Ja zur Friedensarbeit – auch wenn es eine Sisyphosarbeit ist

Ja zur Friedensarbeit – auch wenn es eine Sisyphosarbeit ist

von Albert Fuchs

Was aber bedeutet friedenspolitische Verankerung in Zeiten der schamlosen Remilitarisierung der Politik (Kosovo, Tschetschenien…)? In Zeiten des ersten deutschen – zu allem Überfluss auch noch rot-grünen – Nachkriegs-Kriegskabinetts? Und angesichts der nicht abbrechenden Kette der friedenspolitischen Flopps dieses Kabinetts? Und was bedeutet friedenswissenschaftliche Verankerung in Zeiten der Rechtfertigung militärischer Gewalt durch gestandene FriedenswissenschaftlerInnen? Ich denke in solchen Zeiten sind wir gehalten, uns auf unsere vorrangige Verankerung in der Friedensbewegung zu besinnen.

Was das aber eigentlich heißt möchte ich jemanden sagen lassen, der das authentischer kann als unsereins mit dem bisweilen naiven Glauben an Friedenswissenschaft und der oft distanzlosen Hoffnung auf Friedenspolitik, den US-amerikanischen Jesuitenpater und Friedensaktivisten Daniel Berrigan:

„Wir nennen uns Friedensstifter, doch wir waren – aufs Ganze gesehen – nicht bereit einen nennenswerten Preis dafür zu bezahlen. Und weil wir den Frieden mit halbem Herzen und halbem Leben wollen, geht der Krieg natürlich weiter, denn das Kriegführen ist seiner Natur nach total, doch das Friedensstiften ist aufgrund unserer Feigheit partiell. So gewinnt ein ganzer Wille, ein ganzes Herz und ein ganzes nationales Leben, auf Krieg aus, Oberhand über das kraftlose, zögernde Wollen des Friedens(…)

Doch was ist der Preis des Friedens? Ich denke an die guten, ehrbaren, friedliebenden Leute, die ich zu Tausenden kenne, und ich frage mich: Wie viele leiden an der zehrenden Krankheit der Normalität, sodass, selbst wenn sie sich zum Frieden bekennen, ihre Hände in instinktivem Krampf in Richtung ihrer Angehörigen, in Richtung ihres Komforts, ihres Heims, ihrer Sicherheit, ihres Einkommens, ihrer Zukunft, ihrer Pläne greifen – des Fünfjahresplans für das Studium, des Zehnjahresplans für die berufliche Stellung, des Zwanzigjahresplans für das familiäre Wachstum und die familiäre Eintracht, des Fünfzigjahresplans für ein anständiges Berufsleben und eine ehrenvolle Entlassung in den Ruhestand. »Natürlich wollen wir den Frieden«, so rufen wir, »doch zugleich wollen wir die Normalität, zugleich wollen wir nichts verlieren, wollen wir unser Leben unversehrt erhalten, wollen wir weder Gefängnis, noch schlechten Ruf, noch die Zerreißung persönlicher Bindungen«. Und weil wir dieses erlangen und jenes bewahren müssen und weil der Fahrplan unserer Hoffnungen um jeden Preis – um jeden Preis – auf die Minute eingehalten werden muss, weil es unerhört ist, dass im Namen des Friedens ein Schwert nieder fahren soll, das jenes feine und kluge Gewebe, das unser Leben gesponnen hat, zertrennt, weil es unerhört ist, dass gute Menschen Unrecht leiden sollen, Familien getrennt werden oder der gute Ruf dahin ist – deswegen rufen wir Friede und rufen Friede und da ist kein Friede. Da ist kein Friede, weil da keine Friedensstifter sind. Es gibt keine Friedensstifter, weil das Friedensstiften mindestens so kostspielig ist wie das Kriegführen – mindestens so anspruchsvoll, mindestens so zerreißend, mindestens so geeignet, Schande, Ärger und Tod nach sich zu ziehen.“

Offen gesagt: Auf Anhieb geht mir diese penetrante Rede vom Preis des Friedens und Friedenstiftens gegen den Strich. Wahrscheinlich ist sie auch für Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, befremdlich, beängstigend, jedenfalls eine Zumutung. Was will der Mann überhaupt? Sollen wir vielleicht alle zu MärtyrerInnen werden?

