Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung

Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung

von Peter Strutynski

In W&F 1-2004 hat der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht, Prof. für Soziologie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, die Ergebnisse einer Studie über die TeilnehmerInnen der Berliner Friedensdemonstration gegen den Irakkrieg im Februar 2003 vorgestellt – Ergebnisse, die in Teilen bereits direkt nach der Demonstration in den Medien ein breites Echo fanden. Peter Strutynski unterzieht die Befragung und ihre doppelte mediale Aufbereitung einer kritischen Betrachtung und legt dar, warum die TeilnehmerInnen an Demonstrationen eigentlich nie den Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren – auch dann nicht, wenn sie dem Willen der großen Mehrheit Ausdruck verleihen.

Die Protestbewegung gegen den Irakkrieg 2003 hat alles übertroffen, was bisher in der deutschen, wahrscheinlich aber auch in der Geschichte anderer Länder und weltweit registriert worden war. Massendemonstrationen am 15. Februar 2003 gegen den angekündigten amerikanisch-britischen Krieg fanden in rund 60 Ländern der Erde statt, die Teilnehmerzahlen werden auf bis zu 16 Millionen geschätzt. Mit der Großdemonstration in Berlin ist die deutsche Friedensbewegung endgültig aus dem Schatten der 1980er Jahre herausgetreten und hat sich als runderneuerte außerparlamentarische Kraft im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik gehörigen Respekt verschafft. Öffentlichkeit, Medien und Politik waren gleichermaßen beeindruckt von dieser großartigen Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung gegen den drohenden Krieg und für den Frieden.

Es mag als Glücksfall erscheinen, dass die Demonstrationen vom 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei US-amerikanischen Städten auch wissenschaftlich unter die Lupe genommen wurden. Der »Bewegungsforscher« Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin wurde in den Tagen danach in fast allen deutschen Zeitungen mit zwei »überraschenden« Erkenntnissen seiner Feldforschung zitiert:

  • Die Demonstration spiegele einen Querschnitt der Bevölkerung wider.
  • Viele Demonstrantinnen und Demonstranten seien zum ersten Mal in politischer Absicht auf die Straße gegangen. (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau, 18.02.2003).

Diese Erkenntnisse schienen trivial zu sein, weil eine Massendemonstration dieser Größenordnung (mehr als 500.000), die in ihrer politischen Stoßrichtung die Überzeugung von rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausdrückt, durchaus auch stellvertretend für diese Bevölkerung stehen kann. Im statistischen Sinn »repräsentativ« muss ihre Zusammensetzung deswegen noch lange nicht gewesen sein. Z.B. wird es bei Demonstrationen selten möglich sein, einen repräsentativen Altersquerschnitt auf die Straße zu bringen. Wenn zur Zeit rund 17 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter sind, heißt das eben nicht, dass dieser Anteil auch bei einer Demonstration erreicht wird – noch dazu bei einer Demonstration und Kundgebung, die insgesamt über vier Stunden bei eisigen Temperaturen dauern. Trivial mutet auch die zweite Feststellung an, dass viele Teilnehmer/innen „zum ersten Mal in ihrem Leben“ bei einer politischen Demonstration mitgemacht haben. Eigentlich sagt schon der gesunde Menschenverstand, dass je größer eine Demonstration, desto eher sind Menschen dabei, die noch nie zuvor demonstriert haben. Noch dazu, wenn viele junge Menschen beteiligt sind.

Bewegungsforscher Rucht hatte kein Hehl aus seiner Sympathie für die Berliner Großdemonstration gemacht. Ich vermute, sie entsprach seinem Wunsch nach einer großen Gemeinschaft der breiten Mehrheit, sprich der breiten Mitte. Umso ernüchterter war er, als sich bei genauerer Auswertung der ermittelten Daten herausstellte, dass die Demonstration keineswegs den „Querschnitt der Bevölkerung“ darstellte, ja, dass sie „linkslastiger als vermutet“ war. (Anmerkung am Rande: Es entspricht dem herrschenden politischen Verständnis, dass bei der Charakterisierung politischer Spektren »links« offenbar immer mit einer »Last« in Verbindung gebracht wird, die Vokabel »mittelastig« gibt es dagegen nicht, denn die Mitte wird doch nie und nimmer als Last empfunden!)

„Frappierend“ war für Rucht auch der „weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten“. 51 Prozent der Demonstranten hätten einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, acht Prozent darüber hinaus sogar eine Promotion. Hinzu kommen gut sechs Prozent Menschen mit Fachhochschulreife und 17 Prozent mit Abitur. Alles in allem: 82 Prozent der befragten Demonstranten haben mindestens Abitur oder Fachhochschulreife. Weit überproportional vertreten waren auch die Personen ohne Religionszugehörigkeit: 65,5 Prozent waren ohne Glaubensbekenntnis (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Unter den Kirchenmitgliedern rangierten die Protestanten mit 32,2 Prozent eindeutig vor den Katholiken (7,4 %) (Gesamtbevölkerung: 32,2 % ev., 32,6 % kath.). Die Unterrepräsentanz der Katholiken dürfte sich recht einfach aus der relativen Ferne Bayerns, Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens erklären lassen. Von dort waren vermutlich wenig Demonstranten nach Berlin gefahren (zumal z.B. am 15. Februar in Stuttgart eine eigene Antikriegs-Demonstration stattfand). Und der große Teil der Demonstration, den die überwiegend evangelischen – wenn nicht gar gottlosen – Berliner stellten (über 60 %, wie Rucht mitteilt), dürfte diese Zahlen verständlich machen.

Doch völlig überrascht war Rucht von der allgemeinen politischen Positionierung der Demonstranten. Die beliebte Sonntagsfrage unter den Demonstranten erbrachte „das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit“: 93,5 Prozent wollten Rot-Grün bzw. PDS wählen! Allerdings: Die Grünen erhielten fast 53 Prozent, die SPD knapp 21 und die PDS knapp 20 Prozent – da reicht das Spektrum also doch wieder bis weit in die Mitte. Dass die CDU/CSU mit 1,7 Prozent und die FDP mit 1,2 Prozent vorliebnehmen musste, überrascht indessen weniger. Immerhin handelte es sich um eine Antikriegsdemonstration, und die CDU hatte sich derart eindeutig für den Krieg ausgesprochen und sich hinter Bush gestellt, dass sich eine CDU-Wahloption in der Situation geradezu verbot.

Die Linksorientierung der Demonstration wird des Weiteren damit belegt, dass sich die meisten Demonstranten auf einer vorgegebenen »Links/Rechts-Skala« (von 0=ganz links bis 10=ganz rechts) 18,8 Prozent als »sehr links« und 64,1 Prozent als »links« einstufen (Werte von 0-3) und nur 1,1 Prozent als »rechts« bis »sehr rechts« (Werte von 7 bis 10). Rucht fehlt vor allem die »Mitte« (Werte von 4 bis 6): Zu ihr bekennen sich nur 16 Prozent. Im Kontext anderer Fragen erweist sich die Masse der Demonstranten als ausgesprochen kritisch und skeptisch gegenüber den politischen Institutionen, insbesondere den Parteien, und beurteilt den drohenden Irakkrieg überwiegend als Krieg um Öl. So stimmen 85 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die USA wollen den Irak angreifen, um ihre nationale Ölversorgung zu sichern.“ Auch die überwiegend kriegskritische Haltung bildet sich in der Umfrage ab, so wenn z.B. wiederum 85 Prozent folgende Aussage ablehnen: „Ein Krieg ist gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen.“ Zur pazifistischen Aussage „Kriege sind immer falsch“ bekennen sich schließlich gut 76 Prozent aller Befragten.

Das wirklich Frappierende an solchen Ergebnissen ist, dass sie sich im Großen und Ganzen decken mit zahlreichen Repräsentativerhebungen vor, während und nach dem Irakkrieg. Noch ein halbes Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges hat sich dies nicht grundsätzlich geändert. Im Oktober 2003 führte Gallup Europe im Auftrag der Europäischen Kommission eine Umfrage durch, deren Ergebnisse eine anhaltende Kriegsgegnerschaft und USA-Skepsis in der europäischen Bevölkerung dokumentieren.1 Beispielsweise wollten die Interviewer wissen, ob die Befragten den Irakkrieg auch ein halbes Jahr nach dessen Beginn für gerechtfertigt halten. 68 Prozent aller Befragten verneinten diese Frage, worunter noch einmal 41 Prozent sagten, sie hielten die Militärintervention unter gar keinen Umständen für gerechtfertigt. Demgegenüber glaubt nur eine Minderheit von 29 Prozent, dass der Krieg gerechtfertigt gewesen sei (darunter befanden sich 7 %, die diese Meinung unter allen Umständen aufrechterhalten würden). Differenziert man nach Ländern, so ergeben sich doch bemerkenswerte Unterschiede: Am größten ist die Ablehnung des Krieges in Griechenland, wo 96 Prozent der Befragten den Krieg für ungerechtfertigt halten. Österreich mit 86 Prozent und Frankreich mit 81 Prozent folgen auf den Plätzen zwei und drei, dahinter Spanien (79 %), Luxemburg, Belgien (jeweils 75 %) und Deutschland (72 %). Das einzige EU-Land, in dem eine Mehrheit davon ausging, dass der Krieg gerechtfertigt war, ist Dänemark. Sogar in Großbritannien, das sich mit seinem Premierminister Tony Blair so stark ins kriegerische Zeug gelegt hatte, waren die Kriegsbefürworter im Oktober in der Minderheit (44 %). 51 Prozent der Briten hielten den Krieg für nicht gerechtfertigt.

Die tief sitzende Skepsis gegenüber der Politik der US-Administration kommt in der Antwort auf die Frage zum Ausdruck, wem der Wiederaufbau des Irak anvertraut werden sollte. Das geringste Vertrauen bringen die Menschen den Vereinigten Staaten von Amerika entgegen: 18 Prozent der Europäer sagen, der Wiederaufbau des Irak sei bei den USA gut aufgehoben. Bessere Noten erhielt da schon die Europäische Union, obwohl sie selbst gar nicht als Akteur im Irak involviert ist. Sie wollten 25 Prozent der Befragten mit dem Wiederaufbau beauftragen. Noch mehr Vertrauen genießen die Iraker selbst, denen 44 Prozent das weitere Schicksal ihres Landes in die Hände legen möchten. Unangefochten aber an der Spitze des Vertrauens liegen die Vereinten Nationen, denen 58 Prozent der Befragten zutrauen, im Irak das Richtige zu tun (wenn man sie nur lassen würde, müsste hinzugefügt werden).

Auch andere Umfragen belegen, dass eine große und stabile Bevölkerungsmehrheit über Monate den Irakkrieg abgelehnt hat und auch heute noch ablehnt. Dies setzt sich indessen nicht unmittelbar in politische Bewegung um. Am 15. Februar 2003 kam eine Reihe begünstigender situativer Faktoren zusammen (die sog. Gelegenheitsstruktur), die den Protest gegen den drohenden Krieg zu einer gewaltigen Massenbewegung anschwellen ließen. Dennoch waren die Demonstranten im statistischen Sinn nicht repräsentativ für die Bevölkerung – auch nicht für die rund 80 Prozent der Menschen, die den Krieg ablehnten. Dies liegt schlicht daran, dass »die Straße« für die breite Bevölkerung nicht die bevorzugte Arena zur politischen Meinungsäußerung ist.

Demonstranten sind vermutlich immer ein hoch motivierter, überdurchschnittlich informierter, besonders entschiedener und in politischen Zusammenhängen (Parteien, Gewerkschaften, »neuen sozialen Bewegungen«) agierender Teil der Gesellschaft. Solche Zuweisungen korrespondieren mit großer Wahrscheinlichkeit mit den von Rucht festgestellten Attributen der Demonstranten, was deren höhere Bildungsabschlüsse oder linke Parteipräferenzen betrifft. Da dies einem Bewegungsforscher bekannt sein sollte, hätte sich ein dem Gegenstand angemesseneres Untersuchungsdesign angeboten. Nicht die politischen Einstellungen von Demonstranten sind von Interesse, jedenfalls nicht die Einstellungen, die unmittelbar mit dem Demonstrationszweck in Verbindung stehen; sie können doch im Großen und Ganzen als bekannt vorausgesetzt werden. Wesentlich interessanter wären beispielsweise Zusatzinformationen über die sozialstrukturelle Herkunft der Demonstranten (die ist mit den Angaben über den Bildungsabschluss nicht hinreichend geklärt), die Zugehörigkeit zu verschiedenen politischen Bewegungsformationen, die Affinität zu unterschiedlichen Politik-Traditionen oder die Prägung durch generationsübergreifende politische Verhaltensmuster. Ansatzweise hat dies Dieter Rucht eingelöst, indem er sich in einer Sonderauswertung seiner Befragungsergebnisse den Motiven von Jugendlichen bzw. Schüler/innen für ihren Protest widmete.2 Doch auch hierzu wäre eine Umfrage unter Schülerinnen und Schülern anlässlich ihrer eigenen massenhaften Proteste (im ganzen Land am »Tag X« durchgeführt, dem Tag des Kriegsbeginns bzw. unmittelbar am Tag darauf) wesentlich aussagekräftiger gewesen.

Dieter Ruchts Soziogramm der Berliner Demonstration ist also aus drei Gründen unbefriedigend bis ärgerlich:

Erstens, weil es mit trivialen Aussagen aufwartet. Was soll man schon Überraschendes erfahren, wenn man Friedensdemonstranten über deren friedenspolitische Meinungen befragt?!

Zweitens, weil die Enttäuschung des Forschers über die nicht repräsentative Stichprobe und seine Schlussfolgerung, wonach das (mediale) „Bild der Demonstranten als eines breiten Durchschnitts der Bevölkerung … im Großen und Ganzen falsch“ gewesen sei, am Kern der Sache vorbei geht. In einem übertragenen Sinn, d.h. in qualitativer Hinsicht war das »Bild« nämlich durchaus richtig: Die Demonstration stand repräsentativ für die politische Ablehnung des Irakkriegs durch eine große Mehrheit der Bevölkerung. Die Teilnehmer/innen, die Medien, Teile der politischen Klasse (von denen sich auch einige auf der Demonstration haben blicken lassen) und die Öffentlichkeit haben das so verstanden – nur dem Sozialforscher Rucht ist es ein Rätsel geblieben.

Drittens, weil die dementierende Berichterstattung über den fundamentalen »Irrtum« des Bewegungsforschers objektiv den Eindruck erwecken musste, als wolle sich der Forscher nachträglich von der politischen Zielrichtung der Demonstration vom 15. Februar distanzieren. (vgl. Das Bild vom Querschnitt der Bevölkerung ist falsch, FR vom 21. März 2003).

Anmerkungen

1) Vgl. Peter Strutynski: Europa, der Irakkrieg und der Antisemitismus. Was uns Umfragen und das wirkliche Leben lehren. Internet: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/eu-umfrage.html Die Umfrage selbst ist hier erschienen: EOS Gallup Europe: Flash Eurobarometer 151 »Iraq and Peace in the World«. Requested and coordinated by Directorate General Press and Communication, European Commission, November 2003.

2) Dieter Rucht: Die Schüler in der Anti-Kriegsbewegung – und was davon bleiben wird. Homepage des Wissenschaftszentrums Berlin: http://www.wz-berlin.de/presse/pdf/schuelerproteste.pdf

Dr. Peter Strutynski arbeitet an der Universität Kassel und ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag

Mönche zwischen den Fronten

Mönche zwischen den Fronten

Göttinger Friedenspreis 2004

von Stiftung Dr. Roland Röhl

Nur wenige Schritte trennen die Benediktinerabtei Hagia Maria Sion und ihre Friedensakademie Beit Benedikt von der jüdischen Klagemauer, der Grabeskirche Christi und der Al Aksa-Moschee der Muslime. Inmitten der von blutiger Geschichte und gewaltsamem Alltag zerrissenen Stadt Jerusalem, im Zentrum des arabisch-israelischen Konfliktes haben die Mönche um den Abt Benedikt Lindemann Räume für Besinnung, Begegnung und Dialog geschaffen. In einer Zeit, in der der Frieden zwischen Staaten und innerhalb der Gesellschaften deutlicher denn je von der Fähigkeit zur Toleranz unter den Kulturen und Religionen abhängt, ist das aktive Beispiel einer christlichen Gemeinschaft, die in diesem Sinne wirkt, von herausragender Bedeutung. Deshalb wurde in diesem Jahr der Göttinger Friedenspreis an den Abt Benedikt Lindemann verliehen. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, hielt die Laudatio und in seiner Antwort vermittelte der Abt einen Eindruck von der sicher nicht leichten Arbeit der Mönche „zwischen den Fronten“.

Göttinger Friedenspreis

Der Göttinger Friedenspreis wird jährlich von der Stiftung Dr. Roland Röhl verliehen. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Konflikt- und Friedensforschung. Der Preis kann an Einzelpersonen oder Personengruppen gehen, die sich durch grundlegende wissenschaftliche Arbeit oder herausragenden praktischen Einsatz um den Frieden besonders verdient gemacht haben. Vorschläge für 2005 nimmt die Jury bis zum 30. August entgegen: c/o Dr. Wolfgang Vogt, Isestr. 59, 20149 Hamburg

In der Begründung der Jury zur Preisverleihung heißt es: „Im hochgerüsteten Konflikt permanenter Grenzkontrollen und -überschreitungen, zwischen Bomben und Betonzäunen, bieten die Mauern der Abtei Schutz und Chance für diejenigen, die Trennung, Hass und Grenzen friedlich überwinden wollen. Die Akademie lädt Palästinenser und Israelis zum gemeinsamen Gespräch ins Kloster ein. Die Akademie bietet Raum für ökumenische und interreligiöse Begegnungen zwischen Juden, Christen und Muslimen. Mit unterschiedlichen Angeboten werden Wissen und Verstand, Emotionen und Erinnerungen, Ästhetik und Sinn für Kultur angesprochen. Vorträge, Seminare, Ausstellungen und Konzerte bringen Menschen aus dem In- und Ausland an diesem besonderen Ort zusammen. So erhalten unter anderem Theologen, Pädagogen und Journalisten Anregungen für ihre Arbeit.

