Dem Militär den Boden entziehen!

Für eine FREIe HEIDe

Dem Militär den Boden entziehen!

von Mani Stenner, Annemarie Friedrich, Knut Krusewitz, Ulrich Görlitz

Gemeinsame Beilage der Zeitschriften: FriedensForum * graswurzelrevolution * W&F * in Zusammenarbeit mit der Stiftung brandung – werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit dieser Broschüre wollen die Redaktionen dreier Zeitschriften aus der Friedensbewegung das Beispiel Wittstock (noch) bekannter machen und zur Hilfe und zum Mittun auffordern.

freie heide

„Als wir 1945 nach Gadow kamen, stand noch dieser herrliche Wald. Ich erinnere mich noch an die sauberen und gepflegten Wege. Gadow war ein schönes Walddorf. Wir konnten alle Dörfer in kurzer Zeit erreichen, selbst nach Neuruppin war es nicht weit. Wir sind oft nach Wallitz oder Rägelin zum Tanzen gefahren.

Himmelfahrt Dings mit dem Fahrrad durch die Heide nach Boltenmühle und Bienenwalde. Damit verbinde ich schöne Erinnerungen. Mit meiner Mutter ging ich auch Blaubeeren pflücken. Sie wuchsen bis an die Weheberge. Auch Pilze haben wir viel gepflückt. Für kurze Zeit habe ich im Wald gearbeitet, in Dünamünde und Hammelstall. Dann kam das Aus für den Wald mit Raupenfraß und großen Bränden. 1950 fingen wir wieder an, den Wald aufzuforsten, aber leider nicht lange. Unsere schöne Heide wurde russischer Schießplatz.

Wir wünschen uns wieder so eine schöne Heide, wie früher.

aus den Erinnerungen von Rudolf Heiler, Gadow 1996 40 Jahre lang waren die Gemeinden im Oetzigen) Kreis Ostprigniz-Neuruppin durch den sowjetischen Schießplatz voneinander getrennt. Jetzt könnte die Wittstock-Ruppiner Heide eine Modellandschaft im Sinne der „Agenda 21″ von Rio werden, mit Windpark und „sanftem Tourismus“, wäre da nicht die Bundeswehr, die die Landschaft weiter zerbomben will, um Kampfeinsätze in aller Welt zu üben.

zum Anfang | Ganz Gallien?

Mani Stenner

Vielleicht hätte Verteidigungsminister Rühe bei den Versprechungen bleiben sollen, keine Militärstandorte der früheren Sowjetarmee in den neuen Bundesländern für die Bundeswehr zu übernehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich am zähen Widerstand der Bürgerinitiativen im Kreis Ostprignitz-Ruppin die Zähne ausbeißt – wenn wir alle noch ein bißchen helfen!

Dabei muß man mit unterdrücktem Zorn konzidieren, daß sich Rühe und die Bundesregierung bisher bei der politischen Durchsetzung der Erweiterung der Bundeswehraufträge hin zur militärischen Absicherung einer immer offener agierenden deutschen Machtpolitik nicht ungeschickt angestellt haben. Wir haben uns ja fast schon an deutsche Truppen bei allen möglichen Einsätzen im Ausland gewöhnt. Doch war es ein langer und in Salamitaktik geschickt angelegter Weg, der vom parteiüberpreifenden Konsens einer Beschränkung auf reine Landesverteidigung zu einer neuen Bundeswehr für interessengeleitete Einsätze in aller Welt bis zur Ausweitung des westlichen Militärbündnisses NATO auf das Gebiet des ehemaligen Ostblocks führt. Jetzt wird ungeniert das Recht des Stärkeren exekutiert. Friedensgruppen hatten vor diesen Weiterungen schon gewarnt, als über nach außen immer streng humanitär begründete Missionen der Bundeswehr (Sanitätssoldaten in Kambodscha – die „Engel von Phnom Pen“ -, Minensuchboote im Persischen Golf, der mißglückte Einsatz in Somalia und die verschiedenen Beteiligungen im ehemaligen Jugoslawien) dieser Weg eingeleitet wurde. Jetzt ist es so weit, daß gar ein Teil der Bündnisgrünen diesen Weg in die Sackgasse militärischer Machtpolitik mit einem eigenen Antragsentwurf pro NATO-Osterweiterung absegnet.

Aber noch ist nicht ganz Gallien vom Imperium besiegt. Gerade in den neuen Bundesländern gibt es weniger Lethargie und Resignation vor der Arroganz der Macht, als sich Rühe und die Bundeswehrstrategen das vorgestellt haben. Menschen, die im Kalten Krieg unter massiver sowjetischer Militärpräsenz viel aushalten mußten, wollen sich jetzt von der Bundeswehr nicht ähnlichen Bombenabwurfs-, Truppenübungs- und Tiefflugterror gefallen lassen. Sie wollen ihre Heimat aufbauen und vor Zerstörung bewahren. Sie handeln nicht nach dem St. Florians-Prinzip, sondern sie protestieren auch dagegen, wozu in ihrer Heimat Krieg geübt werden soll. Sie haben dabei ähnliche Probleme wie die aktiven Friedensgruppen überall, zu viel Arbeit für zuwenig Aktive, ein scheinbar übermächtiger Gegner, massive Geldsorgen und die stete Mühsal, politisch, insbesondere durch Verankerung in der öffentlichen Meinung in der Region, Oberwasser zu behalten.

Das Bombodrom Wittstocker Heide steht nicht nur für regionale Umwelt- und Entwicklungszerstörung, sondern ist eindringliches Beispiel für die Vorbereitungen und Übungen der BW-Luftwaffe für künftige out-of-area-Kampfeinsätze. Der Widerstand an den „Stationierungsorten“, wo die offensive Orientierung am sichtbarsten ist, ist für alle in der Friedensbewegung Engagierten von höchster Bedeutung. Es wäre wirklich nicht nur symbolisch, wenn es uns in der FREIen HEIDe gelänge, dem Militär den Boden zu entziehen.

zum Anfang | Freie Heide im Überblick: Ein Bombenabwurfplatz für die Bundeswehr

von Komitee für Grundrechte und Demokratie

Wir sind von lauter Freunden umzingelt“ und eine Bedrohung für das Staatsterritorium der Bundesrepublik ist nicht in Sicht – so heißt es einmütig in allen Bedrohungsanalysen bis hin zum Minister der Verteidigung. Dennoch will die Bundeswehr in der Region Ostprignitz-Ruppin – südlich der mecklenburgischen Seenplatte im Norden des Landes Brandenburg – einen 142qkm großen Übungsplatz für Bombenabwürfe einrichten. Die Bundeswehr will hier Tiefflieger-Angriffe üben, bei denen die Maschinen bis zu 30 m Tiefe herunterkommen, um ihre mitgeführten Bomben abzuwerfen oder Raketen abzuschießen. Für dieses sog. Bombodrom sind pro Jahr rund 3.000 Einsätze geplant. Ein Einsatz umfaßt etwa 12 einzelne Tiefsturzflüge. Es handelt sich also in Wirklichkeit um 36.000 Anflüge. Auf der Liste der Waffen, die auf dem neuen Manöverplatz eingesetzt werden sollen, stehen u.a.: Bomben, Lenkflugkörper, Raketen, Artilleriewaffen, Bordkanonen, Maschinengewehre, Panzer-Abwehrwaffen, Handgranaten. Der Kerosinverbrauch der Kampfflugzeuge kostet pro Tag 80.000,- DM. Wochentags soll tags und nachts geschossen werden, in Ausnahmefällen sogar an Wochenenden. Den Terror, den diese Tiefflugübungen auf die anwohnende Bevölkerung ausüben werden, kann man sich kaum ausmalen. Langfristige und schwerwiegende gesundheitliche Schädigungen sind vorprogrammiert. Die unerträgliche Lärmbelästigung durch Tiefflüge kann zu Kreislaufproblemen, Angstzuständen, Hörstürzen u.a.m. führen. 6.000 Menschen wohnen unmittelbar in den Dörfern am Rand des Bombodroms, etwa 30.000 in den Städten rundum.

40 Jahre Kriegsübungs-Terror durch die Rote Armee

Die betroffene Bevölkerung rund um das Bombodrom ist gebeutelt genug. Nach dem 2. Weltkrieg hatte die Rote Armee dieses Gelände besetzt, die Gemeinden und Bauern enteignet und über 40 Jahre lang Krieg geübt. Eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands wurde zu einer zerbombten und ausgebrannten Region. Die Bürgerinnen und Bürger in den anliegenden Ortschaften wurden über diese ganze Zeit mit Schlachtenlärm terrorisiert. Immer wieder kam es zu Unfällen, wie z.B. zu Bombeneinschlägen auf Objekte, die außerhalb des Platzes gelegen sind. Zudem ist das Gelände ökologisch tiefgreifend geschädigt, der Grundwasserspiegel wegen des zerstörten Waldes abgesunken.

Widerstand der Bürgerinitiative FREIe HEIDe

Nach Bekanntwerden der Pläne der Bundeswehr gründete sich vor Ort – rund um das Bombodrom – eine Bürgerinitiative (BI) FREIe HEIDe. Am 15.08.1992 fand der erste große Protestmarsch mit rund 4.500 Personen statt – für diese gering besiedelte Region eine sehr hohe Beteiligung. Seitdem kämpft die BI gegen die erneute militärische Nutzung des Geländes und streitet für eine zivile Umwidmung. An den 40 Protestwanderungen durch das Gelände, die bis Ende 1996 stattfanden, haben rund 48.000 Menschen teilgenommen. In den Orten rings um das Gelände wurden Mahnsäulen errichtet. Eine umfassende Ausstellung dokumentiert den Protest der Bürgerinnen. 40.000 Unterschriften gegen das Bombodrom wurden dem Verteidigungsministerium übergeben. Bei der Landesregierung Brandenburg wurde Solidarität mit den anwohnenden Bürgerinnen und Bürgern eingefordert. 1996 fand der bundesweit größte Ostermarsch in der FRElen HEIDe statt.

Ökologische Alternativen werden verhindert

Die Region eignet sich ideal, um z.B. für einen sanften Tourismus genutzt zu werden, auf dem Platz ließen sich ökologische Modellprojekte einrichten. Der Umweltforscher Knut Krusewitz, der verschiedene Projektstudien zu dieser Region erstellt hat, spricht von der Möglichkeit, hier ein Biosphären-Reservat als Beispiel einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung aufzubauen. Gemäß der UN-Erklärung von Rio (1992) haben die Menschen ein Recht auf ökologische Entwicklung. Ein Kriegsübungsgelände ist mit einer solchen Entwicklungsperspektive nicht vereinbar.

Angst vor Arbeitslosigkeit soll Widerstand ersticken

Die Bundeswehr versucht in letzter Zeit verstärkt, das Arbeitsplatz-Argument in die Waagschale zu werfen und die Menschen der Region damit zu ködern. Wittstock soll eine Garnisonsstadt werden. Dadurch würden angeblich viele Arbeitsplätze geschaffen. In einer Region mit rund 23 % Arbeitslosigkeit ein verlockendes Angebot. Für die ersten 30 Arbeitsplätze bei der Bundeswehr bewarben sich 700 Personen. Die Bundeswehr stellte etwa aus jedem der umliegenden Dörfer einen Bewerber ein, um die ersten Spaltpilze in die Familien der Dörfer zu tragen. Es gibt sogar eine „Initiative Pro Bundeswehr“, die sich die Argumente der Bundeswehr zu eigen gemacht hat und sich für das Bombodrom einsetzt. Vor allem in Wittstock ist der Widerstand zu einem Teil aufgegeben worden. Das Arbeitsplatzargument ist jedoch nicht stichhaltig. Eine alternative ökologische Nutzung des riesigen Geländes, die Wiederaufforstung und die Umgestaltung der Gesamtregion zu einem touristisch attraktiven Erholungsgebiet würden langfristig viel mehr Arbeitsplätze schaffen und den ganzen Landkreis Ostprignitz-Ruppin wirtschaftlich wiederbeleben. Einige der Wirtschaftsbetriebe der Region haben dies auch erkannt und sich – neben der BI FREIe HEIDe – zur „Initiative Pro Heide“ zusammengeschlossen. Sie setzen sich vor allem aus ökonomischen Motiven für die zivile Nutzung des Geländes ein, die jedoch durch das drohende Bombodrom bislang verhindert wird.

Bombodrom vor Gericht

Neben Protestmärschen und Öffentlichkeitsarbeit hat die BI auch eine gerichtliche Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. 16 Ortsgemeinden, Kirchengemeinden und Privatpersonen haben sich zusammengetan und mit dem Ziel geklagt, daß der Bundeswehr die weitere Nutzung des Platzes untersagt werde. Ferner wird gerügt, daß bestehende Vorschriften zur Einrichtung von Manövergebieten nicht eingehalten wurden und der Einigungsvertrag verletzt worden sei. Ende August 1996 gab das Verwaltungsgericht Potsdam den Klägern weitgehend recht. Im Urteil wird der Bundeswehr auferlegt, vor der Platznutzung ein Planfeststellungsverfahren durchzuführen, bei dem das Landbeschaffungs- und Schutzbereichsgesetz zu berücksichtigen sind. Die Betroffenen können nach diesen Gesetzen Einsprüche erheben, die alle zu prüfen sind. Abwägungen müssen getroffen werden usw. All diese Erfordernisse hatte die Bundeswehr zu umgehen versucht, indem sie sich die Enteignung durch die Rote Armee selbst zu eigen machte.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Potsdam hat das Verteidigungsministerium Berufung eingelegt. Es will die eigenen Ansprüche gegen die Gesetze und gegen etwaige Einsprüche der Bevölkerung selbstherrlich durchsetzen. Auch die Klägerinnen selbst haben Berufung eingelegt, da das Gericht ihrem weitergehenden Antrag auf generelle Untersagung einer Nutzung seitens der Bundeswehr nicht gefolgt ist. Deshalb sind schon in der 1. Instanz für die BI hohe Prozeßkosten entstanden. Für die 2. Instanz benötigt die BI jetzt 80.000,- DM, die durch Spenden eingeworben werden müssen – hier ist ein erster konkreter Akt der Solidarität nötig!

Tiefflieger und Bombenabwürfe – wofür?

Welche Politik steht hinter den Plänen der Bundeswehr, diesen riesigen neuen und zusätzlichen Bombenabwurfplatz einzurichten? Für Zwecke der Landesverteidigung sind diese Übungen nicht nötig, da es keine Bedrohung mehr gibt. Der Warschauer Pakt ist aufgelöst. Allerdings hat sich die NATO nicht aufgelöst. Sie will nun zur Interventionsmacht außerhalb ihrer Grenzen werden. Statt in Richtung Osten geht die Orientierung der NATO und damit auch der Bundeswehr nun in Richtung Süden. Die neuen Konfliktszenarien konstruieren einen Spannungsbogen von Marokko bis Kasachstan. Sicherheitspolitik bedeutet gemäß den offiziellen neuen Dokumenten von Bundeswehr und NATO nicht mehr Landesverteidigung, sondern Bekämpfung von Krisen und Konflikten, die eine Bedrohung für die Interessen der reichen Länder darstellen könnten: Sicherung von Rohstoffen, Märkten und Wirtschaftswegen weltweit sowie letztlich auch die Verteidigung des Wohlstandes der sog. 1. gegen die sog. 3. Welt. Deshalb üben die Armeen der NATO nicht mehr die Bekämpfung potentieller Feinde an den Landesgrenzen, sondern sie üben Kriegseinsätze auf möglichen Kriegsschauplätzen fern der NATO-Länder. Dies ist der Kern der neuen „out-of-area“-Orientierung (außerhalb des Gebietes der vom NATO-Vertrag umfaßten Länder) von NATO und Bundeswehr.

Deshalb baut die Bundeswehr neue Krisenreaktionskräfte mit einem Umfang von ca. 50.000 Mann auf, die als Eliteeinheiten mit modernster Bewaffnung für solche Kriegsszenarien ausgebildet werden. Die Bundeswehr fordert also Übungsplätze für neue Formen der Kriegsführung – wie wir sie erstmals im Krieg der Alliierten am Golf 1991 erlebt haben. Damals war die Bundesrepublik nur mit einem Scheck von 18 Milliarden DM beteiligt. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht (1994) die Verfassung uminterpretiert. Während früher bis hin zu Kanzler Kohl Einigkeit darüber bestand, daß Bundeswehreinsätze, die nicht der Verteidigung dienen, vom Grundgesetz verboten sind, ist diese Verfassungsnorm nun auf den Kopf gestellt worden. Die neuen Strategien von NATO und Bundeswehr, denen gemäß nun Kriege in aller Welt mit Bundeswehrbeteiligung möglich sind, wurden nicht einmal im Parlament, geschweige denn in der Bevölkerung breit vorgestellt und diskutiert. Dies ist ein beängstigender Beitrag der Militärpolitik zur Entdemokratisierung der Bundesrepublik.

Wir brauchen eine andere Politik: Frieden durch Gcrechtigkcit

Die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist schnell verflogen. Wir sehen heute: die Schere zwischen Reich und Arm geht immer weiter auseinander, sowohl in unserem Land, erst recht aber weltweit. Die 358 reichsten Personen der Welt besitzen heute genausoviel wie die ärmsten 459b der Menschheit (also etwa 2,3 Milliarden Menschen), wie der neueste Bericht der UN-Entwicklungsbehörde mitteilt. Hunger und Elend sind nach wie vor weltweit verbreitet. 800 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen; 500 Millionen sind chronisch unterernährt.

Immer deutlicher spüren auch wir, wie der Sozialstaat Schritt für Schritt abgebaut wird. Die Zahl der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Ausgegrenzten nimmt zu – gleichzeitig steigen die Gewinne der Unternehmen immens. Der innergesellschaftlichen Spaltung in unserem Land entspricht die Nord-Süd-Spaltung im Weltmaßstab. Was bedeutet es, wenn die reichen Länder diese Spaltung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch absichern wollen? Wessen Reichtum soll die Bundeswehr in aller Welt verteidigen? Etwa den der 358 Multimilliardäre? Wir leben in weltwirtschaftlichen Strukturen, die so sehr vom Egoismus der Reichen bestimmt sind, daß die Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Statt diese Herrschaftsstrukturen nun noch militärisch abzusichern, sollten wir lieber alle unsere Kräfte auf die Frage konzentrieren, wie wir zu gerechterer Verteilung von Gütern, Lasten und Chancen beitragen können. Genügend Ansatzpunkte sind vorhanden:

– Wirtschaftsstrukturen müssen demokratisiert werden;

– zwischen Nord und Süd muß es einen Ausgleich geben, beginnend mit einem umfassenden Schuldenerlaß;

– Rüstungsexporte sind zu beenden;

– der Verschleuderung der Ressourcen künftiger Generationen durch immer schnellere Produktion und Konsumption muß durch eine neue Wirtschaftsweise Einhalt geboten werden;

– durch Projekte und Partnerschaffen zwischen Nord und Süd können Umorientierungen beispielhaft praktiziert werden. Nur durch Gerechtigkeit kann wirklicher Frieden geschaffen werden!

Konflikte gewaltfrei bearbeiten

Auch nach einer Veränderung der Weltwirtschaftsordnung gäbe es immer noch Konflikte. Daß sich Konflikte jedoch nicht mit kriegerischer Gewalt lösen lassen, sondern auf diese Weise immer erneut Gewaltstrukturen etabliert werden, können wir hundertfach aus der Geschichte lernen. Sollen wir trotzdem immer weiter auf solche (selbst)mörderische militärische Strategien und Mittel setzen? Friedensbewegung und Friedensforschung haben seit langem Konzepte der zivilen Konfliktbearbeitung und des gewaltfreien Widerstandes gegen Unrecht erarbeitet, die auch erfolgreich angewandt wurden. Das Konzept der zivilen Konfliktbearbeitung, das die Prävention, die Deeskalation und die Konfliktnachsorge umfaßt, kann in allen Phasen einer Krise angewandt werden. Nur machen sich die Staaten solche Konzepte nicht zu eigen, weil sich mit diesen Mitteln nicht die Ziele, die mit der Militärpolitik aktuell verfolgt werden, verwirklichen lassen. Deshalb muß mit Elementen ziviler Konfliktbearbeitung und humanitärer Hilfe von unten begonnen werden, wie es etwa das Komitee für Grundrechte und Demokratie – neben vielen anderen Friedensgruppen – ansatzweise während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien getan hat – und nachsorgend noch tut. Hier einige Beispiele:

– Partnerschaften mit den Kräften, die sich für Frieden engagieren;

– Unterstützung von Medien, die gegen den Haß arbeiten und Feindbilddenken unterlaufen;

– Unterstützung von und Werbung für Kriegsdienstverweigerung und Desertion;

– humanitäre und medizinische Hilfe für die Opfer des Krieges;

– Hilfe für Flüchtlinge;

– Gewinnen der Bevölkerung für Alternativen und für Versöhnung;

– Überzeugungsarbeit durch mediale Öffentlichkeitsinterventionen

Dabei muß es das Ziel sein, auch Kirchen, Gewerkschaften, Kommunen, Länder, Staatsregierungen und internationale Institutionen für eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung zu gewinnen.

Wir brauchen kein Bombodrom – Widerstand ist notwendig

Das Bombodrom in der Region Ostprignitz-Ruppin geht nicht nur die dort wohnenden Bürgerinnen und Bürger etwas an, sondern alle Bundesbürgerinnen und -bürger. Wie in einem Brennglas zeigt sich hier die Umorientierung der Bundeswehr zu einer modernen Interventionsarmee gemäß dem out-of-area-Konzept der NATO. Dieser Politik gilt es sich zu verweigern. Herrschende Politik will auf dem Bombodrom üben, wie künftig tödliche Bomben noch genauer ihr Ziel treffen können – stattdessen wollen wir lernen, wie das Brot zu den Hungernden kommt, d.h. wie eine Weltwirtschaft dafür Sorge trägt, daß die Mittel zum Leben gerecht produziert und verteilt werden. Nur so können wir verhindern, daß eines Tages auch Deutschland wieder zum Kriegsschauplatz wird.

zum Anfang | „Mord auf Raten“

von Annemarie Friedrich

Was das Leben neben dem russischen Schießplatz 40 Jahre lang für die AnwohnerInnen bedeutete und den Zorn der Menschen in der FREIen HEIDe gegen die neue Okkupation macht Annemarie Friedrich, „die Großmutter der FREIen HEIDe“' mit oft drastischen Worten deutlich. Wir zitieren aus ihrem Bericht beim Friedensratschlag vom Dezember 1996 in Kassel:

„Hier in dieser Region geht es um einen Mord auf Raten, nämlich um ein Aus nach dem anderen: Aus mit dem Segelflug in Berlinchen, mit Musikakademie, Schloßkonzerten und Kammeropern in Rheinsberg und dem Kulturzentrum Temnitzkirche Netzeband, mit der Reha-Klinik in Dorf Zechlin (ein Therapiezentrum mit Weltgeltung!), mit Hotelbauten, Feriendörfern, Wasser- und Sporteinrichtungen, mit der Öko-Ranch Zempow durch Verseuchung von oben, um nur einiges zu nennen. Investoren springen schon jetzt ab. Die Jugend muß abwandern.

Nur wenige Flugsekunden liegt das Bombodrom entfernt von 46 Anrainerdörfern und den Städten Rheinsberg, Wittstock, Neuruppin und Kyritz, nur wenige Flugminuten von Berlin, Potsdam und Brandenburg.

Zeitlich vor der Errichtung des Bombodroms war dieser Waldabschnitt am 1. Mai 1945 der Platz eines grauenvollen Massakers an Flüchtlingen, überwiegend Frauen, Kinder und alte Leute mit ihren Pferdewagen und ihren letzten Habseligkeiten. Noch leben Zeugen, die damals die Menschen- und zerfetzten Pferdeleiber eingruben. 40 Jahre lang flogen dort dann die Skelette bei den Bombeneinschlägen in die Luft. Und genau dort ist das Europäische Großbombodrom von dem „Christen“ Rühe geplant.

Und die Krone des Wahnsinns soll gegebenenfalls noch ein Atommüllager im Anrainerdorf Netzeband werden. Schlußfolgerung: Für alles, was in Bonn beschlossen wird, sind wir der Dreckabladeplatz. Eine gekonnte Konkurrenzausschaltung dieses schönen Landes, einst besonders geschätzt von Fontane, Knobelsdorff, Schinkel, Friedrich II, Tucholsky! Also immer drüber, auch über das ausgeschaltete Atomkraftwerk Rheinsberg, in dem nach wie vor strahlendes Material in ungeschützten Kellern lagert, immer drüber mit Jagdbombern, mit giftigem Kerosin-, Benzol- und Kohlenwasserstoffausstoß. …“

Annemarie Friedrich ist Vorstandsmitglied der BI FREIe HEIDe und Senioren des Kreistags Ostprignitz-Ruppin

zum Anfang | Der Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock
Ökologische, militärchemische und nutzungsalternative Aspekte

von Knut Krusewitz

1. Ökologische Aspekte

Das von der Bundeswehr 1994 widerrechtlich besetzte rund 14000 Hektar große ehemalige sowjetische Militärgebiet liegt in der Wittstock-Ruppiner Heide, einer Teillandschaft der Nordbrandenburgischen Sandflächen und Lehmplatten.

