Pressefotografie und Kriegs-Realität

Pressefotografie und Kriegs-Realität

Der Gaza-Krieg in FAZ und SZ

von Felix Koltermann

Wenn gewalttätige Konflikte zu Kriegen eskalieren, kommt der massenmedialen Berichterstattung eine wichtige Rolle zu. Dies gilt auch für den Gaza-Krieg, der zum Jahreswechsel 2008/09 über die Nachweihnachtszeit herein brach. Ein elementarer Teil der Berichterstattung war dabei die Pressefotografie. Um die stetige Bedeutungszunahme von Bildern und deren Allgegenwart in den Massenmedien zu beschreiben, ist heute viel vom sogenannten »Pictorial Turn« oder »Iconic Turn« die Rede. Im Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stehen Bilder jedoch selten. Um diese Lücke zu füllen, wurden in einer Produktanalyse die Bildberichterstattung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) und der »Süddeutschen Zeitung« (SZ) über den Gaza-Krieg miteinander verglichen. Der Untersuchung lag die Annahme zu Grunde, dass die Bildberichterstattung eine besondere Form der Wirklichkeitskonstruktion darstellt und mediumspezifische »Bilder« des Gaza-Kriegs zeichnet.

Seit Beginn massenmedialer Berichterstattung haben Bilder in den Printmedien die Funktion von Eye-Catchern. Sie lenken den Blick des Betrachters auf eine Publikation und sollen Interesse wecken. Dabei ist die Visualisierung in den Printmedien heute zu einem eigenen Nachrichtenfaktor geworden. Neu ist die Bedeutungszunahme von Bildern im letzten Jahrzehnt. In der Publikationspraxis zeigt sich dies unter anderem daran, dass sich von 2000 bis 2006 die mittlere Anzahl der Bilder pro Seite erhöht hat (vgl. Grittmann 2008: 227). Dazu kommt, dass einige Medien wie die FAZ dazu übergegangen sind, auch ihre Titelseite zu bebildern. Dies entspricht ganz entscheidend dem Konsumverhalten der Nutzer, wie eine Untersuchung von Müller zeigt. Sie weist nach, dass der Blick auf eine Zeitungsseite ganz entscheidend von Bildern geleitet wird und nur ein kleiner Teil der Betrachter einen Artikel komplett zu Ende liest (Müller 2001: 27).

Funktion von Bildern

Bildern muss in der wissenschaftlichen Analyse aufgrund der im vorhergehenden Absatz skizzierten Bedeutung eine verstärkte Aufmerksamkeit zukommen. Stärker als Text genießen sie beim Rezipienten einen Vertrauensvorschuss. Laut Leifert fungieren sie „[t]rotz aller berechtigter Zweifel (…) als Belege im Sinne von »es ist so gewesen« (…)“ (Leifert 2007: 247). Sie komprimieren die Realität1 und verdichten „Ausschnitte der Realität zu einem enträumlichten und entzeitlichten Gesamteindruck“ (Müller 2003: 86). Das entstandene Produkt kann laut Haller als versinnbildlichter Ausdruck dessen gelten, „was insgesamt das Geschehen ausmacht“ (Haller 2008: 276). Insbesondere bezogen auf die Darstellung von Kriegen und Konflikten haben Bilder nach Ansicht von Link die Funktion, maximale Authentizität herzustellen (vgl. Link 2000: 246). Sie suggerieren journalistische Objektivität und damit auch, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, und werden im Prozess der Bedeutungskonstruktion zur visuellen Evidenz für die geschriebene Geschichte (vgl. Woodward 2007: 12). Dabei können Bilder aufgrund ihrer technischen Beschränktheit sowie der Subjektivität des Fotografen immer nur einen Ausschnitt aus einem Geschehen zeigen.

Fotografie über Kriege

Die visuelle Kommunikationsforschung geht davon aus, dass „[n]ur Kriege, die massenmedial Bildzeugnisse hinterlassen, (…) Kriege [sind], die im Gedächtnis haften bleiben“ (Müller/Knieper 2005: 7). In der gesellschaftlichen Wahrnehmung haben Krisen und Kriege, über die nicht berichtet wird, scheinbar nicht stattgefunden, egal ob dort Menschen zu Tode kommen oder nicht (vgl. Zöllner 2007: 8). Das Besondere der Krisen- und Kriegsberichterstattung ist, dass dort meist über Regionen und Themen berichtet wird, die dem Betrachter und Rezipienten aus eigener Erfahrung unbekannt sind. Umso wichtiger sind Bilder, um Informationen plastisch zu machen. Problematisch ist, dass dem Betrachter das Korrektiv der »Primärerfahrung« fehlt, um die Bilder und Informationen einschätzen zu können. Das heißt, dass »Bilder« über Kriege und Konflikte, die wir in uns tragen, nicht auf eigenem Erleben, sondern auf medial vermittelten Bildern beruhen. Das Realgesicht des Krieges wird damit in der Wahrnehmung der Menschen nach Ansicht von Paul durch das „Deutungsgesicht“ des Krieges ersetzt (vgl. Paul 2004: 477).

Bilder und die Deutungshoheit über Konflikte

Die Berichterstattung ist dabei heute nicht mehr losgelöst vom eigentlichen Konflikt zu betrachten. Der Kampf um die Deutungshoheit des Konflikts wird allem voran in den Medien geführt. Die Art und Weise, wie Medien berichten, trägt zur Verbreitung und Verfestigung spezifischer Narrative bei. Dabei klaffen, insbesondere bezogen auf den Nahostkonflikt, die durch die Medien konstruierte Wirklichkeit des Konflikts und die Realität vor Ort meist auseinander (Dreßler 2008: 192). Die Kriegsparteien versuchen mal mehr, mal weniger strategisch geplant direkt oder indirekt Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen. Durch eine eigene Bildpolitik, die vor allem dadurch ausgeübt wird, dass der Zugang von Beobachtern zum Kampfgeschehen strategisch geregelt wird, beeinflussen die Kriegsparteien gezielt die öffentliche Wahrnehmung der Auseinandersetzung, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene. Insbesondere wenn es, wie im Gaza-Krieg, für Israel darum geht, die eigene Abschreckungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, kommt dem medial vermittelten Bild dieser Fähigkeit eine entscheidende Rolle zu.

Untersuchungsmethode und Fallauswahl

Die Analyse der Bildberichterstattung bezieht sich auf Ansätze der visuellen Kommunikationsforschung. Laut Müller lassen sich primär drei Ebenen der Analyse visueller Produkte unterscheiden: die Produktionsanalyse, die Produktanalyse und die Wirkungsanalyse (vgl. Müller 2003: 13 ff.). Während die Produktionsanalyse den Entstehungsprozess analysiert und die Wirkungsanalyse Wahrnehmung und Rezeptionsformen untersucht, widmet sich die auch für diese Arbeit benutzte Produktanalyse dem veröffentlichten Material. Dabei werden die einzelnen Bilder nach bildimmanenten Kriterien untersucht. Einige Kriterien sind standardisiert, wie beispielsweise Form und Farbigkeit, andere müssen ausgehend vom Bildinhalt für den speziellen Untersuchungskontext neu gebildet werden. Die Medien-Auswahl fokussierte auf zwei Leitmedien der deutschen Qualitätspresse, die FAZ und die SZ, die stellvertretend für das konservative und das liberale Spektrum stehen. Für die vorliegende Analyse wurden alle Ausgaben der FAZ und der SZ untersucht, die zwischen dem 27. Dezember und 19. Januar erschienen.2 Die Untersuchung wurde im Online-Archiv durchgeführt. Das Ergebnis war ein Grundstock von 111 Bildern, von denen 34 auf die FAZ und 67 auf die SZ entfielen.

Ergebnisse der quantitativen Analyse

In einem ersten Schritt wurden die Bilder einer quantitativen Analyse unterzogen. Um die Relevanz der Bilder für die Untersuchungsmedien zu bestimmen, wurden die Bildanordnung und das Erscheinungsdatum im Medium untersucht. Bei der Bestimmung der Bildanordnung im Medium zeigte sich, dass mehr als 50% der Bilder in der FAZ wie in der SZ auf den ersten drei Seiten erschienen waren. Während die SZ hier die Rubriken »Thema des Tages« (auf der Seite 2 zu finden) und »Seite Drei« hat, gibt es bei der FAZ nur die Rubrik »Politik«. Ein Unterschied war bei der Bedeutung der Bilder für die Titelseite festzustellen. Während in der FAZ im Untersuchungszeitraum nur 9% der Bilder auf der Titelseite erschienen, waren es bei der SZ 13%. Der Blick auf das Erscheinungsdatum zeigte, dass außer an drei Tagen in der FAZ und einem Tag in der SZ an allen Tagen Bilder über den Krieg erschienen. Bezüglich der Häufung war jedoch ein Abflauen in der dritten Kriegswoche zu beobachten. Beim Blick auf die Farbigkeit bestätigte sich der allgemeine Trend in der journalistischen Fotografie weg von Schwarz/Weiß. Bei der SZ waren immerhin noch 24% der Bilder in Schwarz/Weiß, bei der FAZ nur 12%.

Zur Feststellung der Herkunft der Bilder und zur Bestimmung des Verhältnisses von Agentur-Bildern zu Material freier Fotografen wurden die Quellen der Bilder untersucht. Hier zeigte sich, dass die SZ auf ein breites Spektrum von insgesamt 14 verschiedenen Quellen zurückgreift. Die Agenturen Reuters und AP zeichnen für 21% bzw. 22% der Bilder verantwortlich, gefolgt von AFP und DPA (15% bzw. 16% der Bilder). Immerhin 4,5% der Bilder stammen von einer freien Fotografin. Bei der FAZ dagegen ist das Spektrum wesentlich schmaler. Die Bilder stammen nur aus 6 verschiedenen Quellen, mit einem Anteil von fast 41% der Bilder von Reuters, was die marktbeherrschende Position dieser Agentur bestätigt. Damit werden die Ergebnisse andere Untersuchungen bezüglich der Dominanz von Agentur-Material bestätigt. Bedenklich ist, dass der Name des Fotografen nicht genannt wird und der Betrachter somit die Herkunft des Bildes nicht zurückzuverfolgen kann.

Ergebnisse der qualitativen Analyse

Für die qualitative Analyse wurden die Bilder in die Kategorien Kleinportraits sowie situativ-journalistische Bilder aufgeteilt. Diese Einteilung wurde notwendig, da die Bilder zu unterschiedliche Charakteristika aufweisen, um sie in einer Kategorie zu fassen. Kleinportraits zeigen meist nur einen Akteur, sind ungefähr briefmarkengroß und können nur nach einem eingeschränkten Kriterienkatalog untersucht werden. Sie werden gerne dazu benutzt, um in Artikeln oder Kommentaren erwähnten Personen ein Gesicht zu geben. Bilder der Kategorie situativ-journalistisch zeigen dagegen eine größere Bandbreite von Situationen aus dem Umfeld des Krieges. Die weitere Analyse wird sich nur auf Bilder dieser Kategorie beziehen, zu der in der FAZ 30 Bilder und in der SZ 48 Bilder gehörten.

Nähe oder Distanz: Die Einstellungsgröße

Um herauszufinden, wie nah der Betrachter an die fotografierten Situationen herangeführt wird, wurden die Bilder nach vier verschiedenen Einstellungsgrößen untersucht. Dazu gehören die Großaufnahme, als kleinst-möglichem Ausschnitt aus einem Ganzen, die Nahaufnahme, die Halbtotale und die Totale als größtmögliche Übersicht über eine dargestellte Situation. Dabei zeigte sich, dass nur die SZ auf die Kategorie Großaufnahme zurückgreift und zwar in 4% der Bilder. Bei der FAZ lag der Schwerpunkt mit 46%, im Vergleich zu 25% der Bilder bei der SZ, auf der Totalen. Daraus lässt sich ableiten, dass die FAZ eher einen etwas zurückhaltenderen Blick auf das Geschehen hat, während die SZ den Betrachter näher heranführt. Die Kategorie Einstellungsgröße lässt sich gut mit der Kategorie Personen/Sachdominanz in Verbindung setzen. Hier wird versucht, die Bedeutung der Darstellung von Personen gegenüber einer rein gegenständlichen Darstellung ermessen zu können. Die Bandbreite reicht dabei von Personen ohne Raumansicht über Sachdominanz mit Personen bis zu rein gegenständlichen Bildern. Dabei zeigte sich, dass die SZ einen wesentlich stärkeren Fokus auf Personen ohne Raumansicht legt als die FAZ (19% der Bilder im Vergleich zu 3%). Die FAZ legt dagegen ein stärkeres Gewicht auf rein gegenständliche Bilder (17% der Bilder). Da rein gegenständliche Bilder weniger emotional sind als Personenabbildungen, verstärkt dies die Tendenz von mehr eingesetzten Totalen bei der FAZ und die Interpretation der Berichterstattung als zurückhaltend und distanziert.

Die geografische Einordnung

Zur geografischen Einordnung der dargestellten Orte wurden die Bildunterzeilen ausgewertet. Neben den für den Konflikt geografisch wichtigsten Regionen Israel, Gaza und Westbank wurden die beiden Cluster Naher Osten und Europa gebildet. Wenn in der Bildunterzeile keine Informationen vorhanden waren, wurden die Bilder als nicht klassifizierbar eingestuft. Hier zeigte sich die begrenzte Aussagefähigkeit der in der Bildunterzeile gegebenen Informationen, da eine genaue Zuordnung über die grobe geografische Einordnung hinaus meist nicht möglich war. Bei der SZ gab es einen etwas größeren Schwerpunkt auf Bilder aus dem Gazastreifen mit 44% im Vergleich zu 37% bei der FAZ, während der Anteil von Bildern aus Israel bei beiden untersuchten Medien ähnlich war. Erstaunlich war, dass fast 25% der Bilder in der FAZ Situationen im Nahen Osten oder Europa zeigten, während es in der SZ nur 10% waren. Nicht klassifizierbar waren in beiden Medien 10% der Bilder. Die geografische Präferenz bedeutet jedoch nicht automatisch eine inhaltliche Aussage. So zeigten viele Bilder aus dem Gazastreifen israelische Soldaten oder Panzer im Einsatz. Somit lassen sich hier allenfalls Tendenzen feststellen. Herauszuheben ist jedoch die Präferenz der FAZ für Bilder aus dem Nahen Osten und Europa.

Akteure im Bild

Um die geografischen und inhaltlichen Prioritäten auszuwerten, wurden neben der geografischen Einordnung auch die dargestellten Akteure bestimmt. Die Gruppen, die gebildet wurden, ergaben sich aus der sichtbaren Funktion der Akteure in den Bildern. Der Hauptunterschied lag zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Diese Einteilung bedeutet nicht, dass auch immer Menschen dargestellt wurden. So stellt ein israelischer Panzer klar die israelische Armee als Akteur dar. Alle Akteure, die nicht klar durch ihr Aussehen oder die Bildinformationen als militärische Akteure gekennzeichnet waren, wurden als Zivilisten betrachtet. Andere Kategorien bezogen sich auf Repräsentanten von Organisationen. Während die verschiedenen zivilen Akteure bei der SZ zusammen 60% der Bilder ausmachten, waren es bei der FAZ nur 38%. Es wurde deutlich, dass mit 38% der Bilder ein Schwerpunkt der SZ auf Zivilisten aus dem Gazastreifen lag. Bei der FAZ waren es nur 13%. Dagegen machten in der FAZ Bilder mit Zivilisten aus anderen Ländern des Nahen Ostens und Europa 15% aus. Im Vergleich zur SZ hatte die FAZ des Weiteren einen stärkeren Schwerpunkt auf gegenständlichen Bildern. 13% waren rein gegenständlich bzw. ohne einen Akteur, doppelt so viel wie bei der SZ. Bilder palästinensischer Kämpfer spielten nur eine geringe Rolle in beiden Medien. Dies lag wahrscheinlich am Bilderverbot der Hamas im Gazastreifen. Bei den publizierten Bildern dazu handelte es sich insofern um Archivbilder, auch wenn diese nicht als solche kenntlich gemacht wurden. Die israelische Armee war in beiden Medien prozentual gesehen gleich stark vertreten. Auch wenn von der Verteilung her die FAZ eine vermeintlich größere Ausgewogenheit zeigte, ist eine deutliche Tendenz hin zur israelischen Armee und rein gegenständlichen Bildern erkennbar. Bei der SZ war dagegen klar ein Schwerpunkt auf Zivilisten aus dem Gazastreifen erkennbar. Erstaunlich ist, dass nur in wenigen Bildern zwei oder mehr Akteure auftauchten.

Bildinhalte und Motivgruppen

Ausgehend von der Untersuchung der dargestellten Bildinhalte wurden Motivgruppen gebildet. Hier zeigen sich die größten Unterschiede in der Bildberichterstattung der beiden untersuchten Medien. Die wichtigste Motivgruppe stellte bei der SZ mit 21% der Bilder materielle Kriegsfolgen dar, gefolgt vom Alltag der Zivilbevölkerung in Gaza in 12,5% der Bilder. Bei der FAZ dagegen war in 20% der Bilder die Kategorie Demonstrationen/Protestveranstaltungen zu finden. Ein Großteil dieser Bilder zeigte Proteste außerhalb der eigentlichen Konfliktregion in Europa und dem Nahen Osten. Dass es keine Bilder von Kampfhandlungen gab, ist mit der weitreichenden Zensur und dem beschränkten Zugang zur Konfliktregion zu erklären. Menschliches Leid in Form von Opfern oder Verwundeten war in der FAZ in keinem Bild zu sehen, bei der SZ in 10% der Bilder. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass in der FAZ die Kategorien »Demonstration«, »Einschlag/Rauchwolke«, »soldatischer Alltag« und »materielle Kriegsfolgen« überwogen. Damit wird ein Bild des Krieges gezeigt, in dem kein menschliches Leid erkennbar ist. Der Protest gegen den Krieg wird dagegen herausgehoben. In der SZ lag der Schwerpunkt der Bildberichterstattung dagegen auf den Inhalten »materielle Kriegsfolgen«, »Alltag der Zivilbevölkerung« in Gaza und »menschliches Leid«. Damit werden die negativen Folgen des Krieges für die Menschen der Region und die Infrastruktur hervorgehoben.

Auswertung der Analyse und Fazit

Die Produktanalyse der Bildberichterstattung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung zeigte deutlich, dass beide Medien eine unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktion des Krieges vorgenommen haben. Damit wurden unterschiedliche »Bilder« des Krieges gezeichnet. Die Vorliebe der FAZ für Totalen und gegenständliche Bilder weist auf einen eher zurückhaltenden und distanzierten Blick auf das Kriegsgeschehen hin. Auf der inhaltlichen Ebene wird dies gepaart mit einem Schwerpunkt von Bildern aus dem größeren Kontext des Krieges, wie z.B. Demonstrationen im Nahen Osten und Europa. Der Krieg an sich wird damit eher als sauberes und technisches Ereignis dargestellt. Die SZ dagegen stellte eher den Krieg an sich als das Problem dar und thematisierte die Kriegsfolgen mit einem starken Fokus auf dem Gazastreifen. Sie war näher dran an dem Menschen und Objekten. Was der Betrachter in der Bildberichterstattung zu sehen bekam, waren verschiedene Abbilder der »Realität« in einem klar definierten Kontext. Keines der beiden untersuchten Medien schaffte es, die auf der Ereignisebene vorherrschende Konflikt-Asymmetrie zu transportieren. Erstaunlich war die fast völlige Abwesenheit ziviler Opfer. Hier zeigt sich in Ansätzen, was Paul als die Bedingung der Rezipierbarkeit von Krieg in den Medien bezeichnet: nämlich die Ästhetisierung und Entzeitlichung der Berichterstattung (vgl. Paul 2004: 11). Die Subjektivität des von den untersuchten Medien konstruierten Kriegsbildes durch die Bildauswahl wurde nicht problematisiert bzw. offen nach außen kommuniziert.