Und dennoch: Es ist was dran – an dem was er sagt. Spätestens seit sich die mit der Bundestagswahl vom September 98 bestellten GärtnerInnen als friedenspolitische Böcke erwiesen haben, die machen was Kohl & Co. nur vorzubereiten wagten – nämlich Krieg –, haben wir allen Grund uns Berrigans harter Kritik zu stellen. Denn was ist für Friedensbewegte die Alternative dazu bzw. zu einem neuen, »preisbewussten« und entschiedenen Engagement? Wegducken wenn die Neu-OrdnerInnen der Welt überbeschäftigt sind? Aber auch Wegducken hat seinen Preis – zumindest den »symbolischen« unserer Identität! Aus der Geschichte wissen wir zudem nur allzu gut, dass der Preis des Wegduckens auch viel weniger »symbolisch« und sehr, sehr hoch sein kann. Andererseits: Zwischen Wegducken und Martyrium gibt es viele Übergänge, einen breiten Grenzstreifen des Widerstands.

Ich wünsche uns und Ihnen zum blutigen Ausgang dieses gewaltbesoffenen Jahrhunderts, dass jede und jeder erneut seinen Platz in jenem Grenzstreifen findet, erneut das Ja des »l'homme revolté« (A. Camus) einbringt – und sei es im Bewusstsein einer Sisyphusarbeit!

Ihr Albert Fuchs

Erinnerungen an drei deutsche Kriege

Erinnerungen an drei deutsche Kriege

von Elisa Kauffeld

Vor dem Ersten Weltkrieg geboren, im Zweiten Weltkrieg als Kriegerwitwe fast dauernd unterwegs und mit dem Überlebenskampf beschäftigt, im »Alter« eine der Aktiven in der Friedensbewegung. Elisa Kauffeld erinnert sich, schildert ihre Kriegseindrücke und bezieht Position – auch zum letzten der Kriege mit deutscher Beteiligung in diesem Jahrhundert.

Im Jahre 1913 geboren, kann ich mich natürlich nicht an den Kriegsbeginn 1914 erinnern aber an Einiges aus der Zeit des Krieges. Wir lebten nahe der französischen Grenze, in Königsfeld/Schwarzwald, und es gehört zu meinen allerersten Erinnerungen, dass ich schon als kleines Kind zum Sammeln von Trockenholz und auf die weiten Wege zum Milch holen mitgenommen wurde, dass wir statt elektrischem Licht eine Petroleumlampe hatten. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter ihre goldene Halskette abgegeben hatte und stolz eine blecherne mit kleinen Plättchen trug, auf denen stand: „Gold gab ich für Eisen hin.“ Der eigentliche Sinn ist mir erst viel später klar geworden: Schon 1870/71 machte Krupp mit Kanonen die besten Geschäfte.

Großmutter arrangierte im Sommer – es muss 1916 oder 1917 gewesen sein – Nachmittage, an denen Verwundete mit Kaffee und Kuchen, auch mit Hausmusik (von Hand, Konserve gab es noch nicht) erfreut wurden. Abgesehen von dem wenig angenehmen Geruch, den die Soldaten verbreiteten, erinnere ich mich gut an die humpelnden Gestalten, oft mit durchgebluteten Verbänden. Großmutter hatte einen französischen Kriegsgefangenen, der im Garten half. Ich mochte ihn gern leiden, seine fremde Sprache und sein oft hilfloses Lächeln. Ich nannte ihn »Kä-ssi-ssi-ssa«, denn immerzu fragte er „qu'est-ce que c'est que ça?“

Nein, auch nicht vergessen kann ich die mondhellen Nächte, wenn wir angezogen ins Bett gehen mussten, weil französische Flieger erwartet wurden. Wie oft bibberte ich vor Angst und durfte es doch nicht zugeben: „Denk doch an die tapferen Soldaten.“

Eines Tages bekam die Großmama Nachricht, dass ihr ältester Sohn „auf dem Felde der Ehre für's Vaterland“ gefallen sei. Verweinte Gesichter, schwarze Kleidung, ich durfte nicht mehr laut reden und schon gar nicht laut lachen. Alles war plötzlich anders geworden, die großen Geschwister schoben mich zur Seite, du bist noch zu klein, das verstehst du nicht. Nein, ich verstand wirklich nicht was das hieß, „für's Vaterland gefallen“? War er jetzt vielleicht auch einer von den schlecht riechenden Soldaten? Warum kam er nicht einfach nach Hause, wenn er doch nur »gefallen« war?.

Im April 1918 kam mein Vater aus britischer Gefangenschaft nach Deutschland zurück. Vier Jahre lang war er – wie er es selbst immer nannte – Gast von King George. Als Überseekaufmann lebte er mit der Familie viele Jahre in Burma, kam 1911 nach London, wo ich 1913 geboren wurde. Er wurde bei Kriegsbeginn interniert, während meine Mutter mit uns vier Kindern ausgewiesen wurde. Jetzt gehörte dieser fremde Mann zur Familie. Ich besah ihn sehr genau. Bis dahin kannte ich nur Soldaten und den Kä-ssi-ssi-ssa. Das Wort »Vater« war für mich fremd. Aber abends gab es einen Gute-Nacht-Kuss und dieser Vater hatte einen kitzelnden Bart. Ich fing an, ihn zu mögen.

Zweiter Weltkrieg

Den Kriegsbeginn 1939 erlebte ich in Spanien. Vor meiner Heirat war ich die erste Stewardess bei der Lufthansa. Mein Mann, gebürtiger Danziger, war Pilot – ebenfalls bei der Lufthansa. Er wurde zum Aufbau der spanischen Luftfahrtgesellschaft Iberia nach Spanien versetzt. So kam es, dass uns am 1. September 1939 die Nachricht vom Kriegsbeginn in Barcelona erreichte. Ich war schwanger und wir erinnerten uns beide an den Ersten Weltkrieg. In Spanien hatten wir zwar etwas von den Folgen des Bürgerkrieges gesehen, aber am eigenen Leib erfahren hatten wir den Krieg nicht.

Im Juni 1940 flog ich nach Bremen zu meinen Eltern. Ich benutzte kriegsbedingt die letzte Maschine über Rom, Zürich, München. Wie hatte Deutschland sich verändert! Überall Soldaten.

Und dann Bremen! Vor den Fenstern meines Elternhauses standen in etwa 30 cm Abstand große, mit Sand gefüllte Kisten als Bombenschutz. Im Keller war ein Raum, mit dicken Holzpfeilern abgestützt, als Luftschutzraum hergerichtet. Immer wieder bekam ich zu hören: „Wenn Du in Dein Zimmer gehst, vergiss die Verdunkelung nicht!“ Wie wichtig das war, musste ich erst noch lernen. Kaum war ich ein paar Tage zu Hause, ging nachts die Sirene. Die ganze Familie traf sich auf dem Flur und folgte den Radionachrichten (aus dem »Volksempfänger«). Ja, es waren einige Bomben gefallen, aber in einem anderen Stadtteil und es war zum Glück niemand zu Schaden gekommen.

Ich hatte sehr viel damit zu tun, Windeln, Hemdchen und was sonst so benötigt wird, für mein Baby zu nähen. Es gab ja nichts zu kaufen und da ich aus dem Ausland kam, hatte ich sowieso keine »Marken«. Von einem Arzt bekam ich einen ganzen Ballen Verbandmull, ca 80 cm breit, davon nähte ich Windeln. Aus alter Unterwäsche entstanden Hemdchen und aus Barcelona hatte ich Wolle mitgebracht. Meine Mutter nähte aus altem Bettzeug, was man für das erste Bettchen braucht.

Am 20. August 1940 bekam ich mein erstes Kind zu Hause. Aber mitten im Geburtsvorgang – das Kind hing noch an der Nabelschnur – mussten wir in den Keller: Die Sirenen kündigten einen Bombenangriff an. Zu aller Freude über das Baby kamen jetzt immer mehr Bombenangriffe, sodass wir keine Nacht mehr durchschlafen konnten. Schließlich machten meine Eltern sich große Sorgen und schickten mich nach Danzig (heute Gdansk) zu meiner Schwiegermutter. Da herrschte noch »tiefster Frieden« und es hätte schön sein können, aber ich hatte keine Wohnung und bei der Schwiegermutter mitten in der Altstadt war es auf Dauer zu eng. So fuhr ich mit unserem Kind in Deutschland hin und her, um meinen Mann zu treffen, der inzwischen als Soldat bei der Luftwaffe mal im Westen und mal im Osten eingesetzt war.

Wir trafen uns in Göttingen, glaube ich, als unser Hotel bombardiert wurde. Einige Menschen knieten nieder und beteten, andere fingen an zu singen, zu weinen, zu heulen, zu schreien, manche bekamen Platzangst und wollten unbedingt raus. Mitten dazwischen mein kleines Kind auf meinem Schoss! Aber schließlich ging auch dieser Alarm zu Ende. Der Anblick draußen war unvergesslich: Glasscherben über Glasscherben. Es war ja ein modernes Hotel.

Ein anderes Mal trafen wir uns in Straßburg und dann wieder in Ostpreußen. Im Oktober 1942 wohnte ich mit Sohn und Mann vorübergehend in Rathenow an der Havel. Mein Mann hatte nur wenig Dienst, weil sein Flieger, eine Heinkel, in der Werft war und einen neuen Motor bekam. Wir genossen das Verheiratet sein. Am 14. November hatte ich unseren Sohn zu Bett gebracht und wunderte mich, dass mein Mann noch nicht zu Hause war. Als es klingelte wollte ich loslaufen um zu öffnen, aber eine seltsame Kraft hieß mich sitzen zu bleiben. Dann hörte ich fremde Stimmen und dann Hacken zusammenschlagen, ein Mann in Uniform schnarrte: „Ihr Mann ist heute auf dem Felde der Ehre für's Vaterland gefallen. Sie sollten stolz auf ihn sein.“

Von jetzt ab lebte ich für unser Kind, aber ich konnte nicht weinen. Es war wohl ein drei viertel Jahr später, ich wohnte bei meiner Schwester in der Nähe Stettins, da kam unverhofft ihr Mann von der Front auf Kurzurlaub. Diese Begegnung löste den Krampf in mir und das Weinen von vielen Monaten kam heraus.

Ich hatte ja noch immer keine Wohnung, darum fuhr ich nach Danzig um das Unmögliche zu versuchen und dort bekam ich den Luxus, den kaum jemand zu träumen gewagt hatte: eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Balkon und sogar mit einem Stückchen Garten.

Ein Bekannter von früher kam öfter auf Fronturlaub. Einmal brachte er ein Huhn mit das, auf dem Balkon mit einem Bein an ein Stuhlbein gebunden, brav jeden Tag ein Ei ablieferte. Ein andermal organisierte er ein paar Angorakaninchen. Im Oktober 1944 heiratete ich zum zweiten Mal, eben diesen »provider«.

Der Winter 1944/45 war geprägt von Versuchen, irgendwie in den Westen zu kommen. Ein Soldatenpfarrer besorgte mir einen Platz auf der »Wilhelm Gustloff«, ursprünglich ein K.d.F. (Kraft durch Freude)-Dampfer, jetzt Flüchtlingsschiff nach Schweden. Doch als ich mich mit Sohn und Gepäck an der Pier einfand, lachte der Mann an der Sperre mich nur aus: „Ja, da könnt ja jeder kommen.“ Ein paar Tage später war ich sehr froh, dass das nicht geklappt hatte: Tausende Menschen ertranken, als das Schiff von einem Torpedo getroffen wurde.

Zweimal versuchte ich es mit der Bahn, zweimal ging auch das daneben. Schließlich sagte ich mir, auch Russinnen lieben ihre Kinder, vielleicht sind die Greuel, die über die Sowjets erzählt werden, nur Märchen. So beruhigte ich mich und es kam das Frühjahr 1945.

Es war Februar, ich wohnte in Langfuhr im Westen von Danzig, da konnte man die »Stalinorgeln« im Osten hören. Viele Bekannte hatten den Absprung in den Westen geschafft. Am Flughafen traf ich einen bekannten Flugkapitän von der Lufthansa. Er sollte eine defekte Maschine nach Berlin bringen. Ich war zum zweiten Mal schwanger und konnte ihn überreden, uns mitzunehmen. Ich musste nur das Luftschutzgepäck zu Hause holen, die Wohnung abschließen, die Kaninchen- und Hühnerställe öffnen, damit die Tiere nicht verhungerten.

Nun flog ich wieder einmal nach Berlin, nach knapp fünf Jahren. Es war zwar eine viermotorige Maschine, aber einer der Motoren war ausgefallen und einem anderen musste ich während des ganzen Fluges Treibstoff zu pumpen. Wir schafften es aber, Berlin zu erreichen. Berlin war zu dieser Zeit jeden Abend Ziel der US-amerikanischen Bomber. Da wurden Züge voller Menschen einfach aus den Bahnhöfen herausgefahren. Wenn der Angriff vorbei war, kamen sie zurück. Wir fuhren nach Stettin, wo wir im Bahnhofsbunker übernachten mussten. Das waren riesige Hallen, überfüllt mit Menschen jeden Alters, hauptsächlich Frauen mit Kindern, alle Flüchtlinge, aber auch Soldaten. Die meisten waren schon lange unterwegs, niemand hatte Gelegenheit gehabt, sich selbst oder die Wäsche zu waschen. Es stank und ich wollte lieber draußen übernachten, doch da heulten die Sirenen und Schutz war wichtiger als gute Luft.

Noch eine Erfahrung machte ich in diesem Bunker: Wenn du nichts mehr hast, dann sind ein Paar Stiefel, ein Wintermantel dein Kapital. Und eben darauf hatten es andere die noch weniger besaßen abgesehen. Alles, wirklich alles mussten wir irgendwie an uns festbinden.

Später ging es nach Pölitz, wo mein Mann zur Fliegerabwehr eingesetzt war, und nach ein paar Wochen dann zurück nach Berlin. Als hier wieder einmal die Sirenen heulten, kam der Angriff viel schneller als vorauszusehen war. Wir kamen nicht mehr in den Bunker. So nahm ich mein Kind auf den Arm und stellte mich auf eine Türschwelle, das heißt unter einen verstärkten Türsturz. Wir hörten mehrere auf einander folgende Einschläge, dann einen unbeschreiblichen Krach, als wollte die Welt untergehen. Als sich der Qualm und der Staub endlich gelegt hatten, sah ich in einiger Entfernung weiße Gardinen aus einem Fenster wehen, davor waren vorher Häuserfronten!

Mich hielt nichts mehr, ich wollte nach Bremen. Zwar wusste ich von den Dauerangriffen auf die Stadt, aber »zu Hause« war sicher alles besser zu ertragen. Bremen hatte sich in kaum vorstellbarer Weise verändert. Das Elternhaus stand noch, aber ringsherum Ruinen, Trümmer und Lücken. Wenn wir das Haus verließen, mussten wir Deckung suchen. Die Briten, die sich auf der anderen Weserseite befanden, schossen auf alles was sich bewegte. Im April 1945 waren mein Sohn und ich zu einer Art siamesischer Zwillinge geworden: Wir aßen, schliefen, taten alles gemeinsam.

So kam der Mai 1945. Nach Flugzeuglärm, Bombeneinschlägen, Granatfeuer plötzliche Stille. Bremen war eingenommen! Das einzige intakte Haus, das meines Vaters, wurde beschlagnahmt um darin ein Lazarett einzurichten. Wir fanden Unterschlupf in einer Ruine und ich wurde von den Briten mehrfach zum Dolmetschen geholt. Doch eines Tages änderte sich die Stimmung. Ich wurde festgenommen und in unserem eigenen Wohnzimmer streng bewacht. Ich hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete, als zwei Offiziere eine Pistole auf den Tisch warfen, die sie bei der Durchsuchung unseres Hauses und Gartens gefunden hatten – wem diese gehörte, das wurde nie wirklich herausgefunden. Sie herrschten mich an: „Stand up! That's yours, you are a spy!“ „Dies ist ein Kriegsgericht und auf Spionage steht Erschießen.“

Was diese Männer da sagten, war so außerhalb meines Denkens, dass ich es kaum begriff. Aber es war wirklich tödlicher Ernst. Da fiel mir mein Bauch ein. „Sie dürfen mein Kind nicht mit mir erschießen, ich bin schwanger.“ Das war's! Nach ein paar Stunden »Gefangenschaft« in unserer Waschküche konnte ich nach Hause gehen, in die Ruine.

Zeit zur Gegenwehr

Die Nachkriegsjahre waren ausgefüllt mit dem Kampf um Lebensmittel und Brennstoff. Kaufen konnte man nur auf Marken und das war wirklich nur eben an der Überlebensgrenze. Ich hatte drei kleine Kinder, die Nahrung, Kleidung und ein halbwegs warmes Zimmer brauchten. Politik machten andere, meine ganze Kraft gehörte der Familie.

34 Jahre vergingen, ehe ich anfing, mich zu wehren. 1979, als die Debatte um die Aufstellung der Pershing II begann, gründeten wir mit einigen Gleichgesinnten die Friedens-Initiative Jever/Schortens1, die anfangs zu den Sitzungen regelmäßig Besuch vom MAD hatte. Da mich keine Berufszwänge mehr plagten, wurde mein Name überall als Kontaktadresse angegeben und in kurzer Zeit war ich »erfasst«. Big brother knackte bei Telefongesprächen und ich bekam Anrufe der Art, „ich solle doch nach Moskau gehen, woher ich denn Geld bekäme“, bis hin zu Morddrohungen. Andererseits hatte ich nun Freunde und Freundinnen wie nie vorher im Leben.

In vielen Aktionen versuchten wir, über Massenvernichtungsmittel, Atombombentests und ungerechtfertigte Kriegseinsätze zu informieren. Wir veranstalteten Schweigekreise, Straßentheater, Infostände, sammelten Geld z.B. für »Ärzte ohne Grenzen«, demonstrierten vor dem hiesigen NATO-Flugplatz und vieles anderes.

Die SeniorInnenblockade in Mutlangen gegen die dort stationierten Pershing II am 28.und 29. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl, wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Von da ab blockierte ich die Zufahrten zu Massenvernichtungswaffenlagern, protestierte gegen Atombombentests: viele Male in Mutlangen, in Ludwigswinkel, in Bonn vor den Botschaften der USA, Chinas und Frankreichs, zuletzt in Büchel/Eifel gegen die dort lagernden Atombomben. Auch in Gorleben stand ich viele Male quer gegen die Atomenergie.

Zu Beginn der 90er-Jahre stellte ich eine Wanderausstellung gegen die entsetzlichen Atombombentests auf der Welt zusammen. Alle Testgebiete wurden vorgestellt, die Folgen mit Fotos aus dem Dispensarium in Alma Ata, Kasachstan, gezeigt und der Widerstand dagegen deutlich gemacht. 1995 sammelte ich 10.555 Unterschriften gegen die Atomenergie in ganz Deutschland. Mit zwei Freundinnen brachte ich das Paket in den Bundestag. Je eine Frau der verschiedenen Fraktionen CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen und wir drei Frauen aus verschiedenen Bundesländern, alte und neue, aus drei verschiedenen Generationen trafen uns dort im November 1996. Die FDP zog es vor, diesen Termin zu vergessen. 1997 übersetzte ich das Buch »Moruroa et nous« (»Moruroa und Wir«) ins Deutsche.2

Zwischendurch schlug ich mich mit den Gerichten herum, mit denen ich wegen meiner »Straftaten« zu tun hatte. In meinen Verteidigungsreden lernte ich, die Kriegserlebnisse aufzuarbeiten. Ich lernte über Dinge zu sprechen, die ich tief im Innern vergraben hatte um sie nicht wieder vor Augen zu haben. Ich lernte zu begreifen, dass etwas bewegt werden kann, wenn wir Alten reden.

Fast 80 Jahre war ich, als ich 20 Stunden gemeinnützige Arbeit ableistete anstatt eine Geldstrafe zu zahlen. Ich tat es als Öffentlichkeitsarbeit. Am 8. August 1997 beging ich meine bis jetzt letzte »Straftat«. Mit einer Gruppe junger Leute, meiner »Wahlfamilie«, von der GAAA (Gewaltfreie Aktion Atombomben Abschaffen) drangen wir in das Atomwaffenlager in Büchel ein. Mit großen Transparenten und Flötenmusik erwarteten wir unsere Festnahme. 20 Minuten lang spazierten wir ungehindert durch das ach so gut gesicherte Gelände! Der Amtsrichter in Cochem hatte dafür natürlich kein Verständnis, auch nicht der Richter am Landgericht Koblenz. Das Urteil: 20 Tagessätze à 20,- DM (Rentnerin im unteren Bereich).

Drei Kriege gegen Serbien

Am 24. März 1999 griff Deutschland zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Serbien an. Nachdem 1914 serbische Nationalisten den österreichisch-ungarischen Thronfolger ermordet hatten, wurde Serbien zum ersten Mal von Deutschland angegriffen und weitgehend zerstört. Weil Jugoslawien sich nicht in die Kriegspläne Adolf Hitlers einfügen wollte, wurde es im April 1941 zum zweiten Mal von Deutschland angegriffen und zur Kapitulation gezwungen. Furchtbare Greuel wurden an der serbischen Bevölkerung begangen. Im dritten Krieg nahm die deutsche Luftwaffe gemeinsam mit den USA und anderen NATO-Staaten wieder Ziele in Serbien unter Beschuss. Im Namen der Menschenrechte wurden Menschen getötet und Hass gesät, unter einer rot-grünen Regierung, von der ich zutiefst enttäuscht worden bin. Am Ende dieses Jahrhunderts, in dem die furchtbarsten Kriege von deutschem Boden ausgingen, bin ich entsetzt, wie bereitwillig deutsche PolitikerInnen wieder Krieg führen.

Als ich während des Kosovo-Krieges im Mai beim Internationalen Friedensappell in Den Haag war, fiel mir das erste Bild von unserem ganzen Planeten ein, einem blau-grünen Edelstein, eingebettet in die weite Schwärze des Weltalls, kostbar und zerstörbar. Wenn nicht jede und jeder von uns die Verantwortung für die Menschenrechte übernimmt, statt sie an das Militär zu delegieren, wird diese Welt kein friedvoller Ort werden.

Anmerkungen

1) Die Arbeit der Friedens-Initiative Jever/Schortens wurde 1997 aus Anlass ihres 18-jährigen Bestehens in einer Broschüre dokumentiert.

2) Das Buch »Mururoa und Wir« ist über die Autorin zu beziehen

Elisa Kauffeld lebt in Schortens bei Wilhelmshaven.