Subversion in arabischer Literatur

Subversion in arabischer Literatur

von Friederike Pannewick

Der frische Wind des »Arabischen Frühlings« ist verweht, Hoffnungen wurden enttäuscht, Ängste geschürt. Zunächst blühten friedliche emanzipatorische Bestrebungen einer breiten Bevölkerungsschicht auf, doch dann setzten sich die alten autoritären und korrupten Machteliten langsam wieder durch. Intellektuelle und Künstler riskieren ihre Sicherheit und oft sogar ihr Leben bei dem Versuch, gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit anzuschreiben. Täglich suchen sie neu nach Strategien, um die Zensoren auszutricksen.

Dieser Überlebenskampf der Kunst geht bis in die Kolonialzeit zurück. In der frühen postkolonialen Zeit rezipierten arabische Schriftsteller mit großer Begeisterung das Konzept einer »littérature engagée« des französischen Philosophen J.-P. Sartre, das vom Autor eine klare Stellungnahme in Krisenzeiten fordert. Diese offene Konfrontation wurde aber zunehmend lebensgefährlich. In dieser Situation wird die Kunst der Subversion wichtig: Sie verschleiert ihre politische Botschaft mit ästhetischen Mitteln und wendet sich an aufmerksame Leser, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Texte unpolitisch, erst auf den zweiten Blick entwickeln sie ihre provokative Sprengkraft – und genau das macht sie in Zeiten der Zensur so wirkungsmächtig.

Die moderne arabische Literatur spiegelt die politische Instabilität und Gewalt der letzten Jahrzehnte deutlich wider. Sie reflektiert diese problematischen Bedingungen und ist zugleich von diesen geprägt – eine klassische Doppelfunktion von Kunst. Den arabischen Künstlern schien es angesichts dieser bedrückenden Lage unmöglich, eine von der Tagespolitik losgelöste »Kunst um der Kunst willen« zu präsentieren. Viele ihrer Romane, Dramen oder Gedichte handeln von Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung, Exil, Gefängnis und politischer wie körperlicher Gewalt. Der 1933 in Jordanien geborene und 2004 in Damaskus verstorbene Autor Abdarrahman Munif, Sohn eines saudi-arabischen Vaters und einer irakischen Mutter, sagte in einem Interview von 1990: „Ein arabischer Literat ist ein Fidai, ein Freiheitskämpfer. In Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, keine Parteien zugelassen sind, wo vielleicht nicht einmal eine Verfassung existiert, müssen die Intellektuellen, müssen alle, die sich ausdrücken können, Widerstand leisten. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen aufzuklären, sie auf Recht und Unrecht hinzuweisen, solange es an legalen und allgemein anerkannten politischen Institutionen mangelt. In Saudi-Arabien und in einigen Golfländern gibt es keine Verfassung, keine Legislative und Exekutive, durch die die Machtverteilung zwischen Bürger und Staat geregelt wäre, keine Garantien, auf die sich ein Bürger notfalls auch gegen den Staat berufen könnte. Dort haben die Herrscher und die religiösen Führer die Macht, und sie nutzen sie nach Belieben für ihre Interessen.“ (Munif, taz 14.5.1990)

Schon in der Kolonialzeit hat es in der arabischen Literatur immer wieder prominente politische Stellungnahmen gegeben. Seit den 1950er Jahren verstärkte sich diese politische Funktion deutlich. Literatur wurde nun als eine Art Korrektiv der herrschenden Unrechtsverhältnisse im eigenen Land verstanden. Nicht selten – in Ländern wie Syrien oder Irak, aber auch in Ägypten – haben Schriftsteller dabei ihre persönliche Sicherheit und Freiheit aufs Spiel gesetzt. Angesichts dieser Hintergründe war und ist es bis heute zuweilen überlebenswichtig und außerdem ein guter Weg durch den Dschungel staatlicher und religiöser Zensur, wenn Autoren sich der Technik der Camouflage, des Sprechens zwischen den Zeilen und der Verschleierung bedienen – d.h., wenn sie die Kunst der Subversion beherrschen.

Subversion als Überlebensstrategie

Was ist Subversion? Ein hervorragendes Beispiel für literarische Subversion wäre das Trauergedicht Ibn al-Anbaris (gest. 977), verfasst in Bagdad im 10. Jahrhundert. Dieser schrieb Elegien auf seinen Patron und Freund, den Wesir Ibn Baqiyya. Ibn Baqiyya wurde aufgrund seiner oppositionellen Aktivitäten als Dissident zum Tode verurteilt. Der Herrscher ließ seinen Leichnam ans Kreuz schlagen und in den Straßen Bagdads ausstellen. Ibn al-Anbari schrieb daraufhin eine glänzende Elegie auf seinen Gönner – allerdings ohne die Kreuzigung und deren politischen Hintergrund zu erwähnen. Das Gedicht erlangte großen Ruhm, Kritiker priesen es als Glanzstück ohnegleichen. Als dem Herrscher eine Rezitation dieses Gedichts zu Ohren kam, das den Gekreuzigten so brillant pries, dass er als der edelste Mann seiner Zeiten erschien und nicht als zum Tode verurteilter politischer Rebell, drückte er seine Bewunderung aus, indem er ausrief, wie schade es sei, dass nicht er an dessen statt gekreuzigt worden sei, denn dann hätte man ebenso glänzende Zeilen über ihn verfasst.

Dieses Gedicht enthält eine hoch politische, ja explosive Botschaft: Die Entscheidung des Herrschers, einen Mann zum Tode zu verurteilen, wird in diesen Zeilen in Frage gestellt. Der Verurteilte wird als überlegener Held dargestellt, ein Vorbild an Moral und Weisheit. Selbst wenn das Gedicht dies nicht klar ausspricht, so löst es im Leser doch die skeptische Frage aus: Wie konnte ein weiser Herrscher einen so vorbildhaften Mann hinrichten lassen? Ein Dichter stellt hier also ein Urteil des Herrschers in Frage – und normalerweise hätte diese Kritik seine eigene Verurteilung zur Folge gehabt. Aber der Kritisierte nimmt die politische Provokation gar nicht wahr – so sehr ist er begeistert von der Ästhetik, vom literarischen Wert dieses Gedichts. Die als überzeitlich schön beurteilte Kunst siegt über die ephemere politische Autorität, Schönheit über den Tod.

Die politische Botschaft im Gedicht ist immer noch vorhanden, nur ist sie nicht gleich sichtbar an der Oberfläche; die explosive politische Kraft entfaltet sich nur langsam, fast bleibt sie unbemerkt. Nur sehr aufmerksame Zuhörer und scharfe Beobachter werden stutzig und bemerken den heiklen Charakter dieser Zeilen. Dieses Gedicht der klassischen arabischen Literatur ist ein Paradebeispiel subversiver Literatur. Es ist politisch und kritisch, aber erst auf den zweiten Blick. Es überbringt keine einfache und klare politische Botschaft, die sich an »das Volk«, die Massen, richtet, sondern spricht eher zu Individuen, zu einer kleinen Gruppe kluger Köpfe, die scharfsinnig genug sind, um diese subversive Sprache harscher politischer Kritik zu entziffern.

In seinem Buch mit dem Titel »Persecution and the Art of Writing« beschreibt der Philosoph Leo Strauss diese spezielle Schreibweise: Verfolgung lasse eine besondere Schreibtechnik entstehen, und somit auch einen besonderen Typ Literatur, in welchem Wahrheit und alle wesentlichen Dinge ausnahmslos zwischen den Zeilen angesprochen werden. Diese Literatur richtet sich, so Strauss, nicht an alle Leser, sondern nur an vertrauenswürdige und intelligente Leser (Strauss 1988, S.25), an eine Art verschworene Gemeinschaft.

Diese Form der indirekten ästhetischen Artikulation erwähnt auch der syrische Filmemacher Usama Muhammad in einem Interview: „Es gibt zwei Antworten auf die Regeln der Zensur. Eine ist, schlechte Kunst zu machen und über nichts zu reden, die zweite, zu sagen, was du sagen willst und Kunst zu machen […] Der Trick ist, seine eigene Sprache zu finden, und zwar eine indirekte, so dass man Filme über politische Macht, Religion, Sex und Gewalt machen kann auf metaphorische – und oft wirkungsmächtige – Weise.“ (zitiert nach Nice 2000, S.31)

Subversion als Kunst für Individuen

Im späten 20. Jahrhundert entwickelte sich in der arabischen Kunst eine emanzipatorisch-subversive Rhetorik, die zunehmend auf das kritische Bewusstsein des Individuums zielte. In der frühen postkolonialen Zeit der 1950er und 1960er Jahre bis hinein in die frühen 1970er Jahre, als die Idee der »engagierten Literatur/adab al-iltizam« in der arabischen Welt noch vorherrschend war, waren es eher »das Volk«, das Kollektiv oder die sozialen Klassen gewesen, die aufgeklärt und politisiert werden sollten. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert: Die auf kollektiven Identitätskonzepten beruhenden Massenideologien, wie der Nationalismus und Islamismus, haben ihre Bedeutung zunehmend zugunsten individualisierter Denkmodelle und Artikulationsformen eingebüßt. Dadurch wurde ein tief greifender Wandel ausgelöst, der von Schulze (2012) als „Ende utopischen Denkens“ und als Übergang von politischen Normenordnungen zu einer lebensweltlichen Werteordnung bezeichnet wird: Es fand eine Entflechtung der Werte-Normen-Ordnung der Moderne statt, indem das Konzept »Gesellschaft« in Frage gestellt wurde, das bisher als normative Ordnung und soziale Vorstellungswelt das politische Ideal der Eliten gewesen ist.

Im Zentrum des Interesses steht nun der Einzelne in seiner individuellen Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft; es geht um Bewusstseinsprozesse und Erkenntnisse Einzelner in ihrer Begegnung mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Vermittelt werden sollen keine festen Weltbilder, Wertesysteme oder Ideologien. Klare Botschaften und normative Vorgaben erscheinen mehr denn je fraglich und ohne Überzeugungskraft – oder aber sie gewinnen gerade wegen der allgemein vorherrschenden postmodernen Verunsicherung erheblich an Attraktivität.

Subversive Strategien im irakischen Gefängnis

In einem Land wie dem Irak, das seit Jahrzehnten von totalitären Regimen, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Gewalt geprägt ist, hat die künstlerische Taktik der Subversion eine besondere Bedeutung. Ein Beispiel, wie sich in der irakischen Literatur Romanfiguren subversiver Verschleierungsstrategien bedienen, ist der Roman »Irakische Rhapsodie« des Schriftstellers, Dichters und Dokumentarfilmers Sinan Antoon (geb. 1967). Kurz nach der amerikanischen Invasion im Irak Anfang der 1990er Jahre verließ Antoon das Land und begann diesen Debütroman voll schwarzen Humors und Sprachwitzes zu schreiben, der 2004 publiziert wurde.