Ausblick – Aufgaben für die Friedens- und Konfliktforschung

Krisen und Konflikte sind heute kaum noch lokal begrenzt zu betrachten. Sie haben sowohl in den direkten Konfliktfolgen als auch in der massenmedialen Auseinandersetzung globale Auswirkungen. Es ist davon auszugehen, dass die über einen Konflikt veröffentlichten Informationen das Vorgehen der Kriegsparteien (in)direkt beeinflussen. Der kommunikationswissenschaftliche Diskurs hat der Bildberichterstattung über den Nahostkonflikt bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Umso wichtiger ist dieses Thema für diese Disziplin, ebenso wie für die Friedens- und Konfliktforschung. Das gemeinsame Interesse der visuellen Kommunikationsforschung und der Friedens- und Konfliktforschung ist darin zu sehen, Prozesse visueller Kommunikation in und über Kriege transparent zu machen und diese Prozesse in Beziehung zum eigentlichen Konfliktgeschehen zu setzen. Während sich die Forschung bisher vor allem mit den Zusammenhängen zwischen PR und Kriegsparteien und den vielfältigen Argumentationsstrategien der Akteure auseinandergesetzt hat, sollte es verstärkt um eine heuristische Betrachtung der veröffentlichten Produkte gehen, unter Einschluss der Bildberichterstattung, sowie eine Rezeptionsforschung um den tatsächlichen Einfluss der Berichterstattung messen zu können.

Literatur

Dreßler, Angela (2008): Nachrichtenwelten – Hinter den Kulissen der Auslandsberichterstattung. Bielefeld.

Grittmann, Elke (2008): Nachrichtenfotografie zwischen Publikumsorientierung und Kostenzwang, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.221-237.

Grittmann, Elke & Amman, Ilona (2008): Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie, in: Grittmann, Elke & Neverla, Irene (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln, S.296-325.

Haller, Michael (2008): Scheinbar authentisch, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Kriegs- und Krisenberichterstattung: Ein Handbuch. Konstanz, S.271-277.

Leifert, Stefan (2007): Bildethik: Theorie und Moral im Bildjournalismus der Massenmedien. Paderborn.

Link, Jürgen (2000): »DIESE BILDER!« – Über einige Aspekte des Verhältnisses von dokumentarischen Bildmedien und Diskurs, in: Jäger, Margret & Grewenig, Adi (Hrsg.): Medien im Krieg: Holocaust, Krieg, Ausgrenzung. Duisburg, S.239-252.

Müller, Marion G. (2001): Bilder – Visionen – Wirklichkeiten, in: Knieper, Thomas & Müller, Marion G.: Kommunikation Visuell. Köln, S.14-24.

Müller, Marion G. (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation: Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz.

Müller, Marion G. & Knieper, Thomas (2005): Krieg ohne Bilder?, in: dies. (Hrsg.): War Visions. Bildkommunikation und Krieg. Köln, S.7-21.

Paul, Gerhard (2004): Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Paderborn.

Woodward, Michelle M. (2007): Photographic Style and the depiction of the Israeli-Palestinian Conflict since 1948. Jerusalem Quarterly 31 (2007) S.6-21.

Zöllner, Oliver & Deutsche Welle (2007): »Sagt die Wahrheit: die bringen uns um!« – Zur Rolle der Medien in Krisen und Kriegen. Berlin.

Anmerkungen

1) Realität wird hier als Synonym für Geschehnisse, die in der Erfahrungswelt der Menschen passiert sind, verwendet. Wirklichkeit wird benutzt, wenn es um die Beschreibung bzw. Konstruktion des Abbildes der Realität in den Medien geht.

2) Es wurde der Tag vor Beginn des Krieges wie der Tag nach Kriegsende, an dem zum letzten Mal ausführlich berichtet wurde, als Untersuchungszeitraum gewählt.

Felix Koltermann ist Absolvent des Masterstudiengangs »Peace and Security Studies« des IFSH in Hamburg und promoviert an der Universität Erfurt zu fotojournalistischer Krisen- und Kriegsberichterstattung. Seine Forschungsschwerpunkte sind konfliktsensitive Berichterstattung, Fotojournalismus und zivile Konfliktbearbeitung. Felix Koltermann ist aktiv im Peace and Conflict Journalism Network PECOJON.

Sturm auf die Mavi Marmara

Sturm auf die Mavi Marmara

Eine Reise und ihre Folgen

von Matthias Jochheim

Wohl selten hat eine einzelne Aktion für Frieden und für Solidarität mit einer bedrängten Bevölkerung eine so rasche und effektive Wirkung gehabt wie der Versuch von über 600 Aktiven aus 30 Ländern, auf Schiffen und Booten den 1,5 Millionen Menschen im abgeriegelten Gaza-Streifen zu Hilfe zu kommen, indem sie die umfassende Blockade durchbrechen.

Dabei ging es nicht nur um die konkrete Unterstützung durch 10.000 Tonnen dringender Bedarfsgüter und Baumaterialien, sondern auch um ein Zeichen des Protests und zivilen Ungehorsams gegenüber der völkerrechtswidrigen Kollektivbestrafung der Palästinenser dort, die von Israel im Zusammenwirken mit Ägypten und mit Duldung der westlichen Verbündeten nun schon seit 2007 aufrecht erhalten wird. Die Menschen in Gaza sind traumatisiert durch wiederholte Militärinvasionen, durch dauernde Bombardierungen aus der Luft, durch ein fast vollständiges Ausreiseverbot – Maßnahmen, die kaum durch das Sicherheitsbedürfnis Israels zu legitimieren sind, zumal ein bis dahin über Monate weitgehend eingehaltener Waffenstillstand im November 2008 scheiterte, als die israelische Armee ihn massiv verletzte.

Wir, die Aktiven auf der Mavi Marmara und den anderen Schiffen, wussten uns also im Einklang mit dem internationalen Recht bei unserem Versuch, den freien Zugang und die Versorgung mit Lebensnotwendigem mit unserer kleinen »Flotilla« demonstrativ und durch eigene Initiative zu ermöglichen. Und offenbar hat auch die internationale Öffentlichkeit diese Legitimität wahrgenommen, bis hin zum UN-Sicherheitsrat. Sicher nicht ohne Einflussnahme ihrer westlichen Verbündeten sah sich die israelische Regierung genötigt, die Blockade zunächst einmal zu »lockern«, ein Begriff, der aus dem Strafvollzug für Hafterleichterungen geläufig ist.

Neun Mitreisende haben diesen Erfolg mit ihrem Leben bezahlt, getötet sämtlich durch den Schusswaffengebrauch des israelischen Kaperungskommandos. Rasch hat eine Medienkampagne eingesetzt, um die Deutungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen und die Interpretation der Angreifer, sie seien die wahren Opfer, durchzusetzen.

Zum Beispiel der Artikel „Verletzte Soldaten sehen wir nicht“ von Joseph Croitoru, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 15.6.2010 erschien. Die Sicht- und Sprechweise des israelischen Militärs wird hier ohne kritische Distanz übernommen, und die IHH-Aktiven werden in die Ecke des Feindbilds »gewalttätiger Islamismus« gestellt. (IHH ist ein türkischer Verein für Menschenrechte und humanitäre Hilfe mit Beraterstatus bei den Vereinten Nationen). Selbst logische Brüche verlieren im Eifer des Propaganda-Gefechts offenbar ihre Bedeutung, wenn z.B. die vorgeblichen »Kämpfer« laut Croitoru mühsam die Schiffsreling zu Eisenstangen umarbeiten, obwohl sie solche doch angeblich schon in Istanbul an Bord gebracht hatten.

Ich selber, nebenbei gesagt nicht Muslim sondern Agnostiker, war bis etwa eine halbe Stunde vor dem israelischen Überfall auf dem zweiten Deck, und zwar ohne zum Verlassen aufgefordert zu werden oder irgendwelche »militärischen« Vorbereitung zu bemerken. Ich habe dann die angstvolle Erregung der Helfer angesichts der verletzten und toten Opfer des israelischen Schußwaffengebrauchs unmittelbar erlebt.

Die Umdeutungen des Überfalls auf die Mavi Marmara passen in eine ideologische Sichtweise, die sich so zusammenfassen lässt: Von Israel-Palästina über Irak und Afghanistan bis zunehmend auch Pakistan muss der demokratische und an den Menschenrechten orientierte Westen seine Werte und Ideale gegen militante Islamisten eben auch mit militärischen Mitteln verteidigen – so wird uns nicht nur von israelischen Verantwortlichen erläutert. Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen« steht Pate auch bei einer bestimmten Form der Berichterstattung über die Ereignisse auf der Mavi Marmara.

In der gemeinsamen Aktion von Menschen aus über 30 Ländern wurde über alle kulturellen Unterschiede hinweg für einen kurzen Zeitraum die Erfahrung spürbar: Eine andere, eine friedliche Welt ist möglich. Es gibt Kräfte in Israel, in den USA und Europa (aber natürlich nicht nur dort), die offensichtlich ganz Anderes betreiben: Sie verfolgen ihr machtpolitisches und ökonomisches Interesse mit gewaltsamen militärischen Mitteln, und nach dem Motto: „Teile und herrsche!“

Die Auseindersetzung zwischen den »Zivilisationskriegern« einerseits, den Verfechtern friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens auf der anderen Seite werden wir nicht zuletzt auf dem Feld der Informationspolitik und der medialen Deutungshoheit mit Klugheit und Ausdauer weiter führen müssen. Auch das lehrt uns die gleichermaßen großartige wie tragische Reise der Free-Gaza-Flotilla.

Matthias Jochheim, von Beruf Arzt und Psychotherapeut, ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW). Er engagiert sich seit längerem zum Thema des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Bomben-Politik

Bomben-Politik

von Jürgen Nieth

Die TAZ titelte am 29. Dezember 2008: „Hamas provoziert, Israel bombardiert.“ Und weiter heißt es: „Als Reaktion auf die anhaltenden Raketenangriffe aus dem Gazastreifen hat Israel am Wochenende eine der massivsten Militäraktionen seit Jahrzehnten gegen die Palästinenser begonnen.“ Mit dieser eindeutigen Schuldzuweisung lag die TAZ im Trend. Für den Zentralrat der Juden Deutschlands trägt die Hamas „die alleinige Verantwortung für die zivilen Opfer auf beiden Seiten.“ (FAZ-Anzeige, 10.01.09), Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die „Verantwortung für die Eskalation… eindeutig und ausschließlich bei der Hamas“, die Bild-Zeitung titelt (29.12.08): „Israel schlägt zurück“ und »Die Welt« meint, Israel konnte „nicht länger zusehen, wie seine Bürger Opfer des Raketenhagels wurden.“ (30.12.08). Die Frankfurter Rundschau (02.01.09) lässt Ari Sharon zu Wort kommen, der die israelische Operation »Gegossenes Blei« „eine gerechte Kriegskampagne“ nennt und der die israelischen Kritiker des Krieges als „Israelis, die Israel hassen“ beschimpft.

Unzweifelhaft, die Hamas ist eine islamistische Organisation, die Hamas hat am 19. Dezember die Feuerpause aufgekündigt und wieder begonnen Raketen auf israelische Städte abzuschießen. Aber trägt sie wirklich die alleinige Schuld an der Eskalation?

Kriegsursachen

Carsten Kühntopp, ARD-Korrespondent in Amman, sieht das differenzierter: „Im Sommer war es in Südisrael so friedlich wie lange nicht. … Anfang November begann Israels Armee dann, die Waffenruhe immer häufiger zu brechen und die Lage systematisch zu eskalieren. Deshalb hielt Hamas nicht mehr still.“ Für Kühntopp sind die „Bomben auf Gaza und die Raketen auf Israel“ auch Folge einer falschen EU-Politik: „Der Tiefpunkt war die Entscheidung, die Blockade des Gaza-Streifens mitzumachen. Anderthalb Millionen Menschen immer tiefer ins Elend zu drücken, war nicht nur unmoralisch und kriminell – es war dumm.“ (ARD-Tagesthemen 05.01.09).

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery sieht das ähnlich: „Was den Zusammenbruch der Feuerpause betrifft, so gab es nie eine wirkliche Feuerpause. Das Wichtigste an der Feuerpause im Gazastreifen hätte die Öffnung der Grenzübergänge sein müssen. Die Blockade des Landes… ist ein Kriegsakt.“ (TAZ, 05.01.09)

Die Neue Zürcher Zeitung verweist darauf, dass „Israel seine Zusagen zur Räumung von Dutzenden von widerrechtlichen Siedlungsvorposten, zum Abbau von Hunderten von Straßensperren und zur Freigabe der Übergänge zum Gazastreifen ganz einfach nicht einhielt.“ (05.01.09)

Israels Kriegsziele

In allen durchgesehenen Zeitungen wird das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont. Für H. U. Jörges (Stern 08.01.09, S.42) sind die Kriegsziele Israels aber weiter gesteckt: „Dies ist ein politischer Krieg, kein Feldzug zur Selbstverteidigung, …. Keineswegs beschränkt auf die Abwehr von Raketenangriffen der Hamas… Das ist nur die moralische und völkerrechtliche Legitimation der Invasion… Begründet wird diese Invasion nur durch ihr politisches Ziel: die Zerstörung der Hamas, die Beendigung ihrer Herrschaft über den Gazastreifen.“

Das bestätigt indirekt auch Dan Harel, Israels-Vize-Generalstabschef: „Am Ende der Operation… werde kein Gebäude der Islamisten mehr stehen.“ (FR 30.12.08)

Mit dem Krieg wächst die Kritik

Israels Überraschungsangriff „am helllichten Samstag, als Kinder in der Schule, Frauen auf dem Markt und Hamas-Polizisten auf einer Vereidigungszeremonie getroffen wurden, endete mit der höchsten Opferzahl an einzigen Tag seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967.“ (SZ 29.12.08) „Die hohen Opferzahlen waren gewollt, um den Islamisten einen Schock zu versetzen. Dass es auch Kinder und Zivilisten traf, wurde nach amerikanischen Muster im Irak in Kauf genommen,“ schreibt Inge Günther (Berliner Zeitung, 29.12.08) Aber die hohen Opferzahlen werfen auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf. „Wir mögen Zahlenbeispiele mit Opfern verabscheuen, doch solche Fragen werden gestellt: 16 Tote in Israel durch Hamas-Raketen in sieben Jahren. Rechtfertigt das 300 Tote an nur einem Tag durch Israels Luftwaffe?“ (Ulrich Leidholt aus Amman im SWR am 29.12.08)

Nach 13 Tagen Krieg stoppen die Vereinten Nationen „wegen der (israelischen) Angriffe auf ihre Mitarbeiter und Einrichtungen… ihre Hifslieferungen.“ Das Rote Kreuz kritisiert u.a., dass Israel tagelang Ambulanzen den Zugang zu ganzen Stadtvierteln verwehrt habe. Amnesty International wirft Israel vor, Palästinenser als menschliche Schutzschilde einzusetzen. Für den Präsidenten des päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, Kardinal Martino, verfügt Israel über Technologien, „die es erlauben, sogar eine Ameise zu erkennen“. Was soll man da sagen, „wenn so viele Kinder getötet und Schulen der Vereinten Nationen bombardiert werden.“ (TAZ 09.01.09)

Unnütz vergossenes Blut?

Bereits zu Beginn des Krieges hatte David Grossmann in der FAZ (31.12.08) Besonnenheit eingefordert: „Wir dürfen keinen Moment vergessen, dass die Bewohner des Gazastreifens weiterhin auf der anderen Seite der Grenze leben werden und wir, früher oder später, nachbarliche Beziehungen zu ihnen herstellen müssen… Unsere Parole muss lauten: Zurückhaltung. Wir haben die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen, eben weil Israel viel stärker ist als die Hamas.“

Gleichfalls zu Beginn des Krieges bezweifelte Tomas Avenarius in der SZ (30.12.008), dass Israel seine Kriegsziele erreichen wird: „Operation »Gegossenes Blei« hat die israelische Armee ihre Offensive gegen die Hamas getauft. »Unnütz vergossenes Blut« wäre passender… So ist das Hamas-Problem nicht zu lösen. Mit Bomben und Raketen lässt sich kein Keil zwischen die Islamisten und die Bevölkerung im Gaza-Streifen treiben. Die Erwartung, wonach mehr palästinensisches Leid zu größerer Sicherheit für Israel führen wird, ist unbegründet… wer Bruder, Schwester oder Sohn im Bombenhagel verliert, wird seine Stimme keinem Israel-freundlichen Politiker geben.“

Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses (10.01.09) stehen israelische Truppen im Gazastreifen und die Hamas verschießt trotzdem ihre Raketen, ein Waffenstillstand wird immer noch von beiden Seiten abgelehnt, auch eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates – die bei Enthaltung der USA zustande kam – wird negiert. Dabei entspräche ein Waffenstillstand nur einer humanitären Notwendigkeit, er wäre Voraussetzung aber nicht einmal ein Schritt in Richtung Lösung der Probleme.

So bestätigt auch dieser Krieg, dass Kriege keine Probleme lösen!

Jüdische Identität und Nahostkonflikt

Jüdische Identität und Nahostkonflikt

von Rolf Verleger

In kaum einem anderen zeitgenössischen politischen Konflikt sind politische und religiöse (Identitäts-) Belange dermaßen ineinander verknäult wie im Israel-Palästina-Konflikt. Der Initiator einer Petition von Jüdinnen und Juden aus Deutschland für ein Ende der deutschen und der EU-Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik (»Schalom 5767«), Professor Rolf Verleger, erläutert im folgenden Beitrag seine Sicht des jüdischen Anteils an dieser Verstrickung. Dazu greift er, »dichterisch« verfremdend, auf die große Befreiungserzählung der hebräischen Bibel zurück. Vielleicht lässt sich auf diese Weise der Paradigmawechsel, der notwendig wäre, um aus dem Schlamassel herauszukommen, eindrucksvoller verdeutlichen als durch eine konventionelle Analyse.

Herr A. war schon immer ein Außenseiter gewesen. Dass er aber Ernst machen und von Hamburg aus über das große Wasser nach Westen auswandern würde, nur von einer entfernten Verwandten begleitet, das hatten seine wenigen Bekannten denn doch nicht vorausgesehen. Wider Erwarten wurde er dort als Viehzüchter erfolgreich. Nach einem kurzen heftigen Streit um Wasserrechte kam er sogar mit den Indianern zurecht; wahrscheinlich erkannte ihr Häuptling in ihm die verwandte wilde Seele. Natürlich änderte er seinen Namen und den seiner Frau, sie wollten die Vergangenheit hinter sich lassen.

Herr A. träumte immer von einer großen Nachkommenschaft. Tatsächlich aber vertrieb er seinen älteren Sohn von Haus und Hof, und den jüngeren, den I., hätte er auf einer Wanderung in einem unerklärlichen Geisteszustand fast mit der Axt erschlagen. Dass I. dies doch überlebt hatte, das prägte dieses Kind für sein ganzes Leben, und paradoxerweise schöpfte er daraus einen Lebensmut, den er auch wiederum an seine Nachkommen weitergeben konnte.

Einer von I.s Enkeln war ein ziemliches Großmaul und ging allen auf die Nerven; am Ende wurde er aber wirklich und wahrhaftig Chefberater des Kaisers von Mexiko und holte die ganze Familie zu sich – die war inzwischen schon zu einem Clan von 70 Personen angewachsen. Kaum in Mexiko angekommen, machten sie den Traum des Herrn A. wahr und vermehrten sich nach Herzenslust – gemäß der schwärmerischen Voraussicht des A. „wie der Sand am Meer und wie die Sterne am Himmel“.

Im Laufe der Zeit nahmen aber die Reibereien mit den Mexikanern zu. Diese hatten große Angst, dass sie von den Nachkommen des A. majorisiert würden, und taten prophylaktisch alles, um sie klein zu halten. Zuerst beschäftigten sie sie für Hungerlöhne auf ihren Baustellen; dann wurde ihnen auch das zu brenzlig, mit verursacht durch einige unüberlegte Gewalttaten, und sie schufen Wohnreservate für die Nachkommen des A., abgetrennt vom übrigen Mexiko durch eine Mauer, bauten fünfhundert Straßensperren und machten ihnen das Leben zur Hölle. Natürlich gab es Widerstand, aber damit wurden die Mexikaner zunächst leicht fertig.

