenarbeit zwischen Israel Aircraft Industries und EADS bei Drohnen.

Ausblick

Die kommerziellen Formen der Rüstungskooperation mit Israel werden künftig an Gewicht gewinnen. Addiert führen die angeführten Trends zu einer wachsenden – auch im Sinne politischer Einflussnahme einsetzbaren – gegenseitigen Abhängigkeit. Das müssen auch Rüstungsexport-KritikerInnen bedenken, wenn sie künftig auf die Rüstungsexportpraxis einwirken wollen.

Kommerzielle Rüstungskooperation bedeutet nicht ein größeres Maß an Transparenz. Für gemeinsame F&E-Aktivitäten besteht keine Veröffentlichungspflicht. Die Rüstungskooperation im Blick auf Drittstaaten erschwert wegen der kleinteiligen und zeitversetzten Lieferungen die genaue Identifizierung und Zuordnung der Transfers – erst Recht wenn diese als »unfertige Teile« oder mit anderen nichtssagenden Sammelbezeichnungen im Rüstungsexportbericht erfasst werden. Solange nicht einmal die Geheimhaltung bereits vierzig Jahre zurückliegender Vereinbarungen aufgehoben ist, kann weiter eine besondere konspirative Qualität in den Beziehungen vorausgesetzt werden. Niemand weiß, ob es nicht auch heute CERBERUS-artige Geheimprogramme gibt, zum Beispiel in Technologiebereichen, die – wie U-Boot-gestützte Flugkörper – von beiderseitigem Interesse sind.

Rüstungskooperation zwischen Israel und den USA

von Sean Odlum

Seit der Gründung des Staates Israel sind die USA der engste Verbündete und verlässlichste Unterstützer Israels. Insgesamt haben die USA Israel seit 1948 Hilfe im Wert von 81,3 Mrd. $ gewährt. Mit den Jahren wuchs der Anteil der Militärhilfe. In den letzten zehn Jahren erhielt Israel etwa 30 Mrd. $ an US-Hilfe, davon wurden etwa 18,2 Mrd. $ im Rahmen des Foreign Military Financing Programms (FMF) gewährt. Das vom US-Verteidigungsministeriums verwaltete FMF-Programm gewährt befreundeten Regierungen Mittel, die ausschließlich für den Erwerb amerikanischer Waffensysteme ausgegeben werden dürfen – mit Ausnahme Israels. Israel darf als einziger Staat etwa 475 Mio. $ der jährlich gewährten FMF-Gelder für Waffensysteme der eigenen Rüstungsindustrie ausgeben. Mit anderen Worten, die USA subventionieren die israelische Rüstungsindustrie, die inzwischen eine der wettbewerbsfähigsten auf der Welt ist. Trotzdem hat es sich auch für die amerikanische Rüstungsindustrie gelohnt. Das israelische Waffenarsenal umfasst fast 400 US-Kampfflugzeuge, Tausende verschiedener US-Raketen sowie unzählige US-Kleinwaffen, die häufig umsonst im Rahmen des Excess Defense Articles Programms (EDA) bereitgestellt wurden.

Von dieser Art der Kooperation im Rüstungsbereich profitieren beide Seiten. Israel erhält modernste amerikanische Rüstungsgüter und bezahlt dafür mit Dollars der US-Regierung. Der größte Posten ist nach wie vor der Kauf von amerikanischen Kampfflugzeugen – mehr als 60% im Jahr 1999. Zunehmend werden die US-Gelder auch für Rüstungsprodukte aus dem Bereich Elektronik und Kommunikationstechnik ausgegeben. Außerdem kann die israelische Regierung einen Teil der amerikanischen Gelder in die eigene Rüstungsindustrie stecken – einem zentralen Industriesektor. Aus amerikanischer Perspektive wird mit der Hilfe einer der wichtigsten Verbündeten militärisch gestärkt, ein Absatzmarkt für US-Rüstungsgüter geschaffen und damit auch Arbeitsplätze gesichert.

Doch ganz ohne Probleme gestaltet sich diese Beziehung nicht. Die amerikanische Rechtslage verbietet den »nicht-defensiven« Einsatz in den USA hergestellter Waffen. Wiederholt wurde das US State Department gezwungen den möglichen israelischen Missbrauch amerikanischer Waffen zu untersuchen, zuletzt den Einsatz von Apache-Hubschraubern bei der Ermordung von als Terroristen verdächtigten Palästinensern und den Einsatz von F-16 Kampfflugzeugen bei Angriffen auf Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Ein zweiter Problembereich für die USA ist die israelische Praxis, sensible Rüstungstechnologien ohne US-Genehmigung zu reexportieren. Vor allem die israelischen Geschäfte mit China sorgten für Dissonanzen. Israel wurde vorgeworfen, Patriot-Raketenabwehrtechnologie sowie hochmoderne Flugzeug- und Raketentechnologie illegal nach China zu reexportieren.

Drittens beginnt die israelische Rüstungsindustrie, die jahrelang von den USA finanziert wurde, nun den amerikanischen Rüstungsunternehmen auf wichtigen Exportmärkten ernsthaft Konkurrenz zu machen. Vor kurzem erhielt eine israelische Firma von der türkischen Regierung den Auftrag zur Modernisierung von Panzern, die ursprünglich von General Dynamics hergestellt wurden, obwohl sich auch die amerikanische Firma selbst um den Auftrag bemüht hatte. Aber trotz dieser Probleme zwischen Israel und den USA wird die Rüstungskooperation auch in Zukunft fortgesetzt werden.

Mit der zunehmenden Integration israelischer Rüstungskomponenten in amerikanische Waffensysteme wächst die gegenseitige Abhängigkeit. Amerikanische und israelische Militärs kooperieren bereits bei der Entwicklung des Raketenabwehrsystems Arrow.

Die FMF-Hilfe soll bis 2008 erhöht werden und dann ein Niveau von 2,4 Mrd. $ pro Jahr erreichen. Die USA sind sich darüber im Klaren, dass eine Aussetzung der FMF-Zahlungen Israels (militärische) Stellung im Nahen Osten schwächen würde – mit der Gefahr, dass Israels Nachbarstaaten diese Situation ausnutzen. Die USA sind nicht bereit, eine solche Entwicklung zuzulassen.

Sean Odlum (Stanford-University) ist zu einem Forschungsaufenthalt beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)

Anmerkungen

1) Schriftliche Antwort des Bundesministeriums der Verteidigung vom 10.12.1991 auf eine Frage des SPD-Abgeordneten Walter Kolbow zum Bericht zur »Überlassung von Wehrmaterial aus Beständen der ehemaligen NVA«.

2) Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/233, S. 23115 (A), 25.4.2002.

3) Am 18. September 2000 wurde die Technische Vereinbarung Nr. 1 zum Übereinkommen abgeschlossen. Die Vereinbarung Nr. 1 regelt die Details eines gemeinsamen Forschungsprogramms zum Schutz vor B- und C-Waffen.

4) China, Sri Lanka und die Türkei gehören beispielsweise zum engeren Kundenkreis Israels – allesamt Staaten, in die deutsche Rüstungsgüter nicht ohne weiteres direkt geliefert werden können. Im Falle Chinas existiert beispielsweise weiterhin ein Embargo.

5) Aus Industriekreisen ist darüber hinaus immer wieder zu hören, dass israelische Partner des Häufigeren versuchen zugelieferte deutsche Komponenten und Technologien zu kopieren bzw. nachzubauen.

6) Bei Staatsaufträgen aus NATO-Staaten verzichtet die Bundesregierung i.d.R. auf einen Reexportvorbehalt, was u.a. auch Lieferungen über die USA nach Israel erleichtert.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS), Christopher Steinmetz ist dort Mitarbeiter, Yves Pallade ist Doktorand und arbeitete im Rahmen eines Forschungsaufenthalts bei BITS.

Atomwaffenmacht Israel

Atomwaffenmacht Israel

von Ernst Woit

Israel verfügt inzwischen über ein Kernwaffen-Arsenal, das aus 200 bis 300 Sprengköpfen besteht.1 Als »Vater der israelischen Atombombe« gilt der Kernphysiker Yu‘ Val Ne‘man, während unter den israelischen Politikern der Sozialdemokrat Shimon Peres die treibende Kraft hinter dem israelischen Nuklearwaffenprogramm war.2 „Im Jahr 1952“, sagte Peres später einem israelischen Reporter, „stand ich ganz allein da mit meinem Ziel, die israelische Kernwaffenoption durchzusetzen.“3 Er war es, der zur Absicherung des Atomprojekts auf der Schaffung eines neuen, speziellen Nachrichtendienstes bestand, die Beschaffung von Spenden bei jüdischen Millionären im Ausland betrieb und jede internationale Kontrolle des offiziell als zivil dargestellten israelischen Nuklearprogramms ablehnte. 1966 verteidigte Peres Israels Entscheidung, der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) Kontrollen zu verweigern, mit der Begründung, „die Araber seien im konventionellen Bereich überlegen.“4 Nachdem die britische Sunday Times am 5. Oktober 1986 einen Bericht des ins Ausland geflohenen israelischen Kernphysikers Mordecai Vanunu über die israelische Kernwaffenproduktion veröffentlicht hatte, an der er bis zu seiner Flucht persönlich mitgewirkt hatte, war es Peres, der den israelischen Geheimdienst Mossad beauftragte, Vanunu zu kidnappen und in israelischen Gewahrsam zu nehmen, wo er seitdem eingekerkert ist. Schließlich hatte Shimon Peres auch maßgeblichen Anteil an der Herstellung einer engen Kooperation Israels mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime auf dem Gebiet der Waffenentwicklung und insbesondere der Nuklearrüstung.5 Diese Kooperation ermöglichte es Israel, am 22. September 1979 über dem Südatlantik einen Nuklearwaffentest durchzuführen. Auch deshalb ist es durchaus berechtigt, ja unerlässlich, den späteren Friedensnobelpreisträger Shimon Peres – wie Gush-Shalom das kürzlich getan hat – als das einzuschätzen, was er tatsächlich war und geblieben ist: „ein traditioneller zionistischer Falke“.6

Inzwischen verfügt Israel nicht nur über ein umfangreiches Arsenal unterschiedlicher Nuklearwaffen einschließlich Neutronensprengköpfen, sondern auch über die unterschiedlichsten Trägermittel bis hin zu Interkontinentalraketen. Im September 1988 schoss Israel seinen ersten Satelliten ins All und ist inzwischen neben den USA und Russland das dritte Land, das Cruise Missiles mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern von U-Booten aus starten kann. Dabei handelt es sich übrigens um U-Boote des Typs »Delfin«, die von Deutschland finanziert und produziert wurden.7 Doch nicht nur, dass Israel sich unter Ignorierung aller völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kontrolle und Verminderung nuklearer Rüstungen ein Kernwaffenpotenzial von strategischer Bedeutung schuf – es schreckte auch nicht davor zurück, ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt zu verhindern. So bombardierte und zerstörte die israelische Luftwaffe am 7. September 1981 den in Bau befindlichen Atomreaktor in Osirak bei Bagdad. Überlegungen israelischer Politiker und Militärs, ähnlich auch gegen andere Länder vorzugehen, hat es seitdem mehrfach gegeben. So schlug der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon während des Libanonkrieges 1982 vor, man solle Syrien mit Nuklearwaffen angreifen.8 Am 28. September 1998 votierte der gerade zum Generalstabschef ernannte Generalleutnant Schaul Mofaz mit folgender Argumentation dafür, den Iran anzugreifen: „Ein Präventivschlag war immer ein Teil von Israels strategischen Optionen. Die Ausrüstung eines extremistischen Landes wie dem Iran mit weitreichenden Raketen, die mit nicht-konventionellen Raketengefechtsköpfen ausgestattet werden können, könnte auf längere Sicht zu einer existentiellen Bedrohung Israels werden.“9