Die Handlung spielt während des Ersten Golfkriegs im Irak der 1980er Jahre. Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes sollen ein verdächtiges Manuskript entschlüsseln, das von einem politischen Häftling in einer Art Geheimsprache verfasst wurde. Der Verfasser ist ein literarisch aktiver und regimekritischer Student, der in die Fänge des Geheimdienstes geraten ist und Wochen und Monate in quälender Ungewissheit und ohne Anklage in einem der politischen Gefängnisse Saddam Husseins festgehalten wird. Panische Angstattacken ergreifen ihn, als ihm eines Tages ein Gefängniswärter Papier und Stift bringt – ein unerwartetes Privileg nach Wochen quälend stiller, einsamer Einzelhaft. An dieser entscheidenden Stelle des Romans wird die Rolle des Schreibens in einer von Gewalt und Zensur geprägten Gesellschaft thematisiert. Es bleibt unklar, ob das Schreiben ein gewährter Gnadenakt, die Einladung zu Verrat an anderen oder eine Falle ist, die den Schreibenden zu ungewollten Geständnissen bringen könnte, die er nicht einmal unter Folter zu geben bereit war. Von unerträglicher Ungewissheit gepeinigt, zieht sich der Protagonist ganz in sich selbst, in eine faszinierende innere Welt aus Erinnerungen, Ängsten und Träumen zurück. Aus seinem Rückzug ins Innere erwächst schließlich die Idee für eine Strategie, die ihm das Schreiben ermöglicht, ohne jedoch seinen Peinigern Einblick in dessen Inhalt zu gewähren: Werden in einem arabischen Text die diakritischen Punkte des Alphabets weggelassen, kann ein und dasselbe Konsonantengerüst mehrere unterschiedliche Bedeutungen erlangen. Auf diese Weise erhält also jedes Wort eine mehrdeutige Semantik, und der Text als Ganzer wird nahezu unlesbar. Der Protagonist macht sich diese Verschleierungstaktik zu eigen, die einen Text ergibt, der auf den ersten Blick lesbar und auf den zweiten Blick als Geheimnis erscheint, das erst enträtselt werden muss.

In hoch symbolischen Träumen des Häftlings scheinen sich nun aber die Buchstaben selbständig gemacht zu haben, sie tanzen über die Zeilen, werden zu Heuschrecken – die Schrift wird zur Landplage. Nach weiteren Wochen der Isolationshaft wird der Student von einem Alptraum geplagt, in dem sein Ich sich aufzulösen beginnt, verfolgt von wilden Tieren. Er liegt nackt auf weißem Sand unter tief schwarzem Himmel, es fallen tintenfarbene Regentropfen auf ihn, die sich eiskalt auf seiner Haut festsetzen. Er hört, wie Autos und bellende Hunde sich in der Dunkelheit nähern, und flieht panisch, rutscht immer wieder in den größer werdenden Tintenlachen aus, fällt hin; weißer Sand und schwarze Tinte bilden ein klebriges Amalgam auf seiner Haut: „Ich versuchte weiterzurennen, aber da war ein unerträglicher Schmerz in Füssen und Kopf. Ich stolperte und kroch auf allen vieren weiter. Ich kam mir vor wie ein dem Untergang geweihtes Tier. Das Gebell der Hunde war schon ganz nahe. Ich schaute mich um und sah, dass einer von ihnen sich gerade über mich hermachen wollte. Seine gebleckten Zähne leuchteten, sein Zahnfleisch schien rosig und schwarz gerändert. Ich verbarg meinen Kopf zwischen den Händen. Dann schlug ich die Augen auf… und sah die weißen Blätter vor mir. Die Zeilen liefen darüber, neben meinem Kopf. Sollte ich schreiben?“

Dieser Alptraum zeigt die Ängste, die durch die vorhergegangene Auflösung der Schrift ausgelöst werden: Die anfangs als Verschleierungstaktik erfundene Schreibtechnik ohne diakritische Punkte hat sich nun gegen den Schreibenden gerichtet, seine Ausdrucksfähigkeit hat ihn verlassen, sich feindlich gegen ihn gewandt, die Tinte strömt einer Naturgewalt gleich auf seinen weißen wehrlosen Körper. Der Leib des Schriftstellers, weiß wie Papier, wird zum Beschriebenen, er wird passiv, seine aktive schreibende Existenz ist in Frage gestellt.

Der Roman endet mit der Nachricht, dass das Regime gestürzt und alle politischen Gefangenen frei seien. Der junge Student tritt vor die Gefängnistore in eine seltsam entvölkerte Stadt, die ihm beunruhigend fremd vorkommt. Der Wärter, der ihm damals Papier und Stift gebracht hatte, erscheint ihm in seiner Erinnerung, und er fühlt das Verlangen, weiterzuschreiben. Wie so oft in diesem kunstreich verschachtelten Erzählwerk bleibt es unklar, ob die Befreiung nur wieder einer der vielen Tagträume des Häftlings war oder reales Ereignis. Offener Widerstand ist in diesem System zwecklos. Das Spiel mit Mehrdeutigkeiten erweist sich deshalb in diesem Roman als literarisches Stilmittel und zugleich subversive politische Taktik, um Zensur und Verbot der Meinungsfreiheit zu unterlaufen. Der Roman zeigt keine politischen Handlungsoptionen, sondern eher Überlebensstrategien in totalitären Systemen – leider auch nach dem so genannten »Arabischen Frühling« ab Ende 2010 ein weiterhin hochaktuelles Thema für die arabische Welt.

Zeugnis der Scheiterns

Die subversive Kritik in diesem irakischen Roman ist kein Einzelfall; viele weitere Romane der arabischen Welt arbeiten seit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts mit ähnlichen literarischen Mitteln. Dies ist als Antwort auf und Konsequenz des Scheiterns der postkolonialen Regime zu werten, die ihren Bürgern selbst die elementarsten Rechte und Errungenschaften der Moderne vorenthielten. In dieser Situation, in der rascher politischer Wandel absurd und unrealisierbar erschien, wurde Subversion zu einem geeigneten Weg literarischer Kritik. Subversion schließt neue Formen sozialer Organisation ein, und diese dienen dazu, die Interessen bestimmter Bereiche der Mittelklasse zu artikulieren. Diese neuen Interessengruppen sind zunehmend partikularistisch, individuell und de-ideologisiert. Eine Organisation in Massenorganisationen mit kollektivistischem Bewusstsein hat gegenüber diesen neuen Partikulartendenzen an Bedeutung verloren (Ouaissa 2012, 69ff). Diese Entwicklung verläuft vielfach »subkutan«, unter der Oberfläche des Mainstream, und somit subversiv. Die politische Sprengkraft dieser ästhetischen wie gesellschaftlichen Veränderungen entfaltet sich erst auf den zweiten Blick, dann aber geben sie ein untrügliches Zeugnis des Scheiterns der autoritären Herrschaftsformen ab.

Literatur

Sinan Antoon (2009): Irakische Rhapsodie. Basel: Lenos (Übersetzung von Fähndrich und Fierz; arab. Fassung erschien 2004 in Beirut).

Abdarrahman Munif (1990): Ölpest in den Oasen. Interview mit Abdarrahman Munif. taz, 14.5.1990.

Pamela Nice: Finding the Right Language. A Conversation with Syrian Filmmaker Usama Muhammad. Al Jadid Magazine – A Review & Record of Arab Culture and Arts, Vol. 6, No. 31 (Spring 2000).

Rachid Ouaissa: Arabische Revolution und Rente. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.57-77.

Reinhard Schulze (2012): Die Passage von politischer Normenordnung zu lebensweltlicher Werteordnung. Erkenntnisse aus dem arabischen Frühling. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.32-56.

Leo Strauss (1988; 1. Auflage 1952): Persecution and the Art of Writing. Chicago und London: The University of Chicago Press.

Friederike Pannewick ist Professorin für Arabische Literatur und Kultur am Centrum für Nah-und Mitteloststudien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg und Teilprojektleiterin sowie Vorstandsmitglied im Forum Transregionale Studien in Berlin.

Politischer Protest in Uganda

Politischer Protest in Uganda

Vom Ende der »Walk-to-Work«-Bewegung

von Matthias Elsas und Oliver Göbel

Als sich die ugandische Regierung im April 2011 mit anhaltenden Protesten durch die so genannte »Walk-to-Work«-Kampagne (WtW) konfrontiert sah, stellte sich die Frage, ob sich der »Arabische Frühling« südlich der Sahara ausbreiten würde (siehe Beitrag von Maaser und Koblofsky zu den Ereignissen in W&F 3-2011).1 Retrospektiv kann davon kaum die Rede sein. Welche Faktoren für diese Entwicklung bedeutsam waren, haben Matthias Elsas und Oliver Göbel anhand des weiteren Verlaufs der politischen Auseinandersetzung in Uganda untersucht und für W&F zusammengefasst.

Die WtW-Demonstrationen, die von der zivilgesellschaftlichen Gruppe A4C organisiert wurden, setzten am 11. April 2011 in Kampala sowie in weiteren urbanen Zentren des Landes ein. Zu Beginn waren sie von dem offiziellen Motiv getragen, gegen den zu dieser Zeit massiven Anstieg der Benzin- und Lebensmittelpreise zu protestieren. Ungeachtet des repressiven Vorgehens der staatlichen Sicherheitsorgane und des Verbots weiterer Demonstrationen wurde die Kampagne fortgeführt, deren Agenda sich im Zuge einer zunehmender Mobilisierung um Forderungen nach einer demokratischen Öffnung bis hin zu einem Regimewechsel erweitern sollte. Rückblickend lassen sich drei Phasen der Protestbewegung nachzeichnen.2

April und Mai 2011, die die erste Phase markieren und den Höhepunkt der Proteste darstellten, waren von einer hohen Mobilisierungsrate, hoher Protesthäufigkeit und repressiv-gewaltförmigen Gegenreaktionen durch die staatlichen Sicherheitsorgane geprägt. So kam es während der landesweiten Proteste am 14. April zum Einsatz der Armee. In Wakiso, Masaka und Jinja wurden dabei etwa 50 Menschen verletzt, bei Protesten von StudentInnen der Makerere University Kampala etwa 70 Personen. Zahlreiche AktivistInnen wurden verhaftet. Insgesamt kamen in dieser ersten Phase neun Menschen ums Leben. Von ca. 200 Verletzten wurden 20 mit Schusswunden in den Krankenhäusern behandelt. Allein in Kampala wurden etwa 700 AktivistInnen verhaftet. Kizza Besigye, Präsident des Forum for Democratic Change (FDC) und neben Mathias Mpuuga (dem nationalen Koordinator der A4C) zentrale Figur der politischen Opposition, wurde mehrfach verhaftet, unter Hausarrest gestellt und durch Übergriffe der Polizei verletzt.