Dann geschah aber absolut Unglaubliches: Ein zufällig am Kaiserhofe erzogener Nachkomme des A. – unbestätigten Gerüchten zufolge ein illegitimes Kind der Kaisertochter – wechselte die Seiten. Dieser M. ging in die eingemauerten Siedlungen, erklärte sich zum geistigen und politischen Führer der Unterdrückten und verlangte allen Ernstes vom Kaiser von Mexiko, die Einschließung der Stadt solle aufgegeben werden, denn die ganze Stadt wolle in die Wüste auswandern, „um dort unserem Gott zu dienen“. Natürlich war am Anfang keiner seiner unterdrückten Landsleute für einen solchen verquasten Fundamentalismus zu begeistern, aber da die Lage immer verzweifelter wurde, die alte nationalistische Führung durch die Mexikaner entweder umgebracht oder korrumpiert worden war und die Mexikaner von einer unerklärlichen Serie von Unglücken und Pannen befallen worden waren, genau so wie M. es vorhergesagt hatte, hatte er Erfolg: In einem rauschhaften kollektiven Festmahl nahm die geknechtete Bevölkerung Abschied von Mexiko, schmierte in ekstatischem Enthusiasmus sogar noch das Blut der geschlachteten Lämmer an die Türen ihrer Hütten und Häuser, und dann strömten sie alle heraus in die Wüste von Nevada, wo sie tatsächlich nicht verhungerten – sie hatten große Mengen Knäckebrot dabei; und als die mexikanische Armee auch noch wie durch ein Wunder einem Tsunami zum Opfer fiel, da erklärten sich die lange unterdrückten Nachfahren des A. nach sieben entbehrungsreichen Wochen in der Wüste bereit, dem M. und seinen neuen moralischen Vorstellungen Folge zu leisten.

Herr A. wäre begeistert gewesen, wenn er das noch miterlebt hätte, denn er hatte schon immer eine Ader für spirituelle Ideen gehabt…

Erbe und Verpflichtung

Diesen Mythos, in aller Kürze, habe ich so erzählt wie es im 1. und 2. der Fünf Bücher der Torah dargestellt wird. Gott habe ich dabei nicht erwähnt, denn Herr A. war ja der einzige, der Gott zum damaligen Zeitpunkt erkannt hatte, und auch M. musste alle anderen von der Existenz dieses Einen Gottes überzeugen. Äußere Beobachter mussten sich das Geschehen also anders zusammenreimen, damit es für sie einen Sinn ergab.

Natürlich war das große Wasser, das Herr A. überquerte, nicht der Ozean, sondern nur der Fluss Euphrat; aber er hatte diesen Fluss genau so überquert wie die Auswanderer des 19. Jahrhunderts den Ozean, nämlich auf Nimmerwiedersehen, und so wurde er zum Stammvater aller Auswanderer, die ihr Glück in der Ferne suchen. Denn als er den Fluss überquerte, wurde er zum »'iwri«, eingedeutscht zum »Hebräer«; das ist »einer von Drüben«, ein Überschreiter, ein Wanderer (siehe ausführlich bei Halter 2006).

Der Indianerhäuptling hieß Abimelech; der Brunnen, um den man sich stritt und wo man dann Frieden schloss, heißt seitdem Be'er Schewa; und die Namensänderung von Herrn A. und seiner Frau verlief von Awram und ßaraj zu Awraham und ßarah.1 Illinois oder Colorado oder Kalifornien, oder wo immer Herr A. sein Glück machte, ist das Land Kanaan, und das Land, in dem der Großsprecher, Erfinder der Traumdeutung und spätere Staatsrat für Ernährung und Finanzen Joseph seinen Clan unterbrachte, heißt in der Bibel Mizrajim, und das klingt ja für unsere Ohren wirklich mehr nach Mexiko als nach Ägypten. Und das Knäckebrot ist die Matza, das ungesäuerte Brot. Kleinere dichterische Freiheiten habe ich mir nur bei der Beschreibung der Unterdrückung erlaubt, darauf komme ich weiter unten zurück.

Der Auszug aus Ägypten ist der zentrale Mythos des Judentums. Darum wird das Pessach-Fest in jüdischen Familien seit Jahrtausenden als das wichtigste Fest begangen. Ich habe diese Tradition in meinem Elternhaus aufnehmen können. Die folgende Passage dazu ist meinem Buch »Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht« entnommen (Verleger 2008): Das schönste Fest war Pessach. Man merkte schon tagelang vorher, dass das Fest kommen würde: Das ganze Haus wurde geputzt, denn das »Chamez« – Brotkrümel, Vergorenes, Mehl – musste weg. Einen Abend vor Pessach ging mein Vater mit einer Kerze durchs Haus und suchte und sammelte die Brotstücke ein, die extra dafür ausgelegt waren. Das Brot wurde am nächsten Vormittag im Garten verbrannt, und damit war unser Haus sauerteigfrei. Und dann wurde das Essen für die zwei ßeder-Abende vorbereitet: Rosinenwein für die Kinder, Charosset, Eier, Salzwasser, Radieschen, Hühnersuppe mit Matze-Knödeln, Huhn. Wer mutig war, durfte den Meerrettich reiben. Der Tisch war weiß gedeckt, die Matza lag unter dem schönen Abdecktuch, auf jedem Stuhl lag ein Kissen, die Kerzen brannten. Jeder wusste, wie der Abend ablaufen würde, aber trotzdem musste das jüngste Kind so tun, als sei es ganz überrascht, und die vier Fragen „Ma Nischtana haLajla ha-se mikol haLejlot“ stellen – „Was unterscheidet diese Nacht von allen Nächten?“ Und darauf erzählte der ßedergebende aus dem Buch dieses Abends, der »Hagadah« (Erzählung) von der Geschichte des Auszugs aus Ägypten, der Versklavung und der Befreiung, wir tranken vier Becher Wein, aßen viel, wie es vorgeschrieben war, und sangen die traditionellen Lieder.

Was ist das Wesentliche an diesem Abend? Martin Buber (1949) erzählt die Geschichte des chassidischen Rabbi Levi Izchak von Berditschew (gest. 1809), der einmal sehr stolz darauf war, wie er den ßeder-Abend abgehalten hatte, und darauf aber eine Stimme hörte: „Worauf bist Du stolz? Lieblicher ist mir der ßeder Chajims des Wasserträgers als der deine.“ Der irritierte Rabbi ließ den Chajim suchen. Man fand ihn, einen einfachen, ungebildeten Mann, der einen schweren Rausch ausschlief und dem zunächst die Fragen des Rabbis ganz egal waren. Dann fragte ihn der Rabbi: „Wie habt Ihr den ßeder gehalten?“

Der Wasserträger sagte: „Rabbi, ich will Euch die Wahrheit sagen. Seht, ich habe von je gehört, dass es verboten ist, Branntwein zu trinken die acht Tage des Festes, und da trank ich gestern am Morgen, dass ich genug habe für acht Tage. Und da wurde ich müde und schlief ein. Dann weckte mich mein Weib, und es war Abend, und sie sagte zu mir: ‚Warum hältst Du nicht den ßeder wie alle Juden?' Sagte ich: ‚Was willst Du von mir? Bin ich doch ein Unwissender, und mein Vater war ein Unwissender, und ich weiß nicht, was tun und was lassen. Aber siehe, das weiß ich: unsre Väter und unsre Mütter waren gefangen bei den Zigeunern, und wir haben einen Gott, der hat sie hinausgeführt in die Freiheit. Und siehe, nun sind wir wieder gefangen, und ich weiß es und sage dir, Gott wird auch uns in die Freiheit führen.' Und da sah ich den Tisch stehen, und das Tuch strahlte wie die Sonne, und standen darauf Schüsseln mit Mazzot und Eiern und anderen Speisen, und standen Flaschen mit rotem Wein, und da aß ich von den Mazzot mit den Eiern und trank vom Wein und gab meinem Weib zu essen und zu trinken. Und dann kam die Freude über mich, und ich hob den Becher Gott entgegen und sagte: ‚Sieh, Gott, diesen Becher trink ich dir zu! Und du neige dich zu uns und mache uns frei!' So saßen wir und tranken und freuten uns vor Gott. Und dann war ich müde, legte mich hin und schlief ein.“

Das Judentum war über Jahrhunderte hinweg eine Ideologie der Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung, der Heilung der Welt durch Gottes Gnade. Dadurch gab das Judentum den gläubigen Menschen die Perspektive und den Lebenssinn, durch das freudige Erfüllen von Gottes Geboten diese Heilung der Welt näher zu bringen (siehe dazu ausführlich Scholem 1967).

Der traditionelle Text der Hagadah legt zum Abschluss der Erzählung des Auszugs aus Ägypten nochmals fest: In jeder neuen Generation ist es die Pflicht des Menschen, sich selbst so zu sehen, als ob er selbst aus Ägypten herauskommen konnte, denn (in der Torah) wird gesagt: „Du sollst Deinem Kind an diesem (Jahres-)Tag sagen: ‚Darum tat mir Gott das bei meinem Auszug aus Ägypten'“: Das heißt, nicht nur unsere Vorfahren alleine erlöste der Heilige Gelobt Sei Er, sondern mit ihnen erlöste er auch uns.

Sich selbst so zu sehen, dass man noch unter der ägyptischen Unterdrückung litt und auf Erlösung aus der Knechtschaft wartete, das fiel den Juden in Mitteleuropa nicht schwer, denn die Umstände im christlichen Abendland waren meistens unerfreulich, die Hoffnung auf Befreiung war da und wurde selten erfüllt. Erlösung war ein Zauberwort, und ist es geblieben bis in die Gegenwart.

Das Pessachfest sagte uns Juden auch, dass unsere traditionelle Rolle die Opferrolle ist. Und auch wenn Gott die Axt auf uns fallen lässt, so wie Herr A. zunächst glaubte, dass es ihm mit seinem Sohn Isaak von Gott befohlen worden sei, so wird doch derselbe Gott die Axt in ihrem Lauf aufhalten, so wie es bei Isaak geschah, oder zumindest wird uns Gott posthum Gerechtigkeit zuteil werden lassen und uns schließlich erlösen. Und wenn der Pharao gestern Hitler hieß, so sind wir doch heute von ihm befreit, und wegen des Verdiensts unserer teuren Ermordeten hat uns Gott die neue Erlösung geschickt, mit David ben Gurion als dem neuen Moses…

So war es bisher.

Plötzlich kann man aber, parallel zu diesem Jahrtausende alten Opfermythos, die Erzählung von der Unterdrückung im Lande Mizrajim auch ganz anders lesen. Die Hauptangst der Ägypter war ja, dass sich dieses andere Volk so vermehren würde, dass es die Mehrheit bilden könnte; dann wäre es mit dem ägyptischen Charakter des Staats vorbei. Genau diese eigene Angst vor dem Verlust des Charakters als »jüdischer Staat« (ein durchaus problematischer Begriff, s. Kap. 4 in Verleger 2008) bildet den Hintergrund der Lähmung der israelischen Politik bezüglich des besetzten Westjordanlands. Denn die Politik ist in dem Dilemma gefangen zwischen dem Wunsch nach Ausdehnung des Staatsgebiets und der demokratischen Gepflogenheit, den dann Staatsbürger Israels werdenden Bewohnern dieses Gebiets die vollen Bürgerrechte zu geben. Und so erzählt der Mythos immer noch von uns, aber nicht mehr als den Helden der Geschichte. Ich hatte in meine Wiedergabe des Mythos von der Unterdrückung nur wenige Wörter eingesetzt, schon wurden andere Assoziationen unwiderstehlich: Eine Mauer, fünfhundert Straßensperren, der Ausbruch der eingemauerten Menschen in die Wüste: »let my people go«. Die neuen Israeliten sind diesmal aus Gaza, und wieder strömen sie durch die Mauer in die Wüste, aber diesmal nicht mit dem Pessachlammbraten im Magen und dem Knäckebrot im Rucksack, sondern mit leeren Einkaufsbeuteln und leeren Benzinkanistern. Wieder sind ihre Führer Gott suchende Fundamentalisten, so wie Moses.

War also David ben Gurion der erste in einer Reihe neuer Pharaonen? Wenn aber nun Juden die Rolle Pharaos spielen, oder auch nur zu spielen scheinen, was wird dann aus dem Judentum, was wird aus unserem Mythos, aus unserer Religion, aus unserer Weltanschauung? Wen sehen wir, wenn wir uns im Spiegel betrachten?

60 Jahre Israel

Anlässlich des 60. Jahrestags der Ausrufung des Staates Israels veröffentlichte die monatlich erscheinende »Jüdische Zeitung« in ihrer Mai-Ausgabe kurze Interviews, in denen mehrere Personen auf die gleichen Fragen antworteten (u.a. Charlotte Knobloch, Micha Brumlik, Ralf Giordano). Die »Jüdische Zeitung« sieht offenbar ihre Aufgabe darin, zu einer offenen Meinungsbildung innerhalb und im Umfeld der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands beizutragen; sie sollte nicht verwechselt werden mit der wöchentlich erscheinenden »Jüdischen Allgemeinen«. Auf dem Hintergrund des hier bisher Gesagten gab ich in meinem Interview die folgenden Antworten:

Was verbindet Sie persönlich mit Israel?

Palästina war einer der Fluchtpunkte vor den Nazis für die deutsch-jüdische Verwandtschaft meiner Mutter. Ich selbst war 1960 als Achtjähriger zum ersten Mal in Israel, als ich in Jerusalem mit meinem Vater den Gerer Rebbe2 besuchte, und viele Male danach. Mein Bruder wanderte 1969 und meine Schwester 1972 nach Israel aus. So habe ich nun sechs israelische Nichten und Neffen und schon vier Großneffen und natürlich viele andere Verwandte.

Welche Bedeutung hat Israel für Ihre Identität?

Israel ist das zentrale politische Projekt des Judentums, zu dem man sich als Jude nicht gleichgültig verhalten kann. Ich fühle mich in der Tradition der zionistischen Mehrheitslinie, die das Konzept einer jüdischen Heimstätte im Vielvölkerstaat Palästina vertrat, in Abgrenzung zum »revisionistischen« Konzept eines Jüdischen Staats. Dieses Konzept lehnte die Mehrheit zu Recht ab, weil es „von der Welt nur in einem Sinn verstanden“ wurde (Weizmann, 1931 – zit. n. Krojanker 1937), nämlich dass es die Vertreibung der Araber zur Voraussetzung hatte.

Was wünschen Sie sich in Zukunft für den Staat Israel?

Ich wünsche, dass das Judentum und Israel vom nationalistischen Irrweg umkehren, der nur Leid und Gewalt produziert, hin zum Weg der Versöhnung, den Südafrika und Nordirland so erfolgreich in unseren Tagen gegangen sind. Zu diesem Ziel wünsche ich mir als erstes zwei Schritte, einen kleinen und einen großen, dann stimmt die Richtung: Der kleine Schritt ist, mit der Hamas als der gewählten palästinensischen Vertretung offiziell zu reden. Der große Schritt ist, dass Israel und wir Juden gegenüber den Palästinensern unsere historische Schuld an der Vertreibung der Araber 1947/1948 und an der folgenden Enteignung ihres Besitzes eingestehen.

Kurz darauf erfuhr ich, dass mir der Vorsitzende eines Regionalverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft den Vorwurf der »Israelfeindschaft« machte.

Anmerkungen

1) Leider kann man im Deutschen ein stimmloses S am Wortanfang nicht anders darstellen. „ßarah“ heißt „Herrin“ und ist der bekannte Vorname, dagegen heißt „Sarah“ mit stimmhaftem S „Fremde“ und ist daher im Hebräischen kein gebräuchlicher Vorname.

2) Mein Vater war sein Leben lang Anhänger dieser Rabbiner-Dynastie gewesen, die bis zum Angriff der Deutschen auf Polen im Städtchen Góra Kalwaria (Kalvarienberg, 50 km südlich von Warschau) beheimatet war und großen Einfluss in Galizien und bis nach Warschau hatte. Der „Gerer Rebbe“ ist die jiddische Verschleifung von „Góra-er Rebbe“.

Literatur

Buber, Martin (1949): Die Erzählungen der Chassidim. Zürich: Manesse.

Halter, Marek (2006): Alles beginnt mit Abraham: Das Judentum, mit einfachen Worten erzählt. München: dtv.

Krojanker, Gustav (Hrsg.) (1937): Chaim Weizmann: Reden und Aufsätze 1901-1936. Berlin: Jüdischer Buchverlag Erwin Löwe.

Scholem, Gerschom (1967): Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt: Suhrkamp.

Verleger, Rolf (2008): Israels Irrweg. Eine Jüdische Sicht. Köln: PapyRossa.

Prof. Dr. Rolf Verleger ist Psychologe am Universitätsklinikum in Lübeck. Er verfasste zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften über Gehirnprozesse beim Wahrnehmen und Handeln und war Delegierter aus Schleswig-Holstein im Zentralrat der Juden in Deutschland, von dessen vorbehaltloser Unterstützung der israelischen Gewaltpolitik er sich während des Libanonkriegs 2006 in einem Offenen Brief distanzierte.

Jerusalem

Jerusalem

Eindrücke und wirre Geschichten rund um eine Konferenz in der heiligen wie umstrittenen Stadt

von Sabine Korstian

„Jetzt sehen wir also das wahre Leben hier?“ flüstert mir Linda aus den USA zu, die wie ich Referentin auf der Konferenz des INSAN Center für Frauen- und Geschlechterforschung der Al-Quds (arab. für Jerusalem) Universität1 am 5. November 2007 war. Eine Zivilstreife hat unseren Bus von Jerusalem nach Abu Dis, ein Ort bei Ostjerusalem, durch den die »separation barrier« wie überall um Jerusalem als Mauer verläuft und wo sich ein Campus der Universität befindet, angehalten und den Fahrer zu ihrem Fahrzeug mitgenommen. Ich muss sie enttäuschen, denn er ist einfach nur dabei erwischt worden, wie er beim Fahren telefoniert hat. Verärgert kommt er mit einem Strafzettel wieder. Ein langweiliges Verkehrsdelikt, nichts politisches. Ach so. Das „wahre Leben“ besteht eher darin, dass wir überhaupt in diesem Bus sitzen, der statt der zehn Minuten, die es früher waren, als es die Mauer noch nicht gab, eine dreiviertel Stunde bis Abu Dis braucht – vorausgesetzt es gibt keinen längeren Aufenthalt am Checkpoint.

Mein letzter Besuch ist schon über zwei Jahre her. Damals gab es noch ein paar allgemein bekannte Mauerschlupflöcher, so dass man nicht den ganzen Weg außen herum fahren musste. Linda wundert sich: Das sind doch Palästinenser hier im Bus, wieso durften die nach Jerusalem fahren und andere nicht und wie verläuft überhaupt die Mauer? Ich versuche zu erklären, je nachdem welche Identitätskarte jemand hat, ob Jerusalem oder Westbank, und wie die Siedlungsgebiete verlaufen und die Demographie und der Streit um Jerusalem und die Anschläge und … – das ist aber kompliziert?! Ja, wenn ich es mir recht überlege, je länger ich darüber rede, umso weniger verstehe ich selber, was ich sage. Dieser Zustand akuter Verwirrung, in dem nur noch Demut hilft – das Jerusalemsyndrom denke ich mir und finde mich irgendwann vor der Westmauer sitzend wieder, wo ich den Betenden zuschaue und den Vöglein, die im Gemäuer nisten. Ein paar Tage später wird mir ein australischer Straßenkünstler erzählen, dass er auf einem klapprigen Fahrrad, voll bepackt mit Tüten und mit seinem mehr als einen Meter großen weißen Plüschteddy auf dem Gepäckträger die autobahnähnliche Strasse von Tel Aviv nach Jerusalem gezuckelt ist, von der Polizei zweimal kurz angehalten und beim dritten Mal, weil es schon dunkel wurde und er kein Licht hatte, von der Streife schließlich in die Stadt eskortiert wurde. Also nichts, worüber man sich wirklich wundern müsste. Genauso wenig wie über ein nettes Hostel in Ostjerusalem2, wo man umsonst unterkommt und Friedensbewegte aus aller Welt Zwischenstopp machen beispielsweise auf ihrem »Walking the Bible« Trip, wie ein Buch heißt, das auf einem Tisch liegt. Eine Bewohnerin soll in den Hungerstreik getreten sein, damit die Gewalt aufhört. Das kann noch dauern. „Und sie haben die halbe Nacht Gitarre gespielt“ stöhnt die finnische Kollegin. Auch »Hotel California«? Ja!