Abt Benedikt Lindemann und seine Brüder gehen aber auch hinaus in den Konflikt, sie verteilen Lebensmittel, Medikamente und Kleidung in den besetzten Gebieten, und sie laden israelische wie palästinensische behinderte Kinder zu gemeinsamen Sommerferien am See Genezareth ein …

Es ist zu wünschen, dass die sinn- und friedensstiftende Tätigkeit der Abtei weitere Früchte für die Menschen in Jerusalem trägt und als ein Beispiel ziviler Konfliktbearbeitung auch weiterhin und sichtbar Ausstrahlung entfaltet.“

Ein friedlicher Weg für scheinbar unlösbare Fragen

In ihrer Laudatio würdigte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, die Arbeit der Benediktinerabtei für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse.

Sie ging dann ausführlicher auf den Konflikt Israel-Palästina ein und kritisierte den so genanntenen Schutzwall, den Israel seit fast zwei Jahren aufstellt. „Die Mauer ist … ein Anachronismus in einem ebenso unzeitgemäßen Krieg zwischen den Israelis und den Palästinensern … Die physische Barriere ist keine Lösung. Jeder kann sich das vorstellen. Der Hass sickert durch jede Ritze, wie Wasser. Auf die Dauer kann nur die Strategie im Nahen Osten erfolgreich sein, die unbeirrt daran arbeitet, die jahrzehntelang eingravierten Gefühle des Hasses und der Demütigung umzuleiten in eine Energie, die aus der Ausweglosigkeit heraus in eine friedliche Zukunft führt.“

In der »Genfer Initiative«, die am 1. Dezember des letzten Jahres in der Schweiz unterzeichnet und der Öffentlichkeit präsentiert wurde, sieht Vollmer hierfür eine große Chance. Unter der Federführung von Yossi Beilin, dem ehemaligen israelischen Justizminister und Yaser Abed-Rabbo, dem ehemaligen palästinensischen Informationsminister haben israelische und palästinensische Politiker, Militärs und Intellektuelle zwei Jahre lang verhandelt und schließlich dieses „einmalige Papier“ vorgelegt. Vollmer verweist darauf, dass es schon viele Nahost-Initiativen und Vorschläge gegeben hat und geht dann der Frage nach, welche Qualität ein neuer Plan haben muss, um jetzt Hoffnungen wecken zu können. Für sie sticht die die »Genfer Vereinbarung« „durch einige Aspekte aus der Masse der bisherigen Vorschläge heraus:

  • Sie erfüllt die Grundvoraussetzung eines jeglichen erfolgversprechenden Planes, nämlich dass sie von den beiden betroffen Seiten gemeinsam ausgehandelt worden ist. Und zwar handelt es sich auf israelischer Seite um Politiker der Arbeiterpartei, hochrangige Militärs, sogar ein ehemaliger Mossad-Chef und Verhandlungspartner von früheren Friedensabkommen sind dabei. Intellektuelle und Schriftsteller wie Amos Oz und David Grossmann, der frühere Botschafter Avi Primor, Mitglieder der Friedensbewegung und Wissenschaftler unterstützen die Initiative. Auf palästinensischer Seite haben ehemalige Minister der Autonomiebehörde, Wissenschaftler aus den Bereichen Geographie, Archäologie, Juristen, ja sogar der Vertreter der Führung der ersten Intifada und ein General des Sicherheitsdienstes in der Westbank an dem Vertragswerk mitgearbeitet. Arafat und Qureia sollen von Anfang an über die Gespräche informiert und damit einverstanden gewesen sein. Diese Zusammenarbeit bedeutet auch, dass die Palästinenser erstmalig das Recht der Juden auf einen eigenen Staat anerkennen.
  • Das einzigartige der »Genfer Vereinbarung« aber ist vor allem, dass mit ihr ein detaillierter Plan vorgelegt wird, der für alle Einzelheiten des Friedensschlusses einen durch Vertreter beider Seiten ausgehandelte Lösung anbietet – ein Ziel, nicht nur den Anfang eines Weges. Bisher kannte man nur Pläne, die grobe Richtungen vorgaben und Termine zur Lösung der schwierigen Fragen festsetzten, ohne konkrete Vorschläge zu wagen.

In den Jahrzehnten des Nahostkonflikts haben sich vier Kernprobleme herauskristallisiert, die unlösbar scheinen, die Empfindlichkeiten der beteiligten Parteien im innersten treffen und die nie jemand anpacken konnte, weil es hier um Kompromisse geht, die nur die Beteiligten selbst aushandeln können. Diese vier Probleme sind:

  • die Zukunft der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen;
  • die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge;
  • der Status von Jerusalem und
  • die gegenseitige Anerkennung des israelischen und des palästinensischen Staates.

Was sagt die »Genfer Vereinbarung« zu diesen vier Kernpunkten? Sie schlägt radikale Kompromisse vor.

Mit den Siedlungen soll folgendermaßen verfahren werden: Es gelten die Grenzen vom 4. Juni 1967, also vor dem Sechstagekrieg. Sämtliche Siedlungen in den besetzten Gebieten werden aufgegeben und in benutzbaren Zustand an die Palästinenser übergeben.

Die Flüchtlingsfrage wird auf der Basis der Resolutionen 194 der UN-Generalversammlung und 242 des UN-Sicherheitsrates sowie des Vorschlags der arabischen Friedensinitiative behandelt. Das heißt, dass die Flüchtlinge ein Recht auf Kompensation für ihr Flüchtlingsdasein und den Verlust von Eigentum haben. Dafür wird ein internationaler Entschädigungsfonds eingerichtet. Israel kann von seiner Einzahlungssumme den Wert der auf- und übergebenen Siedlungen abziehen. Die Flüchtlinge können hinsichtlich ihres Bleiberechts zwischen mehreren Optionen wählen: Sie können sich im Staat Palästina, in Gebieten, die im Rahmen des Gebietsaustauschs von Israel an den Staat Palästina übergehen, in Drittstaaten, in momentanen Gaststaaten und in Israel niederlassen. Bei letzterer Option hat Israel die Entscheidungsgewalt und soll sich an den durchschnittlichen Aufnahmemengen von Drittstaaten orientieren.

Jerusalem wird für beide Staaten die Hauptstadt, die Souveränität wird geteilt. Ein interkonfessionelles Gremium zur Lösung aller religiösen Fragen wird eingerichtet – und hier stoßen wir ganz unmittelbar auf das, was in ihrem Haus an guter Tradition gesät wurde. Es herrscht Freiheit der Religionsausübung. Auf dem Tempelberg (Haram al-Sharif) soll es eine multinationale Präsenz geben: Das Plateau unter palästinensischer und die Klagemauer unter israelischer Aufsicht; es wird dort keine Ausgrabungen bzw. Bauunternehmungen geben ohne Zustimmung der israelischen und der palästinensischen Seite. Die muslimischen, armenischen und christlichen Teile der Altstadt sollen zu Palästina und das jüdische Viertel zu Israel gehören. Die jüdischen Stadtteile in Ostjerusalem werden aufgegeben.

Palästina und Israel werden nach der »Genfer Vereinbarung« ihre Souveränität gegenseitig anerkennen und normale diplomatische Beziehungen miteinander aufnehmen.

Die Implementierung und Lenkung des Friedensprozesses wird durch verschiedene Gremien und Schlichtungsmechanismen begleitet, die stets durch beide Parteien besetzt und entschieden werden.

Dies sind nur die vier wichtigsten Bereiche, die dieser Friedensplan regeln will. Beiden Seiten werden dabei unendlich schwierige Kompromisse abverlangt. Aber das besondere ist: All diese Punkte sind machbar …

Seit ihrer Unterzeichnung Ende letzten Jahres wird die »Genfer Vereinbarung« auf der ganzen Welt diskutiert. Natürlich ist sie nur ein Anfang, denn sie wurde nicht zwischen Regierungen, sondern zwischen privaten Bürgern ausgehandelt.

Aber der Plan hat das Zeug dazu, den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess der Palästinenser und der Israelis neu in Gang zu setzen. Ist erst einmal die Zivilgesellschaft überzeugt, kann sie Druck auf ihre beiden Regierungen ausüben und den Friedensprozess wieder weiter vorantreiben. Es wäre nicht das erste Mal in unserer Geschichte, dass am Ende die Zivilgesellschaft und individueller Mut einen friedlichen Weg für scheinbar unlösbare Fragen vorwärtsgetrieben hätte.“

Antje Vollmer verwies darauf, dass die Arbeit der Benediktinerabtei, ihre Vermittlung zwischen den Kulturen, Philosophien und Religionen, ihre echte Freundschaft zu den Mitmenschen anderer Glaubensrichtungen den Prozess hin zur »Genfer Vereinbarung« begleitet hat, dass ohne ruhige und offenherzige Orte wie dieses Kloster ein Friedensprozess nicht vorstellbar ist.

„Sie geben den Menschen in Israel, die die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben noch nicht aufgegeben haben, einen Ort zum Austausch und zur Verständigung. Sie halten Ihr Haus offen für alle ohne Ansehen ihrer Religion in einem Land, in dem der Ausnahmezustand herrscht. Für diese Arbeit »im Kleinen«, in der Tiefe, die aber den großen Friedensinitiativen in nichts nachsteht, sie viel eher tatkräftig unterstützt, möchten wir Sie heute mit der Überreichung des Göttinger Friedenspreises ehren.

Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen noch viel Kraft und Zähigkeit und Friedfertigkeit auf Ihrem steilen und steinigen Weg.“

Unauffällige Friedensarbeit

In seiner Antwort ging der Preisträger auf die schwierige Lebenssituation in Jerusalem ein und darauf, dass sie als Mönche nicht für alles Lösungen anbieten könnten, da sie weder Strategen noch Politiker und auch keine Helden oder Freiheitskämpfer seien.

Er plädierte dafür, gerade in Jerusalem die Lehren aus der Geschichte zu ziehen: „Zunächst einmal ist es für uns Christen sehr, sehr hilfreich, dass wir bei all den Heiligtümern, die auch wir in Jerusalem verehren, keine politischen Ansprüche auf die Heilige Stadt und das Heilige Land stellen. Das war auch schon anders, mit verheerenden und blutigen Folgen. Da sind wir heute, so hoffe ich, weiter … (Es) haben sich schon seit allen Zeiten verschiedene Völker, Kulturen und Glaubensgemeinschaften in der Stadt aufgehalten, haben dort gelebt und gebetet und nur allzu oft auch miteinander und untereinander gekämpft. Was wir heute mit multikultureller Gesellschaft und Globalisierung bezeichnen, das erlebt Jerusalem schon seit Jahrtausenden.“

Wörtlich führte er weiter aus: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich „immer mehr Theologen und Gelehrte verschiedener Konfessionen und Religionen darüber Gedanken gemacht, welchen Beitrag die Religionen zu einem nachhaltigen und wahren Frieden in der Welt leisten können. Diese Frage ist natürlich auch an unserer benediktinischen Klostergemeinschaft nicht spurlos vorüber gezogen, weil ja auch die Kriege und Konflikte der vergangenen 100 Jahre, seit es unser Kloster in Jerusalem gibt, nicht ohne Spuren an uns vorbeigezogen sind … Mehr als einmal stand in den 100 Jahren der Geschichte unseres Klosters die Frage im Raum, ob es denn nicht geboten sei, die Abtei aufzuheben. Man hat es nicht getan …

Die verschiedenen Generationen von Mönchen auf dem Zion haben versucht, ihre eigene Antwort auf die Frage zu geben, welchen Beitrag sie als Mönche zum Frieden in der Heiligen Stadt beitragen können: Sie waren – und sind bis heute – Anlaufstelle für deutsche Pilger und Reisende im Heiligen Land; sie haben sich in der Ausbildung des Priesternachwuchses des lateinischen Patriarchates engagiert; sie haben sich mit Theologie, Geschichte und Kultur beschäftigt; haben Werkstätten aufgebaut; sie waren Gastgeber für einzelne und Gruppen und auch – aufgrund der besonderen geo-politischen Lage im Niemandsland – für Politiker der beiden Konfliktparteien im Land, usw. So begegneten sie immer wieder beiden großen Bevölkerungsgruppen im Land selbst und vielen, vielen Gästen aus dem Ausland.

Wir führen so als Mönche zwischen den Fronten vielleicht nicht ein idealtypisches Klosterleben, wie man es sich in einem frommen Bilderbuch vorstellen mag. Auch wenn die Mönche zu allen Zeiten immer wieder in die große oder kleine Politik hineingerutscht sind und sich mehr oder weniger aktiv an ihr beteiligt haben. Und es ist in der Tat eine der spannendsten Aufgaben für meine Brüder und mich, jeden Tag neu das klösterliche Leben in Gebet und Arbeit mit unserem konkreten Ort in Beziehung zu bringen …

Aber Gott sei Dank: Es entspringen eben für mich als Christ und Mönch alle Quellen in dieser Stadt, in diesem Land. Und aus diesen Quellen dürfen wir als Gemeinschaft schöpfen. Da bedarf es an sich keiner großartigen theologischen oder philosophischen, gar sozialen oder politischen Gedankengebäude oder Entwürfe: Die beiden Orte, an denen unsere Gemeinschaft im Heiligen Land lebt, geben uns schon als solche und mit ihren Traditionen ein eigenes Fundament.

Unser Priorat Tabgha am See Genesareth im Norden Israels – 200 Meter unter dem Meeresspiegel, wo sechs unserer Brüder leben, wurde bereits von den frühen Christen als Ort der wunderbaren Brotvermehrung verehrt. Im 15. Kapitel des Matthäusevangeliums … heißt es: »Jesus aber rief seine Jünger heran und sprach: Mir ist weh um die Leute. Schon drei Tage harren sie bei mir aus und haben nichts zu essen«. Mir ist weh um die Leute. Und Er machte sie heil. – Dieses Mitleid, dieses Erbarmen Gottes mit den Menschen prägt bis heute diesen kleinen Flecken Tabgha mit seiner Abgeschiedenheit und der wunderbaren Tier- und Pflanzenwelt. Schon seit vielen Jahren kommen behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche: Palästinenser, Israelis und auch Europäer, hier hin, um einige Tage oder Wochen ihrer Ferien zu verbringen. Sich kennen lernen, zusammen leben und essen, das geschieht so auf eine ganz natürlich Weise, v.a. die Kinder sind es, die sich im Spielen begegnen und so die ersten Barrieren durchbrechen.

So wie Tabgha seine Quellen für unser Leben als Mönche hat, so gilt das auch für den heiligen Berg Zion … Der Zion ist zu einem Ort der Sammlung und der Sendung der Kirche geworden. Ein tief spiritueller Ort, der Ruhe und Kraft in sich vereint, der einen zu sich selbst kommen lässt und der aus dieser Sammlung heraus wieder nach Außen wirkt, so wie in den ersten Tagen der Kirche vom Zion aus die Apostel in die ganze Welt losgezogen sind.

Wir haben dabei in den vergangenen Jahren, in denen der Konflikt im Heiligen Land aufs neue brutal und blutig ausgebrochen ist, eine ganz wunderbare Erfahrung machen dürfen: Je mehr wir uns bemühen, als Mönche zu leben – und nicht als Politiker, Sozialarbeiter oder Krisenmanager – um so mehr und umso besser können wir unseren Beitrag für Verständigung und Versöhnung, letztlich für Frieden im Heiligen Land leisten: Das persönliche und das gemeinsame Gebet etwa ist eine der wichtigsten Säulen unseres Lebens; auf dem Zion ist das spezielle Gebet um den Frieden natürlich eine ganz besondere Aufgabe für uns. Zu diesem Friedensgebet laden wir immer wieder auch Stadt und Land ein, lassen jeden Samstag um 15 Uhr unsere Glocken als Mahnung für den Frieden läuten. – Gerade dieses Glockenläuten wird weithin in der Stadt Jerusalem wahrgenommen: Wenn es einmal ausbleiben sollte, fragen die Menschen, wenn man in der Altstadt unterwegs ist, mit ernster Sorge, ob wir denn aufgehört hätten, für den Frieden zu beten. Wir bemühen uns, bei diesem Gebet um den Frieden auch die Gebetstraditionen zu berücksichtigen, und haben deshalb in unsere Komplet, in das Nachtgebet der Mönche, Elemente aus den anderen Konfessionen und Religionen integriert, um uns im Gebet mit ihnen zu verbinden: Am Mittwoch haben wir Elemente aus der christlich-orthodoxen Tradition, am Donnerstag aus der muslimischen und am Freitag aus der jüdischen.

Eine weitere wichtige Säule unseres Lebens als Benediktinermönche ist die Gastfreundschaft. Unser Ordensvater, der heilige Benedikt, hat uns in die Regel eingeschrieben, dass jeder Fremde wie Christus selbst aufzunehmen ist. Wenn wir dann im vorletzten Winter, auch aufgrund unserer besonderen geopolitischen Lage, einige Male jungen Israelis und Palästinensern Gastfreundschaft gewähren konnten, und diese jungen Leute sich auf neutralem Grund und Boden einfach kennen lernen und über ihre jeweilige Geschichte und ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihre Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine gemeinsame friedliche Zukunft austauschen konnten, dann mag das ein kleiner Baustein zum Frieden im Heiligen Land sein. – Gastfreundschaft ist auch für unsere Gottesdienste wichtig. Beispielhaft nennen möchte ich die Mitternachtsmesse an Weihnachten, zu der vor allem junge Israelis, jüdische Studentinnen und Studenten kommen. Sie kommen nicht, weil sie zum Christentum übertreten möchten, sondern mehr aus kulturellem Interesse. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass sie am Eingang der Kirche freundlich empfangen werden, dass sie auch am Beginn der Liturgie noch einmal freundlich begrüßt werden und dass ihnen gewisse Regeln vermittelt werden, am besten in ihrer eigenen Sprache Ivrith. Wir haben damit besonders zum vergangenen Weihnachtsfest sehr gute Erfahrungen gemacht.

In diesem Sinne wird auch nach und nach unsere Friedensakademie Beit Benedikt Gestalt bekommen können, die sich in erster Linie als ein Ort der Begegnung von Gästen und des gegenseitigen Austauschs versteht. Im Kern wird stets unsere betende Mönchsgemeinschaft stehen, die im Sinne benediktinischer Gastfreundschaft auch »den Fremden« in jeweils entsprechender und sinnvoller Weise am Kloster teilhaben lässt. Es wird darum gehen, das, was an Aktivitäten und Engagement ohnehin schon besteht, zu bündeln und zu stabilisieren.

Sie werden erkennen, dass es also eigentlich eine unauffällige Art von Friedensarbeit ist, um die meine Brüder und ich uns bemühen: Wir wollen als Mönche auf dem Zion und in Tabgha am See Genesareth leben. Dabei entspricht es guter benediktinischer Tradition, dass jede Gemeinschaft ihr Mönch-Sein eben auch in den jeweiligen Rahmenbedingungen orientiert. Wie das in unserem Falle aussieht, habe ich versucht, Ihnen etwas zu schildern. Vielleicht können wir so einen kleinen Beitrag dazu beitragen, die Wunden in den Seelen der Menschen zu heilen … Und das braucht Generationen!“

Nach dem Dank an die Stiftung Dr. Roland Röhl, den Vorstand und die Jury des »Göttinger Friedenspreises«, kam Abt Benedikt Lindemann noch auf ein besonderes Anliegen zu sprechen: „Vor 100 Jahren entstand unser Kloster im Namen der Deutschen, ebenso wie etwas früher auch die lutherische Erlöserkirche gebaut worden ist. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre erkenne ich den Auftrag, dass gerade von Deutschland aus Gedanken des Friedens ausgehen bzw. ausgehen sollten.“

Man kann sich über die Arbeit der Benediktiner in Jerusalem auch im Internet informieren: www.hagia-maria-sion.net

Dr. Roland Röhl (*1955) war promovierter Chemiker, arbeitete aber seit Beginn der 1980er Jahre als Wissenschaftsjournalist für Funk, Fernsehen und verschiedene Printmedien. Nach seiner Krebserkrankung 1995 entschied er sich, seine Lebensversicherung in eine Stiftung einzubringen, um seinem zentralen Anliegen – der Konflikt- und Friedensforschung – auch nach seinem Tod zur Geltung zu verhelfen. Die Stiftung ist seit 1998 in seinem Sinne tätig. Nähere Informationen unter: www.goettinger-friedenspreis.de

Die Friedensdemonstranten

Die Friedensdemonstranten

Wer waren sie, wofür stehen sie?

von Dieter Rucht

Mit dem jüngsten Irakkrieg lösten die amerikanisch-britischen »Kriegsunternehmer« eine bisher einzigartige weltweite Protestwelle aus. Kein Wunder, dass diese Mobilisierungswelle auch bald das Interesse von SozialwissenschaftlerInnen gefunden hat. Nun beinhaltet die wissenschaftliche Objektivierung eines sozialen Prozesses immer auch eine Distanzierung von diesem Prozess. Bei dessen TrägerInnen muss das auf Skepsis stoßen, zumal damit den Regierenden möglicherweise neues »Herrschaftswissen« geliefert wird. Die wissenschaftliche Objektivierung kann aber auch als Selbstreflexion im Interesse der eigenen Aktivierung und Effektivierung verstanden und betrieben werden. Wir lesen den folgenden Beitrag über die große Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002 in diesem Sinne und möchten ihn ebenso gelesen sehen.

No war – in vielen Sprachen formuliert – war dies der kleinste gemeinsame Nenner der Friedensdemonstrationen am 15. Februar 2003. Im Takt der Zeitverschiebung berichteten die Nachrichtensender über das sich nach Westen ausbreitende Lauffeuer von Demonstrationen. Es reichte von der Ostküste Australiens über Japan, Korea und Europa bis zur Westküste Nordamerikas – eine Globalisierung anderer Art. Je nach Quellen waren zwischen acht und vierzehn Millionen in zahlreichen Städten versammelt, um ihr Nein zu einem drohenden Krieg gegen den Irak zu bekunden. In Großbritannien, Italien und Spanien als den großen europäischen Ländern, deren Regierungen sich entgegen der überwiegenden Meinung ihrer Bevölkerung hinter die Bush-Regierung gestellt hatten, waren die mächtigsten Demonstrationen zu verzeichnen. Die Londoner Kundgebung gilt als die größte in der Geschichte des Landes. Berlin hat in seiner bewegten Vergangenheit mehrfach größere Demonstrationen gesehen. Aber noch nie zuvor hat in Deutschland ein auch nur annähernd so großer Friedensprotest wie am 15. Februar stattgefunden. Die Veranstalter, ein eigens für die Demonstration gebildeter Trägerkreis von über 40 Organisationen, sahen sich von dem Ansturm regelrecht überwältigt, hatten sie doch in den Tagen zuvor mal mit 80.000, mal mit 150.000 Teilnehmern gerechnet.

Die Medien in der Bundesrepublik reagierten mit Leitartikeln, ausführlichen Berichten, großformatigen Fotos und sichtlich beeindruckten Kommentaren. Abgesehen von der Überraschung über die Größe des Protests wurde vor allem seine gesellschaftliche Breite hervorgehoben. Der Tenor lautete, hier habe sich ein Querschnitt der Bevölkerung versammelt: Junge und Alte, Linke und Konservative, Wessis und Ossis, Müllwerker und Hochschullehrer, Schulklassen und Gewerkschaftsgruppen, Deutsche und in Deutschland weilende US-Amerikaner, Berliner und Münchener, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Punk mit Irokesenschnitt.

Ihr Nein zum drohenden Irakkrieg, zumindest ihr Nein zu einem Krieg unter den gegebenen Umständen, bildete fraglos das einigende Band. Doch hat, darüber hinausgehend, diese halbe Million Menschen weitere Gemeinsamkeiten aufzuweisen? Trotz aller medialer Schlaglichter, beiläufiger Interviews inmitten der Menge, journalistischer Kurzportraits ausgewählter Demonstranten und langer Hintergrundberichte bleiben die Fragen: Wer hat hier demonstriert, und wo stehen diese Menschen politisch?

Befragungen am 15. Februar 2003

Einer Initiative von belgischen Wissenschaftlern der Universität Antwerpen ist es zu verdanken, dass auf diese Fragen genauere Antworten möglich sind. Zusammen mit den Millionen von Demonstranten waren am 15. Februar in sieben europäischen Ländern und drei Städten der USA eine Reihe von Sozialwissenschaftlern und zahlreiche Helfer unterwegs, um einen weitgehend standardisierten zehnseitigen Fragebogen in der jeweiligen Landessprache auszugeben. In einigen Städten wurden zusätzlich Hunderte von direkten Interviews am Ort der Demonstration durchgeführt.

Die Berliner Befragung wurde logistisch und finanziell vom »Wissenschaftszentrum Berlin« für Sozialforschung (WZB) unterstützt. 1430 Fragebögen wurden nach einem strikten Zufallsprinzip ausgegeben, so dass jeder Demonstrant die gleiche theoretische Chance hatte, einen Fragebogen zu erhalten. Die Basis der folgenden ersten Auswertung bilden 781 Fragebögen, die bis zum 2. April eingegangen waren (54,6 Prozent Rücklaufquote).

Ergebnisse der Berliner Befragung

Die Verteilung der Geschlechter unter den Demonstranten (52,8 Prozent Frauen) entspricht nahezu der in der Gesamtbevölkerung. Gleiches gilt für die mittleren Altersgruppen von 25 bis 44 und 45 bis 64 Jahren. Dagegen waren die 15 bis 24-jährigen unter den Demonstranten in Relation zur Gesamtbevölkerung deutlich überrepräsentiert und die über 65-jährigen deutlich unterrepräsentiert. 97,8 Prozent der Befragten, und damit deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung (91,2 Prozent), besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Helfer der Untersuchung berichteten allerdings, dass einige ausländisch aussehende Angesprochene die Annahme des Fragebogen verweigert hätten. Doch abgesehen von diesen annähernden Entsprechungen zur Gesamtbevölkerung handelt es sich bei den Demonstranten in fast jeder anderen Hinsicht anscheinend um einen sehr speziellen Personenkreis, der keineswegs ein verkleinertes Abbild der Gesamtbevölkerung darstellt.

Frappierend ist der weit über dem Durchschnitt liegende Bildungsstand der Demonstranten. Nach ihrem höchsten Ausbildungsgrad befragt, nannten lediglich 1,3 Prozent die Haupt- oder Grundschule und 9,9 Prozent die Realschule oder Lehre. Dagegen hatten 16,8 Prozent das Abitur, weitere 51,2 Prozent einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss und zusätzliche 8,6 Prozent sogar eine Promotion. Zusammengerechnet beträgt somit der Anteil von Personen mit Abitur 76,6 Prozent; hinzuzurechnen sind noch 6,2 Prozent der Befragten mit Fachhochschulreife. Es ist allerdings zu vermuten, dass die Bereitschaft, einen Fragebogen auszufüllen, bei Personen mit hoher Bildungsqualifikation eher vorhanden sein dürfte als bei Personen mit niedriger Bildungsqualifikation. Arbeiter waren mit lediglich 4,4 Prozent vertreten, einfache Angestellte und Beamte mit 18 Prozent, Freiberufler mit 8,9 Prozent, Schüler, Studenten und Lehrlinge mit 32,5 Prozent und Arbeitslose mit 6,6 Prozent. Bei den beruflichen Tätigkeitsfeldern zeigt sich eine hohe Konzentration auf den Bereich Gesundheit, Erziehung, Pflege, Wohlfahrt und Forschung (29,1 Prozent). Schwach repräsentiert waren dagegen der traditionelle industrielle Bereich einschließlich der Bauwirtschaft (mit 5,1 Prozent) und die Landwirtschaft (mit 1 Prozent).

Der Anteil von Personen ohne Religionszugehörigkeit war mit 65,7 Prozent außerordentlich hoch (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Von den übrigen Befragten waren 23,6 Prozent evangelisch und lediglich 6,8 Prozent katholisch (Gesamtbevölkerung: 32,4 Prozent evangelisch und 32,6 Prozent katholisch).

Ein weiteres, in dieser Deutlichkeit überraschendes Ergebnis ist die allgemeine politische Positionierung der Demonstranten. Unter denen, die an den letzten Bundestagswahlen teilgenommen hatten, nannten lediglich 0,9 Prozent die CDU/CSU und 1,3 Prozent die FDP. Alle übrigen Stimmen konzentrierten sich, teilweise in unterschiedlichen Kombinationen von Erst- und Zweitstimmen, auf SPD, PDS und Grüne sowie – zu einem sehr geringen Anteil – auf Kleinparteien. Niemand der Befragten hatte seine Stimme einer rechtsradikalen Partei gegeben. Die Antworten auf die »Sonntagsfrage« – „Wenn morgen Bundestagswahlen wären, für welche Partei würden Sie stimmen?“ – unterstreichen das Bild einer enorm starken Linkslastigkeit der Friedensdemonstranten. Die Grünen erhielten 53,7 Prozent, die SPD 20 Prozent und die PDS 20,3 Prozent der Stimmen. Dagegen landeten CDU/CSU bei 1,5 Prozent und die FDP bei 1,1 Prozent. Die Selbsteinstufung auf der Links/Rechts-Skala mit Positionen von 0 (ganz links) bis 10 (ganz rechts) weist in die gleiche Richtung. Das rechte Spektrum (Werte von 7 bis 10) war mit 1 Prozent fast verwaist und der mittlere Bereich (Werte von 4 bis 6) mit 20,1 Prozent relativ schwach vertreten. Dem linken Spektrum ordneten sich insgesamt 78,9 Prozent zu; immerhin 5,8 Prozent belegen den äußersten linken Rand (Skalenwert 0). Mit einem Mittelwert von 2,7 auf der 11-Punkte-Skala weichen die Demonstrierenden weit vom bundesdeutschen Durchschnitt ab, der verschiedenen Umfragen zufolge ziemlich genau in der Mitte der Skala liegt.

Die Demonstrationsteilnehmer sind in hohem Maße politisch interessiert (82,6 Prozent) und in diversen Zusammenhängen politisch aktiv. Lediglich 22,1 Prozent von ihnen hatten sich in den vergangenen fünf Jahren an keiner Demonstrationen beteiligt, darunter weniger Frauen als Männer. Die übrigen, befragt nach dem Anliegen von Demonstrationen, an denen sie teilgenommen hatten, nannten am häufigsten Frieden (65,6 Prozent), Anti-Rassismus (43,9 Prozent) und soziale Anliegen einschließlich gewerkschaftlicher Themen (36,7 Prozent). Sehr hoch ist auch die Beteiligung an anderen politischen oder sozialen Aktivitäten, etwa an Verbraucherboykotten, Petitionen, Volksentscheiden und Spendenaufrufen. In Relation zur Gesamtbevölkerung bezeichneten sich überdurchschnittlich viele Demonstranten (43,1 Prozent) als aktives Mitglied einer Gruppe oder Organisation, darunter einer Partei (9,3 Prozent), einer Organisation für globale soziale Gerechtigkeit (8,4 Prozent), einer Friedensorganisation (7,5 Prozent), einer Umweltorganisation (6,8 Prozent), einer Organisation für Frauenrechte (4,6 Prozent) und/oder einer antirassistischen Organisation (4,2 Prozent).

Während rund drei Viertel (74,5 Prozent) aller Befragten ihre Sympathie für die Bewegung gegen neoliberale Globalisierung bekundeten und fast zwei Drittel (63 Prozent) sozialen Bewegungen/Bürgerinitiativen viel oder völliges Vertrauen entgegenbringen, ist das Vertrauen in andere gesellschaftliche Gruppen und Institutionen deutlich geringer (zum Beispiel Bundespräsident 45,4 Prozent; Rechtssystem 31,8 Prozent; Gewerkschaften 23,3 Prozent). Das Schlusslicht bilden die politischen Parteien, denen nur 3,3 Prozent viel Vertrauen und keiner der Befragten völliges Vertrauen aussprachen. Hinter den Vereinten Nationen (31 Prozent), der Europäischen Union (17,7 Prozent) und der Bundesregierung (13 Prozent) landet der Bundestag bei 12,5 Prozent. Der Aussage „Die meisten Politiker versprechen viel aber tun in Wirklichkeit nichts“ stimmte die Hälfte der Befragten zu (49,1 Prozent). Noch mehr (52,1 Prozent) bejahten den Satz „Politische Parteien sind nur an meiner Stimme aber nicht an meinen Ideen und Meinungen interessiert“. Dennoch handelt es sich bei den Demonstranten nicht nur um eine Ansammlung von Skeptikern. Lediglich 15,1 Prozent bezeichneten sich als „überhaupt nicht zufrieden“ mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. Die durchaus vorhandene Akzeptanz des politischen Systems paart sich also mit einem außergewöhnlich hohen Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern.

Welche Positionen vertreten die Befragten im Hinblick auf die Irakkrise und die beteiligten Regierungen? Obgleich die Bundesregierung generell kein hohes Vertrauen unter den Demonstranten genießt, urteilte doch die große Mehrheit der Befragten positiv über die Anstrengungen ihrer Regierung, einen Krieg zu verhindern. In dieser Hinsicht zeigten sich 58,2 Prozent zufrieden und weitere 9,9 Prozent völlig zufrieden. Als wichtigste Aufgabe der Bundesregierung wurde angegeben, eine diplomatische Lösung im Irakkonflikt zu suchen (44,6 Prozent sahen darin das wichtigste Ziel und weitere 19 Prozent das zweitwichtigste unter einer Reihe von Zielen).

Nicht überraschend ist dagegen die überwiegend kritische Sicht auf das Mittel des Krieges und die Haltung der US-Regierung in der Irakfrage. Die Aussage, ein Krieg sei gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen, lehnten 84,2 Prozent der Befragten ab. Dass Kriege immer falsch seien, glauben 75,7 Prozent. Ein fast gleicher Prozentsatz (76,2) lehnte konsequenterweise einen Krieg gegen den Irak auch im Falle der Billigung durch den UN-Sicherheitsrat ab. Dass die USA einen „Feldzug gegen den Islam“ führen, glauben 38,5 Prozent der Befragten; dass dieser Angriff erfolge, um die Ölversorgung der USA zu sichern, meinten 86,1 Prozent. Zugleich stimmten aber auch 47,1 Prozent der Aussage zu, das irakische Regime müsse zu Fall gebracht werden, um das Leiden des dortigen Volkes zu beenden, während 20,7 Prozent diese Aussage ablehnten.

Überwiegend optimistisch zeigten sich die Teilnehmer hinsichtlich der erwarteten Wirkung der Demonstration, wobei freilich deutlich zwischen öffentlicher Wirkung und dem Effekt auf politische Entscheidungsträger unterschieden wurde. Der Aussage, Demonstrationen verbesserten das Verständnis der Öffentlichkeit für die erhobenen Forderungen, stimmten 83,2 Prozent zu (davon 39,9 Prozent „völlig“ ). Jedoch waren lediglich 6,6 Prozent „völlig“ der Meinung, dass die politischen Entscheidungsträger die Forderungen, die auf großen Demonstrationen erhoben werden, auch berücksichtigen. Dagegen äußerte sich in dieser Hinsicht über die Hälfte der Befragten (54,1 Prozent) unentschieden oder skeptisch. Der Schlüsselfrage, ob die Demonstration die Chance einer Verhinderung des Krieges erhöhe, stimmten 42,3 Prozent zu und weitere 20,6 Prozent „völlig“, während insgesamt 12,1 Prozent die Frage verneinten. Gleichwohl war auch diese Gruppe von Pessimisten zur Demonstration gekommen. Auch sie hatten teilweise lange Wege (29,1 Prozent nannten einen Anfahrtsweg von mindestens 150 Kilometern) und stundenlanges Herumstehen in beißender Kälte in Kauf genommen. Warum dies so war, brachte eine 28-jährige Berlinerin in ihrem Fragebogen mit folgender Bemerkung auf den Punkt: „Auch wenn es ohne Früchte bleiben wird, ist das erkennbare Auflehnen gegen diesen bevorstehenden Krieg notwendig. Als Zeichen, dass man nicht dafür ist, wenn man es schon nicht verhindern kann.“

Diskussion

Die vorliegenden Befunde erweisen wieder einmal, dass der selbstgewisse Augenschein trügen kann: Das (mediale) Bild der Demonstranten als eines breiten Querschnitts der Bevölkerung ist im Großen und Ganzen falsch.

Allerdings müssen diese Befunde ihrerseits relativiert werden. Abgesehen von einem möglichen Selektionsbias aufgrund einer lediglich gut durchschnittlichen Rücklaufquote war die Teilnehmerschaft stark regional geprägt: Von den Informanten hatten 59,7 Prozent ihren Wohnort in Berlin, 18,8 Prozent in den alten Bundesländern, 21,2 Prozent in den neuen Bundesländern und 0,3 Prozent im Ausland. Um die Bedeutung einer Variablen für das Protestverhalten adäquat abschätzen zu können, wären demnach die Demonstrationsteilnehmer vorzugsweise mit der Berliner Bevölkerung zu vergleichen bzw. müsste man prüfen, ob deren Merkmale vom BRD-Durchschnitt abweichen. Das ist beispielsweise im Falle der Religionszugehörigkeit oder der Parteipräferenz zu vermuten. Für die hier berücksichtigten Aspekte wurden entsprechende Konditionalisierungen der Befunde bisher nicht vorgenommen; vielfach liegt die erforderliche Hintergrundinformation überhaupt nicht vor.

Zum Zweiten ist zu unterscheiden zwischen dem relativ stabilen Protestpotential und dem kurzfristig schwankenden Grad der Ausschöpfung dieses Potentials. Die vorgelegten Befunde beinhalten hauptsächlich Hinweise auf Determinanten des Protestpotentials, tragen aber kaum zur Erklärung der augenscheinlichen »Konjunkturschwankungen« des Protests bei. Für solche Schwankungen sind zumeist situative Faktoren verantwortlich. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass mehr als 60 Prozent der Teilnehmer die Chance einer Verhinderung des Krieges durch die Demonstration erhöht sahen. Jeder über diesen Aspekt der »Gelegenheitsstruktur« hinausgehende Versuch, die situativen Faktoren zu spezifizieren, müsste beim jetzigen Stand der Analyse aber spekulativ bleiben.

Dieter Rucht, Professor für Soziologie, ist Leiter der Arbeitsgruppe »Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (rucht@wz-berlin.de)

Friedensbewegung und Friedensforschung

Friedensbewegung und Friedensforschung

Ein vielschichtiges Verhältnis

von Andreas Buro

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die »Ostermärsche gegen Atomwaffen in Ost und West« sich über die ganze Bundesrepublik ausweiteten und sich später als außerparlamentarische Opposition in der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« etablierten, wurde immer wieder eine eigene deutsche Friedensforschung gefordert. Etabliert gab es diese damals noch nicht, es gab nur einzelne Forscher, die sich ausgesuchter Themen annahmen. Die Atomwaffengegner waren gezwungen, sich ihre Kenntnisse weitgehend aus ausländischer wissenschaftlicher Literatur zu holen. Bertrand Russell und Linus Pauling, beide zweifache Nobelpreisträger, spielten eine große Rolle, aber auch der kritisch recherchierende Journalismus. Beispielhaft hierfür Robert Jungk mit seinem Buch »Heller als Tausend Sonnen«. Die Friedensbewegung setzte große Hoffnungen in eine zukünftige deutsche Friedensforschung, sie erhoffte sich in ihr einen starken, militärkritischen und auf Abrüstung orientierten Partner.

Bundespräsident Heinemann war es, der sich Anfang der siebziger Jahre für eine Förderung der Friedensforschung stark machte und in der »Aufbruchstimmung« jener Zeit – dem Beginn einer neuen Ostpolitik – wurden meist in Anlehnung an Universitäten die ersten deutschen Friedensforschungsinstitute gegründet, gefördert aus Bundes- und/oder Landesmitteln sowie von staatlichen und privaten Stiftungen. Die bekanntesten: die »Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung« in Frankfurt am Main und das Hamburger »Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik«. Dazu kamen Forscher oder Forschergruppen an Universitäten und Institutionen, die an militär- und friedenspolitischen Themen arbeiteten, finanziert aus Mitteln der Universitäten oder aus Drittmitteln. Institute wie die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen und auch die Bundeswehrhochschulen nahmen sich friedenspolitischer Themen an, wobei überraschenderweise Letztere nicht selten kritischere Ansätze vertraten als die zivilen Institutionen.

Die Friedensforschung war alles andere als homogen. Sie reichte von der eher konservativen Politikberatung, die militärische Optionen durchaus einschloss, bis hin zur gewaltfreien, sozialen Verteidigung, die besonders Theo Ebert in Berlin analysierte. Es gab eine große Bandbreite, und die Ansätze und Methoden waren für die auf Abrüstung drängende Friedensbewegung nur zum Teil von Interesse.

Während des Ost-West-Konflikts befasste sich ein großer Teil der Friedensforschung mit Fragen der Rüstungskontrolle. Ihr ging es darum, die wahnsinnige Steigerung von Zerstörungspotenzialen möglichst unter Kontrolle zu bringen, so dass diese nicht »aus Versehen« gezündet und Europa, vielleicht auch die USA und die UdSSR, vernichtet hätten. Hier handelte es sich nach Einschätzung vieler Friedensbewegter um eine Forschung zur Verhinderung von nicht gewollten Zerstörungsakten, um eine kontrollierte Aufrüstung, nicht aber um eine Orientierung auf Abrüstung und Friedensaufbau. Zu diesem Bereich gehörten auch die Bedrohungsszenarien, wie sie in den Eskalationsleitern von Kahn dargestellt wurden. Hinter ihnen stand eine Forschungsfrage mit höchst praktischer Bedeutung. Es ging darum für die westliche Seite die »Eskalationsdominanz« zu sichern – also Kriegsforschung unter dem Deckmantel der Friedensforschung.

In Kontrast dazu gab es jedoch auch die systematische Kritik der Abschreckungstheorien, wie sie etwa in den Untersuchungen von Dieter Senghaas zum Ausdruck kamen. Er arbeitete den Begriff von der »organisierten Friedlosigkeit« heraus. Später gab es wichtige Anstöße für eine Strategie der Deeskalation im Ost-West-Konflikt aus dem Max-Plank-Institut in Starnberg. Dort entwickelte der ehemalige Offizier der Bundeswehr Horst Afheldt Szenarien einer Defensivstrategie. Durch sie sollte es möglich sein, die Bedrohungs- also die Schwertpotenziale zu mindern, ohne im militärischen Sinne die Verteidigungsfähigkeit zu verlieren. In einem wechselseitigen Prozess sollte so Abrüstung, also nicht nur Rüstungskontrolle, vorangetrieben werden. Afheldts Anstoß hat damals eine breite Diskussion auch in der Friedensbewegung ausgelöst. Erfolgreich war er nicht, dafür fehlte der Wille zur politischen Verständigung.

»Die Friedensforschung« zu der »die Friedensbewegung« ein bestimmtes Verhältnis entwickeln konnte, gab es nicht. Vielmehr waren es stets sehr spezifische Zugänge und Verhältnisse je nachdem, um welche Art der Friedensforschung es sich handelte. Natürlich verdichteten sich Kooperation und Auseinandersetzung zwischen Forschung und Bewegung in Zeiten starker Mobilisierung der Friedensbewegung.

Die Vielgestaltigkeit des Verhältnisses verkomplizierte sich auch dadurch, dass es nicht »die Friedensbewegung« gab, sondern nur ein Konglomerat unterschiedlicher Ansätze und Grundorientierungen. Ich erinnere nur an die gewaltfrei-pazifistischen Traditionen, die sich in der Friedensbewegung finden, und an den zweiten großen Traditionsstrang den Anti-Militarismus, der aus der Arbeiterbewegung und ihren Umfeldern kommt. Während die pazifistischen Kräfte sich vornehmlich an dem Ziel der Abrüstung und an gewaltfreien Strategien der Konfliktbearbeitung ausrichteten, lehnten die anti-militaristischen Kräfte den gewaltsamen Konfliktaustrag durchaus nicht vollkommen ab. Die Unterstützung des militärischen Kampfes von Befreiungsbewegungen lag in ihrem Überlegungshorizont im Sinne »des letzten Gefechts« oder »des letzten Mittels«, also als einem »Gerechten Krieg«. Daraus ergab sich nicht selten die kuriose Situation der Nähe der sozialdemokratischen und der kommunistischen Teile der Friedensbewegung, die jeweils auf ihrer Seite der Ost-West-Front-Linie eine gewisse Berechtigung zur Verteidigung sahen und deshalb der vorhin schon erwähnten Rüstungskontrollpolitik viel näher standen als die aus pazifistischen Traditionen sich nährenden Teile der Friedensbewegung. Freilich war und ist die Heterogenität innerhalb der Friedensbewegung weit größer, als die hier nur genannten beiden Traditionslinien es vermuten lassen.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entstand für die Friedensbewegung eine gänzlich neue Situation. Sie musste sich aus den alten Konstellationen lösen und sich auf ganz neue Problem- und Strategiefelder einstellen. Die Stichworte lauten: Grenzen überschreitende zivile Konfliktbearbeitung; die neue unipolare Konstellation in der Weltpolitik; die Haltung zu internationalen Recht und seinen Institutionen; das Problem westlicher struktureller und militärisch gestützter Globalisierungspolitik und seiner Folgen; der Zerfall von Staaten und die verstärkte Privatisierung militärischer Gewalt; neue Formen asymmetrischer gewaltsamer Auseinandersetzungen mit ihrem auf beiden Seiten terroristischem Charakter. Ökologische und soziale Fragen gewinnen eine immer größere Bedeutung. Auch das sich verändernde Verhältnis innerhalb der Triade der hochindustrialisierten Welt, insbesondere der USA zu der EU und umgekehrt, werden immer wichtiger. Die deutsche und europäische Friedensbewegung stehen vor der großen Aufgabe, den militärischen Aufbau in der EU zur Ermöglichung eigener Angriffs- und Interventionsfähigkeit »out-of-area« zu verhindern und eine Orientierung auf eine Zivilmacht Europa, auf zivile Konfliktbearbeitung voranzutreiben und sie sollte dafür die Arbeit der Friedensforschung nutzen.

Die verschiedenen Forschungsinstitute befassen sich mit Rüstungskontrolle, Kriegsursachenforschung, ziviler Konfliktbearbeitung usw. Zum Teil bearbeiten sie eine große Bandbreite friedenspolitisch relevanter Themen, sie haben aber auch Schwerpunkte gesetzt, wie z.B. das IFSH auf Europa als Zivilmacht, die HSFK auf Demokratien und Frieden, das BICC auf Konversion, das INEF auf Global Governance und das SCHIFF auf die Zusammenarbeit in der Ostseeregion. Neue »kritische« – fast ausschließlich mit Projektgeldern arbeitende Institute und Forschungszusammenschlüsse sind entstanden, wie das Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (IFKG) oder der Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS).

Die Friedensforschung liefert eine umfassende Expertise, die für die Friedensbewegung zugänglich ist. Neben den Veröffentlichungen der einzelnen Institute möchte ich hier als Beispiel auch das »Friedensgutachten« nennen, das gemeinsame Jahrbuch von fünf Instituten für Friedens- und Konfliktforschung. Im Jahrbuch 2003 haben das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), das Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und die Hessische Stiftung für Friedens und Konfliktforschung (HSFK) z.B. die »Frage nach der Zukunft von Kooperation oder Konfrontation in der neuen Weltordnung« in den Mittelpunkt gestellt und damit eines der wichtigsten friedenspolitischen Themen aufgegriffen: Die Ausarbeitung von Strategien zur Verschiebung der Gewichtung, weg vom militärischen Konfliktaustrag, hin zu ziviler Bearbeitung von Konflikten und Aussöhnungsprozessen.

Viele FriedensforscherInnen orientieren sich in erster Linie in Richtung Politikberatung und Politikberatung im Sinne der Friedensbewegung ist mit Sicherheit von größter Bedeutung, sie sollte aber eine engere Kooperation zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung einschließen. Eine starke Friedensbewegung gibt der Friedensforschung zusätzlich Gewicht und die Friedensbewegung ihrerseits braucht die Erkenntnisse der Friedensforschung. Sie muss sich in die Lage versetzen, aus dem großen Angebot von Forschung und Wissen, das für sie wichtige auszuwählen. Hierfür benötigt sie Forscher und Forscherinnen, die sich mit Zielen der Friedensbewegung identifizieren und die auch einmal bereit sind, Forschung im Sinne der Fragestellungen der Friedensbewegung voran zu treiben, bei gleichzeitiger kritischer Sichtung.

Das Verhältnis von Forschung und Bewegung wird dabei wie bisher durch gegenseitige Anregung und unvermeidliche Distanz gekennzeichnet sein.

Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie

20 Jahre Wissenschaft und Frieden

20 Jahre Wissenschaft und Frieden

von Jürgen Nieth

Lieber Leserin, lieber Leser,
Oktober 1983 – die Bundesrepublik Deutschland erlebte die größten Friedensdemonstrationen in ihrer Geschichte. Weit über eine Million demonstrierten, wohlwissend, dass der Bundestag gegen die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung wenige Tage später die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen beschließen wird. In dieser Situation erschien die erste Ausgabe des »Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden«.

Die Friedensbewegung hatte sich in den drei Jahren des Massenprotestes zwischen 1981 und 1983 viel militär-technisches Fachwissen angeeignet. Raketenreichweiten und Zielgenauigkeit, »Overkill« und die Gefahr eines Zufallskrieges waren Tagesthemen. Was würden die nächsten Schritte im atomaren Wettrüsten sein? Erste Pläne für eine Weltraummilitarisierung lagen bereits auf dem Tisch. Mit neuen Waffensystemen würden aber auch die Anforderungen an das Wissen der Bewegung wachsen.

Der BdWi ergriff die Initiative für einen Informationsdienst, der wissenschaftliche Erkenntnis aufbereiten und den Friedensengagierten zugänglich machen sollte. Rainer Rilling und Paul Schäfer wandten sich an die im Zuge der Friedensbewegung entstandenen Wissenschaftler-Initiativen mit dem Aufruf, durch Mitarbeit zur Qualifizierung der öffentlichen friedenspolitischen Diskussion beizutragen. Mit Erfolg: Aus ihren Reihen kamen die ersten AutorInnen, später wurden die Initiativen selbst Mitherausgeber.

Obwohl der »Infodienst« von Anfang an interdisziplinär angelegt war, dominierte in den ersten Jahren die nüchterne Hardware-Expertise verbunden mit dem Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung.

1989/90 dann der Kollaps des Sozialistischen Lagers. Die NATO verlor den Feind und nicht nur die Friedensbewegung hoffte auf eine umfassende Abrüstung, eine friedlichere Welt und eine Friedensdividende. Der Fokus Frieden und Rüstungskritik schien überholt, Themen wie Konversion, die Weiterentwicklung internationaler Institutionen, die Umwidmung freiwerdender Gelder für die Entwicklungspolitik rückten nach vorne.

Doch die Hoffnungen zerstoben schnell: Der Golfkrieg 1991 demonstrierte das ungebrochene Denken der westlichen Eliten in militärischen Kategorien. Der Abbau überflüssig gewordener militärischer Potenziale führte nur vorrübergehend zu einer Senkung der weltweiten Rüstungskosten. Rüstungsanalyse und -kritik blieben notwendig. Gleichzeitig unterstrichen die Gewalteskalation in Folge des Zerfalls multiethnischer Staaten und die sich selbst reproduzierenden Kriege in Afrika die Notwendigkeit einer breiteren Themenführung: Frieden in Bezug zu Menschenrechten, Demokratisierung, zum Nord-Süd-Verhältnis und zu einer »zukunftsfähigen« Politik, um nur einige zu nennen.

1999 dann der Kosovo-Krieg. Das bis dahin Undenkbare wurde Realität: Nach über 50 Jahren beteiligte sich Deutschland wieder an einem Angriffskrieg, ausgerechnet unter Rot-Grün wurde der Krieg wieder zur »Fortführung der Politik mit anderen Mitteln«. An die Stelle der Bündnis- bzw. Landesverteidigung rückte in der Folge bei NATO und Bundeswehr der Einsatz »out of area«.

Eine komplizierte Situation für eine an der Schnittstelle von Friedensforschung und Friedensbewegung wirkende Zeitschrift. Der Aktualität geschuldet dominierten jetzt die Kriegs-, Militär- und Rüstungskritik. Für Visionen, die Diskussion einer zukunftsfähigen Entwicklung oder einer Kultur des Friedens blieb zu wenig Raum.

Das galt auch für die Information über das breite Spektrum der deutschen Friedensforschung. Deshalb haben wir dieses Thema in den Mittelpunkt der »Jubiläumsausgabe« gestellt. Es geht nicht um einen vollständigen Überblick, sondern um einen Einblick in die breit gefächerte Forschungslandschaft. Ein Einblick der darauf hinweist, dass sich auf diesem Sektor in den letzten 20 Jahren viel verändert hat, der aber auch inhaltliche Defizite aufzeigt zum Teil bedingt durch die ungenügende und ungesicherte Finanzierung vieler Bereiche. Ein Einblick, der die Spanne deutlich werden lässt, zwischen friedenswissenschaftlichen Erkenntnissen und realer Politik, der die Möglichkeiten, vor allem aber die Grenzen der friedenswissenschaftlichen Politikberatung erkennen lässt.

Die Friedensforschung muss damit leben, dass die Politik nur das übernimmt, was in ihr Konzept passt. Beispiel Zivile Konfliktbearbeitung: Vom Kosovo über Afghanistan zum Irak, die Beweise liegen auf dem Tisch: Kriege lösen keine Probleme, wir brauchen zivile Konfliktbearbeitung als Alternative und nicht – wie von den Regierenden weitgehend akzeptiert – als Ergänzung des militärischen Einsatzes.

20 Jahre W&F: Die Schwerpunkte haben sich entsprechend der politischen Entwicklung wiederholt verändert. Geblieben ist: Der Frieden braucht Bewegung und Bewegung braucht Expertise. Es ist unser Ziel, diese weiterhin wissenschaftlich fundiert zu liefern.

Jürgen Nieth

Friedenspolitisches Engagement nach dem 11. September 2001

Friedenspolitisches Engagement nach dem 11. September 2001

von Christopher Cohrs, Barbara Moschner und Jürgen Maes

Die Frage, wer aufgrund friedenswissenschaftlicher Erkenntnisse wie beeinflusst werden kann und soll, damit friedensdienliche Veränderungen zustande kommen, wird selten gestellt und noch seltener zu beantworten versucht. Im Anregen und Aufgreifen adressatenspezifischer Probleme dürften die besten Chancen liegen, den Anwendungsbezug der Arbeit zu verbessern. Der vorliegende Beitrag geht auf empirischer Grundlage der für die Friedensbewegung zentralen Frage nach, welche Bedingungen friedenspolitisches Engagement begünstigen.
Eine wichtige Frage der praxisorientierten Friedenspsychologie lautet: Von welchen Faktoren hängt es ab, ob sich Menschen aktiv für den Frieden engagieren? Eine Beantwortung dieser Frage kann möglicherweise von der Friedensbewegung genutzt werden, um mehr Menschen für ihr Anliegen zu gewinnen und so ihren Einfluss auf politische Entscheidungen zu vergrößern.

Die bisherige Forschung hat eine Reihe von Faktoren aufgezeigt, die wichtig sind für friedenspolitisches Engagement (vgl. Moschner, 1998; Preiser, in Druck). Politisches Engagement im Allgemeinen ist u.a. wahrscheinlicher, wenn man

  • sich für kompetent hält und sich bestimmte politische Handlungen zutraut;
  • glaubt, dass das eigene Handeln einen Einfluss auf die Politik hat;
  • sich sozial verantwortlich und zum Engagement verpflichtet fühlt;
  • über persönliche Ressourcen in Form von Zeit, Gelegenheit und bestimmten Kompetenzen (z.B. Kommunikations- und Teamfähigkeit) verfügt;
  • in einer sozialen Umgebung lebt, die politisches Engagement fördert oder akzeptiert;
  • glaubt, durch politisches Engagement verschiedene Bedürfnisse befriedigen zu können (z.B. soziale Eingebundenheit, Erleben eigener Kompetenzen, Anerkennung, Spaß);
  • ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass die Zugehörigkeit zu einer aktiven Gruppe bedeutsam für die eigene Identität ist.

Aus diesen und weiteren Faktoren ergeben sich bereits zahlreiche Folgerungen für die Friedensbewegung (vgl. Preiser, in Druck). Die aufgelisteten Faktoren sind allerdings allesamt unabhängig von der Richtung des Engagements. Sie sind für friedenspolitisches Engagement ebenso wichtig wie z.B. für das Engagement Rechtsextremer gegen Ausländer/innen. In diesem Artikel möchten wir daher vor allem einige Faktoren untersuchen, die spezifisch friedenspolitisches Engagement begünstigen, also nicht »inhaltsleer« sind. Dies tun wir anhand einer eigenen empirischen Untersuchung. Zum Abschluss wird diskutiert, welche Folgerungen für die Friedensbewegung aus den Ergebnissen gezogen werden könnten.

Studie zum 11. September 2001

Bei der Untersuchung handelt es sich um eine große Fragebogenstudie, die wir nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begonnen und im Laufe des Jahres 2002 fortgesetzt haben. Sie kann hier nicht umfassend dargestellt werden. Stattdessen beschränken wir uns auf einige ausgewählte Ergebnisse. Diese Ergebnisse stammen aus der zweiten Befragungsphase von Anfang März bis Anfang September 2002 und basieren auf einer Stichprobe von 1.505 Personen. Die Daten wurden zum größten Teil (91%) über das Internet erhoben, der Rest füllte Fragebögen in Papierform aus. Detaillierte Informationen zu der Studie finden sich in einem Forschungsbericht (Cohrs, Kielmann, Maes & Moschner, 2002).

Kurz zur Stichprobe: 42% der Teilnehmer/innen sind weiblich, 56% männlich (bei den restlichen Personen fehlt die Angabe). Das Alter liegt zwischen 13 und 76 Jahren (M = 31,9; SD = 11,1 Jahre)1. 94% der Personen haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Teilnehmer/innen kommen aus dem ganzen Bundesgebiet, jedoch vor allem aus Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg; Personen aus den neuen Bundesländern sind nur schwach vertreten. Knapp die Hälfe sind Studierende. Etwa 53% haben Abitur, weitere 36% einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Politisch ist die Stichprobe als eher links orientiert zu bezeichnen: Gefragt nach ihrer Wahlabsicht bei der Bundestagswahl im September 2002, gaben 30% die Grünen an, 15% SPD, 12% PDS, 9% FDP und 8% CDU/CSU. Die Ergebnisse können somit keinerlei Anspruch auf demografische oder politische Repräsentativität erheben. Dies ist aber nicht allzu problematisch, da es uns nicht darum geht, Angaben über die Verbreitung bestimmter Verhaltensweisen oder Einstellungen in der Bevölkerung zu machen, sondern Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen zu untersuchen.

Ausmaß politischen Engagements

Um das Ausmaß des politischen Engagements nach dem 11. September 2001 zu erfassen, haben wir die Teilnehmer/innen gefragt, ob sie bestimmte Tätigkeiten ausgeübt haben, „um ihre Solidarität mit den USA zu zeigen, ihre ablehnende Haltung zu Militäraktionen zu äußern oder ein besonnenes Vorgehen der USA zu fordern“. Es geht hier also noch nicht um friedenspolitisches Engagement, sondern um politisches Engagement im Allgemeinen. In Tabelle 1 (mittlere Spalte) sind die Zustimmungsraten dargestellt. Mehr als ein Viertel der Befragten hat auf einer Unterschriftenliste unterschrieben, weniger als 10% haben an eine/n Abgeordnete/n geschrieben.

Um friedenspolitisches Engagement für sich betrachten zu können, haben wir die Teilnehmer/innen anhand von fünf Fragen bzw. Aussagen zur Bewertung des Krieges in Afghanistan (z.B. „Die Militäraktion in Afghanistan halte ich im Großen und Ganzen für gerechtfertigt“) mittels Clusteranalyse in drei Gruppen unterteilt.2 Diese drei Gruppen lassen sich interpretieren als Kriegsgegner/innen (N = 503), Unentschlossene (N = 640) und Kriegsbefürworter/innen (N = 362). Die Gegner/innen und Befürworter/innen sind im Mittel etwas älter als die Unentschlossenen (33,0 und 33,6 vs. 30,0 Jahre). Außerdem gibt es Geschlechtsunterschiede: Bei den Befürworter/inne/n sind Männer klar überrepräsentiert, bei den Unentschlossenen Frauen.

Ebenfalls in Tabelle 1 (rechte Spalte) sind die prozentualen Häufigkeiten der verschiedenen Tätigkeiten nur für die Kriegsgegner/innen wiedergegeben. Die Nennungsraten sind deutlich höher als in der Gesamtstichprobe: Die Gegner/innen haben sich im Mittel deutlich stärker politisch engagiert als die Unentschlossenen und die Kriegsbefürworter/innen. Dies betrifft interessanterweise alle Tätigkeitsformen mit Ausnahme des Geldspendens (welches bei den Unentschlossenen zwar weniger, bei den Befürworter/inne/n aber weiter verbreitet ist als bei den Kriegsgegner/inne/n).

Die Ja-Antworten auf die sieben Fragen haben wir zu einem globalen Engagementwert aufsummiert, der die Anzahl der verschiedenen Tätigkeiten angibt. Diese Variable wird als »Intensität oder Ausmaß« des Engagements interpretiert und im weiteren Verlauf als vorherzusagende Variable verwendet. Bei den Kriegsgegner/inne/n liegt der Mittelwert dieser Variablen bei 1,70; die Standardabweichung beträgt 1,78. Der Mittelwert ist, wie wir bereits wissen, höher als in den anderen Gruppen, während sich die Unentschlossenen (M = 0,77) und die Kriegsbefürworter/innen (M = 0,84) nicht signifikant voneinander unterscheiden.

Bedingungen friedenspolitischen Engagements

Wir betrachten nun die 503 Kriegsgegner/innen für sich, um der Frage nachzugehen, wieso einige dieser Personen ihrer kriegsablehnenden Position aktiv Ausdruck verliehen haben, andere aber nicht.3 Dazu haben wir die in der Untersuchung erfassten Merkmale, Einschätzungen und Einstellungen zu dem Ausmaß des politischen Engagements in Beziehung gesetzt.

Zunächst zu einigen soziodemografischen Merkmalen. Hier bestehen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem friedenspolitischen Engagement der Teilnehmer/innen und ihrem Bildungsstand, Einkommen, Geschlecht, beruflichen Status oder der Größe ihres Wohnortes. Tendenziell findet sich nur, dass ältere Teilnehmer/innen ein stärkeres Engagement gezeigt haben. Die fehlenden Zusammenhänge liegen möglicherweise daran, dass unsere Stichprobe in Hinblick auf persönliche Ressourcen eher homogen ist: Die Teilnehmer/innen verfügen insgesamt über eine hohe Bildung und – wie der Zugang zum Internet anzeigt, der ja in den meisten Fällen für die Teilnahme notwendig war – über gute Möglichkeiten zur Information und Kommunikation.

Im Folgenden werden einige psychologische Merkmale aufgeführt, die – im Gegensatz zu den soziodemografischen Merkmalen – statistisch hochsignifikante Korrelationen mit der Intensität des Engagements aufweisen.4 Die Merkmale lassen sich unterteilen in solche, die sich auf die konkrete Situation nach den Terroranschlägen beziehen, und solche, die allgemeiner sind.

Was die situationsspezifischen Merkmale betrifft, so geht friedenspolitisches Engagement zunächst mit aktivem, informationssuchendem Verhalten einher (z.B. gut über die politischen Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben, sich Gedanken über die Ursachen und Folgen der Terroranschläge machen), was sich vielleicht als »private« Form von Engagement sehen lässt. Daneben kommen einige Merkmale als Ursachenvariablen für friedenspolitisches Engagement in Betracht. Das Engagement der Kriegsgegner/innen ist um so intensiver,

  • je stärker der Krieg abgelehnt wird und je eindeutiger bzw. weniger ambivalent diese Ablehnung ist;
  • je stärker egoistische strategische Motive der USA für den Krieg angenommen werden (z.B. sich Zugang zu Erdöl- und Erdgasquellen verschaffen, die Effektivität neuer High-Tech-Waffen erproben);
  • je stärker negative Folgen des Kriegs wahrgenommen werden (z.B. eine unkontrollierbare Gewalteskalation, riesiges Leid für unschuldige Menschen) und
  • je stärker verständigungsorientierte Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus befürwortet werden (z.B. Stärkung internationaler Organisationen wie der UNO, verstärkter Dialog zwischen den Religionen).

Betrachtet man diese Merkmale in einer Regressionsanalyse zusammen, so hat die Wahrnehmung negativer Folgen des Krieges keine eigenständige Bedeutung mehr.5 Dies legt nahe, dass die Wahrnehmung negativer Folgen nicht direkt auf das politische Engagement wirkt, sondern vermittelt über die Eindeutigkeit der Bewertung des Krieges: Je schlimmer man die Folgen eines Militäreinsatzes beurteilt, desto klarer ist die Ablehnung des Krieges (vgl. dazu Cohrs, 2000, in Bezug auf den NATO-Krieg gegen Jugoslawien). Die anderen drei Einschätzungen können dagegen sehr plausibel als Ursachenvariablen interpretiert werden: Wenn man sich sehr sicher ist und keine Zweifel hat, dass der Krieg in Afghanistan politisch-moralisch falsch ist, und wenn man zudem bestimmte Annahmen darüber hat, aus welchen Gründen die USA den Krieg führen und was stattdessen besser gegen die Gefahr des Terrorismus getan werden sollte, ist man eher motiviert, sich politisch gegen den Krieg zu engagieren. Die gemeinsame Varianzaufklärung durch diese drei Variablen beträgt 13% (s. Anm. 3).

Auch in Bezug auf die weitergehenden Einstellungen finden sich konsistente Zusammenhänge. Das friedenspolitische Engagement der Teilnehmer/innen ist um so stärker,

  • je negativer die Außen- und Handelspolitik der USA im Allgemeinen beurteilt wird;
  • je stärker eine Unterstützung ärmerer Nationen in der Welt für wichtig gehalten wird;
  • je bedeutsamer einem die Menschenrechte erscheinen, je stärker ein universeller Geltungsanspruch der Menschenrechte angenommen wird und je stärker gegen Menschenrechtsverletzungen Stellung bezogen wird;
  • je stärker eine allgemeine pazifistische Grundhaltung vorliegt.

Die Ergebnisse können wiederum gut interpretiert werden: Personen, die der festen Überzeugung sind, dass die grundlegenden Menschenrechte äußerst bedeutsam sind und allen Menschen in der Welt uneingeschränkt zustehen, dass die USA und der Westen ihre Außen- und Wirtschaftspolitik so umgestalten müssen, dass den armen Ländern in der Welt faire Chancen eingeräumt werden, und dass Krieg im Allgemeinen ein ungeeignetes und illegitimes Mittel der Politik ist, sind eher motiviert, sich politisch gegen den Krieg in Afghanistan zu engagieren. In diesem Überzeugungssystem finden sich die drei bereits oben genannten Einschätzungen wieder, nur auf einer verallgemeinerten Ebene: Krieg ist politisch-moralisch abzulehnen, die Wirtschafts- und Außenpolitik der Krieg führenden Seite ist zu kritisieren und es gibt eine Vision, wie eine bessere globale Politik aussehen kann.

Die bisherigen Ergebnisse lassen streng genommen keinen Schluss auf kausale Zusammenhänge zu. Zwar ist plausibel, dass bestimmte Einschätzungen und ein bestimmtes Weltbild zum friedenspolitischen Engagement motivieren. Es könnte aber ebenso gut sein, dass sich die Menschen aus anderen Gründen politisch engagiert haben, z.B. weil sie über ihre Eltern und Freunde so sozialisiert worden sind. Auf diese Weise könnten sich eine entsprechende Gewohnheit oder eine Art Lebensstil entwickelt und entsprechende Überzeugungen stabilisiert haben. Tatsächlich findet sich in unserer Studie ein äußerst hoher Zusammenhang (r = 0,65) zwischen dem Ausmaß allgemeinen politischen Engagements für die Menschenrechte in den vergangenen fünf Jahren und dem friedenspolitischen Engagement nach dem 11. September 2001. Wenn man diese Variable in Rechnung stellt, werden dadurch einige der oben genannten Zusammenhänge überdeckt. Dies gilt insbesondere für die allgemeineren Merkmale. Dennoch bestehen weiterhin hochsignifikante Zusammenhänge mit einigen der spezifischen Einschätzungen, nämlich mit der Eindeutigkeit der Ablehnung des Kriegs in Afghanistan und dem Glauben an egoistische Motive der USA. Insgesamt werden so 42% der Unterschiede im Ausmaß des friedenspolitischen Engagements erklärt.

Fazit

Wie lassen sich die Ergebnisse interpretieren? Zunächst ist festzuhalten, dass friedenspolitisches Engagement gegen den Krieg in Afghanistan mit der allgemeinen Bereitschaft zum Engagement für die Beachtung der Menschenrechte einhergeht und in ein System von bestimmten Überzeugungen und Werten eingebettet ist. Diese Überzeugungen und Werte lassen sich als globalisierungskritisch und internationalistisch, menschenrechtsbejahend, militärkritisch und US-kritisch bezeichnen. Ob sie Ursachenvariablen für friedenspolitisches Engagement sind oder sich durch friedenspolitisches Engagement erst entwickeln oder stabilisieren, können wir auf der Basis der präsentierten Ergebnisse nicht sagen. Plausibel ist, dass es sich um einen sich wechselseitig bedingenden und verstärkenden Prozess handelt.

Die Ergebnisse zeigen aber, dass es eigenständige Effekte spezifischer Einschätzungen gibt, auch wenn man berücksichtigt, dass politisches Engagement zu großen Teilen gewohnheitsmäßig auftritt. Wenn man den Krieg in Afghanistan ohne Zweifel ablehnt und den USA egoistische strategische Motive für den Krieg unterstellt, ist man eher motiviert, sich gegen den Krieg zu engagieren. Diese Effekte glauben wir durchaus kausal interpretieren und auch verallgemeinern zu können, da sie mit bisherigen Erkenntnissen übereinstimmen. Erstens werden starke und konsistente Einstellungen eher in Verhalten umgesetzt als schwache Einstellungen (vgl. Zick, in Druck). Die Friedensbewegung könnte daraus folgern, dass es sinnvoll ist, nicht nur Unentschlossene zu kriegsablehnenden Haltungen zu bewegen, sondern auch Kriegsgegner/innen in ihren ablehnenden Haltungen zu bestärken.

Zweitens wird politisches Engagement durch das Vorhandensein eines Gegners oder Adressaten erleichtert (vgl. Simon & Klandermans, 2001). In diesem Fall sind das offenbar die USA, deren Politik kritisiert wird und denen unlautere Motive für den Afghanistan-Krieg unterstellt werden. Hieraus lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres der normative Schluss ziehen, dass außen- und wirtschaftspolitische Interessen der USA als Motive für den Krieg herausgestellt werden sollten. Dies kann durch folgende Überlegung veranschaulicht werden: Hätte sich in unserer Studie durch eine große Gruppe rechtsextremer Kriegsgegner/innen ergeben, dass friedenspolitisches Engagement mit der Überzeugung einhergeht, die Anschläge vom 11.9.2001 seien ein legitimes Mittel gegen den Weltherrschaftsanspruch der USA, die ja auch im Zweiten Weltkrieg Unheil über die Welt gebracht hätten, würden wir daraus auch nicht schließen, dass eine solche Sichtweise gefördert werden sollte. Die Frage, ob es sinnvoll ist, die wirtschaftlichen Interessen der USA – und anderer Länder – zu kritisieren, um friedenspolitisches Engagement zu fördern, kann daher nicht allein auf der Basis der empirischen Ergebnisse beantwortet werden. Daneben ist zu berücksichtigen, inwieweit sich die Kritik tatsächlich objektiv untermauern lässt und welche positiven oder negativen »Nebenwirkungen« zu erwarten sind.

Literatur

Cohrs, J. C. (2000). Die Beurteilung des Kosovo-Kriegs im Kontext relevanten politischen Wissens. Wissenschaft und Frieden, 18 (4), 60-62.

Cohrs, J, C. (in Druck). Militarismus-Pazifismus als Einstellungsdimension. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz.

Cohrs, J. C., Kielmann, S., Maes, J. & Moschner, B. (2002): Befragung zum 11. September 2001 und den Folgen, Bericht über die zweite Erhebungsphase (Berichte aus der Arbeitsgruppe »Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral«, Nr. 149). Trier, Universität, Fachbereich I – Psychologie.

Moschner, B. (1998): Ehrenamtliches Engagement und soziale Verantwortung. In B. Reichle & M. Schmitt (Hrsg.): Verantwortung, Gerechtigkeit und Moral. Zum psychologischen Verständnis ethischer Aspekte im menschlichen Verhalten (S. 73-86). Weinheim, Juventa.

Simon, B. & Klandermans, B. (2001): Politicized collective identity: A social psychological analysis. American Psychologist, 56, 319-331.

Preiser, S. (in Druck): Politisches Engagement für den Frieden. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden, s. o.

Zick, A. (in Druck.): Soziale Einstellungen. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.): Krieg und Frieden, s. o.

Anmerkungen

1) Die Abkürzungen in dieser und den folgenden Klammern bedeuten: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, N = Stichprobengröße, r = Korrelationskoeffizient.

2) Die Clusteranalyse ist ein statistisches Verfahren, mit dem Personen anhand der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit ihrer Antworten so zu Gruppen zusammengefasst werden, dass die Gruppen in sich möglichst homogen sind und sich möglichst stark voneinander unterscheiden. Es gibt verschiedene Kriterien zur Bestimmung der angemessenen Clusterzahl, die in unserem Fall übereinstimmend für die Unterteilung in drei Cluster sprechen.

3) Der ebenso relevanten Frage, wie sich kriegsablehnende (oder -unterstützende) Haltungen psychologisch erklären lassen, wird z.B. von Cohrs (2000, in Druck) nachgegangen.

4) Die absolute Höhe von Korrelationen kann zwischen 0 (= es gibt keinen Zusammenhang) und 1 (= es gibt einen perfekten Zusammenhang, d.h. aus der Ausprägung in dem einen Merkmal kann man die Ausprägung in dem anderen Merkmal perfekt vorhersagen) variieren. In unserem Fall bewegen sich die Korrelationen zwischen r = 0,16 und r = 0,25. Wenn man eine Korrelation quadriert, erhält man den Anteil erklärter Varianz. Damit ist der Anteil der Unterschiede in der einen Variablen gemeint, der auf Unterschiede in der anderen Variablen zurückgeführt werden kann. In unserem Fall werden je nach betrachteter Variable zwischen 2,6% und 6,3% der Unterschiede im friedenspolitischen Engagement aufgeklärt. Die Korrelationen sind damit trotz hoher statistischer Signifikanz nur mäßig stark.

5) Mit der Regressionsanalyse wird eine »abhängige« Variable (hier: das Ausmaß des friedenspolitischen Engagements) durch eine lineare Kombination mehrerer »unabhängiger« Variablen (hier: den spezifischen Einschätzungen) vorhergesagt. Wenn, wie hier, zwei unabhängige Variablen mit den selben Aspekten der abhängigen Variablen zusammenhängen, trägt eine der beiden Variablen nichts mehr zur Vorhersage der abhängigen Variablen bei.

Christopher Cohrs ist Dipl.-Psychologe und arbeitet an seiner Dissertation an der Universität Bielefeld. Dr. Barbara Moschner ist Dipl.-Psychologin und Professorin für Empirische Lehr- und Lernforschung an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Dr. Jürgen Maes ist Dipl.-Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Pädagogische und Angewandte Psychologie an der Universität Trier.

Großbritannien: Wachsender Widerstand gegen Kriegsbeteiligung

Großbritannien: Wachsender Widerstand gegen Kriegsbeteiligung

von Ian Martin

Es sind britsche Flugzeuge, die seit über 10 Jahren an der Seite der US-Luftwaffe den Irak bombardieren. Und es ist Tony Blair, der nie einen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er auch im Falle eines neuen Krieges gegen den Irak an der Seite der USA sein Militär einsetzen würde und der Wert darauf legt der loyalste Partner Bushs zu sein. Doch in der britschen Öffentlichkeit wächst der Widerstand. Im Oktober kam es zur bisher größten Demonstration der britischen Friedensbewegung und die nächsten Aktionen sind bereits angekündigt.
Die Anti-Kriegsbewegung steht hauptsächlich unter dem Dach der »Stop The War Coalition« (STWC). 400.000 Teilnehmer demonstrierten am 28. September in London. Zusätzlich kam es an dem von dem Labour-Veteranen Tony Benn ausgerufenen und von STWC koordinierten Aktionstag gegen den Irak-Krieg zu kreativen Protestaktionen im ganzen Land. Für den 15. Februar sind Vorbereitungen für erneute Großdemonstrationen im Gange.

Die Friedens- und die Antikriegsbewegung hat die Stimmung in der Öffentlichkeit bereits jetzt stark beeinflusst. Nach einer Meinungsumfrage vom Oktober unterstützen nur noch 31 Prozent der Bevölkerung einen Krieg gegen den Irak. Dass in den letzten Wochen keine weitere Umfrage in Auftrag gegeben wurde, spricht für sich. Mittlerweile ist auch der Tenor der meisten Leitartikel in der Mainstream-Presse stark skeptisch bis offen gegen einen Krieg.

In Ergänzung dieser Aktionen hat jetzt die »Campaign for Nuclear Disarmament« eine eigene Initiative gestartet. Sie hat eine Klage eingereicht, die nach ihrer Aussage zwar nicht die Invasion der Amerikaner im Irak aufhalten, vielleicht aber die Beteiligung Großbritanniens stoppen könnte.

Zum Verständnis: Die CND ist die führende Organisation in der britischen Friedensbewegung. Sie wurde 1958 gegründet, insbesondere mit dem Ziel »die Bombe zu bannen«. Einige Aktionsformen der frühen Jahre ragten besonders hervor (und hatten u.a. auch einen großen Einfluss auf die Ostermarschbewegung der 60er Jahre in der Bundesrepublik, d.R.). Dazu zählen die Aldermaston-Märsche, die Sit-Down-Proteste und die Massenfestnahme der Gruppe, die »Kommittee der 100« genannt wurde.

Die CND übersandte jetzt Premierminister Tony Blair, Außenminister Jack Straw und Verteidigungsminister Geoff Hoon ein Rechtsgutachten der Kronanwälte Rabinder Singh und Charlotte Kilroy.

Dieses Rechtsgutachten besagt, dass die UN-Sicherheitsratsresolution 1441 nicht den Einsatz von Gewalt rechtfertigt und dass das Vereinigte Königreich internationales Recht bricht, wenn es gegen den Irak Gewalt einsetzt, ohne dass eine weitere Resolution des UN-Sicherheitsrates vorliegt.

Um zu verstehen, warum diese Klageandrohung für den CND ein wichtiges Mittel ist, um Blairs-Kriegsbeteiligung zu vereiteln, ist es nötig einen Blick auf die Menschen neben ihm zu werfen:

  • Da ist Peter Hain, als Kabinettsminister zuständig für Wales und möglicherweise nach Blair nächster Labour-Spitzenmann. Er ist Mitglied im CND.
  • Da ist Robin Cook. Der Vorsitzende des Unterhauses sagt Journalisten »off the record« seine Meinung über diesen Krieg und unterstützt die Anliegen des CND immer noch.
  • Oder nehmen wir Ben Bradshaw. Der stellvertretende Vorsitzende des Unterhauses kam über die CND zu Labour.

Für mich ist Ben typisch für die Regierungsmitglieder, die nun in hohen Positionen sind und in der Vergangenheit Friedensaktivisten waren. Ihre Karriere bindet sie an Blair, der nie etwas anderes war als ein rechter Karrierist (obwohl seine politische Identität oft absichtlich vermischt wird mit den offen demokratisch-sozialistischen Ansichten seiner Frau). Diese Spitzenpolitiker von Labour möchten einen Weg finden, um mit ihrem Gewissen ins Reine zu kommen, gleichzeitig möchten sie aber auch ihren Job behalten. Die CND-Klage bietet ihnen den Kompromiss, sie ermöglicht ihnen zu sagen: „Wir würden Ihnen ja gern zum Irak folgen, Herr Bush, aber als eine Regierung, die internationale Friedensverträge unterzeichnet hat und die die Herrschaft des Internationalen Rechts respektiert, können wir es nicht. Auch wenn wir unzählige UN-Konventionen, Verträge und Resolutionen unterzeichnet und nicht beachtet haben, diese Resolution 1441 reicht nicht zur Rechtfertigung eines Krieges.“

Natürlich erwarten wir nicht wirklich, dass diese Regierung, die aus lauter Anwälten besteht, sofort nach einem Gerichtsbeschluss umkippt. Aber es ist ein wichtiger Schritt, der die Differenzen vergrößern kann.

Wir halten diesen Krieg für völlig unmoralisch, unlogisch und illegal. Wir sind der Ansicht, dass die britische Regierung internationales Recht nicht unterminieren darf. Und wir hoffen, dass unsere Aktion wenigstens einige der Labour-Spitzenpolitiker eines Besseren belehrt und somit dazu beiträgt, die Plattform für weitere Kampagnen gegen einen Irak-Krieg zu verbreitern und den Widerstand gegen die militärische Expansion der USA und gegen jegliche britischen Interventionspläne zu stärken.

Ian Martin ist Pressesprecher der britischen Campaign for Nuclear Disarmament
Übersetzung: Annette Hauschild

Sind Kriegseinsätze Nebensache?

Sind Kriegseinsätze Nebensache?

Über den Einfluss der »Kriegsdebatte« auf die Wahlen

von Dietmar Wittich

Es war eine Novität, und kaum jemand hat es bemerkt: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik befanden sich zu Wahlzeiten deutsche Soldaten in Auslandseinsätzen, darunter auch in Kampfeinsätzen, und doch hat diese Tatsache im Wahlkampf keine – genauer sogar eine abnehmende – Rolle gespielt. Das Resultat scheint paradox. Obwohl der Anteil der Kriegsgegner in der deutschen Bevölkerung nicht gerade klein ist, endeten die Wahlen mit einem totalen Erfolg derer, die diese Kriegseinsätze politisch zu verantworten haben beziehungsweise ihnen zustimmen. Die einzige politische Kraft, die sich konsequent gegen den Einsatz militärischer Mittel bei internationalen Konflikten stellt, erlitt eine Niederlage, blieb deutlich unter fünf Prozent und ist nur noch mit zwei Einzelabgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten. Der Vorgang bedarf der Analyse.
Fünfzig Jahre haben die Deutschen darauf verzichtet, ihre Soldaten in anderer Herren Länder zu schicken. Nun wurde eine Wende von grundlegender Bedeutung vollzogen, mit dem »Krieg gegen den Terror« wurde eine Neuordnung der Welt in Angriff genommen, und Deutschland ist als Juniorpartner der USA mit dabei. Gäbe es in Deutschland darüber eine öffentliche Diskussion, würde sich sehr rasch zeigen: Die Wiederentdeckung des Krieges als Mittel deutscher Politik ist im Lande nicht unumstritten. Es ist zwar keine Mehrheit, aber es sind auch nicht wenige, die militärische Gewalt und deutsche Kriegsbeteiligung ablehnen. 40 bis 45 Prozent der Deutschen sind Kriegsgegner, aber ihre Positionen kommen in der veröffentlichten Meinung kaum vor.

Die unmittelbaren Reaktionen der Deutschen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren Entsetzen über die unerwartete Grausamkeit, Ablehnung von Terror und Angst vor Terror sowie eine weitgehend einhellige und durch alle Lager gehende Solidarität mit den USA und ihrer Bevölkerung. Die internationale Sicherheit stieg zu einem der wichtigsten Problemfelder in der öffentlichen Wahrnehmung auf. Die von Gerhard Schröder verkündete »uneingeschränkte Solidarität« der Bundesrepublik konnte sich darauf stützen, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung sich für eine Unterstützung der USA durch Deutschland aussprachen. In den folgenden Tagen kündigte der US-Präsident Bush einen „monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse“ an, und schon war die Rede vom „größten Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg“. Die öffentliche Meinung in Deutschland reagierte darauf gespalten, eine knappe Hälfte war dafür, gegen Urheber und Hintermänner des Terrors mit militärischer Härte vorzugehen. Allerdings waren zugleich etwa 60 Prozent dagegen, dass dazu auch Bodentruppen eingesetzt werden sollten. Die Luftangriffe auf Afghanistan, die Anfang Oktober begannen, hielten knapp 80 Prozent der Deutschen für gerechtfertigt. Aber schon bald mischten sich Zweifel hinein, dass die USA nur militärische Ziele angriffen, darauf vertrauten nur 60 Prozent der Deutschen, 40 Prozent zweifelten daran, im Osten mehr als die Hälfte. Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Tagen. Je länger sich die Luftangriffe hin zogen, desto weniger Deutsche hielten sie für einen sinnvollen Beitrag zu Bekämpfung des Terrorismus, die Relationen waren schließlich 53 zu 47, im Osten waren die Zweifel schon deutlich stärker.

Bereits Mitte Oktober wurde in den Medien darüber spekuliert, ob Bundeswehrtruppen bei den Kampfhandlungen in Afghanistan eingesetzt würden. Zu diesem Zeitpunkt waren nur knapp 40 Prozent der deutschen Bevölkerung für einen Bundeswehreinsatz, reichlich 60 Prozent waren dagegen, im Westen etwa 55 Prozent, im Osten mehr als drei Viertel. Als Anfang November die Entscheidung des Bundestages über einen solchen Einsatz tatsächlich anstand, gab es in der Bevölkerung insgesamt immer noch eine Mehrheit gegen den Einsatz der Bundeswehr, aber diese Mehrheit kam allein durch das Meinungsbild im Osten zustande, im Westen hielten sich Befürworter und Gegner von Bundeswehreinsätzen inzwischen die Waage.

Anfang März waren diese Einsätze knapp zwei Monate im Gange. Der Nachrichtenlage nach waren dort eingesetzte Bundeswehrangehörige mit Schutz- und Sicherheitsaufgaben betraut, über Verwicklungen in Kampfhandlungen wurde nichts bekannt. Entsprechend hatte sich das Meinungsbild in der deutschen Öffentlichkeit verändert. Nunmehr stimmten 58 Prozent der Deutschen den Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan zu und 42 Prozent lehnten sie ab, eine mehrheitliche Akzeptanz somit bei gleichzeitig recht starker Ablehnung. Zugleich hatte sich das Meinungsbild zwischen Ost und West stark auseinander entwickelt. Es stellte sich nahezu seitenverkehrt dar, im Westen stimmten knapp zwei Drittel den Einsätzen zu, im Osten lehnten sie ebenso viele ab. Einige Tage danach kam es zu den ersten toten und verwundeten deutschen Soldaten in Afghanistan. An den Relationen im Meinungsbild hatte sich jedoch wenig verändert, nunmehr stimmten noch 56 Prozent den Einsätzen zu, die Ablehnung war um 2 Prozent auf nunmehr 44 Prozent angewachsen. Die Befürwortung hatte in West und Ost abgenommen, aber die Relationen waren unverändert geblieben. In einem halben Jahr war somit die anfängliche leichte Mehrheit gegen Bundeswehreinsätze in Afghanistan in eine leichte Mehrheit von Befürwortern dieser Einsätze umgeschlagen.

Das war die Situation, bevor in Deutschland bekannt wurde, dass deutsche Soldaten auch an Kampfhandlungen beteiligt sind. Im Zusammenhang mit den ersten Toten und Verletzten im März sickerte an die Öffentlichkeit, dass etwa Hundert Angehörige des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr bei den Bodenkämpfen der Operation »Anaconda« mit im Einsatz waren. Diese Information über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten bei Bodenkämpfen im Osten Afghanistans hatte eine deutliche, aber keine umwälzende Veränderung in der öffentlichen Meinung mit sich gebracht. Es war insgesamt eine sehr knappe Mehrheit von 51 Prozent der Deutschen, die den Einsatz der KSK-Soldaten richtig finden, 45 Prozent lehnten diesen Einsatz ab, 4 Prozent hatten sich dazu keine Meinung gebildet.

Insgesamt stellte sich damit das Meinungsbild in der Bundesrepublik auch zu Beginn des Wahlkampfes stabil dar. Während die politischen Eliten der Bundesrepublik Deutschland voll auf den Kurs setzen und ihn praktizieren, dass die Bundeswehr sich beteiligt am »Krieg gegen den Terrorismus«, der ein Krieg für eine neue Weltordnung ist, können sie sich dabei in der Bevölkerung nur auf eine sehr dürftige Mehrheit stützen. Mit zwischen 40 und 45 Prozent haben die Gegner von Militäreinsätzen gleichfalls starke Positionen. Skepsis in dieser Frage ist und bleibt in Deutschland sehr verbreitet.

Bemerkenswert ist, dass es bis zum Wahltag insgesamt bei diesen Relationen geblieben ist, es hat nicht etwa einen Umschwung im Meinungsbild zu dieser Frage gegeben, wie sich anhand empirischer Analysen vom September belegen lässt.

Fast drei Viertel der Deutschen hielten es für richtig, dass allein die UNO Maßnahmen für die Sicherung von Frieden und Menschenrechten ergreifen kann. Lediglich 23 Prozent hielten das nicht für richtig. Knapp 3 Prozent haben die Frage nicht beantwortet. Die Meinungsbilder in West und Ost waren dabei nahezu identisch. Im Kontext der Fragestellung bedeutet das, dass nach Mehrheitsauffassung die Legitimierung durch die UNO die Voraussetzung ist für die Beteiligung einzelner Länder.

Wie stand es nun mit der Legitimation, dass die westlichen Zivilisationen für die Sicherung von Frieden und Menschenrechten eine besondere Verantwortung hätten und deshalb zu militärischen Operationen berechtigt wären?

Die Meinungen dazu waren deutlich gespalten. 48 Prozent hielten diese Argumentation für richtig und sahen damit die USA und die Nato zu entsprechendem Eingreifen legitimiert. Aber fast ebenso viele, nämlich 47 Prozent, hielten das nicht für richtig. Die entsprechende Argumentation, die bereits bei dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 eingesetzt worden war, und die entsprechende politische Praxis hatten also nach wie vor keine Mehrheit in der Bevölkerung. Die politische Gegenposition kann auf einen erheblichen Rückhalt in der Öffentlichkeit verweisen. Zugleich waren erhebliche Unterschiede im Meinungsbild zwischen West und Ost erkennbar. Im Westen waren 51 Prozent für eine besondere Verantwortung der westlichen Länder, immerhin 43 Prozent erklärten sich dagegen. Im Osten sprach sich mit 61 Prozent eine deutliche Mehrheit dagegen aus, Zustimmung äußerten nur 37 Prozent.

Auch bezüglich einer Beteiligung Deutschlands waren die Meinungen geteilt. Allerdings waren die Relationen etwas anders. Insgesamt hielt eine knappe Mehrheit von 54 Prozent die Auffassung für richtig, dass zur Durchsetzung von Frieden und Menschenrechten Deutschland sich mit seinen Verbündeten an Kriegseinsätzen beteiligen könne. 42 Prozent waren es, die das nicht für richtig hielten. Die große parlamentarische Mehrheit, die entsprechende politische Entscheidungen getragen hat und trägt, kann sich also nur auf eine schmale Zustimmung in der Bevölkerung in dieser Frage stützen. Politische Gegenpositionen haben somit gleichfalls eine starke Unterstützung.

Bezüglich der allgemeinen Frage, ob militärische Mittel überhaupt zur Lösung internationaler Konflikte und zur Durchsetzung von Menschenrechten geeignet sind, erwies sich das Meinungsbild als gespalten. 48 Prozent hielten generell militärische Mittel für nicht geeignet, 47,4 Prozent vertraten die gegenteilige Position, knapp 5 Prozent hatten dazu keine Meinung geäußert. Der West-Ost-Unterschied war deutlich. Im Westen schlossen sich 46 Prozent der Meinung an, dass militärische Mittel ungeeignet sind, im Osten waren 54 Prozent dieser Meinung. Im Westen waren 49 Prozent gegen diese Meinung, im Osten waren das nur 41 Prozent.

Die Analyse unter politischen Aspekten offenbarte allerdings Widersprüche. Zwar zeigten sich erhebliche Unterschiede zwischen den Anhängerschaften der einzelnen Parteien. Am häufigsten wurde die Meinung, dass diese Mittel dafür ungeeignet sind, in den Wählerschaften der Grünen (62 Prozent) und der PDS (60 Prozent) geteilt. Aber auch bei der SPD (55 Prozent) und der FDP (52 Prozent) waren leichte Mehrheiten dieser Meinung. Bei der CDU standen immerhin auch 42 Prozent auf dieser Position. Auch bei den Unentschlossenen und den Nichtwählern waren diese Anteile beachtlich. Das heißt aber zugleich, dass die Differenz zwischen Meinungen erheblicher Teile der Wählerschaft und den Positionen und politischen Entscheidungen der Parteien unmittelbar vor den Wahlen keinen hinreichenden Grund bildete, diese Parteien nicht zu wählen. Und am Wahltag selbst zeigte sich, dass diese Frage für zuvor Unentschlossene letztlich auch nicht wahlentscheidend war.

Ähnlich gespalten waren die Meinungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, also zur direkten Beteiligung des deutschen Staates, in dem Wahlen anstanden, am Einsatz eben dieser militärischen Mittel.

Zu diesem Zeitpunkt war die schon oft gemessene leichte Mehrheit von 55 Prozent der Meinung, dass die Bundeswehr diese Einsätze weiter wahrnehmen sollte. Insgesamt 45 stimmten dieser Aussage nicht zu. Umgekehrt stellen sich die Relationen bezüglich eines vollständigen Rückzuges der Bundeswehr, hier stimmten reichlich 44 Prozent für und reichlich 55 Prozent gegen den Rückzug. Anders waren die Relationen in den Meinungen zum Einsatz von schwerem Gerät (Spürpanzer, Kriegsschiffe) und Kampftruppen (Kommando Spezialkräfte). Für deren Rückzug gab es eine leichte Mehrheit von 57 Prozent.

Während US-Regierung eine Ausweitung des »Krieges gegen den Terrorismus« auf den Irak schon seit Monaten ankündigte, stieß das von Beginn an auf eine breite Ablehnung. Bereits im Frühjahr waren etwa drei Viertel der Deutschen dagegen. Im August forcierte George W. Bush jun. seine Ankündigungen von Kriegsoperationen. Nach einigem Zögern erklärte der Bundeskanzler für die Regierung, dass sich Deutschland nicht daran beteiligen werde. Das entsprach dem Meinungsbild in der deutschen Öffentlichkeit. Seit Anfang August war beobachtet worden, dass sich weiterhin knapp drei Viertel der Deutschen sowohl gegen die Ausweitung wie gegen eine deutsche Beteiligung daran aussprachen. Es waren fast zwei Drittel, die der ablehnenden Haltung der Bundesregierung zustimmten, im Westen geringfügig weniger, im Osten etwas mehr. Für falsch hielt weniger als ein Drittel die Haltung der Bundesregierung. Anfang September waren es mit über 70 Prozent noch mehr, die der Haltung der Regierung zustimmen, und nur noch ein Viertel hielt sie für falsch.

Auch in dieser Frage zeigten sich Widersprüche. Nur 38 Prozent der Deutschen hielten diese Aussagen für glaubhaft. 58 Prozent hielten sie nicht für glaubhaft und sahen sie im Zusammenhang mit Wahlkampftaktik. Im Osten war dabei die Skepsis noch deutlich stärker als im Westen. Insgesamt war damit zu konstatieren, dass eine große Mehrheit in Deutschland eine Ausweitung des Krieges auf den Irak und eine Beteiligung Deutschlands daran ablehnt. Damit übereinstimmende Aussagen der Bundesregierung finden eine entsprechend breite Zustimmung, die allerdings von einer verbreiteten Skepsis begleitet wird.

Aber entscheidend war – und das blieb bis zu den Wahlen so –, dass mit dieser Erklärung der damals amtierenden Bundesregierung gegen eine deutsche Beteiligung an einem Krieg gegen den Irak das Friedensthema erfolgreich an den Rand gedrängt wurde und aus den öffentlichen politischen Auseinandersetzungen verschwand. Insgesamt war die Stimmungslage in der Gesellschaft in den Wochen vor den Wahlen widersprüchlich. In der Problemwahrnehmung hatten Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Situation deutliche Priorität, andere Problemkomplexe erschienen diesen gegenüber deutlich nachgeordnet. Das betraf neben solchen Problemen wie Bildung und sozialen Ungerechtigkeit eben gerade auch die Fragen der internationalen Sicherheit und der Einsätze militärischer Mittel. Noch ein Jahr zuvor hatte dieses Thema für eine Mehrheit der Deutschen Priorität, jetzt wurde es kaum noch als bedeutsam angesehen. Der SPD und den Grünen, in deren Umfeldern große Anteile von Kriegsgegnern sind, ist es in diesem Zusammenhang gelungen, zuvor drohende Abwanderungen von Wählerinnen und Wählern zu vermeiden.

Die Unzufriedenheit mit der Politik auf Bundesebene war groß im Wahljahr in der Gesellschaft der Deutschen. Entsprechend war die Akzeptanz der rosa-grünen Regierungsparteien relativ niedrig und wurde vom Zuspruch zu den schwarz-gelben Oppositionsparteien übertroffen. Auch die PDS schien davon zu profitieren, vor allem ihr konsequentes Eintreten gegen Krieg und Kriegseinsätze deutscher Soldaten hatte ihr im Laufe des letzten Jahres einen Akzeptanzgewinn gebracht. So war es, bis das Hochwasser kam. Als es abgeflossen war, war die Unzufriedenheit im Lande nicht geringer, aber der Vorsprung der Oppositionsparteien war dahin. Am Ende – im Ergebnis der Wahlen – waren die alten Regierungsparteien auch wieder die neuen, die Konservativen und die Liberalen hatten sich stabilisiert, konnten aber eine Mehrheit nicht erreichen. Die Linkssozialisten blieben deutlich unter 5 Prozent und sind im Parlament nur durch zwei direkt gewählte, fraktionslose Abgeordnete vertreten.

Zweifellos ist es so, dass die Relativierung der Krieg-Frieden-Problematik mit Nachteilen für die PDS verbunden war. Allerdings muss sie sich auch die Frage gefallen lassen, warum sie nicht entschiedener für dieses für sie profilbestimmende Thema gekämpft hat. Gleichzeitig können die Gründe ihrer Niederlage nicht auf das Thema Krieg-Frieden reduziert werden. Für die PDS gibt es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Schritt von Gregor Gysi und einen deutlichen Akzeptanzverlust in der Öffentlichkeit. Dessen Rücktritt wirkte gleichsam als Initialzündung für den Niedergang der PDS. Dass es bis zu den Wahlen dabei, blieb hängt zum einen mit Prioritäten in der Stimmungslage und sicher auch mit dem Lagerwahlkampf zusammen, der die PDS an den Rand drückte, aber zum anderen auch mit der Wahrnehmung ihrer politischen Substanz. Der PDS wurden in den letzten Wochen vor den Wahlen nur in sehr geringem Umfang Kompetenzen zugeschrieben, und auch ihr Personal wurde wenig wahrgenommen.

Auch ist die Tatsache, dass die PDS an die Regierungsparteien Wähler verlor – an die SPD im Osten, an die Grünen im Westen, kein Beleg dafür, dass die Antikriegs-Aussagen ausschlaggebend waren. Das zeigt ein Blick auf die Wählerwanderungen: 1998 hatte die PDS ein positives Wanderungssoldo zu den anderen Bundestagsparteien, nur zu den sonstigen Parteien gab es einen Verlust. Bei den Wahlen vom 22. September 2002 hat die PDS nahezu durchweg Verluste zu verzeichnen.

Zu den Parteien gibt es die größten Verluste der PDS gegenüber der SPD, 1998 hatte sie noch einen Wanderungsgewinn von 80 Tausend, jetzt ist es ein Verlust von 290 Tausend. Auch von der CDU gab es 1998 noch einen Wanderungsgewinn von 90 Tausend, jetzt wurden an sie 50 Tausend verloren. Selbst an die FDP, von der 1998 noch 10 Tausend gewonnen worden waren, gibt es jetzt einen Verlust von 20 Tausend. Gegenüber den Grünen, von denen es 1998 noch einen Gewinn von 40 Tausend gegeben hatte, ist das Saldo diesmal ausgeglichen. An die sonstigen Parteien waren 1998 noch im Saldo 50 Tausend verloren worden, 2002 gibt es einen Gewinn von 20 Tausend.

Die PDS hat vor allem Wähler verloren bei jungen Leuten (sie hat den niedrigsten Erstwähleranteil aller Parteien, selbst die sonstigen Parteien liegen insgesamt darüber), bei in Ausbildung befindlichen, besonders bei jungen Frauen, bei höher Gebildeten, bei Angestellten generell, bei Selbstständigen, bei Arbeitslosen und bei Menschen ohne kirchliche Bindung. Man kann daraus schlussfolgern, dass sich damit Entwicklungen der letzten Jahre, in denen es der PDS zu gelingen schien, in die jungen, dynamischen und kreativen Potenziale der Gesellschaft vorzudringen, wieder umgekehrt haben. Dies sind allerdings zugleich Gruppen, in denen die Ablehnung von Krieg und deutscher Kriegsbeteiligung besonders stark ist.

Objektiv existiert in der Gesellschaft eine Gemengelage ungelöster Probleme und Konflikte. Die Einsätze deutscher Soldaten in Afghanistan, am Horn von Afrika, auf dem Balkan und anderswo gehören dazu. An dieser Gemengelage haben die Wahlen nichts verändert. SPD und Grüne haben die Wahlen kaum deshalb gewonnen, weil ihnen die Lösung der Probleme zugetraut wird, sondern weil Mehrheiten glauben, dass sich eine solche Regierung mit etwas größerer Behutsamkeit zu ihnen verhalten wird. Schon jetzt wird deutlich, dass die im Amt bestätigte Bundesregierung in ihrer Ablehnung einer Ausweitung des »Krieges gegen den Terrorismus« nicht sehr konsequent ist, die Differenz zur US-Regierung ist eher taktischer Natur. Für eine wirklich sozial orientierte Reformpolitik und als parlamentarische Stimme für die etwa 30 Millionen Kriegsgegner in Deutschland wäre eine linke Opposition wichtig gewesen.

Dietmar Wittich ist Soziologe in Berlin, Mitglied der Redaktion von »Utopie kreativ«, Forschungen und Publikationen zu politischer Soziologie und Ungleichheitsforschung, zuletzt: Wahlzeiten, Kriegszeiten, andere Zeiten, Hamburg 2001.

Wie Bewegung in den Frieden kam

Wie Bewegung in den Frieden kam

von Beate Zilversmidt

Nach Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada wurde es sehr ruhig um »die Friedensbewegung« in Israel – zumindest, was deren Einfluss auf die öffentliche Meinung und deren Präsenz in den Medien, national wie international, betrifft. Beate Zilversmidt, eine der herausragenden Aktivistinnen von Gush-Shalom, beschreibt für Wissenschaft und Frieden detailliert eine Reihe von scheinbar zufälligen Ereignissen Anfang des Jahres 2002, die zusammenwirkten und deren Eigendynamik zu einer wichtigen Veränderung führte: Die Friedensbewegung wird wieder ernst genommen. Diese Entwicklung hat die Regierung von Scharon und die militärische Führung verunsichert. Das Ergebnis ist eine verstärkte öffentliche Debatte um das Thema Kriegsverbrechen – und eine mit aller Heftigkeit geführte Hetzkampagne gegen Gush-Shalom und seine Mitglieder.
Mehr als ein Jahr lang war die einzige kritische Reaktion auf die zunehmend brutale Unterdrückung der Palästinenser der Protest »radikaler Randgruppen«. Als für den 9. Januar 2002 in Tel Aviv im Saal des Tzavta Clubs eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen1 angesetzt war, hatten wir noch nicht die leiseste Ahnung, dass die Stimmung sich ändern würde. Etwa 250 Menschen füllten den von Gush-Shalom angemieteten Raum. Sechs Redner saßen gedrängt hinter dem Podiumstisch: Ein pensionierter Oberst der Luftwaffe, ein Ex-Minister, ein Philosophieprofessor, ein ehemaliger Brigadegeneral und jetziger Sozialwissenschaftler, ein Experte für Internationales Recht und ein Vertreter der PLO.

Yigal Shochat, ehem. Oberst der Luftwaffe, war eingeladen worden, weil er einige Monate vorher in einem Leserbrief, die Kampfpiloten aufgefordert hatte, Befehle zur Bombardierung ziviler Wohngebiete zu verweigern. Er hatte lange gezögert, bevor er zusagte auf das Podium zu gehen, doch sein Vortrag hinterlies einen ungeheueren Eindruck.

Der Jurist Eyal Gross forderte die »verweigernden Soldaten« – die nicht bereit sind mit Bulldozern palästinensische Häuser zu zerstören – auf, gegen eine Gefängnisstrafe anzugehen und ihren Fall vor ein reguläres Gericht zu bringen. Ein Anwalt, der sich auf die Einhaltung der Genfer Konventionen berufe – die Israel unterzeichnet hat – könne unter Umständen auch einen Freispruch erreichen.

Dov Tamari, Sozialwissenschaftler mit militärischem Background, hat bestimmt keinen besonders radikalen Ruf. Umso mehr überraschte seine Militärkritik. Die militärische Theorie ist für ihn im 19. Jahrhundert stehen geblieben, als es noch das Ideal des Krieges als Kampf zwischen zwei Armeen gab, in Unabhängigkeitskriegen sei der Kontext jedoch ein völlig anderer: „Es ist ein großer Fehler, alles was nicht in die überholte Militärtheorie passt, als Terrorismus zu bezeichnen.“

Michael Tarazi, der PLO-Vertreter, schilderte die schockierenden Erfahrungen der Palästinenser, sich während der Jahre des Oslo-Prozesses einem Verhandlungspartner ausgeliefert zu wissen, der sich nicht an internationale Gesetze gebunden fühlt. Er zitierte einen israelischen Militärsprecher mit den Worten: „Wir werden die Genfer Konvention nur einhalten, wenn wir dazu gezwungen werden.“

Professor Adi Ophir rief die Friedensbewegung auf, Beweise zu sammeln, die zukünftig vor einem internationalen Gerichtshof genutzt werden könnten. „Das wird unsere Isolation in der israelischen Gesellschaft vergrößern“ sagte er (und das dachten wir damals alle), „aber wir müssen uns alle fragen, ob die Zeit nicht reif ist, für dieses Vorgehen und auch dafür den Preis zu bezahlen.“

Shulamit Aloni sprach als letzte, die große alte Dame der Meretz-Partei und der Menschenrechtsbewegung, die der Regierung von Rabin angehört hatte. „Wir müssen den größten Teil der Arbeit selbst tun“, betonte sie. „Erwartet nicht viel von der internationalen Gemeinschaft. Viele Menschen dort haben zuviel Angst für Antisemiten gehalten zu werden. Es liegt an uns, mit den Tatsachen an die Öffentlichkeit zu gehen.“

In derselben Nacht, in der diese Diskussion stattfand, nahm die Armee Rache für einen früheren Guerillaangriff gegen einen isolierten Vorposten, dem vier Soldaten zum Opfer gefallen waren: Sie zerstörte 60 bis 70 Häuser im Flüchtlingslager Rafah, am südlichen Ende des Gaza-Streifens. Shulamit Aloni, die am folgenden Tag den belagerten Arafat in Ramallah besuchte, bezeichnete die Zerstörung der Häuser in einem Interview mit dem palästinensischen Fernsehen als Kriegsverbrechen. Vom israelischen Fernsehen ins Kreuzverhör genommen bestätigte sie später die Verwendung des Begriffs »Kriegsverbrechen« mit einem Hinweis auf ihr Auftreten im Tzavta Club.

Die massive Vergeltung, die Hunderte von unschuldigen Flüchtlingen wieder heimatlos machte und internationale Fernsehberichte über Kinder, die in den Trümmern nach ihren Spielsachen suchten, verursachten weltweiten Protest. Selbst Bush konnte dazu nicht schweigen und aus dem Weißen Haus gab es ein wenig Kritik.

Die Kritik von außen haben Sharon und die Armeeführung sicher vorhergesehen, womit sie wahrscheinlich nicht gerechnet hatten, das war der Protest in Israel; ein Protest, der nicht begrenzt war auf die »Übriggebliebenen« aus der alten Friedensbewegung. Die 150 Demonstranten, die spontan vor dem Verteidigungsministerium in Tel-Aviv auftauchten, waren nur der Anfang. Es folgte eine Welle kritischer Berichte und Leitartikel in der Presse und scharfer Protest von prominenten Akademikern. Die Möglichkeit, dass die Taten der Bulldozerfahrer als Kriegsverbrechen gelten könnten, und die Idee, dass jeder Soldat für seine Teilnahme an solchen Aktionen verantwortlich ist, wurden plötzlich zum öffentlichen Thema. Gush-Shalom stand völlig unerwartet eine Woche lang im Rampenlicht, weil es eine sehr vorsichtige öffentliche Diskussion initiiert hatte.

Tatsächlich waren bei der Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen keine Fernsehkameras präsent, nur ein einziger Rundfunkreporter hatte einige der Reden aufgezeichnet und Ausschnitte gesendet. Für den Justizminister Sheetrit immerhin Anlass zu fordern, dass „nicht unsere Soldaten zur Rechenschaft gezogen werden…, sondern diejenigen, die öffentliche Anschuldigungen gegen sie vorbringen.“ Aber die Versicherung des Ministers verhinderte nicht eine Verunsicherung im Offizierskörper. In der Folge berichteten die Medien über Berufsoffiziere, die sich um juristische Beratung bemühen, aus Angst vor der Möglichkeit bei Auslandsreisen verhaftet und wegen Kriegsverbrechen unter Anklage gestellt zu werden.

In dieser Atmosphäre trafen sich die Aktivisten verschiedener Gruppen (ICAHD2, Coalition of Women for Peace und die jüdisch-arabische Ta’ayush-Bewegung), um neben der humanitären Hilfe – dem Sammeln von Decken für die Opfer der Zerstörungen – den politischen Widerstand zu besprechen. In der West Bank hätte man einen Marsch mit Hunderten von Aktivisten organisieren können, die demonstrativ Decken übergeben – aber der Gaza-Streifen ist für Israelis (außer für Militär und Siedler) hermetisch abgeriegelt und Lieferungen sind nur heimlich und indirekt möglich. Hinzu kam, dass aufgrund des Versprechens der Regierung, zukünftig auf die Zerstörung von Häusern zu verzichten (ein Versprechen das – wie sich später herausstellte – nicht gehalten wurde), das Thema der Häuser von Rafah schnell aus den Medien verschwand. Um trotzdem ein klar sichtbares Zeichen gegen die Besatzung an sich zu setzen wurde eine Samstagabend-Massendemonstration in Tel-Aviv erwogen. Aber dies hielten die anwesenden kleineren Gruppen für nicht machbar, lediglich Peace Now traute man zu, so etwas auf die Beine zu stellen. Doch Peace Now war zu diesem Zeitpunkt gegen das Thema Kriegsverbrechen.

Inzwischen eskalierte die Gewaltspirale weiter – auch mit vielen israelischen Opfern – und so wurde am 23. Januar die Entscheidung getroffen, auch ohne die Teilnahme von Peace Now eine Demonstration »im Stil von Peace Now« zu veranstalten.

Das Geld sollte von den beteiligten Gruppen und Privatpersonen aufgebracht werden und es zeigte sich eine ungewöhnlich große Spendenbereitschaft – von Israelis, die eine solche Demonstration unbedingt wollten und von Sympathisanten aus dem Ausland (z.B. der niederländischen Gruppe »Eine andere jüdische Stimme«).

Am 25. Januar erschien dann die Erklärung von 56 Reserveoffizieren und Soldaten, alle aus Kampfeinheiten, die ankündigten, dass sie nicht länger bereit seien in den besetzten Gebieten ihren Militärdienst abzuleisten. Während der letzten 20 Jahre gab es immer wieder einzelne Reservisten, die sich der Verweigerergruppe Yesh Gvul mit ihren deutlichen politischen Positionen anschlossen. Yesh Gvul betrieb sehr aktive Aufklärungsarbeit bei den Soldaten, die sie über ihr Recht zur Verweigerung »offensichtlich illegaler Befehle« informierten. Aber es hatte nach dem Libanonkrieg keine weiteren Fälle massenhafter Verweigerung bei Reservisten oder Wehrpflichtigen gegeben.

Durch die Kriegsdienstverweigerer bekam die Diskussion um das Thema Kriegsverbrechen eine neue Dimension. Die Militärführung zeigte sich äußerst verunsichert und drohte mit harten Strafen. Das gesamte politische Establishment, einschließlich mehrerer Meretz-Abgeordneter, sprach sich gegen die Verweigerer aus. Doch Meinungsumfragen zeigten, dass sich 25%-30% der israelischen Bevölkerung mit ihnen identifizierten. Innerhalb weniger Wochen stieg – ständig in den Medien veröffentlicht – die Anzahl der Neuunterzeichner des umstrittenen Briefes der Soldaten auf über 300.

Die unterschiedliche Bewertung der »Verweigerer« verhinderte dann aber eine einheitliche Großdemonstration. Während die ursprünglichen Organisatoren – die sogenannten radikalen Gruppen (insgesamt 28 größere und kleinere Organisationen) – der Überzeugung waren, dass gerade den Verweigerern eine zentrale Rolle gegeben werden müsse, wollten die Sprecher von Peace Now mit den »Verweigerern« nicht auf ein Podium.

Im Ergebnis fanden schließlich zwei Massendemonstrationen innerhalb von acht Tagen statt: Am 9. Februar die Demonstration der 28 kleineren und mittleren Organisationen unter dem Motto »Die Besatzung tötet uns alle!«. Zum ersten Mal benannten 10.000 Teilnehmer die Besatzung als Ursache des gesamten Problems – und das zu einer Zeit, in der fast täglich Gewalttaten beider Seiten zu verzeichnen waren. Auf der Kundgebung traten neben bekannten Persönlichkeiten wie Shulamit Aloni und Uri Avnery auch mehrere arabische Redner und drei Vertreter der Verweigererorganisationen auf.

Als Peace Now eine Woche später noch fünfzig Prozent mehr Demonstranten auf dem gleichen Platz versammeln konnte, da war klar: Das Friedenslager ist aufgewacht.

Anmerkungen

1) Vgl.: http://www.gush-shalom.org/archives/forum_eng.html (Protokoll der Anhörung)

2) Israeli Committee Against House Demolition (http://www.icahd.org)

Beate Zilversmidt ist eine der zentralen Persönlichkeiten von Gush Shalom und Mitherausgeberin der Zeitschrift »The other Israel«.
Übersetzung: Claudia Haydt

Greenpeace und das neue Paradigma der Gewalt

Greenpeace und das neue Paradigma der Gewalt

von Wolfgang Lohbeck

Die Zeiten, als Greenpeace-Aktivisten gegen die französischen Atomtests im Pazifik kreuzten, als Greenpeace-Fahnen ein nicht weg zu denkendes Element jeder Friedensdemo waren, liegen ein paar Jahre zurück. Ändert sich das wieder? Wolfgang Lohbeck über die Diskussion bei Greenpeace nach dem 11. September und über Zusammenhänge zwischen Umwelt- und Friedensbewegung.
Die Feststellung, die Welt habe sich seit dem 11.9. verändert, gehört inzwischen zum Repertoire der Gemeinplätze. Doch was hat sich verändert? Auch vor dem 11.9. war unsere Welt dominiert vom Gewaltprinzip, galt durchweg das Recht des Stärkeren, auch vor diesem Datum waren – ob im Wirtschaftsleben oder im Kino – die Vorbilder diejenigen, die sich ihr »Recht« nahmen und die nicht lange fackelten. Aber eines war anders. Es gab eine Art allgemeine Übereinkunft darüber, dass es des Dialogs bedarf, um die jeweiligen Vorstellungen von dem, was »das Recht« ist, gegeneinander abzuwägen und dass es nicht angeht, dass sich jeder sein vermeintliches Recht nach Gutdünken nimmt.

Dieser Grundkonsens wurde offensichtlich erschüttert. Krieg ist für viele wieder ein legitimes, ja normales Mittel der Politik geworden. Die in Ansätzen vorhandene Kultur der politischen Konfliktlösung wurde zerstört, der »Kampf gegen den Terror« zum Vorwand für strategische Machtpolitik. Vor dem Hintergrund der erneuten Einteilung der Welt in Gut und Böse vollzieht sich ein Wertewandel, Gewalt und Rücksichtslosigkeit gewinnen an Dominanz, ein Rückfall in – fast möchte man sagen, barbarische – Ideologien und Verhaltensweisen vormittelalterlicher Prägung.

Dass die verbliebene Supermacht schon früher wenig Interesse und noch weniger Verständnis für die Ansichten Anderer hatte, ist bekannt. Inzwischen werden fast nach Belieben internationale Verträge und Absprachen, ob ABM-Vertrag oder Klimaabkommen, ohne Argumente, nur aufgrund der eigenen Stärke, aufgekündigt oder ignoriert. Ein Verhalten, das früher eher dem eines »Schurkenstaates« würdig war.

Entscheidungsträger hierzulande versuchen die »militärischen Maßnahmen« (das Wort Krieg wird vermieden) zu rechtfertigen: Man müsse dabei sein, um Mitsprache zu haben. Führende Vertreter der Partei, die aus der Friedens- und Umweltbewegung hervorgegangen ist und nun Regierungsverantwortung trägt, verunglimpfen Friedensengagierte und Pazifisten als realitätsblinde Gesinnungstäter (Staatssekretär Vollmer in der FR vom 07.01.02).

Es ist kein Zufall, dass sowohl Greenpeace wie auch die Friedensbewegung in der Vergangenheit nicht allein für den Frieden respektive den Umweltschutz aktiv waren. Die »Umwelt-Organisation« Greenpeace hat nicht umsonst »peace« im Namen, und die Friedensbewegung fühlte sich immer auch der Ökologie verpflichtet. Es ist schwer vorstellbar, für den Frieden aktiv zu sein, aber gleichgültig gegenüber der Umwelt, und das gilt auch umgekehrt.

Mit dem »peace« im Greenpeace- Namen verbinden sich denn auch zahlreiche der bedeutendsten und inspirierendsten Aktionen der Greenpeace-Geschichte. Zum Beispiel der Flug des Heißluftballons Trinity in west- östlicher Richtung über die Mauer und der damit verbundene Protest gegen die Rüstungsspirale, der Marsch von Greenpeace-Aktivisten durch das amerikanische Atomtestgelände in Nevada, die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die französischen Atomtests im Pazifik, die Evakuierung von Strahlenopfern von der durch US- Nukleartests verseuchten Pazifik-Insel Quajalein nach Rongelap.

In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt der Arbeit aber verschoben, weg vom »peace« zugunsten des »green«. Friedensarbeit, Aktivitäten gegen Rüstung und Waffensysteme (Landminen) oder Nuklearpolitik sind etwas in den Hintergrund getreten. Die Gründe sind weder strategischer noch ideologischer Natur. Aber auch bei Greenpeace gibt es so einfache Geschehnisse wie den Weggang wichtiger Mitarbeiter und den damit verbundenen Verlust kollektiven Gedächtnisses. Hinzu kam die immer drängender werdende akute und unabweisbare Brisanz anderer, vorwiegend Verbraucher orientierter Themen, etwa das Vordringen der Gentechnik in den Bereich von Landwirtschaft und Lebensmittel, oder die Chance, mit beispielhaften technischen Lösungen, wie dem »Greenfreeze«, dem ersten FCKW/ FKW- freien Kühlschrank der Welt, der (technischen) Entwicklung eine andere Richtung zu geben. Greenpeace hat versucht, diese Chancen aufzugreifen und hat auf neue thematische Herausforderungen wie die Gentechnik oder das drohende Verschwinden der großen Urwälder reagiert – und dabei zeitweise die Entwicklung der Gesellschaft zu immer höherer Gewaltbereitschaft und zur Militarisierung der Politik aus dem Auge verloren.

Mit der Opposition gegen Rüstung und Krieg verbindet sich aber ein wesentlicher, unverzichtbarer Anteil der Greenpeace-Identität. Greenpeace stand und steht nicht nur für einen anderen Umgang mit der Natur, sondern für eine andere, nicht auf Gewalt gründende Form des Umgangs mit uns selbst. Das von Greenpeace für das eigene Selbstverständnis ehern verteidigte Prinzip der Gewaltfreiheit hat eine viel umfassendere Bedeutung als den Verzicht auf Gewalt im eigenen Handeln. Gewaltfreiheit bedeutet für Greenpeace nicht mehr und nicht weniger als die Einsicht in die (Überlebens-) Notwendigkeit einer Kultur des Dialogs. Wo versucht wird, Konflikte nicht mit Dialog, sondern mit Gewalt zu lösen, wo das Recht des Stärkeren gilt und wo Ideologien der Gewaltverherrlichung das Handeln beherrschen, da hat auch die Umwelt keine Chance; da wird Umweltschutz zum Reparaturbetrieb und damit letztlich zum Verlierer. (Dass auch der Dialog eine Grenze hat, da wo Verbrechen – ob terroristische oder Umweltverbrechen – geahndet werden müssen, steht auf einem anderen Blatt).

Zu den Kriegsfolgen gehören immer auch schwere Umweltschäden. Doch die Natur ist, auch ohne Krieg, wehrlos den Übergriffen der menschlichen Zivilisation ausgeliefert. Wenn da das »Recht des Stärkeren« stillschweigend geduldet oder offen zum Prinzip erhoben wird, kann es keinen Respekt vor dem Leben geben. Wenn Umweltschutzarbeit in einer Gesellschaft, die von struktureller Gewalt geprägt ist – ob in Form grenzenloser Wirtschaftsmacht oder in Form der Akzeptanz des Krieges –, nicht schnöde Reparaturarbeit sein soll, muss die Gewalt als allgegenwärtiges Phänomen thematisiert werden. In einer Gewalt-Gesellschaft ist Umweltschutz zwangsläufig politisch.

Wer glaubt, Greenpeace habe sich in seinen Anfängen doch auch nur um den Schutz der Wale gekümmert, irrt. Es ging auch um die Wale, aber nur »auch«. Viel mehr als um die Wale ging es um den Kampf gegen die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur, um den fehlenden Respekt vor dem Leben, letztlich um den Kampf gegen Gewalt. Das war Greenpeace und das ist es im Kern heute noch. Deshalb wird der Frieden, der Dialog als Möglichkeit zur Konfliktlösung und zur Prävention von Gewalt und Krieg, Greenpeace nie gleichgültig sein.

Spannen wir den Bogen vom »Terror« zum Umweltschutz. Terrorismus, die Gewalt der »Anderen«, ist heute in der Diktion der Herrschenden das Synonym für Gewalt schlechthin. Für sie ist derjenige, der physische Gewalt ausübt, der »Böse« schlechthin. Sie verschweigen, dass diese Form der Gewalt nur eine ist, die sichtbarste zwar, aber nicht einmal die bedrohlichste.

Sie wollen nicht sehen –oder nicht zugeben-, dass physische Gewalt auch Reaktion auf subtilere, umfassendere Formen von Gewalt, auch Antwort auf strukturelle Gewalt, sein kann. Sie wollen nicht sehen, dass oft erst durch die »Gewalt von Oben«, durch die Ausübung von Macht, der Boden bereitet wird, auf dem Terrororganisationen ihre Kämpfer rekrutieren. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus betreiben sie brutalste Interessenpolitik. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist keine Frage, dass Terrorismus geahndet werden muss, die Grenzen des Dialogs sind da, wo Verbrechen begangen werden. Das ist kein Widerspruch zum Prinzip der Gewaltfreiheit, aber Terroristen gehören in die »Obhut« der Strafverfolgung – wie Umweltverbrecher übrigens auch).

Es sind die gleichen Politiker, die im Militär das Allheilmittel im Kampf gegen den Terrorismus sehen, und tatenlos bleiben bei der Vergiftung der Welt mit Milliarden Tonnen Kohlendioxyd und der Verseuchung von Nahrungsmitteln durch Chemiegifte, sie werten die Interessen der Industrie höher als die Gesundheit der Menschen. Wer Umweltschutz nicht als Reparaturbetrieb, sondern als eine grundsätzlich andere Einstellung zur Natur und zum Leben sieht, kann nicht die Wurzel der Umweltzerstörung, die Bereitschaft zur Gewalt, ignorieren.

Greenpeace kann es also nicht gleichgültig sein, wenn sich schleichend, aber unaufhörlich, die Akzeptanz aller erdenklichen Formen von Gewalt erhöht. Zu einem sinnvollen Umweltschutz gehört, dass Greenpeace sich auch des Friedensthemas wieder stärker annimmt. Das kann auf sehr verschiedene Weise geschehen.

Dazu gehört zunächst der Versuch einer aufrichtigen Diskussion. Und was den »Kampf gegen den Terror« angeht, so bedarf es, wie Jochen Hippler in der FR schrieb, schon fast „übermenschlicher Anstrengungen zur Blauäugigkeit“, um diesen unter Verweis auf zweifellos vorhandenen »Kollateralnutzen« schönzureden. Ein konkreterer Schritt wäre die Einführung eines obligatorischen Friedens- und Mediationsdienstes, der sich aus der Überzeugung speist, dass Friedenssicherung nicht nur auf Rüstung und Waffen beruht. Die kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung in den Medien und ihre Überprüfung auf Plausibilität und Wahrheit („Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“) ist dringend angesagt, genauso wie das Ringen um mehr Transparenz bei Waffenproduktion und -export.

An vorderer Stelle steht auch das Bemühen um die Bewahrung demokratischer Errungenschaften und Konventionen. In diesem Zusammenhang wäre sicher ein kleiner, aber bedeutsamer Schritt die Aufhebung des Fraktionszwanges bei Abstimmungen über Krieg und Frieden und den Einsatz der Bundeswehr. Hier darf es nicht um die Demonstration politischer Stärke oder um »Geschlossenheit« gehen, hier muss das Grundgesetz gelten, nachdem jeder Abgeordnete nur seinem Gewissen verantwortlich ist.

Frieden und Umweltschutz sind nicht voneinander zu trennen, keines von beiden kann für sich allein errungen werden. Wer Frieden will, dem kann der Zustand der Umwelt nicht egal sein und umgekehrt: Wer die Umwelt retten will, kann dies nur, wenn er gleichzeitig versucht, die Spirale der Gewalt zu stoppen.

Wolfgang Lohbeck ist bei Greenpeace Deutschland verantwortlich für »Sonderprojekte«