Die zweite Phase der Proteste wurde Ende Juli 2011 eingeleitet, als sich A4C mit der Ankündigung zurückmeldete, die Aktionen würden fortgesetzt, und unter dem Motto »Light a Candle« zu Versammlungen zum Gedenken an die Verstorbenen aufrief. Mehrere Versuche, die Kundgebung abzuhalten, wurden verhindert. Im Oktober 2011 wurde eine »Relaunch Walk-to-Work«-Kampagne ausgerufen. Die Polizei, von A4C über die geplanten Demonstrationen informiert, verwehrte eine entsprechende Erlaubnis. Wenige Tage später kam es trotz des massiven polizeilichen Aufgebotes zu folgenschweren Protesten. Landesweit wurden an diesem Tag mehr als vierzig Personen verhaftet, darunter 15 Oppositionsmitglieder. Der Generalinspekteur der Polizei beschuldigte die Oppositionsmitglieder des „Hochverrats“ (New Vision und Daily Monitor, 18.10.11), da sie angeblich beabsichtigten, die Regierung zu stürzen. Besigye und weitere Oppositionspolitiker, die an den Protesten nicht teilgenommen hatten, wurden präventiv unter Hausarrest gestellt.

Die WtW-Bewegung trat in der dritten Phase, zwischen Januar und April 2012, noch einmal verstärkt mit Aktionsformen an die Öffentlichkeit; allerdings blieben diese nun vorwiegend auf die Hauptstadt beschränkt. Im Januar 2012 veröffentlichte A4C eine Pressemitteilung, die mit dem Aufruf endete, im Rahmen einer »Walk-to-Work Reloaded«-Kampagne an weiteren Demonstrationen teilzunehmen. Die Polizei agierte verstärkt präventiv. Im Vorfeld der Demonstration in Katwe (Kampala) wurden Mitglieder der politischen Opposition überwacht und die geplanten Demonstrationen für illegal erklärt. Wie schon während der Proteste 2011 wurden Besigye, Abgeordnete des FDC, der Oberbürgermeister von Kampala und Mpuuga vorläufig festgenommen.

Im März führte das gewaltsame Aufeinandertreffen zwischen BürgerInnen und Sicherheitskräften zum Tod eines Polizisten. Die Regierung stellte einen Zusammenhang her zwischen dem Todesfall und dem Oberbürgermeister von Kampala sowie der politischen Opposition um Besigye. A4C stellte klar, dass es sich bei jenem Vorkommnis weder um eine Demonstration noch eine sonstige von ihr geplante Aktivität gehandelt habe. Dennoch unterschrieb Generalstaatsanwalt Peter Nyombi am 4. April 2012 den Kabinettsbeschluss, der A4C als „rechtswidrige Vereinigung“ verbot, und zwar unter Rückgriff auf den Penal Code Act, Abschnitt 56/2c. Dieser besagt, dass Gruppen oder Organisationen von mehr als zwei Personen verboten werden können, wenn sie sich u.a. des „Krieges gegen die Regierung“ oder des „Umsturzes bzw. der Aufforderung zum Umsturz der Regierung“ schuldig machen. In einer Stellungnahme des Generalstaatsanwalts heißt es: „Eine Mitgliedschaft ist verboten. Wenn sie versuchen, irgendeine andere Gruppe zu gründen, wird diese auch rechtswidrig sein.“ 3 (zitiert in Daily Monitor, 23.04.2012)

Unter dem Namen »For God and My Country« (4GC) führten die OrganisatorInnen von A4C ihre Aktivitäten zunächst weiter, bis auch 4GC einen Monat später verboten wurde. Zu letzten Kundgebungen kam es im Juli 2012 in drei Distrikten im Westen Ugandas. Eine Petition, die im September an das Verfassungsgericht ging und die Änderung des Gesetzes forderte, welches das Verbot von A4C/4GC ermöglicht hatte, scheiterte. Die für den 9. Oktober 2012 angekündigten Demonstrationen anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zur 50-jährigen Unabhängigkeit Ugandas wurden durch ein massives Polizeiaufgebot sowie Verhaftungen und Hausarreste im Vorfeld verhindert.

Schon während der zweiten Phase, insbesondere aber nach dem Verbot von A4C/4GC, konnte die Bewegung keine breite Mobilisierung mehr bewirken. Obwohl das Heidelberger Konfliktbarometer 2012 weiterhin eine „gewaltförmige Krise“ konstatierte, blieben der Berichterstattung zufolge die noch vereinzelt stattfindenden Aktionen auf einen kleinen Kreis um die zentralen Führungspersonen der Bewegung, Besigye und Mpuuga, beschränkt.

Vom Aufstieg und Zerfall einer Bewegung

Zwei wesentliche Prozesse können als Ausgangspunkt der Protestmobilisierung in der politischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Gesellschaft ausgewiesen werden. Da ist zum einen die Anfang 2011 eintretende sozio-ökonomische Entwicklung. Eine rapide ansteigende Inflation trug bei gleichzeitigem Anstieg der allgemeinen Lebenshaltungskosten zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung bei. Zum anderen kann den externen politischen Entwicklungen im Nahen- und Mittleren Osten, die mit dem »Arabischen Frühling« umschrieben werden, ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die kollektive Deutung politischer und ökonomischer Missstände zugewiesen werden.

Damit ist die kollektive Wahrnehmung politischer Gelegenheiten angesprochen, die einen wesentlichen Mechanismus für den Prozess der Mobilisierung bilden (McAdam et al. 2001). Die sozio-ökonomische Krise und der »Arabischen Frühling« bot den A4C und der politischen Opposition die Gelegenheit, Teile der Bevölkerung für eine öffentliche Protestkampagne zu mobilisieren. Die seit 1986 vom National Resistance Movement geführte Regierung unter Museveni sollte in die Verantwortung genommen werden. Die Regierung erkannte hierin früh ein Bedrohungspotential und setzte in der Folge ausschließlich auf die gewaltsame Niederschlagung der Proteste. Neben dem exzessiven Einsatz repressiver Mittel griff sie dabei auf die diskursive Delegitimierung und wirksame Kriminalisierung von AktivistInnen und Protestierenden zurück.

Der anfängliche Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen (A4C), religiösen (Inter-Religious Council of Uganda) und politischen Akteuren (die Oppositionsparteien FDC, DP, UPC, JEEMA)4 unter dem Banner von »Walk to Work« trug wesentlich zu der landesweiten Mobilisierung im Rahmen der ersten Kampagne bei. Über die tatsächliche Merkmalsstruktur der Protestanhängerschaft ist wenig bekannt. Vieles deutet auf eine Mobilisierung der urbanen, jüngeren und einkommensschwachen Bevölkerungsschicht hin. Nach Einschätzung eines Journalisten des Daily Monitor konnten weder Teile der ugandischen Mittelschicht noch andere einflussreiche Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden.5 Zunehmende Gewalteskalation und steigende Opferzahlen mündeten letztlich in einer drastischen Demobilisierung. Dies gilt nicht nur für die Anhängerschaft, sondern insbesondere für die Trägerschaft der Protestbewegung. Bei der Vorbereitung der zweiten Kampagne »Relaunch Walk-to-Work« waren der Berichterstattung zufolge nur noch die FDC und die DP vertreten (Daily Monitor und New Vision, 13.10.2011). Auch der Inter-Religious Council of Uganda distanzierte sich aufgrund der Gewaltausschreitungen in der Hochphase der Proteste vom Bündnis. Die Koalition im Zeitraum der »Walk-to-Work Reloaded« scheint sich primär auf A4C und FDC zu reduzieren.

Nicht wenige BeobachterInnen sahen in Letzterem den eigentlichen Grund dafür, dass A4C nicht zum Ausdruck einer gesellschaftlich breit legitimierten sozialen Bewegung wurde, einer dritten Kraft außerhalb des »partisanen Machtkampfes« zwischen dem National Resistance Movement und dem FDC. So resümierte etwa der international renommierte Analyst Andrew Mwenda (The Independent, 15.05.2012), die politisch-instrumentelle Inanspruchnahme der Person Besigye, der zum Gesicht der Proteste avancierte, habe A4C die politische Neutralität entzogen. Die wäre aber Voraussetzung gewesen, um einen politischen Prozess anzustoßen, der unter Einbindung weiter zivilgesellschaftlicher Kräfte der anhaltenden Durchsetzung partikularer Machtinteressen entgegenstünde.

Konfliktdynamiken zwischen Bewegung und Stillstand

Gewaltförmige Konflikte haben seit jeher den postkolonialen Werdegang des ugandischen Staates geprägt. Ob sie, um Charles Tillys (1985) berühmte These zu bemühen, notwendiger Bestandteil der Herausbildung und Festigung staatlicher Gebilde sind, ist am jeweiligen Einzelfall stets kritisch zu hinterfragen. Die vielschichtigen Konfliktdynamiken in Uganda lassen sich einmal im Kontext nationaler Integrationsprozesse im Anschluss an die politische Herrschaft kolonialer Regime verorten (Rupesinghe 1989). Der Nord-Uganda Konflikt zwischen »Lord’s Resistance Army« (LRA) und Regierung ist in diesem Kontext zu verstehen. Eine weitere Erklärung sieht Potentiale von Konflikten im politisch-transformativen Prozess von einer autoritären Herrschaftsform hin zur Demokratisierung begründet (Mutua 2007, Izama/Wilkerson 2011). Die Protestbewegung unter dem Banner der WtW-Kampagnen kann aus dieser Perspektive sinnvoll interpretiert werden. Sie stellt insofern eine Zäsur in der Konfliktgeschichte Ugandas dar, als ihre ProtagonistInnen eine »Politik mit anderen Mitteln« (McAdam et al. 1988) verfolgten, welche ausdrücklich die gewaltfreie Austragung widerstreitender Interessen zu ihrem Credo erklärte. Ob jene Konfliktdynamik mittel- oder langfristig zu einer von vielen Seiten erhofften Verschiebung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft führen wird, bleibt fraglich. Von einem »Ugandischen Frühling«, der ähnlich seinem nördlichen Vorbild imstande wäre, einen Regimewechsel – mit allerdings offenen Folgen – einzuleiten, kann bislang nicht die Rede sein.

Quellen

A4C relaunch walk to work campaign. Daily Monitor (monitor.co.ug), 13.10.2011.

Police smash walk to work demos. Daily Monitor, 18.10.2011.

From A4C to 4GC: Are they vehicles of change or a terror to the state? Daily Monitor, 23.04.2012.

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK): Conflict Barometer 2012.

Izama, Angelo und Wilkerson, Michael (2011): Uganda: Museveni’s Triumph and Weakness. Journal of Democracy, 22:3, S.64-78.

Maaser, Johannes und Koblofsky, Lydia: Keine Bewegung mit Ugandas »Movement«. Ein politischer Reisebericht aus dem Land des alten Mannes mit dem Hut. Wissenschaft und Frieden, 3-2011, S.33-36.

McAdam, Doug; McCarthy, John D.; Zald, Meyer N. (1988): Social Movements. In: Smelser, N.J. (ed): Handbook of Sociology. Newbury Park, California: Sage, S.695-739.

McAdam, Doug; Tarrow, Sidney; Tilly, Charles (2001): Dynamics of Contention. Cambridge: Cambridge University Press.

Mutua, Makau (2007): Beyond Juba: does Uganda need a national Truth and Reconciliation process? East African Journal of Peace and Human Rights, 13:1, S.142-155.

Mwenda, Andrew (2012): Reflecting the banning of A4C. The Independent, 15.04.12.