Touristen3 sind zurückgekehrt, man wird nicht mehr ständig von verzweifelten Fremdenführern oder Verkäufern angesprochen, aber es sind noch längst nicht so viele wie es einmal waren. Sowohl in unserem Hotel, in dem wir für die Konferenz untergebracht sind, als auch in ganz Ostjerusalem – abgeschnitten von seinem Hinterland in der Westbank – ist es merkwürdig ruhig. Nicht nur, weil es Anfang November politisch ziemlich ruhig war, sondern weil abends kaum noch Menschen auf den Straßen sind, es in den Geschäften zwar alles zu kaufen gibt, aber statistischen Erhebungen zufolge es nur wenige geben kann, die es kaufen können. Abu Dis ist allerdings lebendiger geworden: Die Universität – eine von fast einem Dutzend Universitäten, die seit den 70ern in den palästinensischen Gebieten (nicht einmal ein Drittel der Größe Hessens) entstanden sind – wächst mit jedem Jahr und mit ihr die Zahl der StudentInnen, was nicht überrascht, ist doch mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Ironischerweise konnte sich dort nicht zuletzt aufgrund der massiven Bewegungsbeschränkungen der letzten Jahre eine studentische Kultur entwickeln, weil immer mehr in Abu Dis wohnen, um nicht ständig ihr Studium unterbrechen oder Seminare ausfallen lassen zu müssen. Der Einfluss der islamischen Bewegung ist unübersehbar, denn ca. 80% der Studentinnen tragen Kopftuch und halten außer Gesicht und Händen ihre Körper bedeckt.

Sich auf dem Campus umzusehen macht Spaß. Die Mädels sind interessanter als die Jungs, weil die unterschiedlichen Stilrichtungen der Kopftücher und der dazugehörenden Outfits faszinierend sind: Kopftuch Islamisten Fashion mit Mantel und nicht selten hochhackigen Schuhen; Kopftuch Business Look mit Kostüm ähnlichen Klamotten; Kopftuch Superschick – Discoqueen ähnlich, hauteng; Kopftuch Ethnolook; Kopftuch Flower Power Style; Kopftuch Normalo, um eine Kategorie aus meinen Schulhofzeiten zu strapazieren, die auch damals schon nicht genauer definiert war. Über 40% der Studierenden sind weiblich und das schon seit 'zig Jahren. Trotzdem hat die Information, dass es Frauen und Frauenforschungszentren an palästinensischen Universitäten gibt, schon einmal eine Sicherheitsbeamtin am Ben Gurion Flughafen aus ihrer Rolle fallen lassen: „Was, so etwas gibt es da?!“

Neue Gebäude sind auf dem Campus, ein kleines Amphitheater, IT Center und Museen – woher kommt das Geld? Verschiedene Quellen, verschiedene Spender aus aller Welt und besonders großzügig aus Saudi Arabien, wird mir erzählt. Dessen ungeachtet und unbeeindruckt von ein paar Tausend StudentInnen um sie herum, hält es eine Italienerin für nötig, ehrenamtlich ein paar Monate in einem Kinder- und Jugendzentrum zu arbeiten. Sogar die israelische Gewalt habe sie schon erlebt – Tränengas und so. Also die direkte Gewalt, präzisiert sie, denn irgendwie sei hier ja alles Gewalt. Israelische, selbstverständlich.

Einen größeren Gegensatz zu Ostjerusalem bildet das pulsierende Zentrum von Ramallah. Nun bin ich doch verblüfft über die vielen scheinbar brandneuen Autos, anscheinend florierenden exklusiven Geschäfte und Cafés. Einen Kaffee trinken wird wie hierzulande zu einem Akt der Komplexitätsreduktion – welche Sorte von Kaffee darf es denn sein? Sicher, Ramallah war schon immer relativ wohlhabend und wird gerne als die »westlichste Stadt der Westbank« beschrieben. Im Kopf habe ich Angaben über 50% der Westbankler, die unterhalb einer Armutsgrenze leben, aber klar, folgerichtig lebt die andere Hälfte darüber. Ich habe nicht viel Zeit und kann nur Eindrücke von der Stadt sammeln, in der ich mal ein paar Monate gelebt habe. Ich höre von Binnenmigration nach Ramallah, wo die meisten Behörden der Palestinian National Authority sind, NGOs und andere Organisationen oder kurz: Das meiste Geld.

Über seinem Glas Bier seufzt ein Bekannter über die innenpolitische Lage, es sei die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen unverblümter Korruption und religiösem Fanatismus. Selbst diejenigen, die nie zur Fangemeinde Arafats gehörten, trauern ihm nun nach, weil er wenigstens Entscheidungen treffen konnte. Es sei an der Zeit für eine dritte Kraft im Lande, säkular, demokratisch, pragmatisch. Irgendwie kann es doch so nicht weiter gehen?! Irgendwie kann das doch wohl alles nicht wahr sein?! Aber man kommt weder an Pest noch an Cholera vorbei, zu viele Anhänger, zu viele durch alte Loyalitäten gebunden, zu viele offene Wunden und Gaza liegt nicht auf einem anderen Planeten. Während Kritik an Israel öffentlich und lautstark sogar gegenüber Fremden geäußert wird, fallen solche Sätze nur in kleiner Runde. Wir trinken besser noch ein Bier.

Unbeirrt halten einige an ihrer Vorstellung von einer besseren Gesellschaft fest. »Integrating Gender into Curricula« war das Thema der Konferenz, gefördert von der Heinrich-Böll-Stiftung und organisiert von der Rektorin des INSAN Center, Dr. Fadwa Al Labadi und ihrem Team. Das ist kein nebensächliches Thema, sondern ebenso brisant wie offiziell: Empfang mit dem Rektor der Universität, die Ministerin ist da, ein Vertreter der EU Kommission, ReferentInnen aus Palästina, Israel (die Referentin ist palästinensische Israelin), USA, Großbritannien, Finnland, Deutschland – nur die Referentin aus Jordanien konnte nicht kommen, denn sie hat kein Visum erhalten. Das Publikum ist – im Gegensatz zu ähnlichen Konferenzen hierzulande – mindestens zur Hälfte männlich. Bei dem Thema geht es darum, wie die Gesellschaft sich entwickeln und was für einen Staat man aufbauen soll. Geschlechterverhältnisse und Bildung sind Kristallisationspunkte aller Kontroversen um den Erhalt von Traditionen bei gleichzeitiger Modernisierung; die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft; Orientierung am Westen oder Ablehnung oder der Suche nach einem eigenen Weg; Demokratisierung, Entwicklung, Frieden – und noch mehr Schlagwörtern, bei denen keineswegs immer klar ist, was diejenigen, die sie verwenden, damit meinen. Die Curricula und Lehrbücher sind schon seit Jahren in der Diskussion, sind doch die alten jordanischen durch neue ersetzt worden. Ebenso steht die Anhebung akademischer Standards, die Abkehr von alten Erziehungsidealen und Unterrichtsmethoden auf der Agenda, womit auch Didaktik ein Politikum wird.

Auf der Konferenz herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Mädchen und Frauen die gleichen Chancen wie Jungen und Männer haben sollten und dies eine Grundvoraussetzung für Entwicklung sei. Doch derlei Lippenbekenntnisse sind so alt wie die PLO. Daher fallen die Einschätzungen der bisherigen Bemühungen unterschiedlich aus und so manche palästinensische Kollegin haut verbal auf den Tisch: Die Doppelmoral, die Kultur der Scham, das leere Gerede von wegen Gleichberechtigung. Eine Studentin ist aufgebracht, es sei nicht genügend Zeit für Diskussionen, ob das etwa Absicht sei? Nein, war es nicht, sondern einfach nur ein enger Zeitplan. Ein Journalist aus Nablus erklärt mir, wieso er sich über die Konferenz freut: Das gäbe ihm die Möglichkeit, geistige Munition zu sammeln, um seine Anliegen in der Lokalpresse unterbringen zu können. Alles in allem halten sich die Auseinandersetzungen in Grenzen: Diejenigen mit ganz anderen Vorstellungen sind nicht da und die innenpolitische Lage wird nur am Rande thematisiert, was ein wenig das Gefühl vermittelt, in einer Seifenblase zu sitzen.

Für die Zukunft mal eine Konferenz zu »Gender« und Islam sinniert daher Fadwa schon wieder, kaum dass diese Konferenz vorbei ist. Nach getaner Arbeit sind anderntags drei Stunden faulenzen am Toten Meer das Maximum an Auszeit, das sie sich gönnt. Vom heilsamen Schlamm bedeckt lassen wir es uns gut gehen. Es ließe sich noch mehr genießen, wären da nicht überdeutlich die Spuren des dramatisch gesunkenen Wasserspiegels und damit Zeichen einer heraufziehenden Umweltkatastrophe. Wasser – noch so ein Sprengstoffthema, bei dem man in einer idealen Welt an einem Strang ziehen würde. Wie schwierig Begegnung und Dialog sind, verdeutlichen mir die Erzählungen von Sabah, die an solchen Projekten der Begegnung zwischen israelischen und palästinensischen Frauen in Deutschland teilgenommen hat4. Sie ringt um die richtigen Worte und sichtbar mit ihren Emotionen, während sie gleichzeitig versucht, meine Gefühle nicht zu verletzen. Nach ein paar Minuten Gespräch ringe ich mit.

Außerdem trifft man immer jemanden, der verkündet, das Land müsse befreit werden, und zwar mit Blut. Eine Gratulation dazu, aus Deutschland zu sein, inbegriffen. Auch der ein oder andere misstrauische oder offen feindselige Blick streift mich, insbesondere wenn ich allein in den palästinensischen Gebieten unterwegs bin. Sobald es mir zu ungemütlich wird, quatsche ich jemanden an und stelle irgendeine blöde Frage, nur um in ein Gespräch zu kommen – den Idiotenfaktor ausspielen nenne ich das, wobei ich der Idiot bin. Die meisten Leute neigen zum Glück eher dazu, jemandem zu helfen und warten nicht tagein tagaus darauf, andere umzubringen. So nahe leben die Menschen beieinander, so klein ist das Land. Bei aller Tragik und Gewalt, die es gab und gibt, kann es manchmal schon wundern, dass nicht mehr passiert. Ein Verdienst der Sicherheitskräfte und Resultat der Sicherheitsmaßnahmen, lautet das israelische Argument.

„Sie behandeln uns wie Tiere“, lautet der bittere Satz eines Mannes, der mich davor bewahrt hat, mich in dem schicken neuen Terminal des Übergangs von Bethlehem nach Jerusalem zu verlaufen, weil Freitag ist und daher kaum jemand unterwegs. Betonklötze und Sandsäcke und der direkte Blick in eine Mündung mögen zwar unschön gewesen sein, aber wenigstens nicht so verwirrend wie der ausgeklügelte Terminal, in dem man kaum einen Menschen, d.h. Soldaten, zu Gesicht kriegt, selbst wenn dieser schlecht gelaunt gewesen sein mag. Dafür steht am Eingang ein dreisprachiges Schild auf dem nach den freundlichen Anweisungen ein „Have a nice day“ gewünscht wird. Ausländer auf Sightseeing Tour so wie ich – auch wenn es in meinem Fall Checkpoint-Sightseeing ist – mögen den ja haben, doch der Alltag der Palästinenser wird dadurch alles andere als „nice“. Die Auswirkungen auf ihren Handel, der Weg zum Arbeitsplatz, zur Schule, ins Krankenhaus oder einfach Besuche von Freunden und Verwandten – alles ist noch komplizierter geworden. Zwar wirkt alles geordneter und organisierter, doch ist klar, was dies bedeutet: Israel schafft Fakten. Aus Rassismus und kolonialer Gier schafft es Apartheid, ist das palästinensische Argument.

In Abu Dis und im Nachbarort Azariah (oder für bibelkundige: Bethanien) sind die meisten Geschäftsschilder noch zweisprachig obwohl spätestens seit der Al-Aqsa Intifada kein (jüdischer) Israeli mehr hier einkauft. Schon lange gibt es in Westjerusalem oder Tel Aviv kein öffentliches Gebäude, Café, Kneipe oder was auch immer mehr, in die man ohne Sicherheitskontrolle hinein kommt. Rafi aus Tel Aviv bemerkt, dass Ausländer immer ein Problem mit den vielen Waffen hätten, die sie in Israel sehen, aber ihm geben sie ein Gefühl der Sicherheit, denn man wisse ja nie – wenn was sei, sei jemand da, der etwas unternehmen könne. Eigentlich hat er es satt über Religion oder Politik zu diskutieren und erzählt dann von der geplanten Love Parade in Jerusalem, die aus Angst vor Ausschreitungen verboten wurde. Die Vorstellung hatte religiöse Gemüter jeder Couleur kochen lassen. Soviel Einigkeit ist selten. Darauf besser noch ein Bier. Man weiß ja nie.

Anmerkungen

1) http://www.alquds.edu/centers_institutes/ic/

2) Wer einmal vorbei schauen möchte: www.jerusalempeacemakers.org/ibrahim

3) Informationen für alle, die in den palästinensischen Gebieten einmal Urlaub machen möchten: www.thisweekinpalestine.org

4) Dazu hoffentlich von ihr demnächst ein Erfahrungsbericht.

Sabine Korstian ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Israel hat gewählt

Israel hat gewählt

von Jürgen Nieth

Israel hat gewählt – und das ist die zukünftige
Sitzverteilung im Knesset (Parteiencharakterisierung nach FAZ 30.03.06):
Kadima (Abspaltung aus Likud und Arbeiterpartei) 29 Sitze, Awoda
(Arbeiterpartei) 19 Sitze, Schas (religiös-orthodox) 13 Sitze, Israel Beitenu
(nationalistische Einwandererpartei) 12 Sitze, Likud (rechtsgerichtet) 11
Sitze, NU/NRP (nationalistisch) 9 Sitze, Pensionäre 7 Sitze, Vereinigte Tora
Partei (ultraorthodox) 6 Sitze, Merez (linksliberal) 4 Sitze, Arabische
Parteien 10 Sitze. Die Wahlbeteiligung war mit 63 Prozent noch nie so niedrig
in der israelischen Geschichte wie diesmal.

In der Einschätzung dieser Wahlen
gibt es eine große Übereinstimmung in den deutschen Medien. Diese betrifft das
schlechte Abschneiden des Likud.

Absturz des Likud

„Die bisher führende Likud-Fraktion fiel… auf den fünften
Platz. Nun steht der Likud vor einer Zerreißprobe“,
schreibt z.B. die FAZ.
Parteichef Netanjahu gilt als der Verlierer, der aus Protest gegen den Abzug
aus dem Gazastreifen die Regierung Sharon verließ und der „noch das Nein zum
Abzug und die Angst vor dem Terror predigte,“
als der amtierende
Regierungschef „Olmert mit seinem Abzugsplan in der Bevölkerung offene Türen
einrannte“
und der viel „zu spät erkannte…, dass mit der sozialen Agenda
der Arbeiterpartei (für ihn) neue Gefahr drohte.“
(FAZ 30.03.06)

Für Spiegel-Online waren die Parteien am erfolgreichsten, „die
im Wahlkampf mit einer sozialpolitischen Agenda angetreten sind.“

(29.03.06)

Große Unterschiede gibt es in der
Einschätzung der »Abzugspläne« Olmerts und des künftigen Weges Israels.

Israel zieht sich zurück

überschreibt Jörg Bremer seinen Kommentar in der FAZ
(30.03.06). „Siedler, die vor Jahren noch als unantastbar galten, werden von
der Mehrheit der Israelis mittlerweile als Wohlstandshindernis gesehen.“
Olmert
kündigte „vor der Wahl seinen viel weiter reichenden Abzugsplan, ja selbst
die Aufteilung Jerusalems, an und machte die Knessetabstimmung zum Referendum.
Vielleicht musste Olmert diesen Mut mit ein paar Mandaten bezahlen, aber er
kann nun doch eine stabile Abzugskoalition bilden.“

Besonders positiv wertet die FAZ die Erklärung Olmerts, nach
der er bereit ist, „den Traum von Großisrael aufzugeben.“

Mehrheit für »Mitte-Links«

„Es ist das entscheidende Ergebnis dieser Knesset-Wahl,
dass der Einfluss des national-religiösen Blockes, der länger als eine
Generation in Israel dominiert hat, gebrochen wurde,“
schreibt Uri Avnery
in der Wochenzeitung »Freitag« (07.04.06). „Alle rechten Parteien zusammen
gewannen nur 32 Sitze – die religiösen 18. Mit 50 von 120 Sitzen im Parlament
hat der rechts-religiöse Flügel seine Vetomacht verloren – er kann nicht mehr
jede Maßnahme in Richtung Frieden blockieren. Das ist ein Wendepunkt.“

Auch für Spiegel-Online (29.03.06) zeigen die Wahlen, dass „die
Israelis… eine andere Politik (wollen)
: Mitte-Links statt Rechts, lieber
nach innen als nach außen gerichtet.“

Skeptischer ist da Inge Günther (FR 30.03.06). Auch für sie „haben
die Wahlen das linke Lager gestärkt… Vor überzogenen Friedenshoffnungen muss
trotzdem gewarnt werden – nicht allein, weil in Westbank und Gaza nun die
islamistische Hamas regiert.“

Israels Kadima im Dilemma

überschreibt die FR ihre Wahlanalyse am 31.03.06. Dieses
Dilemma wird an der geringen Zahl der Parlamentssitze und den möglichen
Koalitionspartnern festgemacht. Die FR sieht in Avigdor Liebermann einen der
möglichen Partner und der „gilt als israelische Variante europäischer
Rechtspopulisten à la Le Pen und Jörg Haider.“
Trotzdem sei aber nicht
ausgeschlossen, dass Kadima den „Parteichef von Israel Beitenu (Israel –
Unser Haus) in die Koalition holt – schon aus Rücksicht auf russischstämmige
Wähler.“

Auch die Süddeutsche Zeitung zeigt sich eher pessimistisch
im Blick auf Friedensaussichten. Sie titelt:

Wahlsieger Olmert bleibt auf Konfliktkurs

Und Thorsten Schmitz kommentiert in derselben Ausgabe
(30.03.06): „Olmert wird also das historisch einmalige Projekt der
Siedlungsauflösungen fortsetzen. Aber
: Größere Siedlungsblöcke… sollen von
Israel einverleibt werden. Von Frieden kann also keine Rede sein. Denn selbst
wenn Olmert etwa ein Drittel der rund 250.000 jüdischen Siedler im
Westjordanland evakuieren lässt, werden weiterhin jüdische Siedlungen das
Palästinensergebiet in Kantone zersplittern und die Lebensfähigkeit eines
palästinensischen Staates verhindern.“

Mit dem Weiterbau der Grenzmauer
auf palästinensischem Gebiet befasst sich die »Tageszeitung«:

Israel mauert

heißt es auf der Titelseite der TAZ am 30.03.06. Für sie
verbindet sich mit dem Wahlsieg der Kadima nur „wenig Hoffnung auf einen
neuen Friedensprozess im Nahen Osten“,
da Olmert die Staatsgrenze zu
Palästina weiterhin einseitig festlegen will. Ein Projekt, so Christian Semler
in seinem Kommentar, das „für die palästinensische Seite unannehmbar“
ist und zu einer „Neuauflage des »asymmetrischen Kriegs«“ führen kann.
Semler verweist darauf, dass einst Ariel Scharon den „Weg der Konfrontation
beschritt, der die Spirale von Repression und Terrorismus auslöste. Jetzt will
sein Nachfolger die angeblich einzig mögliche Lösung. Sie mag einfach sein,
aber Frieden wird sie nicht bringen.“

Das sieht offensichtlich auch die
Arabische Liga so.

Araber fürchten einseitige Schritte

In der Abschlussresolution des Gipfeltreffens der
Arabiaschen Liga vom 29.03. lehnt diese die Pläne Olmerts ab. „Es steht
außer Frage, dass einseitige Schritte nach israelischem Gutdünken die Situation
nur noch verschlimmern werden“,
erklärte deren Generalsekretär, Amru Mussa.
Die Arabische Liga erneuerte ihre vier Jahre alte Friedensinitiative, in der
sie Israel diplomatische Beziehungen anbietet, wenn Israel sich aus den
besetzen Gebieten zurückzieht und einen palästinensischen Staat mit
Ostjerusalem als Hauptstadt sowie eine Lösung der palästinensischen
Flüchtlingsfrage akzeptiert.