Naturräumlich wird das Areal im Norden durch die kiesige Endmoräne der Fürstenberger Platte geprägt, im Zentrum herrscht ein großer, flachwelliger Sander vor, und der südliche Teil wird durch die Ruppiner Grundmoränenplatte mit ihren leicht welligen Talsandflächen gebildet.

In diesem Gebiet herrschten ursprünglich Laubmischwaldgesellschaften als natürliche Vegetationsform vor.

Die heutige Vegetation ist Resultat einer über Jahrzehnte andauernden militärischen Nutzung, zunächst als Panzer- und Artillerieschießplatz, später zusätzlich als Luft-Bodenschießgebiet für die Luftwaffe. Wegen der Besonderheiten der militärischen Landnutzung – aus Sicherheitsgründen wurden bestimmte Bereiche des Kriegsübungsgebietes entweder gar nicht oder nur extensiv genutzt – stellt sich heute der ökologische Befund widersprüchlich dar.

So entwickelten sich durch den Militärbetrieb nicht nur große Flugsandflächen, Aufschüttungen und Bodenumlagerungen, sondern in dem von Wald völlig entblößten Zentrum auch großflächige Calluna vulgaris- und Sarothanmus scoparius – Heiden, deren landeskulturelle Bedeutung für Brandenburg beachtlich ist.

Professionelle Naturschützer beurteilen den Naturschutzwert dieses vormaligen Kriegsübungsgebietes in einer „Biotopkartierung“ zusammenfassend so:

Dies Gebiet hat „einen hohen ökologischen Wert, denn es birgt in sich eine Vielzahl wertvoller Biotope, die durch die herrschenden Bedingungen eng miteinander verbunden sind. Sie bieten einer Vielzahl von Arten Schutz, Nahrung und Lebensraum. Auch die Großflächigkeit und Nährstoffarmut des Gebietes sowie die sich daraus ergebende Bedeutung als Versickerungsraum zur Bildung hochwertigen Grundwassers sind wertbestimmend. Darüber hinaus wird der Wert des Gebietes durch das Vorkommen einer Anzahl geschützter Tiere, Pflanzen und Pflanzengesellschaften unterstrichen.“ (Institut für Ökologie, 1993, S. 34)

In diese Biotopanalyse wurden allerdings die militärisch verursachten Altlasten nicht einbezogen. Ein schwerwiegender Fehler, denn dies ehemalige Militärgelände ist erheblich kontaminiert, wodurch sein ökologischer Wert enorm geschmälert wird. Dieser Wertverlust ließe sich allenfalls durch ein aufwendiges Sanierungs- und Rekultivierungsprogramm ausgleichen.

2. Militärchemische Aspekte

Militärchemische Altlasten finden sich auf allen Truppenübungs-, Schieß- und Bombenabwurfplätzen. In einem regierungsamtlichen Altlastenbericht über das frühere ostprignitzer Militärgelände heißt es dazu:

„Ausgehend von einer sehr intensiven Munitionsbelastung und militärischen Nutzung seit mehr als vierzig Jahren ist es erforderlich, ca. 3/4 der Gesamtfläche einer Reihe spezifischer Untersuchungen des Bodens und des Grundwassers auf Folgen des Militärbetriebes zu unterziehen (z.B. Sprengstoffe und Sprengstoffmetaboliten, Schwermetalle wie Hg, Pb, Cu, Zn, Cd). In diese Untersuchungen sollten sowohl Boden- als auch Grundwasseranalysen einbezogen werden.“ (IABG, 1993, S. 56)

Was sind militärchemische Altlasten und welche Bedeutung haben sie für unser Thema?

Militärchemische Altlasten resultieren aus Inhaltsstoffen chemischer Waffen und konventioneller Kampfmittel. In unserem Fall sind allerdings nicht „chemische“, sondern „konventionelle Kampfstoffe“ von Interesse. Es handelt sich dabei um Treib-, Spreng- und Zündstoffe, um Brandmittel sowie um Nebel- und Rauchmittel. Bei ihren Rückständen – beispielhaft TNT – handelt es sich um umfangreiche, weit verzweigte und toxikologisch oft mehrfach stark wirksame chemische Schadstoffgruppen.

Militärchemische Stoffe besitzen umwelt- und gesundheitsgefährdende Eigenschaften, weil sie „nach speziellen taktischen Erfordernissen des Militärs zur gezielten Schädigung oder Zerstörung des menschlichen Organismus und der gebauten oder natürlichen Umwelt entwickelt wurden.“ (SRU, 1995, S. 171)

Militärchemische Altlasten sind für unser Thema aus umwelttoxikologischen, sanierungsplanerischen, regionalpolitischen und nicht zuletzt aus pazifistischen Gründen bedeutsam. (Krusewitz, 1996 a)

Der regierungsnahe Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) argumentiert, daß militärchemische Stoffe in der Regel „über die akut schädigende Wirkung hinaus in mehrfacher Hinsicht chronisch toxische sowie umwelttoxische Eigenschaften (Kanzerogenität, Mutagenität, Teratogenität) aufweisen“ und daß ihre „Abbauprodukte oft gleich toxisch oder sogar stärker toxisch sind als die Ausgangs- beziehungsweise Zielsubstanzen (Toxizitätszunahme infolge der Abbauvorgänge).“

Zudem handle es sich bei ihnen um naturfremde organische Stoffe. Ihr naturfremder Charakter „äußert sich in begrenzter Bioabbaubarkeit oder als Hemmstoff beim Bioabbau, was das jahrzehntelange Verbleiben dieser Stoffe einschließlich ihrer Metaboliten in Boden und Untergrund mitbedingt.“

Deshalb stellte der Umweltrat fest: „All diese Eigenschaften sind sanierungsrelevant.“ (SRU, 1995, S. 174)

Die Forderung nach Detektion und Sanierung der militärchemischen Altlasten auf dem ostprignitzer Militärareal ist auch dann unaufgebbar, wenn Sanierungsziele von dessen zukünftiger Nutzung abhängig gemacht werden. Darauf komme ich gleich zurück.

Denn für diese frühere Militärlandschaft gilt allemal, was MitarbeiterInnen des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie (ICT) kürzlich für vergleichbare Flächen ermittelten:

„TNT ist in hohem Maße giftig, krebserzeugend und mutagen, verändert also die Erbsubstanz. Gelände ehemaliger Truppenübungsplätze und Sprengstoffbetriebe, die nun brachliegen, sind oft so stark damit kontaminiert, daß sie landwirtschaftlich nicht mehr zu nutzen sind.“ (Bunte u.a., 1996, S. 102)

Diese Eigenschaften sind aber vor allem relevant für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen in der Ostprignitz. Denn die Beurteilung der von militärchemischen Altlasten ausgehenden Umwelt- und Gesundheitsgefährdung hängt nach Auffassung selbst der Bundesregierung weniger von der in den Böden enthaltenen Schadstofflast ab, sondern wesentlich von der Exposition über die fünf wichtigsten Gefährdungspfade, also Luft, Oberflächen- und Grundwasser, Boden sowie Nahrungsmittelkette. (Deutscher Bundestag, 1990, S. 23)

Über solche toxikologischen Wirkungspfade in der Region wissen wir noch immer zu wenig.

3. Konversionsaspekte

Die Leitlinien für Konversion im Land Brandenburg von 1992 erklären dies Programm zu einer „gesamtgesellschaftliche(n) Gestaltungsaufgabe im Schnittpunkt von Friedens-, Abrüstungs-, Wirtschafts-, Umwelt-, Regional-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Kulturpolitik“, die nur im „Zusammenwirken von EG, Bund, Ländern und Gemeinden bewältigt werden“ könne. Diese definitorische Bestimmung verweist, wenngleich abstrakt, auf die Vielschichtigkeit der praktischen Probleme einer Konversion des ostprignitzer Kriegsübungsgebietes. Erschwerend kommt hinzu, daß dies Gebiet streitig ist.

Über zivile Nutzungsalternativen entscheiden vorrangig die Anrainergemeinden in Übereinstimmung mit landesplanerischen Vorgaben. Sie können aufgrund ihrer Planungshoheit bereits heute alternative Zweckbestimmungen der Militärfläche durch ihre jeweilige Bauleitplanung festlegen.

Von erheblicher Bedeutung für diese Gemeinden sind daher Informationen einerseits über Militäraltlasten, Sanierungsbedarf und Landbeschaffungsinteressen der Bundeswehr sowie anderseits über Möglichkeiten der geordneten kommunalen Entwicklung, Zielrichtung der nachmilitärischen Raumnutzungsstruktur, Finanzierungs- und Fördermittel.

Verbindliches Ziel der Konversion ist die Wiederherstellung der Kulturlandschaft Ostprignitz. Danach erst kann das zivile Potential dieser Region entwickelt werden, schaffen intakte Natur, gepflegte Landschaften und Wälder die Grundlage für funktionierende Dörfer, den Erhalt und die Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze, den Ausbau umweltgerechter Formen der regionalen Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung.

Konversionsplanerisch sind dabei von den Gemeinden sowohl die Fragen des Bedarfs, des geeigneten Standortes, des Umfangs der nichtmilitärischen Bodennutzung als auch die Grundzüge der Erschließung und Standortgestaltung zu lösen. Dieser Entscheidungsprozeß bedarf eines Planwerkes und eines geregelten Planfeststellungsverfahrens, der „Flächennutzungsplanung“. (Hinzen u.a., 1995)

Die ostprignitzer Anrainergemeinden können aus unschwer erkennbaren Gründen weder die Altlastensanierung noch den gesamten Konversionsprozeß ohne erhebliche Hilfen von Kreis, Land und EU beginnen. Aber bereits hier und heute müssen wir verhindern, daß der Konversionsprozeß in eine falsche Richtung startet.

Aus gegebenem Anlaß befürchten wir nämlich, daß militärische Folgeprobleme in strukturschwachen ländlichen Regionen wie der Ostprignitz „passiv saniert“ werden sollen. So behaupten der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), der Deutsche Rat für Landespflege, aber auch der Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) neuerdings, in strukturschwachen Räumen bestünde „nur ein geringes wirtschaftliches Nutzungsinteresse“ an freiwerdenden militärischen Flächen, weshalb sie „im allgemeinen nicht für Zwecke der Siedlung oder Wirtschaft“ erschließbar seien. Aus diesem Grund sehen sie beispielsweise „Truppenübungsplätze als bedeutende Potentiale für den Naturschutz“ an.

Gemeinden, die aus finanziellen Gründen solche Militärareale nicht „verwerten“ können, sollen sie als „Vorrangflächen für den Naturschutz“ sichern. (SRU, 1995, S. 197) Ohne finanzielle Ausgleichszahlung, versteht sich.

Diese Empfehlung führt nicht zufällig „zu der Überlegung, von Altlasten betroffene Flächen“ wie das ostprignitzer Kriegsübungsgebiet „Naturschutzzwecken zu widmen“, und zwar mit dem erklärten Ziel, „die Altlasten nicht (!) zu sanieren.“ (SRU, 1995, S. 73) Sie sollen also passiv saniert werden.

Sollten Anrainergemeinden, Kreis und Land sich für diese Nutzungsalternative entscheiden, dann werden die brisanten militärchemischen Altlasten auch dann nicht saniert, wenn die Bundeswehr das Gelände förmlich freigibt. Es ist nämlich absehbar, daß mangelnde öffentliche und private Nachfrage nach großen Grundstücken, kommunale Finanzmittelknappheit sowie ungeklärte militärische Altlastenprobleme sie zwingen werden, die Option „Sanierung durch Naturschutz“ zu akzeptieren.

Angesichts der skizzierten regionalen Konversionsanforderungen büßen tradierte friedenspolitische Empfehlungen und Kooperationsformen ihre Überzeugungskraft ein. Die Friedensbewegung steht indes nicht nur in der Ostprignitz vor der schwierigen Aufgabe, rasch ein aufklärerisches Verständnis von sozialgerechter, naturverträglicher und nachhaltiger regionaler Friedensarbeit zu entwickeln, das sie befähigen würde, neue friedenspolitische Bündnisse zu stiften sowie neue pazifistische Kooperationsformen zu erproben.

Schließlich „herrscht“, wenn das Militär eine Region verlassen hat, nicht Frieden. (Krusewitz, 1996 b, S. 3-24) Deshalb ist es so verdammt schwer, die Frage nach der „pazifistischen Alternative“ in der Ostprignitz empirisch gehaltvoll zu beantworten.

Literatur

Altner, Günter u.a., Hrsg., Jahrbuch Ökologie 1993, München 1992
Bunte, Gudrun u.a., Detektion von Explosivstoffen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 8 (August) 1996
Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/6972 vom 26. April
Hinzen, Hajo u.a., Umweltschutz in der Flächennutzungsplanung, Wiesbaden, Berlin 1995
IABG (Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft), Ermittlung von Altlasten-Verdachtsflächen auf den Liegenschaften der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGT): Ergebnisbericht Truppenübungsplatz Wittstock, unveröffentl. Bericht, Berlin 1993
Institut für Ökologie und Naturschutz, Biotopkartierung und Einschätzung des Naturschutzwertes militärischer Übungsgelände: Truppenübungsplatz Schweinrich/Gadow, unveröffentl. Bericht, Gosen 1993
Krusewitz, Knut (a), Warum ist militärchemische Altlastensanierung ein pazifistisches Thema? Der Hall des Truppenübungs- und Schießplatzes Wittstock, Weyhers 1996
Krusewitz, Knut (b), Rhöner Friedenswanderungen durchs UNESCO-Biosphärenreservat, in: Zeitschrift des Studienarchivs Arbeiterkultur und Ökologie Baunatal, Jg. 10, Juni 1996
SRU (Rat von Sachverständigen für Umwelttragen), Sondergutachten Altlasten II, Stuttgart 1995

zum Anfang | Gemeinden wehren sich

von Helmut Schönberg

Die Bundeswehr wird durch ihre Landnahme von den Menschen in der Wittstocker Heide nach den früheren Erfahrungen wie eine neue Besatzungsmacht erlebt. Vor Gericht gab es bisher nur einen Teilerfolg. Privatpersonen können demnach erst klagen, wenn Schäden durch den Bundeswehr-Übungsbetrieb real eintreten. Beim Planungsrecht der Gemeinden wird es eine neue Runde beim Oberverwaltungsgericht geben. Die Rechtskosten wurden bisher größtenteils den klagenden Bürgern und Gemeinden auferlegt. Die Situation aus Sicht der Gemeinden und den Zwischenstand im Rechtstreit vor den Verwaltungsgerichten beschreibt Helmut Schönberg, Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich, bei einer Sitzung im Kreistag:

Die Schießplatzproblematik beschäftigt unsere Menschen nun schon seit 50 Jahren, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Als die sowjetische Besatzungsmacht mit der Einrichtung eines Schießplatzes begann, ahnten die Menschen dieser Region damals noch nicht, daß damit die Heide für sie auf lange Zeit abgeriegelt werden sollte.

Der Kalte Krieg und der beginnende Ost-West-Konflikt waren der Hintergrund für eine fortlaufende Landnahme durch die sowjetische Besatzungsmacht. In der Heide wurde für den Ernstfall geübt. Die Panzer zerwühlten den Boden und der Lärm der Artillerie und der Bomber, die tausendfach Bomben über das Zielgebiet der Heide entluden, bestimmte den Alltag. Zu Beginn der achtziger Jahre wurden, als Antwort auf die Stationierung von Pershing II Raketen in Westdeutschland, SS 20 Raketen mit Atomsprengköpfen in die Heide gebracht. Und wieder brauchten die sowjetischen Militärs mehr Platz. Jetzt wurden sogar weite Teile mit Stacheldraht abgesperrt.

Die Heide war über die Zeit längst zu einem militärischen Faktum im Ost-West-Konflikt geworden. Die Interessen der hier lebenden Menschen blieben dabei auf der Strecke. Das System erlaubte keine Fragen und keinen Widerstand. Erst mit der Auflösung des Warschauer Vertrages und der Beseitigung des Ost-West-Gegensatzes keimte bei den Menschen wieder die Hoffnung auf eine friedliche Heide. Mit dem Vertrag zum Abzug der GUS im Jahre 1990 war das Ende der militärischen Nutzung in Sichtweite gerückt. Spontan bildeten sich Initiativen für eine zivile Nachnutzung: „Rettet den Dranser See“ und „Zweckverband der Anliegergemeinden“.

So wurde das LSG um den Dranser See von Militärmüll entrümpelt, Militärstellungen eingeebnet, Badestellen angelegt und die Wege um den Schießplatz instand gesetzt. Die Gemeinde Schweinrich hat für Rekultivierungsarbeiten auf dem ehemaligen Schießplatz im Bereich des Dranser Sees in den Jahren 1990-1991 ca. 50.000 DM aufgebracht. Weiterhin waren 8 Bürger 2 Jahre lang in der ABM-Maßnahme „Dranser See“ tätig und weitere 10 Bürger ein Jahr in der ABM-Maßnahme „Schießplatzwege“. In diesen beiden Maßnahmen wurden Werte in Höhe von 2 Mill. DM geschaffen. Im Jahre 1992 waren diese Aktivitäten deutlich sichtbar geworden: Badestelle bei Griebsee, Wanderweg um den Dranser See, Instandsetzung der Wege zwischen Zempow, Dranse, Schweinrich, Zootzen und Gadow.

Auf Veranstaltungen wurde über die zivile Nachnutzung diskutiert und Nutzungskonzepte entwickelt – Vertreter der Bundeswehr, der GUS-Streitkräfte und der Landesregierung Brandenburg machten uns Mut, für eine zivile Nachnutzung zu wirken. Die Bundeswehr erklärte im Jahre 1991 schriftlich, daß grundsätzlich keine ehemaligen sowjetischen Liegenschaften übernommen werden. Die Ankündigung im Juni 1992, den Platz doch zu übernehmen, stoppte unseren Elan vehement.

Es entwickelte sich eine friedliche Protestkultur, die mit dazu beigetragen hat, daß die militärische Nutzung bislang verhindert werden konnte. Auf über fünfzig Protestveranstaltungen bekundeten ca. fünfzigtausend Bürger ihren Willen gegen eine militärische Nutzung. Bürger beiderseits des ehemaligen Schießplatzes begegneten sich wieder und wir lernten unsere schöne Umgebung auf den Wanderungen neu kennen. Es entstand ein regionales Wir-Gefühl, nach vierzigjähriger Trennung durch den russischen Übungsplatz hatten sich die Menschen wieder etwas zu sagen.

Der ehemalige Landkreis Wittstock reichte eine Klage gegen die militärische Nutzung beim Verwaltungsgericht Potsdam ein, die dann auf den späteren Landkreis OPR erweitert wurde. Weitere Gemeinden, eine Kirchengemeinde und Privatpersonen schlossen sich der Klage an. Obwohl das Verwaltungsgericht unsere Klage teilweise abgewiesen hat, bin ich dem Verwaltungsgericht für die deutlichen Aussagen dankbar. Durch das Verwaltungsgericht wurde für Recht erkannt: „Es wird festgestellt, daß für die militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock durch die Beklagte (Bundeswehr) zu militärischen Zwecken ein förmliches Planungsverfahren nach § 1 Abs. 2,3 des Landbeschaffungsgesetzes erforderlich ist. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.“

In der Urteilsbegründung wurde weiter ausgeführt:

– Die Klägerin (Gemeinde Schweinrich) hat die maßgeblichen Grundlagen geschaffen, um eigenverantwortlich von ihrer Planungshoheit Gebrauch zu machen.

– Das Rechtsverhältnis ist streitig, weil Klägerin und Beklagte den vorliegenden Lebenssachverhalt in rechtlich relevanter Weise abweichend würdigen.

– Die Beklagte ist nämlich nicht berechtigt, derzeit das streitbefangene Gelände auf den Gemarkungsflächen der Klägerin als Truppenübungsplatz zu militärischen Zwecken zu nutzen.

– Wegen der Nähe des unbeplanten Innenbereiches der Klägerin zum streitbefangenen Gelände sind aufgrund des Aufstellungsbeschlusses über den Flächennutzungsplan Standortzuweisungen im Rahmen der Bauleitplanung der Klägerin denkbar, die mit der Nutzung des streitbefangenen Geländes als Truppenübungsplatz unvereinbar sind.

– Das streitbefangene Gelände ist zu militärischen Zwecken nicht (mehr) gewidmet, denn mit der Übergabe durch die sowjetischen Truppen und die Übernahme der Bundesfinanzverwaltung ist die auflösebedingte Entwidmung eingetreten.

– Die Beklagte ist schließlich nicht befugt, das streitbefangene Gelände aufgrund der Zustimmung des deutschen Bundestages zu dem Truppenübungsplatzkonzept des Bundesministers der Verteidigung militärisch zu nutzen.

– Abschließend stellt dasVerwaltungsgericht fest, daß die Unterhaltung einerfunktionsfähigen militärischen Landesverteidigung durch das geforderte Planungsverfahren nicht gefährdet ist. Angesichts einer verkleinerten Bundeswehr stehe ausreichend Übungsgelände zurVerfügung.

Die Gemeinde Schweinrich hat auf ihrer letzten Gemeindevertretersitzung einstimmig entschieden, in die Berufung zu gehen, weil die mögliche Inbetriebnahme des Luft-Boden-Schießplatzes ein in seinem Umfang noch nicht vorhersehbaren Eingriff in unseren Lebensraum darstellt. Bislang treibt die Bundeswehr mit ihrem Schießplatzkonzept ein Verwirrspiel. So erklärte der Platzkommandant im November 1995 den anwesenden Bürgermeistern das Schießplatzkonzept mit Schießbahnen für Panzer und Artillerie und vor dem Verwaltungsgericht in Potsdam erklärte die Bundeswehr, daß die Schießbahnen für Panzer und Artillerie entfallen. Zu den Flughöhen gibt es ebenfalls widersprüchliche Informationen. Bislang sollten die Flugzeuge nur auf dem ehemaligen Schießplatzgelände unter 100 m fliegen. Mit dem Schreiben der Wehrbereichsverwaltung VII vom 19.09.1996 teilt die Bundeswehr mit, daß bereits außerhalb des Übungsgeländes eine Flughöhe von derzeit 60m und in naher Zukunft auch 30m erreicht werden kann, und damit die Windkraftanlagen abgelehnt werden. Der Gemeinde Schweinrich wurde mit Schreiben vom 05.01.1996 mitgeteilt, daß die weitere Wohnbebauung 3000 m von der Schießplatzgrenze zu planen wäre. Die tatsächliche Gegebenheit sieht jedoch so aus, daß sich die vorhandene Wohnbebauung 200-800 m vom ehemaligen Übungsplatz befindet. Diese aufgezeigten Beispiele zeigen, daß genügend Konfliktstoff vorhanden ist, den es gilt, rechtlich zu klären. Auch bezüglich unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.

Daß Schweinrich als Wohnstandort angenommen wird, zeigt die rege Bautätigkeit der letzten Jahre. Durch Maßnahmen der Dorferneuerung hat sich unsere Gemeinde nach der Wende positiv entwickelt. Die gesamte Schießplatzproblematik wirkt sich jedoch negativ auf die weitere Entwicklung der Gemeinde aus. Zwar sind für die Zukunft noch fünf Baugenehmigungen beantragt bzw. erteilt, doch tragen auch potentielle Interessenten der Ungewißheit Rechnung und weichen zu unserem Leidwesen auf andere Standorte aus.

Aus diesem Grunde sind wir gefordert, Rechtssicherheit herbeizuführen. Bedauerlicherweise müssen wir uns regelrecht uns zustehendes Recht einklagen, denn die Bundeswehr will uns selbst das vom Gericht geforderte förmliche Planungsverfahren verwehren.

Unverständlicherweise gilt bei diesem Urteil nicht gleiches Recht für alle übrigen Gemeinden. So wurde einigen Gemeinden das Planungsverfahren zuerkannt, anderen dagegen nicht. Die möglichen Belastungen sind allerdings beispielsweise in Frankendorf und Flecken Zechlin ähnlich wie in Schweinrich. Da nicht alle betroffenen Gemeinden vor dem Oberverwaltungsgericht in Berufung gehen können, wäre es zu begrüßen, daß der Landkreis die Interessen aller betroffenen Gemeinden wahrnimmt.

Helmut Schönberg ist Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich und Mitbegründer der BI FREIe HEIDe

zum Anfang | Beispiele

Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann

Bombenabwurfplatz Nordhorn-Range

Zur Geschichte

1933 Krupp von Bohlen und Halbach überläßt 2220 ha Heidegelände der Deutschen Wehrmacht zur militärischen Nutzung.

1945 Die Royal Air Force (RAF) beschlagnahmt das Gelände und nutzt es als Bombenabwurfplatz, genannt Nordhorn-Range.

1971-1973 Die 1. Bürgerinitiative Deutschlands (Notgemeinschaft) organisiert Platzbesetzungen und Demonstrationen gegen den Platz.

1973 Eine Verlagerung des Platzes ins Ramsloher Moor scheitert am Widerstand der Bevölkerung.

1985 Aussiedlung der Bewohner in der Einflugschneise (ca. 50 Häuser) wegen des Lärmterrors und der Fehlwürfe.

1988 Inbetriebnahme des AKW Lingen in der Einflugschneise.

1988 Die Bürgerinitiative Notgemeinschaft wird wieder aktiv, auf Betreiben des Arbeitskreises Frieden.

1990 BI initiert ein Klageverfahren, dem sich das Land Niedersachsen und die umliegenden Kommunen anschließen. Diese Klage ist bis heute nicht verhandelt worden.

1992 Beschuß von Demonstranten durch einen Düsenjet. 1995 Modernisierung der Flug- und Kontrolleinrichtungen auf den technisch neuesten Stand.

1996 Ankündigung des Abzugs der RAF im Jahr 2002, danach ist die Übernahme durch die Bundeswehr geplant.

Zur Situation heute

Die Bevölkerung hat resigniert, die Politiker hoffen auf eine Entlastung und evtl. Verlegung des Platzes nach Wittstock. Teile der Notgemeinschaft denken ähnlich. Alle fordern: „Die Range muß weg“. Das Militär wird aber grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Diesem St. Floriansprinzip widersetzt sich in Nordhorn der Arbeitskreis Frieden und hat enge Kontakte zur BI Freie Heide. Wir lassen uns nicht zu Gegnern machen und fordern das Ende des lebensgefährlichen Terrors über den Köpfen der Menschen. Gemeinsame Aktionen wie die Teilnahme am Ostermarsch, die Ausstellung über das Bombodrom und die Aufstellung einer Mahnsäule der BI FREIEn HEIDe in Nordhorn sollen die Solidarität der Friedensbewegung stärken.

Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann Zedernstr. 3, 48531 Nordhorn Tel.05921/37585.

Die Bürgerinitiative

OFFENe HEIDe in der Colbitz-Letzlinger Heide

Wenn sich die Orts- und Personennamen auch unterscheiden, die Probleme in der Auseinandersetzung mit den Plänen der Bundeswehr sind in der Colbitz-Letzlinger und in der Wittstocker Heide die gleichen. Mit rund 230 qkm ist die militärisch besetzte Fläche bei uns noch größer. Unter der Heide hat sich ein riesiges Grundwasserreservoir gebildet. Es versorgt rund 600000 Menschen mit bestem Trinkwasser. Schon allein aus dieser Tatsache verbietet sich ein militärischer Mißbrauch des Gebietes.

Die Planungen der Bundeswehr sehen ein lasergestütztes Gefechtsübungszentrum vor. 1934 wurde ein Versuchsplatz für Geschütze eingerichtet, aus dem nach dem Ende des 2. Weltkrieges ein Truppenübungsplatz der Sowjetarmee entstand.

Mit der politischen Wende in der DDR wurde auch die Forderung laut, dieses Areal endlich einer friedlichen Nutzung zuzuführen. Doch die Bundeswehr zeigte Interesse an dieser großen Fläche. Politiker aller Couleur sprachen sich für eine ausschließlich zivile Nutzung der Heide aus. Der Landtag und eine Vielzahl von kommunalen Parlamenten aus der Region faßten entsprechende Beschlüsse. Während eines Protestcamps 1993 reifte die Idee, den Weg des zivilen Ungehorsams zu gehen. An jedem ersten Sonntag im Monat wird bei einem Friedensweg bewußt die Sperrausschilderung des Truppenübungsplatzes ignoriert. Am 7. September 1997 findet also der 50. Friedensweg statt, zu welchem ich schon jetzt herzlich einlade. Das Spektrum der FriedenswegteilnehmerInnen geht von Pazifisten über Umweltschützer bis hin zu Heimatfreunden.

Der „Wirtschaftsfaktor Bundeswehr“ zeigt sich bislang nur in den Aufträgen zur Entsorgung der sogenannten Manöverboxen von Rüstungsaltlasten. Die Bundeswehr stellt sich als einzig potenter Auftraggeber für diese Arbeiten dar und spielt mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Gegend. Diese Märchen der Bundeswehr werden von Teilen der Bevölkerung und der Kommunalpolitiker geglaubt. Gegen eine solche Erosion der Beschlußlage kämpfen wir gegenwärtig an.

Kontaktadressen:
Helmut Adolf, Vor der Teufelsküche 12, 39340 Haldensleben Tel.: 03904/42595, Fax 464933
Dr. Erika Drees, Beethovenstr. 13, 39576 Stendal Tel.: 03931/216267, Fax 316008
Birgit Hinz, Klosterstr. 8, 39638 Letzlingen Tel.: 039088/437

Nicht hier und nicht anderswo …

Goose Bay (Kanada)

Opfer von Kriegsspielen der Bundeswehr sind nicht nur die AnwohnerInnen von Schießplätzen in der Bundesrepublik. Eher noch ungehemmter werden Angehörige indigener Völker durch Tiefflüge und Schießübungen terrorisiert. Die Bundesluftwaffe fliegt z.B. schon lange über das Land der Innu.

Täglich donnern rund dreißig Kampflugzeuge der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten während der Flugsaison von April bis Oktober in 30 Meter Höhe mit Geschwindigkeiten über 1000 km/h über einen 100.000 qkm großen Teil von Labrador und Ostquebec, dem Lebensraum der 12.000 Innu. Im Tiefflugübungsgebiet ist auch ein Schießplatz für Bombenabwürfe ähnlich wie die Anlage in Wittstock enthalten.

Seit 1990 besteht etwa die Hälfte der 8.000 bis 10.000 Tiefflüge, die pro Jahr vom Luftwaffenstützpunkt Goose Bay aus durchgeführt werden nur aus Flügen von Tornado- und Phantom-Flugzeugen der Bundeswehr. Das Bundesverteidigungsministerium zahlt dafür jährlich acht Millionen Dollar an die kanadische Regierung. Außerdem nutzen bislang noch andere NATO Staaten (Niederlande, Kanada und Großbritannien, Frankreich und Italien haben Interesse bekundet) das Gebiet.

Die Piloten der Düsenjäger fliegen bevorzugt durch Flußtäler und über Wasserflächen, also genau dort, wo sich die Jagdlager der Innu und die Brutgebiete und Lebensräume vieler Wildtiere befinden. Die Testpiloten loben die „idealen Tiefstflugbedingungen“, da weder Hochspannungsleitungen, Hochhäuser noch Nebel ihren Flug über der subarktischen Landschaft behindern. In einigen Gebieten üben die Piloten den Abwurf von Bomben.

Nitassinan – das heißt „unser Lande“

Die Innu leben seit etwa 9000 Jahren in dem Gebiet, das große Teile des heutigen Labrador und des nördlichen Quebec umfaßt. Sie nennen ihr Land Nitassinan. Die tiefe Verwurzelung mit dem Land zeigt sich darin, daß jeder Fluß, See oder Berg in ihrer Sprache einen eigenen Namen und eine eigene Bedeutung hat.

Innu bedeutet „Mensch“. Die Innu gehören zur Sprachgruppe der Algonquin und sind mit den Cree verwandt. Trotz des ähnlich klingenden Namens sind sie nicht mit den Inuit („Eskimo“) zu verwechseln. Die Innu haben keine Verträge mit den Kolonialmächten oder deren Rechtsnachfolgern über die Abtretung von Land geschlossen und betrachten sich als legitime Eigentümer Nitassinans. Daher bestreiten sie der kanadischen Bundesregierung das Recht, irgendwelche Nutzungsverträge über Nitassinan mit Dritten abschließen zu können. Die Innu fordern von Kanada und anderen NATO-Staaten, ihre Landrechte zu respektieren und nicht zu ihren Ungunsten in das schwebende Landrechtsverfahren einzugreifen.

Auswirkungen der Tiefflüge auf die Innu

Die Tiefflüge wirken sich auf die Innu katastrophal aus, vor allem soweit sie sich traditionell von Jagen, Fallenstellen, Fischen und Sammeln von Wildfrüchten ernähren. Einen wichtigen Faktor stellen dabei die Karibus, eine wildlebende Rentierart, dar. Die Innu haben beobachtet, daß diese Wildbestände stetig abnehmen. Die Tiere stehen durch die permanenten Tiefflüge unter Dauerstreß, eine steigende Zahl von Totgeburten ist nur eine Folge davon. Ebenso ist die Qualität des Fleisches derTiere schlechter geworden, da sie zu hastig und zu wenig Nahrung aufnehmen. Auch auf andere Tierarten wirken sich die Tiefflüge negativ aus. So fressen aufgrund der Belastung Nerz-Weibchen ihren Nachwuchs auf. Biber und Otter büßen an Gewicht ein, da sie sich nicht mehr an das Tageslicht trauen, Gänse und Enten verschwinden aus den betroffenen Gebieten.

Widerstand

Die Innu wehren sich gegen die Inbesitznahme ihres Lebensraumes. Seit den Achtzigerjahren wurden Aktionen durchgeführt. So besetzten sie mehrmals den Bombenabwurfplatz, die Startbahn des Stützpunktes in Goose Bay und klagten vor kanadischen Gerichten. Zusammen mit internationalen Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen wird weiter daran gearbeitet, daß das Tieffluggelände geschlossen wird.

„Innu Nation“', Postoffice Box 119; Sheshatshiu, Labrador, AOP 1 Mo Cananda; Tel.: 001/709/4978398, Fax: 001/709/4978396; Für diesen Text haben wir mit Dank Informationen der „Gesellschaft Für bedrohte Völker“ verwendet, die Redaktion.

zum Anfang | Ökologische, pazifistische und regionalpolitische Argumente
FREIe HEIDe als Focus der Friedensbewegung

von Knut Krusewitz

Die Auseinandersetzung um eine FREle HEIDe ist aus mehreren tatsächlichen, aber auch potentiellen Gründen von erheblichem regionalen und überregionalen Interesse.

Ich rede zunächst über tatsächliche Gründe.

1. Die Auseinandersetzung verweist auf einen Strukturkonflikt zwischen Militär, Ökologie und Regionalbevölkerung, auf einen friedenspolitisch beachtlichen Fall also, im dem nicht bloß marginale, sondern grundsätzliche militärische, ökologische und gesellschaftliche Belange konfliktär bearbeitet und verhandelt werden.

2. Der Konfliktverlauf in der Ostprignitz hat die brisante Frage nach dem Primat des Militärischen oder des Zivilen ins öffentliche Bewußtsein gehoben.

Mit ihrem rechtswidrigen Einmarsch in die Ostprignitz im Jahre 1994 hat die Bundeswehrführung den Primat des Militärischen über das Zivile vorläufig durchgesetzt.

Streitig ist seither, ob in Brandenburg militärische Sonderinteressen von Luftwaffe, Heer und Rüstungsindustrie privilegiert werden dürfen gegenüber zivilen Mehrheitsinteressen an einer sozial und ökologisch sinnvollen Konversion des „Bombodroms Wittstock“, eines vormaligen Kriegsübungsgebietes der Westgruppe der Sowjetischen Armee.

Dieser Strukturkonflikt zielt auf den Kernbestand unserer Demokratie, denn der Primat der Politik gegenüber dem Militär zählt zu den unaufgehbaren Errungenschaften der deutschen Nach kriegspeschichte.

3. Daraus resultiert die Frage, wie lange die Mehrheit der Regionalbevölkerung wirksam Widerstand leistet gegen die rechtswidrige Privilegierung militärischer Sonderinteressen gegenüber allgemeinen gesellschaftlichen Belangen, wozu vorrangig pazifistische und ökologische gehören. Die Genese des regionalen Widerstands ist zweifellos von erheblichem überregionalen Interesse.

4. Der Konflikt um die Einrichtung eines Kriegsübungsgebietes für die Bundeswehr in der Ostprignitz hat überdies das komplexe Problem aufgeworfen, wie die Betroffenen bei Militärplanungen die Einhaltung demokratischer Spielregeln und verfahrensrechtlicher Transparenz zwischen Bund, Land, Kreis und Gemeinden friedenspolitisch einfordern und gegebenenfalls rechtlich durchsetzen können.

Das kostspielige Einklagen von Rechten vor Verwaltungsgerichten kann jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluß sein, weil es nicht Verallgemeinbar ist.

5. Der Strukturkonflikt im Kreis Ostprignitz-Ruppin gibt Anlaß, unter den veränderten militärstrategischen Bedingungen von NATO und Bundeswehr über die Handlungsfelder regionaler Friedensarbeit erneut zu befinden.

Regionale Friedensarbeit kann sich nicht mit der Abwehr von Militärplanungen begnügen, sondern sie muß eigenständige Beiträge zur sozialgerechten und umweltverträglichen Regionalentwicklung leisten.

In unserem Fall geht es um ein Konversionsprogramm für den Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock, das allerdings mehr beinhalten müßte als die bisher vorherrschende Forderung nach Wideraufforstung der devastierten Militärflächen.

6. Die Aktivitäten der FREIe HEIDe haben die Problematik von politischen und administrativen „Abwägungsverfahren“ erneut bewußt gemacht. Hier geht es um das rational nicht lösbare, aber praxisrelevante Problem, wie Belange der „Verteidigung“ gegen Belange der „nachhaltigen Nutzung“ der Region Ostprignitz „abgewogen“ werden sollen. Kriegsplanungen und nachhaltige Regionalplanung in der Ruppiner Heide (und anderswo) sind unvereinbar, weil sie sich sachlich und logisch wechselseitig anschließen. Materiell ist deshalb die Frage streitig, ob es überhaupt möglich ist, das Interesse von Luftwaffe und Heer, die Ostprignitz als Kriegsübungsgebiet für weltweite Militäreinsätze zu nutzen, mit dem Interesse der Bevölkerung in den Anrainergemeinden an einer dauerhaft umweltverträglichen und sozial verträglichen Regionalentwicklung rational abzuwägen.

Bei zivilen Abwägungsfaktoren geht es beispielsweise um

– die Konversion des Bombodroms in die Beispiellandschaft einer nachhaltigen Regionalentwicklung,

– Sanierung der militärischen Altlasten,

– die Überwindung der regionalen Strukturschwäche,

– Kommunale Planungs- und Entwicklungsrechte

– sowie die Fortentwicklung der regionalen Friedenskultur.

– Wer militärische Nutzungsinteressen im Abwägungsverfahren höher bewertet als zivile, muß dann auch die fatalen Folgen für eine nachhaltige Regionalentwicklung der Ostprignitz rechtfertigen.

Die regionale Strukturschwäche würde verlängert, unproduktive zivil-militärische Arbeitsplätze müßten weiterhin alimentiert werden, die gesundheitsbedrohenden alten und neuen Militärlasten blieben dauerhaft erhalten und die militärische Ressourcennutzung in der Region würde zivile Ansprüche beschneiden. Fazit: Die Militarisierung der Ostprignitz würde ihre nachhaltige Entwicklung verhindern.

Die Militärpräsenz in der Region beeinträchtigt keineswegs nur ihre räumlichen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungsmöglichkeiten, sondern sie gefährdet auch die regionale Friedenskultur. Die BI FREIe HEIDe hat mehrfach den Nachweis erbracht, daß die Bundeswehr und ihre ideologischen Dolmetscher in der Region die bereits vorhandenen und Verhaltensdispositionen verstärken, wonach kriegerische Gewaltanwendung als normale Äußerungsform national- und bündnisstaatlichen Konfliktverhaltens gilt. Wie soll Unvereinbares – Kriegskultur auf der einen Seite, Friedenskultur auf der andern – überhaupt im gesetzlich vorgeschriebenen Abwägungsverfahren vergleichbar gemacht werden?

Dies sind, wie gesagt, Problemstellungen, die von der BI FREIe HEIDe und ihren Kooperationspartnern bereits bearbeitet werden, woraus ihre tatsächliche regionale und überregionale Bedeutung resultiert.

Es gibt aber auch Themen und Problemstellungen, die erst noch zu bearbeiten wären, woraus sich ihre potentielle Bedeutung ergibt.

Ich rede deshalb jetzt über solche Problemstellungen.

1. Wichtige Themen und Ziele der ostprignitzer Friedensarbeit sind verallgemeinerbar.

Ihre ProtagonistInnen versuchen, durch theoretische und praktische Anstrengungen alle Aktivitäten in der Region zu bündeln,

– die zur sozialenGerechtigkeit,

– zur naturverträglichen Regionalentwicklung

– und zur Völkerverständigung beitragen,

– um dadurch Frieden zu schaffen.

2. Der Strukturkonflikt zwischen Region, Militär, Ökologie und Frieden zwingt uns, seine Konstellation kritisch-aufklärerisch zu Ende zu denken. Dies Argument besagt erst einmal nur: Für diesen Konflikt

– gibt es keine Lösung vom Typ „sowohl als auch“,

– sondern nur eine vom Typ „entweder oder“.

Ich verweise auf die „Rio-Deklaration“ der Vereinten Nationen vom Juni 1992. Von ihren siebenundzwanzig Grundsätzen sind für unseren Kontext die Normen 1, 8, 24 und 25 von erheblichem Interesse. Ich zitiere sie wegen ihrer Bedeutung vollständig.

GRUNDSATZ 1: „Die Menschen müssen bei allen Bemühungen, eine nachhaltige, die Umwelt nicht zerstörende Entwicklung („sustainable development“) zu sichern, im Zentrum stehen. Sie haben das Recht auf ein gesundes und produktives Leben in Harmonie mit der Natur.“

GRUNDSATZ 8: „Um eine nachhaltige Entwicklung und eine bessere Lebensqualität für alle Menschen zu erreichen, sollten die Staaten nicht tragfähige Strukturen in Produktion und Verbrauch vermindern und beseitigen.“

GRUNDSATZ 24: „Krieg zerstört die Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung.“

GRUNDSATZ 25: „Frieden, Entwicklung und Umweltschutz hängen eng miteinander zusammen und sind unteilbar.“ (Altner, Hrsg., 1992, S. 279 ff.)

Diese Grundsätze lassen sich unschwer zu einem pazifistischen Einwand gegen die Militärpräsenz in der Ostprignitz und anderswo bündeln:

Nicht erst Kriegsführung, sondern bereits Kriegsvorbereitung und Kriegsübung – der militärstrategische Zusammenhang – Destruieren die „Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung“ dieser Region.

Die methodische Implikation des Arguments vom aufklärerischen Zu-Ende-Denken besagt immerhin:

Die Entwicklungskomponenten Regionalökonomie, Ökologie und Frieden müssen ursächlich zusammengedacht werden. Sie sind sachlich und logisch als notwendige Einheit zu begreifen und dürfen deshalb politisch nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. (Krusewitz, 1995)

Und ihre praktische lautet: Planung und Übung von Kriegen sind notwendige Bestandteile des Militärkomplexes aus Staatsbürokratie, Rüstungskapital, Streitkräften, Wissenschaftsbetrieb und Massenmedien, einer Symbiose, die wohl außer der Bundeswehrführung niemand zu den „tragfähigen Strukturen in Produktion und Verbrauch“ rechnen dürfte. Die Ostprignitz liefert deshalb den regionalen Anschauungsunterricht für die Berechtigung der pazifistischen These, wonach eine Kulturlandschaft nicht gleichzeitig als nachhaltige Modellregion und als Kriegsübungslandschaft entwickelt werden kann.

3. Aus dieser Einsicht ergibt sich der Schwerpunkt zukünftiger Friedensarbeit in der Region.

Der ehemalige Schieß- und Bombenabwurfplatz sollte zur Beispiellandschaft für die im Rahmen der Vereinten Nationen geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung umgestaltet werden.

Zur Erinnerung

Durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro ist die umfassende Zielbestimmung „sustainable development“ (nachhaltige Entwicklung) als wegweisende Programmatik für die Bewältigung der gemeinsamen Zukunft der Menschheit für die internationale Völkergemeinschaft verbindlich geworden.

Die regionale Umsetzung dieser vorbildlichen Konzeption blieb bislang in der Bundesrepublik auf UNESCO-Biosphärenreservate beschränkt. Diese im Aufbau befindlichen Biosphärenreservate spielen als Modellandschaften einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung eine hervorragende Rolle. Sie können sich deshalb als Beispiele für die im Rahmen der „Agenda 21“ der Vereinten Nationen heute weltweit geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum profilieren.

Biosphärenreservate sollen nicht zuletzt die Entwicklung und Wiederherstellung von Kulturlandschaften wie der Ruppiner Heide fördern. Diese UNESCO-Modellandschaften dienen also der theoretischen, praktischen und ethischen Neugestaltung der Beziehung der Menschen zur Natur. In dieser Zielstellung sind allerdings dauerhaft strategische Konflikte angelegt.

Nachhaltig ist eine Regionalentwicklung nämlich erst dann, wenn sie die Herausbildung sozialgerechter, naturverträglicher und friedensfördernder Arbeitsformen, Wirtschaftsektivitäten und Lebensstile fördert und verstetigt.

Das überragende pazifistische Potential dieses Verständnisses von Nachhaltigkeit für die emanzipatorische Friedensarbeit in der Ostprignitz Ware aber friedensdidaktisch erst noch zu erschließen.

Knut Krusewitz ist Hochschullehrer an der TU Berlin im Fachbereich Umwelt und Gesellschaft und Leiter der Rhöner Friedenswerkstatt

zum Anfang | Das geht uns alle an, denn das weltweite Konzept der Bundeswehr muß die Betroffenen organisieren.

von Ulrich Görlitz

Die Menschen zwischen Wittstock, Rheinsberg und Ruppin kämpfen nicht nur für ihre eigene und ihrer Familie Gesundheit, nicht nur, um wieder Land- und Forstwirtschaft zu betreiben, nicht nur für direkte Besuchswege statt 30 km Umweg, die das Auto notwendig machen. Nein, sie wissen genau, daß das, was hier geschehen soll, auch anderen nicht zumutbar ist, nicht nur wegen der persönlichen Leiden, sondern wegen der Verbrechen gegen die Menschheit, an denen hier gearbeitet werden soll. Diese Verbrechen heißen Krieg, den wir möglich machen, wenn wir still ertragen, ohne unser Recht auf Leben und Gesundheit mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Das Stillhalten in diesem Lande hat wiederholt für andere Menschen das Hundertfache an Leiden ermöglicht.

Die Regierenden einschließlich ihrer Generalität sind nicht etwa der Auffassung, dieses Land müsse gegen militärische Angriffe verteidigt werden. Das war bisher, so unsinnig das für ein hochindustrialisiertes Land ist, die Legitimierung von Rüstung, wen Militär überhaupt. (Was hätten Ciba-Geigy, BASF oder ein AKW für Sarajevo bedeutet?) Merkwürdigerweise sind Kriege nach solcher Rüstung dann doch „ausgebrochen“. Militärische Feinde müssen sie uns nicht mehr suggerieren. Die ethikfreie Wertung von Lebensstandard erlaubt es, bereits dessen Bedrohung zum Verteidungsfall zu erklären.

„Verteidigung“ gegen wen, bitte? Gegen Industriekonkurrenten in den USA, in Japan oder gar in anderen europäischen Ländern? Keineswegs, die haben sich in NATO bzw. SEATO zur Wahrung gleicher Interessen zusammengetan und ihr Kapital konkurriert längst grenzüberschreitend ohne wechselseitige Vernichtung. Gegen wen also Krieg? Gegen unbotmäßige Rohstoffländer mit meist verarmtem Staatsvolk, gegen Länder, die sich dem „freien Markt“ der Industrieländer entziehen wollen, gegen Länder, die derzeit schon die meisten Flüchtlinge „liefern“. (Dieser „Rohstoff Arbeit“ schafft selbst den Industriestaaten schon genug Verteilungsprobleme.) Krieg allerdings erst, wenn die wirtschaftliche und politische Repression versagt, aber dann rentiert sich das „Bombodrom“ bei Wittstock.

Sie planen also Krieg zur Aufrechterhaltung der derzeitigen ungleichen Güterverteilung mit allen Konsequenzen fortgesetzter Zerstörung dieses Globus. Spätestens seit Milosevic und Tudjman ist militärische Problemlösung obsolet. Dennoch wird Angriff geübt. Art. 26 GG verbietet aber die Vorbereitung eines Angriffskrieges, stellt sie unter Strafe, also wird wieder Verteidigung behauptet. Die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen enthielt auch Hitlers Schlagwort „Volk ohne Raum“.

Damit diese in weltweitem Maßstab blitzkriegartig möglich wird, ist in der NATO die Strategie der „schnellen Eingreiftruppe“ entwickelt worden. Außerdem behält sich die NATO den Ersteinsatz von A-Waffen vor. Beides macht die Angriffsbereitschaft als Drohung deutlich. Dennoch gilt die NATO als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, dem beizutreten der Art. 24 GG erlaubt. Offensichtlich konnten sich „die Väter des Grundgesetzes“ nicht vorstellen, daß so ein System gegenüber Nichtmitgliedern angriffsbereit sein könnte. Das Verfassungsgericht hat bei der Freigabe der Bundeswehr für weltweite Einsätze keinen Anstoß an diesen Tatsachen genommen. Recht ist der Macht sogar hierbei nachrangig.

Das eigentliche Interesse für Krieg und Rüstung wird in Industrie- und Kapitalkreisen gehegt, wie schon die Aufgabenbeschreibung der neuen Bundeswehr offenbart. Das zeigt auch, neben anderen Projekten, der „Eurofighter“, einst „Jäger 90″. Zur Hochzeit des Kalten Krieges geplant, schon in den Achtzigern fragwürdig, gibt es keinen belegbaren Bedarf mehr, nur industrie- und wissenschaftspolitische Argumente. Er muß auf dem freien Mark verkauft werden, weil er sonst zu teuer wäre. Bei Übung und Verkaufsvorführung wird er hier bei Wittstock, bei Nordhorn, in Texas oder in Kanada sinnlos Menschen quälen und Natur zerstören.

„Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ (Art. 25 GG) Unser aller Pflicht ist, die Realität zu verändern. Seit 1928 gilt allgemeines Kriegsverbot, das auch in die UN-Satzung (Art. 2 Nr. 4) als Gewaltverbot eingegangen ist. Nur Verteidigung wird den Staaten als „naturgegebenes Recht“ zugestanden. Was die Bundeswehr als „vitale“ Sicherheitsinteressen Deutschlands „verteidigen“ will, u.a. die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“, rechtfertigt gemeinsames Völkerrecht allenfalls wirtschaftliche und politische Repression, nicht militärische Aktionen. Es gibt keinen legitimen Weltpolizisten, schon gar keinen deutschen, auch nicht im NATO-Verbund!

Das friedliche Zusammenleben der Balkenvölker ist nicht im Tiefflug herbeizubomben. Die „humanitären Einsätze“ der Bundeswehr in Somalia und Kambodscha erforderten nicht das Zielwerfen von Medikamenten und Nahrung im Tiefflug. Die Bundeswehreinsätze dort waren und sind Instrumente der psychischen Gewöhnung des Staatsvolkes an unbegrenzte Bundeswehreinsätze. Hier bei Wittstock wird für die NATO-Planung gebombt, evtl. für Pläne des deutschen Stabes. Beide enthalten den Angriffskrieg einschließlich der Übung des A-Waffen-Abwurfes. Das ist völkerrechtswidrig. Betroffen sind bei solchem Angriff aller Erfahrung nach fast ausschließlich „Nichtkombattanten“, Zivilisten, und bei den Übungswürfen dafür die Menschen der Region östlich und süd-östlich von Wittstock. Völkerrecht und Bundesrecht ermutigen und verpflichten uns zum Widerstand, zum Versuch Luftbombardements unmöglich zu machen. Es ist nötig, diese Haltung über die Grenzen dieses Staates hinweg bekanntzumachen. Eine Welt ohne Krieg muß kein Traum bleiben.

Ulrich Görlitz engagiert sich in der Berlin/Potsdamer UnkrstützerInnengruppe für die FREIe HEIDe

zum Anfang | Kontaktanschriften der BI FREIe HEIDe

Kontaktadressen. Bernd Lüdemann, Ringstr.24, 16909 Wittstock, Tel.: 03394-433298

Vorstandsvorsitz: Helmut Schönberg, Tannenstr.12, 16909 Schweinrich, Tel.: 033966-60246

Pressekontakte: Annemarie Friedrich, Strandweg 3, 16837 Flecken, Zechlin

Benedikt Schirge, Dorfstr. 27, 16831 Zühlen, Tel.: 033931-2338

R. Lampe, Anger 9, 16837 Dorf Zechlin, Tel.: 033923-70469

Spendenkonto der BI FREIe HEIDe

H. Schönberg, Konto-Nr. 1680000167

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ: 16050202)

Unter dem Stichwort „Freie Heide“

Spendenkonto für Prozeßkosten

BI FREIe HEIDe, Kto-Nr. 162 1012022

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ 16050202)

Materialien zur FREIen HEIDe

Die Berlin/Potsdamer UnterstützerInnengruppe FREIe HEIde hat verschiedene Materialien erstellt, die bestellt werden können (c/o Verein Freie Kultur Aktion, Rathenower Str. 22, 10559 Berlin, Tel./Fax: 030-3946167):

– Reader zum Widerstand (48 Seiten): 5,- DM

– Diaserie zur FREIen HEIDe (50 Dias mit Text): 15,- DM (und 200,- DM Kaution)

– Aufkleber: 1,- DM

– Luftballon: -,50 DM

– Postkarten (10 versch. Motive) je Stück: 1,- DM

– Bürgerinnen-Information zur FREIen HEIDe, A5-Heftchen, gegen Vorausszahlung per Scheck oder Schein (10 Expl. DM 10,-, 25 Expl. DM 20,-; 50 Expl. DM 35,-) zu bestellen: Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 64759 Sensbachtal

Materialien zu Truppenübungsplätzen und Konversion

– Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 19, „Ökologie und Militär, Truppenübungsplatz als Biotop?“, Preis: 3,- DM zu bestellen bei W&F, Reuterstr. 44, 53113 Bonn, Tel.0228/210744, Fax: 0228/214924

– „Bericht der Landesregierung zur Realisierung des ihr durch den Landtag bezüglich des Truppenübungsplatzes Wittstock erteilten Auftrages“ (Drucksache 1/1993) in Ausführung des Beschlusses des Landtages Brandenburg vom 18. November 1994 (Drucksache 2/45-B), 24 Seiten, 4 DM Kopierkosten + Porto beim Netzwerk

– Kleines Infopaket zu den Tiefflügen Goose Bay (Kanada), 4 DM Kopier- und Versandkosten beim Netzwerk

Materialien zur out-of-area-Politik

Das Netzwerk Friedenskooperative hat in Zusammenarbeit mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie eine aktuelle Materialien-Zusammenstellung zur „out-of-area“ Politik der Bundesregierung/Bundeswehr erstellt. Die Texte sind zum Preis von DM 10,- incl. Porto zu bestellen. Hier sind auch zahlreiche weitere Informationen zu Themen und Kampagnen der Friedensbewegung erhältlich:

Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88,

53111 Bonn, Tel.: 0228/692904.

zum Anfang | Was tun für die FREIe HElDe!

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten (und Notwendigkeiten), die FREIe HEIDe und die anderen Initiativen, die sich gegen Schießplätze und die out-of-area-Planungen der Bundeswehr wehren, zu unterstützen.

Finanzielle Unterstützung für die Prozeßkosten, aber auch für die Arbeit der BI ist natürlich sehr wichtig (siehe die beiden Spendenkonten). Der bundesweite Kongreß zu Wittstock im Oktober 1996 wie die BI FREIe HEIDe halten die Einrichtung eines BI-Büros für die Stabilisierung der Arbeit und zur Koordination der Kontakte zu den vielen Gruppen, die sich für den Widerstand gegen das Bombodrom interessieren, für unbedingt erforderlich. Die geplante „Heidewerkstatt“ bräuchte einen Sponsorenkreis, der regelmäßig etwa DM 6.000,- pro Monat abdeckt.

Die BI lädt ein, an den regelmäßigen Protestwanderungen wie auch bei Sommeraktionstagen und den vielen weiteren Veranstaltungen teilzunehmen (Termine bei den Kontaktadressen erfragen). Aber das Bombodrom und der Widerstand dagegen kann und soll auch in vielen anderen Regionen thematisiert und ,zur eigenen Sache“ gemacht werden. Vertreterinnen der BI sind bereit, zu Informationsveranstaltungen in andere Orten zu kommen, eine Ausstellung und eine Diaserie können ausgeliehen und weitere Informationsmaterialien für die eigene Öffentlichkeitsarbeit angefordert werden.

Man könnte von der eigenen Gruppe aus eine Partnerschaft mit der BI schließen oder das eigene Gemeindeparlament zu einem solchen Beschluß drängen. Ein wichtiges Symbol für die FREIe HEIDe sind die an verschiedenen Orten der Heide von Solidaritätsgruppen aufgestellten Mahnsäulen. Für weitere ist noch genug Platz! Und die BI freut sich immer über Besuche von Partnergruppen und solchen, die es werden wollen.

Für die ganze Region schließlich ist auch der private Besuch, der Urlaub in der schönen, gastlichen Gegend so wichtig wie weitere mit der Idee einer ökologischen Musterlandschaft verträgliche Investitionen und Neuansiedlungen.

Dies gerade auch, um schon in der zeitlichen ,Hängepartie“ bis zur letzten Instanz der Prozesse den Menschen der Region deutlich zu machen, daß ein ziviler Aufbau und die Attraktivität für an Fluglärm nicht interessierte Touristinnen auch ökonomisch nützlicher ist als vermeintliche Arbeitsplätze bei der Bundeswehr.

Ihre/Eure eigenen Ideen zur Unterstützung sind bei der BI immer willkommen. Gemeinsam können wir dem Militär den Boden entziehen!

Impressum: Gemeinsame Beilage der Zeitschriften Friedensforum, Graswurzelrevolution und Wissenschaft & Frieden, in Zusammenarbeit mit der Stiftung Brandung – Werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung, Lindenstr. 53, 14467 Potsdam, Tel./Fax: 0331/292092
Redaktion: Kristian Golla, Martin Singe, Mani Stenner (V.i.S.d.P.), c/o Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 53111 Bonn Tel. 0228/692904, Fax: 0228/692906 E-Mail: friekoop@link-k.cl.sub.de Internet: http://www.friedenskooperative.de

»Networking« für den Frieden

»Networking« für den Frieden

von Reiner Braun

»Networking« spielt in den Diskussionen der NGOs zunehmend eine immer größere Rolle. Es geht darum, durch Zusammenarbeit Synergieeffekte für bestimmte Projekte zu erreichen. International Networking ist geradezu ein Hit, um durch internationale Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen effektiver auf politisch-gesellschaftliche Prozesse einzuwirken.

Erfolge sind dabei auf den großen internationalen Kongressen sicherlich festzustellen, durchschlagende Änderungen hat Networking aber noch nicht bewirkt. Das gilt auch für INES – das »International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility«.

INES – ein Netzwerk von mehr als 90 wissenschaftlichen Ingenieursorganisationen aus 40 Ländern bringt vieles gedanklich zusammen, kann inhaltliche Diskussionen vorantreiben, kann vernetzend helfen – aber politisch Einfluss nehmen konnte es bisher nur in geringem Maße.

INES wurde gegründet auf dem Challenges-Kongress 1991 in Berlin und arbeitet als gemeinnützige Organisation, die sich für einen verantwortlichen Gebrauch von Wissenschaft und Technik einsetzt. Die Ziele und Projekte von INES umfassen Abrüstung und internationalen Frieden, ethische Fragen und eine gerechte nachhaltige Entwicklung. Ein Schwerpunkt der Arbeit von INES liegt in der internationalen Vernetzung von IngenieurInnen und WissenschaftlerInnen. Dem dienen auch die alle fünf Jahre stattfindenden internationalen Kongresse. Bei dem diesjährigen Kongress in Stockholm ging es vor allem um Fragen von Wissenschaft und Zukunftsfähigkeit.

Zum zweiten kümmert sich INES intensiv um nukleare Abrüstung. Dabei geht es besonders um Fragen der Proliferation, um nukleare Abrüstung und mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Das International Network of scientists and engineers against proliferation – eine Arbeitsgruppe von INES – hat maßgeblichen Anteil daran, dass es den Vorschlag für Nuklearwaffenkonventionen gibt. Für INES ist es eine Selbstverständlichkeit mit anderen Netzwerken zusammen zu arbeiten. So auch mit dem Netzwerk Abolition 2000, in dem sich mehr als 2000 Organisationen aus aller Welt zusammengefunden haben.

Die Unterstützung der »Whistle-blower« – die aus ethischer Verantwortung die Arbeit verweigern bzw. über Arbeiten informieren, die den Frieden, die Umwelt oder die Zukunft gefährden – ist ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit von INES. So unterstützt INES die russischen Wissenschaftler Dr. Nikitin und Dr. Mesajanov, die die Öffentlichkeit über die unsachgemäße Lagerung von Atommüll bzw. über die Nichteinhaltung der Chemiewaffenkonvention informierten und deshalb verfolgt werden. INES hat einen eigenen Fonds gegründet um diese Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen.

Neben den inhaltlichen Projekten befasst sich INES aber auch mit humanitären Fragen. INES vergibt das »Robert Havemann-Stipendium« an russische WissenschaftlerInnen, die vor ihrem Diplom oder ihrer Promotion stehen. Die Erfahrung zeigt, dass für alle StipendiatInnen die Unterstützung unbedingt notwendig war, damit diese ihre Arbeiten fertig stellen konnten.

Ein weiteres humanitäres Projekt ist die Unterstützung der Universität von Kapmandu mit technischem Equipment. Eine Universität, die bis vor kurzem keinen einzigen PC kannte und wo die Lehrbücher im Wesentlichen aus den 50er Jahren waren.

Viele internationale Organisationen haben ein Strukturproblem. Sehr leicht dominieren eine oder wenige Personen, es setzt sich ein undemokratisches »Führungsprinzip« durch. Dem begegnet INES durch eine strikte Beachtung demokratischer Prinzipien in allen Entscheidungsstrukturen. Dazu gehört das Council, in dem alle Mitgliedsorganisationen durch eine Vertreterin/einen Vertreter repräsentiert sind sowie einige individuelle Mitglieder (namhafte Persönlichkeiten wie z.B. Nobelpreisträger Josef Rothblatt). Dazu gehört, dass das Excecutive Commitee, die auf den Council-Sitzungen beschlossenen politischen Beschlüsse umsetzt und auch die Finanzen kontrolliert.

Ziel von INES ist und bleibt es, Wissenschaft und Zukunftsfähigkeit, Wissenschaft und Abrüstung sowie Wissenschaft und Ethik zusammenzuführen; auf PolitikerInnen und Öffentlichkeit einzuwirken um eine zukunftsfähige Politik durchzusetzen und dazu mit allen zusammen zu arbeiten, die sich für Frieden und Umwelt engagieren.

In diesem Zusammenhang kommt der von INES geführten DataBank zu Sustainable Development eine besondere Bedeutung zu. Aus der sozialen Weltlage ergibt sich, dass diese DataBank auch die Frage der »social dimension of sustainability« besonders gewichten muss, schließlich legt INES großen Wert auf die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen, von Institutionen, die sich in den Ländern des Südens mit der Problematik »Sustainability« beschäftigen, in Ländern, in denen Armut, Hunger, Unterernährung und Massenarbeitslosigkeit verhindern, dass diese Diskussion gesellschaftsfähig wird.

Es wäre ein großer Erfolg, wenn mit Hilfe dieser DataBank die Sustainability-Debatte weltweit einen neuen Impuls erhalten würde.

Reiner Braun ist Geschäftsführer der NaturwissenschaftlerInnen-Initative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit« und von INES

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

von Lawrence S. Wittner

Manche Beobachter geben sich sicher, dass die nächste Runde im »Krieg gegen den Terror«, ein Angriff gegen den Iran, längst beschlossene Sache ist. In der Tat formiert sich hinter dem Obersten Kriegsherrn im Weißen Haus augenscheinlich eine ganz große Koalition der Willigen. In dieser Situation drängt sich die Titelfrage des vorliegenden Beitrags mit besonderer Dringlichkeit auf. Mit einem genaueren Blick in die US-amerikanische Geschichte zur Beantwortung dieser Frage stellt der Autor klar, dass auch die mächtigsten Kriegsherren die Schwachstelle »öffentliche Meinung« haben und an dieser Achillesferse zu fassen sind.

Die Rolle von Friedensaktivismus bei der Beendigung von Kriegen der USA hat noch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Obwohl Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten US-amerikanische Friedensbewegungen ausgiebig untersucht haben, wissen wir wesentlich mehr über deren Organisationsgeschichte als über ihren Einfluss auf die Politik. Demnach kann ich hier nur einen vorläufigen Bericht geben.

Krieg – das Ende von Friedensbewegungen?

Ich möchte mit den provokativen Kommentaren mancher Beobachter beginnen, wonach Kriege eher zum Ende von Friedensbewegungen führen als umgekehrt Friedensbewegungen zum Ende von Kriegen. Das ist tatsächlich bisweilen der Fall. Aufgrund der Stärke des Nationalismus sammeln sich viele Leute hinter der eigenen Fahne, sobald ein Krieg erklärt ist. So nimmt es nicht Wunder, dass durchaus starke US-amerikanische Friedensbewegungen mit Eintritt der Vereinigten Staaten in den Bürgerkrieg und den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammenbrachen. In jüngerer Zeit lassen Umfragen erkennen, dass in den USA die Orientierung auf Frieden wesentlich (wenn auch nur vorübergehend) abnahm mit dem Eintritt in den Vietnam-Krieg, den Golf-Krieg und den Irak-Krieg. Auch hat gezielte regierungsamtliche Unterdrückung in Kriegszeiten – z.B. während des Ersten Weltkriegs –Friedensbewegungen geschwächt oder zerstört.

Hinzu kommt, dass Friedensbewegungen, auch wenn sie eine Kriegszeit überdauerten, nicht immer sehr effektiv gewesen sind. Der Krieg von 1812 mag (wie Samuel Eliot Morison behauptet hat) der unpopulärste Krieg in der Geschichte der USA gewesen sein.1 Jedenfalls löste er eine Flut von Kritik aus, vor allem im Nordosten. Aber die zahlreichen öffentlichen Verurteilungen dieses Krieges konnten ihn nicht stoppen. Das gleiche Phänomen ist im Falle der »Pazifizierung« der Philippinen im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zu beobachten. Obwohl eine starke Anti-imperialistische Liga diesen Krieg (mit Hunderttausenden getöteten Filipinos und 7.000 Opfer auf US-Seite) konsequent in Frage stellte, tobte er sich aus bis zum militärischen Sieg der USA.

Gegenbeispiele

Es gibt andererseits Beispiele dafür, dass die Friedensbewegung US-Kriegen ein Ende gesetzt hat. Der Krieg gegen Mexiko in den 1840er Jahren ist ein solcher Fall. Von Anfang an verschrien als Eroberungskrieg und als Krieg für die Sklaverei, setzte der Mexiko-Krieg eine bemerkenswert starke Oppositionsbewegung in Gang. Zwar verlief dieser Krieg auf der militärischen Ebene sehr erfolgreich für die Vereinigten Staaten und Präsident Polk forderte die Annexion von ganz Mexiko. So sah er sich hereingelegt, als sich sein Verhandlungsführer, Nicholas Trist, seinen Instruktionen widersetzte und einen Vertrag unterschrieb, der lediglich die Annexion von etwa einem Drittel Mexikos vorsah. Angesichts des heftigen öffentlichen Widerspruchs hielt er es jedoch nicht für möglich, den Krieg bis zur Einnahme ganz Mexikos fortzusetzen. Widerstrebend zeichnete er Trists Friedensvertrag gegen, so dass der Krieg zu Ende ging.

Als weiteres Beispiel für die Wirksamkeit der Friedensbewegung kann deren Rolle im Vietnam-Krieg gelten. Gegen Ende 1967 wurde, wie Lyndon Johnson sich erinnerte, „der Druck so groß“, dass Verteidigungsminister Robert McNamara „nachts nicht schlafen konnte. Ich befürchtete einen Nervenzusammenbruch.“ Johnson selbst schien besessen von dem Widerstand, den seine Kriegspolitik hervorgerufen hatte. Gespräche mit Kabinettsmitgliedern eröffnete er mit der Frage: „Warum seid ihr nicht unterwegs zum Kampf mit meinen Gegnern?“ Nachdem McNamara zurückgetreten und Johnson selbst durch eine Revolte innerhalb seiner eigenen Partei aus dem Amt gejagt war, steckte die Nixon-Administration, wie Henry Kissinger klagte, „zwischen dem Hammer Kriegsgegner und dem Amboss Hanoi.“ Kissinger notierte: „Das Regierungsgefüge fiel auseinander. Die Exekutive steckte in einer Kriegsneurose.“ Und weiter: „Die Kriegs- und Friedensproteste zerbrachen das Selbstvertrauen, ohne das eine Führungselite ins Stolpern gerät.“ In einer sorgfältigen, gut recherchierten Studie (Johnson, Nixon, and the Doves) gelangte der Historiker Melvin Small zu dem Schluss, dass „die Anti-Kriegsbewegung und die Kriegskritik in den Medien einen wesentlichen Einfluss auf die Vietnam-Politik von Johnson und Nixon hatten“, sie zur Deeskalation und letztlich zum Rückzug bewegten.

Ein Beispiel mehr für die Wirksamkeit der Friedensbewegung ergab sich im Kontext der entschiedenen Versuche der Reagan-Administration, die von den Sandinisten geführte Regierung Nicaraguas zu stürzen. Wie in Vietnam war die US-Regierung nicht in der Lage, ihre immense militärische Überlegenheit gegenüber einem kleinen Agrarstaat erfolgreich auszuspielen. Der Druck seitens der Bevölkerung gegen die Militärintervention in Nicaragua verhinderte nicht nur den Einsatz von Kampftruppen. Er führte auch zu einer Initiative im Kongress, die auf eine Streichung der Finanzierung der US-Platzhalter Contras durch die US-Regierung hinauslief (das Boland Amendment). Obwohl die Reagan-Administration das Boland-Amendment zu umgehen versuchte, indem sie Raketen an den Iran verkaufte und den Ertrag an die Contras weiterleitete, schlug dieses Projekt fehl und schadete den Reagananhängern mehr als den Sandinisten.

Ende des Kalten Krieges

Beachtliche Gründe sprechen auch dafür, dass letztlich die Friedensbewegung dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt hat. Der Widerstand der Friedensbewegung gegen das nukleare Wettrüsten und dessen eindeutigste Manifestation, die Atomwaffentests, führte unmittelbar zu Kennedys Universitätsrede von 1963 und im gleichen Jahr zum »Teilweisen Teststopp-Vertrag«, mit dem die sowjetisch-amerikanische Entspannung einsetzte. Kennedys Rede wurde in Teilen von Norman Cousins verfasst, Gründer und stellvertretender Vorsitzender des National Committee for a Sane Nuclear Policy, die größte amerikanische Friedensorganisation. Cousins handelt auch den Vertrag aus.

Als die angriffswillige Reagan-Administration den Kalten Krieg wiederbelebte und das nukleare Wettrüsten intensivierte, löste sie den größten Friedensaktivismus in der bisherigen Geschichte aus. In den Vereinigten Staaten gewann die Nuclear Freeeze-Kampagne die Unterstützung der wichtigsten Religionsgemeinschaften, von Gewerkschaften, Berufsgruppen und der Demokratischen Partei, organisierte die bis dato größte politische Demonstration in der Geschichte der USA und gewann die Zustimmung von mehr als 70% der Bevölkerung. In Europa kam es zu einer i.W. gleichartigen Entwicklung und im Herbst 1983 demonstrierten etwa fünf Millionen Menschen gegen die vorgesehene Stationierung von Mittelstreckenraketen. Reagan war verblüfft. Im Oktober 1983 sagte er Außenminister George Shultz: „Wenn die Entwicklung sich zuspitzt, sollte ich vielleicht (den sowjetischen Premier Juri) Andropow aufsuchen und ihm vorschlagen, alle Atomwaffen abzuschaffen.“ Shultz war entsetzt, stimmte aber zu, dass „wir die Dinge nicht laufen lassen können“.

So forderte Reagan im Januar 1984 in einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung Frieden mit der Sowjetunion und eine atomwaffenfreie Welt. Seine Berater sind sich einig, dass diese Rede den Russen seine Bereitschaft signalisieren sollte, den Kalten Krieg zu beenden und die Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Doch die sowjetische Führung war erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 bereit, sich auf Reagans Vorschläge einzulassen. Anders als seine Vorgänger war Gorbatschow, sozusagen ein Bewegungs-Konvertit, willens, initiativ zu werden. Sein »neues Denken« – worunter er die Notwendigkeit von Frieden und Abrüstung im Nuklearzeitalter verstand – war fast eine Kopie des Programms der Friedensbewegung. Wie er selbst erklärt hat: „Das neue Denken trug den Schlussfolgerungen und Forderungen der Ärzte, Naturwissenschaftler, Umweltexperten und verschiedener Antikriegsorganisationen Rechnung und nahm sie in sich auf.“ Kein Wunder, dass Reagan und Gorbatschow, angetrieben von der Friedensbewegung, sich rasch auf Atomwaffen-Abrüstungsverträge und ein Ende des Kalten Krieges hin bewegten.

Nicht geführte Kriege

Wir sollten auch an die Kriege denken, zu denen es dank des Aktivismus der Friedensbewegung nicht kam. Historiker haben die Meinung vertreten, dass die antiimperialistische Kampagne gegen den Philippinen-Krieg später US-Kriege dieser Art und dieses Umfangs verhindert hat. Sie haben auch geltend gemacht, dass der Druck der Friedensbewegung dazu beigetragen hat, 1916 einen Krieg mit Mexiko zu verhindern und die Konfrontation mit Mexiko in den späten 1920ern zu mildern. Und wie viele Kriege, so können wir uns selbst fragen, wurden verhindert durch die Durchsetzung zahlreicher Ideen und Vorschläge, die letztlich der Friedensbewegung entstammen: internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Völkerrecht, Entkolonialisierung, der Völkerbund, Abrüstungsverträge, die Vereinten Nationen und gewaltfreier Widerstand? Diese Frage werden wird wahrscheinlich nie beantworten können.

Wir wissen jedoch, dass die Friedensbewegung seit 1945 eine wesentliche Rolle bei der Verhinderung eines Krieges besonderer Art gespielt hat: eines Atomkriegs. Bei den gegebenen Platzbeschränkungen kann hier nur ein kleiner Teil der Evidenz zur Begründung dieser These dargelegt werden. Sie wird aber in meinem dreibändigen »The Struggle Against the Bomb« detailliert entfaltet.

1956 bedauerte Henry Cabot Lodge Jr., US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, dass die Atombombe „einen »schlechten Ruf«“ bekommen hat, „und zwar so sehr, dass das uns effektiv hindert, sie zu gebrauchen.“ Als später im Laufe dieses Jahres der Vereinigte Generalstab und andere Funktionsträger größere Flexibilität bei der Verwendung von Atomwaffen forderten, antwortete Präsident Eisenhower: „Die Verwendung von Atomwaffen würde angesichts des gegenwärtigen Standes der Weltmeinung gravierende politische Probleme zur Folge haben.“ Und Mitte 1957 tat Außenminister John Foster Dulles ambitiöse Vorschläge, Krieg mit Atomwaffen zu führen, bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates mit der Bemerkung ab, „die Weltmeinung (sei) noch nicht bereit, den allgemeinen Gebrauch von Atomwaffen zu akzeptieren.“

Diese Überzeugung beunruhigte US-Entscheidungsträger auch während des Vietnamkriegs, als – mit Dean Rusk gesprochen – die Kennedy-, Johnson- und Nixon-Administrationen bewusst „lieber den Krieg verloren, als ihn mit Atomwaffen zu »gewinnen«“. McGeorge Bundy, der zweien dieser Präsidenten als Nationaler Sicherheitsberater diente und dem dritten als Fachgutachter, vertrat die Meinung, dass die Entscheidung der US-Regierung, keine Atomwaffen einzusetzen, nicht auf Furcht vor nuklearer Vergeltung seitens der Russen und Chinesen basierte, sondern auf Furcht vor der verheerenden öffentlichen Reaktion, die ein Atomwaffeneinsatz in anderen Ländern und insbesondere in den USA selbst hervorrufen würde.

Zum entscheidenden Test kam es während der Reagan-Administration, als höchste Verantwortliche für die nationale Sicherheit – vom Präsidenten abwärts – bei Amtsantritt leichtzüngig davon redeten, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen. Doch diese Position änderte sich bald aufgrund der massiven öffentlichen Entrüstung darüber. Im April 1982 fing Reagan an, öffentlich zu erklären: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf niemals geführt werden.“ Und er fügte hinzu: „Denen, die gegen den Atomkrieg protestieren, kann ich nur sagen: »Ich stehe auf eurer Seite!«“

Ich fasse zusammen: Obwohl es noch viel zur Wirksamkeit der Friedensbewegung zu forschen gibt, erscheint es mir nur fair, zu sagen, dass der Friedensaktivismus der US-Außen- und Militärpolitik in zahlreichen Fällen Einhalt geboten hat.

Anmerkungen

1) Im Krieg von 1812-1814 gegen Großbritannien versuchten die US-Amerikaner vergeblich, nach Kanada vorzudringen. [Anm. d. Übers.]

Dr. Lawrence S. Wittner ist Professor für Geschichte an der State University New York/Albany und Verfasser von »Toward Nuclear Abolition: A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present«, Stanford University Press. Der vorliegende Aufsatz war ein Redebeitrag des Autors zu einem Roundtable-Forum im Rahmen der diesjährigen Jahresversammlung der American Historical Association am 7. Januar 2006 und wurde zunächst von History News Network veröffentlicht (s. http://hnn.us/articles/20367.html). Dem weniger formellen Kontext entsprechend enthält er weder Fußnoten noch Literaturnachweise. Die Redaktion wurde dankenswerterweise von Wolfgang Sternstein auf ihn aufmerksam gemacht. Besonderer Dank gilt dem Autor für die umstandslose Erlaubnis zur Veröffentlichung einer deutschen Version. Die Übersetzung besorgte Albert Fuchs.

Kritische Wissenschaft und Friedensbewegung

Kritische Wissenschaft und Friedensbewegung

Soziologische Selbstreflexion zur Stärkung der Bewegung

von Lars Schmitt

Mit seinem Beitrag in der ersten Ausgabe von Wissenschaft und Frieden 2004 präsentierte Dieter Rucht die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002. In W&F 2-04 unterzog Peter Strutynski die Befragung und ihre mediale Aufbereitung einer kritischen Betrachtung. Lars Schmitt setzt die Diskussion fort. Sein Plädoyer: Die Ergebnisse dieser Analyse als Ausgangspunkt für eine tiefere soziologische Reflexion nutzen, die emanzipatorischen Bewegungszielen nicht gegenübersteht, sondern diese fördert.

Der Beitrag von Dieter Rucht, der sich mit der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002 befasst, wurde vom Herausgeber mit den Worten eingeleitet, eine wissenschaftliche Objektivierung ginge notwendigerweise immer mit einer „Distanzierung von diesem Prozess“ des Protestierens einher und „Regierenden [würde] möglicherweise neues »Herrschaftswissen« geliefert“. Andererseits böte diese Distanzierung Möglichkeiten der „Selbstreflexion im Interesse der eigenen Aktivierung und Effektivierung.“ Die Notwendigkeit einer soziologischen Selbstreflexion soll mit dem vorliegenden Beitrag verdeutlicht werden. Dabei stellt sich als andere Seite der Medaille aber nicht die Lieferung von Herrschaftswissen an Regierende heraus. Vielmehr geht es darum, eine Bewusstheit der Eingebundenheit von kritischer Wissenschaft und sozialer Bewegung in »Herrschaft« zu erlangen, die dann dazu dienen kann, beide emanzipatorischer und anschlussfähiger zu gestalten und den selbst gestellten Ansprüchen gerechter zu werden. Sowohl der Bedarf als auch die Skizze einer soziologischen Selbstreflexion lässt sich gut an dem Beitrag von Dieter Rucht und der entsprechenden kritischen Reaktion von Peter Strutynski entwickeln.

Heterogen in der medialen Darstellung und im Erscheinungsbild entpuppt sich die neue Friedensbewegung – so Dieter Rucht – doch als das klassische Bevölkerungssegment der neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre (vgl. dazu Brand/Büsser/Rucht 1986, 217 f.): weit überdurchschnittlich gebildet, politisch links, tendenziell im sozialen Dienstleistungssektor im weitesten Sinne tätig. Damit repräsentiert sie nicht breite Bevölkerungsschichten, die politische Mitte fehlt. Grundlage für diese Argumentation bietet die Auswertung der ersten 781 von 1430 Fragebögen, die nach dem Zufallsprinzip an Berliner Demonstrierende des 15.2.03 verteilt wurden. Daraus kann man ableiten, dass sich hier nicht die »sozial Abgebautesten« mobilisieren. Dieser »quantitativen« Darstellung setzt Peter Strutynski in Heft 2-2004 eine »qualitative« entgegen. Es sei, so Strutynski, keine Überraschung, dass sich die Friedensproteste sozialstrukturell so darstellen. Es gebe große Bevölkerungsteile, denen das Instrument des Demonstrierens fern liege. Dies bedeute aber nicht, dass die Proteste nicht repräsentativ seien. Im Gegenteil: ebenso große Bevölkerungsanteile – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den am Krieg direkter beteiligten Staaten – lehnten bekanntlich den Krieg ab.

Sind diese Demonstrationsszene und die dazu vorgelegten Interpretationen nun ein Indiz für den Protestwunsch breiter Bevölkerungsteile oder für den Protest einer »sozialen Elite«?

Die Antwort lautet: Beides – und führt uns zu einer weiteren Frage, die vielleicht eine wichtigere Verbindung von Friedensbewegung und soziologischer Beobachtung thematisiert. Viele Menschen erfahren ein „alltägliches Leiden an der Gesellschaft“ (Bourdieu 1997) und haben Gründe zu protestieren. Dieses Leiden äußert sich bestenfalls in »Stimmungsbildern«, wird aber nur bei bestimmten Anlässen von einem bestimmten Bevölkerungssegment in eine als »sozialer Protest« wahrnehmbare Form umgesetzt. Woran liegt das? Oder – um es plakativ abzubilden – anders gefragt: Warum scheint der Teamchef der deutschen Fußballnationalmannschaft, Rudi Völler, mehr Menschen aus der Seele zu sprechen als Namensvetter Dutschke? Mein Deutungsangebot ist: Völler hat mit seinem »Ausbruch« gegenüber dem Sportjournalisten am 06.09.03 im Interview nach dem Länderspiel der Nationalmannschaft in Island den Konsensrahmen verlassen. Sowohl seine Wortwahl als auch die Intonation waren unüblich für dieses Setting. Damit hat er den »normalen Lauf der Dinge« kurzfristig unterbrochen. Dieser normale Lauf der Dinge – der Konsens – bedeutet aber die unhinterfragte Reproduktion des Gegebenen. Dieses Gegebene ist bekanntlich nicht neutral, sondern hierarchisch strukturiert. Chancen auf Lebensqualität (Bildung, Anerkennung, Einkommen etc.) sind sowohl global als auch auf nationalstaatlicher Ebene ungleich verteilt. Frauen haben geringere Chancen als Männer, Unterschichtkinder geringere als Akademikerkinder, Ausländer geringere als Deutsche etc. Als Beispiel dafür, dass dieses Wissen potentiell auch einer nicht-akademischen Öffentlichkeit zugänglich ist, sei die Diskussion um die Ergebnisse der PISA-Studie genannt. Der Stern titelt sogar: „Das Märchen von der Chancengleichheit“ (Stern Heft 30-2003). Die Wirkungsmächtigkeit dieses Märchens besteht darin, dass die Ungleichheit der Chancen als naturgegeben vermittelt, erlebt und durch Konsensverhalten reproduziert wird. Die unhinterfragte Reproduktion von Gesellschaft und damit der ungleichen Chancenverteilung erfährt durch das unkonforme Verhalten von Völler einen Bruch. Dies ist ein Grund für die wahrnehmbare Solidarität mit Völler, weil der normale, aber dennoch für viele benachteiligende Gang der Dinge punktuell außer Kraft gesetzt wird. Ein anderer Grund liegt darin, dass Völler – obwohl er sicherlich nicht zu den sozial Abgebauten zählt – in dieser emotionalen Situation seinen Habitus, d.h. seine soziale Herkunft »von unten« nicht verborgen hat und damit viel eher als Sprachrohr zumindest von Angehörigen der Unterschicht wahrgenommen wird als z.B. Rudi Dutschke. Was will diese Beschreibung zeigen? Sie soll einen bislang wenig berücksichtigten Zusammenhang zwischen kritischer Wissenschaft und Friedensbewegung ins Blickfeld rücken. Beide sind Teil einer hierarchisierten Gesellschaft und beide sind hierbei nicht »unten« anzusiedeln. Daher können beide nicht davon ausgehen, von unter den bestehenden Verhältnissen leidenden Menschen als emanzipatorische Medien oder als Sprachrohr wahrgenommen zu werden, obwohl sie dies vielleicht sogar aufgrund der emanzipatorischen Inhalte de facto sind. Wer sich traut, öffentlich die Stimme (oder das Plakat) zu erheben, wird als »legitim«, als privilegiert eingestuft und ist dies in der Regel ja auch (vgl. Bourdieu 1992, 174 ff.). Zudem haben – wie alle anderen Akteurinnen und Akteure – auch diejenigen des akademischen Feldes und sozialer Bewegungen die kritisierten hierarchischen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens verinnerlicht. Das heißt, dass diese Strukturen sogar auf einer körperlichen Ebene (Erfahrung) zwangsläufig zu einer »eigenen Selbstverständlichkeit« geworden sind. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine Kritik des Gegebenen – von wem auch immer geäußert – eine Reflexion des Gesellschaftsgefüges und der eigenen Position darin und vor allen Dingen ein Bewusstsein über die Verinnerlichung dieser Position beinhalten muss, will sie nicht nur „eine Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung“ sein – wie Peter Strutynski die Demonstrationen gegen den Irakkrieg wertet –, sondern eine Manifestation der Mehrheit. Das ist leider ein großer Unterschied, der Emanzipatorisches dort suggeriert, wo aber eben auch unausgesprochene Machtverhältnisse sind. Wenn eine Gruppe von Menschen das äußert, was viele gerne hätten, heißt das noch lange nicht, dass diese Gruppe als Sprachrohr »der Bevölkerung« wahrgenommen wird. Im Gegenteil kann gerade dadurch, dass allzu leicht von der Gemeinsamkeit der Wünsche (»Nicht diesen Krieg«) auf eine Sprachrohrfunktion geschlossen wird, ein wirkliches Problem verschleiert werden. Es ist alles andere als unplausibel anzunehmen, dass Menschen sogar bei einer Befragung zugestehen würden, dass das, was eine soziale Bewegung öffentlich anprangert, eine Manifestation ihrer eigenen Meinung sei. Dies ändert aber nichts daran, dass von den gleichen Personen gleichzeitig diese Bewegung als eine Gruppe von Menschen wahrgenommen wird, die privilegierter sind als sie, die Befragten, selbst. Durch die empirisch erfassbare Gemeinsamkeit der geäußerten Anliegen gerät das aus dem Blickfeld, was nicht gemeinsam ist. Das entspricht dann keiner adäquaten Abbildung von sozialer Wirklichkeit mehr und es läuft emanzipatorischen Zielen zuwider, weil eine Gemeinsamkeit in der Kritik gegebener Verhältnisse, nur dann erzeugt werden kann, wenn man sich der Unterschiedlichkeiten bewusst wird und nicht eine gemeinsame Oberfläche schon für eine gemeinsame Lage hält. Warum muss es aber so kompliziert sein? Warum kann es nicht einfach so sein – und das wäre so schön –, dass eine Gruppe von Menschen das äußert, was viele denken und damit ein kritischer Zeitgeist zum Ausdruck gebracht wird?

Dies liegt an der Tatsache, dass es nicht gleich verteilt ist, sich legitimiert zu fühlen, die eigene Stimme zu erheben. Und mehr noch: diese Unterschiede in der Gesellschaft sind hierarchisierte Unterscheidungen, das heißt sie sind sichtbar, werden erkannt und anerkannt. Wenn man z.B. eine Rentnerin aus einem Arbeitermilieu mit der Aussage eines streikenden Studenten konfrontiert, die eine Forderung nach Abrüstung statt Sozialabbau beinhaltet, dann kann die Rentnerin dem möglicherweise zustimmen. Wird sie aber mit diesem Studenten direkt konfrontiert, nimmt sie ihn möglicherweise als eine Person wahr, die vieles hat, was ihr versagt geblieben ist: Er hat Zeit zu protestieren; Mut (eventuell sogar als Respektlosigkeit wahrgenommen) den Mund aufzumachen etc. Kurzum: Sie nimmt ihn als privilegiert wahr und nicht als Träger eines gemeinsamen Anliegens. Und sie empfindet dies möglicherweise als normal und nimmt es hin.

Was macht diese Analyse plausibel, wo ist dieses Problem zu verorten und wie ließe es sich angehen?

Dass definierbare Chancen in der bundesdeutschen Gesellschaft nach verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten ungleich verteilt sind, ist kein Geheimnis. Sucht man dieses Problem allein auf der Ebene der Verteilung, d.h. der Strukturen, dürfte die Rentnerin gar nicht wahrnehmen, dass dieser Student privilegiert ist, da sie – dies ist banal – keine Struktur vor sich hat, sondern einen Menschen. Die ungleiche Chancenverteilung muss also irgendwie an den Menschen ablesbar sein. Sucht man umgekehrt das Problem nur auf der Ebene der Akteurinnen und Akteure, wäre es gar nicht vorhanden, weil dann ja jeder Mensch einfach seine Anliegen gleichberechtigt äußern könnte. Der Schlüssel liegt darin, dass alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure die Verhältnisse, die sie vorfinden, verinnerlichen. Diese »lebendigen Strukturen« sind das, was Pierre Bourdieu Habitus nennt (vgl. Bourdieu 1974, 1982, 1987 sowie Krais/Gebauer 2002). Wir wachsen in einer bestimmten Umgebung mit bestimmten Eltern, in einem bestimmten Milieu, mit einer bestimmten Geschlechterzuweisung etc. auf. Wenn wir uns in der Umgebung bewegen und zurechtfinden, verinnerlichen wir sie. Dies ist nicht in erster Linie ein kognitiver Prozess, sondern geschieht v.a. auf der Basis von Erfahrungen (d.h. körperlich). Die Umgebung wird mit unserer Erkundung also ein Stück von uns selbst. Dennoch sind wir diejenigen, die diese Selbstwerdung aktiv produzieren, indem wir uns in bestimmten Umgebungen bewegen, lernen und uns selbst aktiv weitere Umgebungen suchen. Dabei bevorzugen wir aber diejenigen, die nahe bei dem sind, was wir bisher verinnerlicht haben. Mit diesem Habituskonzept lässt sich also erklären, warum Strukturen sich immer auch als Unterschiede in Menschen manifestieren und zu sichtbaren Unterscheidungen (Identitäten) werden. Dabei wird deutlich, dass Gesellschaft und Individuum sich nicht gegenüberstehen, sondern soziale und personale Identität zusammenfallen. Da nun aber das, was Menschen in ihrer Wirklichkeit vorfinden, sehr dem ähnelt, was ihre »Identitäten« ausmacht – weil diese ja aus besagter Wirklichkeit hervorgegangen sind –, wird das soziale Gefüge in der Regel als stimmig, normal, selbstverständlich erlebt. Dies erklärt, warum selbst Menschen, die von der Ungleichverteilung von Chancen negativ betroffen sind, an der Reproduktionen ihrer eigenen Unterdrückung mitwirken. Die Sozialpsychologie spricht hier von „oppression as a cooparative game“ (Sidanius/Pratto 1999). Dies bietet auch eine Erklärung dafür, dass die Rentnerin das von ihr wahrgenommene Gefüge hinnimmt, weil es zu ihr selbst passt.

Damit wird deutlich, warum eher nach der Transformation von Bewegungshandeln »nach oben« in institutionalisierte Politik gefragt wird (vgl. z.B. Raschke 2003), als nach einer Übersetzung »nach unten«. Die Hierarchie ist anerkannt.

Die emanzipatorische Wirksamkeit von Protest wird also konterkariert durch einen unsichtbar gemachten Chancenverteilungskonflikt. Diese Unkenntlichmachung wird verstärkt und damit die Wirksamkeit weiter gebremst, wenn die ungleiche Verteilung von Chancen sich hinter einer Gleichheit von Meinungen verstecken kann. Das also, was von Strutynski in Anschlag gebracht wird, um die Protestbewegung zu stärken – nämlich der Hinweis auf die Meinungsgleichheit zwischen Protestierenden und Bevölkerung –, bewirkt im Endeffekt eher das Gegenteil.

Weit davon entfernt eine fatalistische Aussage zu sein, kann diese soziologische Selbstreflexion dazu dienen, besagte Unkenntlichmachung rückgängig zu machen und damit nicht nur eine adäquatere Analyse gesellschaftlichen Zusammenlebens und sozialen Protests zu liefern, sondern – ohne normativ zu sein – eine größere Anschlussfähigkeit an Menschen herzustellen, die ein Anliegen haben, Bewegungsziele umzusetzen. Auf der Ebene von inhaltlichen Forderungen ist ein wichtiger anschließender Schritt ja bereits erfolgt, weil die Friedensbewegung z.B. nicht nur eine »abgerüstete europäische Verfassung« fordert, sondern dies mit einem sozialstaatlichen Anliegen verknüpft. Dies ist insofern als bedeutsam einzustufen, als Transnationalisierungsdiskurse einerseits und neoliberale Diskurse, die die Eigenverantwortung von Menschen für ihre Lage predigen, andererseits, eher dazu »einladen«, Protest auf die globale Weltordnung zu beziehen, als dazu, »in eigener Sache« soziale Gerechtigkeit zu fordern oder gar beides zusammen zu denken (vgl. Bonacker/Schmitt 2004).

Pierre Bourdieu hat seine Analysekonzepte, die in Form von »Wieder-Sichtbarmachung von Herrschaftsverhältnissen« auch gleichzeitig Praxiskonzepte sind, bereits selbst sowohl auf Wissenschaft als auch auf soziale Bewegung angewandt. So analysiert er z.B. an den Mechanismen männlicher Herrschaft, wie Gewalt symbolisch legitimiert und über den Gleichklang von inkorporierten und äußeren Strukturen sogar von den Beherrschten reproduziert wird. Eine Schlussfolgerung für soziale Bewegung am Beispiel der Frauenbewegung sei, dass diese – um ihr emanzipatorisches Potential und den »Scharfblick der Ausgeschlossenen« zu nutzen – ihr eigenes Denken dekonstruieren müsse, um männliches Denken zu dekonstruieren. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass auch Frauen die herrschenden Dominanzverhältnisse verinnerlicht haben (vgl. Bourdieu 1997a, 1997b, 1998a). Eine praktische Konsequenz war Bourdieus Bestreben, mit raisons d’agir (ders. 2001) eine in diesem Sinne aufgeklärte europäische soziale Bewegung zu begründen. In seinen Analysen zum akademischen Feld (ders. 1988) kommt er zu dem gleichen Ergebnis und zu der gleichen Forderung (ders. 1998b): Wissenschaft muss reflexiv sein, d.h. sie muss die eigenen Produktionsbedingungen und die eigene privilegierte Position reflektieren, will sie eine Aussage über ihren Gegenstand machen. Erst eine derartige Reflexion des eigenen Eingebundenseins in Herrschaft bietet zudem kritischer Wissenschaft die Möglichkeit, kritisch zu sein und sozialen Bewegungen die Möglichkeit, sozial zu sein, d.h. sich auf Menschen beziehen zu können, die unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen leiden.

Um es zusammenzufassen: Die Kritik von Peter Strutynski an der quantitativen, in Teilen tautologisch anmutenden Beschreibung und Interpretation der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2003, wie sie Dieter Rucht vorgelegt hat, greift zu kurz, denn man hätte diese Verwissenschaftlichung von Selbstverständlichkeiten nutzen können, um diese Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Statt dessen begeht Peter Strutynski trotz seines qualitativen Herangehens einen positivistischen Fehler, in dem er aus der Gleichheit der Meinung von Demonstrierenden und „weiten Bevölkerungsteilen“ eine Einigkeit schließt und nicht auf eine sehr grundlegende Ungleichheit hinweist. Rudi D. darf eben nicht für Rudi V. gehalten werden, sondern die Habitus-Unterschiede von Protestierenden und weiten Bevölkerungsteilen müssen thematisiert werden, damit Rudi V.‘s beliebter Konsensbruch für emanzipatorische und von vielen auch befürwortete Inhalte Rudi D.‘s genutzt werden kann. Die inhaltlichen Gemeinsamkeiten der Rentnerin und des Studenten können erst dann die habituellen Unterschiede – und damit das Machtgefälle zwischen beiden – überbieten. Eine soziologische Beobachtung des Protests sollte – schon aus Gründen der Wissenschaftlichkeit – Phänomene an gesellschaftliche und verinnerlichte Strukturen zurückbinden, da sonst unter Vorspiegelung von Ungleichheiten als Gemeinsamkeiten emanzipatorisches Potenzial verschleudert wird und Sprachrohre ihr herrschendes Eigenleben führen.

Literatur

Bonacker, Thorsten und Lars Schmitt (2004): Politischer Protest zwischen latenten Strukturen und manifesten Konflikten. Perspektiven soziologischer Protestforschung am Beispiel der (neuen) Friedensbewegung, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen (i.E.).

Bourdieu, Pierre (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.

Ders. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.

Ders. (1987): Sozialer Sinn, Frankfurt a.M.

Ders. (1988): Homo academicus, Frankfurt a.M.

Ders. (1992): Rede und Antwort, Frankfurt a.M.

Ders. u.a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz.

Ders. (1997a): Die männliche Herrschaft, in: I. Dölling und B. Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M., S. 153-217.

Ders. (1997b): Männliche Herrschaft revisited, in: Feministische Studien, H. 2, Jg. 15, S. 88-99.

Ders. (1998): La domination masculine, Paris.

Ders. (1998a): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz.

Brand, Karl-Werner, Detlef Büsser und Dieter Rucht (1986): Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. und New York.

Krais, Beate und Gunter Gebauer (2002): Habitus, Bielefeld.

Raschke, Joachim (2003): Bewegung, Reform, Protest. Blockaden und Veränderungen, Festvortrag anlässlich des 15jährigen Bestehens des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen vom 25.01.03.

Rucht, Dieter (2004): Die Friedensdemonstranten. Wer waren sie, wofür stehen sie? In: Wissenschaft und Frieden, Heft 1, 2004, S. 57-59.

Stern, Heft 30, 2003: Das Märchen von der Chancengleichheit.

Strutynski, Peter (2004): Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2, 2004, S. 54-56.

Lars Schmitt ist Diplom-Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Konflikte und soziale Ungleichheit; sozialer Protest; soziologische Theorie; soziologische Konfliktmediation.

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

von Jürgen Nieth

Für unseren Autor Jørgen Johansen ist der zivile Widerstand in den letzten 30 Jahren erfolgreicher als der bewaffnete Kampf. Er – wie auch die meisten anderen AutorInnen in dieser Ausgabe – bezieht sich dabei vor allem auf den Kampf gegen ausländische Besatzung und für gesellschaftliche Veränderungen. Aber wie ist das mit dem zivilen Widerstand innerhalb einer Gesellschaft zur Durchsetzung politischer Ziele, von Reformen unterhalb der gesellschaftlichen Umwälzung? Wann wird hier Protest zum Widerstand und sind hier Erfolge messbar?

Werfen wir einen Blick auf die Friedensbewegung in unserem Land, ihre Entwicklung, die unterschiedlichen Aktionsformen, Erfolge und Misserfolge.

»Ohne mich« – skandierte die Bewegung gegen die Gründung der Bundeswehr und die Einbeziehung der BRD in eine (West-) Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG). »Ohne mich«, das war die angekündigte Kriegsdienstverweigerung, Teil der Bewegung gegen die Remilitarisierung. Die staatliche Macht reagierte massiv. Eine Volksbefragung wurde verboten, die Initiatoren verfolgt und die Polizeieinsätze gegen Demonstranten waren durch äußerste Härte gekennzeichnet: 1952 wurde während einer Friedensdemonstration in Essen ein Demonstrant erschossen. Politisch erlitt die Friedensbewegung damals eine Niederlage: Die Bundeswehr wurde gegründet, der EVG-Vertrag ratifiziert – als kleiner Erfolg blieb, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gesetzlich festgeschrieben werden musste.

»Kampf dem Atomtod« – »Solidarität mit Vietnam«. Die Friedensbewegung der sechziger Jahre formulierte aktiver, die dominierende Protestform blieb die Demonstration, doch zugleich gab es zunehmend Aktionen des zivilen Ungehorsams: Sitzstreiks vor Kasernentoren und Straßenblockaden. Die meisten wurden gewaltsam aufgelöst und endeten mit einer Verurteilung der Protestierenden. Auch hier nur punktuelle Erfolge der Friedensbewegung: Der Griff der Bundeswehr nach Atomwaffen scheiterte. Die USA mussten sich aufgrund der weltweiten Proteste aus Vietnam zurückziehen.

»Aufstehen – Frieden braucht Bewegung«. Das »Tu selbst etwas« entspricht der Massenbewegung für den Frieden in den achtziger Jahren. Ideenreich und vielfältig sind deren Aktivitäten: Demonstrationen bis zur Beteiligung Hunderttausender, Kultur- und Sportveranstaltungen, Menschenketten, berufsspezifische Aktionen, Unterschriftensammlungen, Volksbefragungen, Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Blockaden und das Begehen von Militärgelände. Der staatliche Gewaltapparat reagiert widersprüchlich. Einerseits gibt es die Einkesselung von DemonstrantInnen, die gewaltsame Auflösung von Blockaden und die Verurteilung der Blockierenden. Andererseits werden später viele von ihnen rückwirkend freigesprochen und massive staatliche Gewalteinsätze – mit Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstock – werden zur Ausnahme. Das hat zwei Ursachen:

• Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung stimmt inhaltlich mit den Hauptforderungen der Friedensbewegung überein, sie ist gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Die Regierung hat in dieser Frage die Mehrheit verloren.

• Die Aktionen der Friedensbewegung haben eine »positiv-friedliche« Ausstrahlung. Auch bei den Aktionen des zivilen Ungehorsams wird deutlich, dass von den Protestierenden keine Gewalt ausgehen wird. Der Einsatz brutaler Gewalt von Seiten des Staates ist in dieser Situation nicht mehr legitimierbar.

Die vielfältigen Aktionsformen, deren sich die Friedensbewegung in den achtziger Jahren bediente, erleben in den Protesten gegen die beiden US-Interventionen im Irak – schwächerer bei den Balkankriegen – eine Renaissance.

Und die Erfolgsfrage? Der Sturz eines Regimes, die Befreiung von ausländischer Besatzung, sind messbare Erfolge. Ob angestrebte politische Veränderungen innerhalb eines Systems stattgefunden haben, weil eine Massenbewegung sich dafür eingesetzt hat, ist dagegen schwer feststellbar. Es bleibt aber die gut begründbare Annahme, dass die Entwicklung ohne die Friedensbewegung viel negativer verlaufen wäre.

Die Mittelstreckenraketen wurden stationiert und später wieder abgebaut. Die USA haben den Irak besetzt und sich damit weltweit isoliert. Die Bundeswehr steht am Hindukusch aber in der Verurteilung des Irakkrieges gibt es wie in der »Stationierungsfrage« eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Friedensbewegung.

Vielleicht ist das die entscheidende Messlatte: Der Gewinn der Meinungsführerschaft. Sie ist nicht die Garantie dafür, dass sich etwas verändert, aber sie ist die Voraussetzung für Veränderungen. Die Meinungsführerschaft zu behaupten und inhaltlich auszubauen – von der punktuellen zu einer umfassenden friedenspolitischen, dafür bedarf es zivilen Widerstands: Vielfältig, im Ziel übereinstimmend und gewaltfrei.

Jürgen Nieth

Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung

Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung

von Peter Strutynski

In W&F 1-2004 hat der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht, Prof. für Soziologie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die Ergebnisse einer Studie über die TeilnehmerInnen der Berliner Friedensdemonstration gegen den Irakkrieg im Februar 2003 vorgestellt – Ergebnisse, die in Teilen bereits direkt nach der Demonstration in den Medien ein breites Echo fanden. Peter Strutynski unterzieht die Befragung und ihre doppelte mediale Aufbereitung einer kritischen Betrachtung und legt dar, warum die TeilnehmerInnen an Demonstrationen eigentlich nie den Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren – auch dann nicht, wenn sie dem Willen der großen Mehrheit Ausdruck verleihen.

Die Protestbewegung gegen den Irakkrieg 2003 hat alles übertroffen, was bisher in der deutschen, wahrscheinlich aber auch in der Geschichte anderer Länder und weltweit registriert worden war. Massendemonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den angekündigten amerikanisch-britischen Krieg fanden in rund 60 Ländern der Erde statt, die Teilnehmerzahlen werden auf bis zu 16 Millionen geschätzt. Mit der Großdemonstration in Berlin ist die deutsche Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 1980er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik gehörigen Respekt verschafft. Öffentlichkeit, Medien und Politik waren gleichermaßen beeindruckt von dieser großartigen Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung gegen den drohenden Krieg und für den Frieden.

Es mag als Glücksfall erscheinen, dass die Demonstrationen vom 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei US-amerikanischen Städten auch wissenschaftlich unter die Lupe genommen wurden. Der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin wurde in den Tagen danach in fast allen deutschen Zeitungen mit zwei »überraschenden« Erkenntnissen seiner Feldforschung zitiert:

  • Die Demonstration spiegele einen Querschnitt der Bevölkerung wider.
  • Viele Demonstrantinnen und Demonstranten seien zum ersten Mal in politischer Absicht auf die Straße gegangen. (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau, 18.02.2003).

Diese Erkenntnisse schienen trivial zu sein, weil eine Massendemonstration dieser Größenordnung (mehr als 500.000), die in ihrer politischen Stoßrichtung die Überzeugung von rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausdrückt, durchaus auch stellvertretend für diese Bevölkerung stehen kann. Im statistischen Sinn »repräsentativ« muss ihre Zusammensetzung deswegen noch lange nicht gewesen sein. Z.B. wird es bei Demonstrationen selten möglich sein, einen repräsentativen Altersquerschnitt auf die Straße zu bringen. Wenn zur Zeit rund 17 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind, heißt das eben nicht, dass dieser Anteil auch bei einer Demonstration erreicht wird – noch dazu bei einer Demonstration und Kundgebung, die insgesamt über vier Stunden bei eisigen Temperaturen dauern. Trivial mutet auch die zweite Feststellung an, dass viele Teilnehmer/innen „zum ersten Mal in ihrem Leben“ bei einer politischen Demonstration mitgemacht haben. Eigentlich sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass je größer eine Demonstration, desto eher sind Menschen dabei, die noch nie zuvor demonstriert haben. Noch dazu, wenn viele junge Menschen beteiligt sind.

Bewegungsforscher Rucht hatte kein Hehl aus seiner Sympathie für die Berliner Großdemonstration gemacht. Ich vermute, sie entsprach seinem Wunsch nach einer großen Gemeinschaft der breiten Mehrheit, sprich der breiten Mitte. Umso ernüchterter war er, als sich bei genauerer Auswertung der ermittelten Daten herausstellte, dass die Demonstration keineswegs den „Querschnitt der Bevölkerung“ darstellte, ja, dass sie „linkslastiger als vermutet“ war. (Anmerkung am Rande: Es entspricht dem herrschenden politischen Verständnis, dass bei der Charakterisierung politischer Spektren »links« offenbar immer mit einer »Last« in Verbindung gebracht wird, die Vokabel »mittelastig« gibt es dagegen nicht, denn die Mitte wird doch nie und nimmer als Last empfunden!)

„Frappierend“ war für Rucht auch der „weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten“. 51 Prozent der Demonstranten hätten einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, acht Prozent darüber hinaus sogar eine Promotion. Hinzu kommen gut sechs Prozent Menschen mit Fachhochschulreife und 17 Prozent mit Abitur. Alles in allem: 82 Prozent der befragten Demonstranten haben mindestens Abitur oder Fachhochschulreife. Weit überproportional vertreten waren auch die Personen ohne Religionszugehörigkeit: 65,5 Prozent waren ohne Glaubensbekenntnis (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Unter den Kirchenmitgliedern rangierten die Protestanten mit 32,2 Prozent eindeutig vor den Katholiken (7,4 %) (Gesamtbevölkerung: 32,2 % ev., 32,6 % kath.). Die Unterrepräsentanz der Katholiken dürfte sich recht einfach aus der relativen Ferne Bayerns, Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens erklären lassen. Von dort waren vermutlich wenig Demonstranten nach Berlin gefahren (zumal z.B. am 15. Februar in Stuttgart eine eigene Antikriegs-Demonstration stattfand). Und der große Teil der Demonstration, den die überwiegend evangelischen – wenn nicht gar gottlosen – Berliner stellten (über 60 %, wie Rucht mitteilt), dürfte diese Zahlen verständlich machen.

Doch völlig überrascht war Rucht von der allgemeinen politischen Positionierung der Demonstranten. Die beliebte Sonntagsfrage unter den Demonstranten erbrachte „das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit“: 93,5 Prozent wollten Rot-Grün bzw. PDS wählen! Allerdings: Die Grünen erhielten fast 53 Prozent, die SPD knapp 21 und die PDS knapp 20 Prozent – da reicht das Spektrum also doch wieder bis weit in die Mitte. Dass die CDU/CSU mit 1,7 Prozent und die FDP mit 1,2 Prozent vorliebnehmen musste, überrascht indessen weniger. Immerhin handelte es sich um eine Antikriegsdemonstration, und die CDU hatte sich derart eindeutig für den Krieg ausgesprochen und sich hinter Bush gestellt, dass sich eine CDU-Wahloption in der Situation geradezu verbot.

Die Linksorientierung der Demonstration wird des Weiteren damit belegt, dass sich die meisten Demonstranten auf einer vorgegebenen »Links/Rechts-Skala« (von 0=ganz links bis 10=ganz rechts) 18,8 Prozent als »sehr links« und 64,1 Prozent als »links« einstufen (Werte von 0-3) und nur 1,1 Prozent als »rechts« bis »sehr rechts« (Werte von 7 bis 10). Rucht fehlt vor allem die »Mitte« (Werte von 4 bis 6): Zu ihr bekennen sich nur 16 Prozent. Im Kontext anderer Fragen erweist sich die Masse der Demonstranten als ausgesprochen kritisch und skeptisch gegenüber den politischen Institutionen, insbesondere den Parteien, und beurteilt den drohenden Irakkrieg überwiegend als Krieg um Öl. So stimmen 85 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die USA wollen den Irak angreifen, um ihre nationale Ölversorgung zu sichern.“ Auch die überwiegend kriegskritische Haltung bildet sich in der Umfrage ab, so wenn z.B. wiederum 85 Prozent folgende Aussage ablehnen: „Ein Krieg ist gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen.“ Zur pazifistischen Aussage „Kriege sind immer falsch“ bekennen sich schließlich gut 76 Prozent aller Befragten.

Das wirklich Frappierende an solchen Ergebnissen ist, dass sie sich im Großen und Ganzen decken mit zahlreichen Repräsentativerhebungen vor, während und nach dem Irakkrieg. Noch ein halbes Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges hat sich dies nicht grundsätzlich geändert. Im Oktober 2003 führte Gallup Europe im Auftrag der Europäischen Kommission eine Umfrage durch, deren Ergebnisse eine anhaltende Kriegsgegnerschaft und USA-Skepsis in der europäischen Bevölkerung dokumentieren.1 Beispielsweise wollten die Interviewer wissen, ob die Befragten den Irakkrieg auch ein halbes Jahr nach dessen Beginn für gerechtfertigt halten. 68 Prozent aller Befragten verneinten diese Frage, worunter noch einmal 41 Prozent sagten, sie hielten die Militärintervention unter gar keinen Umständen für gerechtfertigt. Demgegenüber glaubt nur eine Minderheit von 29 Prozent, dass der Krieg gerechtfertigt gewesen sei (darunter befanden sich 7 %, die diese Meinung unter allen Umständen aufrechterhalten würden). Differenziert man nach Ländern, so ergeben sich doch bemerkenswerte Unterschiede: Am größten ist die Ablehnung des Krieges in Griechenland, wo 96 Prozent der Befragten den Krieg für ungerechtfertigt halten. Österreich mit 86 Prozent und Frankreich mit 81 Prozent folgen auf den Plätzen zwei und drei, dahinter Spanien (79 %), Luxemburg, Belgien (jeweils 75 %) und Deutschland (72 %). Das einzige EU-Land, in dem eine Mehrheit davon ausging, dass der Krieg gerechtfertigt war, ist Dänemark. Sogar in Großbritannien, das sich mit seinem Premierminister Tony Blair so stark ins kriegerische Zeug gelegt hatte, waren die Kriegsbefürworter im Oktober in der Minderheit (44 %). 51 Prozent der Briten hielten den Krieg für nicht gerechtfertigt.

Die tief sitzende Skepsis gegenüber der Politik der US-Administration kommt in der Antwort auf die Frage zum Ausdruck, wem der Wiederaufbau des Irak anvertraut werden sollte. Das geringste Vertrauen bringen die Menschen den Vereinigten Staaten von Amerika entgegen: 18 Prozent der Europäer sagen, der Wiederaufbau des Irak sei bei den USA gut aufgehoben. Bessere Noten erhielt da schon die Europäische Union, obwohl sie selbst gar nicht als Akteur im Irak involviert ist. Sie wollten 25 Prozent der Befragten mit dem Wiederaufbau beauftragen. Noch mehr Vertrauen genießen die Iraker selbst, denen 44 Prozent das weitere Schicksal ihres Landes in die Hände legen möchten. Unangefochten aber an der Spitze des Vertrauens liegen die Vereinten Nationen, denen 58 Prozent der Befragten zutrauen, im Irak das Richtige zu tun (wenn man sie nur lassen würde, müsste hinzugefügt werden).

Auch andere Umfragen belegen, dass eine große und stabile Bevölkerungsmehrheit über Monate den Irakkrieg abgelehnt hat und auch heute noch ablehnt. Dies setzt sich indessen nicht unmittelbar in politische Bewegung um. Am 15. Februar 2003 kam eine Reihe begünstigender situativer Faktoren zusammen (die sog. Gelegenheitsstruktur), die den Protest gegen den drohenden Krieg zu einer gewaltigen Massenbewegung anschwellen ließen. Dennoch waren die Demonstranten im statistischen Sinn nicht repräsentativ für die Bevölkerung – auch nicht für die rund 80 Prozent der Menschen, die den Krieg ablehnten. Dies liegt schlicht daran, dass »die Straße« für die breite Bevölkerung nicht die bevorzugte Arena zur politischen Meinungsäußerung ist.

Demonstranten sind vermutlich immer ein hoch motivierter, überdurchschnittlich informierter, besonders entschiedener und in politischen Zusammenhängen (Parteien, Gewerkschaften, »neuen sozialen Bewegungen«) agierender Teil der Gesellschaft. Solche Zuweisungen korrespondieren mit großer Wahrscheinlichkeit mit den von Rucht festgestellten Attributen der Demonstranten, was deren höhere Bildungsabschlüsse oder linke Parteipräferenzen betrifft. Da dies einem Bewegungsforscher bekannt sein sollte, hätte sich ein dem Gegenstand angemesseneres Untersuchungsdesign angeboten. Nicht die politischen Einstellungen von Demonstranten sind von Interesse, jedenfalls nicht die Einstellungen, die unmittelbar mit dem Demonstrationszweck in Verbindung stehen; sie können doch im Großen und Ganzen als bekannt vorausgesetzt werden. Wesentlich interessanter wären beispielsweise Zusatzinformationen über die sozialstrukturelle Herkunft der Demonstranten (die ist mit den Angaben über den Bildungsabschluss nicht hinreichend geklärt), die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Bewegungsformationen, die Affinität zu unterschiedlichen Politik-Traditionen oder die Prägung durch generationsübergreifende politische Verhaltensmuster. Ansatzweise hat dies Dieter Rucht eingelöst, indem er sich in einer Sonderauswertung seiner Befragungsergebnisse den Motiven von Jugendlichen bzw. Schüler/innen für ihren Protest widmete.2 Doch auch hierzu wäre eine Umfrage unter Schülerinnen und Schülern anlässlich ihrer eigenen massenhaften Proteste (im ganzen Land am »Tag X« durchgeführt, dem Tag des Kriegsbeginns bzw. unmittelbar am Tag darauf) wesentlich aussagekräftiger gewesen.

Dieter Ruchts Soziogramm der Berliner Demonstration ist also aus drei Gründen unbefriedigend bis ärgerlich:

Erstens, weil es mit trivialen Aussagen aufwartet. Was soll man schon Überraschendes erfahren, wenn man Friedensdemonstranten über deren friedenspolitische Meinungen befragt?!

Zweitens, weil die Enttäuschung des Forschers über die nicht repräsentative Stichprobe und seine Schlussfolgerung, wonach das (mediale) „Bild der Demonstranten als eines breiten Durchschnitts der Bevölkerung … im Großen und Ganzen falsch“ gewesen sei, am Kern der Sache vorbei geht. In einem übertragenen Sinn, d.h. in qualitativer Hinsicht war das »Bild« nämlich durchaus richtig: Die Demonstration stand repräsentativ für die politische Ablehnung des Irakkriegs durch eine große Mehrheit der Bevölkerung. Die Teilnehmer/innen, die Medien, Teile der politischen Klasse (von denen sich auch einige auf der Demonstration haben blicken lassen) und die Öffentlichkeit haben das so verstanden – nur dem Sozialforscher Rucht ist es ein Rätsel geblieben.

Drittens, weil die dementierende Berichterstattung über den fundamentalen »Irrtum« des Bewegungsforschers objektiv den Eindruck erwecken musste, als wolle sich der Forscher nachträglich von der politischen Zielrichtung der Demonstration vom 15. Februar distanzieren. (vgl. Das Bild vom Querschnitt der Bevölkerung ist falsch, FR vom 21. März 2003).

Anmerkungen

1) Vgl. Peter Strutynski: Europa, der Irakkrieg und der Antisemitismus. Was uns Umfragen und das wirkliche Leben lehren. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/eu-umfrage.html Die Umfrage selbst ist hier erschienen: EOS Gallup Europe: Flash Eurobarometer 151 »Iraq and Peace in the World«. Requested and coordinated by Directorate General Press and Communication, European Commission, November 2003.

2) Dieter Rucht: Die Schüler in der Anti-Kriegsbewegung – und was davon bleiben wird. Homepage des Wissenschaftszentrums Berlin: http://www.wz-berlin.de/presse/pdf/schuelerproteste.pdf

Dr. Peter Strutynski arbeitet an der Universität Kassel und ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

Mönche zwischen den Fronten

Mönche zwischen den Fronten

Göttinger Friedenspreis 2004

von Stiftung Dr. Roland Röhl

Nur wenige Schritte trennen die Benediktinerabtei Hagia Maria Sion und ihre Friedensakademie Beit Benedikt von der jüdischen Klagemauer, der Grabeskirche Christi und der Al Aksa-Moschee der Muslime. Inmitten der von blutiger Geschichte und gewaltsamem Alltag zerrissenen Stadt Jerusalem, im Zentrum des arabisch-israelischen Konfliktes haben die Mönche um den Abt Benedikt Lindemann Räume für Besinnung, Begegnung und Dialog geschaffen. In einer Zeit, in der der Frieden zwischen Staaten und innerhalb der Gesellschaften deutlicher denn je von der Fähigkeit zur Toleranz unter den Kulturen und Religionen abhängt, ist das aktive Beispiel einer christlichen Gemeinschaft, die in diesem Sinne wirkt, von herausragender Bedeutung. Deshalb wurde in diesem Jahr der Göttinger Friedenspreis an den Abt Benedikt Lindemann verliehen. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, hielt die Laudatio und in seiner Antwort vermittelte der Abt einen Eindruck von der sicher nicht leichten Arbeit der Mönche „zwischen den Fronten“.

Göttinger Friedenspreis

Der Göttinger Friedenspreis wird jährlich von der Stiftung Dr. Roland Röhl verliehen. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Konflikt- und Friedensforschung. Der Preis kann an Einzelpersonen oder Personengruppen gehen, die sich durch grundlegende wissenschaftliche Arbeit oder herausragenden praktischen Einsatz um den Frieden besonders verdient gemacht haben. Vorschläge für 2005 nimmt die Jury bis zum 30. August entgegen: c/o Dr. Wolfgang Vogt, Isestr. 59, 20149 Hamburg

In der Begründung der Jury zur Preisverleihung heißt es: „Im hochgerüsteten Konflikt permanenter Grenzkontrollen und -überschreitungen, zwischen Bomben und Betonzäunen, bieten die Mauern der Abtei Schutz und Chance für diejenigen, die Trennung, Hass und Grenzen friedlich überwinden wollen. Die Akademie lädt Palästinenser und Israelis zum gemeinsamen Gespräch ins Kloster ein. Die Akademie bietet Raum für ökumenische und interreligiöse Begegnungen zwischen Juden, Christen und Muslimen. Mit unterschiedlichen Angeboten werden Wissen und Verstand, Emotionen und Erinnerungen, Ästhetik und Sinn für Kultur angesprochen. Vorträge, Seminare, Ausstellungen und Konzerte bringen Menschen aus dem In- und Ausland an diesem besonderen Ort zusammen. So erhalten unter anderem Theologen, Pädagogen und Journalisten Anregungen für ihre Arbeit.

Abt Benedikt Lindemann und seine Brüder gehen aber auch hinaus in den Konflikt, sie verteilen Lebensmittel, Medikamente und Kleidung in den besetzten Gebieten, und sie laden israelische wie palästinensische behinderte Kinder zu gemeinsamen Sommerferien am See Genezareth ein …

Es ist zu wünschen, dass die sinn- und friedensstiftende Tätigkeit der Abtei weitere Früchte für die Menschen in Jerusalem trägt und als ein Beispiel ziviler Konfliktbearbeitung auch weiterhin und sichtbar Ausstrahlung entfaltet.“

Ein friedlicher Weg für scheinbar unlösbare Fragen

In ihrer Laudatio würdigte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, die Arbeit der Benediktinerabtei für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse.

Sie ging dann ausführlicher auf den Konflikt Israel-Palästina ein und kritisierte den so genanntenen Schutzwall, den Israel seit fast zwei Jahren aufstellt. „Die Mauer ist … ein Anachronismus in einem ebenso unzeitgemäßen Krieg zwischen den Israelis und den Palästinensern … Die physische Barriere ist keine Lösung. Jeder kann sich das vorstellen. Der Hass sickert durch jede Ritze, wie Wasser. Auf die Dauer kann nur die Strategie im Nahen Osten erfolgreich sein, die unbeirrt daran arbeitet, die jahrzehntelang eingravierten Gefühle des Hasses und der Demütigung umzuleiten in eine Energie, die aus der Ausweglosigkeit heraus in eine friedliche Zukunft führt.“

In der »Genfer Initiative«, die am 1. Dezember des letzten Jahres in der Schweiz unterzeichnet und der Öffentlichkeit präsentiert wurde, sieht Vollmer hierfür eine große Chance. Unter der Federführung von Yossi Beilin, dem ehemaligen israelischen Justizminister und Yaser Abed-Rabbo, dem ehemaligen palästinensischen Informationsminister haben israelische und palästinensische Politiker, Militärs und Intellektuelle zwei Jahre lang verhandelt und schließlich dieses „einmalige Papier“ vorgelegt. Vollmer verweist darauf, dass es schon viele Nahost-Initiativen und Vorschläge gegeben hat und geht dann der Frage nach, welche Qualität ein neuer Plan haben muss, um jetzt Hoffnungen wecken zu können. Für sie sticht die die »Genfer Vereinbarung« „durch einige Aspekte aus der Masse der bisherigen Vorschläge heraus:

  • Sie erfüllt die Grundvoraussetzung eines jeglichen erfolgversprechenden Planes, nämlich dass sie von den beiden betroffen Seiten gemeinsam ausgehandelt worden ist. Und zwar handelt es sich auf israelischer Seite um Politiker der Arbeiterpartei, hochrangige Militärs, sogar ein ehemaliger Mossad-Chef und Verhandlungspartner von früheren Friedensabkommen sind dabei. Intellektuelle und Schriftsteller wie Amos Oz und David Grossmann, der frühere Botschafter Avi Primor, Mitglieder der Friedensbewegung und Wissenschaftler unterstützen die Initiative. Auf palästinensischer Seite haben ehemalige Minister der Autonomiebehörde, Wissenschaftler aus den Bereichen Geographie, Archäologie, Juristen, ja sogar der Vertreter der Führung der ersten Intifada und ein General des Sicherheitsdienstes in der Westbank an dem Vertragswerk mitgearbeitet. Arafat und Qureia sollen von Anfang an über die Gespräche informiert und damit einverstanden gewesen sein. Diese Zusammenarbeit bedeutet auch, dass die Palästinenser erstmalig das Recht der Juden auf einen eigenen Staat anerkennen.
  • Das einzigartige der »Genfer Vereinbarung« aber ist vor allem, dass mit ihr ein detaillierter Plan vorgelegt wird, der für alle Einzelheiten des Friedensschlusses einen durch Vertreter beider Seiten ausgehandelte Lösung anbietet – ein Ziel, nicht nur den Anfang eines Weges. Bisher kannte man nur Pläne, die grobe Richtungen vorgaben und Termine zur Lösung der schwierigen Fragen festsetzten, ohne konkrete Vorschläge zu wagen.

In den Jahrzehnten des Nahostkonflikts haben sich vier Kernprobleme herauskristallisiert, die unlösbar scheinen, die Empfindlichkeiten der beteiligten Parteien im innersten treffen und die nie jemand anpacken konnte, weil es hier um Kompromisse geht, die nur die Beteiligten selbst aushandeln können. Diese vier Probleme sind:

  • die Zukunft der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen;
  • die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge;
  • der Status von Jerusalem und
  • die gegenseitige Anerkennung des israelischen und des palästinensischen Staates.

Was sagt die »Genfer Vereinbarung« zu diesen vier Kernpunkten? Sie schlägt radikale Kompromisse vor.

Mit den Siedlungen soll folgendermaßen verfahren werden: Es gelten die Grenzen vom 4. Juni 1967, also vor dem Sechstagekrieg. Sämtliche Siedlungen in den besetzten Gebieten werden aufgegeben und in benutzbaren Zustand an die Palästinenser übergeben.

Die Flüchtlingsfrage wird auf der Basis der Resolutionen 194 der UN-Generalversammlung und 242 des UN-Sicherheitsrates sowie des Vorschlags der arabischen Friedensinitiative behandelt. Das heißt, dass die Flüchtlinge ein Recht auf Kompensation für ihr Flüchtlingsdasein und den Verlust von Eigentum haben. Dafür wird ein internationaler Entschädigungsfonds eingerichtet. Israel kann von seiner Einzahlungssumme den Wert der auf- und übergebenen Siedlungen abziehen. Die Flüchtlinge können hinsichtlich ihres Bleiberechts zwischen mehreren Optionen wählen: Sie können sich im Staat Palästina, in Gebieten, die im Rahmen des Gebietsaustauschs von Israel an den Staat Palästina übergehen, in Drittstaaten, in momentanen Gaststaaten und in Israel niederlassen. Bei letzterer Option hat Israel die Entscheidungsgewalt und soll sich an den durchschnittlichen Aufnahmemengen von Drittstaaten orientieren.

Jerusalem wird für beide Staaten die Hauptstadt, die Souveränität wird geteilt. Ein interkonfessionelles Gremium zur Lösung aller religiösen Fragen wird eingerichtet – und hier stoßen wir ganz unmittelbar auf das, was in ihrem Haus an guter Tradition gesät wurde. Es herrscht Freiheit der Religionsausübung. Auf dem Tempelberg (Haram al-Sharif) soll es eine multinationale Präsenz geben: Das Plateau unter palästinensischer und die Klagemauer unter israelischer Aufsicht; es wird dort keine Ausgrabungen bzw. Bauunternehmungen geben ohne Zustimmung der israelischen und der palästinensischen Seite. Die muslimischen, armenischen und christlichen Teile der Altstadt sollen zu Palästina und das jüdische Viertel zu Israel gehören. Die jüdischen Stadtteile in Ostjerusalem werden aufgegeben.

Palästina und Israel werden nach der »Genfer Vereinbarung« ihre Souveränität gegenseitig anerkennen und normale diplomatische Beziehungen miteinander aufnehmen.

Die Implementierung und Lenkung des Friedensprozesses wird durch verschiedene Gremien und Schlichtungsmechanismen begleitet, die stets durch beide Parteien besetzt und entschieden werden.

Dies sind nur die vier wichtigsten Bereiche, die dieser Friedensplan regeln will. Beiden Seiten werden dabei unendlich schwierige Kompromisse abverlangt. Aber das besondere ist: All diese Punkte sind machbar …

Seit ihrer Unterzeichnung Ende letzten Jahres wird die »Genfer Vereinbarung« auf der ganzen Welt diskutiert. Natürlich ist sie nur ein Anfang, denn sie wurde nicht zwischen Regierungen, sondern zwischen privaten Bürgern ausgehandelt.

Aber der Plan hat das Zeug dazu, den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess der Palästinenser und der Israelis neu in Gang zu setzen. Ist erst einmal die Zivilgesellschaft überzeugt, kann sie Druck auf ihre beiden Regierungen ausüben und den Friedensprozess wieder weiter vorantreiben. Es wäre nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass am Ende die Zivilgesellschaft und individueller Mut einen friedlichen Weg für scheinbar unlösbare Fragen vorwärtsgetrieben hätte.“

Antje Vollmer verwies darauf, dass die Arbeit der Benediktinerabtei, ihre Vermittlung zwischen den Kulturen, Philosophien und Religionen, ihre echte Freundschaft zu den Mitmenschen anderer Glaubensrichtungen den Prozess hin zur »Genfer Vereinbarung« begleitet hat, dass ohne ruhige und offenherzige Orte wie dieses Kloster ein Friedensprozess nicht vorstellbar ist.

„Sie geben den Menschen in Israel, die die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben noch nicht aufgegeben haben, einen Ort zum Austausch und zur Verständigung. Sie halten Ihr Haus offen für alle ohne Ansehen ihrer Religion in einem Land, in dem der Ausnahmezustand herrscht. Für diese Arbeit »im Kleinen«, in der Tiefe, die aber den großen Friedensinitiativen in nichts nachsteht, sie viel eher tatkräftig unterstützt, möchten wir Sie heute mit der Überreichung des Göttinger Friedenspreises ehren.

Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen noch viel Kraft und Zähigkeit und Friedfertigkeit auf Ihrem steilen und steinigen Weg.“

Unauffällige Friedensarbeit

In seiner Antwort ging der Preisträger auf die schwierige Lebenssituation in Jerusalem ein und darauf, dass sie als Mönche nicht für alles Lösungen anbieten könnten, da sie weder Strategen noch Politiker und auch keine Helden oder Freiheitskämpfer seien.

Er plädierte dafür, gerade in Jerusalem die Lehren aus der Geschichte zu ziehen: „Zunächst einmal ist es für uns Christen sehr, sehr hilfreich, dass wir bei all den Heiligtümern, die auch wir in Jerusalem verehren, keine politischen Ansprüche auf die Heilige Stadt und das Heilige Land stellen. Das war auch schon anders, mit verheerenden und blutigen Folgen. Da sind wir heute, so hoffe ich, weiter … (Es) haben sich schon seit allen Zeiten verschiedene Völker, Kulturen und Glaubensgemeinschaften in der Stadt aufgehalten, haben dort gelebt und gebetet und nur allzu oft auch miteinander und untereinander gekämpft. Was wir heute mit multikultureller Gesellschaft und Globalisierung bezeichnen, das erlebt Jerusalem schon seit Jahrtausenden.“

Wörtlich führte er weiter aus: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich „immer mehr Theologen und Gelehrte verschiedener Konfessionen und Religionen darüber Gedanken gemacht, welchen Beitrag die Religionen zu einem nachhaltigen und wahren Frieden in der Welt leisten können. Diese Frage ist natürlich auch an unserer benediktinischen Klostergemeinschaft nicht spurlos vorüber gezogen, weil ja auch die Kriege und Konflikte der vergangenen 100 Jahre, seit es unser Kloster in Jerusalem gibt, nicht ohne Spuren an uns vorbeigezogen sind … Mehr als einmal stand in den 100 Jahren der Geschichte unseres Klosters die Frage im Raum, ob es denn nicht geboten sei, die Abtei aufzuheben. Man hat es nicht getan …

Die verschiedenen Generationen von Mönchen auf dem Zion haben versucht, ihre eigene Antwort auf die Frage zu geben, welchen Beitrag sie als Mönche zum Frieden in der Heiligen Stadt beitragen können: Sie waren – und sind bis heute – Anlaufstelle für deutsche Pilger und Reisende im Heiligen Land; sie haben sich in der Ausbildung des Priesternachwuchses des lateinischen Patriarchates engagiert; sie haben sich mit Theologie, Geschichte und Kultur beschäftigt; haben Werkstätten aufgebaut; sie waren Gastgeber für einzelne und Gruppen und auch – aufgrund der besonderen geo-politischen Lage im Niemandsland – für Politiker der beiden Konfliktparteien im Land, usw. So begegneten sie immer wieder beiden großen Bevölkerungsgruppen im Land selbst und vielen, vielen Gästen aus dem Ausland.

Wir führen so als Mönche zwischen den Fronten vielleicht nicht ein idealtypisches Klosterleben, wie man es sich in einem frommen Bilderbuch vorstellen mag. Auch wenn die Mönche zu allen Zeiten immer wieder in die große oder kleine Politik hineingerutscht sind und sich mehr oder weniger aktiv an ihr beteiligt haben. Und es ist in der Tat eine der spannendsten Aufgaben für meine Brüder und mich, jeden Tag neu das klösterliche Leben in Gebet und Arbeit mit unserem konkreten Ort in Beziehung zu bringen …

Aber Gott sei Dank: Es entspringen eben für mich als Christ und Mönch alle Quellen in dieser Stadt, in diesem Land. Und aus diesen Quellen dürfen wir als Gemeinschaft schöpfen. Da bedarf es an sich keiner großartigen theologischen oder philosophischen, gar sozialen oder politischen Gedankengebäude oder Entwürfe: Die beiden Orte, an denen unsere Gemeinschaft im Heiligen Land lebt, geben uns schon als solche und mit ihren Traditionen ein eigenes Fundament.

Unser Priorat Tabgha am See Genesareth im Norden Israels – 200 Meter unter dem Meeresspiegel, wo sechs unserer Brüder leben, wurde bereits von den frühen Christen als Ort der wunderbaren Brotvermehrung verehrt. Im 15. Kapitel des Matthäusevangeliums … heißt es: »Jesus aber rief seine Jünger heran und sprach: Mir ist weh um die Leute. Schon drei Tage harren sie bei mir aus und haben nichts zu essen«. Mir ist weh um die Leute. Und Er machte sie heil. – Dieses Mitleid, dieses Erbarmen Gottes mit den Menschen prägt bis heute diesen kleinen Flecken Tabgha mit seiner Abgeschiedenheit und der wunderbaren Tier- und Pflanzenwelt. Schon seit vielen Jahren kommen behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche: Palästinenser, Israelis und auch Europäer, hier hin, um einige Tage oder Wochen ihrer Ferien zu verbringen. Sich kennen lernen, zusammen leben und essen, das geschieht so auf eine ganz natürlich Weise, v.a. die Kinder sind es, die sich im Spielen begegnen und so die ersten Barrieren durchbrechen.

So wie Tabgha seine Quellen für unser Leben als Mönche hat, so gilt das auch für den heiligen Berg Zion … Der Zion ist zu einem Ort der Sammlung und der Sendung der Kirche geworden. Ein tief spiritueller Ort, der Ruhe und Kraft in sich vereint, der einen zu sich selbst kommen lässt und der aus dieser Sammlung heraus wieder nach Außen wirkt, so wie in den ersten Tagen der Kirche vom Zion aus die Apostel in die ganze Welt losgezogen sind.

Wir haben dabei in den vergangenen Jahren, in denen der Konflikt im Heiligen Land aufs neue brutal und blutig ausgebrochen ist, eine ganz wunderbare Erfahrung machen dürfen: Je mehr wir uns bemühen, als Mönche zu leben – und nicht als Politiker, Sozialarbeiter oder Krisenmanager – um so mehr und umso besser können wir unseren Beitrag für Verständigung und Versöhnung, letztlich für Frieden im Heiligen Land leisten: Das persönliche und das gemeinsame Gebet etwa ist eine der wichtigsten Säulen unseres Lebens; auf dem Zion ist das spezielle Gebet um den Frieden natürlich eine ganz besondere Aufgabe für uns. Zu diesem Friedensgebet laden wir immer wieder auch Stadt und Land ein, lassen jeden Samstag um 15 Uhr unsere Glocken als Mahnung für den Frieden läuten. – Gerade dieses Glockenläuten wird weithin in der Stadt Jerusalem wahrgenommen: Wenn es einmal ausbleiben sollte, fragen die Menschen, wenn man in der Altstadt unterwegs ist, mit ernster Sorge, ob wir denn aufgehört hätten, für den Frieden zu beten. Wir bemühen uns, bei diesem Gebet um den Frieden auch die Gebetstraditionen zu berücksichtigen, und haben deshalb in unsere Komplet, in das Nachtgebet der Mönche, Elemente aus den anderen Konfessionen und Religionen integriert, um uns im Gebet mit ihnen zu verbinden: Am Mittwoch haben wir Elemente aus der christlich-orthodoxen Tradition, am Donnerstag aus der muslimischen und am Freitag aus der jüdischen.

Eine weitere wichtige Säule unseres Lebens als Benediktinermönche ist die Gastfreundschaft. Unser Ordensvater, der heilige Benedikt, hat uns in die Regel eingeschrieben, dass jeder Fremde wie Christus selbst aufzunehmen ist. Wenn wir dann im vorletzten Winter, auch aufgrund unserer besonderen geopolitischen Lage, einige Male jungen Israelis und Palästinensern Gastfreundschaft gewähren konnten, und diese jungen Leute sich auf neutralem Grund und Boden einfach kennen lernen und über ihre jeweilige Geschichte und ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine gemeinsame friedliche Zukunft austauschen konnten, dann mag das ein kleiner Baustein zum Frieden im Heiligen Land sein. – Gastfreundschaft ist auch für unsere Gottesdienste wichtig. Beispielhaft nennen möchte ich die Mitternachtsmesse an Weihnachten, zu der vor allem junge Israelis, jüdische Studentinnen und Studenten kommen. Sie kommen nicht, weil sie zum Christentum übertreten möchten, sondern mehr aus kulturellem Interesse. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass sie am Eingang der Kirche freundlich empfangen werden, dass sie auch am Beginn der Liturgie noch einmal freundlich begrüßt werden und dass ihnen gewisse Regeln vermittelt werden, am besten in ihrer eigenen Sprache Ivrith. Wir haben damit besonders zum vergangenen Weihnachtsfest sehr gute Erfahrungen gemacht.

In diesem Sinne wird auch nach und nach unsere Friedensakademie Beit Benedikt Gestalt bekommen können, die sich in erster Linie als ein Ort der Begegnung von Gästen und des gegenseitigen Austauschs versteht. Im Kern wird stets unsere betende Mönchsgemeinschaft stehen, die im Sinne benediktinischer Gastfreundschaft auch »den Fremden« in jeweils entsprechender und sinnvoller Weise am Kloster teilhaben lässt. Es wird darum gehen, das, was an Aktivitäten und Engagement ohnehin schon besteht, zu bündeln und zu stabilisieren.

Sie werden erkennen, dass es also eigentlich eine unauffällige Art von Friedensarbeit ist, um die meine Brüder und ich uns bemühen: Wir wollen als Mönche auf dem Zion und in Tabgha am See Genesareth leben. Dabei entspricht es guter benediktinischer Tradition, dass jede Gemeinschaft ihr Mönch-Sein eben auch in den jeweiligen Rahmenbedingungen orientiert. Wie das in unserem Falle aussieht, habe ich versucht, Ihnen etwas zu schildern. Vielleicht können wir so einen kleinen Beitrag dazu beitragen, die Wunden in den Seelen der Menschen zu heilen … Und das braucht Generationen!“

Nach dem Dank an die Stiftung Dr. Roland Röhl, den Vorstand und die Jury des »Göttinger Friedenspreises«, kam Abt Benedikt Lindemann noch auf ein besonderes Anliegen zu sprechen: „Vor 100 Jahren entstand unser Kloster im Namen der Deutschen, ebenso wie etwas früher auch die lutherische Erlöserkirche gebaut worden ist. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre erkenne ich den Auftrag, dass gerade von Deutschland aus Gedanken des Friedens ausgehen bzw. ausgehen sollten.“

Man kann sich über die Arbeit der Benediktiner in Jerusalem auch im Internet informieren: www.hagia-maria-sion.net

Dr. Roland Röhl (*1955) war promovierter Chemiker, arbeitete aber seit Beginn der 1980er Jahre als Wissenschaftsjournalist für Funk, Fernsehen und verschiedene Printmedien. Nach seiner Krebserkrankung 1995 entschied er sich, seine Lebensversicherung in eine Stiftung einzubringen, um seinem zentralen Anliegen – der Konflikt- und Friedensforschung – auch nach seinem Tod zur Geltung zu verhelfen. Die Stiftung ist seit 1998 in seinem Sinne tätig. Nähere Informationen unter: www.goettinger-friedenspreis.de

Die Friedensdemonstranten

Die Friedensdemonstranten

Wer waren sie, wofür stehen sie?

von Dieter Rucht

Mit dem jüngsten Irakkrieg lösten die amerikanisch-britischen »Kriegsunternehmer« eine bisher einzigartige weltweite Protestwelle aus. Kein Wunder, dass diese Mobilisierungswelle auch bald das Interesse von SozialwissenschaftlerInnen gefunden hat. Nun beinhaltet die wissenschaftliche Objektivierung eines sozialen Prozesses immer auch eine Distanzierung von diesem Prozess. Bei dessen TrägerInnen muss das auf Skepsis stoßen, zumal damit den Regierenden möglicherweise neues »Herrschaftswissen« geliefert wird. Die wissenschaftliche Objektivierung kann aber auch als Selbstreflexion im Interesse der eigenen Aktivierung und Effektivierung verstanden und betrieben werden. Wir lesen den folgenden Beitrag über die große Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002 in diesem Sinne und möchten ihn ebenso gelesen sehen.

No war – in vielen Sprachen formuliert – war dies der kleinste gemeinsame Nenner der Friedensdemonstrationen am 15. Februar 2003. Im Takt der Zeitverschiebung berichteten die Nachrichtensender über das sich nach Westen ausbreitende Lauffeuer von Demonstrationen. Es reichte von der Ostküste Australiens über Japan, Korea und Europa bis zur Westküste Nordamerikas – eine Globalisierung anderer Art. Je nach Quellen waren zwischen acht und vierzehn Millionen in zahlreichen Städten versammelt, um ihr Nein zu einem drohenden Krieg gegen den Irak zu bekunden. In Großbritannien, Italien und Spanien als den großen europäischen Ländern, deren Regierungen sich entgegen der überwiegenden Meinung ihrer Bevölkerung hinter die Bush-Regierung gestellt hatten, waren die mächtigsten Demonstrationen zu verzeichnen. Die Londoner Kundgebung gilt als die größte in der Geschichte des Landes. Berlin hat in seiner bewegten Vergangenheit mehrfach größere Demonstrationen gesehen. Aber noch nie zuvor hat in Deutschland ein auch nur annähernd so großer Friedensprotest wie am 15. Februar stattgefunden. Die Veranstalter, ein eigens für die Demonstration gebildeter Trägerkreis von über 40 Organisationen, sahen sich von dem Ansturm regelrecht überwältigt, hatten sie doch in den Tagen zuvor mal mit 80.000, mal mit 150.000 Teilnehmern gerechnet.

Die Medien in der Bundesrepublik reagierten mit Leitartikeln, ausführlichen Berichten, großformatigen Fotos und sichtlich beeindruckten Kommentaren. Abgesehen von der Überraschung über die Größe des Protests wurde vor allem seine gesellschaftliche Breite hervorgehoben. Der Tenor lautete, hier habe sich ein Querschnitt der Bevölkerung versammelt: Junge und Alte, Linke und Konservative, Wessis und Ossis, Müllwerker und Hochschullehrer, Schulklassen und Gewerkschaftsgruppen, Deutsche und in Deutschland weilende US-Amerikaner, Berliner und Münchener, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Punk mit Irokesenschnitt.

Ihr Nein zum drohenden Irakkrieg, zumindest ihr Nein zu einem Krieg unter den gegebenen Umständen, bildete fraglos das einigende Band. Doch hat, darüber hinausgehend, diese halbe Million Menschen weitere Gemeinsamkeiten aufzuweisen? Trotz aller medialer Schlaglichter, beiläufiger Interviews inmitten der Menge, journalistischer Kurzportraits ausgewählter Demonstranten und langer Hintergrundberichte bleiben die Fragen: Wer hat hier demonstriert, und wo stehen diese Menschen politisch?

Befragungen am 15. Februar 2003

Einer Initiative von belgischen Wissenschaftlern der Universität Antwerpen ist es zu verdanken, dass auf diese Fragen genauere Antworten möglich sind. Zusammen mit den Millionen von Demonstranten waren am 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei Städten der USA eine Reihe von Sozialwissenschaftlern und zahlreiche Helfer unterwegs, um einen weitgehend standardisierten zehnseitigen Fragebogen in der jeweiligen Landessprache auszugeben. In einigen Städten wurden zusätzlich Hunderte von direkten Interviews am Ort der Demonstration durchgeführt.

Die Berliner Befragung wurde logistisch und finanziell vom »Wissenschaftszentrum Berlin« für Sozialforschung (WZB) unterstützt. 1430 Fragebögen wurden nach einem strikten Zufallsprinzip ausgegeben, so dass jeder Demonstrant die gleiche theoretische Chance hatte, einen Fragebogen zu erhalten. Die Basis der folgenden ersten Auswertung bilden 781 Fragebögen, die bis zum 2. April eingegangen waren (54,6 Prozent Rücklaufquote).

Ergebnisse der Berliner Befragung

Die Verteilung der Geschlechter unter den Demonstranten (52,8 Prozent Frauen) entspricht nahezu der in der Gesamtbevölkerung. Gleiches gilt für die mittleren Altersgruppen von 25 bis 44 und 45 bis 64 Jahren. Dagegen waren die 15 bis 24-jährigen unter den Demonstranten in Relation zur Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert und die über 65-jährigen deutlich unterrepräsentiert. 97,8 Prozent der Befragten, und damit deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung (91,2 Prozent), besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Helfer der Untersuchung berichteten allerdings, dass einige ausländisch aussehende Angesprochene die Annahme des Fragebogen verweigert hätten. Doch abgesehen von diesen annähernden Entsprechungen zur Gesamtbevölkerung handelt es sich bei den Demonstranten in fast jeder anderen Hinsicht anscheinend um einen sehr speziellen Personenkreis, der keineswegs ein verkleinertes Abbild der Gesamtbevölkerung darstellt.

Frappierend ist der weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten. Nach ihrem höchsten Ausbildungsgrad befragt, nannten lediglich 1,3 Prozent die Haupt- oder Grundschule und 9,9 Prozent die Realschule oder Lehre. Dagegen hatten 16,8 Prozent das Abitur, weitere 51,2 Prozent einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss und zusätzliche 8,6 Prozent sogar eine Promotion. Zusammengerechnet beträgt somit der Anteil von Personen mit Abitur 76,6 Prozent; hinzuzurechnen sind noch 6,2 Prozent der Befragten mit Fachhochschulreife. Es ist allerdings zu vermuten, dass die Bereitschaft, einen Fragebogen auszufüllen, bei Personen mit hoher Bildungsqualifikation eher vorhanden sein dürfte als bei Personen mit niedriger Bildungsqualifikation. Arbeiter waren mit lediglich 4,4 Prozent vertreten, einfache Angestellte und Beamte mit 18 Prozent, Freiberufler mit 8,9 Prozent, Schüler, Studenten und Lehrlinge mit 32,5 Prozent und Arbeitslose mit 6,6 Prozent. Bei den beruflichen Tätigkeitsfeldern zeigt sich eine hohe Konzentration auf den Bereich Gesundheit, Erziehung, Pflege, Wohlfahrt und Forschung (29,1 Prozent). Schwach repräsentiert waren dagegen der traditionelle industrielle Bereich einschließlich der Bauwirtschaft (mit 5,1 Prozent) und die Landwirtschaft (mit 1 Prozent).

Der Anteil von Personen ohne Religionszugehörigkeit war mit 65,7 Prozent außerordentlich hoch (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Von den übrigen Befragten waren 23,6 Prozent evangelisch und lediglich 6,8 Prozent katholisch (Gesamtbevölkerung: 32,4 Prozent evangelisch und 32,6 Prozent katholisch).

Ein weiteres, in dieser Deutlichkeit überraschendes Ergebnis ist die allgemeine politische Positionierung der Demonstranten. Unter denen, die an den letzten Bundestagswahlen teilgenommen hatten, nannten lediglich 0,9 Prozent die CDU/CSU und 1,3 Prozent die FDP. Alle übrigen Stimmen konzentrierten sich, teilweise in unterschiedlichen Kombinationen von Erst- und Zweitstimmen, auf SPD, PDS und Grüne sowie – zu einem sehr geringen Anteil – auf Kleinparteien. Niemand der Befragten hatte seine Stimme einer rechtsradikalen Partei gegeben. Die Antworten auf die »Sonntagsfrage« – „Wenn morgen Bundestagswahlen wären, für welche Partei würden Sie stimmen?“ – unterstreichen das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit der Friedensdemonstranten. Die Grünen erhielten 53,7 Prozent, die SPD 20 Prozent und die PDS 20,3 Prozent der Stimmen. Dagegen landeten CDU/CSU bei 1,5 Prozent und die FDP bei 1,1 Prozent. Die Selbsteinstufung auf der Links/Rechts-Skala mit Positionen von 0 (ganz links) bis 10 (ganz rechts) weist in die gleiche Richtung. Das rechte Spektrum (Werte von 7 bis 10) war mit 1 Prozent fast verwaist und der mittlere Bereich (Werte von 4 bis 6) mit 20,1 Prozent relativ schwach vertreten. Dem linken Spektrum ordneten sich insgesamt 78,9 Prozent zu; immerhin 5,8 Prozent belegen den äußersten linken Rand (Skalenwert 0). Mit einem Mittelwert von 2,7 auf der 11-Punkte-Skala weichen die Demonstrierenden weit vom bundesdeutschen Durchschnitt ab, der verschiedenen Umfragen zufolge ziemlich genau in der Mitte der Skala liegt.

Die Demonstrationsteilnehmer sind in hohem Maße politisch interessiert (82,6 Prozent) und in diversen Zusammenhängen politisch aktiv. Lediglich 22,1 Prozent von ihnen hatten sich in den vergangenen fünf Jahren an keiner Demonstrationen beteiligt, darunter weniger Frauen als Männer. Die übrigen, befragt nach dem Anliegen von Demonstrationen, an denen sie teilgenommen hatten, nannten am häufigsten Frieden (65,6 Prozent), Anti-Rassismus (43,9 Prozent) und soziale Anliegen einschließlich gewerkschaftlicher Themen (36,7 Prozent). Sehr hoch ist auch die Beteiligung an anderen politischen oder sozialen Aktivitäten, etwa an Verbraucherboykotten, Petitionen, Volksentscheiden und Spendenaufrufen. In Relation zur Gesamtbevölkerung bezeichneten sich überdurchschnittlich viele Demonstranten (43,1 Prozent) als aktives Mitglied einer Gruppe oder Organisation, darunter einer Partei (9,3 Prozent), einer Organisation für globale soziale Gerechtigkeit (8,4 Prozent), einer Friedensorganisation (7,5 Prozent), einer Umweltorganisation (6,8 Prozent), einer Organisation für Frauenrechte (4,6 Prozent) und/oder einer antirassistischen Organisation (4,2 Prozent).

Während rund drei Viertel (74,5 Prozent) aller Befragten ihre Sympathie für die Bewegung gegen neoliberale Globalisierung bekundeten und fast zwei Drittel (63 Prozent) sozialen Bewegungen/Bürgerinitiativen viel oder völliges Vertrauen entgegenbringen, ist das Vertrauen in andere gesellschaftliche Gruppen und Institutionen deutlich geringer (zum Beispiel Bundespräsident 45,4 Prozent; Rechtssystem 31,8 Prozent; Gewerkschaften 23,3 Prozent). Das Schlusslicht bilden die politischen Parteien, denen nur 3,3 Prozent viel Vertrauen und keiner der Befragten völliges Vertrauen aussprachen. Hinter den Vereinten Nationen (31 Prozent), der Europäischen Union (17,7 Prozent) und der Bundesregierung (13 Prozent) landet der Bundestag bei 12,5 Prozent. Der Aussage „Die meisten Politiker versprechen viel aber tun in Wirklichkeit nichts“ stimmte die Hälfte der Befragten zu (49,1 Prozent). Noch mehr (52,1 Prozent) bejahten den Satz „Politische Parteien sind nur an meiner Stimme aber nicht an meinen Ideen und Meinungen interessiert“. Dennoch handelt es sich bei den Demonstranten nicht nur um eine Ansammlung von Skeptikern. Lediglich 15,1 Prozent bezeichneten sich als „überhaupt nicht zufrieden“ mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. Die durchaus vorhandene Akzeptanz des politischen Systems paart sich also mit einem außergewöhnlich hohen Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern.

Welche Positionen vertreten die Befragten im Hinblick auf die Irakkrise und die beteiligten Regierungen? Obgleich die Bundesregierung generell kein hohes Vertrauen unter den Demonstranten genießt, urteilte doch die große Mehrheit der Befragten positiv über die Anstrengungen ihrer Regierung, einen Krieg zu verhindern. In dieser Hinsicht zeigten sich 58,2 Prozent zufrieden und weitere 9,9 Prozent völlig zufrieden. Als wichtigste Aufgabe der Bundesregierung wurde angegeben, eine diplomatische Lösung im Irakkonflikt zu suchen (44,6 Prozent sahen darin das wichtigste Ziel und weitere 19 Prozent das zweitwichtigste unter einer Reihe von Zielen).

Nicht überraschend ist dagegen die überwiegend kritische Sicht auf das Mittel des Krieges und die Haltung der US-Regierung in der Irakfrage. Die Aussage, ein Krieg sei gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen, lehnten 84,2 Prozent der Befragten ab. Dass Kriege immer falsch seien, glauben 75,7 Prozent. Ein fast gleicher Prozentsatz (76,2) lehnte konsequenterweise einen Krieg gegen den Irak auch im Falle der Billigung durch den UN-Sicherheitsrat ab. Dass die USA einen „Feldzug gegen den Islam“ führen, glauben 38,5 Prozent der Befragten; dass dieser Angriff erfolge, um die Ölversorgung der USA zu sichern, meinten 86,1 Prozent. Zugleich stimmten aber auch 47,1 Prozent der Aussage zu, das irakische Regime müsse zu Fall gebracht werden, um das Leiden des dortigen Volkes zu beenden, während 20,7 Prozent diese Aussage ablehnten.

Überwiegend optimistisch zeigten sich die Teilnehmer hinsichtlich der erwarteten Wirkung der Demonstration, wobei freilich deutlich zwischen öffentlicher Wirkung und dem Effekt auf politische Entscheidungsträger unterschieden wurde. Der Aussage, Demonstrationen verbesserten das Verständnis der Öffentlichkeit für die erhobenen Forderungen, stimmten 83,2 Prozent zu (davon 39,9 Prozent „völlig“ ). Jedoch waren lediglich 6,6 Prozent „völlig“ der Meinung, dass die politischen Entscheidungsträger die Forderungen, die auf großen Demonstrationen erhoben werden, auch berücksichtigen. Dagegen äußerte sich in dieser Hinsicht über die Hälfte der Befragten (54,1 Prozent) unentschieden oder skeptisch. Der Schlüsselfrage, ob die Demonstration die Chance einer Verhinderung des Krieges erhöhe, stimmten 42,3 Prozent zu und weitere 20,6 Prozent „völlig“, während insgesamt 12,1 Prozent die Frage verneinten. Gleichwohl war auch diese Gruppe von Pessimisten zur Demonstration gekommen. Auch sie hatten teilweise lange Wege (29,1 Prozent nannten einen Anfahrtsweg von mindestens 150 Kilometern) und stundenlanges Herumstehen in beißender Kälte in Kauf genommen. Warum dies so war, brachte eine 28-jährige Berlinerin in ihrem Fragebogen mit folgender Bemerkung auf den Punkt: „Auch wenn es ohne Früchte bleiben wird, ist das erkennbare Auflehnen gegen diesen bevorstehenden Krieg notwendig. Als Zeichen, dass man nicht dafür ist, wenn man es schon nicht verhindern kann.“

Diskussion

Die vorliegenden Befunde erweisen wieder einmal, dass der selbstgewisse Augenschein trügen kann: Das (mediale) Bild der Demonstranten als eines breiten Querschnitts der Bevölkerung ist im Großen und Ganzen falsch.

Allerdings müssen diese Befunde ihrerseits relativiert werden. Abgesehen von einem möglichen Selektionsbias aufgrund einer lediglich gut durchschnittlichen Rücklaufquote war die Teilnehmerschaft stark regional geprägt: Von den Informanten hatten 59,7 Prozent ihren Wohnort in Berlin, 18,8 Prozent in den alten Bundesländern, 21,2 Prozent in den neuen Bundesländern und 0,3 Prozent im Ausland. Um die Bedeutung einer Variablen für das Protestverhalten adäquat abschätzen zu können, wären demnach die Demonstrationsteilnehmer vorzugsweise mit der Berliner Bevölkerung zu vergleichen bzw. müsste man prüfen, ob deren Merkmale vom BRD-Durchschnitt abweichen. Das ist beispielsweise im Falle der Religionszugehörigkeit oder der Parteipräferenz zu vermuten. Für die hier berücksichtigten Aspekte wurden entsprechende Konditionalisierungen der Befunde bisher nicht vorgenommen; vielfach liegt die erforderliche Hintergrundinformation überhaupt nicht vor.

Zum Zweiten ist zu unterscheiden zwischen dem relativ stabilen Protestpotential und dem kurzfristig schwankenden Grad der Ausschöpfung dieses Potentials. Die vorgelegten Befunde beinhalten hauptsächlich Hinweise auf Determinanten des Protestpotentials, tragen aber kaum zur Erklärung der augenscheinlichen »Konjunkturschwankungen« des Protests bei. Für solche Schwankungen sind zumeist situative Faktoren verantwortlich. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass mehr als 60 Prozent der Teilnehmer die Chance einer Verhinderung des Krieges durch die Demonstration erhöht sahen. Jeder über diesen Aspekt der »Gelegenheitsstruktur« hinausgehende Versuch, die situativen Faktoren zu spezifizieren, müsste beim jetzigen Stand der Analyse aber spekulativ bleiben.

Dieter Rucht, Professor für Soziologie, ist Leiter der Arbeitsgruppe »Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (rucht@wz-berlin.de)

Friedensbewegung und Friedensforschung

Friedensbewegung und Friedensforschung

Ein vielschichtiges Verhältnis

von Andreas Buro

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die »Ostermärsche gegen Atomwaffen in Ost und West« sich über die ganze Bundesrepublik ausweiteten und sich später als außerparlamentarische Opposition in der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« etablierten, wurde immer wieder eine eigene deutsche Friedensforschung gefordert. Etabliert gab es diese damals noch nicht, es gab nur einzelne Forscher, die sich ausgesuchter Themen annahmen. Die Atomwaffengegner waren gezwungen, sich ihre Kenntnisse weitgehend aus ausländischer wissenschaftlicher Literatur zu holen. Bertrand Russell und Linus Pauling, beide zweifache Nobelpreisträger, spielten eine große Rolle, aber auch der kritisch recherchierende Journalismus. Beispielhaft hierfür Robert Jungk mit seinem Buch »Heller als Tausend Sonnen«. Die Friedensbewegung setzte große Hoffnungen in eine zukünftige deutsche Friedensforschung, sie erhoffte sich in ihr einen starken, militärkritischen und auf Abrüstung orientierten Partner.

Bundespräsident Heinemann war es, der sich Anfang der siebziger Jahre für eine Förderung der Friedensforschung stark machte und in der »Aufbruchstimmung« jener Zeit – dem Beginn einer neuen Ostpolitik – wurden meist in Anlehnung an Universitäten die ersten deutschen Friedensforschungsinstitute gegründet, gefördert aus Bundes- und/oder Landesmitteln sowie von staatlichen und privaten Stiftungen. Die bekanntesten: die »Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung« in Frankfurt am Main und das Hamburger »Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik«. Dazu kamen Forscher oder Forschergruppen an Universitäten und Institutionen, die an militär- und friedenspolitischen Themen arbeiteten, finanziert aus Mitteln der Universitäten oder aus Drittmitteln. Institute wie die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen und auch die Bundeswehrhochschulen nahmen sich friedenspolitischer Themen an, wobei überraschenderweise Letztere nicht selten kritischere Ansätze vertraten als die zivilen Institutionen.

Die Friedensforschung war alles andere als homogen. Sie reichte von der eher konservativen Politikberatung, die militärische Optionen durchaus einschloss, bis hin zur gewaltfreien, sozialen Verteidigung, die besonders Theo Ebert in Berlin analysierte. Es gab eine große Bandbreite, und die Ansätze und Methoden waren für die auf Abrüstung drängende Friedensbewegung nur zum Teil von Interesse.

Während des Ost-West-Konflikts befasste sich ein großer Teil der Friedensforschung mit Fragen der Rüstungskontrolle. Ihr ging es darum, die wahnsinnige Steigerung von Zerstörungspotenzialen möglichst unter Kontrolle zu bringen, so dass diese nicht »aus Versehen« gezündet und Europa, vielleicht auch die USA und die UdSSR, vernichtet hätten. Hier handelte es sich nach Einschätzung vieler Friedensbewegter um eine Forschung zur Verhinderung von nicht gewollten Zerstörungsakten, um eine kontrollierte Aufrüstung, nicht aber um eine Orientierung auf Abrüstung und Friedensaufbau. Zu diesem Bereich gehörten auch die Bedrohungsszenarien, wie sie in den Eskalationsleitern von Kahn dargestellt wurden. Hinter ihnen stand eine Forschungsfrage mit höchst praktischer Bedeutung. Es ging darum für die westliche Seite die »Eskalationsdominanz« zu sichern – also Kriegsforschung unter dem Deckmantel der Friedensforschung.

In Kontrast dazu gab es jedoch auch die systematische Kritik der Abschreckungstheorien, wie sie etwa in den Untersuchungen von Dieter Senghaas zum Ausdruck kamen. Er arbeitete den Begriff von der »organisierten Friedlosigkeit« heraus. Später gab es wichtige Anstöße für eine Strategie der Deeskalation im Ost-West-Konflikt aus dem Max-Plank-Institut in Starnberg. Dort entwickelte der ehemalige Offizier der Bundeswehr Horst Afheldt Szenarien einer Defensivstrategie. Durch sie sollte es möglich sein, die Bedrohungs- also die Schwertpotenziale zu mindern, ohne im militärischen Sinne die Verteidigungsfähigkeit zu verlieren. In einem wechselseitigen Prozess sollte so Abrüstung, also nicht nur Rüstungskontrolle, vorangetrieben werden. Afheldts Anstoß hat damals eine breite Diskussion auch in der Friedensbewegung ausgelöst. Erfolgreich war er nicht, dafür fehlte der Wille zur politischen Verständigung.

»Die Friedensforschung« zu der »die Friedensbewegung« ein bestimmtes Verhältnis entwickeln konnte, gab es nicht. Vielmehr waren es stets sehr spezifische Zugänge und Verhältnisse je nachdem, um welche Art der Friedensforschung es sich handelte. Natürlich verdichteten sich Kooperation und Auseinandersetzung zwischen Forschung und Bewegung in Zeiten starker Mobilisierung der Friedensbewegung.

Die Vielgestaltigkeit des Verhältnisses verkomplizierte sich auch dadurch, dass es nicht »die Friedensbewegung« gab, sondern nur ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze und Grundorientierungen. Ich erinnere nur an die gewaltfrei-pazifistischen Traditionen, die sich in der Friedensbewegung finden, und an den zweiten großen Traditionsstrang den Anti-Militarismus, der aus der Arbeiterbewegung und ihren Umfeldern kommt. Während die pazifistischen Kräfte sich vornehmlich an dem Ziel der Abrüstung und an gewaltfreien Strategien der Konfliktbearbeitung ausrichteten, lehnten die anti-militaristischen Kräfte den gewaltsamen Konfliktaustrag durchaus nicht vollkommen ab. Die Unterstützung des militärischen Kampfes von Befreiungsbewegungen lag in ihrem Überlegungshorizont im Sinne »des letzten Gefechts« oder »des letzten Mittels«, also als einem »Gerechten Krieg«. Daraus ergab sich nicht selten die kuriose Situation der Nähe der sozialdemokratischen und der kommunistischen Teile der Friedensbewegung, die jeweils auf ihrer Seite der Ost-West-Front-Linie eine gewisse Berechtigung zur Verteidigung sahen und deshalb der vorhin schon erwähnten Rüstungskontrollpolitik viel näher standen als die aus pazifistischen Traditionen sich nährenden Teile der Friedensbewegung. Freilich war und ist die Heterogenität innerhalb der Friedensbewegung weit größer, als die hier nur genannten beiden Traditionslinien es vermuten lassen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entstand für die Friedensbewegung eine gänzlich neue Situation. Sie musste sich aus den alten Konstellationen lösen und sich auf ganz neue Problem- und Strategiefelder einstellen. Die Stichworte lauten: Grenzen überschreitende zivile Konfliktbearbeitung; die neue unipolare Konstellation in der Weltpolitik; die Haltung zu internationalen Recht und seinen Institutionen; das Problem westlicher struktureller und militärisch gestützter Globalisierungspolitik und seiner Folgen; der Zerfall von Staaten und die verstärkte Privatisierung militärischer Gewalt; neue Formen asymmetrischer gewaltsamer Auseinandersetzungen mit ihrem auf beiden Seiten terroristischem Charakter. Ökologische und soziale Fragen gewinnen eine immer größere Bedeutung. Auch das sich verändernde Verhältnis innerhalb der Triade der hochindustrialisierten Welt, insbesondere der USA zu der EU und umgekehrt, werden immer wichtiger. Die deutsche und europäische Friedensbewegung stehen vor der großen Aufgabe, den militärischen Aufbau in der EU zur Ermöglichung eigener Angriffs- und Interventionsfähigkeit »out-of-area« zu verhindern und eine Orientierung auf eine Zivilmacht Europa, auf zivile Konfliktbearbeitung voranzutreiben und sie sollte dafür die Arbeit der Friedensforschung nutzen.

Die verschiedenen Forschungsinstitute befassen sich mit Rüstungskontrolle, Kriegsursachenforschung, ziviler Konfliktbearbeitung usw. Zum Teil bearbeiten sie eine große Bandbreite friedenspolitisch relevanter Themen, sie haben aber auch Schwerpunkte gesetzt, wie z.B. das IFSH auf Europa als Zivilmacht, die HSFK auf Demokratien und Frieden, das BICC auf Konversion, das INEF auf Global Governance und das SCHIFF auf die Zusammenarbeit in der Ostseeregion. Neue »kritische« – fast ausschließlich mit Projektgeldern arbeitende Institute und Forschungszusammenschlüsse sind entstanden, wie das Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFKG) oder der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS).

Die Friedensforschung liefert eine umfassende Expertise, die für die Friedensbewegung zugänglich ist. Neben den Veröffentlichungen der einzelnen Institute möchte ich hier als Beispiel auch das »Friedensgutachten« nennen, das gemeinsame Jahrbuch von fünf Instituten für Friedens- und Konfliktforschung. Im Jahrbuch 2003 haben das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), das Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und die Hessische Stiftung für Friedens und Konfliktforschung (HSFK) z.B. die »Frage nach der Zukunft von Kooperation oder Konfrontation in der neuen Weltordnung« in den Mittelpunkt gestellt und damit eines der wichtigsten friedenspolitischen Themen aufgegriffen: Die Ausarbeitung von Strategien zur Verschiebung der Gewichtung, weg vom militärischen Konfliktaustrag, hin zu ziviler Bearbeitung von Konflikten und Aussöhnungsprozessen.

Viele FriedensforscherInnen orientieren sich in erster Linie in Richtung Politikberatung und Politikberatung im Sinne der Friedensbewegung ist mit Sicherheit von größter Bedeutung, sie sollte aber eine engere Kooperation zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung einschließen. Eine starke Friedensbewegung gibt der Friedensforschung zusätzlich Gewicht und die Friedensbewegung ihrerseits braucht die Erkenntnisse der Friedensforschung. Sie muss sich in die Lage versetzen, aus dem großen Angebot von Forschung und Wissen, das für sie wichtige auszuwählen. Hierfür benötigt sie Forscher und Forscherinnen, die sich mit Zielen der Friedensbewegung identifizieren und die auch einmal bereit sind, Forschung im Sinne der Fragestellungen der Friedensbewegung voran zu treiben, bei gleichzeitiger kritischer Sichtung.

Das Verhältnis von Forschung und Bewegung wird dabei wie bisher durch gegenseitige Anregung und unvermeidliche Distanz gekennzeichnet sein.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

20 Jahre Wissenschaft und Frieden

20 Jahre Wissenschaft und Frieden

von Jürgen Nieth

Lieber Leserin, lieber Leser,
Oktober 1983 – die Bundesrepublik Deutschland erlebte die größten Friedensdemonstrationen in ihrer Geschichte. Weit über eine Million demonstrierten, wohlwissend, dass der Bundestag gegen die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung wenige Tage später die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen beschließen wird. In dieser Situation erschien die erste Ausgabe des »Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden«.

Die Friedensbewegung hatte sich in den drei Jahren des Massenprotestes zwischen 1981 und 1983 viel militär-technisches Fachwissen angeeignet. Raketenreichweiten und Zielgenauigkeit, »Overkill« und die Gefahr eines Zufallskrieges waren Tagesthemen. Was würden die nächsten Schritte im atomaren Wettrüsten sein? Erste Pläne für eine Weltraummilitarisierung lagen bereits auf dem Tisch. Mit neuen Waffensystemen würden aber auch die Anforderungen an das Wissen der Bewegung wachsen.

Der BdWi ergriff die Initiative für einen Informationsdienst, der wissenschaftliche Erkenntnis aufbereiten und den Friedensengagierten zugänglich machen sollte. Rainer Rilling und Paul Schäfer wandten sich an die im Zuge der Friedensbewegung entstandenen Wissenschaftler-Initiativen mit dem Aufruf, durch Mitarbeit zur Qualifizierung der öffentlichen friedenspolitischen Diskussion beizutragen. Mit Erfolg: Aus ihren Reihen kamen die ersten AutorInnen, später wurden die Initiativen selbst Mitherausgeber.

Obwohl der »Infodienst« von Anfang an interdisziplinär angelegt war, dominierte in den ersten Jahren die nüchterne Hardware-Expertise verbunden mit dem Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung.

1989/90 dann der Kollaps des Sozialistischen Lagers. Die NATO verlor den Feind und nicht nur die Friedensbewegung hoffte auf eine umfassende Abrüstung, eine friedlichere Welt und eine Friedensdividende. Der Fokus Frieden und Rüstungskritik schien überholt, Themen wie Konversion, die Weiterentwicklung internationaler Institutionen, die Umwidmung freiwerdender Gelder für die Entwicklungspolitik rückten nach vorne.

Doch die Hoffnungen zerstoben schnell: Der Golfkrieg 1991 demonstrierte das ungebrochene Denken der westlichen Eliten in militärischen Kategorien. Der Abbau überflüssig gewordener militärischer Potenziale führte nur vorrübergehend zu einer Senkung der weltweiten Rüstungskosten. Rüstungsanalyse und -kritik blieben notwendig. Gleichzeitig unterstrichen die Gewalteskalation in Folge des Zerfalls multiethnischer Staaten und die sich selbst reproduzierenden Kriege in Afrika die Notwendigkeit einer breiteren Themenführung: Frieden in Bezug zu Menschenrechten, Demokratisierung, zum Nord-Süd-Verhältnis und zu einer »zukunftsfähigen« Politik, um nur einige zu nennen.

1999 dann der Kosovo-Krieg. Das bis dahin Undenkbare wurde Realität: Nach über 50 Jahren beteiligte sich Deutschland wieder an einem Angriffskrieg, ausgerechnet unter Rot-Grün wurde der Krieg wieder zur »Fortführung der Politik mit anderen Mitteln«. An die Stelle der Bündnis- bzw. Landesverteidigung rückte in der Folge bei NATO und Bundeswehr der Einsatz »out of area«.

Eine komplizierte Situation für eine an der Schnittstelle von Friedensforschung und Friedensbewegung wirkende Zeitschrift. Der Aktualität geschuldet dominierten jetzt die Kriegs-, Militär- und Rüstungskritik. Für Visionen, die Diskussion einer zukunftsfähigen Entwicklung oder einer Kultur des Friedens blieb zu wenig Raum.

Das galt auch für die Information über das breite Spektrum der deutschen Friedensforschung. Deshalb haben wir dieses Thema in den Mittelpunkt der »Jubiläumsausgabe« gestellt. Es geht nicht um einen vollständigen Überblick, sondern um einen Einblick in die breit gefächerte Forschungslandschaft. Ein Einblick der darauf hinweist, dass sich auf diesem Sektor in den letzten 20 Jahren viel verändert hat, der aber auch inhaltliche Defizite aufzeigt zum Teil bedingt durch die ungenügende und ungesicherte Finanzierung vieler Bereiche. Ein Einblick, der die Spanne deutlich werden lässt, zwischen friedenswissenschaftlichen Erkenntnissen und realer Politik, der die Möglichkeiten, vor allem aber die Grenzen der friedenswissenschaftlichen Politikberatung erkennen lässt.

Die Friedensforschung muss damit leben, dass die Politik nur das übernimmt, was in ihr Konzept passt. Beispiel Zivile Konfliktbearbeitung: Vom Kosovo über Afghanistan zum Irak, die Beweise liegen auf dem Tisch: Kriege lösen keine Probleme, wir brauchen zivile Konfliktbearbeitung als Alternative und nicht – wie von den Regierenden weitgehend akzeptiert – als Ergänzung des militärischen Einsatzes.

20 Jahre W&F: Die Schwerpunkte haben sich entsprechend der politischen Entwicklung wiederholt verändert. Geblieben ist: Der Frieden braucht Bewegung und Bewegung braucht Expertise. Es ist unser Ziel, diese weiterhin wissenschaftlich fundiert zu liefern.

Jürgen Nieth