Opposition defies Police, launches walk-to-work week. New Vision, 13.10.2011.

Walk-to-Work activists face treason charges. New Vision, 18.10.2011.

Rupesinghe, Kumar (1989): Conflict resolution in Uganda. Oslo/Athens: Peace Research Institute Oslo (PRIO).

The Penal Code Act (Uganda) von 1950; online bei wipo.int.

Tilly, Charles (1985): War Making and State Making as Organized Crime. In Evans, P.; Rueschemeyer, D.; Skocpol, Th. (eds.): Bringing the state back in. Cambridge: Cambridge University Press.

Anmerkungen

1) Maaser und Koblofsky, die im Anschluss an ihren Ugandaaufenthalt die Ereignisse und Hintergründe für W&F dokumentierten, hatten offen resümiert: „Ob sich der »Weg zur Arbeit« aber wirklich zu einer Bewegung ausdehnt und Museveni das Schicksal der Dauerpräsidenten in der Maghreb-Region und Ägypten bescheren wird, bleibt abzuwarten. Ein innerer Wandel des Systems Museveni scheint jedenfalls nicht in Sicht.“ (W&F 3-2011, S.36).

2) Mit Ausnahme direkter Zitation basiert die Belegführung des Textes auf der im Forschungsprojekt vorgenommenen Dokumentenanalyse. Neben den nationalen Tageszeitungen in Uganda, dem »Daily Monitor« und der »New Vision«, wurden Studien von Human Rights Watch, Amnesty International, International Crisis Group und der Ugandischen Menschenrechtskommission (UHRC) sowie Statistiken des Afrobarometer, des African Economic Outlook und des African Media Barometer, internationale Pressedokumente sowie das Internetblog der Gruppe »A4C« ausgewertet.

3) Übersetzungen aus dem Englischen durch die Autoren.

4) DP: Democratic Party; UPC: Uganda People’s Congress; JEEMA: Justice Forum.

5) Interview durch die Autoren im Rahmen der empirischen Untersuchung.

Matthias Elsas und Oliver Göbel sind Absolventen des Masterstudiengangs Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Zu politischem Protest in Uganda haben die Autoren im Rahmen des Forschungsprojekts »Konfliktdynamiken in Uganda: Die Walk-To-Work-Bewegung« eine empirische Untersuchung durchgeführt.

Friedenspolitische Forderungen

Friedenspolitische Forderungen

Kurzfassung

von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Die Prävention von Krieg und Gewalt ist eine der zentralen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft, deshalb:

1. Ein friedenspolitisches Leitbild für Deutschland

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) Die neue Bundesregierung muss ein friedenspolitisches Leitbild formulieren, das übergreifend für alle innen- und außenpolitischen Handlungsfelder Ziele und Prinzipien für eine gewalt- und krisenpräventive, friedensfördernde Politik Deutschlands benennt.

b) Der Deutsche Bundestag sollte die Erarbeitung und Umsetzung eines friedenspolitischen Leitbilds aktiv begleiten. Dafür sollte der Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit« als wichtiger Ort der Diskussion friedenspolitischer Fragestellungen fortgeführt und politisch aufgewertet werden.

c) Die Bundesregierung sollte einen »Rat für Gewaltprävention und Friedenspolitik« beim Bundeskanzleramt einrichten – ähnlich dem »Rat für Nachhaltigkeit«. Damit würde sie der weitreichenden Bedeutung der Aufgabe Rechnung tragen und zugleich wichtige gesellschaftliche Akteure an der Debatte um ein friedenspolitisches Leitbild angemessen beteiligen.

2. Handlungsfähige Strukturen für Zivile Krisenprävention

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, Gewaltprävention, Friedensförderung und Konfliktsensibilität als übergreifende Prinzipien im Regierungshandeln zu verankern. Dazu ist es notwendig, den Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« so weiterzuentwickeln, dass er mittelfristige Ziele und überprüfbare Umsetzungsschritte benennt. Der Ressortkreis zivile Krisenprävention muss politisch aufgewertet werden. Seine Ausstattung mit finanziellen Mitteln und Personal ist deutlich zu verbessern, so dass er zu einer arbeitsfähigen und wirksamen interministeriellen Struktur wird, die einen Vorrang zivilen, krisenpräventiven Handelns in allen Politikbereichen durchsetzen kann.

b) von Bundestag und Bundesregierung, Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft systematisch an Beratungen zur Zivilen Krisenprävention, der Frühwarnung und -reaktion und der bi- und multilateralen Planung von Programmen und Missionen zu beteiligen.

c) von der Bundesregierung, dem Thema Geschlechtergerechtigkeit, geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung und insbesondere der Rolle von Frauen in Friedensprozessen besondere Aufmerksamkeit im Kontext Ziviler Krisenprävention zu widmen. Für die Realisierung des nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 sind Ressourcen auszuweisen, eine Berichtspflicht einzuführen und nachhaltige Arbeitsstrukturen zu schaffen.

d) für alle Politikbereiche die Erstellung von Aktionsplänen für Menschenrechte voranzubringen.

3. Den Frieden vorbereiten: Instrumente und Programme ausbauen

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von Bundestag und Bundesregierung, die Mittel für zivile Krisenprävention in den kommenden Jahren deutlich zu erhöhen und eine mittelfristige Finanzplanung vorzunehmen, damit insbesondere zivilgesellschaftliche Programme (zivik, Friedenserhaltende Maßnahmen/FEM) nachhaltig ausgebaut werden können. Der Etat für den Zivilen Friedensdienst muss bis zum Ende der Legislaturperiode schrittweise auf 80 Millionen Euro erhöht werden. Mit dem Ausbau werden insbesondere die lokalen Strukturen der Primärprävention und die lokalen Kapazitäten für zivile Konfliktbearbeitung in den betroffenen Ländern gestärkt.

b) von der Bundesregierung einen deutlichen Aufwuchs von qualifiziertem, zivilem Fachpersonal für internationale Friedenseinsätze. Dazu müssen auf Bundes- und Landesebene die Rahmenbedingungen zur Entsendung insbesondere in den Bereichen Polizei, Justiz und Verwaltung verändert werden sowie die bestehenden Kompetenzzentren der Qualifizierung für internationale Einsätze (ZIF, zivilgesellschaftliche Qualifizierungseinrichtungen) ausgebaut werden.

c) von der Bundesregierung, die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung und die finanzielle Unterstützung von Kooperationen zwischen deutschen Forschungseinrichtungen, lokalen Instituten und Friedensnetzwerken mindestens zu verdoppeln. Zusätzlich schlägt die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung die Schaffung eines Fonds für kurzfristige Konfliktanalysen und die Einrichtung wirksamer Kommunikationsstrukturen zwischen politischen Entscheidungsträgern und Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung in den Konfliktregionen vor, um diese Expertise bei der Erstellung von zivilen Handlungsalternativen in akuten Konfliktsituationen (Early Action) besser zu nutzen.

4. Stärkung Ziviler Konfliktbearbeitung in der eigenen Gesellschaft

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, Initiativen zur Förderung der Friedensbildung zu ergreifen mit dem Ziel, diese in ihrer theoretischen wie auch praktischen Dimension in die schulische, berufliche und wissenschaftliche Ausbildung zu integrieren.

b) von der Bundesregierung und dem Verteidigungsministerium, auf den Unterricht durch Jugendoffiziere an Schulen zu verzichten sowie die Beendigung von Werbekampagnen der Bundeswehr, die die Gewaltdimensionen und Konsequenzen militärischer Einsätze verharmlosen.

c) von Bundestag und Bundesregierung, die strukturellen und materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit Verfahren der zivilen Konfliktbearbeitung im Umgang mit Konflikten und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Deutschland verstärkt genutzt werden. Insbesondere gilt es, die Inanspruchnahme von Mediationsverfahren zu fördern, bei Großprojekten Bürgerbeteiligungsverfahren konsequent einzuplanen und Konfliktbearbeitung und Konfliktberatung bei Konflikten im Kontext von sozialen Problemen, Integration und Rassismus auf kommunaler Ebene zu fördern.

5. Auf internationaler Ebene Vorrang für Zivile Konfliktbearbeitung

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, sich verstärkt für den Vorrang Ziviler Konfliktbearbeitung und Gewaltprävention in internationalen Strukturen – vor allem Vereinte Nationen, EU, NATO – einzusetzen. Konkret soll sich die Bundesregierung auf UN-Ebene für eine stetige Befassung der »Peace Building Commission« mit dem Feld der Pre-War Prevention und für den Aufbau einer Internationalen Polizeieinheit der Vereinten Nationen einsetzen.

b) von Bundestag und Bundesregierung, sich gegen den Export von Produkten und Dienstleistungen, die für Krieg und Unterdrückung nutzbar sind, einzusetzen. Dazu dient ein konsequent umgesetztes, rechtsverbindliches Ausfuhrverbot in Konfliktgebiete und in Länder, die Menschenrechte systematisch missachten, die Einführung einer effektiven Endverbleibsklausel für exportierte Rüstungsgüter sowie die Abschaffung staatlicher Bürgschaften für Rüstungsgeschäfte.

c) von der Bundesregierung, den Abzug der letzten verbliebenen Nuklearsprengköpfe aus Deutschland durchzusetzen.

d) von der Bundesregierung, globale Konfliktursachen – Armut und ungerechte Verhältnisse, Ursachen und Folgen von Klimawandel und Instabilität der Finanzmärkte – anzugehen. Dazu sollte ein eigenständiges Ressort für globale Strukturfragen mit den dafür notwendigen Kompetenzen und Ressourcen eingerichtet werden. Das Ziel der globalen nachhaltigen Entwicklung muss ins Zentrum von Politik und Wirtschaft gestellt werden.

Die Friedenspolitischen Forderungen der Plattform

von Christiane Lammers

Die Prävention von Krieg und Gewalt ist eine der zentralen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung hat deshalb in einem mehrmonatigen Prozess Forderungen zur Bundestagswahl 2013 entwickelt, die die einzelnen Schwerpunktfelder abbilden: Zivile Konfliktbearbeitung in Deutschland, Gender, Außen-, Sicherheits- und Rüstungspolitik, Zivile Konfliktbearbeitung im Ausland, Menschenrechtspolitik, Entwicklungspolitik, Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Mindestens drei weitere Ansprüche sollte das »Produkt« am Ende erfüllen:

1. möglichst konkrete politische Erfordernisse zu definieren – ausgehend von den sehr unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Milieus;

2. in dem dafür notwendigen Pragmatismus mittel- und langfristige Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren und die Komplexität, auch Widersprüche mitzubedenken, ohne dabei aussageunfähig zu werden:

3. die Inhalte in ein Format zu geben, das sich sowohl für die Auseinandersetzung mit PolitikerInnen eignet als auch als Information bei Aktionen und der Öffentlichkeitsarbeit dienen kann.