Israels Präsident Mubarak spricht sich für Verhandlungen
zwischen Israel und den Palästinensern aus, da „einseitige Schritte … nicht
zum Frieden führen.“
  (TAZ 30.03.06)

Die Herrscher über Nahost

Die Herrscher über Nahost

Das militärische Dreieck Türkei – Israel – USA

von Andreas Buro

Der Frieden im Nahen Osten steht auf schwachen Füßen. Die Konfliktlinien sind vielfältig: Militäreinsätze gegen Minderheiten (Türkei), nicht eingelöste Vereinbarungen (Israel – Palästina), besetzte Gebiete (Südlibanon), Gebietsansprüche (Zypern), das Dauerthema Saddam Hussein usw.
Kritisch beobachten in dieser Situation die arabischen Staaten die wachsende militärische Zusammenarbeit zwischen der Türkei, Israel und den USA. Die damit verbundene Geheimhaltungspolitik schürt zusätzliche Ängste.

Wurde der Golfkrieg 1991 geführt, um Kuwait vor den irakischen Truppen zu retten und seine staatliche Selbständigkeit zu erhalten? Ging es vorwiegend um Ölinteressen der USA und die Umverteilung der Ölexportquoten der OPEC-Länder? Sollten die Legitimation für die US-Basen in der Region gefestigt und neue Waffensysteme getestet werden? Galt es den US-amerikanischen Rüstungsexport in die Region zu beleben oder sollte die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes neue unipolare Vormachtstellung der USA und des westlichen globalen Militärsystems in der »Neuen Weltordnung« (Präsident Bush) demonstriert werden? Die Meinungen über die Ziele dieses Krieges gehen noch immer weit auseinander. Ein Ergebnis läßt sich jedoch konstatieren: Der Versuch, eine arabisch-<->islamische Regionalmacht zu etablieren, wurde rigoros abgeblockt. Ägypten hatte bereits 1967 im Sechs-Tage-Krieg einen solchen Versuch mit einer katastrophalen militärischen Niederlage gegen Israel bezahlen müssen.

Im 1. Golfkrieg gegen den Iran der Ayatollahs ging es dem Irak offiziell um Gebietsansprüche gegenüber dem Nachbarn. Im Hintergrund stand jedoch immer das Ziel, zur regionalen und arabischen Führungsmacht aufzusteigen. Schon früh hatte sich der Irak – mit Unterstützung Frankreichs – um den Aufau der Grundlagen für eigene nukleare Waffen bemüht. Israel, die »inoffizielle« Atomwaffenmacht und Besitzerin fast aller einschlägigen Waffensysteme hatte völkerrechtswidrig und ohne Kriegserklärung 1981 den im Bau befindlichen Atomreaktor Osirak durch Luftangriffe zerstört. Damit demonstrierte es eindeutig, daß es in Nahost keine arabische Regionalmacht dulden wolle. Aus arabischer Sicht wurde Israel angesichts der enormen Lieferungen und Unterstützungen sowie der Deckung Israels durch die USA im Sicherheitsrat bei allen seinen Verstößen gegen UN-Resolutionen als ein militärischer Brückenkopf der USA verstanden.

Das Interesse der USA an Nahost hat sich seit dem Ende des Ost-West-<->Konfliktes erheblich erweitert. Galt bis dahin die Türkei als strategischer Eckpfeiler gegen den Osten und konnte sie sich deshalb der besonderen Unterstützung der NATO-Staaten erfreuen, so verlor sie diese Funktion mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Nun wurden ihr aber neue Funktionen zugeschrieben u.a.:

  • als Militärstützpunkt gegenüber dem Irak;
  • als Bollwerk gegen den »islamischen Fundamentalismus«;
  • als Brücke zu den Turkvölkern in Asien;
  • als Durchgangsland zur Ausbeutung der Öl-, Gas- und Bodenschätze rund um das kaspische Meer, an denen die USA und der Westen ein sehr großes Interesse haben;
  • und schließlich auch als einer partiellen Regionalmacht in Nahost.

Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß Israel alle diese Funktionen nicht wahrnehmen könnte. Treten jedoch Israel und die Türkei gemeinsam auf, so gewinnen sie eine große Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten der Region. Der israelische Verteidigungsminister Mordechai brachte es mit den Worten auf den Punkt: „Wenn unsere beiden Länder sich die Hand reichen, wird daraus eine starke Faust„ ( FR 9.9.98). Die beiden Staaten haben sich die Hände gereicht. Bereits seit Ende 1995 verhandelten die türkischen Militärs mit Zustimmung der USA mit Israel. Die Regierung der Türkei, also die gewählten Politiker, wurde nicht hinzugezogen. Am 23. Februar 1996 schlossen beide Staaten dann ein Militärabkommen. Sein Inhalt ist bis heute nicht genau bekannt, dürfte aber eine weit größere Bedeutung haben, als die offiziellen Aussagen glauben machen wollen. G.Gürbey ( Zur Rolle der Türkei im Nahost-Friedensprozeß, in: Hoffmann, S. und Ibrahim, F. (Hg.): Versöhnung im Verzug, Bonn 1996, S. 226) beschreibt den Inhalt folgendermaßen: „Es sieht den Austausch von Informationen und gemeinsame Militärmanöver vor, erlaubt den Luftwaffen Israels und der Türkei, Übungsflüge über den Territorien des jeweils anderen Landes durchzuführen und damit eine intensive sicherheitspolitische Zusammenarbeit, insbesondere bei der Bekämpfung des Terrorismus.“ Das Abkommen zielt auch auf die Errichtung einer »strategischen Allianz«. Zusätzlich hofft die türkische Seite, von den hochentwickelten israelischen Techniken in der elektronischen Kriegführung Nutzen zu ziehen. Bereits 1996 hatte die Türkei den Auftrag zur Modernisierung von 54 Kampfflugzeugen des Typs F-16 an ein israelisches Luftfahrt- und Rüstungsunternehmen vergeben. Im Dezember beschlossen beide Länder, die Zusammenarbeit auch auf gemeinsame Rüstungsprojekte auszudehnen. Geplant ist eine Koproduktion der israelischen Luft<->Luft-Rakete Popeye II und der Raketenabwehrwaffe Arrow (FR 9.9.98). 1998 wurden gemeinsame Flottenmanöver, und zwar zusammen mit US-Kriegs<->schiffen durchgeführt. Das erste fand am 7. Januar 98 im Mittelmeer statt. An ihm waren neben den Kriegsschiffen auch Aufklärungsflugzeuge und Kampfhubschrauber beteiligt. Der israelische Verteidigungsminister Mordechai begründete sie mit den Worten: „Den Frieden in der Region zu erhalten und gegen mögliche Angriffe solcher Staaten zusammenzuarbeiten, die Terrorismus unterstützen, sowie ballistische Raketen und Chemiewaffen herstellen.“ (Nützliche Nachrichten 1/98, S. 13 und 3/98, S. 10) Die Adressaten dieser Botschaft waren offensichtlich Iran, Syrien und Irak.

Vor dem jüngsten Besuch von Premierminister Yilmaz im September 1998 in Israel sprach der israelische Premier Netanyahu von einer „zentralen Achse“, die das „Fundament der Sicherheitsstrukturen in dieser Region“ bilden werde. Die israelische Presse bezeichnete die Militärkooperation beider Länder als einen der wichtigsten diplomatischen Erfolge der israelischen Außenpolitik seit der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens vor fünf Jahren. Beide Länder seien „natürliche Verbündete“, und ihre Zusammenarbeit werde „die strategische Balance im Nahen Osten verändern“ ( FR 9.9.98). Es ist leicht vorstellbar, daß die arabischen Staaten gerade dies fürchten. Sie protestierten immer wieder im Laufe der Herausbildung dieser »militärischen Faust«.

Die Bedeutung der »zentralen Achse« Ankara – Jerusalem ist jedoch erst richtig zu würdigen, wenn sie in das globale, unipolare Militärsystem eingeordnet wird. Die bipolare Welt des Ost-West-<->Konflikts ist mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zu einer unipolaren Welt mit den USA als globaler militärischer Hegemonialmacht geworden. Im Bereich der westlichen Industriestaaten werden vorrangig schnelle Eingreiftruppen auf- und ausgebaut. Obwohl keine militärische Bedrohung dieser Länder erkennbar ist, wird die qualitative Aufrüstung systematisch fortgeführt. Die Umgestaltung der alten zu einer »neuen NATO«, wie sie neuerdings offiziell genannt wird, die außerhalb des Verteidigungsauftrages und des NATO-Vertrags<->gebietes, also out-of-area, tätig wird, zeigt eindeutig: Die reichen Industriestaaten unter Führung der USA organisieren ein weltweites militärisches Eingreifsystem. Die NATO wird so von einem Instrument der, wie auch immer fraglichen und bedrohlichen, Verteidigung zu einem Instrument der Durchsetzung von Interessen außerhalb des eigenen Lebensbereiches. Gegenüber der »Schild-Funktion« gewinnt die »Schwert-Aufgabe« eine ganze neue Qualität. In dem Eingreifsystem übernimmt die NATO »die Zuständigkeit« vom Atlantik bis weit nach Afrika, Nahost und Asien. Der pazifische und südasiatische Bereich sollen von den USA in Kooperation vor allem mit Japan und regionalen Vereinbarungen kontrolliert werden.

Die USA und die Türkei sind Mitglieder der NATO, Israel jedoch nicht. Das sich in Nahost anbahnende de-facto-<->Militärbündnis von zwei NATO-Staaten mit Israel bedeutet dementsprechend, daß die NATO an die israelische Politik wie auch an die US-amerikanische »Rohstoffpolitik« in Richtung Asien angekoppelt wird. Allerdings ist dieser Vorgang doppelgesichtig, denn die NATO selbst hat keinen direkten Einfluß auf das Verhalten des neuen Militärdreiecks in Nahost, da es sich ja um ein eigenständiges Militärbündnis von Staaten handelt. Da die USA und die EU-Staaten trotz aller atlantischer Partnerschaft auch Konkurrenten sind, läßt sich das neue Machtdreieck in Nahost auch andersherum lesen, nämlich daß es bestens dazu geeignet ist, die europäischen NATO-Staaten in ihrer out-of-area Politik aus dem Nahen Osten auszugrenzen. War doch Nahost einst französisches und englisches Einflußgebiet, in der Türkei spiel(t)en die Deutschen eine besondere Rolle, und stellte sich nicht Frankreich in der Irak-Krise Anfang ‘98 aus Öl- und Exportinteressen gegen einen erneuten US-amerikanischen Militärschlag gegen den Irak! Solche unsicheren Partner könnten der Durchsetzung weitreichender US-amerikanischer Interessen nur Schaden zufügen.

Israel und die Türkei sind zweifellos unvergleichbare Länder. Dennoch haben sie einige Gemeinsamkeiten. So z.B.:

  • Beide haben große Minderheiten in ihrem Herrschaftsgebiet, denen sie vorwiegend mit Mitteln der Gewalt begegnen. Verbindend ist für sie dagegen, daß es sowohl in der Türkei (etwa 24.000) wie auch in Israel (etwa 120.000) türkisch-jüdische Bewohner gibt (Gürbey 1996, S. 227).
  • Beide fühlen sich von islamistischen Tendenzen bedroht und versuchen sie zurückzudrängen oder abzuschrecken.
  • Beide haben expansionistische Ziele. Die Türkei in Zypern, im Nord-Irak und in der griechischen Inselwelt. Israel vor allem bezogen auf West-Jordanland und Jerusalem.
  • In beiden spielt das Militär eine sehr große bis überwältigende Rolle, während Strategien der Versöhnung und Kooperation weitgehend vernachlässigt oder sogar aktiv bekämpft werden. Der israelische Ministerpräsident Rabin, der den Osloer Vertrag umsetzen wollte, wurde ermordet. Der türkische Präsident Özal wollte eine friedliche, politische Lösung der Kurdenfrage erreichen und starb unter mysteriösen Umständen kurz nach der öffentlichen Bekanntgabe seiner Absichten.
  • Beide Länder haben für die Interessen der Vormacht des globalen Militärsystems eine hervorragende Bedeutung. Sie können daher einer weitgehenden politischen und militärischen Unterstützung der USA sicher sein, selbst wenn sie gegen internationales Recht, menschenrechtliche Verpflichtungen und UN-Beschlüsse verstoßen.
  • Syrien ist für beide Länder aus unterschiedlichen Gründen ein gegnerisches Land. Es unterstützt(e) die kurdische Guerilla PKK in ihrem Kampf gegen die Türkei – vermutlich vor allem, um dadurch ein Gegenpfand gegen Einschränkungen von Wasserzuflüssen aus der Türkei in der Hand zu haben. Die jüngste Kriegsdrohung der Türkei gegenüber Syrien im Oktober ‘98 hat zwar zu einem gemeinsamen Vertrag geführt, womit jedoch die Konfliktlage vermutlich nicht endgültig bereinigt wurde. Israel hat sich angesichts der türkischen Kriegsdrohung zurückgehalten. Trotzdem dürfte Damaskus sehr wohl bewußt sein, daß es mit zwei kooperierenden starken Militärmächten zu tun hat, die es mühelos in die Zange nehmen können. Nach wie vor verweigert Israel eine Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien.

Neben den genannten Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch unterschiedliche Interessen. Weder Israel noch die Türkei möchten in die spezifischen Konflikte der anderen Seite mit einbezogen werden. Die Türkei als islamisches Land mit erheblichen Wirtschaftsinteressen in anderen islamischen Ländern möchte nicht in den israelisch-palästinensischen Konflikt geraten und auch nicht als ein Partner Israels in dieser Hinsicht bewertet werden. Andererseits kann Israel kein Interesse daran haben, Teil des NATO-Streites zwischen der Türkei und Griechenland zu werden, was Ankara nicht ungern sehen würde. Jedenfalls bezeichnete der türkische Ministerpräsident bei seinem Besuch in Israel im September ‘98 die Stationierung von Luftabwehrraketen im griechischen Teil Zyperns als eine Bedrohung der ganzen Region. Fraglich ist, ob es den Militärpartnern gelingen wird, die verschiedenen Konfliktfelder in der Wahrnehmung der anderen Staaten der Region tatsächlich säuberlich zu trennen. Schließlich wird die vereinbarte Unterstützung Israels für die technische Verbesserung der türkischen Streitkräfte als Bedrohung für andere Staaten der Region verstanden werden. Aufgrund der Geheimhaltung der Vereinbarungen beider Staaten und der militärischen Kooperationspraxis wird eine solche Trennung schwer durchzuhalten sein. Hierfür ein Beispiel: „Hartnäckig halten sich Gerüchte, wonach türkische Kampfflugzeug-Piloten bereits während des Sommers ‘98 in Israel Angriffe auf simulierte Abwehr-Raketenstellungen geübt hätten.„ (FR 9.9.98)

Die sich herausbildende Konstellation einer türkisch-israelisch-US-ameri<->kanischen regionalen Militärhegemonie in Nahost stellt die türkische Außenpolitik vor das Problem, diese neue Position mit gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Staaten zu verbinden. Die Türkei hat zwar Israel bereits 1949 anerkannt, dann aber doch eine Politik der Unterstützung der palästinensischen Ansprüche betrieben. Während der Kriege 1967 und 1973 stellte sich die Türkei auf die arabische Seite und verweigerte sogar den USA die Nutzung ihrer Militäreinrichtungen zur militärischen Versorgung Israels (s. Gürbey 1996 auch zum Folgenden). Auch in der Folgezeit versuchte Ankara bezogen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt eine Politik der Friedensförderung zu betreiben. Dies lag nicht zuletzt im wirtschaftlichen Interesse der Türkei, mußte es doch versuchen, in seiner Region mit den islamisch-arabischen Nachbarstaaten gute politische Voraussetzungen für eine Ausweitung des wirtschaftlichen Austausches zu schaffen. In der Özalschen Nahost-Politik konnte in der Tat eine erhebliche Steigerung des Handels, und zwar auch mit Israel, erreicht werden. Heute ist zu fragen: Wird nicht die Politik der militärischen Troika in Nahost, die sich in vielfacher Weise gerade gegen diese Nachbarstaaten wendet, die vorsichtige Regionalpolitik der Türkei in Frage stellen? Die Ansätze hierfür liegen auf der Hand: Seit dem Golf-Krieg 1991 stellt die Türkei den USA und der NATO militärische Einrichtungen für Operationen gegen den Irak zur Verfügung; die mittlerweile ständige Invasion türkischer Truppen in den Nord-Irak und deren Einmischung in die politischen Konflikte der dortigen Kurden und im Oktober ‘98 die Bedrohung Syriens mit Krieg, der nur knapp abgewendet wurde.

Die Herausbildung regionaler, militärischer Dominanz durch die Troika Türkei-Israel-USA verheißt keine friedenspolitische Wende, denn:

  • Das Primat des Militärischen in der Region wird gefördert und die Falken werden gestärkt. Die »Arroganz der Macht« militärischer Überlegenheit wird nicht friedensfördernd sein.
  • Erhebliche Ressourcen werden in eine forcierte Aufrüstung fließen und so für die Landesentwicklung und die soziale Dimension nicht mehr zur Verfügung stehen. Schon jetzt hat die Gesellschaft der Türkei, deren Eliten in Mafia und Korruption in erheblichem Maße verstrickt sind, schweren Schaden durch den türkisch-kurdischen Krieg genommen. Auf solchem Boden gedeihen nationalistische, rassistische und fundamentalistische Einstellungen.
  • Der Kampf in den Gesellschaften, um ihre Demokratisierung und die Unterwerfung des Militärischen unter die Politik gewählter Regierungen, wird durch die Militarisierung der Politik schwer behindert und fördert autoritäre Tendenzen.
  • Die Bereitschaft, die vorhandenen Konflikte in der Region durch kooperative Lösungen, die allen Vorteile bringen, zu lösen, sinkt weiter. Die arabische Zeitung Al-Sharq (1.7.98): „Durch die Teilnahme an den Seemanövern hat die Türkei eine Position in der vordersten Front eingenommen, um die israelischen und amerikanischen Ziele gegen die arabischen Länder durchzusetzen.“ (Zit. nach Kurdish Life, Nr. 26, 1998) Gegenwärtig sind z.B. auch alle Angebote der kurdischen Guerilla zu einem Waffenstillstand mit dem Ziel, eine politische Lösung innerhalb der Türkei zu erreichen, vom militärisch beherrschten Nationalen Sicherheitsrat in Ankara abgeblockt worden. Nach der Turkish Daily News sind die Erfolge der türkischen Mai-Offensive von 1997 gegen die PKK-Guerilla der guten Zusammenarbeit zwischen der Türkei, Israel und den USA zu verdanken (TDN 15.6.97, zit. ebd.).
  • Die Region wird zunehmend für Interessen der USA und der G 7 instrumentalisiert, wodurch zusätzliche Konflikte und Anforderungen in die Region hineingetragen werden, etwa aus dem rohstoffreichen Raum um das kaspische Meer.
  • Die von der Türkei angestrebte Aufnahme in die EU wird durch den Kurs der weiteren Militarisierung der Politik, der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen und der sozialen und wirtschaftlichen Destabilisierung des eigenen Landes zusätzlich erschwert werden, aber auch durch die wachsende militärische Konfrontation mit dem EU-Mitglied Griechenland.

Eine solche Politik regionaler Militärdominanz hat mit Friedenspolitik nichts zu tun. Sie überwindet nicht Konflikte, sondern produziert diese geradezu.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V.

Weg mit der Mauer in Palästina

Weg mit der Mauer in Palästina

von Barbara Dietrich

Das Thema Europa und sein Verhältnis zum israelisch-palästinensischen Konflikt stand im Mittelpunkt einer Konferenz, zu der deutsche, palästinensische und jüdische Gruppen Ende letzten Jahres nach Berlin eingeladen hatten. Unter ihnen: Der Koordinationskreis »Stoppt die Mauer in Palästina«, die IPPNW, die deutsch-palästinensische Gesellschaft, die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden und die Palästinensische Gesellschaft Deutschlands. Barbara Dietrich fasst de wichtigsten Aussagen für W&F zusammen.