Nach Seymour M. Hersh ist es schon bemerkenswert, „dass einer der wichtigsten Verbündeten der USA … heimlich ein beachtliches Atomwaffenarsenal aufbauen konnte, während Washington einfach schwieg und die Augen geschlossen hielt.“10 Tatsächlich hat Israel auf seinem Wege zu einer Kernwaffenmacht in extremer Weise all die Eigenschaften und Praktiken entwickelt, die typisch für jene Staaten sind, die von den USA gemeinhin als »Schurkenstaaten« bezeichnet und bekämpft werden. Demgegenüber haben die US die Entwicklung Israels zur Kernwaffenmacht nicht ein einziges Mal öffentlich kritisiert, sondern vielmehr nach Kräften unterstützt. Immerhin haben die USA Israel die meisten Trägersysteme für seine Kernwaffen geliefert. Das alles hängt letztlich damit zusammen, dass die Existenz dieser Kernwaffenmacht ein wohl kalkulierter Bestandteil der Nahost-Strategie der USA gegenüber den arabischen Ländern ist.

Anmerkungen

1) Vgl.: Israels Atomstreitkräfte. In: antimilitarismus information, Berlin 31(2001) 1, S.13 ff.

2) Vgl. W. E. Burrows/R. Windrem: Critical Mass. London 1994, S.292 f.

3) S. M. Hersh: Atommacht Israel. München 1991, S.35.

4) Ebenda, S. 163.

5) Ebenda, S. 274.

6) Gush Shalom: Israel: 80 Thesen für ein neues Friedenslager. In: Marxistische Blätter. Essen 39(2001)3, S.11.

7) Nach: Wissenschaft & Frieden, Bonn, 18(2000)4, S. 4.

8) Nach: antimilitarismus information. A.a.O., S. 21

9) Nach: Ebenda, S. 22.

10) S. M. Hersh: A.a.O., S.331.

Prof. Dr. Dr. Ernst Woit, Philosophiehistoriker und Friedensforscher

Wie Bewegung in den Frieden kam

Wie Bewegung in den Frieden kam

von Beate Zilversmidt

Nach Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada wurde es sehr ruhig um »die Friedensbewegung« in Israel – zumindest, was deren Einfluss auf die öffentliche Meinung und deren Präsenz in den Medien, national wie international, betrifft. Beate Zilversmidt, eine der herausragenden Aktivistinnen von Gush-Shalom, beschreibt für Wissenschaft und Frieden detailliert eine Reihe von scheinbar zufälligen Ereignissen Anfang des Jahres 2002, die zusammenwirkten und deren Eigendynamik zu einer wichtigen Veränderung führte: Die Friedensbewegung wird wieder ernst genommen. Diese Entwicklung hat die Regierung von Scharon und die militärische Führung verunsichert. Das Ergebnis ist eine verstärkte öffentliche Debatte um das Thema Kriegsverbrechen – und eine mit aller Heftigkeit geführte Hetzkampagne gegen Gush-Shalom und seine Mitglieder.
Mehr als ein Jahr lang war die einzige kritische Reaktion auf die zunehmend brutale Unterdrückung der Palästinenser der Protest »radikaler Randgruppen«. Als für den 9. Januar 2002 in Tel Aviv im Saal des Tzavta Clubs eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen1 angesetzt war, hatten wir noch nicht die leiseste Ahnung, dass die Stimmung sich ändern würde. Etwa 250 Menschen füllten den von Gush-Shalom angemieteten Raum. Sechs Redner saßen gedrängt hinter dem Podiumstisch: Ein pensionierter Oberst der Luftwaffe, ein Ex-Minister, ein Philosophieprofessor, ein ehemaliger Brigadegeneral und jetziger Sozialwissenschaftler, ein Experte für Internationales Recht und ein Vertreter der PLO.

Yigal Shochat, ehem. Oberst der Luftwaffe, war eingeladen worden, weil er einige Monate vorher in einem Leserbrief, die Kampfpiloten aufgefordert hatte, Befehle zur Bombardierung ziviler Wohngebiete zu verweigern. Er hatte lange gezögert, bevor er zusagte auf das Podium zu gehen, doch sein Vortrag hinterlies einen ungeheueren Eindruck.

Der Jurist Eyal Gross forderte die »verweigernden Soldaten« – die nicht bereit sind mit Bulldozern palästinensische Häuser zu zerstören – auf, gegen eine Gefängnisstrafe anzugehen und ihren Fall vor ein reguläres Gericht zu bringen. Ein Anwalt, der sich auf die Einhaltung der Genfer Konventionen berufe – die Israel unterzeichnet hat – könne unter Umständen auch einen Freispruch erreichen.

Dov Tamari, Sozialwissenschaftler mit militärischem Background, hat bestimmt keinen besonders radikalen Ruf. Umso mehr überraschte seine Militärkritik. Die militärische Theorie ist für ihn im 19. Jahrhundert stehen geblieben, als es noch das Ideal des Krieges als Kampf zwischen zwei Armeen gab, in Unabhängigkeitskriegen sei der Kontext jedoch ein völlig anderer: „Es ist ein großer Fehler, alles was nicht in die überholte Militärtheorie passt, als Terrorismus zu bezeichnen.“

Michael Tarazi, der PLO-Vertreter, schilderte die schockierenden Erfahrungen der Palästinenser, sich während der Jahre des Oslo-Prozesses einem Verhandlungspartner ausgeliefert zu wissen, der sich nicht an internationale Gesetze gebunden fühlt. Er zitierte einen israelischen Militärsprecher mit den Worten: „Wir werden die Genfer Konvention nur einhalten, wenn wir dazu gezwungen werden.“

Professor Adi Ophir rief die Friedensbewegung auf, Beweise zu sammeln, die zukünftig vor einem internationalen Gerichtshof genutzt werden könnten. „Das wird unsere Isolation in der israelischen Gesellschaft vergrößern“ sagte er (und das dachten wir damals alle), „aber wir müssen uns alle fragen, ob die Zeit nicht reif ist, für dieses Vorgehen und auch dafür den Preis zu bezahlen.“

Shulamit Aloni sprach als letzte, die große alte Dame der Meretz-Partei und der Menschenrechtsbewegung, die der Regierung von Rabin angehört hatte. „Wir müssen den größten Teil der Arbeit selbst tun“, betonte sie. „Erwartet nicht viel von der internationalen Gemeinschaft. Viele Menschen dort haben zuviel Angst für Antisemiten gehalten zu werden. Es liegt an uns, mit den Tatsachen an die Öffentlichkeit zu gehen.“

In derselben Nacht, in der diese Diskussion stattfand, nahm die Armee Rache für einen früheren Guerillaangriff gegen einen isolierten Vorposten, dem vier Soldaten zum Opfer gefallen waren: Sie zerstörte 60 bis 70 Häuser im Flüchtlingslager Rafah, am südlichen Ende des Gaza-Streifens. Shulamit Aloni, die am folgenden Tag den belagerten Arafat in Ramallah besuchte, bezeichnete die Zerstörung der Häuser in einem Interview mit dem palästinensischen Fernsehen als Kriegsverbrechen. Vom israelischen Fernsehen ins Kreuzverhör genommen bestätigte sie später die Verwendung des Begriffs »Kriegsverbrechen« mit einem Hinweis auf ihr Auftreten im Tzavta Club.

Die massive Vergeltung, die Hunderte von unschuldigen Flüchtlingen wieder heimatlos machte und internationale Fernsehberichte über Kinder, die in den Trümmern nach ihren Spielsachen suchten, verursachten weltweiten Protest. Selbst Bush konnte dazu nicht schweigen und aus dem Weißen Haus gab es ein wenig Kritik.

Die Kritik von außen haben Sharon und die Armeeführung sicher vorhergesehen, womit sie wahrscheinlich nicht gerechnet hatten, das war der Protest in Israel; ein Protest, der nicht begrenzt war auf die »Übriggebliebenen« aus der alten Friedensbewegung. Die 150 Demonstranten, die spontan vor dem Verteidigungsministerium in Tel-Aviv auftauchten, waren nur der Anfang. Es folgte eine Welle kritischer Berichte und Leitartikel in der Presse und scharfer Protest von prominenten Akademikern. Die Möglichkeit, dass die Taten der Bulldozerfahrer als Kriegsverbrechen gelten könnten, und die Idee, dass jeder Soldat für seine Teilnahme an solchen Aktionen verantwortlich ist, wurden plötzlich zum öffentlichen Thema. Gush-Shalom stand völlig unerwartet eine Woche lang im Rampenlicht, weil es eine sehr vorsichtige öffentliche Diskussion initiiert hatte.

Tatsächlich waren bei der Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen keine Fernsehkameras präsent, nur ein einziger Rundfunkreporter hatte einige der Reden aufgezeichnet und Ausschnitte gesendet. Für den Justizminister Sheetrit immerhin Anlass zu fordern, dass „nicht unsere Soldaten zur Rechenschaft gezogen werden…, sondern diejenigen, die öffentliche Anschuldigungen gegen sie vorbringen.“ Aber die Versicherung des Ministers verhinderte nicht eine Verunsicherung im Offizierskörper. In der Folge berichteten die Medien über Berufsoffiziere, die sich um juristische Beratung bemühen, aus Angst vor der Möglichkeit bei Auslandsreisen verhaftet und wegen Kriegsverbrechen unter Anklage gestellt zu werden.

In dieser Atmosphäre trafen sich die Aktivisten verschiedener Gruppen (ICAHD2, Coalition of Women for Peace und die jüdisch-arabische Ta’ayush-Bewegung), um neben der humanitären Hilfe – dem Sammeln von Decken für die Opfer der Zerstörungen – den politischen Widerstand zu besprechen. In der West Bank hätte man einen Marsch mit Hunderten von Aktivisten organisieren können, die demonstrativ Decken übergeben – aber der Gaza-Streifen ist für Israelis (außer für Militär und Siedler) hermetisch abgeriegelt und Lieferungen sind nur heimlich und indirekt möglich. Hinzu kam, dass aufgrund des Versprechens der Regierung, zukünftig auf die Zerstörung von Häusern zu verzichten (ein Versprechen das – wie sich später herausstellte – nicht gehalten wurde), das Thema der Häuser von Rafah schnell aus den Medien verschwand. Um trotzdem ein klar sichtbares Zeichen gegen die Besatzung an sich zu setzen wurde eine Samstagabend-Massendemonstration in Tel-Aviv erwogen. Aber dies hielten die anwesenden kleineren Gruppen für nicht machbar, lediglich Peace Now traute man zu, so etwas auf die Beine zu stellen. Doch Peace Now war zu diesem Zeitpunkt gegen das Thema Kriegsverbrechen.