Als Ergebnis des Diskussionsprozesses sind unter dem Titel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen« zwei Papiere entstanden: eine sechsseitige Langfassung, der ein umfangreiches Raster mit den Ressort-Zuordnungen der Forderungen angefügt ist (online unter konfliktbearbeitung.net/node/6261), sowie eine Kurzfassung, die schon beim Kirchentag Anfang Mai in Hamburg an Infotischen der Friedensorganisationen ausgelegt wurde und hier dokumentiert wird.

Mit der Erarbeitung der Forderungen haben die in der Plattform zusammengeschlossenen Organisationen und Personen nicht nur eine »Arbeitshilfe« für die »Wahlkampf-Beteiligung« aufgelegt, sondern auch eine gemeinsame Grundlage geschaffen für die Advocacy-Arbeit in der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags.

Kandidat, wie stehst Du dazu?

Kandidat, wie stehst Du dazu?

von Karl Grobe

Der Suche nach Exoplaneten ist eine utopische Dimension zugewachsen, seit menschliches, industrielles, gewinngetriebenes Handeln den Zustand des Planeten Erde erkennbar beeinträchtigt. Nicht mit realistischer Hoffnung, aber doch mit sachlichem Interesse forschen Astronomen, ob es Himmelskörper gibt, die der Erde vergleichbare Umweltbedingungen bieten, also bewohnbar – besiedelbar – wären, käme man eben dorthin. Das war über ein Jahrhundert Thema der Science-Fiction-Literatur. Sie reicht bis zur fiktiven Schilderung eines fernen, sehr erdähnlichen Planeten, auf dem augenscheinlich Krieg herrscht, Raketensalven um den Globus herum mit Raketensalven beantwortet werden, aber ebenso augenscheinlich kein denkendes Wesen (mehr) lebt. Vielmehr werden die Zerstörungsgeräte vollautomatisch produziert, programmiert und abgeschossen; Tötungsgeräte, also Waffen im herkömmlichen Sinn, sind sie nicht mehr, weil es da nichts mehr zu töten gibt.

Utopischer Pessimismus? Nein. Die Entwickler von Kampfdrohnen gehen entschlossen diesen Weg. Die nächste Etappe: Spionagedrohnen sammeln Daten wie bisher, vergleichen sie ohne Zutun menschlichen Bedienungspersonals mit vorgegebenen Bewegungsmustern und weiteren Parametern, senden das daraus gewonnene »Profil« an Kampfdrohnen, die nun »Objekte« aufspüren, welche dem »Profil« entsprechen, und diese bei hinreichender Ähnlichkeit liquidieren. Auch hier ist menschliches Bedienpersonal unnötig und vielleicht, weil es Gewissen haben könnte, unerwünscht.

Den letztendlich Entscheidenden, die gegenwärtig noch die Todeslisten abzeichnen, und den Steuerern an weit vom Tatort entfernten Rechnern wird diese neue Tötungstechnik schlaflose Nächte ersparen, unter denen die Teilnehmer an Präsident Barack Obamas Dienstagsrunde vielleicht noch leiden, zumal wenn sie die Liquidierung eines US-Staatsbürgers durch Drohneneinsatz abgesegnet und so dem US-Staatsbürger das verfassungsmäßige Recht auf eine Grand Jury vorenthalten haben. Drohnen unterscheiden überdies nicht zwischen Bürgern und Nichtbürgern jener demokratischen Supermacht und sind deshalb nicht als rassistische Kampfinstrumente zu bezeichnen.

Die US-Regierung unter Präsident George W. Bush hat mit Zustimmung der beiden Kongress-Häuser die meisten Grundrechte suspendiert (USA Patriot Act), Foltereinrichtungen geschaffen (u.a. Guantanamo) und die außerrechtliche gezielte Tötung von Personen für rechtens erklärt, weil der Staat sich im Krieg befinde. Das ist seit jenem 11. September vor zwölf Jahren fraglich; denn Krieg führen laut Definition Staaten gegen Staaten, aber nicht Präsidenten oder Regierungen gegen kriminelle Banden. Die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder folgte der Bush-Regierung in uneingeschränkter Solidarität, und uneingeschränkt solidarisch beteiligte und beteiligt sich die Bundesrepublik an deren Kriegen, mit der rühmlichen Ausnahme Irak und den Einschränkungen im Fall Libyen. Über eine Grundsatzentscheidung ist noch zu reden.

Über die Anschaffung von Kampfdrohnen – noch solcher, die vom elektronisch erteilten Befehl eines Schichtdienst leistenden Soldaten in einem weit entfernten Kommandostand abhängen – soll der Bundestag nun nicht mehr vor der Neuwahl im September beschließen. Diese Entscheidung und manche andere, welche Grundsatzfragen von Krieg und Frieden betreffen, wird dem nächsten Bundestag und dem nächsten Haupt der Regierung – Kanzlerin oder Kanzler – überlassen. Weil es aber um Grundsätzliches geht, über das dem Geist des Grundgesetzes gemäß und dem Sinn einer demokratischen Ordnung entsprechend jeder Abgeordnete gemäß seinem Gewissen befinden muss, ist eine gründliche öffentliche Debatte darüber dringend erforderlich:

  • Kandidat, befürwortest du anonyme Tötungsmaschinen wie Kampfdrohnen o.ä., oder lehnst du sie ab?
  • Kandidat, folgst du bei Abstimmungen über Krieg und Frieden deinem Gewissen oder dem nachrangigen Gebot des Fraktionszwangs?

Die zweite Frage ist von einem früheren Bundestag unter einer rot-grünen Bundesregierung beantwortet worden. Am 16. November 2001 hat die absolute Mehrheit der Abgeordneten für den Kriegseinsatz in Afghanistan gestimmt. Die liberale und christdemokratische Opposition hätte dem SPD-Kanzler eine überwältigende Mehrheit verschaffen können – bei Freigabe der Abstimmung. Doch Gerhard Schröder (SPD) stellte die Vertrauensfrage. Abgeordnete aus dem bürgerlichen Lager, die grundsätzlich von der Notwendigkeit militärischer Beteiligung der Bundesrepublik ebenso überzeugt waren wie der Kanzler, waren gleichwohl gehalten, gegen ihn zu stimmen – weil die Vertrauensfrage Teil des Machtkampfes zwischen Regierung und Opposition ist. Diejenigen, die aus ebenso gut nachvollziehbaren Gründen dieses Mandat nicht wollten, waren aus denselben Gründen gehalten, dem Kanzler das Vertrauen auszusprechen. Alle stimmten nicht über Krieg und Frieden ab, sondern über das Rechtsgut »Schröder bleibt Kanzler«.

Alle Staatsgewalt aber geht vom Volke aus. Bei der kommenden Wahl ist genau zu prüfen, welcher Kandidat dazu steht.

Dr. Karl Grobe-Hagel war von 1968 bis 2002 außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau und ist heute freier Autor.

Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)

Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)

von Christoph Weller

Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung gestartet

Nachfolgerin der AFK-Friedensschriften ist seit 2012 die »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« (ZeFKo), herausgegeben im Auftrag des Vorstands der AFK von Thorsten Bonacker (Marburg), Tanja Brühl (Frankfurt a.M.) und Christoph Weller (Augsburg). Heft 2/2012 der ZeFKo erscheint Mitte Dezember, doch bereits jetzt ist das Inhaltsverzeichnis über die AFK-Homepage (afk-web.de) einsehbar. AFK-Mitglieder erhalten die ZeFKo kostenlos im Rahmen ihrer Mitgliedschaft, über weitere Bezugsmöglichkeiten informiert der Nomos-Verlag (zefko.nomos.de).

Die ZeFKo ist ein Kommunikationsforum für die Auseinandersetzung um begriffliche, theoretische, methodische und konzeptionelle Fragen der Forschung zu Gewalt, Konflikt und Frieden und regt dabei insbesondere auch die interdisziplinären Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung an. Hierin einbezogen sind Fächer wie Ethnologie, Geographie, Geschichtswissenschaft, Kultur- und Literaturwissenschaften, Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Theologie, aber auch die Naturwissenschaften.

Die halbjährlich mit ca. 160 Seiten erscheinende Zeitschrift ist ein »reviewed journal«. Die bei der ZeFKo eingereichten Aufsatzmanuskripte und Literaturberichte werden einem doppelt anonymisierten Begutachtungsverfahren unterzogen und müssen deshalb in einer anonymisierten und einer nicht-anonymisierten Version bei der ZeFKo-Redaktion eingereicht werden. Sie dürfen nicht bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden sein oder gleichzeitig zur Publikation an anderer Stelle angeboten werden.

Die Rubrik »Forum« der ZeFKo ist offen für Debattenbeiträge und Repliken auf andere (ZeFKo-) Veröffentlichungen, aber auch für andere Texte, die über aktuelle Entwicklungen in der Friedens- und Konfliktforschung informieren, etwa Sammelrezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen, Hinweise auf Forschungsprogramme, Calls for Papers oder auch thematisch fokussierte Tagungsberichte. Forums-Beiträge unterliegen keinem externen Begutachtungsverfahren, müssen aber spätestens vier Monate vor Erscheinen des nächsten Hefts bei der ZeFKo-Redaktion eingereicht werden (jeweils 15.1. bzw. 15.7.). Aufsatzmanuskripte und Literaturberichte (max. 10.000 Wörter inkl. Literaturangaben und Fußnoten) können jederzeit bei der Redaktion der »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« eingereicht werden.

Neue AFK-Geschäfsführung

Vorstand und Mitglieder der AFK freuen sich, dass die AFK-Geschäftsstelle in Augsburg zum 15. September 2012 wieder besetzt werden konnte. Neue Geschäftsführerin ist Lisa Katharina Bogerts. Sie hat an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg studiert und vor kurzem ihre Masterprüfung in Internationalen Studien/Friedens- und Konfliktforschung erfolgreich abgeschlossen. Zuvor studierte sie Politik- und Kommunikationswissenschaft (BA) an der Technischen Universität Dresden. Während ihres Studiums war Lisa Bogerts als studentische Hilfskraft am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« in Frankfurt a.M. tätig und absolvierte Praktika in verschiedenen Institutionen und Ländern; so u.a. bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kolumbien und Äthiopien (Afrikanische Union), in der Deutschen Botschaft Panama, im Deutschen Bundestag und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Christoph Weller, Vorstandsvorsitzender AFK

„Mich haben Probleme interessiert…“

„Mich haben Probleme interessiert…“

Verleihung des Göttinger Friedenspreises 2012, 10. März 2012, Göttingen

von Jürgen Nieth

Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer hat den Göttinger Friedenspreis 2012 erhalten. Er wurde ihm verliehen „in Anerkennung seiner jahrzehntelangen Arbeit auf den Gebieten der ethnisch-kulturellen Gewaltforschung, insbesondere für die einschlägigen Studien zum Rechtsextremismus, die fundierten Analysen zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie für den umfassenden Forschungsansatz gesellschaftlicher und personaler Prozesse von Ausgrenzung und Desintegration“.

In der Begründung der Jury heißt es:

„1996 gründete Heitmeyer das »Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung« (IKG) an der Universität Bielefeld, das er seither leitet. Das vor allem aus Sozialpsychologen, Politik- und Kulturwissenschaftlern, Soziologen und Historikern zusammengesetzte Team des IKG ist heute ein in der deutschen Öffentlichkeit und Politik ernst genommener Seismograph kritischer Tendenzen in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben.