In seinem einleitenden Referat lieferte Fatih Khdirat, Koordinator der palästinensischen Kampagne gegen die Apartheidmauer im Jordantal einen Überblick über die Geschichte der zionistischen Bewegung bis 1948 und die Siedlungspolitik Israels bis 1993. Jahre, die gekennzeichnet waren durch die Vertreibung der Palästinenser. Auch in der Zeit nach den Verträgen von Oslo sei deutlich geworden, dass Israel keine palästinensische Selbstverwaltung in den besetzten Gebieten zulassen wollte. Vielmehr sollten diese Gebiete in die israelische Infrastruktur integriert werden. Deshalb seien die Siedlungen ausgeweitet und das Netz der Verbindungsstraßen für die Siedler – unter Umgehung der palästinensischen Siedlungen – erheblich vergrößert worden.

Im Verlauf der 2. Intifada – ab 2000 – zerstörte Israel palästinensische Dörfer und Siedlungen, auch unter Einsatz der Luftwaffe und ohne Rücksicht auf die dort lebenden Kinder. Bis heute werde die Besetzung einseitig fortgesetzt unter Berufung darauf, dass es auf palästinensischer Seite keinen Verhandlungspartner gebe.

Den Mauerbau, im Jahr 2000 begonnen, bezeichnete Khdirat als die 3. Katastrophe (al nakba) nach der 1. von 1948 und der 2. von 1967. Er schilderte die Folgen der Trennmauer, durch die u.a. Wohngebiete und Dörfer auseinander gerissen, Bauern von ihren Feldern abgeschnitten und 100.000e Olivenbäume – wichtige Einnahmequelle der Palästinenser – zerstört worden seien. Die Stadt Qalqilja, die ringsum von Mauern umgeben ist, bezeichnete der Referent als Freiluftgefängnis für ihre 43.000 Einwohner. Zudem würden in der Nähe der Mauer gezielt schadstoffintensive Betriebe angesiedelt. Das Recht auf Bildung sei für viele palästinensische Schüler unzugänglich geworden, Tausende müssten jeden Tag an den Checkpoints warten, um zur Schule und nach Hause kommen zu können. Da es verboten sei zu bauen, müssten Kinder in Zelten unterrichtet werden.

Der Konvergenzplan Olmerts sehe 3 Enklaven – Ramallah, Nablus und Hebron – vor, die nur über israelische Kontrollpunkte zugänglich seien. Voraussetzung für die Etablierung eines palästinensischen Staates aber sei die geographische Einheit des Staatsgebietes. Inzwischen seien nur noch 12% des gesamten Territoriums für Palästina vorgesehen – 1947 waren es nach dem UNO-Teilungsplan 47%.

Für Jeff Halper, israelischer Anthropologe und Direktor des israelischen Komitees gegen Häuserzerstörung, arbeitet die zionistische Bewegung seit 100 Jahren daraufhin, die Kontrolle über das historische Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan zu bekommen. Grundlage der israelischen Politik sei historisch ein stammesorientierter Nationalismus gewesen, wie ihn die aus Russland immigrierten Juden verträten. Später sei ein österreichisch geführter, über die Abstammung definierter Nationalismus hinzugekommen, der durch Exklusivität gekennzeichnet sei. Das Land – Eretz Israel – gehört danach ausschließlich dem jüdischen Volk, das gegenüber anderen privilegiert ist. Die Araber – so werden die Palästinenser bezeichnet, um jeden Anschein von Legitimität zu vermeiden – gelten nicht als Volk oder Nation, ihnen steht kein Selbstbestimmungsrecht zu. Sie würden in Israel lediglich geduldet.

Israels Politik ist für Jeff Halper ideologisch und darauf ausgerichtet, dass ein Volk ein anderes auf Dauer dominiert. Die radikalste Version, der Transfer im Sinne einer ethnischen Säuberung, werde in Israel überall öffentlich diskutiert. Wenn sie verworfen werde, so nicht aus moralischen Gründen, sondern weil dies dem Image schade.

Den 4 Mio. Palästinensern werde im »Konvergenzplan« Ehud Olmerts ein Staat zugestanden, der nicht mehr als 15% des Territoriums der Westbank umfasse, nur halbsouverän und wegen seiner geographischen Zersplitterung nicht lebensfähig sei. Es werde nicht berücksichtigt, dass Flüchtlinge in das Gebiet zurückkehren wollen, es aber keine Industrie mehr gibt und die Landwirtschaft zerstört wurde, dass 70% der Palästinenser mit weniger als 2 $ / Tag auskommen müssen und dass 6o% von ihnen in den besetzten Gebieten und den Flüchtlingslagern unter 18 Jahren sind. Die Mauer sei also kein Sicherheitszaun, sondern eine politische Grenze im Kontext des Konvergenzplans – dies habe die israelische Außenministerin Zipi Livni selbst zugegeben.

Abschließend fordere Halpers, dem Konvergenzplan entgegenzutreten und eine umfassende Anti- Apartheid-Kampagne ins Leben zu rufen.

Die »imperialistische Strategie der USA« stand im Mittelpunkt der Ausführungen von Gilbert Achkar, Politologe an der Universität in Paris. Nach den Kriegen in Afghanistan und Irak gehe es nun darum den Iran als Haupthindernis der imperialen Hegemonie im Nahen Osten auszuschalten. Iran werde als Führerin einer regionalen Allianz mit Syrien, der Hisbollah im Libanon, der Hamas in Palästina und den proiranischen Schiiten im Irak gesehen.

Die Parlamentswahl in Palästina im Januar 2006 mit dem Sieg der Hamas sei von Washington als ein Sieg Syriens und des Iran interpretiert und rasch mit einem Boykott der demokratisch gewählten palästinensischen Regierung von Seiten der USA und der EU beantwortet worden. Nach den Erfahrungen im Libanon hätten die USA und Israel die Bildung einer Einheitsregierung verhindern und die Palästinenser in einen Bürgerkrieg unter Beteiligung der mit den USA kooperierenden Sicherheitskräfte in Gaza treiben wollen. Den Palästinensern sei diese Gefahr bewusst gewesen, deshalb intensivierten sie ihre Verhandlungen, bis am 27.6. eine Einigung über das so genannte Gefangenenpapier1 zustande kam: In abgeänderter Version wurde es eine gemeinsame Plattform, die auf dem Konsens fast aller palästinensischen Splittergruppen beruhte und die grundlegenden Ziele des palästinensischen Volkes benannte.2

Die USA und Israel akzeptierten dies nicht und es begann 1 Tag später, am 28.6., der Krieg gegen Gaza unter dem Vorwand der Entführung eines Israelischen Soldaten am 25.6. Einige Wochen später erfolgte der Angriff auf den Libanon, wieder unter ähnlichem Vorwand. Ziel dieser Offensiven sei es gewesen, Hamas und Hisbollah zu zerschlagen.

Die Nato-Truppen, die derzeit unter UN-Mandat im Libanon seien, seien de facto Werkzeuge der US-Strategie, eine Intervention zum Schutz des palästinensischen Volkes sehe das Mandat nicht vor. Achkar sprach die Befürchtung aus, dass die gegenwärtige Schwäche der Regierungen Bush und Olmert die Bildung einer Einheitsregierung in Palästina nicht erleichtert, sondern eher noch zu mehr Aggression beiträgt.

Da die Verbrechen Israels während beider Kriege zusehends offensichtlicher würden, sei es vordringlich, eine internationale Kampagne gegenüber westlichen Regierungen zu starten mit dem Ziel, eine Änderung ihrer Politik zugunsten der Menschen und des Friedens zu erwirken. Es habe sich, so schloss der Referent, eine „Globalisierung der Unsicherheit“ entwickelt, die zurückwirke auf die Staaten, die die USA und Israel unterstützten.

Otfried Nassauer, Leiter des Berlin Information Center for Transatlantic Security (BITS) zeigte die kontinuierliche Militärkooperation zwischen BRD und Israel auf, die bereits 1955/56, zehn Jahre vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zu einer Zeit begann, in der es Deutschland noch untersagt war, Rüstungsgüter zu produzieren. Das Kriegsschiff, das damals an Israel geliefert wurde, sei im Rahmen des zivilen Schiffsbaus hergestellt worden. Es wurden außerdem Waffen aus Wehrmachtsbeständen und von den USA geschenkte Waffen geliefert. Prägend für die Kooperation sei ihre weitgehende Geheimhaltung: In den 80iger Jahren wurde die Militärkooperation vor allem über den BND und Mossad abgewickelt, was die Umgehung der parlamentarischen Kontrolle implizierte und sicherstellte, dass die Kooperation mit arabischen Partnern nicht belastet wurde. Rüstungsgüter, die nach Israel geliefert werden sollten, seien als dual-use-Güter oder als Güter deklariert worden, die keinen Bezug zur Rüstung haben. Offensichtlich militärische Produkte wie z.B. die Kanone und der Motor für den Leopard II-Panzer wurden hingegen über die USA nach Israel geliefert. Auch in Israel sei an der Geheimhaltung festgehalten worden: das label »Made in Germany« war in der Regel an nicht sichtbarer Stelle angebracht.

Raif Hussein, Vorsitzender der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, referierte zu Fragen der Solidaritätsarbeit. Er definierte Solidarität als tragfähige Freundschaft, die Warnungen vor Fehlern und Kritik aushalten muss.

Die Sprecherin der »European Jews for a Just Peace«, Fanny-Michaela Reisin, forderte Israel auf, endlich die zahlreichen Resolutionen der UN zu befolgen. Da die Staatengemeinschaft den Verletzungen internationalen Rechts durch Israel bisher weitgehend tatenlos zusehe, sei es Aufgabe der Zivilgesellschaft, dagegen anzugehen. Die EJJP habe deshalb eine Kampagne gestartet und zu Boykott, Investitionsstop und Sanktionen aufgerufen: Waren mit israelischem Stempel, die aus den besetzten Gebieten kommen, sollen nicht mehr gekauft, Waren, die als dual-use Güter anzusehen sind, nicht mehr nach Israel exportiert werden.

Abschließend wies Frau Raisin darauf hin, dass hebräische Universitäten eng mit dem israelischen Militär und dem Besatzungssystem verflochten sind und Aufträge von ihm empfangen. Sie schlug deshalb vor, Universitätslehrer aus Israel nur noch dann einzuladen, wenn diese die Besatzungspraxis explizit ablehnen.

Die Abschlusserklärung der Konferenzteilnehmer/innen beinhaltet vor allem einen Aufruf zur Teilnahme an der Kampagne gegen die Mauer und für Boykott, Investitionsstopp und Sanktionen als Maßnahmen gegen die israelische Besatzungspolitik.

Anmerkungen

1) Vgl. »The Document of National Agreement«, signed by imprisoned Palestinian leaders vom 11.5.2006

2) Vgl. »Dokument der nationalen Übereinkunft« vom 28.6.2006, aus dem arabischen von Th. Hillesheim und J. Salem übersetzte Fassung, Ramallah 13.9.2006

Prof. Dr. Barbara Dietrich, Frankfurt

Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel

Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel

Nachgedanken eines Friedensfreundes

von Daniel Bar-Tal

Im Zusammenhang des zweiten Libanon-Kriegs haben sich hierzulande zahlreiche selbsternannte Israelfreunde mit unbesehen proisraelischen Stellungnahmen zu Wort gemeldet – manche so anmaßend, dass sie auch selbstkritische jüdische Stimmen als israelfeindlich oder gar als antisemitisch glaubten diffamieren zu können. Das wird der vorliegende Beitrag des sich dem israelischen Friedenslager zurechnenden Sozialpsychologen Daniel Bar-Tal kaum erlauben. Dennoch ist er ausgesprochen selbst- bzw. israelkritisch, nicht zuletzt vom moralischen Standpunkt aus. Im Hinblick auf die kaum zu überschätzende Bedeutung der jüdischen Tradition für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins der Menschheit kann man eine solche Stimme als Stimme des »wahren Israel« verstehen. Jedenfalls erscheint sie uns als wertvolle Orientierungshilfe für wahre Israelfreunde.

Der jüngste Krieg im Libanon trug zu einer weiteren Spaltung des Friedenslagers bei. Zu Beginn dieses Krieges brachten manche aus dem Friedenslager ihre Zustimmung zum Ausdruck und verlangten, man müsse zwischen »radikalen« und »vernünftigen« Tauben unterscheiden und die Grundannahmen des Friedenslagers überprüfen. Als ein Vertreter dieses Lagers nehme ich die Herausforderung an und überprüfe meinen Bezugsrahmen. Dazu werde ich meine Auffassungen zunächst skizzieren, bevor ich sie im Licht der jüngsten Ereignisse betrachte.

Grundannahmen

  • Der Israel-Palästina-Konflikt muss auf dem Verhandlungsweg gelöst werden, und zwar gemäß den Grundsätzen, die in jüngerer Vergangenheit aufgestellt wurden: z.B. in Übereinstimmung mit den Clinton-Kriterien, den Taba-Vereinbarungen, den Genfer Konventionen und/oder dem Vorschlag der Arabischen Liga. Diese Empfehlungen, oder Kombinationen davon, könnten die Grundlage darstellen für eine endgültige Einigung.
  • Der israelisch-syrische Konflikt muss ebenfalls auf dem Verhandlungsweg gelöst werden. Verhandlungen müssen zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags führen, der wenigstens dem Friedensabkommen mit Ägypten entspricht.
  • Als bedeutende Regionalmacht hält Israel die meisten Karten zur Lösung des Palästina-Syrien-Konflikts in der Hand und kann Vertrauen schaffende Maßnahmen ergreifen, um einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu erleichtern.
  • Für den Staat Israel besteht eine existenzielle Gefahr seitens extremistischer Kräfte, die offen davon sprechen, Israel müsse zerstört werden. Friedensabkommen mit seinen Nachbarn sind die beste Garantie für das Fortbestehen und die Sicherheit des Staates Israel. Darüber hinaus sind solche Abkommen von höchster Bedeutung für Entwicklung und Wohlstand der israelischen Gesellschaft.
  • Terroristische Aktionen – Terror von Palästinensern eingeschlossen –, die sich gegen unschuldige Zivilisten richten, stellen ein Verbrechen dar und müssen eingestellt werden.
  • Der Staat Israel muss damit aufhören, der palästinischen Bevölkerung die unterschiedlichsten Kollektivsanktionen aufzuerlegen. Ebenso müssen die diversen gewaltsamen Übergriffe, einschließlich der nach internationalem Recht illegalen Attentate, eingestellt werden.
  • Der Staat Israel muss den Bau und die Erweiterung von Siedlungen einstellen, die das Völkerrecht negieren.
  • Der israelisch-arabische Konflikt wird auf beiden Seiten durch politische, soziale, kulturelle und erzieherische Mechanismen und Institutionen verschärft und aufrechterhalten. Aus diesem Grund ist es zwingend notwendig, alle konfliktbegünstigende Erziehung und Bildung einzustellen und diesen ganzen Bereich auf Frieden auszurichten.
  • Moralische Erwägungen müssen das Handeln der Konfliktparteien bestimmen. Das gilt besonders für den Staat Israel, der sich als aufgeklärter Staat versteht. Daher sollten Völkerrecht und moralische Werte bei seinen Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen.

Zum Libanonkrieg

Meine Überlegungen zum jüngsten Libanon-Krieg bestärken mich in meinen Grundannahmen. Mehr als je zuvor bin ich von der Notwendigkeit überzeugt, dass der Israel-Palästina-Konflikt auf dem Verhandlungsweg und durch die Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit Syrien beigelegt werden muss.

Ich nehme die Drohung des Iran, Israel vernichten zu wollen, ernst, glaube aber, dass eine friedliche Beilegung der Probleme mit Palästina und Syrien uns im Innern stärken, unser internationales Ansehen fördern und uns so in die Lage versetzen wird, den Gefahren Stand zu halten. Mehr denn je bin ich gegen die Anwendung von Gewalt zum Zweck der Konfliktregelung.

Was den jüngsten Krieg betrifft, so wird kaum jemand bezweifeln, dass die Entführung von Soldaten durch die Hisbollah ein Akt ungerechtfertigter Gewalt war, der Gesetze und Normen der internationalen Gemeinschaft verletzt hat. Allerdings, an diesem Punkt ist auch schon Schluss mit dem Konsens. Ich gehöre zu den Leuten, die überzeugt sind, dass die übereilte Entscheidung zu Krieg, die massiven Bombenangriffe, die immense Schädigung der Zivilbevölkerung, der Widerstand gegen einen Waffenstillstand und gegen Verhandlungen in der ersten Kriegsphase und der Beginn einer groß angelegten Bodenoffensive nach der Resolution des Sicherheitsrates symptomatisch sind für Israels Neigung zu Gewaltlösungen, für seine simplifizierende und ethnozentrische Einstellung zu dem Konflikt sowie für den überwältigenden politischen Einfluss der Armee.

Gewiss, Nachrichten über die Tötung von Zivilisten durch Katjuscha-Raketen in Acre, Haifa oder Tarshiha erzeugen Wut. Das Bedürfnis nach Vergeltung, der Wunsch, Leute von der Hisbollah zu töten und zu verletzen, drängt sich auf. Das ist zweifelsohne eine natürliche Reaktion fast aller Menschen. Nichtsdestotrotz muss genau an diesem Punkt eine andere Stimme gehört werden – die Stimme, die uns dazu auffordert, die Ereignisse in einer weiten historischen Perspektive zu betrachten, über zahlreiche mögliche Konsequenzen nachzudenken, Alternativen zum Erreichen ähnlicher Ziele in Betracht zu ziehen und die Folgen impulsiver, instinktförmiger Handlungen zu bedenken. Ich möchte annehmen, dass die Führer der Nation solche distanzierten Einschätzungen vornehmen – wenn nicht sie, dann zumindest die Anhänger des Friedenslagers.