Inzwischen eskalierte die Gewaltspirale weiter – auch mit vielen israelischen Opfern – und so wurde am 23. Januar die Entscheidung getroffen, auch ohne die Teilnahme von Peace Now eine Demonstration »im Stil von Peace Now« zu veranstalten.

Das Geld sollte von den beteiligten Gruppen und Privatpersonen aufgebracht werden und es zeigte sich eine ungewöhnlich große Spendenbereitschaft – von Israelis, die eine solche Demonstration unbedingt wollten und von Sympathisanten aus dem Ausland (z.B. der niederländischen Gruppe »Eine andere jüdische Stimme«).

Am 25. Januar erschien dann die Erklärung von 56 Reserveoffizieren und Soldaten, alle aus Kampfeinheiten, die ankündigten, dass sie nicht länger bereit seien in den besetzten Gebieten ihren Militärdienst abzuleisten. Während der letzten 20 Jahre gab es immer wieder einzelne Reservisten, die sich der Verweigerergruppe Yesh Gvul mit ihren deutlichen politischen Positionen anschlossen. Yesh Gvul betrieb sehr aktive Aufklärungsarbeit bei den Soldaten, die sie über ihr Recht zur Verweigerung »offensichtlich illegaler Befehle« informierten. Aber es hatte nach dem Libanonkrieg keine weiteren Fälle massenhafter Verweigerung bei Reservisten oder Wehrpflichtigen gegeben.

Durch die Kriegsdienstverweigerer bekam die Diskussion um das Thema Kriegsverbrechen eine neue Dimension. Die Militärführung zeigte sich äußerst verunsichert und drohte mit harten Strafen. Das gesamte politische Establishment, einschließlich mehrerer Meretz-Abgeordneter, sprach sich gegen die Verweigerer aus. Doch Meinungsumfragen zeigten, dass sich 25%-30% der israelischen Bevölkerung mit ihnen identifizierten. Innerhalb weniger Wochen stieg – ständig in den Medien veröffentlicht – die Anzahl der Neuunterzeichner des umstrittenen Briefes der Soldaten auf über 300.

Die unterschiedliche Bewertung der »Verweigerer« verhinderte dann aber eine einheitliche Großdemonstration. Während die ursprünglichen Organisatoren – die sogenannten radikalen Gruppen (insgesamt 28 größere und kleinere Organisationen) – der Überzeugung waren, dass gerade den Verweigerern eine zentrale Rolle gegeben werden müsse, wollten die Sprecher von Peace Now mit den »Verweigerern« nicht auf ein Podium.

Im Ergebnis fanden schließlich zwei Massendemonstrationen innerhalb von acht Tagen statt: Am 9. Februar die Demonstration der 28 kleineren und mittleren Organisationen unter dem Motto »Die Besatzung tötet uns alle!«. Zum ersten Mal benannten 10.000 Teilnehmer die Besatzung als Ursache des gesamten Problems – und das zu einer Zeit, in der fast täglich Gewalttaten beider Seiten zu verzeichnen waren. Auf der Kundgebung traten neben bekannten Persönlichkeiten wie Shulamit Aloni und Uri Avnery auch mehrere arabische Redner und drei Vertreter der Verweigererorganisationen auf.

Als Peace Now eine Woche später noch fünfzig Prozent mehr Demonstranten auf dem gleichen Platz versammeln konnte, da war klar: Das Friedenslager ist aufgewacht.

Anmerkungen

1) Vgl.: http://www.gush-shalom.org/archives/forum_eng.html (Protokoll der Anhörung)

2) Israeli Committee Against House Demolition (http://www.icahd.org)

Beate Zilversmidt ist eine der zentralen Persönlichkeiten von Gush Shalom und Mitherausgeberin der Zeitschrift »The other Israel«.
Übersetzung: Claudia Haydt

Sie nennen sich Refuseniks

Sie nennen sich Refuseniks

Israelische Reservisten verweigern den Dienst in den besetzen Gebieten

von Andreas Linder

Seit dem öffentlichen Aufruf von 50 Reservisten in israelischen Zeitungen Anfang Februar 2002, den Kriegsdienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, haben sich dieser Initiative mehr als 1200 Reservisten der israelischen Armee angeschlossen. Die Reservisten sind zumeist keine Berufssoldaten. Nach dem abgeleisteten Grundwehrdienst muss in Israel jeder Wehrpflichtige jedes Jahr einen weiteren Monat Militärdienst ableisten. Ein Recht auf Verweigerung gibt es nicht, weder für Männer noch für Frauen, auch keinen Ersatzdienst. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel, in denen augenscheinlich nach rassistischen und religiösen Kriterien sortiert wird. Orthodoxe Juden müssen meist nicht dienen, und wenn doch, dann nur in spezifischen nichtmilitärischen Bereichen. Araberinnen und Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft sind vom Kriegsdienst ausgeschlossen. Junge Frauen aus religiösen Familien können doch eine Art Ersatzdienst leisten. Uneingeschränkt wehr- und reservepflichtig sind also (nur) die nichtorthodoxen und nichtarabischen israelischen Staatsangehörigen. Zur Zeit sitzen etwa hundert Refuseniks – unter ihnen viele Reservisten – im Gefängnis.
Rabbi Shlomo Aviner ist einer der wichtigsten Rabbis in »Judäa und Samaria« (der West Bank). In der Zeitschrift »B’ahava u’bemuna« (In Liebe und Glauben), die in jüdischen Synagogen verteilt wird, veröffentlichte er im Frühjahr dieses Jahres einen Artikel mit einem unverhohlenen Mordaufruf: Es sei erlaubt, israelische Soldaten zu töten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Zur Begründung schrieb der Rabbi: „Wir befinden uns im Krieg und es ist verboten, die Armee zu kritisieren.“ Mit solchen harten Bandagen heizte der Rabbi die Stimmung gegen diejenigen Israelis an, die im eskalierenden Bürgerkrieg in Gewissensnöte geraten.

Omry Yeshurun ist einer dieser Kriegsdienstverweigerer. Der 26-jährige Reservist ist bzw. war Panzeroffizier in der israelischen Armee. Er ist bereit, sein Land gegen Angriffe von außen zu verteidigen, aber er ist gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete und den Bürgerkrieg im eigenen Land. Am Schlimmsten war für ihn das „alltägliche Jagen von Palästinensern“, das „Kontrollieren und Schikanieren“ von Personen, die nur zur Arbeit ins israelische Gebiet wollten. Weil er diese Einsätze mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte, verweigerte er den Dienst. Er wurde zum »Refusenik«. Jetzt engagiert er sich bei Yesh Gvul, einer der israelischen Friedensbewegung zugehörigen Organisation, die die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Er gehört zu den Menschen, die im israelisch-palästinensischen Konflikt nach Wegen suchen, dem Terror auf beiden Seiten durch die Ablehnung von Gewalt entgegenzutreten. Für seine Überzeugung nahm er Nachteile in Kauf. Neben den verbüßten vier Wochen Militärarrest muss er sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ein Linksextremer und ein Vaterlandsverräter zu sein. Für einen Soldaten nicht einfach.

Im Juli 2002 bereiste Omry Yeshurun die Schweiz und Deutschland, um über seine Erfahrungen und die momentane Situation in Israel zu berichten. Bei seinem Vortrag in Tübingen gab er seiner Empörung Ausdruck über den Mordaufruf des Rabbi Shlomo Aviner gegen die verweigernden Reservisten, die als loyale Staatsbürger jetzt um ihr Leben fürchten müssten. Danach schilderte er die Situation der Menschen auf beiden Seiten der verhärteten Front. Bei den Israelis dominiere aufgrund der Erfahrung des Holocaust das Gefühl, nie wieder Opfer sein zu wollen: „Die Menschen gehen davon aus, dass Stärke eine absolute Notwendigkeit ist. Viele Israelis haben keine Hoffnung mehr, dass es einen Frieden mit der palästinensischen Seite geben kann. Sie sind auch nicht daran interessiert, was tatsächlich in Palästina passiert.“ Sie würden ihre Augen vor der Realität verschließen. Er verwies auf einen inhärenten Rassismus in der israelischen Gesellschaft, der möglicherweise ein Produkt der verschärften Umstände sei, aber auf jeden Fall eine „traurige Tatsache“.

Auf Seiten der Palästinenser seien zum einen die Lebensbedingungen härter, zum anderen führe der Druck durch die ständige militärische Präsenz der israelischen Armee wie auch der fortgesetzte Siedlungsbau dazu, dass sie nicht mehr an friedliche Lösungen glaubten. Dass neben dem Rassismus in Teilen der israelischen Gesellschaft auch die in der palästinensischen Gesellschaft vermehrt auftretende antijüdische Einstellung zur Eskalation der Situation beitragen, das sprach Yeshurun allerdings kaum an. Zu sehr fühlt er sich vielleicht als Bürger des Besatzerstaates im Unrecht und als Soldat in der Gewissensnot.

Die wesentlichen Gründe dafür, warum israelische Soldaten und Reservisten den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, sind: Sie sehen in der Besetzung der palästinensischen Gebieten eine Art Angriffskrieg und sie verurteilen die Politik der Regierung Sharon, die statt auf Friedens- auf Konfrontationskurs mit den Palästinensern ging. Sie müssen an Einsätzen teilnehmen, die sie als hart und moralisch verwerflich empfinden, wollen sich aber nicht zu Handlangern einer aggressiven Politik machen lassen. Yeshurun vertritt deshalb das von Yesh Gvul unterstützte Konzept des »selective refusal«, der selektiven Verweigerung: Wenn Israel von außen angegriffen wird, stehen die Reservisten ihren Mann zur Verteidigung des israelischen Staates; wenn dieser selbst zum Aggressor wird, vor allem gegenüber der palästinensischen Bevölkerung im eigenen Land, berufen sich die Refuseniks auf ihr Gewissen. Yeshurun: „Der Grund für mich, nicht in Palästina zu dienen, ist ein moralischer.“ (siehe auch nachfolgendes Interview)

Wer im aktuellen Bürgerkrieg den Kriegsdienst verweigert, muss Repressalien auf sich nehmen. Auf die Befehlsverweigerung erfolgt die Vorführung vor ein Militärgericht. Von einer gerichtlichen Verhandlung kann dabei keine Rede sein. Die Refuseniks können sich keinen Anwalt nehmen. Es gibt keinen Richter und keine Jury. Der Richter ist ein Offizier, der einen Sekretär zur Seite hat. Omry Yeshurun: „Du hast nichts zu sagen und du bist natürlich immer schuldig. Das Ende steht schon am Anfang fest: Man wird zu Gefängnis verurteilt.“

Im Militärgefängnis wird den Reservisten meist respektvoll begegnet. Die Militärs behandeln ihresgleichen anders als die (wenigen) Totalverweigerer. Weder verbale Aggressionen noch Schikanierungen oder gar körperliche Übergriffe kommen laut Yeshurun vor. Außer dem Verlust des Einkommens während der Haft haben die Betroffenen kaum materielle Nachteile zu befürchten. Anders sieht es jedoch mit den immateriellen Folgen aus. Die Refuseniks werden zwar (bis auf wenige linke Zeitungen) von den israelischen Medien überwiegend totgeschwiegen, aber wenn es doch mal um sie geht, dann hagelt es moralische Vorwürfe und Kritik. Dann heißt es, sie seien undemokratisch, weil sie sich aus zweifelhaften moralischen Gründen nicht an die geltenden Gesetze hielten, dann wird ihnen vorgeworfen, die eigenen Kameraden und den Staat als solchen im Stich zu lassen und damit Verrat zu üben. Es wird sogar angemahnt, dass gerade in Kriegssituationen die »Moralischen« als Korrektiv gegen Auswüchse in der Armee bleiben müssten oder es heißt, dass die Politik sich aus der Armee raus zu halten habe und das spezielle militärische Ethos in Israel hoch gehalten werden müsse.