Besonders verdienstvoll ist es Heitmeyer und seinen Kolleginnen und Kollegen mit dem empirischen Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) gelungen, die Aufmerksamkeit auf die Analyse von Einstellungen und Verhalten gegenüber schwachen Gruppen zu lenken. Mit der Publikation »Deutsche Zustände Folge 10« werden gegenwärtig einige alarmierende Ergebnisse dieser zehnjährigen Forschungsarbeit präsentiert und Ursachen und Konsequenzen der Abwertung und Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten wie Zuwanderer, Juden, Muslime, aber auch Langzeitarbeitslose oder Asylbewerber in den Fokus gerückt.

Die radikale Ökonomisierung der Sozialbeziehungen stellt die Gleichwertigkeit von Menschen (-gruppen) und ihre psychische und physische Integrität in Frage. Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zu einer neuen Normalität geworden und produzieren unter anderem in Form »roher Bürgerlichkeit« massive Tendenzen einer Entsolidarisierung und Entwertung gegenüber den vorgeblich »Nutzlosen«. Fundamentale Säulen der Rechtsstaatlichkeit wie der Gleichheitsgrundsatz stehen auf dem Spiel. Ängste vor Privilegienverlust verstärken eine in den vergangenen Jahren bedrohlich gewachsene Islamfeindlichkeit, fördern neue Varianten des Antisemitismus, bilden einen gefährlichen Nährboden für rechtspopulistische Mobilisierungen – nicht nur in Deutschland.

Diese von Wilhelm Heitmeyer und anderen beschriebenen Tendenzen einer »Demokratieentleerung« durch den Verlust menschenrechtlicher Normen sind tendenziell friedensgefährdend. Die Gewalteinbrüche innerhalb unserer Gesellschaften, wie wir sie in Deutschland jüngst am bestürzenden Beispiel der rechtsextremistischen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« erlebt haben, geben Anlass zu ernster Besorgnis. Staatliche Ignoranz oder Verharmlosung sind dazu angetan, die großen Gefahren einer weiterreichenden Desintegration und Renationalisierung, wie sie in der Krise der EU sichtbar werden, zu unterschätzen oder sogar zu befördern.“

In seiner Laudatio hob der Migrationsforscher und Publizist Prof. Dr. Klaus J. Bade u.a. hervor, dass Wilhelm Heitmeyer trotz seines Ruhmes geblieben ist, was er immer war: ein intellektuell bescheidener, wissenschaftlicher Querdenker mit hohem gesellschaftskritischem Engagement.

Er untermauerte es mit Botschaften Heitmeyers. „Teilnehmende Beobachtung ist gut, Kontrollfragen sind besser. Also kündigte ich Wilhelm Heitmeyer an, dass ich zu seiner Laudatio verurteilt sei und fragte ihn indirekt nach einer ganzheitlichen Selbsteinschätzung.

Ich bin indiskret genug, Ihnen einige seiner Botschaften mitzuteilen […]

Botschaft 1 – zur intellektuellen Bescheidenheit des Probanden:

‚Leider habe ich keine ausführliche Literaturliste, da ich keine geführt habe‘, schrieb mir Wilhelm Heitmeyer. ‚Das liegt u.a. daran, dass ich ein Vertreter der offline-Bewegung bin und deshalb auch noch nie privat oder dienstlich einen Computer hatte.‘

Das macht staunen, denn zur wissenschaftlichen und publizistischen Biographie von Wilhelm Heitmeyer gibt es, wie wir gleich sehen werden, wahrhaftig einiges zu sagen. Wie also kommt der Mann zu seiner Flut von Texten? Er kann doch nicht alles auf Bielefelder Tontafeln geritzt haben. Aber Betriebsgeheimnisse müssen sein. […]

Botschaft 2 – betreffend den wissenschaftlichen Querdenker:

‚Wenn Sie mich nach meiner disziplinären wissenschaftlichen Verortung fragen, dann muss ich passen‘, schrieb mir Wilhelm Heitmeyer. ‚Mich haben Probleme interessiert – und dann habe ich nach Theorien gesucht, auch hinsichtlich der Methoden. Deshalb liege ich bei meinen wissenschaftlichen Verortungen, trotz der Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, doch meist irgendwie »quer«. Das hat eben so viele Vorteile wie Nachteile. Ein wichtiger Vorteil besteht darin, interdisziplinäre Ansätze zu verfolgen. Karriereförderlich ist das vor allem für die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bis heute nicht. Aber es muss sein, koste es was es wolle.‘

Da haben wir ihn, den erfrischend kantigen wissenschaftlichen Querdenker, mitunter auch Querkopf Wilhelm Heitmeyer.

Botschaft 3 – zum gesellschaftskritischen Engagement:

Wilhelm Heitmeyers Selbstbeschreibung endete mit den Bekennerworten: ‚Letztlich: Wenn es nicht gelingt, dass Wissenschaft eine gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, dann sollte sie – verschärft benannt – abgeschafft werden.‘

Ganz ähnlich schreibt er über seine »Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft« […]

Der Querdenker Wilhelm Heitmeyer ist oft missverstanden worden: Weil er sich mit seinem Team und einer großen Zahl von Kollegen der anhaltenden Beobachtung der bedrohlichen Seiten gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland und im internationalen Vergleich verschrieben hat, galt er manchen Freunden des Guten und Schönen als eine Art Fürst der Finsternis […] [Tatsächlich hat sich Wilhelm Heitmeyer] in seiner Arbeit weniger auf die Licht- als auf die Schattenseiten von Kultur- und Sozialprozessen konzentriert. Er glaubt, dass der affirmative Blick auf das erstrebenswerte Gute und Schöne nicht genügt, um in der unter Modernisierungsdruck stehenden postindustriellen Gesellschaft kulturelle Toleranz und sozialen Frieden zu erhalten. Gefahrenabwehr aber funktioniert nur, wenn man die Gefahren kennt und die Konjunkturen der Gefährdung dauerhaft im Blick behält, nämlich insbesondere: kulturelle Intoleranz und soziale Nichtakzeptanz, Abwertung, Entsolidarisierung, Konflikt und Gewalt.“

Klaus J. Bade ging dann auf die Schwerpunkte der Arbeit Heitmeyers in den letzten zehn Jahren und besonders auf das empirische Langzeitprojekt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« ein, das 2002 startete mit einem „Syndrom aus sechs Beobachtungsbereichen: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus“.

Er verwies dann darauf, die „zunehmende soziale Spaltung könnte in soziale Spannung umschlagen. Oben wächst die Abschottung nach unten. In der Mitte wächst die Angst vor Statusverlust und unten die Aggressivität, die aus der Frustration und Perspektivlosigkeit der Abgehängten kommt. Keine guten Aussichten für ein solidarisches Miteinander in dem ohnehin anstrengenden Kultur- und Sozialprozess, den man Einwanderungsgesellschaft nennt.

Das ist kein Grund, hysterisch zu reagieren, zumal es im Konzert der Bielefelder Umfragewerte durchaus auch hellere Töne gibt, die die dunklen etwas relativieren. Aber die Bestandsaufnahme ist ernst genug.

Wenn man dieses Gefahrenpotential beobachtbar halten will, sollte man das weltweit einzigartige, zehn Jahre lang erfolgreich betriebene und nun mangels weiterer Förderungsquellen stillgelegte Bielefelder Beobachtungsinstrument als gesellschaftspolitisches Frühwarnsystem wieder in Gang bringen – in der bewährten oder sogar in einer erweiterten Form.

Hoffen wir, dass der verdiente Preis als ein Signal dazu verstanden werden möge.“

Der Preisträger teilte mit, dass das Bielefelder Institut inzwischen auch in El Salvador, in einer der gewalttätigsten Gesellschaften der Welt, arbeitet. Daher stiftet er das Preisgeld als kleinen Beitrag für ein Präventionsprojekt in San Salvador.

Die Rede des Preisträgers bei der Feierveranstaltung ist in dieser Ausgabe von W&F dokumentiert.

Jürgen Nieth

MacBride-Friedenspreis an Peter Becker

MacBride-Friedenspreis an Peter Becker

von Redaktion

Das Internationale Friedensbüro (International Peace Bureau, IPB) verleiht den MacBride-Preis 2011 an die irakische Frauenrechts- und Demokratieaktivistin Hanaa Edwar und an den deutschen Juristen und Friedensaktivisten Peter Becker. Die Preisverleihung findet am 29. Oktober im Rahmen eines IPB-Jubiläumssymposiums in Potsdam statt.

Peter Becker erhält den Preis für sein Wirken für die Abschaffung aller Atomwaffen, insbesondere für sein aktives Mitwirken für das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 1996, mit dem Atomwaffen generell für illegal erklärt wurden. Sein Engagement in der Friedensbewegung und insbesondere sein Einsatz für das Projekt »Frieden durch Recht« der internationalen Juristenvereinigung IALANA zeichnen den Friedensjuristen Peter Becker aus. Seine Aktivitäten gegen die Atomenergie, sein Mitwirken als Anwalt bei Entscheidungen für den Stopp von AKWs und bei der Aufdeckung der Rolle der Stromkonzerne sowie sein Einsatz für erneuerbare Energien sind weitere Gründe für die Preisvergabe.

Peter Becker ist Gründer, war zwanzig Jahre lang Vorsitzender und ist jetzt Vorstandsmitglied der deutschen IALANA-Sektion sowie geschäftsführender Präsident der internationalen IALANA. Er ist Stifter des »Peter-Becker-Preises für Friedens- und Konfliktforschung«, der seit 2005 von der Philipps-Universität Marburg verliehen wird. Als Rechtsanwalt vertritt Peter Becker u.a. Elke Koller, die wegen völkerrechtswidriger Stationierung von Atomwaffen in Deutschland gegen die Bundesregierung klagt. 2009 gründete er aus eigenen Mitteln die »Stiftung Friedensbewegung«.

IPB hat seinen Sitz in Genf und ist ein weltweites Netzwerk von über 250 Friedensorganisationen. Das Netzwerk wurde 1891 gegründet und bekam 1910 den Friedensnobelpreis. Das IPB vernetzt internationale Friedensbewegungen, erarbeitet Expertisen und organisiert Aktionen mit dem gemeinsamen Ziel der umfassenden Abrüstung.

Der Friedensnobelpreisträger Sean McBride war irischer Politiker und Vorsitzender bzw. Präsident des Friedensbüros von 1968 bis 1985. McBride begann seine Laufbahn als Kämpfer gegen die britische Kolonialherrschaft, studierte Jura und stieg in der unabhängigen Irischen Republik in hohe politische Ämter auf. Er bekam den Lenin-Friedenspreis und 1974 auch den Friedensnobelpreis – Anerkennung seiner weitreichenden Arbeit, zum Beispiel als Mitgründer von Amnesty International. Während seiner Zeit bei IPB legte er die »Vorschläge von Bradford« für weltweite Abrüstung vor, die den Weg für die erste Sondersitzung der Vereinten Nationen zu Abrüstung von 1978 bereiteten.

Herausgeberkreis, Vorstand und Redaktion von W&F gratulieren Peter Becker herzlich!

Herausgeberkreis, Vorstand und Redaktion

Friedensbewegung aufgepasst!

Friedensbewegung aufgepasst!

Friedensbildung ohne eigene Kooperationsabkommen

von Markus Pflüger

In W&F 3-2011 warb ein Beitrag für eine verstärkte Präsenz der »Friedensbewegung an Schulen!«. (S.28) In dieser kritischen Replik wird eine andere Sichtweisen auf die Arbeit gegen Militarisierung und für mehr Friedensbildung vorgebracht.

Klar, mehr Friedensbildung an Schulen wäre gut. Viele Friedensbewegte haben sich erst durch den verstärkten Bundeswehr-Werbefeldzug und vor allem durch die Kooperationen der Bundeswehr mit Kultusministerien darauf besonnen. Der Werbefeldzug und die Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung der Bundeswehr müssen stärker bekannt gemacht werden, inklusive der macht- und wirtschaftspolitischen Interessen hinter der Militarisierung. Es gilt, Schülern, Lehrern und Eltern Kritik und Alternativen bekannter zu machen. Ein wichtiges Ziel erscheint mir dabei, das Militär aus der Schule zu drängen, sie im Idealfall zu einem militärfreien Ort zu erklären. Zwei solche Schulbeschlüsse gibt es inzwischen.1

Die Rücknahme der Kooperationen mit der Bundeswehr und mehr Friedensbildung an Schulen erscheinen mir zusammen wichtig. Die Autoren Becker legen Wert „auf ebenbürtige Kooperationsabkommen der Länder mit den Dachverbänden des Friedensdiensts“. Ich lege Wert auf Friedensbildung und Engagement gegen Militarisierung. Die zwischen den Zeilen stehende Favorisierung eigener Kooperationsabkommen erscheint mir ein Fehler. Die erste Friedens-Kooperationsvereinbarung wurde am 15.8.2011 in Rheinland-Pfalz unterzeichnet. Sie zielt darauf ab, die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr zu legitimieren und damit auch zu verfestigen. Aus diesem Grund sind die Friedens-Kooperationsvereinbarungen friedenspolitisch kontraproduktiv.

Rheinland-Pfalz als Vorreiter?

Kurz vor der Landtagswahl hatte sich die rheinland-pfälzische SPD-Alleinregierung mit einigen Friedensgruppen auf eine eigene Kooperation verständigt, trotz der Bitte anderer Gruppen, dies nicht zu tun. Kritik an der Bundeswehr gehört(e) inhaltlich nicht mehr dazu. Nach dem SPD-Stimmenverlust und dem Landtagseinzug der Grünen wurde eine rot-grüne Koalition verhandelt. Im Grünen-Wahlprogramm steht das Ende der Bundeswehr-Kooperation. In den Verhandlungen hatte die SPD dann ein gut vorbereitetes Argument, um dies abzuwenden: die eigene Kooperation mit Friedensgruppen. Klingt ausgeglichen – für Beckers „ebenbürtig“? Daran ist aber nichts gleichberechtigt: Fast 100 hauptamtliche und zahlreiche nebenamtliche Jugendoffiziere werden nur dafür bezahlt, den Jugendlichen die Weltsicht ihres Dienstherren zu vermitteln. Hinzu kommen sehr viele weitere Maßnahmen. Trotz dieser Implikationen haben sich vor allem kirchliche Friedensgruppen für eine Unterzeichnung entschieden. Pragmatisch für mehr Friedensbildung? Oberkirchenrat Gottfried Müller begrüßt die Vereinbarung so: „Dadurch wird die notwendige Ausgewogenheit zwischen sicherheitspolitischen Erwägungen und friedensethischen Argumenten hergestellt.“2

Trugschlüsse

Wie sollen Kooperationsvereinbarung plötzlich mehr Friedensbildung bringen? Das sind Trugschlüsse:

1. „Wenn es ein Papier gibt, das einen besseren Zugang zu Schulen ermöglichen soll, haben wir den auch.“ Dabei bleibt es weiterhin Schulleitern und Lehrern überlassen, Friedensbewegte als Fachleute aus der Praxis einzuladen oder nicht. Entscheidend bleiben persönliche Kontakte.

2. „Wenn es eine eigene Kooperationsvereinbarung gibt, wird mehr Friedensbildung geleistet.“ Als zaubere das Papier auch gleich kompetente Leute mit Zeit dafür herbei. Mehr Friedensbildung braucht engagierte Menschen, die sich vernetzen und weiterqualifizieren. Ob Kooperationsabkommen dazu was beitragen können, ist sehr fraglich, ihr Beitrag zur Stabilisierung der Bundeswehr-Kooperation und zu Zwist innerhalb der Friedensszene ist klarer.

3. „Kooperationsvereinbarungen sind ein nettes Angebot ohne politisches Kalkül der Landesregierungen.“ Nein, sie sind eindeutig auch eine Antwort auf die Kritik an Bundeswehr-Kooperationen und -Werbefeldzügen, übrigens nicht nur an Schulen. Die Kritik wird durch eigene Kooperationsabkommen geschickt gekontert und geschwächt, Kritiker vereinnahmt. Interessant: Das Gros der Unterzeichner der Friedenskooperation in Rheinland-Pfalz machte bei Kampagnen für »Schulen ohne Militär« nicht mit.

4. „Wer »Gegen die Bundeswehr an Schulen und Militarisierung« aktiv werden will, wolle nicht »Mehr Friedensbildung«. Klar gibt es Schwerpunktsetzungen, ich selbst will auch mehr an Schulen bzw. will, dass die Angebote dafür von uns verbessert werden, ich brauche dafür aber keine Kooperation. Und noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass auch der Rückschluss nicht stimmt: Wer für Friedenskooperationen ist, macht nichts (mehr) gegen die Bundeswehr bzw. ihren Werbefeldzug.

Anmerkungen

1) Siehe Musterantrag sowie Beispiel 1 und 2 auf der Website »Schulfrei für die Bundeswehr«, dort unter »Material und Vorlagen«; schulfrei-fuer-die-bundeswehr-rlp.de.

2) Evangelische Kirche der Pfalz: »Netwerk Friedensbildung« macht Schule. Kooperationsvereinbarung zwischen Bildungsministerium und Friedensorganisationen. Pressemeldung 145/2011 vom 20.7.2011; evkirchepfalz.de.

Markus Pflüger arbeitet hauptamtlich für die AG Frieden Trier (agf-trier.de) und ist Mitglied der DFG-VK und IMI-Beirat.

Nach der Wehrpflicht

Nach der Wehrpflicht

Herausforderungen der kirchlichen Friedensarbeit

Christian Griebenow

Die mit der Betreuung von Kriegsdienstverweigerern/innen bisher betrauten Organisationen machen sich im Zuge des Wegfalls der Wehrpflicht Gedanken, wie die Bedingungen für die Kriegsdienstverweigerung juristisch, politisch und sozial erhalten werden und wie Frauen und Männer auch in Zukunft eine freie Gewissenentscheidung zum Kriegsdienst treffen können. Sie wollen dafür sorgen, dass die Option der Kriegsdienstverweigerung auch weiterhin in der Gesellschaft und in den Kirchen präsent bleibt.

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht stellt sich die Frage nach der zukünftigen Bedeutung und Wahrnehmung der Kriegsdienstverweigerung (KDV) in der Gesellschaft und in den Kirchen. Den Kriegsdienst zu verweigern muss eine individuelle Handlungsoption bleiben. Betroffen sind Personen, die beispielsweise als Soldat/innen durch konkrete Kriegserfahrungen oder Erlebnisse in kriegsähnlichen Situationen zu einer Veränderung ihrer individuellen Gewissensentscheidung kommen und den Kriegsdienst deshalb »nachträglich« verweigern wollen. Durch die Aussetzung der Wehrpflicht wird es ab 2012 statt wie bisher etwa 100.000 KDV-Verfahren vermutlich nur noch einige hundert Vorgänge jährlich geben. Unklar ist auch, ob und wie junge Frauen und Männer ohne ein so genanntes Rechtsschutzbedürfnis einen KDV-Antrag stellen können, denn ein Rechtschutzbedürfnis besteht nur dann, wenn man mittels der Wehrpflicht zum Militärdienst gezwungen wird oder wenn man auf Grund einer Gewissensentscheidung als Zeit- oder Berufssoldat den Militärdienst verweigern möchte. Nach heutiger Sachlage kann man einen KDV-Antrag nur dann stellen, wenn eine Musterung bereits erfolgt ist.

Bislang war der Kriegsdienstverweigerung durch die Wehrpflicht und in Folge dessen durch den Zivildienst eine breite öffentliche Wahrnehmung sicher. Auch deswegen gibt es in Deutschland im internationalen Vergleich eines der transparentesten und zuverlässigsten Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer. Obwohl auch in diesem das Gewissen staatlich und formal geprüft wird und nicht allein die Berufung auf das Grundrecht für eine Anerkennung ausreicht, ist das Verfahren allgemein anerkannt und obliegt im Gegensatz zur Praxis in anderen Ländern einer zivilen Behörde. Der Vorgang ist eingespielt und für die Betroffenen kalkulierbar.

Aufgaben der kirchlichen Beratung unter veränderten Bedingungen

Der Rat der Evangelischen Kirchen Deutschland (EKD) erklärte am 7. Dezember 1951: „Alle Menschen, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern, müssen geschützt werden und dürfen des Schutzes und der Fürsprache der Kirche gewiss sein.“ Die kirchliche Verpflichtung, junge Menschen in ihren Gewissensentscheidungen zu begleiten, bleibt auch nach dem Wegfall der Wehrpflicht bestehen. Dabei können sich die Betroffenen nicht nur auf die in Artikel 4,3 GG geregelte Kriegsdienstverweigerung, sondern explizit auch auf die in Artikel 4,1 GG geregelte grundsätzliche Freiheit des Gewissens beziehen. Zu dieser Freiheit müssen Menschen bereits in jungem Alter, d.h. im Schulalter, befähigt werden. Dies ist auch eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure.

Zurzeit sind im gesamten Bundesgebiet einige hundert zumeist ehrenamtliche Beauftragte für Friedens- und KDV-Arbeit in den evangelischen Landes- und Freikirchen aktiv. Sie werden auch in Zukunft als Berater/innen in Fragen der KDV zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden sie die zentrale Aufgabe der Friedensbildung und die Friedens- und Versöhnungsarbeit insgesamt noch stärker in den Blick nehmen. Der Leitgedanke der evangelischen Friedensarbeit ist dabei das Friedenszeugnis Christi.

Unabhängig von der Aussetzung der Wehrpflicht wurde die Friedensarbeit in der EKD schon vor einiger Zeit neu strukturiert. Ausgangspunkt hierfür waren die Beratungs- und Entscheidungsprozesse im Zuge der Verabschiedung der Friedensdenkschrift der EKD im Jahr 2007. Die bestehende landes- und freikirchliche Friedens- und KDV-Arbeit, welche in der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) organisiert ist, wird seit 2009 durch die einmal im Jahr tagende Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD ergänzt, in der ein breiteres Spektrum der evangelischen Friedensarbeit vertreten ist. Mit dem Friedensbeauftragten des Rates, Renke Brahms, hat die Evangelische Kirche das Amt eines Sprechers geschaffen, der den kirchlichen Beitrag zu Fragen des Friedens und des Krieges nachhaltig in gesellschaftliche und politische Debatten einbringen kann und der auch innerkirchlich Gewicht hat. Die gemeinsame Geschäftsstelle der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) und der EAK in Bonn unterstützt und begleitet die Arbeit des Friedensbeauftragten und organisiert und gestaltet die Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD.

Das bestehende Netz der aktiven Berater für KVD und der Friedensbeauftragten, zusammengeführt in der EAK, wird auch in den kommenden Jahren in der Beratung bei Gewissensentscheidungen und in der Friedensbildung aktiv sein. Die Strukturen in den einzelnen Landeskirchen sind allerdings sehr verschieden und so auch die Aktivitäten der jeweiligen Beauftragten und Berater. Ein Ziel für die Arbeit der EAK nach Aussetzung der Wehrpflicht ist es, die frei werdenden Kapazitäten dieser Beauftragten noch stärker in die Friedensbildung in der Schule und die Gewissensbildung einzubringen. Diesbezüglich sind die 16- bis 19-Jährigen die vorrangigen Adressaten der Arbeit der EAK, da Jugendliche nun nicht mehr automatisch mit der Gewissensfrage nach Krieg und Frieden konfrontiert werden. AGDF und EAK haben deshalb das Projekt »Friedensbildung, Bundeswehr & Schule« initiiert. Koordination und Projektleitung liegen bei der gemeinsamen Geschäftsstelle, d.h. hier sind die zentralen Funktionen wie Materialpool, Informationsstelle und bundesweite Öffentlichkeitsarbeit angesiedelt. Neben einer Materialiensammlung wird auch die Dokumentation der wichtigsten politischen Entscheidungen im Themenbereich Friedensbildung, Bundeswehr und Schule geleistet. Ein Newsletter informiert über aktuelle, Entwicklungen, die über das kirchliche Umfeld hinausgehen. Für die Schulen dient Friedensbildung im Sinne dieses Projektes auch der notwendigen politischen Ausgewogenheit gegenüber dem Besuch von Jugendoffizieren und ausdrücklich auch als Alternative hierzu. Die Herausforderung wird einerseits darin bestehen, pädagogische Ansätze und Materialien zu entwickeln, die die Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung verdeutlichen, und andererseits, die praktischen Ansätze, wie z.B. die Friedensdienste, durch Personen erfahrbar und erlebbar machen.

Im Bereich der Friedensbildung muss verstärkt über die Möglichkeiten der Gewaltfreiheit und des konstruktiven, zivilen/gewaltfreien Umgangs mit gesellschaftlichen und internationalen Konflikten informiert werden. Angeregt wird dadurch auch die kritische Reflektion militärischer Einsätze in Konflikten und Krisen im Allgemeinen. Zugleich soll aber auch über die Probleme des freiwilligen Wehrdienstes und die Chancen von Friedens- und Freiwilligendiensten informiert werden. Der »Vorrang für Zivil« ist dabei als Alternative zum militärischen Handeln das Hauptaugenmerk der kirchlichen Friedensorganisationen.

Auch die »alte« KDV-Beratung bleibt eine Aufgabe

Die KDV-Verfahren von Berufssoldat/innen werden auch weiterhin von Berater/innen und Seelsorger/innen begleitet, und die Kontakte zu den entsprechenden Fachanwälten werden auch künftig durch sie vermittelt. Das schließt die Beratung in Fragen des freiwilligen Wehrdienstes und der zivilen Alternativen in den Freiwilligen- und Friedensdiensten ein.

Als Teil der evangelischen Friedensarbeit wird die EAK sich in die grundsätzlichen Debatten der Friedenspolitik, Friedensethik und Friedenstheologie einmischen und dem pazifistischen Denken in den Evangelischen Kirchen Raum und Stimme geben. Sie steht dabei auch in einem kritischen Austausch mit der Seelsorge in der Bundeswehr. Viele Seelsorger/innen der Soldatenseelsorge nutzen bei der Beratung auch die Angebote und die vielfältigen Kontakte zu den Mitgliedern der EAK, um den Soldat/innen mit Gewissensentscheidungen einen unabhängigen Beistand zu ermöglichen.

Wie sich die KDV-Beratung zukünftig gestalten wird, ist jedoch offen. Das wird wohl auch davon beeinflusst sein, wie sich das Thema Kriegsdienstverweigerung weiterhin in der Gesamtgesellschaft verankern lässt und somit als eine Gewissenentscheidung nicht nur vom Staat, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern (innerhalb und außerhalb des Militärs) akzeptiert wird.

Christian Griebenow ist seit 2010 Geschäftsführer der EAK in Bonn.

Friedensbewegung an die Schulen!

Friedensbewegung an die Schulen!

von Jenny Becker und Peter Becker

Die Kooperationsvereinbarungen von Bundesländern mit der Bundeswehr haben vielfältige Reaktionen der Friedensbewegung ausgelöst. Jenny und Peter Becker geben einen kurzen Überblick und beleuchten ein Beispiel.

Immer häufiger kommen Jungoffiziere in die Schulen, um über sicherheitspolitische Themen zu sprechen und für eine Ausbildung innerhalb der Institution Bundeswehr mittelbar zu werben. Dazu hat die Bundeswehr bereits mit acht Bundesländern Kooperationsvereinbarungen getroffen.

Um Lobbyarbeit gegen diese Vereinbarungen zu betreiben, haben sich in den letzten Monaten etliche thematische Sub-Netzwerke der bekannten Friedensorganisationen gebildet, darunter die Projekte »Friedensbildung, Bundeswehr & Schule« der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden/AGDF und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer/EAK (friedensbildung-schule.de, umfassende Materialsammlung unter http://bit.ly/pnZR97), »Schulfrei für die Bundeswehr« der DFG-VK Baden-Württemberg (schulfrei-für-die-bundeswehr.de), die Netzwerke Friedensbildung in Rheinland-Pfalz und Hessen sowie die Kampagne »Friedensbewegung an die Schulen!« von EN-PAZ und der Stiftung Friedensbewegung (en-paz.de und stiftungfriedensbewegung.de).

Dabei wurde klar, dass ein mit den Kooperationsvereinbarungen vergleichbares Angebot geschaffen werden muss, um die »Schuleinsätze« der Bundeswehr zumindest konterkarieren zu können. Es sollen also zukünftig ReferentInnen der Friedensbewegung an die Schulen gehen, um über Erfahrungen im Freiwilligendienst und als Friedensfachkräfte zu berichten oder als motivierte ExpertInnen aus Forschung und Lehre über gewaltfreie Konflikttransformation oder umstrittene Bundeswehreinsätze zu berichten.

Allerdings entzündete sich im Verlauf der Diskussion auch ein Konflikt innerhalb der Friedensbewegung: Die einen legen Wert auf die Bündelung von Ressourcen zur Abschaffung der Bundeswehr-Länder-Abkommen, die anderen auf den Abschluss von ebenbürtigen Kooperationsvereinbarungen der Länder mit den Dachverbänden des Friedensdienstes. Eine solche Vereinbarung steht in Rheinland-Pfalz vor dem Abschluss.

EN-PAZ – Lernplattform für Friedenserziehung

Die Bundeswehr ist aber nicht nur mit ihren Jugendoffizieren, sondern (ausgestattet mit einem Etat von 24 Mio. Euro ) auch im Bereich der Lehrmittelerstellung für schulische und außerschulische Anforderungen sehr gut aufgestellt; auf ihre Angebote wird von zahlreichen Lehrkräften gerne zurückgegriffen. Dieses Material ist gut, greift aber in punkto ziviler Konfliktbearbeitungsmethoden natürlich zu kurz; ferner ist es grafisch und inhaltlich ganz auf die Bundeswehr als attraktiven »zivilen« Arbeitgeber zugeschnitten.

Dem will EN-PAZ – eine Initiative getragen von der Stiftung Friedensbewegung, der GEW, der EN-PAZ Community und einigen Freiwilligen und Ehrenamtlichen – gegensteuern. Als Beitrag zur »Erziehung zur Friedfertigkeit und Friedensfertigkeit« stellt EN-PAZ kostenlos aktuelle Arbeitsmaterialien für Lehrkräfte und SchülerInnen online, die überwiegend aus der Friedens- und Konfliktforschung bzw. der nationalen Friedensbewegung stammen.

Weltkarte und Quartett

Die Weltkarte und das Quartett bieten einen spielerischen Einstieg in das Thema Konflikt. Über die Weltkarte »Zivile Konfliktbearbeitung« kann man anhand der geographischen Lage kleiner Bömbchen sehen, wo überall auf der Welt Konflikte ausgetragen werden. Ein Klick auf diese ruft eine Seite mit Hintergrundinformationen, Perspektiven bzw. Lösungsvorschlägen zum jeweiligen Konflikt sowie weiterführenden Links und Quellen auf.

Das »Quartett« hat den Anspruch, persönliche, innergesellschaftliche, internationale und selbst systemische Konflikte wie z.B. Ressourcenkonflikte nebeneinander auszuspielen. EN-PAZ geht dabei vereinfacht gesagt davon aus, dass ein intrapersoneller Konflikt den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie ein internationaler Konflikt.

Freiwilligendienst

EN-PAZ stellt Organisationen aus dem Sektor Frieden/Völkerverständigung vor, die Freiwilligendienste anbieten. Nach der Abschaffung von Wehrpflicht und Ersatzdienst haben viele gemeinnützige Vereine Personalprobleme. Hier wird die Freiwilligenarbeit zwischen Schule und Studium beworben und SchulabgängerInnen schmackhaft gemacht, auf diese Weise auch etwas für sich selbst zu tun. Ein Auslandsjahr oder ein sozialer Dienst im Inland kann das ganze Leben prägen, bevor Berufsausbildung oder Studium jede freie Zeit für unkonventionelle Erfahrungen nehmen. Neben einem Kurzprofil der Organisationen werden zukünftig auch Infos zum Bewerbungsverfahren und Erfahrungsberichte geliefert.

Werkzeugkoffer

Hier werden Texte von EN-PAZ mit Fallbeispielen aus der zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit sowie externe Arbeitspapiere für Friedensbildungsprojekte zum Download bereitgestellt.

Für den »Werkzeugkoffer» sucht EN-PAZ noch weitere Ehrenamtliche sowie Honorarkräfte: info@en-paz.de. Jenny Becker ist Diplomjuristin der Universität Köln und hat den MA Friedens- und Konfliktforschung in Marburg absolviert. Sie arbeitet als EN-PAZ Projektleiterin. Peter Becker ist Energierechtsanwalt und Gründer der IALANA Deutschland sowie der Stiftung Friedensbewegung.