Hier einige Gedanken meiner eigenen »zweiten Stimme«:

  • Die Hisbollah ist eine politische Bewegung mit einem militärischen Arm (der auch in terroristische Aktivitäten verwickelt ist), mit entsetzlichen Absichten und Handlungen gegen uns. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Hisbollah als eine authentische Form des Widerstands gegen die Besetzung von Teilen des Libanon durch Israel entstanden ist. Sie vertritt die Mehrheit der südlibanesischen Bevölkerung und spielt gegenwärtig eine Rolle in der Innenpolitik des Landes. Israel zog sich in der Tat auf die internationale Grenze zurück, behielt aber die Sheba Farm besetzt. Der Krieg hat die Existenzberechtigung der Hisbollah bestärkt.
  • Der massive Beschuss im Norden Israels durch die Hisbollah folgte auf die massiven Angriffe der israelischen Streitkräfte im Süden des Libanon und auf Beirut, die ebenso Zivilopfer forderten. Die Gewalt der Hisbollah und unsere eigene entwickelten sich zu einem Teufelskreis.
  • Der Abschuss von Raketen auf israelische Städte und Dörfer stellt zweifelsohne einen terroristischen Akt dar. Die Bombardierung Beiruts und anderer libanesischer Gemeinden zur Ausübung von Druck auf die libanesische Führung und die Hisbollah war ebenfalls Terror.
  • Ich nehme den israelischen Streitkräften die wiederholten Entschuldigungen wegen der zivilen Opfer nicht ab. Ein Fehler kann ein- oder zweimal passieren – diese Vorfälle wiederholen sich jedoch zu oft und weisen auf ein System hin, das unvereinbar ist mit moralbestimmtem Verhalten.
  • Die Raketenangriffe auf die zivilen Wohngebiete im Norden (Israels) sind laut Völkerrecht und unter moralischen Gesichtspunkten ein Verbrechen. Zum ersten Mal wurde die israelische Heimatfront in einem Krieg so weitgehend geschädigt. Dazu muss jedoch deutlich gesagt werden, dass Israel in der Vergangenheit selbst zielgerichtet und in großem Maßstab Bevölkerungszentren angegriffen hat. So als Israel während des Zermürbungskriegs die Canal towns bombardierte und desgleichen im ersten und zweiten Libanon-Krieg.
  • Die Aktionen der Hisbollah standen im Zusammenhang des Gewaltausbruchs im Israel-Palästina-Konflikt. Sie folgten auf den israelischen Einfall in Gaza nach dem tödlichen Angriff auf einen Posten der Israelischen Streitkräfte außerhalb des Gaza-Streifens und der Entführung eines israelischen Soldaten. Diese Ereignisse geschahen vor dem Hintergrund der jahrelangen Weigerung Israels, Verhandlungen mit den Palästinensern aufzunehmen, weil es angeblich keine palästinensischen Verhandlungspartner gibt. Israel hatte sich zwar einseitig aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, kontrollierte aber weiterhin viele Aspekte des Lebens dort und verwandelte die Gegend in ein großes geschlossenes Lager. Die Verwendung von Qassam-Raketen durch die Palästinenser ist ein Verbrechen im aktuellen Teufelskreis der Gewalt, macht aber auch sehr deutlich, dass der israelisch-palästinensische Konflikt ungelöst ist.
  • Es muss auch daran erinnert werden, dass die Gewalt im Gaza-Streifen während des Libanon-Kriegs ununterbrochen unschuldige Zivilopfer forderte, Frauen und Kinder eingeschlossen. Die israelische Öffentlichkeit ignorierte diese Gewalt und schenkte nur dem Norden des eigenen Landes Aufmerksamkeit.
  • Israel verweigert Verhandlungen mit Syrien, da es weiß, dass ein Friedensabkommen die Aufgabe der Golanhöhen erfordern würde. Die Golanhöhen ohne Frieden werden erkennbar dem Frieden ohne Golanhöhen vorgezogen. Die Aktionen der Hisbollah mit Syriens Unterstützung machen auch auf dieses ungelöste Problem aufmerksam.
  • Der Entscheidungsfindungsprozess der israelischen Regierung war, laut Medien, durch hastige Einschätzungen und das Fehlen von langzeitorientierter strategischer Planung charakterisiert. Der tief greifende Einfluss der Armee auf unser aller Leben ist dadurch einmal mehr deutlich geworden.
  • Es war extrem schwierig, sich ausschließlich anhand der israelischen Medien ein adäquates Bild von den Geschehnissen zu machen: Politische und militärische Führung betrieben meist Propaganda. Zeitungen und die Mehrzahl elektronischer Medien wurden dazu gebracht, die Kriegsanstrengungen von Regierung und Armee zu unterstützen.
  • Die Hisbollah fungiert als ausführender Arm des Iran, dessen Ziele den Einwohnern Israels Sorge bereiten sollten. Daher ist es zwingend notwendig, Friedensabkommen mit Syrien und dem Libanon zu erreichen und so die Rechtfertigung für die Existenz der Hisbollah in der Region zu schwächen.
  • Israel dient der US-Politik, die sich zum Ziel gesetzt hat, die »Achse des Bösen« mit Gewalt zu bekämpfen, als Subunternehmer. Ich bezweifle, dass es wirklich im Interesse Israels liegt, Syrien zu isolieren und es in die »Achse des Bösen« einzureihen.
  • Die Auffassung, die Zerstörung des Libanon sei insofern von Vorteil für den Libanon, als sie zum Bruch mit der Hisbollah führe, ist eine orwellhafte Fehlkonstruktion.
  • Es stimmt, dass der Libanon und die Hisbollah der Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats nicht zugestimmt haben und dass das die Verschlechterung mit bedingt hat, die zu den jüngsten Kämpfen führte. Jedoch hat auch Israel den Resolutionen 242 und 338, die den Abzug von den besetzten Territorien fordern, nicht zugestimmt. Die Nicht-Befolgung dieser Resolutionen verlängert ebenfalls den Konflikt und das Blutvergießen.
  • Es gibt legitime Beschwerden gegen den Iran, dass er der Hisbollah Waffen geliefert hat, die auf ziviles Gebiet im Norden Israels niedergingen. Auf der anderen Seite wurde Israel mit illegitimen Splitterbomben versorgt, die in libanesischen Wohngebieten eingesetzt wurden.
  • Angenommen, die Reaktion Israels auf die grenzüberschreitende Entführung und Tötung von Soldaten durch die Hisbollah und auf den massiven Beschuss Nordisraels sei angemessen gewesen: Was wäre dann eine angemessene Reaktion der Palästinenser auf die Unterdrückung der Bevölkerung, auf die Zerstörung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Infrastruktur durch Israel? Wie sollten sie angemessen auf die rechtswidrigen Handlungen von Siedlern reagieren, die von Israels Regierung und Institutionen, Gerichte und Armee eingeschlossen, unterstützt werden?

Einsichten nach dem Krieg

Die Ergebnisse des Krieges (die hätten antizipiert werden können und sollen), sind anscheinend folgende:

1. Die Hisbollah und der Iran haben es geschafft, weltweit ihr Image in der arabischen und muslimischen Öffentlichkeit zu fördern. Die Position Israels in der westlichen Welt ist geschwächt und Israel hat sich nun noch weiter von einer friedlichen Lösung des israelisch-arabischen Konflikts entfernt. Man kann davon ausgehen, dass der Erfolg der Hisbollah, einer der weltweit stärksten Armeen stand zu halten, der Abschreckungskapazität Israels abträglich ist. Das bestärkt die Annahme, dass Israel eher durch Friedensabkommen als durch weitere Kriege gesichert werden kann.

2. Der Libanon-Krieg begann mit einem unmoralischen Akt der Aggression und verkam zu Gewaltsamkeiten, die an den Dschungel erinnern oder an den wilden Westen, wo moralische Schranken allseits fallen und es mörderische Schläge hagelt. Jede Seite kümmert sich nur um die eigenen Opfer, glorifiziert die eigenen Streitkräfte und dämonisiert den Gegner. Ein Optimist mag vielleicht sagen, dass auch aus diesem üblen Dschungel noch eine Heilpflanze wachsen und zu Friedensgesprächen führen kann – wenn das nur mal passieren würde!

3. An dieser Stelle möchte ich auf den Unterschied zwischen der radikalen Linken und einer Linken, die sich selbst für »vernünftig« hält, zurückkommen. Wenn der Begriff »radikale Linke« für eine post-zionistisches Linke steht, die die Existenz des Staates Israel ablehnt, dann steht er für eine sehr kleine Gruppe mit wenig Einfluss. Ich hoffe, dass das so verstandene Etikett »radikal links« nicht jenen Kritikern im Friedenslager zugeschrieben wird, die sich der regierungsamtlichen Sicht des Geschehens oder der in der öffentlichen Meinung oder in den Medien vorherrschenden Version verweigern. Diese Abweichler werfen einen umfassenderen Blick auf die Situation und melden sich mit diversen kritischen Beiträgen zu Wort.

4. Ich würde gerne eine alternative Unterscheidung vorschlagen, und zwar eine zwischen instrumentalistischen und moralisch orientierten Tauben. Die ersteren unterstützen den Friedensprozess aus pragmatisch-ethnozentrischen Erwägungen zum Wohle des jüdischen Volkes – als da sind demographische Befürchtungen, Sorge um die Sicherheit des Staates und Sorgen um wirtschaftliche Prosperität. Diese Gruppe ist ein wichtiger Teil des Friedenslagers und ohne sie wäre es nicht möglich, den Friedensprozess voranzutreiben. Die andere Gruppe, die moralisch orientierten Tauben unterstützen ein Friedensabkommen aufgrund universeller ethischer Erwägungen. Sie erkennen dem palästinensischen Volk – ebenso wie dem jüdischen Volk – ein Recht auf dieses Land zu, ein Recht auf Selbstbestimmung und darauf, seinen eigenen Staat aufzubauen. Außerdem sind sie in der Lage, für die Leiden der Palästinenser oder Libanesen Mitgefühl zu entwickeln. Sie sind sich bewusst, dass der Staat Israel ethische Normen gelegentlich verletzt hat. Sie sehen, dass Gewalt auf der einen Seite zu Gewalt auf der anderen Seite führt und einen ununterbrochenen Teufelskreis von Feindseligkeit nährt, so dass es unmöglich wird, zu klären, wer angefangen und wer reagiert hat. Sie sehen auch ein, dass die Gewalt in einem breiten historischen Kontext zu sehen ist. Sie laufen nicht blind und automatenhaft hinter der Fahne her, sondern analysieren jede Entwicklung neu.

5. Ich bin sicher, dass es im Friedenslager nicht wenige gibt, die sich auch von ethisch-moralischen Erwägungen bestimmen lassen. Die israelische Gesellschaft verachtet sie und versucht, sie zu delegitimieren. Sie werden häufig als anti-israelisch, als Araber-Freunde und sogar als Verräter gescholten. Man bewundert gerne Ausländer mit moralischem Format, besonders solche, die Juden geholfen haben. Moralisch bestimmte Tauben sollten ihre Prinzipien nicht wegen des jüngsten Krieges aufgeben. Moralische Werte sind nicht nur die Grundlage der menschlichen Existenz und der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Sie sind auch Grundlage des jüdischen Kampfes gegen den hässlichen Antisemitismus und für den Aufbau und der Verteidigung des Staates Israel.

6. Einen Friedensfreund erkennt man daran, dass er für die Beurteilung anderer Nationen die gleichen Kriterien anwendet wie für die eigene. Ich glaube, dass ein Mangel an moralischen Prinzipien aufseiten der jüdischen Gesellschaft im Kontext des israelisch-arabischen Konflikts (und insbesondere des Konflikts mit den Palästinensern) zu einem Zusammenbruch moralischer Werte auch in Bezug auf innere Angelegenheiten geführt hat. Seit den 1970er Jahren geht es in der israelischen Gesellschaft nur abwärts: Verfall des Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialsystems, rekordverdächtig wachsende sozioökonomische Kluft zwischen Reich und Arm, dramatischer Armutsanstieg, Zunahme von Kriminalität, von Korruption in politischen Bereichen und einer anomischen politischen Kultur. Der letzte Krieg erbrachte klare Indizien für die vorgenannten Übel der israelisch-jüdischen Gesellschaft. Daher ist es zwingend notwendig – auch wenn man sich lediglich auf das Überleben und die Sicherheit des Staates konzentriert –, eine gerechte und moralische Lösung für den israelisch-arabischen Konflikt zu finden, um die innenpolitische Entwicklung in Israel zu ändern.

Fazit

Der letzte Krieg war schrecklich. In Charakter und Ausmaß hat er alle moralischen Werte außer Acht gelassen. Es war ein Krieg, in dem beide Seiten Unschuldige getötet haben. Ein Krieg, der von Leidenschaften, von Furcht, Angst und dem Bedürfnis nach Rache bestimmt wurde – nicht von nüchternem Urteil und Wertegesichtspunkten. Ein Krieg, dessen Ziele nicht erreicht wurden, mit schwerwiegenden Folgen für Israel und den Libanon. Ein Krieg ohne Sieger – nur Besiegte. Die Gräber, die Flüchtlinge und die Zerstörung bezeugen es – nicht die Prahlerei der Politiker und Militärs, die den Sieg reklamieren. Es bleibt zu hoffen, dass Israel nach dem Krieg sich auf den Weg zum Frieden macht, den einzigen Weg, der auch den Staat stark zu machen vermag. Frieden mit Palästinensern und mit Syrien und der Aufbau einer neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung können unsere Gesellschaft in eine bessere Zukunft führen. Es liegt vor allem an uns, ob wir diesen Weg einschlagen!

Daniel Bar-Tal ist Professor für Politische Psychologie an der Tel Aviv University und war Präsident der Internationalen Gesellschaft für Politische Psychologie und Mitherausgeber des Palestine-Israel Journal. Der Originalbeitrag in Englisch erscheint in Heft 3/06 dieses Zeitschrift. Die Übersetzung für W&F besorgte Gwen Elprana.

Die »Tempelwaffen«

Die »Tempelwaffen«

Israel: fünfstärkste Nuklearmacht

von Jürgen Rose

Zweifellos stellen Massenvernichtungswaffen eine existentielle Bedrohung dar. Folgerichtig räumen sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Europäische Union dem Kampf gegen diese Geißel der Menschheit in ihren jeweiligen Sicherheitsstrategien hohe Priorität ein. Umso mehr muss der äußerst selektive Umgang mit dieser Bedrohung irritieren. So finden die jeweils etwa 10.000 Atomsprengköpfe allein in den Arsenalen der USA und der Russischen Föderation kaum mehr Beachtung. Die Bush-Administration hat den Terminus »nukleare Rüstungskontrolle« aus ihrem Wortschatz getilgt, ganz zu schweigen von nuklearer Abrüstung. Mit den Bemühungen um Rüstungskontrolle auf dem Gebiet der chemischen und biologischen Waffen verhält es sich nicht anders – selbstredend nur, soweit die USA und ihre Verbündeten betroffen sind. Zu denen zählt auch Israel, das mit seinen »Tempelwaffen«1 mittlerweile zur fünfstärksten Nuklearmacht der Welt aufgestiegen ist.

Wurde zur Zeit des Kalten Krieges die US-Sicherheitspolitik noch von der Maxime bestimmt, was zählt sind Sprengköpfe, nicht Absichten, so gilt heute in Washington das Gegenteil: Von Bedeutung sind nicht vorhandene Kapazitäten, sondern Unterstellungen und Vermutungen über »das Böse« schlechthin. Die Quintessenz solch irrationaler und manichäischer Politik gipfelt darin, dass einerseits gegen virtuelle Massenvernichtungswaffen ein Präventivkrieg entfesselt, andererseits real existierenden Massenvernichtungswaffenpotentialen keine Beachtung geschenkt wird, auch wenn sie sich in Händen von Regierungen befinden, die sich nicht gerade durch eine friedliche und völkerrechtskonforme Außenpolitik hervortun. Auch Israel gibt in dieser Hinsicht Anlass zu größter Besorgnis, liegt dieser Staat doch im Brennpunkt des Nahost-Konflikts.

Das israelische Atomwaffenprogramm

Aus Gründen der Staatsraison hat Israel Produktion und Besitz von Massenvernichtungswaffen zwar niemals offiziell bestätigt und verfolgt diesbezüglich seine sogenannte »Politik der Ambiguität«. Indessen folgt aus in den vergangenen Jahrzehnten stetig in die Öffentlichkeit durchgesickerten geheimdienstlichen Erkenntnissen, politischen Indiskretionen, umfangreichen Forschungen wissenschaftlicher Institute und nicht zuletzt erfolgreichen Bemühungen investigativen Journalismus’, dass Israel über ein umfangreiches Nuklearwaffenpotential verfügt. Dieses umfasst klassische Kernspaltungs-, thermonukleare Fusions- sowie Neutronenwaffen – insgesamt schätzungsweise 400 bis 500 Sprengsätze, deren Gesamtsprengkraft auf etwa 50 Megatonnen geschätzt wird.2 Mit diesen sind Atomminen, Artilleriegranaten, Torpedos, Marschflugkörper, Raketen und Flugzeugbomben bestückt.3 Hergestellt werden die israelischen Nuklearwaffen seit 1962 in Dimona, wo sich das »Israelische Kernforschungszentrum« (Kirya Le‘Mechkar Gariini – KAMAG) befindet.4 Dort wird in dem mit französischer Hilfe errichteten EL-3 Atomreaktor, der eine Leistung von mindestens 150 Megawatt aufweist, das zur Nuklearwaffenproduktion benötigte Plutonium erbrütet. Daneben befinden sich dort Anreicherungsanlagen für waffenfähiges Uran sowie eine unterirdische Wiederaufbereitungsanlage zur Plutoniumextraktion. Die Konstruktion der Gefechtsköpfe erfolgt in zwei Forschungslaboren, nämlich beim Nuklearforschungszentrum Nachal Schurek (Merkaz Le‘mechkar Gari‘ini – MAMAG) und bei der »Abteilung 20« der Waffenentwicklungsbehörde (Rashut Le‘pituach Emtzaei Lechima – Rafael). Montiert werden die Atomsprengsätze in einer Nuklearfabrik in Jodfat. Getestet wurden die Kernwaffen mehrfach: Mitte der 60er Jahre in der Negev-Wüste nahe der israelisch-ägyptischen Grenze sowie im Rahmen französischer Versuche in Algerien, außerdem dreimal gemeinsam mit Südafrika in der Atmosphäre über dem Indischen Ozean, zuletzt am 22. September 1979, als ein amerikanischer VELA-Satellit die Detonation zufällig registrierte.5

Um die Nuklearwaffen zum Einsatz bringen zu können, verfügt die »Israeli Defense Force« über ein breites Spektrum von Trägersystemen, das die gesamte Triade aus land-, luft- und seegestützten Waffenplattformen umfasst.6 So dienen amerikanische Artilleriegeschütze (175 mm M-107 und 203 mm M-110) für den Gefechtsfeldeinsatz. Im Kurzstreckenbereich verfügt Israel seit 1976 über US-Raketenartilleriesysteme MGM-52 C Lance, die eine Reichweite von rund 130 Kilometern haben. Über große Distanzen hinweg können unterschiedliche Typen von Boden-Boden-Raketen eingesetzt werden. Die YA-1 Jericho I hat eine Reichweite von 500 Kilometern.7 Etwa 50 dieser Raketen sind in Silos bei Kfar Zekharya, rund 45 Kilometer südöstlich von Tel Aviv disloziert. Die YA-3 Jericho II ist eine Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von bis zu 1.800 Kilometern. Ihre Gefechtsköpfe sollen eine Sprengkraft von 20 Kilotonnen besitzen und mit einer radargesteuerten Endphasenlenkung nach dem Muster der US-amerikanischen Pershing II präzise ins Ziel gebracht werden können.8 Ebenfalls etwa 50 Raketen sind auf mobilen Werferfahrzeugen in den Kalkhöhlen bei Kfar Zekharya untergebracht. Darüber hinaus produziert Israel die auf der Jericho basierende dreistufige Trägerrakete Shavit, mit der seit 1988 mehrere Ofek-Aufklärungssatelliten auf eine Erdumlaufbahn geschossen wurden. Die Shavit ließe sich mit geringem konstruktivem Aufwand zu einer Interkontinentalrakete von über 7.000 Kilometern Reichweite modifizieren.9

Sehr flexibel kann die israelische Luftwaffe Nuklearwaffen mit diversen Kampfflugzeugen, deren Reichweite sich mittels Luftbetankung nahezu beliebig vergrößern lässt, einsetzen.10 Diese wurden von den USA geliefert und von der hochentwickelten israelischen Rüstungsindustrie teilweise erheblich kampfwertgesteigert. Für nukleare Missionen infrage kommen primär die F-16 Fighting Falcon, deren modernste Version F-16I seit letztem Jahr zuläuft, sowie die F-15I Ra’am, die ab 1998 in Dienst gestellt wurde. Letztere hat ohne Luftbetankung einen Einsatzradius von etwa 5.500 Kilometern und ist mit modernsten Navigations- und Zielerfassungssystemen ausgerüstet. Nuklearwaffenfähige Jagdbomber sollen auf den Fliegerhorsten Tel Nof, Nevatim, Ramon, Ramat-David, Hatzor und Hatzerim stationiert sein, einige von ihnen mit Atombomben beladen rund um die Uhr zum Alarmstart in Bereitschaft gehalten werden.11

Seit 2003 besitzt auch die israelische Kriegsmarine die Fähigkeit zum Nuklearwaffeneinsatz. Als Plattform dienen drei von Deutschland in den Jahren 1999 und 2000 gelieferte Dolphin U-Boote im Gesamtwert von rund 655 Mill. Euro, nahezu komplett vom deutschen Steuerzahler finanziert.12 Diese sind mit Marschflugkörpern (Bezeichnung Popeye Turbo II bzw. Deliah) bestückt, deren Reichweite nach Beobachtungen der U.S. Navy im Verlaufe von Flugkörpertests vor Sri Lanka im Mai 2000 mindestens 1.500 Kilometer beträgt.13 Entwickelt wurden diese Marschflugkörper entweder eigenständig von der israelischen Rüstungsindustrie oder mit diskreter ausländischer Hilfe. Mit welchem Nachdruck Israel seine Aufrüstung auf dem maritimen Sektor betreibt, ließ sich dem Jerusalem-Besuch von Verteidigungsminister Struck Anfang Juni 2004 entnehmen, als der Wunsch nach der Lieferung zweier weiterer U-Boote der Klasse 212A – ausgestattet mit dem weltweit einmaligen Brennstoffzellenantrieb neuester Technologie, der es ermöglicht, ähnlich wie ein strategisches Atom-U-Boot lautlos und wochenlang getaucht zu operieren (!) – laut wurde.