Omry Yeshurun hält dem seinen moralischen Standpunkt und die politischen Überzeugungen der Bewegung Yesh Gvul entgegen: „Mit Demokratie hat das, was der Staat Israel in den besetzten Gebieten macht, nichts zu tun, es ist geradezu undemokratisch, repressiv gegen Minderheiten vorzugehen.“ Es sei eine politische Entscheidung des Staates, Krieg zu führen oder eine Friedenspolitik zu betreiben. Hinzu komme, dass die Politik und die Armee in Israel schon lange verzahnt seien. Die Armee fälle oft mehr politische Entscheidungen als die Exekutive. Als »Moralischer« in der Armee zu bleiben, um Schlimmeres zu verhindern, sei eine Illusion, denn die Eigendynamik der Situation sei oft stärker als der einzelne. Omry Yeshurun ist sicher, dass seine Freunde in der Armee wissen, dass er auch für sie verweigert.

Ob die Verweigerung des Kriegsdienstes ein Schritt in Richtung Frieden ist kann Omry Yeshurun nur hoffen. Die Refuseniks und Yesh Gvul versprechen sich von einer steigenden Zahl an Kriegsdienstverweigerern einen wachsenden Druck auf die israelische Regierung, deren momentanen Kurs zu ändern. Zu hoffen ist zudem, dass die Friedensbereitschaft von israelischen Soldaten und Reservisten auch die Extremisten unter den Palästinensern dazu bewegen kann, auf ihre verheerenden Selbstmordattentate zu verzichten. Das könnte dann auch militanten Rabbis den Wind aus den Segeln nehmen. Als Teil des »anderen Israel«, das sich für eine politische Lösung des Konflikts und ein Ende der unmenschlichen Besatzungspolitik ausspricht, sind die Refuseniks jedenfalls eine ernstzunehmende politische Kraft.

Weitere Informationen über die Refuseniks und ihre Organisation: www.yesh-gvul.org

Ich bin kein Besatzer, Punkt

von Uri Ya‘acobi

Uri Ya‘acobi hat zusammen mit anderen Oberstufenschülern in einem offenen Brief angekündigt, dass er an der von der israelischen Armee durchgeführten gewaltsamen Besetzung der palästinensischen Gebiete nicht teilnehmen werde, auch dann nicht, wenn er wegen der Verweigerung des Militärdienstes mit langen Gefängnisstrafen rechnen muss. Der Text erschien in zwei israelischen Zeitungen, in Ha‘aretz am 18. August (gekürzt) und in Ma‘ariv, am 22. August 2002 (vollständig). Er hat folgenden Wortlaut:

In zwei Tagen werde ich nicht in die Armee eintreten. Ich werde zur Kaserne fahren, werde zusammen mit allen anderen Wehrpflichtigen den Bus besteigen und wenn wir bei der Einberufungsstelle in Tel Hashomer den Bus verlassen, dann werde ich, im Gegensatz zu den anderen, meine Einberufung verweigern, ich werde mit großer Sicherheit ins Gefängnis geschickt werden. Im Gefängnis werde ich zwei der Mitunterzeichner des »Briefs der Oberstufenschüler« treffen – Yoni Yechezkel und Dror Boimel. Diese zwei wurden schon in den letzten Wochen inhaftiert – wegen ihrer Verweigerung der Einberufung. Sie, wie ich – und wie sich herausstellte viele andere Israelis – verstehen, dass dieser Krieg, den der Staat Israel in den 1967 besetzten Gebieten führt, kein Krieg der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis ist (genauso wenig wie viele andere Kriege, die im Laufe der Geschichte geführt wurden).

Wenn wir in den ausländischen Medien Berichte über das Wüten der israelischen Panzer in den Straßen der palästinensischen Städte hören (aus irgendwelchen Gründen ist das sehr selten Teil der israelischen Nachrichten), dann hören wir dennoch nicht die volle Wahrheit. Die traurige Wahrheit ist, die militärischen Aktionen beschränken sich nicht auf Panzereinsätze und die Zerstörung ziviler Infrastruktur, es werden nicht nur Ambulanzen aufgehalten und schwangere Frauen an Straßensperren abgewiesen, es geht nicht nur einfach um Gleichgültigkeit gegenüber der palästinensischen Bevölkerung: Unsere Soldaten befinden sich in schwierigen Situationen, manchmal mag es auch aus Versehen geschehen, aber sie töten Kinder und alte Menschen, die sicher in keiner Weise etwas mit terroristischen Aktivitäten zu tun haben; sie zerstören die Häuser ganzer Familien und begehen andere Verbrechen, für die »Terrorismus« die treffendste Bezeichnung ist. All dies sind unverzeihliche Taten, an denen meine Freunde und ich unsere Teilnahme verweigern. Diese Taten sind ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Kein Grund auf der Welt, und sicher auch nicht der Wunsch ein weiteres Stück Land zu kolonisieren, verwandelt diese Verstöße in moralisch zu rechtfertigende Taten, genausowenig wie die terroristischen Anschläge gegen Israel richtig oder moralisch zu rechtfertigen sind.

Ich weiß nicht, ob die palästinensische Führung Frieden will, ich weiß nicht, ob die Palästinenser auf ewig arm und diskriminiert bleiben wollen (es ist schwer vorstellbar, dass sie das wollen könnten). Eines weiß ich aber, die Palästinenser wollen nicht, dass wir ihre Besatzer sind. Ich weiß, sie wollen den Kriegszustand nicht, sie wollen kein ständiges Blutvergießen erleben. Ich weiß, nicht sie sind es, die uns zwingen, sie zu besetzen, es sind nicht sie, die uns in Besatzer verwandeln. Das machen wir recht gut alleine, ohne ihre Hilfe. Ich bin nicht stolz auf mein Volk. Ich bin nicht stolz auf mein Land. Ich bin nicht stolz auf die Taten, die im Namen meiner Sicherheit verübt werden. Ich bin nicht stolz darauf, wegen meiner Weigerung in einer Besatzungsarmee Dienst zu tun, ins Gefängnis zu müssen (und ich bin auch überhaupt nicht froh darüber, nun eine Chance zu haben für meine Überzeugung zu leiden). Stolz bin ich, auf die Stimme meines Gewissens zu hören, und ich werde froh sein, wenn mehr Menschen auf das ihre hören werden, und nicht auf ihre Kommandanten.

Übersetzung: Claudia Haydt

Andreas Linder ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als Freier Journalist

Verteidigen Ja, Angreifen Nein

Verteidigen Ja, Angreifen Nein

Andreas Linder im Interview mit den Kriegsdienstverweigerern Omry Yeshurun und Dan Tamir

von Omry Yeshurun, Dan Tamir und Andreas Linder

Andreas Linder: Sie haben nach Beginn der Offensive in den besetzen Gebieten den Dienst in der israelischen Armee verweigert. Warum und was waren die Konsequenzen?

Omry Yeshurun (OY): Ich verweigerte im Januar 2001. Das war noch vor der neuerlichen Besetzung der palästinensischen Städte. Ich verweigerte aus Gründen, die seit über zwei Jahren bestehen und immer noch andauern. Ich bin nicht einverstanden mit der israelischen Politik in den besetzten Gebieten. Ich werde die israelische Politik definitiv nicht mit meinen eigenen Händen umsetzen. Gleich nach der Verweigerung wurde ein militärisches Disziplinarverfahren gegen mich durchgeführt. Nach der Verhandlung wurde ich für 28 Tage im Militärgefängnis Nr.6 inhaftiert.

Dan Tamir (DT): Ich habe im März 2001 den Befehl erhalten, mit ein paar meiner Soldaten für einen kurzen Einsatz nach Samarien, nicht weit von Ramallah, zu kommen. Ich habe meinem Oberst gesagt, dass ich meine Soldaten nicht in einen solchen Einsatz schicken will. Das war meine erste Verweigerung. Dann hat mein Kommandant gesagt, wenn du deine Soldaten nicht schicken willst, dann kommst du selbst. Ich habe gesagt: „Gut, ich werde kommen. Ich bin kein Deserteur.“ Übrigens, wie alle anderen Verweigerer auch: Wir sind keine Deserteure. Ich habe klar gesagt, ich werde kommen, aber ich nehme nicht teil, ich werde keine Uniform in Ramallah anziehen und das Gewehr nicht in die Hand nehmen. Dann habe ich verweigert und wurde inhaftiert, auch 28 Tage in der Offiziersabteilung im Militärgefängnis Nr.6.

Wie viele Soldaten haben seit Beginn der Offensive den Kriegsdienst verweigert?

OY: Seit September 2000 gibt es 150 Refuseniks, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Über Tausend haben ihre Verweigerung öffentlich erklärt.

Sind die Refuseniks ein politischer Faktor in Israel?

OY: Die Refuseniks werden zur Zeit als die extreme Linke wahrgenommen. Sie werden beachtet und sie sind ein politischer Faktor. Wir sind da und wir können mehr werden, wenn sich der Krieg verschärft. Wenn sich die Sharon-Politik weiter nach rechts entwickelt, wird die Zahl der Refuseniks massiv ansteigen.

DT: Ich denke, dass die Aktivitäten gegen eine Besatzung und die Weigerung, an der Besatzung teilzunehmen, sehr politisch sind. Das israelische Militär wird von der Regierung für politische Zwecke missbraucht. Sich diesem nutzlosen Krieg zu verweigern ist eine wichtige politische Handlung.

Wie reagiert denn die israelische Regierung auf die Verweigerungen?

OY: Die israelische Regierung ist natürlich gegen uns. Aber es ist die israelische Armee, die sich um uns »kümmert.«

Nimmt denn Yesh Gvul als Organisation Stellung zur Besatzungspolitik der israelischen Regierung?

OY: Yesh Gvul gibt keine Erklärungen als Organisation ab. Sie bekundet ihre Unterstützung für die Refuseniks und für jeden, der eine Gewissensentscheidung gegen den Militärdienst vorbringt. Allerdings ist klar, dass die Mehrheit der Aktiven von Yesh Gvul der Auffassung ist, dass Israel die besetzten Gebiete räumen soll und dass ein palästinensischer Staat anerkannt werden muss.

Was würde passieren, wenn es noch wesentlich mehr Verweigerer geben würde?

OY: Das Ziel der Refuseniks ist, dass es so viele Refuseniks wie möglich gibt. Die Armee wird ein Problem bekommen, nämlich ihren Dienst in den besetzten Gebieten zu erfüllen. Dieses Problem hat sie schon jetzt und es wird größer werden. Sie wird nicht mehr in der Lage sein, die grausamen Missionen dort zu erfüllen, einige davon aufgeben und die besetzten Gebiete vielleicht wieder ganz verlassen.

DT: Ich bin kein Prophet. 1984 und 1985 musste sich das israelische Militär aus dem Libanon zurückziehen. Niemand wusste genau, was die Ursachen für den Rückzug waren. Erst 1990 hat der ehemalige Generalstabschef, Majorgeneral Moshe Levy, in einem Interview klar gesagt, dass in der höheren Führungsebene des Militärs die Angst vor einer größeren Verweigerungswelle die Hauptursache für die Entscheidung für den Rückzug gewesen sei. Wir wissen also, dass Verweigerung im Libanonkrieg ein Faktor war. Je mehr Soldaten den Dienst in Judäa, Samaria und Gaza verweigern, desto schneller wird eine Entscheidung im israelischen Militär und in der Regierung für das Ende der Besatzung kommen. Das hoffen wir.

Sie praktizieren selektive Verweigerung. In welchen Fällen entscheiden Sie sich für eine Verweigerung, in welchen Fällen sind Sie bereit, im israelischen Militär zu dienen?

OY: Ich werde in der israelischen Armee dienen, wenn Israel in existenzieller Gefahr ist. Ein solcher Grund ist gut genug, um zu dienen und zu kämpfen. In jedem anderen Fall, besonders in der Situation, die wir zur Zeit in den besetzten Gebieten haben, werde ich meinen Dienst nicht ableisten.

DT: Man muss etwas wichtiges wissen über Yesh Gvul: Es bedeutet übersetzt »Es gibt eine Grenze«. Diese Grenze ist zuallererst eine persönliche Grenze des Gewissens. Es geht um die Frage, wozu ein Soldat bereit ist und wozu nicht. Ich bin nicht bereit, an einem unnötigen Angriffskrieg teilzunehmen. Ich werde immer an der Verteidigung und Selbstverteidigung meines Staates und meiner Landsleute teilnehmen. Ich sage Ja zum Verteidigen und Nein zum Angreifen.

Israel am Scheideweg

Israel am Scheideweg

Interview mit Moshe Zuckermann

von Moshe Zuckermann und Connection e.V

Moshe Zuckermann zählt seit Jahren zu den israelischen Persönlichkeiten, die sich für ein Ende der Gewalt und einen Friedensprozess mit den Palästinensern einsetzen. Am 11. Mai 2002 interviewten ihn Rudi Friedrich und Karin Fleischmann für Connection e.V. Das Interview erscheint demnächst in: »Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel – Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung«, Hrsg. Connection e.V., Offenbach, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Grafenau. Mit Genehmigung des Verlags und des Autors veröffentlichen wir vorab Auszüge aus diesem Interview.

Gegenwärtig eskaliert die Gewaltspirale. Um dem ein Ende zu setzen, sprechen Sie davon, dass Israel zuallererst die Okkupation beenden müsse. Welche denkbaren Szenarien sehen Sie für die israelische Gesellschaft?

Ich sehe es als ein Horrorszenario. Israel steht am Scheideweg. Eine finale Lösung des Konflikts stellt für die jüdische Bevölkerung Israels mehr oder weniger eine Entscheidung dar zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Pest und Cholera. Ich will die verschiedenen Szenarien kurz darstellen:

Im ersten Szenario würde Israel die besetzten Gebiete – und hier rede ich vor allem von der West Bank – zurückgeben. Dann reicht es durchaus aus, dass sich 5.000 Hardliner der Siedlerbewegung in der West Bank verschanzen und sagen: „Nur über unsere Leichen.“ Damit käme es zu einer Situation, in der der Staat Israel gefordert wäre, sein Gewaltmonopol gegen die Siedler einsetzen zu müssen, in der unter Umständen Juden auf Juden schießen würden, was eine Spaltung der israelisch-jüdischen Gesellschaft zur Folge hätte. Dieses Szenario birgt zumindest potenziell die Tendenz eines Bürgerkrieges in sich. Ich sage nicht, dass es so kommen muss, aber es ist eine für viele Israelis zu befürchtende Bedrohung.

Sollte sich Israel aber entscheiden, die Gebiete nicht zurückzugeben, was ja bislang der Fall ist, dann gibt es zwei mögliche Varianten für das zweite Szenario:

Eine Variante würde ich als »linke« bezeichnen, die unter anderem von dem Jerusalemer Meron Benvenisti vertreten wird. Er sagt, dass die in den letzten 25 Jahren entstandene Infrastruktur in den besetzten Gebieten im Grunde irreversibel sei. Es sei schlechterdings unmöglich geworden, alles zurückzugeben, da so viel investiert worden sei und in diesen Territorien inzwischen sehr viele Menschen, über 200.000 Juden, lebten.

Die zweite Variante ist die rechtsextreme, die postulierte Nichtrückgabe der Gebiete. Dies würde objektiv bedeuten, dass Israel in einem Dauerzustand der Okkupation und der akuten Gewalt verharrt.

Weigert man sich, die Gebiete zu räumen – unabdingbare Voraussetzung einer jeglichen künftigen Regelung – dann müsste die gesamte palästinensische Bevölkerung in den israelischen Staat integriert werden. Unabhängig davon, ob sich die Palästinenser je auf eine solche Lösung einlassen würden, hätten damit beide Varianten objektiv zur Folge, dass eine binationale Struktur geschaffen würde, dass quantitativ die Verhältnisse binational durchwirkt sind. So hat Israel also, wenn es von zionistischer Warte zum Schlimmsten kommt, letztlich die Wahl zwischen einem potenziellen Bürgerkrieg und einer binationalen Struktur.

Der entscheidende Punkt ist: Damit wären gerade die zentralen Postulate des Zionismus aufgehoben. Alle aufgezeigten Varianten bedeuten für den jüdischen Israeli, der sich als Zionist versteht, dass das zionistische Projekt historisch mehr oder weniger ad acta gelegt wäre.

Das ist der Grund, warum die israelische Gesellschaft in einem Zustand verharrt, in dem keine Entscheidung getroffen wird. Lieber werden Terroranschläge hingenommen, es wird sogar hingenommen, dass das eigene, so hoch gelobte Militär in die West Bank eindringt und sich dort barbarisch gebärdet. Die jüdische Bevölkerung Israels ist eher bereit, dies alles hinzunehmen, als eine historische Entscheidung an dieser Weggabelung zu treffen. Diese muss aber getroffen werden. Es ist eine Entscheidung, die bedeuten könnte, dass das große zionistische Experiment beendet wird, dass die eigene Identität wesentlich zu transformieren ist, dass man sich von nationalen Mythen verabschieden muss, die seit nunmehr über hundert Jahren bestehen.

Wie stellt sich denn die Situation für die Palästinenser dar?

Was für die jüdischen Israelis 1948 die Gründung eines eigenen Staates und somit ihre nationale Emanzipation war, bedeutete für die Palästinenser, ihre Nachbarn, eine Katastrophe. Diese besteht seit nunmehr über fünfzig Jahren fort, nicht nur als Ideologie, sondern als tagtägliche Realität, als eine Degeneration von ganzen Lebenswelten. Sie zeigt sich in Ausbeutung, Verfolgung, Gewalt und Ermordungen. Es ist eine Repression, die nicht nur dann zutage tritt, wenn Blut fließt, sondern auch im alltäglichen Leben, wenn man beispielsweise sieht, wie Menschen im Flüchtlingslager leben.

Daher wird es eine Sache nicht geben: Dass die Palästinenser mit dem Widerstand, dem Guerillakrieg, auch nicht mit dem barbarischen Terror aufhören, solange die Ursache für all diese Aktionen der Palästinenser nicht aus der Welt geschafft ist: die Okkupation. Ich kenne historisch kein einziges Beispiel eines Landes, eines Volkes, das längerfristig bereit war, die Unterdrückung durch ein anderes Kollektiv hinzunehmen.

Die Gewalt ist geprägt von einem massiv handelnden israelischen Militär und den Guerilla- bzw. Terroraktivitäten der Palästinenser. Es kann nicht von einer militärischen Auseinandersetzung die Rede sein, sondern von einer asymmetrischen Situation zwischen einer der stärksten Militärapparate der Welt und einer Befreiungsbewegung, die zwangsläufig auf den Guerillakrieg angewiesen ist.

Kann denn der von der israelischen Regierung forcierte militärische Einsatz die Selbstmordanschläge beenden?

Den Terror der Selbstmordanschläge kann man gar nicht militärisch bekämpfen – gerade wegen seiner Unsichtbarkeit, wegen seiner elastischen Infrastruktur. Das dürfte eigentlich allen klar sein. Das Militär kann zeitweise Stützpunkte des Terrors ausheben, aber nur um in Kauf zu nehmen, dass dabei immer neue Terroristen geschaffen werden. Man kann nur die ökonomischen, mithin sozialen Ursachen des Terrors bekämpfen. Aber auch der palästinensische Terror, so gezielt und durchdacht er eingesetzt werden mag, kann den fortwährenden Zustand einer Jahrzehnte dauernden Okkupation nicht beseitigen. Es gibt keine militärische Lösung für das politische Problem.

Wenn Israel weiterhin ein Okkupationsregime bleibt, dann wird sich der Terror nicht in Wohlgefallen auflösen. Er stellt doch in diesem Fall die Kampfwaffe der Armen, der Unterlegenen, der Verfolgten dar, so brutal und inhuman er an sich sein mag. Bleibt die Situation so, wird Israel für meine Begriffe längerfristig in seiner Existenz bedroht sein. Es kann nicht ewig im Zustand des Krieges existieren.

Israel – eine militarisierte Gesellschaft

Israel ist ein stark militarisiertes Land. Das spiegelt sich ja unter anderem in einer hohen personellen Übereinstimmung des politischen Establishments mit dem Militär wider. Viele Politiker haben eine Karriere in der Armee durchlaufen. Wie drückt sich diese Situation in Israel aus?

Ich glaube, in der Frage ist schon die Antwort angelegt. Der Übergang vom militärischen zum zivilen Bereich ist sehr fließend. Jeder Jugendliche ist wehrpflichtig und erfährt im Militär eine bestimmte Form der Sozialisation zum israelischen Bürger. Im Militär ist eine eigene, viele Bereich umfassende Subkultur entstanden

Darüber hinaus produziert ein nicht zu unterschätzender Teil der israelischen Industrie Rüstungswaren. Die zivile Ökonomie ist mit dem Militär verkettet; die gegenseitigen Interessen werden tagtäglich ausgetragen und gewahrt.

Letzten Endes gründet sich diese starke Stellung des Militärs darauf, dass die Begriffe der Sicherheit und Wehrhaftigkeit von Anbeginn wesentliche Momente der klassischen zionistischen Ideologie ausmachten.

Nun führt die Allgegenwärtigkeit des Militärs ja nicht nur zur sichtbaren Präsenz von Soldaten, zur Durchdringung der Ökonomie, sondern bestimmt auch den Diskurs der Gesellschaft. Indem auf die Anschläge der palästinensischen Seite nur mit Gewalt reagiert wird, ist offensichtlich die militärische Option gewählt worden. Erklärt sich das allein aus der Ideologie des Zionismus und der Erfahrung des Holocaust?

Das Problem ist nicht so sehr darin zu sehen, dass das Militärische mit der Erfahrung des Holocaust und dem damit einhergehenden historischen Angstsyndrom begründet wird, sondern vielmehr, inwieweit es wiederum ideologisiert, fetischisiert, verdinglicht, mithin zum destruktiven Machtinstrument verkommt. Die zweitausendjährige Verfolgungsgeschichte verstärkt natürlich das Selbstverständnis, dass »wir« stark werden und bleiben müssen. Das Problem liegt ja nicht darin, dass der Zionismus nicht das Recht hätte, sich zu wehren, falls er angegriffen würde. Das Problem ist vielmehr darin zu sehen, dass die Ideologie der Sicherheit und Selbstverteidigung gewendet und umfunktionalisiert wurde, und zwar in ein Aggressionsideologem, welches das Militär zwangsläufig zu einem verlängerten Arm der Aggressionspolitik Israels werden lässt.

Die gesellschaftlich homogenisierende Identifikation kann bis heute nur über das Negative geschaffen werden. Das bedeutet mutatis mutandis, dass das Sicherheitsthema immer die Funktion erfüllte, die normalerweise das staatsbürgerliche Bewusstsein oder die Zivilgesellschaft hätte positiv liefern müssen.

Sie wissen ja, es ist das erste Gesetz der Sozialpsychologie: Will man eine Gruppe solidarisieren, will man sie zusammenbringen und festigen, muss man einen äußeren Feind schaffen. Solch ein Feind entstand jüngst bzw. wurde wiederbelebt durch die von den Palästinensern entfachte Intifada. In dem Moment, als die Intifada für Israel eine Bedrohung darstellte, als sie im Alltagsleben Opfer von Terroranschlägen forderte, rückte der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung zusammen. Gerade in der derzeitigen Situation scheinen die inneren Widersprüche und Gegensätze »gelöst« zu sein, da es einen neuen-alten Feind von außen gibt.

Welche Gruppen haben denn in Israel ein Interesse an der Fortsetzung des Krieges?

Es gibt zunächst mal die militärische Elite, die bei Sicherheit fast immer in Kategorien militärischer Gewalt denkt. Selbst wenn es keinen Krieg gibt, argumentiert diese für die Aufrechterhaltung einer (in sich durchaus verständlichen) ständigen Bereitschaft des Militärs, was mutatis mutandis heißt, dass militaristisch gedacht wird.

Es ist aber auch das Militär selbst, das mit der Begründung der Wehrhaftigkeit argumentiert, um vergrößerte Budgetanteile zu erhalten. Als jemand, der lange genug selbst beim Militär war, sage ich, dass es dabei seine Forderungen immer völlig überspannt. Das Militär stellt in Israel eine ausgesprochene Berufssparte dar, mithin eine Option für eine Karriere, die sogar politische Perspektiven eröffnet. Auch die Waffenindustrie hat ein sehr starkes Interesse, dass die Wehrhaftigkeit Israels weiter auf der Tagesordnung steht. Auf keinen Fall sollten wir in diesem Zusammenhang diejenigen vergessen, die aus ideologisch-politischen Gründen die besetzten Gebiete nicht zurückgeben wollen. Das können sie am besten garantieren, wenn kein Frieden eintritt, der Krieg oder zumindest ein Ausnahmezustand aufrechterhalten wird.

Wie werten Sie die Rolle der Hardliner auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite?

Zwischen den israelischen und palästinensischen Fundamentalisten gibt es ein Komplementärverhältnis. In ihrem je eigenen Interesse instrumentalisiert jede Seite die Untaten der anderen und macht sie öffentlich-moralisch zum Politikum. Das würde ich in gewissem Maße sogar für die hohe Politik konstatieren. Nichts kann dem israelischen Ministerpräsidenten Sharon mehr zupass kommen, als die Selbstmordanschläge der Palästinenser. Sie gaben ihm die Möglichkeit, das zu tun, was er seit Jahren will: Die Autonomiebehörde zerschlagen, die Palästinenser niederkämpfen. Wäre es ihm nur von Seiten der USA gestattet worden, hätte er auch Arafat liquidiert und damit alle aktuellen Vorbereitungen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zunächst mal außer Kraft gesetzt.

Auf der palästinensischen Seite stellt sich die Sache ähnlich dar, obwohl es ja kein palästinensisches Militär gibt. Die palästinensische Elite instrumentalisiert das ideologische Interesse für den Befreiungskampf. Sie plant nicht den infrastrukturellen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Aufbau der Gesellschaft, sondern erhält über die militärischen Apparate den eigenen Machtstatus aufrecht. Das gilt ganz bestimmt für Arafat, aber auch für nicht wenige Leute in seinem Umfeld. Die haben die von außen eingeflossenen Gelder vor allem dazu benutzt, die militärische Infrastruktur aufzubauen, wie auch die Gewaltapparate für den innerpalästinensischen Gebrauch. Darüber hinaus gibt es auch bei den Palästinensern eine durch den nun schon lange andauernden militärischen Widerstand gestählte und geschärfte Militärelite, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hat.

Das heißt, allein aus dieser Perspektive heraus gibt es einen komplementär verschwisterten Interessenverbund, der sich dahin ausgewirkt hat, dass die hohe Politik auf beiden Seiten bislang eher eine Politik des Machterhalts ist als eine Politik der Versöhnung und Konfliktbeilegung.

Internationale Interessen und Handlungsoptionen

Es ist auch diskutiert worden, ob eine internationale Friedenstruppe sozusagen handstreichartig für Ruhe in Nahost sorgen könnte. Inwieweit kann Ihres Erachtens internationaler Einfluss der USA oder der Europäischen Union zur Beendigung des Krieges und Konfliktes führen?

Der entscheidendere Punkt ist doch: Israel ist eine der stärksten Militärmächte der Welt. Eine von außen oktroyierte, per Gewalt durchgesetzte Lösung würde – zumindest tendenziell – bedeuten, dass der Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird.

Wir müssen uns aber zunächst fragen, ob denn die USA oder die Europäische Union überhaupt ein ernsthaftes Interesse daran haben, den Konflikt zu lösen. Die immer wieder zu hörende Rhetorik einer vermeintlich amerikanisch-israelischen Gesinnungsgemeinschaft beruht meines Erachtens auf einer Täuschung. Man muss sich von all den diesbezüglichen Slogans der USA verabschieden. Es geht den USA nicht um den Kampf für Menschenrechte, den Kampf für Demokratie und seit dem 11. September den so genannten »Krieg gegen den Terror«. Meines Erachtens geht es vielmehr um die Weichenstellung für die Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts, in dem die USA auch weiterhin eine große wirtschaftliche Rolle spielen werden.

Unter diesem Gesichtspunkt betreiben die US-Amerikaner eine Politik der hegemonialen Einflussnahme. Neben der Präsenz der NATO im Balkan und neben den Aktivitäten der USA in Südamerika betrifft das vor allem zwei Gebiete: die Golfregion und Zentralasien.

Ich will hier nur auf die Golfregion eingehen. Bush senior hatte im Zuge des Krieges des Irak gegen den Iran zunächst Saddam Hussein mit aufgebaut und bewaffnet. Anfang der 90er Jahre, als sich herausstellte, dass Saddam Hussein den US-amerikanischen Interessen entgegen handelte, wurde dieser schlagartig zum neuen »Hitler« erklärt und Krieg gegen ihn geführt. Was der Senior angefangen hatte, könnte der Junior zu Ende führen wollen.

Die USA werden sich daher nur dann in den Nahostkonflikt einmischen, wenn es ihren geopolitischen Interessen konkret entspricht. Es ist ihnen letztlich ziemlich egal, ob die Menschen im Nahen Osten ausbluten oder nicht. Schon während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion wurde der Nahe Osten wiederholt zum Experimentierfeld für die Erprobung neuer Waffenmaschinerien gemacht. Wenn es aber im Interesse der USA liegt, könnten sie durchaus Israel unter starken ökonomischen und politischen Druck setzen.

Was meinen Sie mit starkem ökonomischen und politischen Druck?

Ich gehe z.B. davon aus: Bei einem totalen Boykott Israels, das Israel ins ökonomische Matt setzte, mithin ans existenziell Eingemachte ginge, würde Druck von der israelischen Bevölkerung kommen.

Aber in anderen Ländern, wie in der Bundesrepublik Jugoslawien mit Serbien und Montenegro, hat das über Jahre eher dazu geführt, dass sich die Bevölkerung zusammengeschlossen hat und das Regime gestärkt wurde. Sähe das in Israel wirklich anders aus?

Man kann gerade in einer globalisierten Gesellschaft, gerade in einer Gesellschaft, die so stark vom Export abhängig ist wie Israel, durch einen Boykott Druck erzeugen. Israel könnte aber auch schon politisch dadurch unter Druck gesetzt werden, wenn die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat Israel die Unterstützung entziehen würde, mitunter wenn gegen Israel gerichtete Beschlüsse mit zusätzlicher Zustimmung der USA und der Europäer gefasst werden würden. Spätestens dann, meine ich, geriete Israel in Zugzwang, wenn es keinen politischen Selbstmord begehen wollte.

Unter den israelischen Linken in Israel ist die Frage eines Gesamtboykotts strittig. Die Geister scheiden sich, ob eine solche Initiative aus Israel oder von außen kommen muss. Aber man ist sich sehr wohl im Klaren, dass es objektive Möglichkeiten gibt. Es stimmt wohl, dass sich die Israelis ideologisch verschanzen, viele auch den beliebten Spruch »Die ganze Welt ist gegen uns« leichtfertig benutzen. Aber wenn es wirklich ernst wird, es eine wirklich bedrohliche wirtschaftliche Rezession gäbe, die die Lebensgrundlagen zerstörte: Dann würden, meine ich, viele zur Vernunft kommen.

Kritik an Israel = Antisemitismus?

In Deutschland wird eine intensive Debatte darüber geführt, ob eine Kritik an der israelischen Politik per se auch antisemitisch ist oder doch zumindest den latent vorhandenen Antisemitismus schürt. Wie stehen Sie dazu?

Wo es Antisemitismus gibt, das Paradigma des rassischen Vorurteils, das im Nationalsozialismus in der Shoah kulminierte, muss er ganz unabhängig vom Nahostkonflikt permanent und unnachgiebig bekämpft werden.

Aber sehen Sie, linkes Denken ist für mich ohne eine emanzipative Ausrichtung nicht denkbar. Die Kategorie der Emanzipation muss danach überall in der Welt, in jeder Gesellschaft, zu jedem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte anwendbar sein. Im Verhältnis zu Palästina z. B. präsentiert sich Israel als ein Land brutaler Repressionen und Unterdrückung, zumindest in den letzten 33 Jahren. Und wenn dem so ist, muss man in Begriffen der universellen Kategorie der Emanzipation sagen: Jede Linke auf der Welt – auch eine deutsche – hat das gute Recht, Israel unter diesem Gesichtspunkt zu kritisieren. Ich werde mir als Linker die Kritik an diesem Zustand von niemandem verbieten lassen, und es bleibt sich für mich gleich, ob ich nun die Sache in Berlin, in Jerusalem oder in New York vortrage.

Ich glaube, das Dilemma liegt nicht in der Frage, ob die deutsche Linke das Recht hat, Israel zu kritisieren. Entscheidender ist, in welcher Absicht kritisiert wird; ob sich in die Kritik Elemente einschleichen, die sich als zutiefst anti-emanzipativ erweisen und mit denen die Kritik lediglich instrumentalisiert wird.

Prof. Dr. Moshe Zuckermann ist Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv und lehrt am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas. Deutschsprachige Veröffentlichungen sind unter anderem: Gedenken und Kulturindustrie, Berlin und Bodenheim 1999; Zweierlei Holocaust – Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998; Kunst und Publikum – Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2002.

Kampf gegen den Terrorismus?

Kampf gegen den Terrorismus?

Worum es bei der jüngsten Konflikteskalation geht

von Rainer Zimmer-Winkel

Der lange Schatten des 11. September und die sich daran entzündende internationale Debatte um den »Kampf gegen den Terrorismus« liefern der israelischen Regierung unter Ariel Sharon den willkommenen Rahmen und das propagandistische Instrumentarium für ihre rüde Herr-im-Hause-Politik gegenüber den Palästinensern. Nach Rainer Zimmer-Winkel handelt es sich aber im Wesentlichen um eine konsequente – und fatale – Fortsetzung der schon von Ehud Barak initiierten Anstrengungen, die unvermeidlichen schmerzhaften Kompromisse hinauszuzögern, um den Traum von Groß-Israel vielleicht doch nicht aufgeben zu müssen.
Wer einmal in den letzten Monaten den Amtsitz von Yassir Arafat, dem Ra’is der Palästinensischen Autonomiebehörde und palästinensischen Präsidenten, besucht hat, wird in der Erinnerung versucht sein, eher an ein surreales Gemälde, an eine kafkaeske Situation zu denken, als an den Besuch bei einem Nobelpreisträger, der an der Spitze der Exekutive eines »Staates im Werden« steht: Die Szenerie wirkt gespenstisch. Vorbei an Panzern, patrouillierende israelische Soldaten rechter Hand, zerbombte Häuser linker Hand, herabhängende Betonteile flimmern in der Hitze…, über leergeräumte Bereiche geht es zum letzen Rest, zum »Amtssitz«, zur Mukatar… Sandsäcke, einige Soldaten, eiserne Schießstände, gespannte Ruhe, freundlicher Empfang, man zwängt sich durch schmale Gänge, vorbei an ein paar Jugendlichen mit Waffen, und gelangt in das Arbeitszimmer des Präsidenten…: Ein Staat im Werden, wie einst die Vision hieß, die mit dem Namen Oslo verbunden ist?

Besatzungsregime im Schatten des 11. September

Der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon hat vor einiger Zeit in einem Interview bekannt, es zu bedauern, daß Arafat 1982 in Beirut nicht getötet worden sei. Drinnen im Bunker spricht der Ra’is vom „Frieden der Tapferen“, zu dem er sich zusammen mit Rabin entschieden habe, und von dem schmerzhaften Weg, der dorthin geführt habe.

Minister der israelischen Regierung fordern offen den „Transfer der Araber“ aus»Erez Israel«, dem Land Israel; Plakate überall in Israel sekundieren: „Transfer = Sicherheit und Frieden“. Ein Vertragspartner wird vor den Augen der Welt zuerst verbal demontiert, dann wird physisch nachgeholt: Mit der Zerschlagung der Autonomie, der Zerstörung ihrer politischen Infrastruktur.

Neun lange Jahre hat die Palästinensische Autonomie (PA) versucht, den Spagat zwischen den eigenen nationalen Aspirationen, den Hoffnungen der eigenen Bevölkerungen und den Forderungen der israelischen Seite auszuhalten. Außer Briefmarken und einem der größten Kabinette der Welt – pro Kopf der Bevölkerung gerechnet – hat die PA heute wenig anzubieten, so die innerpalästinensische Kritik. Die ökonomische Situation der Menschen ist schlechter als jemals zuvor. Nach dem neuesten Bericht von UNICEF1 leiden etwa 20% der palästinensischen Kinder an Unterernährung; die Arbeitslosigkeit läßt sich kaum noch beziffern, liegt aber bei etwa 2/3 der arbeitsfähigen Bevölkerung; Bewegungsfreiheit zwischen Dörfern und Städten gibt es schon lange nicht mehr; das Recht auf freie Religionsausübung ist faktisch aufgehoben; eine palästinensische Polizei, sei es zur Verkehrsregelung oder zur inneren Sicherheit, hat aufgehört zu existieren.

Die Angst vor Terroranschlägen läßt die Fußgängerbereiche in Tel Aviv leer werden. Cafés stellen Wächter vor die Türen, Busbahnhöfe verwandeln sich in Hochsicherheitstrakte ähnlich wie Flughäfen. Und dennoch gelingt es Palästinensern in der Cafeteria der Hebräischen Universität in West-Jerusalem wie auf dem Weg nach Safad/Zefat Sprengstoffanschläge zu verüben.

Wie lautet die Antwort der amtierenden israelischen Regierung, deren Spitze, Ministerpräsident Ariel Sharon, zum Amtsantritt versprochen hatte, binnen hundert Tagen für Ruhe an der palästinensischen »Front« zu sorgen? Die Institutionen der palästinensischen Behörden werden bombardiert (oder gesprengt, wie zum Beispiel in Hebron), besonders die Gebäude der Sicherheitsdienste; die Infrastruktur der besetzten und ehemals teilautonomen Gebiete wird zerstört (wie beispielsweise der Flughafen in Gaza, zahlreiche Straßen und vieles andere mehr); die Städte werden zuerst belagert, eingeschnürt, dann wieder besetzt, tageweise oder wochenlang; Flüchtlingslager werden durchkämmt, Ausgangssperren verhängt, wirtschaftlicher Austausch wird unterbunden; Tausende werden verhaftet (oder genauer: einfach festgesetzt); unzählige Olivenbäume werden vernichtet, Äcker verwüstet – und nicht zuletzt wird in gezielten und geplanten Aktionen politisches Führungspersonal der palästinensischen Seite ermordet (»extralegale Hinrichtungen«). Gerade diese letzte Maßnahme ist, jenseits ihrer moralischen und völkerrechtlichen Dimension, ein probates Mittel, Kompromißbereitschaft und Verhandlungswillen auf der palästinensischen Seite dauerhaft zu schwächen und die militanten und gewaltbereiten Gruppen unter Zugzwang zu setzen.

Ariel Sharon, ein israelischer Politiker mit einer langen und zum Teil außerordentlich blutigen Biographie, hat in seinem Land zwei Ehrentitel (oder Spitznamen): »Vater der Siedlungen« und »Bulldozer«. Beide Namen werfen ein signifikantes Licht auf die politische Persönlichkeit des Regierungschefs, beide Begriffe geben auch Hinweise darauf, was dieser Mann will. Die zionistische Landnahme, das Projekt der Errichtung eines jüdischen Staates im historischen Palästina, ist für ihn noch immer nicht abgeschlossen. Träumt er also weiter von einem »Groß-Israel«, wie es einige Falken von den rechtsnationalistischen und extremen Gruppen in seiner Regierung wünschen? Oder ist er so pragmatisch, die demographischen und politischen Wirklichkeiten anzuerkennen und verzögert er nur das auch ihm Unvermeidliche? Will er ein »Palästina«, das den Namen Staat trägt, ohne die Vorraussetzungen dafür zu erfüllen, verschiedene Bantustans also, Enklaven, die jederzeit abzuschließen wären?

In seiner Rede an die Nation vom 21. Februar 2002 schlug Sharon sog. Pufferzonen um die palästinensischen »Autonomiegebiete« vor, die Israels Sicherheit gewähren sollten. Die so entstehenden palästinensischen »homelands« böten – umgeben von der israelischen Armee – den enormen Vorteil, daß die Siedlungen nicht aufgegeben werden müßten, erhielte eine solche Regelung die Zustimmung der palästinensischen Seite. Ohne genau angeben zu können, was sich dann als »Staatsgebiet« Palästinas herausstellen würde, dürfte es sich um ein Gebiet etwa in der Größenordnung von 40% der Gebiete handeln – 40% von 22% des Mandatsgebietes. Im Kern der Auseinandersetzung geht es deutlich um die Frage, ob es in Israel eine politische Mehrheit dafür gibt, dem Staat im eigenen Selbstverständnis (endlich) anerkannte Grenzen zu geben und die Nationalbewegung der Palästinenser nicht nur als Erfüllungsgehilfen der eigenen politischen Bedürfnisse anzusehen, sondern als gleichberechtigten Partner.

Sharon und seiner Regierung scheint es im Zuge der internationalen und insbesondere us-amerikanischen Debatte nach dem 11. September gelungen zu sein, einen Konnex zwischen der Bekämpfung integrationalistischer islamischer Strömungen und der Besetzung Palästinas durch die eigene Armee herzustellen. Dabei konnte Israel ohne Zweifel an tief sitzende, wenig artikulierte, aber dennoch wirkmächtige Vorbehalte, besonders in den USA gegenüber den Palästinensern und ihrer politischen Spitze, Yassir Arafat, anknüpfen. Der PLO, als einer der (politisch) erfolgreichsten Befreiungsbewegungen im Zuge der Dekolonisierungsbewegung, war es zwar gelungen, weitgehende internationale Anerkennung zu finden; in den Vereinigten Staaten jedoch blieb ihre Position immer schwächlich – ein Umstand, der es Georg W. Bush sehr erleichtert hat, seine unausgewogene, kurzsichtige (und an den nicht erreichten Idealen seines Vaters orientierte) Politik zu realisieren.

Intifada und »Islamischer Terrorismus«

Welchen Hintergrund aber hat die sog. Intifada II, die Jerusalem- oder Al-Aqsa-Intifada? Was verbindet, was trennt sie von der Debatte um den sog. islamischen Terrorismus? Als am 28. September 2000 der damalige Oppositionschef Ariel Sharon in Begleitung Tausender Sicherheitskräfte seinen »Besuch« auf dem Haram as-Sharif, dem sog. Tempelberg, machte, verstieß dieser Besuch nicht allein gegen die orthodox-religiöse Anordnung, derzufolge Juden das Betreten dieser Stätte untersagt ist, liefen sie doch Gefahr, den Ort des antiken Allerheiligsten zu betreten; er erweckte vor allem – sicher bewußt und absichtsvoll – den Eindruck, diese heilige Stätte des Islam anzutasten.

Die auf diesen Besuch folgenden Unruhen waren ungleich heftiger als die bei Öffnung des sog. Tunnels wenige Jahre zuvor schon blutig ausgebrochenen. Innerhalb zweier Monate starben 212 Palästinenser, nicht zuletzt aufgrund völlig unangemessener, auf Eskalation statt auf Deeskalation angelegter Reaktionen der israelischen Sicherkräfte auf die Proteste der Palästinenser. Eine Reihe von Beobachtern, auch in Israel, sah in den Unruhen und der israelischen Reaktion eine gerade Linie seit dem Ende der Camp-David-II Verhandlungen wenige Monate zuvor.2Nachdem es dort Barak gelungen war – nicht zuletzt mit Hilfe des US-amerikanischen Präsidenten Clinton –, das Ende oder Scheitern des hastig und schlecht vorbereiteten Gipfels in die alleinige Verantwortung Arafats zu schieben, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die angespannte Stimmung explodieren würde.3 Denn damit begann eine Kette von Maßnahmen, die zum Ziel hatten, nicht allein Arafat zu diskreditieren, sondern in der israelischen Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, das Land habe auf der »anderen Seite« keinen Partner für Frieden mehr.4 Sharon hat diese Linie konsequent fortgesetzt und mit seinem unseligen Vergleich zwischen Arafat und Saddam Hussein den Höhepunkt eines politischen Verbalattentats erreicht.5 Psychologisch wurde damit das Fundament dafür gelegt, daß heute in Israel zwei Drittel der Menschen Frieden wollen, aber zugleich eine ähnlich hohe Zahl hinter der »harten« Politik der Regierung Sharon steht. Die (internationale) Debatte um den sog. Kampf gegen den Terrorismus lieferte dazu den willkommenen Rahmen und das nötige Vokabular.Mit dem Besuch Sharons auf dem Haram/Tempelberg wurden die Möglichkeiten einer symbolischen Politik erneut in ihrer deutlichsten Form vorgeführt. Was als Besuch tituliert war, wurde als Angriff wahrgenommen: Jahrelange Vertröstungen der nationalen palästinensischen Aspirationen, die hinausgeschobene Staatsgründung, die intensivierte Siedlungstätigkeit,6 die ständig wachsende Zahl schikanöser Checkpoints, der sinkende Lebensstandard…, all das stieß zusammen mit der brutalen Antwort der israelischen Armee auf die ersten Proteste gegen den Besuch: Das Pulverfaß explodierte.Diese Entwicklungen betrachteten die militanten Kräfte auf palästinensischer Seite als Grund für einen Strategiewechsel, in dessen Folge sich das Verhältnis der Opfer von sieben getöteten Palästinensern auf einen getöteten Israeli in den ersten zwei Monaten des Aufstandes veränderte. Lag das Verhältnis im Jahresdurchschnitt 2001 noch bei drei zu eins, sank es Anfang 2002 weiter auf zwei zu eins.7 In dieser Logik der Gewaltopfer und mit Blick auf den im Mai 2000 erfolgten israelischen Rückzug aus dem Libanon, den viele Palästinenser auch als einen Sieg der Widerstandsstrategie der Hisbollah ansahen, war die Entscheidung für die zweite Intifada also richtig. Die massiven Ansehensverluste, die Arafat und seine Fath-Bewegung in den ersten Monaten der Intifada II hinnehmen mußten, führten dazu, daß sich mit den Al-Aqsa-Brigaden auch Fath-nahe Gruppierungen am militärischen Widerstand gegen die israelische Politik beteiligten und damit immer weitere Teile der palästinensischen Gesellschaft in eine Spirale von Gewalt und Destruktion hineingezogen.8

Blick aus einiger Distanz

Überblickt man/frau die inzwischen fast 24 Monate der Intifada II, so läßt sich relativ leicht eine Politik ausmachen, bei der Phasen relativer Ruhe in aller Regel durch spektakuläre Aktionen Israels zu Ende gingen. Das prägnanteste Beispiel ist die Bombardierung eines Wohnhauses in Gaza am 23. Juli 2002, bei der neben dem Führer des militärischen Arms der Hamas-Bewegung, Salach Schehade, weitere 14 Menschen durch eine 1.000 kg-Bombe ums Leben kamen. Die Aktion mitten im einem dicht bebauten Wohnviertel im Norden von Gaza-Stadt erfolgte nur Stunden nachdem sich durch Presseberichte abzeichnete, daß es eine reelle Möglichkeit für ein Abkommen zwischen den verschiedensten palästinensischen Fraktionen (einschließlich Hamas und Fath) geben könnte, das zu einer Art Waffenstillstandsangebot hätte führen können und zu einer Einstellung von Angriffen auf Zivilisten im israelischen Kernland. Hierher gehören auch, neben vielen weiteren Beispielen, die Ermordung von Abu Ali Mustapha (PFLP) im August 2001 oder der groß angelegte Angriff auf die Autonomiebehörde im Frühjahr 2002, nachdem der Arabische Gipfel in Beirut den Vorschlag Saudi Arabiens akzeptiert hatte: Volle Anerkennung für vollen Rückzug.

Solche israelischen Aktionen verstoßen gegen internationale Konventionen ebenso wie gegen die Prinzipien eines Rechtsstaats und sind auch nicht mehr mit einem legitimen Recht auf Selbstverteidigung oder einem Verweis auf Unzulänglichkeiten oder Fehlentscheidungen einer Seite zu rechtfertigen. Yossi Sarid, Meretz-Politiker und Oppositionsführer im israelischen Parlament, der Knesset, nannte sie in einer Veranstaltung Ende Juli Kriegsverbrechen.9 Mit Notwehr, wie sie von Israel geltend gemacht wird, hat eine Bombe wie die vom 23. Juli nichts zu tun. Israels Existenz steht, anders als die Regierung Sharon behauptet, nicht auf dem Spiel. Zu einem erheblichen Teil schafft sie die Gewalt erst, die sie zu bekämpfen vorgibt. Für jeden Getöteten melden sich neue Kämpfer; zu verlieren haben sie nichts, denn Israel als der Stärkere bietet ihnen keinerlei Perspektive. Aber diese Militäraktionen heizen auch immer wieder die Spirale von Gewalt und Destruktion an, mindern die Chancen auf Deeskalation. Nichts aber ist für den politischen Ansatz, den heute die Mehrheit der israelischen Regierung vertritt, gefährlicher, als Zeichen der Entspannung, als Hinweise auf gewaltfreien, politischen Widerstand. Hier entstünde die eigentliche Bedrohung des Szenarios, das Sharon vorschwebt: Jede Regelung mit den Palästinensern hinauszuzögern, Fakten zu schaffen, auf Zeit zu spielen, um so den notwendigen schmerzhaften Kompromissen, dem Verzicht auf den Traum von Groß-Israel, doch noch entgehen zu können.

Die abstrakte Forderung nach Gewaltverzicht an die Adresse der schwächeren Seite ignoriert allerdings die strukturelle Gewalt der Besatzung und treibt die Menschen in eine immer verzweifeltere Situation. Nicht zuletzt die Politik der gezielten Tötung, wie sie Israel praktiziert, richtet sich gegen alle Chancen, den Konflikt in absehbarer Zeit zu regeln und beiden Völkern eine Zukunftsaussicht in der Region zu geben. Die Verhaftung von politischen Führern – wie zuletzt die von Marwan Barghouti, Mitglied im palästinensischen Parlament und hoher Fath-Funktionär in der West Bank – und ihre drohende Verurteilung zielen darauf ab, jene auszuschalten, die, obwohl noch relativ jung, Erfahrungen aus der ersten Intifada mitbringen und ihr Prestige für einen Abschied von der Gewaltoption einbringen könnten. Dies macht einen Mann wie Barghouti für bestimmte Kräfte in Israel zu einem viel gefährlicheren Gegner als Arafat.

Solange aber in dem Prozeß, der zu einem Ausgleich der Interessen und Bedürfnisse beider beteiligten Völker führen soll und dessen gewaltreduzierte Variante eng mit dem Begriff Oslo verbunden war (ist), das Recht der einen Seite dem Recht der anderen Seite untergeordnet wird – solange also diese koloniale Attitüde weiter Teile der israelischen Regierung wie der Öffentlichkeit nicht zu einem Ende kommt –, solange gibt es keine Perspektive für einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina.

Anmerkungen

1) Vgl. entsprechende Berichte der UNICEF; siehe auch DER SPIEGEL vom 25. Juli 2002: Lage in Palästina: US-Botschafter spricht von humanitärer Katastrophe.

2) Zur Frage der Bewertung von Camp David II vgl. Gresh, A.: Das großzügige Angebot, das keines war. In: Le Monde diplomatique, Juli 2002, S. 18.

3) Nachdem Arafat Barak noch unmittelbar vor dem bevorstehenden Besuch Sharons aufgesucht und ihn vergeblich beschworen hatte, diesen Besuch nicht zu genehmigen, war sein schon durch Camp David-II schwer angeschlagenes Vertrauen endgültig aufgebraucht; möglicherweise wird es die Geschichtsschreibung einmal als einen – den wirklichen – Fehler Arafats darstellen, daß er auf die Provokation Sharons nicht noch stärker und länger deeskalierend zu antworten versuchte.

4) In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Barak schon als Generalstäbler gegen die Osloverträge war und als Innenminister unter Rabin gegen die Oslo-II Verträge gestimmt hatte.

5) Laut Spiegel-online vom 26. August äußerte sich zwischenzeitlich auch der israelische Armeechef Mosche Jaalon entsprechend: Er bezeichnete die Palästinenser als »Krebsgeschwür« und forderte einen endgültigen militärischen Sieg.

6) Siehe dazu die Berichte der Foundation of Middle East Peace: http://www.fmep.org

7) Vgl. Johannsen, M.: Krieg in Palästina. In: Der Schlepper, Nr. 19/Sommer 2002, S. 39-41.

8) Möglicherweise haben diese Kräfte damit – um einen sehr hohen Preis – die Perspektiven des säkularen Teils der palästinensischen Nationalbewegung gewahrt.

9) Briefing für die internationalen Vertreter in Israel, Tel Aviv 29. Juli 2002, eigene Aufzeichnung.

Anmerkung der Redaktion: W&F richtet sich seit Januar 1999 nach der neuen deutschen Rechtschreibung, der vorliegende Artikel weicht hier ab, da der Autor grundsätzlich nur in der alten deutschen Rechtschreibung publiziert.

Rainer Zimmer-Winkel, M.A., Theologe und Politikwissenschaftler, beschäftigt sich seit Mitte der 80er Jahre intensiv mit dem Nahen Osten (Schwerpunkt Israel-Palästina). Er gehört der Nahostkommission von Pax Christi Deutschland an, ist Mitglied im Deutsch-Israelischen AK für Frieden im Nahen Osten (DIAK), Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und arbeitet im Vorstand des Fördervereins Willy Brandt-Zentrum Jerusalem.