Auch B- und C-Waffen im Arsenal

Neben atomaren komplettieren biologische und chemische Waffen das israelische Potential an Massenvernichtungswaffen. Aufgrund akribischer Geheimhaltung sind die Informationen hierüber indessen sehr spärlich.14 Eine im Auftrag des US-Kongresses angefertigte Studie des »Office for Technology Assessment (OTA)« subsumiert Israel unter diejenigen Staaten, die „nach allgemeiner Auffassung inoffizielle Potentiale zur chemischen Kriegführung besitzen“ und „nach allgemeiner Auffassung ein inoffizielles Programm zur Herstellung von biologischen Waffen durchführen.“15 Als gesichert gilt, dass sich in Nes Ziona südlich von Tel Aviv das israelische Institut für biologische Forschung (IIBR) befindet, dessen Aktivitäten ein hoher israelischer Geheimdienstmitarbeiter mit den Worten beschreibt: „Es gibt wohl keine einzige bekannte oder unbekannte Form chemischer oder biologischer Waffen …die im Biologischen Institut Nes Ziona nicht erzeugt würde.“16 Darüber hinaus wird vermutet, dass israelische Wissenschaftler dort seit den 90er Jahren unter Nutzung von Forschungsergebnissen aus Südafrika an einer sogenannten »Ethno-Bombe« arbeiten.17 Bei dieser Entwicklung wird versucht, Ergebnisse der Genforschung zur Identifizierung eines spezifischen Gens zu nutzen, das ausschließlich Araber tragen. Ist dies gelungen, ließen sich mit Hilfe der Gentechnik tödliche Bakterien oder Viren herstellen, die nur Menschen mit diesen Genen attackieren.

Chemische Waffen, unter anderem die Nervengase wie Tabun, Sarin und VX, werden in einer unterirdischen Produktionsstätte im Nuklearforschungszentrum Dimona hergestellt.18 Die indirekte Bestätigung für israelische C-Waffen-Programme lieferte der Absturz einer EL AL Frachtmaschine auf dem Amsterdamer Flughafen am 4. Oktober 1992, bei dem mindestens 47 Menschen ums Leben kamen und mehrere Hundert Menschen sofort oder verzögert an mysteriösen Leiden erkrankten. Ein Untersuchungsbericht von 1998 erbrachte die Erkenntnis, dass die Maschine Chemikalien an Bord hatte, darunter 227,5 Liter Dimethylmethylphosphonate (DMMP).19 Diese Menge genügt, um 270 kg Sarin herzustellen. Das DMMP war im Übrigen von der Firma Solkatronic Chemicals Inc. aus Morrisville in Pennsylvania geliefert worden – ein Indiz dafür, dass es US-Unternehmen gab, die es verstanden, am Geschäft mit den Massenvernichtungswaffen in Nahen Osten mehrfach zu verdienen: Durch Lieferungen in den Irak während des ersten Golfkrieges zwischen 1980 und 1988 – und an die israelische Armee.

Im Gleichklang mit der Entwicklung des israelischen Arsenals an Massenvernichtungswaffen vollzog sich die Evolution der Strategie zu deren Gebrauch.20 Den Ausgangspunkt für die Entscheidung zur Entwicklung der Massenvernichtungswaffen bildete die Überlegung, dass nur diese das absolute und endgültige Abschreckungsmittel gegenüber der arabischen Bedrohung darstellten. Nur mit deren Hilfe konnten vorgeblich die Araber dazu gebracht werden, alle Pläne für eine militärische Eroberung Israels fallen zu lassen und einem Friedensvertrag zu israelischen Konditionen zuzustimmen. Insbesondere die Nuklearwaffen sollten als ultima ratio sicherstellen, dass es nie wieder zu einem Massaker am jüdischen Volk kommen würde. Als symbolische Metapher hierfür diente die »Samson-Option«.21 Diese rekurriert auf einen biblischen Mythos. Demzufolge war Samson nach blutigem Kampf von den Philistern gefangen genommen worden. Sie stachen ihm die Augen aus und stellten ihn in Dagons Tempel in Gaza öffentlich zur Schau. Samson bat Gott, ihm ein letztes Mal Kraft zu geben, und rief: „Ich will sterben mit den Philistern!“ Er schob die Säulen des Tempels beiseite, das Dach stürzte ein und begrub ihn und seine Feinde unter sich. Treffenderweise truagen die israelischen Nuklearwaffen daher den Decknamen »Tempelwaffen«.

A-Waffen-Einsatz mehrfach erwogen

Mindestens viermal hat die israelische Regierung ernsthaft den Einsatz dieser Waffen erwogen:22

  • Während des 6-Tage-Krieges im Juni 1967 hatte Israel die beiden ersten Uran-Atombomben für den Fall zum Einsatz vorbereitet, dass der Erfolg des konventionell geführten Präventivkrieges gegen seine arabischen Nachbarn ausgeblieben wäre.
  • Während des Yom-Kippur-Kriegs wurde von der israelischen Regierung ein Nuklearwaffenangriff nicht nur erwogen, sondern am 8. Oktober 1973 tatsächlich der Befehl erteilt, 13 Atomwaffen für den Einsatz gegen die militärischen Hauptquartiere der Angreifer in Kairo und Damaskus scharf zu machen, nachdem Verteidigungsminister Moshe Dayan den Zusammenbruch der israelischen Defensivoperationen im Zweifrontenkrieg prognostiziert hatte. Mit dieser nuklearen Mobilmachung gelang es der israelischen Regierung unter Golda Meir, zum einen von den USA massive Nachschublieferungen an Munition und Rüstungsmaterial zu erpressen. Zum anderen entfaltete die nukleare Abschreckung gegenüber Ägypten und Syrien ihre Wirkung, die in der Folge mit ihren Panzertruppen nicht weiter vormarschierten. Nachdem am 14. Oktober die nukleare Alarmbereitschaft zunächst aufgehoben worden war, machten die Israelis wenige Tage später erneut ihre Atomwaffen scharf, nachdem die US-Regierung ihr Strategisches Bomberkommando in Alarmbereitschaft versetzt hatte, um die Sowjetunion von einer Intervention in den Krieg abzuhalten. Die Krise endete erst, als die Kampfhandlungen mit Inkrafttreten eines Waffenstillstandes eingestellt wurden.
  • Während des Angriffes auf den Libanon 1982 (Operation Oranim) schlug der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon vor, man solle Syrien mit Nuklearwaffen angreifen.
  • Als am 18. Januar 1991 die irakischen Streitkräfte im Golfkrieg erstmals Al Hussein-Raketen auf Israel abfeuerten, wurde das israelische Militär inklusive der Nuklearstreitkräfte in volle Gefechtsbereitschaft versetzt. Für den Fall eines irakischen Angriffs mit chemischen oder biologischen Gefechtsköpfen existierte eine unverhüllte nukleare Gegenschlagsdrohung Israels.

Israel nutzt sein Atomwaffenarsenal indes nicht nur im Kontext der Abschreckung oder der direkten Kriegführung, sondern hat jenes unter dem Rubrum »Nonconventional Compellence« untrennbar in seine allgemeine militärische und politische Strategie integriert. Schimon Peres – einer der entscheidenden Drahtzieher des israelischen Massenvernichtungswaffenprogramms – charakterisierte dieses Konzept mit den Worten: „Ein überlegenes Waffensystem zu beschaffen, bedeutet die Möglichkeit, es für die Ausübung von Druck zu nutzen – das heißt die andere Seite zu zwingen, Israels Forderungen zu akzeptieren, was wahrscheinlich die Forderung einschließt, dass der traditionelle Status quo akzeptiert und ein Friedensvertrag unterzeichnet wird.“23 Darüber hinaus garantiert das Nuklearwaffenpotential die uneingeschränkte Unterstützung des amerikanischen Verbündeten einerseits und verhindert eine unangemessene Parteinahme Europas zugunsten der arabisch-palästinensischen Position andererseits. Sehr aufschlussreich diesbezüglich sind die Ausführungen des israelisch-niederländischen Militärhistorikers Martin van Creveld, Professor an der hebräischen Universität in Jerusalem, Anfang letzten Jahres. Dieser merkt in einem Interview mit dem niederländischen Magazin ELSEVIER zu der hinter dem aktuellen Teilrückzugsplan des israelischen Premierministers Ariel Scharon steckenden Strategie an, dass diese darauf abzielt, eine unüberwindliche Mauer um Israel zu errichten und die Palästinenser außerhalb der israelischen Grenzen zu halten. Scharons Plan bedeute in letzter Konsequenz, dass alle Palästinenser aus der dann errichteten »Festung Israel« deportiert würden. Auf die Frage, ob die Welt eine derartige ethnische Säuberung zulassen würde, antwortet van Creveld: „Das liegt daran, wer es macht und wie schnell es geht. Wir haben einige Hundert von Atomsprengkörpern und Raketen und können sie auf Ziele überall werfen, vielleicht selbst auf Rom. Mit Flugzeugen sind die meisten europäischen Hauptstädte ein Ziel.“24

Die von van Creveld vertretene Position mag extrem erscheinen, aber da sich die israelische Gesellschaft mehr und mehr polarisiert, wird der Einfluss der radikalen Rechten stärker. Gerade aus deren Reihen rekrutiert der israelische Sicherheitsapparat zunehmend seine Mitarbeiter. Es lässt sich daher keineswegs ausschließen, dass Gush Emunim oder einige säkulare rechte israelische Fanatiker oder einige wahnsinnige israelische Armeegeneräle die Kontrolle über die israelischen Nuklearwaffen bekommen.25 So wird beispielsweise der pensionierte Stabschef der Israeli Defense Force, Lieutenant General Amnon Shahak, mit den Worten zitiert: „All methods are acceptable in withholding nuclear capabilities from an Arab state.“26 Sekundiert wird er hierbei von Israels Oppositionsführer Schimon Peres, der in Bezug auf das angebliche Nuklearwaffenprogramm Irans propagiert: „Es bleiben drei Optionen, um den Iran von der Erreichung seiner nuklearen Ambitionen abzuhalten: politischer Druck, ökonomische Sanktionen und militärisches Eingreifen.“27 Bezeichnenderweise keine Rede ist von Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen wie sie sich während des Kalten Krieges und in anderen Regionen dieser Welt ja durchaus bewährt haben. Zwar wurde während der Nahost-Konferenz von Madrid im Anschluss an den Golfkrieg von 1991 auch eine Arbeitsgruppe »Arms Control and Regional Security (ACRS)« installiert. Diese tagte indes 1995 das letzte Mal und hatte nach vier Jahren keinerlei greifbare Ergebnisse gebracht. Ursache hierfür war die strikte Weigerung Israels, die nukleare Frage auf die Tagesordnung zu setzen – denn nach dessen Auffassung setzt jegliche Einschränkung der israelischen Nuklearfähigkeit (und erst Recht ein Verzicht darauf) eine umfassende und erprobte Friedensregelung in der Region voraus.28 Konsequenterweise straft die israelische Regierung auch die jahrelange Resolutionspraxis der UN-Generalversammlung zum Risiko der nuklearen Proliferation im Mittleren Osten sowie zur Schaffung einer nuklearwaffenfreien Zone in dieser Region ebenso mit Verachtung wie die einschlägigen Resolutionen der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Angesichts israelischer Intransigenz sieht die Prognose düster aus: „Beim gegenwärtigen Stand der Dinge in Nahost scheint es illusionär, auf Verhandlungen allein zu setzen, wenn es darum geht, Waffen bei den zum Waffenbesitz legitimierten Staaten und Streitkräften zu monopolisieren. Das gilt für Kleinwaffen ebenso wie für Massenvernichtungswaffen.“29 In Anbetracht der brisanten Zuspitzung des Palästina-Konfliktes reicht es nicht, wenn sich Europa über nicht vorhandene oder allenfalls marginal einsatzfähige Massenvernichtungswaffen in der islamischen Welt sorgt, es muss sich vielmehr mit dem real existierenden und in Verbindung mit einer brandgefährlichen Militärstrategie operativ jederzeit einsetzbaren Massenvernichtungspotential eines Staates befassen, welcher der Weltgemeinschaft permanent demonstriert, dass er, wenn es um seine reale oder vermeintliche Sicherheit geht, jederzeit bereit ist, Völkerrecht und Menschenrechte zu mißachten.

Anmerkungen

1) Diese Tarnbezeichnung für die israelischen Nuklearwaffen nennt Seymour M. Hersh in seiner nach wie vor unverzichtbaren Abhandlung: Atommacht Israel. Das geheime Vernichtungspotential im Nahen Osten, München 1991, S. 233. Sehr aufschlussreich ist auch die Analyse von Lieutenant ColonelWarner D. Farr, U.S. Army: The Third Temple‘s Holy of Holies: Israel‘s Nuclear Weapons, Counterproliferation Paper No. 2, USAF Counterproliferation Center, Air War College, Air University, Maxwell Air Force Base, Alabama, September 1999; im Internet unter: http://www.au.af.mil/au/awc/awcgate/cpc-pubs/farr.htm (29.08.2004).

2) Vgl. Sammonds, Neil: Israel: die vergessenen Massenvernichtungswaffen; im Internet unter: http://www.kritische-stimme.de/Vermischtes/greenleft_waffen.htm (27.08.2004); Mellenthin, Knut: Israel rüstet deutsche U-Boote mit Atomraketen aus. Ein Spiegel-Bericht, ein Dementi und ein Hintergrundartikel; im Internet unter: http://uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/u-boote.html (27.08.2004) sowie Steinbach, John: Israels Massenvernichtungswaffen: eine Bedrohung des Friedens; im Internet unter: http://www.antikriegsforum-heidelberg.de/palest/frameset.htm (27.08.2004); englisches Original: ders.: Israeli Weapons of Mass Destruction: a Threat to Peace, Centre for Research on Globalisation (CRG), 3 March 2002; im Internet unter: http://www.globalresearch.ca/articles/STE203A.html (27.08.2004).

3) Vgl. Gerhard Piper: antimilitarismus information: Israels Atomstreitkräfte; im Internet unter: http://userpage.fu-berlin.de/~ami/ausgaben/2001/3-01_2.htm (27.08.2004);Steinbach, John: a. a. O.; Norris, Robert S./Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M./Handler, Joshua: Nuclear Notebook – Israeli nuclear forces, 2002, in: Bulletin of the Atomic Scientists, September/October 2002, S. 73ff sowie Hough, Harold: Israel reviews its nuclear deterrent, in: Jane’s Intelligence Review, November 1998, S. 11ff.

4) Zum Nuklearkomplex von Dimona und Umgebung vgl. Gerhard Piper: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O.; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O.; Duval, Marcel: Einem Geheimnis auf der Spur: die israelische Atombombe, in: Défense Nationale, April 1998, S. 91 – 102 sowie sehr detailliert Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 204ff.

5) Vgl. Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 281ff.; Farr, Warner D.: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O. sowie Gerhard Piper: a. a. O.

6) Zu den diversen Trägersystemen vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M./Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O.; Hough, Harold: a. a. O., Duval, Marcel: a. a. O. sowie Steinbach, John: a. a. O.

7) Vgl. Federation of American Scientists: Israel Special Weapons Guide (created by John Pike, maintained by Steven Aftergood, updated August 2, 2004); im Internet unter: http:// www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/jericho-1.htm (27.08.2004).

8) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 74; Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/jericho-2.htm [27.08.2004] sowie Hough, Harold: a. a. O., S. 13.

9) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 75; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Duval, Marcel: a. a. O., der von der Entwicklung einer Jericho III-Rakete auf Basis der Shavit-Trägerrakete berichtet.

10) Vgl. Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 73f; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

11) Vgl. Schwarz, Eugen Georg: Angst vor der Apokalypse, in: Focus, 9/1998, S. 222; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 73f sowie Gerhard Piper: a. a. O.

12) Vgl. Mellenthin, Knut: a. a. O.; Karr, Hans: U-Boote der DOLPHIN-Klasse, in: Marineforum, Nr. 6/2000, S. 30f; Nassauer, Otfried / Steinmetz, Christopher: Israelische Atomwaffen und deutsche U-Boote. Eine Gefahr für den Weltfrieden?; im Internet unter: http://uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/u-boote2.html (27.08.2004); Gerhard Piper: a. a. O.;; Norris, Robert S. / Arkin, Willliam M. / Kristensen, Hans M. / Handler, Joshua: a. a. O., S. 75 sowie Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/sub/index.html (27.08.2004).

13) Vgl. Federation of American Scientists: op. cit.; im Internet unter: http://www.fas.org/nuke/guide/israel/missile/popeye-t.htm (27.08.2004); Mellenthin, Knut: a. a. O.; Nassauer, Otfried / Steinmetz, Christopher: a. a. O. sowie Gerhard Piper: a. a. O.

14) Vgl. zu dieser Thematik U.S. Congress, Office of Technology Assessment (ed.): Proliferation of Weapons of Mass Destruction: Assessing the Risk, OTA-ISC-559, Washington, D.C., August 1993; Sammonds, Neil: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O.; sowie Steinbach, John: a. a. O.

15) U.S. Congress, Office of Technology Assessment (ed.): a. a. O., S. 65.

16) Steinbach, John: a. a. O.

17) Vgl. Steinbach, John: a. a. O.; dieser zitiert den linken Knesset-Abgeordneten Dedi Zucker, der diese Forschung seines Landes mit den Worten anprangerte: „Eine solche Waffe ist, wenn wir von unserer Geschichte, unserer Tradition und Erfahrung ausgehen, moralisch ungeheuerlich und muss geächtet werden.“ Der renommierte Mikrobiologe und B-Waffen-Experte Jan van Aken bezeichnete in einem kürzlich erschienenen Beitrag Meldungen über derartige Forschungsprogramme in Israel als „vor allem Propaganda“ – seine ansonsten bestechende Argumentationsführung ist aber gerade in diesem Punkt wenig überzeugend und widerspricht seiner eigenen Grundthese hierzu; vgl. Aken, Jan van: Wenn Buchstaben zu Waffen werden. Biologische Waffenführung. Ethnobomben gibt es noch nicht – doch die Entwicklung von genetischen Waffen ist möglich, in: Freitag, Nr. 29/30, 9. Juli 2004, S. 22.

18) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

19) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O. sowie Sammonds, Neil: a. a. O.

20) Vgl. zu dieser Thematik Hersh, Seymour M.: a. a. O.; Steinbach, John: a. a. O.; Gerhard Piper: a. a. O. sowie Hough, Harold: a. a. O.

21) Vgl. hierzu Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 144f und S. 233.

22) Vgl. Gerhard Piper: a. a. O.; Farr, Warner D.: a. a. O.; Johannsen, Margret: Dynamit und Atom. Rückblicke und Ausblicke auf Entwaffnungsszenarios im Nahen Osten, in: S+F Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 3–4/2003, S. 160 sowie Hersh, Seymour M.: a. a. O., S. 233ff und S. 370.

23) Zit. n. Steinbach, John: a. a. O.

24) Biedermann, Ferry (Interviewer): »„Wir vernichten uns selbst“. In Israel zeichnet sich ein fluchbeladenes Szenario ab. Gespräch mit dem geschmähten israelisch-niederländischen Militärhistoriker Martin van Creveld«, Interview im niederländischen Magazin ELSEVIER; deutsche Übersetzung in: Unabhängige Nachrichten 1/2003; im Internet unter: http://www.fk-un.de/UN-Nachrichten/UN-Ausgaben/2003/UN1-03/artikel2.htm (27.08.2004).

25) Vgl. hierzu Steinbach, John: a. a. O. sowie Farr, Warner D.: a. a. O.

26) Farr, Warner D.: a. a. O.

27) Peres, Schimon: Irans Nuklearprogramm stoppen. Israels Oppositionsführer plädiert für sofortige Sanktionen, in: Die Welt, 21. August 2004; vgl. hierzu auch Johannsen, Margret: a. a. O., S. 160.

28) Vgl. Johannsen, Margret: a. a. O., S. 159f.

29) Johannsen, Margret: a. a. O., S. 161.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen