Umkehren bevor es zu spät ist…

Umkehren bevor es zu spät ist…

von Friedensinitiativen

Unter dieser Überschrift veröffentlichte die Unterzeichnergruppe des Mainzer Appells wenige Tage vor der Bundestagsdebatte am 21. November einen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Anzeige, in dem es unter anderem heißt:

„In wenigen Tagen sieht der Bundestag vor einer folgenschweren Entscheidung, die eine neue Stufe des Wettrüstens einleiten könnte. Wir Naturwissenschaftler wollen noch einmal warnen vor Pershing II Raketen und Marschflugkörpern (Cruise Missiles), vor neuen Waffen, die nicht den Frieden sichern, sondern die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöhen. Wir haben unsere Gründe im Juli auf dem Mainzer Kongreß erarbeitet und bekannt gemacht. Unsere Argumente sind nicht widerlegt.“

Das oberste Gut, das es für alle Deutschen zu wahren gilt, ist der Frieden.

Das sagte Adenauer 1955. Dieser Satz gilt heute umsomehr, denn Physiker, Strahlenbiologen, Mediziner und Katastrophenschutzexperten sagen unmißverständlich: der nächste Krieg wäre für Europa auch der letzte; was verteidigt werden sollte, würde unweigerlich zerstört würden.

Die Sicherung des Friedens erfordert Stabilität

Politiker sagen, daß die nukleare Abschreckung mit der Drohung des gesicherten Zweitschlags den Krieg der Blöcke verhindert hat. Selbst, wenn dieser Satz stimmt, bedeutet er angesichts der ständigen Aufrüstung keine Garantie für die Zukunft. Das Ziel muß aber Stabilität, nicht simple Gleichheit auf beiden Seiten heißen. Zweitschlagpotential ist überreichlich vorhanden.

Pershing II und Cruise Missiles machen den Frieden unsicherer

Bei aller Sorge wegen der neu aufgestellten sowjetischen SS 20-Raketen darf das vermeintliche Gleichgewicht nicht durch „Nachrüstung“ mit den qualitativ ganz neuartigen Pershing II Raketen und Cruise Missiles angestrebt werden. Ihre gegenüber der SS 20 zehnfach erhöhte Zielgenauigkeit bedeutet Vertausendfachung der Wirkung. Deshalb sind sie in der Lage gegnerische Kommando- und Kontrollzentren, sowie Raketensilos mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vernichten. Die Gefahr eines Krieges aus Versehen nimmt zu. Mit der Stationierung würde deshalb eine ganz neue, destabilisierende Runde der Rüstungsspirale beginnen. Kaum je ist ein einmal vollzogener Aufrüstungsschritt wieder zurückgenommen worden. Die technische Entwicklung macht dies künftig noch schwieriger.

Rüstungsstop ist möglich

Durch sofortiges Einfrieren der atomaren Rüstung in Ost und West könnte das Wettrüsten endlich angehalten und ohne zusätzliches Risiko Zeit gewonnen werden für Verhandlungen mit dem Ziel einer kontrollierten Abrüstung. Ein Einfrieren der Rüstung ist in zentralen Punkten kontrollierbar. Ein wichtiger Durchbruch ist z.B. in den letzten Jahren dadurch erzielt worden, daß die technischen Probleme der Kontrolle von unterirdischen Atombombenversuchen gelöst wurden. Ein Vertragsentwurf liegt der Genfer Abrüstungskonferenz vor. Für den sofortigen Abschluß dieses Vertrages bedarf es nur noch des politischen Willens… Wir Naturwissenschaftler wenden uns in dieser existenzbedrohenden Situation noch einmal an alle Bundestagsabgeordneten:

Setzen Sie sich dafür ein, daß Zeit gewonnen wird für ernsthafte Verhandlungen, die wirklich zur Rüstungsbegrenzung führen.

Stimmen Sie der Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles nicht zu.“

BUNDESKANZLERAMT Horst Teltschik Ministerialdirektor 212 – K 35203/83

Herrn Peter Starlinger c/o Prof. Dr. H. Kneser
Institut für Genetik Weyertal 121 5000 Köln 41

Sehr geehrter Herr Starlinger,

der Bundeskanzler hat mich gebeten, den Eingang Ihres Schreibens vom 28. September
1983 zu bestätigen.

Der Bundeskanzler hat Ihre Ausführungen mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen.
Ich bitte um Ihr Verständnis dafür, daß er das von Ihnen gewünschte zusätzliche
Gespräch zur Zeit nicht führen möchte.

Mit freundlichen Grüßen

Eine Göttinger Erklärung heute

Eine Göttinger Erklärung heute

Göttingen, den 30. Juni 2007

von Göttinger Wissenschaftler für Frieden und Abrüstung

Wir, Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Göttinger Friedenskongresses anlässlich des 50. Jahrestages der Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr haben uns mit den Problemen von Kriegen, Aufrüstung und Militärstrategien befasst. Angesichts eines sich verschärfenden weltweiten Kampfes um mineralische und Energie-Rohstoffe und einer immer offeneren militärischen Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen weniger Großmächte treten wir an die Öffentlichkeit und beziehen Stellung zu wichtigen Brennpunkten der heutigen Friedenspolitik.

Militarisierung des Denkens und der Politik

Die durch das Grundgesetz nach dem II. Weltkrieg auferlegte Beschränkung der Bundeswehr aufdie Landesverteidigung wurde in den letzten Jahren Stück für Stück aufgehoben, so dass Deutschland sich nun weltweit an Militäreinsätzen, ja sogar an Angriffskriegen und Besatzungen beteiligt. Die Forderung von Auslandseinsätzen wurde bereits in den Verteidigungsrichtlinien von 1992 offen begründet mit der Notwendigkeit »zur Sicherung des freien Welthandels und zur Sicherung des ungehinderten Zugangs zu Rohstoffen und Märkten in aller Welt«. Militärische Auslands-Einsätze sollen demnach helfen, das ungebändigte exponentielle ökonomische Wachstum der reichen Nationen weiter zu ermöglichen und abzusichern.

Derzeit stehen fast 10.000 Bundeswehrsoldaten und geheim agierende Sondereinheiten in Auslandseinsätzen, u. a. in Afghanistan, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, am Horn von Afrika, in Sudan, Georgien, Äthiopien und im östlichen Mittelmeerraum. Diese Einsätze werden mit dem Kampf gegen Terrorismus, humanitärer Hilfe und zur Förderung der Demokratie gerechtfertigt. Tatsächlich geht es jedoch um Geopolitik und die Sicherung des Zugriffs auf Ressourcen. Wir lehnen Einsätze der Bundeswehr im Ausland unter diesen Vorzeichen ab und fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, diese einzustellen.

Die europäischen Mitgliedsstaaten dürfen auch nicht (wie es im »Vertrag über eine Verfassung für Europa« steht) durch eine Aufrüstungs-Verpflichtung gebunden werden, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbesser« und dazu ein »Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« einzurichten. Der neue EU-Grundlagenvertrag darf eine solche Forderung nicht enthalten. An Stelle eines »Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten« (EU-Verfassungstext) fordern wir ein bislang nicht erwähntes »Europäisches Amt für Abrüstung und nichtmilitärische zivile Konfliktlösungs-Strategien«. Außerdem fordern wir eine strikte Einstellung von Rüstungsexporten, die immer wieder kriegerische Konflikte ermöglichen und anheizen.

Europa, und dabei insbesondere Deutschland, muss sich als Vorkämpfer für friedliche und zivile Konfliktlösungen unter den Nationen herausheben. Dazu gehören zu allererst, wie im EU-Verfassungsentwurf bereits formuliert wurde, die »Solidarität und Achtung unter den Völkern«, die Bekämpfung von Armut, Hunger und Not und die Erhaltung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen durch eine nachhaltige Wirtschaftsordnung in »Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde«.

Die Sicherheit der Menschen in Europa ist nicht durch die Macht seiner militärischen Mittel zu gewährleisten. Europa muss der gegenwärtig bedrohlich zunehmenden Militarisierung der internationalen Beziehungen entgegentreten. Darin muss es eine Vorbildfunktion übernehmen. Es muss seine finanziellen und humanitären Potentiale für die Lösung der großen Menschheitsprobleme des Hungers, der extremen sozialen Polarisierung und des Klima- und Umweltschutzes einsetzen.

Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen

Immer noch bedrohen mehr als 40.000 Atomsprengköpfe weltweit die Menschheit. Die offiziellen (und auch die versteckten) Atommächte weigern sich, die atomare Abrüstung durchzuführen, zu der sie sich im Atomwaffensperrvertrag verpflichtet haben. Im Gegenteil. Neue Generationen von Atomwaffen werden gebaut und getestet. Gleichzeitig wird das Atomwaffenmonopol schamlos benutzt, um andere Länder zu erpressen und mit Krieg und sogar offen mit atomaren Erstschlägen zu drohen. Bereits die Drohung, nicht nur der Einsatz von Atomwaffen verstößt nach dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8.7.1996 grundsätzlich gegen das Völkerrecht und »insbesondere gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts«.

»Raketenabwehr-Schilde«, die erwiesenermaßen gar nicht wirkungsvoll sind, wirken provokativ und können bislang nicht-nukleare Staaten dazu veranlassen, ein eigenes atomares Raketensystem aufzubauen. Dadurch wird eher ein neuer weltweiter Rüstungswettlauf ausgelöst. Nur durch eine radikale atomare Abrüstung kann die nukleare Nichtverbreitung gestärkt und können andere Staaten abgehalten werden, sich selbst Nuklearwaffen zuzulegen.

Die Göttinger 18 hatten sich mit ihrem Wissen um die Folgen eines Atomkrieges gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gestellt. Aber die Bundesluftwaffe übt im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« mit NATO-Atomwaffen den potentiellen Einsatz atomarer Waffen. Dadurch wird das damals politisch akzeptierte Anliegen der Göttinger Atomwissenschaftler umgangen. Wir fordern im Sinne und in der Tradition der »Göttinger 18« den Verzicht auf die »nukleare Teilhabe«. Wir brauchen eine Welt frei von Atomwaffen. Wir treten ein für ein internationales Verbot und die Vernichtung aller ABC Waffen. Die Bundesrepublik muss damit beginnen und frei von Massenvernichtungswaffen werden.

Die »Göttinger 18« standen noch unter der verständlichen Betroffenheit über die Folgen von Hiroshima und Nagasaki. Daher sahen sie in der zivilen Nutzung der Atomenergie die friedliche Alternative. Wir wenden uns heute in Kenntnis der vielfältigen Gefahren (nicht nur Tschernobyl) und im Bewusstsein der Janusköpfigkeit der Atomtechnologie, der Weiterverbreitung und des militärischen Gebrauchs von Atomtechnologie auch gegen einen weiteren Ausbau der so genannten »friedlichen Nutzung der Atomenergie«.

Wir wenden uns darüber hinaus auch an alle Wissenschaftler/innen, sich nicht an Rüstungsprojekten zu beteiligen. Forschung und Lehre dürfen sich nur friedlichen und zivilen Zielen verpflichtet fühlen. Wissenschaftler/innen müssen außerdem über die Sinnlosigkeit und die zerstörerische Wirkung von Kriegen, insbesondere durch die neuen Waffensysteme aufklären.

Göttinger Wissenschaftler für Frieden und Abrüstung mit: Verein für Umwelt- und Konfliktforschung e.V. (VUK), Institut für Forschung und Bildung (IFB), Göttinger Friedensbüro, AG Friedensforschung der Universität Kassel (AGIF), Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«, Rosa-Luxemburg-Bildungswerk Nds. E.V., AG »Wissen und Kritik« an der TU Braunschweig.

Vorfahrt für Zivil in Europa

Vorfahrt für Zivil in Europa

von Stephan Brües

Ein dreiviertel Jahr wurde es vorbereitet, nun ist das Projekt Berlin 07 – die Jahresversammlung des »European Network for Civil Peace Services« (EN.CPS) und der »Nonviolent Peaceforce Europe« – vom 20.-26. April über die Bühne gegangen. Der Tagungsort war mit dem Jugendgästehaus Lehrter Str. gut gewählt: mitten in der Stadt, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs und trotzdem mit ruhigem Innenhof, in dem die 50 Teilnehmenden aus 15 Ländern bei konstant schönem Wetter Workshops abhalten oder auch mal relaxen konnten.

Die Tagung mit dem Titel »Civil Society Working on Conflict – Practices and Perspectives« begann im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestages. Neben Gästen vom »Entwicklungshilfe«ministerium, dem Auswärtigen Amt, der EU-Kommission, dem Leiter des Zentrum für internationale Einsätze (ZIF) und dem European Peace Liason Office (EPLO) wurden die Konferenzteilnehmenden auch von zwei MdBs (Niels Annen, SPD und Winni Nachwei, Bündnis90-Grüne) und den Vorsitzenden der beiden gastgebenden Organisationen, Tilman Evers (Forum ZFD) und Ute Finckh-Krämer (BSV) begrüßt. Im Mittelpunkt standen jedoch die Berichte dreier Friedensfachkräfte: der Juristin Deborah Nonhoff (DED) über ihre Arbeit in Afghanistan im Bereich Menschenrechtserziehung; von Atif Hameed von der Nonviolent Peaceforce über seine Arbeit im Osten Sri Lankas sowie von Biljana Todorovic, Leiterin des Büros des Forum ZFD in Mitrovica, Kosovo, über ihre Unterstützung lokaler Gruppen, die den schwelenden Konflikt zwischen Albanern und Serben zu überwinden suchen. In der von der Journalistin Mirjam Gehrke moderierten Diskussion wurde v.a. über die Frage gesprochen, ob der deutsche Zivile Friedensdienst Vorbild für die EU-Ebene sein könne. Die Arbeit der Friedensfachkräfte des Zivilen Friedensdienste wurde allseits hoch geschätzt und eine intensivere Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Trägerorganisationen versprochen. Im Anschluss hieß die Berliner Bürgermeisterin Junge-Reyer die internationalen Gäste herzlich in der Hauptstadt willkommen.

Der 21. und 22. April standen im Zeichen des Open Space. Unter der umsichtigen Moderation von Ruben Kerschat entstanden rasch Workshops, deren Ergebnisse in Form von Wandzeitungen sofort für alle anderen sichtbar gemacht wurden und am Ende in gebundener Form jedem Teilnehmenden vorlagen. So war sicher gestellt, dass nicht nur interessant diskutiert wurde, sondern auch zielführend im Hinblick auf die wichtigen Fragen der organisationsinternen Tage 23.04. (EN.CPS) und 24.04. (NP).

Am Sonntag sollst du ruhen – oder an einer Bootsfahrt teilnehmen. Das taten die Gäste und lauschten bei reichhaltigem, leckeren Buffet und kühlen Getränken den Ausführungen der Berliner Geschichtswerkstatt über »Krieg und Frieden in Berlin«, die Annedore Smith ins Englische übersetzte. Die Bootsfahrt endete ziemlich genau dort, wo der nächste Programmpunkt der Tagung stattfand: am Gendarmenmarkt. Im Französischen Dom spielten sich LeLeMam, sieben Vollblutsängerinnen aus Alkmar, in die Herzen der viel zu wenigen Anwesenden. Bei den organisationsinternen Tagen wurden Strukturen, Strategien und mögliche Kandidierende für Vorstandsaufgaben diskutiert.

Am 25.05. fand zum Abschluss der Jahresversammlung eine Pressekonferenz mit Tilman Evers und Ute Finckh, dem Konferenzorganisator Jochen Schmidt sowie Agnieszka Komoch, Leiterin des NP-Büros in Brüssel statt. Die Redner stellten dabei die positive Arbeit der Friedensfachkräfte heraus und forderten angesichts des Bedarfs an Projekten des Zivilen Friedensdienstes eindringlich mehr Geld für diese erprobten Formen der Konfliktbearbeitung auszugeben statt für fragwürdige Militäreinsätze. Mit genau diesen Forderungen zogen dann die 50 europäischen Friedensexperten öffentlichkeitswirksam mit 300 Luftballons (Aufschrift »Vorfahrt für Zivil«), begleitet von viel zu vielen Polizisten, durch den Hauptbahnhof zum Washingtonplatz, verteilten Flugblätter und ließen die Luftballons schließlich steigen.

Der 26.04. stand im Zeichen einer Follow-up-Konferenz, bei der Experten aus Friedensorganisationen und Vertreter von Ministerien und EU darüber diskutierten, wie die Förderung des Zivilen Friedensdienstes und der gewaltfreien Konfliktbearbeitung weitergehen kann. Insgesamt gesehen kann die Konferenz als großer Erfolg gewertet werden, vor allem im Hinblick auf die Vernetzung der Mitgliedsorganisationen der beiden Netzwerke und der Lobbyarbeit. Besondere Aufmerksamkeit erhielten dabei die Mitarbeiterinnen aus den »exotischen« Ländern Moldawien und Georgien, über deren Menschenrechtsarbeit recht wenig bekannt war. Beispielhaft sei die aktuelle Kampagne des georgischen Menschenrechtszentrums HRIDC genannt, bei der der zurückliegende Krieg mit dem separatistischen Abchasien thematisiert und mit einer an die Abchasen gerichteten Bitte um Vergebung für georgische Gewalt ein eindrucksvolles Versöhnungszeichen gesetzt wird. Möglicherweise findet die nächste Jahrestagung der beiden Verbände in Georgien statt.

Stephan Brües arbeitet als freier Journalist und war der Medienverantwortliche für die Friedensfachtagung in Berlin

Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel

Der zweite Libanon-Krieg, das Friedenslager und Israel

Nachgedanken eines Friedensfreundes

von Daniel Bar-Tal

Im Zusammenhang des zweiten Libanon-Kriegs haben sich hierzulande zahlreiche selbsternannte Israelfreunde mit unbesehen proisraelischen Stellungnahmen zu Wort gemeldet – manche so anmaßend, dass sie auch selbstkritische jüdische Stimmen als israelfeindlich oder gar als antisemitisch glaubten diffamieren zu können. Das wird der vorliegende Beitrag des sich dem israelischen Friedenslager zurechnenden Sozialpsychologen Daniel Bar-Tal kaum erlauben. Dennoch ist er ausgesprochen selbst- bzw. israelkritisch, nicht zuletzt vom moralischen Standpunkt aus. Im Hinblick auf die kaum zu überschätzende Bedeutung der jüdischen Tradition für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins der Menschheit kann man eine solche Stimme als Stimme des »wahren Israel« verstehen. Jedenfalls erscheint sie uns als wertvolle Orientierungshilfe für wahre Israelfreunde.

Der jüngste Krieg im Libanon trug zu einer weiteren Spaltung des Friedenslagers bei. Zu Beginn dieses Krieges brachten manche aus dem Friedenslager ihre Zustimmung zum Ausdruck und verlangten, man müsse zwischen »radikalen« und »vernünftigen« Tauben unterscheiden und die Grundannahmen des Friedenslagers überprüfen. Als ein Vertreter dieses Lagers nehme ich die Herausforderung an und überprüfe meinen Bezugsrahmen. Dazu werde ich meine Auffassungen zunächst skizzieren, bevor ich sie im Licht der jüngsten Ereignisse betrachte.

Grundannahmen

  • Der Israel-Palästina-Konflikt muss auf dem Verhandlungsweg gelöst werden, und zwar gemäß den Grundsätzen, die in jüngerer Vergangenheit aufgestellt wurden: z.B. in Übereinstimmung mit den Clinton-Kriterien, den Taba-Vereinbarungen, den Genfer Konventionen und/oder dem Vorschlag der Arabischen Liga. Diese Empfehlungen, oder Kombinationen davon, könnten die Grundlage darstellen für eine endgültige Einigung.
  • Der israelisch-syrische Konflikt muss ebenfalls auf dem Verhandlungsweg gelöst werden. Verhandlungen müssen zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags führen, der wenigstens dem Friedensabkommen mit Ägypten entspricht.
  • Als bedeutende Regionalmacht hält Israel die meisten Karten zur Lösung des Palästina-Syrien-Konflikts in der Hand und kann Vertrauen schaffende Maßnahmen ergreifen, um einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu erleichtern.
  • Für den Staat Israel besteht eine existenzielle Gefahr seitens extremistischer Kräfte, die offen davon sprechen, Israel müsse zerstört werden. Friedensabkommen mit seinen Nachbarn sind die beste Garantie für das Fortbestehen und die Sicherheit des Staates Israel. Darüber hinaus sind solche Abkommen von höchster Bedeutung für Entwicklung und Wohlstand der israelischen Gesellschaft.
  • Terroristische Aktionen – Terror von Palästinensern eingeschlossen –, die sich gegen unschuldige Zivilisten richten, stellen ein Verbrechen dar und müssen eingestellt werden.
  • Der Staat Israel muss damit aufhören, der palästinischen Bevölkerung die unterschiedlichsten Kollektivsanktionen aufzuerlegen. Ebenso müssen die diversen gewaltsamen Übergriffe, einschließlich der nach internationalem Recht illegalen Attentate, eingestellt werden.
  • Der Staat Israel muss den Bau und die Erweiterung von Siedlungen einstellen, die das Völkerrecht negieren.
  • Der israelisch-arabische Konflikt wird auf beiden Seiten durch politische, soziale, kulturelle und erzieherische Mechanismen und Institutionen verschärft und aufrechterhalten. Aus diesem Grund ist es zwingend notwendig, alle konfliktbegünstigende Erziehung und Bildung einzustellen und diesen ganzen Bereich auf Frieden auszurichten.
  • Moralische Erwägungen müssen das Handeln der Konfliktparteien bestimmen. Das gilt besonders für den Staat Israel, der sich als aufgeklärter Staat versteht. Daher sollten Völkerrecht und moralische Werte bei seinen Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen.

Zum Libanonkrieg

Meine Überlegungen zum jüngsten Libanon-Krieg bestärken mich in meinen Grundannahmen. Mehr als je zuvor bin ich von der Notwendigkeit überzeugt, dass der Israel-Palästina-Konflikt auf dem Verhandlungsweg und durch die Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit Syrien beigelegt werden muss.

Ich nehme die Drohung des Iran, Israel vernichten zu wollen, ernst, glaube aber, dass eine friedliche Beilegung der Probleme mit Palästina und Syrien uns im Innern stärken, unser internationales Ansehen fördern und uns so in die Lage versetzen wird, den Gefahren Stand zu halten. Mehr denn je bin ich gegen die Anwendung von Gewalt zum Zweck der Konfliktregelung.

Was den jüngsten Krieg betrifft, so wird kaum jemand bezweifeln, dass die Entführung von Soldaten durch die Hisbollah ein Akt ungerechtfertigter Gewalt war, der Gesetze und Normen der internationalen Gemeinschaft verletzt hat. Allerdings, an diesem Punkt ist auch schon Schluss mit dem Konsens. Ich gehöre zu den Leuten, die überzeugt sind, dass die übereilte Entscheidung zu Krieg, die massiven Bombenangriffe, die immense Schädigung der Zivilbevölkerung, der Widerstand gegen einen Waffenstillstand und gegen Verhandlungen in der ersten Kriegsphase und der Beginn einer groß angelegten Bodenoffensive nach der Resolution des Sicherheitsrates symptomatisch sind für Israels Neigung zu Gewaltlösungen, für seine simplifizierende und ethnozentrische Einstellung zu dem Konflikt sowie für den überwältigenden politischen Einfluss der Armee.

Gewiss, Nachrichten über die Tötung von Zivilisten durch Katjuscha-Raketen in Acre, Haifa oder Tarshiha erzeugen Wut. Das Bedürfnis nach Vergeltung, der Wunsch, Leute von der Hisbollah zu töten und zu verletzen, drängt sich auf. Das ist zweifelsohne eine natürliche Reaktion fast aller Menschen. Nichtsdestotrotz muss genau an diesem Punkt eine andere Stimme gehört werden – die Stimme, die uns dazu auffordert, die Ereignisse in einer weiten historischen Perspektive zu betrachten, über zahlreiche mögliche Konsequenzen nachzudenken, Alternativen zum Erreichen ähnlicher Ziele in Betracht zu ziehen und die Folgen impulsiver, instinktförmiger Handlungen zu bedenken. Ich möchte annehmen, dass die Führer der Nation solche distanzierten Einschätzungen vornehmen – wenn nicht sie, dann zumindest die Anhänger des Friedenslagers.

Hier einige Gedanken meiner eigenen »zweiten Stimme«:

  • Die Hisbollah ist eine politische Bewegung mit einem militärischen Arm (der auch in terroristische Aktivitäten verwickelt ist), mit entsetzlichen Absichten und Handlungen gegen uns. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Hisbollah als eine authentische Form des Widerstands gegen die Besetzung von Teilen des Libanon durch Israel entstanden ist. Sie vertritt die Mehrheit der südlibanesischen Bevölkerung und spielt gegenwärtig eine Rolle in der Innenpolitik des Landes. Israel zog sich in der Tat auf die internationale Grenze zurück, behielt aber die Sheba Farm besetzt. Der Krieg hat die Existenzberechtigung der Hisbollah bestärkt.
  • Der massive Beschuss im Norden Israels durch die Hisbollah folgte auf die massiven Angriffe der israelischen Streitkräfte im Süden des Libanon und auf Beirut, die ebenso Zivilopfer forderten. Die Gewalt der Hisbollah und unsere eigene entwickelten sich zu einem Teufelskreis.
  • Der Abschuss von Raketen auf israelische Städte und Dörfer stellt zweifelsohne einen terroristischen Akt dar. Die Bombardierung Beiruts und anderer libanesischer Gemeinden zur Ausübung von Druck auf die libanesische Führung und die Hisbollah war ebenfalls Terror.
  • Ich nehme den israelischen Streitkräften die wiederholten Entschuldigungen wegen der zivilen Opfer nicht ab. Ein Fehler kann ein- oder zweimal passieren – diese Vorfälle wiederholen sich jedoch zu oft und weisen auf ein System hin, das unvereinbar ist mit moralbestimmtem Verhalten.
  • Die Raketenangriffe auf die zivilen Wohngebiete im Norden (Israels) sind laut Völkerrecht und unter moralischen Gesichtspunkten ein Verbrechen. Zum ersten Mal wurde die israelische Heimatfront in einem Krieg so weitgehend geschädigt. Dazu muss jedoch deutlich gesagt werden, dass Israel in der Vergangenheit selbst zielgerichtet und in großem Maßstab Bevölkerungszentren angegriffen hat. So als Israel während des Zermürbungskriegs die Canal towns bombardierte und desgleichen im ersten und zweiten Libanon-Krieg.
  • Die Aktionen der Hisbollah standen im Zusammenhang des Gewaltausbruchs im Israel-Palästina-Konflikt. Sie folgten auf den israelischen Einfall in Gaza nach dem tödlichen Angriff auf einen Posten der Israelischen Streitkräfte außerhalb des Gaza-Streifens und der Entführung eines israelischen Soldaten. Diese Ereignisse geschahen vor dem Hintergrund der jahrelangen Weigerung Israels, Verhandlungen mit den Palästinensern aufzunehmen, weil es angeblich keine palästinensischen Verhandlungspartner gibt. Israel hatte sich zwar einseitig aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, kontrollierte aber weiterhin viele Aspekte des Lebens dort und verwandelte die Gegend in ein großes geschlossenes Lager. Die Verwendung von Qassam-Raketen durch die Palästinenser ist ein Verbrechen im aktuellen Teufelskreis der Gewalt, macht aber auch sehr deutlich, dass der israelisch-palästinensische Konflikt ungelöst ist.
  • Es muss auch daran erinnert werden, dass die Gewalt im Gaza-Streifen während des Libanon-Kriegs ununterbrochen unschuldige Zivilopfer forderte, Frauen und Kinder eingeschlossen. Die israelische Öffentlichkeit ignorierte diese Gewalt und schenkte nur dem Norden des eigenen Landes Aufmerksamkeit.
  • Israel verweigert Verhandlungen mit Syrien, da es weiß, dass ein Friedensabkommen die Aufgabe der Golanhöhen erfordern würde. Die Golanhöhen ohne Frieden werden erkennbar dem Frieden ohne Golanhöhen vorgezogen. Die Aktionen der Hisbollah mit Syriens Unterstützung machen auch auf dieses ungelöste Problem aufmerksam.
  • Der Entscheidungsfindungsprozess der israelischen Regierung war, laut Medien, durch hastige Einschätzungen und das Fehlen von langzeitorientierter strategischer Planung charakterisiert. Der tief greifende Einfluss der Armee auf unser aller Leben ist dadurch einmal mehr deutlich geworden.
  • Es war extrem schwierig, sich ausschließlich anhand der israelischen Medien ein adäquates Bild von den Geschehnissen zu machen: Politische und militärische Führung betrieben meist Propaganda. Zeitungen und die Mehrzahl elektronischer Medien wurden dazu gebracht, die Kriegsanstrengungen von Regierung und Armee zu unterstützen.
  • Die Hisbollah fungiert als ausführender Arm des Iran, dessen Ziele den Einwohnern Israels Sorge bereiten sollten. Daher ist es zwingend notwendig, Friedensabkommen mit Syrien und dem Libanon zu erreichen und so die Rechtfertigung für die Existenz der Hisbollah in der Region zu schwächen.
  • Israel dient der US-Politik, die sich zum Ziel gesetzt hat, die »Achse des Bösen« mit Gewalt zu bekämpfen, als Subunternehmer. Ich bezweifle, dass es wirklich im Interesse Israels liegt, Syrien zu isolieren und es in die »Achse des Bösen« einzureihen.
  • Die Auffassung, die Zerstörung des Libanon sei insofern von Vorteil für den Libanon, als sie zum Bruch mit der Hisbollah führe, ist eine orwellhafte Fehlkonstruktion.
  • Es stimmt, dass der Libanon und die Hisbollah der Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats nicht zugestimmt haben und dass das die Verschlechterung mit bedingt hat, die zu den jüngsten Kämpfen führte. Jedoch hat auch Israel den Resolutionen 242 und 338, die den Abzug von den besetzten Territorien fordern, nicht zugestimmt. Die Nicht-Befolgung dieser Resolutionen verlängert ebenfalls den Konflikt und das Blutvergießen.
  • Es gibt legitime Beschwerden gegen den Iran, dass er der Hisbollah Waffen geliefert hat, die auf ziviles Gebiet im Norden Israels niedergingen. Auf der anderen Seite wurde Israel mit illegitimen Splitterbomben versorgt, die in libanesischen Wohngebieten eingesetzt wurden.
  • Angenommen, die Reaktion Israels auf die grenzüberschreitende Entführung und Tötung von Soldaten durch die Hisbollah und auf den massiven Beschuss Nordisraels sei angemessen gewesen: Was wäre dann eine angemessene Reaktion der Palästinenser auf die Unterdrückung der Bevölkerung, auf die Zerstörung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Infrastruktur durch Israel? Wie sollten sie angemessen auf die rechtswidrigen Handlungen von Siedlern reagieren, die von Israels Regierung und Institutionen, Gerichte und Armee eingeschlossen, unterstützt werden?

Einsichten nach dem Krieg

Die Ergebnisse des Krieges (die hätten antizipiert werden können und sollen), sind anscheinend folgende:

1. Die Hisbollah und der Iran haben es geschafft, weltweit ihr Image in der arabischen und muslimischen Öffentlichkeit zu fördern. Die Position Israels in der westlichen Welt ist geschwächt und Israel hat sich nun noch weiter von einer friedlichen Lösung des israelisch-arabischen Konflikts entfernt. Man kann davon ausgehen, dass der Erfolg der Hisbollah, einer der weltweit stärksten Armeen stand zu halten, der Abschreckungskapazität Israels abträglich ist. Das bestärkt die Annahme, dass Israel eher durch Friedensabkommen als durch weitere Kriege gesichert werden kann.

2. Der Libanon-Krieg begann mit einem unmoralischen Akt der Aggression und verkam zu Gewaltsamkeiten, die an den Dschungel erinnern oder an den wilden Westen, wo moralische Schranken allseits fallen und es mörderische Schläge hagelt. Jede Seite kümmert sich nur um die eigenen Opfer, glorifiziert die eigenen Streitkräfte und dämonisiert den Gegner. Ein Optimist mag vielleicht sagen, dass auch aus diesem üblen Dschungel noch eine Heilpflanze wachsen und zu Friedensgesprächen führen kann – wenn das nur mal passieren würde!

3. An dieser Stelle möchte ich auf den Unterschied zwischen der radikalen Linken und einer Linken, die sich selbst für »vernünftig« hält, zurückkommen. Wenn der Begriff »radikale Linke« für eine post-zionistisches Linke steht, die die Existenz des Staates Israel ablehnt, dann steht er für eine sehr kleine Gruppe mit wenig Einfluss. Ich hoffe, dass das so verstandene Etikett »radikal links« nicht jenen Kritikern im Friedenslager zugeschrieben wird, die sich der regierungsamtlichen Sicht des Geschehens oder der in der öffentlichen Meinung oder in den Medien vorherrschenden Version verweigern. Diese Abweichler werfen einen umfassenderen Blick auf die Situation und melden sich mit diversen kritischen Beiträgen zu Wort.

4. Ich würde gerne eine alternative Unterscheidung vorschlagen, und zwar eine zwischen instrumentalistischen und moralisch orientierten Tauben. Die ersteren unterstützen den Friedensprozess aus pragmatisch-ethnozentrischen Erwägungen zum Wohle des jüdischen Volkes – als da sind demographische Befürchtungen, Sorge um die Sicherheit des Staates und Sorgen um wirtschaftliche Prosperität. Diese Gruppe ist ein wichtiger Teil des Friedenslagers und ohne sie wäre es nicht möglich, den Friedensprozess voranzutreiben. Die andere Gruppe, die moralisch orientierten Tauben unterstützen ein Friedensabkommen aufgrund universeller ethischer Erwägungen. Sie erkennen dem palästinensischen Volk – ebenso wie dem jüdischen Volk – ein Recht auf dieses Land zu, ein Recht auf Selbstbestimmung und darauf, seinen eigenen Staat aufzubauen. Außerdem sind sie in der Lage, für die Leiden der Palästinenser oder Libanesen Mitgefühl zu entwickeln. Sie sind sich bewusst, dass der Staat Israel ethische Normen gelegentlich verletzt hat. Sie sehen, dass Gewalt auf der einen Seite zu Gewalt auf der anderen Seite führt und einen ununterbrochenen Teufelskreis von Feindseligkeit nährt, so dass es unmöglich wird, zu klären, wer angefangen und wer reagiert hat. Sie sehen auch ein, dass die Gewalt in einem breiten historischen Kontext zu sehen ist. Sie laufen nicht blind und automatenhaft hinter der Fahne her, sondern analysieren jede Entwicklung neu.

5. Ich bin sicher, dass es im Friedenslager nicht wenige gibt, die sich auch von ethisch-moralischen Erwägungen bestimmen lassen. Die israelische Gesellschaft verachtet sie und versucht, sie zu delegitimieren. Sie werden häufig als anti-israelisch, als Araber-Freunde und sogar als Verräter gescholten. Man bewundert gerne Ausländer mit moralischem Format, besonders solche, die Juden geholfen haben. Moralisch bestimmte Tauben sollten ihre Prinzipien nicht wegen des jüngsten Krieges aufgeben. Moralische Werte sind nicht nur die Grundlage der menschlichen Existenz und der Hoffnung auf ein besseres Morgen. Sie sind auch Grundlage des jüdischen Kampfes gegen den hässlichen Antisemitismus und für den Aufbau und der Verteidigung des Staates Israel.

6. Einen Friedensfreund erkennt man daran, dass er für die Beurteilung anderer Nationen die gleichen Kriterien anwendet wie für die eigene. Ich glaube, dass ein Mangel an moralischen Prinzipien aufseiten der jüdischen Gesellschaft im Kontext des israelisch-arabischen Konflikts (und insbesondere des Konflikts mit den Palästinensern) zu einem Zusammenbruch moralischer Werte auch in Bezug auf innere Angelegenheiten geführt hat. Seit den 1970er Jahren geht es in der israelischen Gesellschaft nur abwärts: Verfall des Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialsystems, rekordverdächtig wachsende sozioökonomische Kluft zwischen Reich und Arm, dramatischer Armutsanstieg, Zunahme von Kriminalität, von Korruption in politischen Bereichen und einer anomischen politischen Kultur. Der letzte Krieg erbrachte klare Indizien für die vorgenannten Übel der israelisch-jüdischen Gesellschaft. Daher ist es zwingend notwendig – auch wenn man sich lediglich auf das Überleben und die Sicherheit des Staates konzentriert –, eine gerechte und moralische Lösung für den israelisch-arabischen Konflikt zu finden, um die innenpolitische Entwicklung in Israel zu ändern.

Fazit

Der letzte Krieg war schrecklich. In Charakter und Ausmaß hat er alle moralischen Werte außer Acht gelassen. Es war ein Krieg, in dem beide Seiten Unschuldige getötet haben. Ein Krieg, der von Leidenschaften, von Furcht, Angst und dem Bedürfnis nach Rache bestimmt wurde – nicht von nüchternem Urteil und Wertegesichtspunkten. Ein Krieg, dessen Ziele nicht erreicht wurden, mit schwerwiegenden Folgen für Israel und den Libanon. Ein Krieg ohne Sieger – nur Besiegte. Die Gräber, die Flüchtlinge und die Zerstörung bezeugen es – nicht die Prahlerei der Politiker und Militärs, die den Sieg reklamieren. Es bleibt zu hoffen, dass Israel nach dem Krieg sich auf den Weg zum Frieden macht, den einzigen Weg, der auch den Staat stark zu machen vermag. Frieden mit Palästinensern und mit Syrien und der Aufbau einer neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung können unsere Gesellschaft in eine bessere Zukunft führen. Es liegt vor allem an uns, ob wir diesen Weg einschlagen!

Daniel Bar-Tal ist Professor für Politische Psychologie an der Tel Aviv University und war Präsident der Internationalen Gesellschaft für Politische Psychologie und Mitherausgeber des Palestine-Israel Journal. Der Originalbeitrag in Englisch erscheint in Heft 3/06 dieses Zeitschrift. Die Übersetzung für W&F besorgte Gwen Elprana.

Kirche, Krieg & Frieden

Kirche, Krieg & Frieden

von Albert Fuchs, Matthias Engelke, Dietrich Bäuerle und Ulrich Frey

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 3/2010
Herausgegeben von der Informationsstelle Wisenschaft und Frieden

zum Anfang | Re-Sakralisierung des Militärischen

von Albert Fuchs

Nach Vorüberlegungen zur Rolle der Re-Sakralisierung des Militärischen als Strategie der »Nachrüstung der Seelen« sowie zu einem wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff werden drei Formen bzw. Niveaus des Re-Sakralisierungsprozesses beschrieben, exemplarisch belegt und kommentiert. Der Beitrag schließt mit Hinweisen zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen.

Im bundesdeutschen Rechtfertigungsdiskurs zur Androhung und Anwendung von militärischer Gewalt spielt seit einiger Zeit auch die Sakralisierung des Militärischen wieder eine wichtige Rolle. Die drei traditionellen Rechtfertigungsmuster – Notwehr/Verteidigung, Nothilfe/»humanitäre Intervention« und »legitime« Interessen/Macht1 – sind wesentlich zukunftsbezogen: angelegt auf die Abwehr von (vorgeblichen) Bedrohungen oder auf die Verfolgung und Erreichung hochwertiger bzw. hochgeschätzter Ziele. Sie kommen unweigerlich an Grenzen der Plausibilität und Wirkmacht, wenn der Zukunftsbezug gebrochen wird durch leidvolle Verlusterfahrungen in naher Vergangenheit, durch Verletzung, Traumatisierung und insbesondere durch den Tod von »Eigenen« im Zusammenhang militärischer Engagements. „Nichts in der Welt macht hilf- und sprachloser als der Tod“ – konstatierte zu Recht der amtierende Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt zu Guttenberg im Rahmen einer Trauerfeier für vier im April d. J. in Afghanistan »gefallene« Soldaten der Bundeswehr (Guttenberg, 2010). Erst recht dürfte das gelten, wenn man sich irgendwie für diesen Tod politisch verantwortlich weiß. Das aber bedeutet, dass eine qualitativ andere, eine »tiefere« legitimatorische Einbettung der fraglichen Unternehmen erforderlich wird. Damit kommt die Stunde bestallter oder selbsternannter »tieferer« Sinndeuter. Um dem augenscheinlich Sinnlosen doch einen Sinn abzuringen, bedient man sich mehr oder weniger unverfroren des überlieferten religiösen Repertoires, sowohl ritueller Elemente daraus wie textueller.

Eine genauere Erfassung und Analyse von Phänomenen der religiösen Aufladung des Militärischen ist auf einen wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff angewiesen. Einigkeit scheint in den mit Religion befassten Disziplinen zu bestehen, dass ein brauchbarer Religionsbegriff zunächst einmal theologische Geltungsansprüche aufgeben muss, also keine Aussage über den ontologischen Status von Religion beinhalten kann, vielmehr einem methodologischen Agnostizismus bzw. Atheismus verpflichtet ist. Innerhalb dieser Abgrenzung aber bleibt die idealtypische Unterscheidung zwischen substanzieller und funktionaler Definition relevant. Substanzielle Definitionen von Religion heben Referenzobjekte religiöser Praxis hervor, etwa »übermenschliche Wesen« oder die »Transzendenz«. Funktionale Definitionen orientieren sich an Funktionszusammenhängen wie Identitätsbildung oder Krisen- und Kontingenzbewältigung, verstehen dagegen »Transzendenz« als leeren Term oder allenfalls als allgemeine menschliche Fähigkeit, das bloß biologische Dasein irgendwie zu überschreiten. Allerdings sind bei vielen funktionalen Definitionen auch Transzendenzbezüge zu finden und andererseits verweisen substanzielle Definitionen vielfach auf funktionale Zusammenhänge. Hinzu kommt, dass die Beachtung der Sinnzuschreibungen der Akteure (im Anschluss i.B. an Max Weber) eine wichtige Forschungsperspektive eröffnet. Ihr zufolge aber nehmen religiöse Akteure die »Transzendenz« als reales Gegenüber wahr, das ihnen in Distanz zu ihrer biologischen und gesellschaftlichen Existenz eine neue, verglichen mit der Alltagserfahrung ganz andere Identität zu konstruieren erlaubt und ihnen gerade dadurch neue Handlungsfelder und strategische Möglichkeiten erschließt.

Formen und Niveaus der Re-Sakralisierung

Entsprechend der vorausgehend nur knapp (i.W. im Anschluss an Schäfer, 2009) zu skizzierenden Diskussion um einen wissenschaftlich brauchbaren Religionsbegriff werden im Folgenden nach der Art des Transzendenzbezugs drei Formen der Re-Sekralisierung des Militärischen unterschieden: Militärritualismus, leerer Transzendenzbezug und militärchristlicher Synkretismus. Die jeweils folgende dieser Formen scheint die vorausgehende zur Voraussetzung zu haben und auf ihr aufzubauen. Dementsprechend treten die voraussetzungsvolleren »höheren« Formen i.d.R. in Verbindung mit der oder den vorgeordneten auf. Alle drei Formen sind im »Überbau« des bundesdeutschen Militärapparats seit den Gründungszeiten angelegt. Innerhalb jeder Form sind Differenzierungen und Intensivierungen und ein zunehmender Einbezug der Trägergesellschaft zu beobachten.

Militärritualismus

Aus der Sicht von Religionssoziologen wie Émile Durkheim (1994) bilden Rituale, nicht Texte, die Grundlage der Religion. Ihre soziale Funktion besteht i.W. darin, die soziale Identität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt darzustellen und damit zu festigen und zu erneuern. Mit welcher außeralltäglichen, »jenseitigen« Wirklichkeit auch immer die Teilnehmer etwa an einem Regenmachertanz in der australischen Steppe in Kontakt zu kommen glauben, die im Ritual erfahrene »heilige Wirklichkeit« ist die menschliche Gemeinschaft. Auch in textbasierten Religionen »höher« entwickelter Kulturen dienen die Rituale aus diesem objektivierenden soziologischen Blickwinkel letztlich dem gleichen Zweck: der Darstellung und Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sich auch außerhalb des »Gottesdienstes« in vielfältiger Weise bewährt. Umgekehrt wird von manchen Vertretern der Religionssoziologie unter Berufung auf Durkheim alles als Religion interpretiert, was in einer Gesellschaft entsprechende Funktionen erfüllt.

Das Militärwesen ist in diesem (erweiterten) Durkheimschen Sinn seit eh und je sozusagen in der Wolle »religiös« gefärbt. Ein reichhaltiger Fundus an Militärritualen steht demgemäß für Sinngebung durch rituelle Einbettung in ein größeres Ganzes zur Verfügung.2 Dabei geht es augenscheinlich, vielfach aber auch expressis verbis, vor allem um Stiftung und Stärkung des inneren Zusammenhalts des Militärs. Die Inklusivität des symbolisch-rituellen Überbaus begünstigt die Verdeckung und Überlagerung von sozialen Widersprüchen und Interessengegensätzen. Zugleich soll jedoch auch die Trägergesellschaft eingebunden, »gesellschaftlicher Rückhalt« für »unsere« Soldaten geschaffen und verstärkt werden.

Das militärische Zeremoniell der Bundeswehr gilt als im Hinblick auf die besonders problematische neuere deutsche Militärgeschichte stark reduziert und betont schlicht im Vergleich zum Zeremoniell anderer Streitkräfte. Zu den wichtigsten bundesdeutschen Militärritualen gehören das Feierliche Gelöbnis (der Rekruten) und die Vereidigung (der Zeit- und Berufssoldaten), der Große Zapfenstreich, der Staatsempfang, das Staatbegräbnis, die Kranzniederlegung und die Totenehrung (am sog. Volkstrauertag). Mit der schrittweisen Zurichtung der Bundeswehr zu einer Interventionskriegs- und Besatzungsarmee seit dem Ende des Kalten Krieges ging und geht eine Ausweitung militärritueller Aktivitäten und Unternehmungen mit großem Öffentlichkeitswert Hand in Hand. Bezeichnend dürfte sein, dass das 1996 erstmals und ab 1998 regelmäßig in Berlin zum Jahrestag des Anschlags auf Hitler (20. Juli) vollzogene Gelöbnis der Rekruten des Wachbataillons der Bundeswehr inzwischen vom Bendlerblock, dem Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums, zum Platz der Republik, in das repräsentative Zentrum vor dem Reichstagsgebäude, verlegt wurde. Im vergangen Jahr wurde es gar von dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Phoenix live übertragen.

Leerer Transzendenzbezug

Militärrituale als solche vermitteln Transzendenzerfahrungen, die sich kaum wesentlich von entsprechenden Erfahrungen beispielsweise im Zusammenhang von Fußballspielen unterscheiden dürften. Der Transzendenzbezug geht in der aktuellen sozialen Integrationsfunktion auf. Dagegen geloben die Rekruten, bzw. schwören Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr gemäß § 9 des Soldatengesetzes, „der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. Über die Konzepte »Bundesrepublik Deutschland«, »deutsches Volk«, »Recht und Freiheit« legen diese Verpflichtungsformeln ein qualitativ anderes Überschreiten der Alltagserfahrung nahe, als es etwa einer Fangemeinde anlässlich eines Spiels ihres Vereins zugänglich ist. Das militärische Eid- und Gelöbnisritual beinhaltet insofern bereits seit der Frühzeit der Bundesrepublik explizit Transzendenzbezüge, die unverkennbar – insbesondere mit der Beschwörung von Recht und Freiheit – auf die Sphäre der Werte und des Heiligen verweisen, damit quasi-religiösen Charakter haben, aber inhaltlich nicht i.e.S. religiös bestimmt und insofern »leer« sind. Eine zunehmende Aufladung dieser Art kommt vor allem in der Entwicklung des Trauer- und Gedenkzeremoniells im Zusammenhang der neu-deutschen Militär- und Kriegspolitik zur Geltung.

Bereits kurz nach Beginn des Afghanistan-Engagements der Bundeswehr, in einem Focus-Interview im Februar 2002, diagnostizierte Herfried Münkler, Politikwissenschaftler und renommierter Vordenker der fraglichen außenpolitischen Linie, den Afghanistan-Konflikt als Paradebeispiel einer Konfrontation postheroischer Gesellschaften mit einer heroischen Gesellschaft. Heroische Gesellschaften sieht Münkler durch Knappheit an physischen Ressourcen im Vergleich zu ihren »moralischen« Ressourcen gekennzeichnet, postheroische umgekehrt durch relative Knappheit an moralischen Ressourcen. Gesellschaften dieses Typs können demnach durch jene in eine Stresssituation gebracht werden durch Beibringen geringer physischer Verluste, insbesondere in Form des Todes einiger weniger eigener Leute. Solche Situationen erfordern nach Münkler die Mobilisierung des unverzichtbaren heroischen Kerns der eigenen Gesellschaft – ein Einstehen für das Gemeinwesen (oder für eine politische Idee) bis zum Äußersten. Sache der Gesellschaft sei es, entsprechende Verhaltensweisen mit einer „zivilgesellschaftlichen Währung, die mit der marktwirtschaftlichen Währung konkurriert“, zu belohnen, indem sie den Akteuren etwas zuspreche, was mit Geld nicht zu haben sei, eben den Status von Heroen – eine Form von Unsterblichkeit, die darin bestehe, „dass die als Helden Ausgezeichneten öffentlich geehrt werden und ihrer feierlich gedacht wird.“

Dass Münklers »zivilgesellschaftliche Währung« – im Grunde ein wiederbelebter Gedenkkult um den Soldatentod – die Konkurrenz mit der »marktwirtschaftlichen Währung« – der Belohnung von Leistung mit Geld – bestehen kann, erscheint zweifelhaft, zumal die Einführung dieser Konkurrenzwährung offensichtlich durch und durch marktwirtschaftlich kalkuliert erfolgt bzw. erfolgen soll. Damit aber dürfte ein genuines, intrinsisch motiviertes Einstehen bis zum Äußersten für die zentralen Werte der eigenen Gesellschaft bzw. der menschlichen Zivilisation überhaupt im Ansatz korrumpiert und insofern untergraben werden.

Wie dem auch sei, das inzwischen vor allem auf Betreiben des damaligen Verteidigungsministers Franz-Josef Jung auf dem Gelände des Bendlerblocks errichtete, Anfang September 2009 eingeweihte Ehrenmal der Bundeswehr lässt sich geradezu als eine Umsetzung der Münklerschen Programmatik lesen. Der 32 Metern lange, 8 Meter breite und 10 Meter hohe Betonquader mag zunächst wie irgendein belangloser Zweckbau wirken, soll aber durch Anleihen an allerlei Symbolik des Heroischen im Detail erklärtermaßen zu einem Denkmal von nationalem Rang erhoben werden: zu einem „zentralen Ort, an dem der militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr gedacht wird, die in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten für die Bundesrepublik Deutschland ihr Leben verloren haben“ (Bundesministerium der Verteidigung, 2009, S.5). Zwar wird „auf religiöse Symbole ganz bewusst verzichtet“ (ebd., S.19), dafür aber bemüht man sich umso aufdringlicher, unter Rückgriff auf einen »Etwas-[über-das-Alltägliche-hinaus-muss-es-doch-geben]-Glauben« und diverse Versatzstücke aus der quasi-religiösen Symbolkiste einen leeren Transzendenzbezug zu aktivieren (vgl Januschke, 2010).

Der mystifikatorische Ästhetizismus der Ehrenmal-Broschüre des BMVg wirkt streckenweise einfach peinlich – etwa wenn das schimmernde Gold der die Widmung „Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit“ tragenden Wand als „in allen Kulturen … zeitloses Sinnbild des Übernatürlichen und Ewigen und der damit verbundenen Hoffnung“ angepriesen wird (Bundesministerium der Verteidigung, 2009, S.35). Zudem wird in dieser Broschüre wiederholt suggeriert, das Ehrenmal eröffne u.a. „durch seinen Standort und seine Architektur zugleich die Möglichkeit des öffentlichen und privaten Gedenkens und Trauerns“ (ebd., S.51). Da aber auch wiederholt betont wird, der militärische Dienst schließe „nötigenfalls den Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens mit ein“ und verlange „in letzter Konsequenz auch, im Kampf zu töten“ (ebd., S.5), werden weiteres Sterben und Töten in Aussicht gestellt, sozusagen verteidigungsministeriell garantiert. Damit aber werden privates Gedenken und Trauern konterkariert. Den umgekommenen Bundeswehrangehörigen soll die Münklersche »Unsterblichkeit« zugesprochen werden – sofern und weil sie staatlichen Zielen gedient haben. Folglich kann es auch nur um die eigenen Toten gehen, nicht einmal andeutungsweise um die, die von ihnen und ihresgleichen umgebracht wurden.

Militärchristlicher Synkretismus

Der verteidigungsministerielle Interpretationsaufwand zum Ehrenmal der Bundeswehr lässt exemplarisch die Grenzen des leeren Transzendenzbezugs erkennen. Gold beispielsweise ist Gold, nur Gold; ein Oberlicht ist ein Oberlicht, nur ein Oberlicht; alles, was darüber hinausgeht, sind im Kern willkürliche sprachgebundene, bestenfalls kollektiv verankerte Zuschreibungen. Vor allem aber erliegt man leicht dem groben semiotischen Irrtum, nicht den Unterschied zwischen Symbol und Symbolisiertem zu realisieren (Januschke, 2010). Das Symbol setzt – jedenfalls begrifflich – das Symbolisierte voraus und das Symbolisierte geht nicht im Symbol auf. Das besagt, der Transzendenzbezug kann nur vordergründig »leer« sein: Entweder geht es wie beim Ritualismus letztlich »nur« um die Gesellschaft, i.B. um »kollektive Repräsentationen«, um ein geteiltes, Einheit und soziale Identität stiftendes Überzeugungs-Wertsystem, oder es geht um die von religiösen Akteuren als reales Gegenüber wahrgenommene (geglaubte), in unserem Kulturkreis meist Gott genannte »echte« Transzendenz. Damit aber geht die Re-Sakralisierung des Militärischen im Wege eines leeren Transzendenzbezugs unmerklich über in die Wiederbelebung des traditionsreichen militärchristlichen Synkretismus (vgl. Lübbert, 1987).

Auch diese Variante der Re-Sakralisierung ist im Wiederaufbau der (west-) deutschen Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg verwurzelt. So stellt die Eidesformel länger dienender Soldaten den Schwörenden anheim, die Beteuerung „so wahr mir Gott helfe“ zu verwenden (§ 9 Abs. 1 Soldatengesetz) und damit einen inhaltlich bestimmten Transzendenzbezug herzustellen, was dabei auch immer unter Gott verstanden werden mag. Auch dürfte die traditionelle kirchliche Militärseelsorge nicht zuletzt deswegen die Wertschätzung der politischen Klasse genießen,3 weil man ihr zutraut, wesentlich zum »moralischen Rüstzeug« der Soldatenseelen durch Vermittlung des kollektiven Selbstverständnisses beizusteuern, als „Soldat im Dienst des VaterlandesDiener der Sicherheit und Freiheit der Völker“ zu sein (Zweites Vatikanisches Konzil, 1982, S.63) – und damit in besonderer Weise dem »Willen Gottes« zu entsprechen.

Dieser grundlegende, aber vergleichsweise abstrakte Transzendenzbezug wird im Zusammenhang der Transformation der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« vor allem im Hinblick auf dienstbedingte einschneidende Verlusterfahrungen intensiviert und konkretisiert. So verkündete der evangelische Militärbischof Dutzmann in seiner Ansprache zur Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr, „in Jesus Christus“ sei und bleibe „Gott mitten unter uns Menschen … – auch bei jenen, die ihr Leben im Einsatz für Frieden, Recht und Freiheit verloren.“ Wer das glauben könne, werde „am Ehrenmal nicht nur dankbar der Toten der Bundeswehr gedenken, sondern sie zugleich in Gottes Frieden geborgen wissen.“ (Dutzmann, 2009). Dutzmanns Amtsbruder, der damalige katholische Militärbischof Mixa, bestimmte in einer Predigt anlässlich der Kommandeurtagung 50 Jahre Bundeswehr die Aufgabe der Militärseelsorge „nicht zuletzt“ dahingehend, „… unsere Soldatinnen und Soldaten auf eine größere Treue und Liebe aufmerksam zu machen“, die sich in der Hingabe des „von einem Berg des Hasses, der Verleumdung, des Spottes und der grausamen Folter im Sterben am Kreuz gleichsam vernicht(et)en“ Jesus und in seinem „Leben des auferstandenen Christus“ erschließe (Mixa, 2005).

Den vorläufig stärksten Ausdruck dürfte die hier zur Debatte stehende Form der Re-Sakralisierung mit den Ansprachen von Verteidigungsminister Guttenberg und des katholischen Militärgeneralvikars Wakenhut anlässlich der eingangs erwähnten Trauerfeier für die vier in Afghanistan gefallene Soldaten gefunden haben. Nachdem er zuvor die Mär reproduziert hatte, in Afghanistan werde „für unser Land, für dessen Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und gestorben“, versicherte Guttenberg der Trauergemeinde mit quasi-pastoralem Pathos: „Und wenn es diesen Gott unseres christlich geprägten Europas gibt“, woran er „fest glaube“, dann „werden sie, diese vier tapferen Männer, bei dem Vater aufgehoben sein, dessen Sohn sein Leben gab für das Leben der Menschen auf dieser Welt“ (Guttenberg, 2009). Wakenhut erklärte, „vor den Särgen, vor dem Opfer des Lebens dieser vier Männer“ verbiete sich auf die unausweichliche „Frage nach dem Sinn ihres Todes im Einsatz… manche vordergründige, oberflächliche Erklärung…, die sich allein auf Karriere und den materiellen Vorteil“ beziehe. „Den tieferen Sinn“ könne man darin finden, dass sie „für andere Verantwortung übernommen“ hätten – „dass es denen besser geht, dass Menschen in Frieden und Freiheit leben können, dass Menschenwürde und Menschenrecht gewahrt bleiben nicht nur in Afghanistan, sondern auf der ganzen Welt.“ Der Prediger suggeriert gar, der (Militär-)Einsatz erfolge in Erfüllung des jesuanischen »Missionsauftrags« (vgl. Mt 28,29) und der Tod sei Ausdruck der unüberbietbaren Liebe, von welcher Jesus nach dem Johannesevangelium vor seinem eigenen Tod sprach (J 15,13). Die Zuhörerschaft wird abschließend beschworen: „Möge ihr Einsatz und das Opfer ihres Lebens uns alle dem Ziel einer neuen, humaneren, gerechteren Welt näher bringen, dann war dieser Tod nicht umsonst.“ (Wakenhut, 2009).

Einlassungen kirchlicher und kirchennaher Akteure wie die wiedergegebenen sind augenscheinlich darauf angelegt, das soldatische Selbstideal unüberbietbar zu polstern, den mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr – wie von Verantwortlichen wiederholt angesagt – jederzeit möglichen Soldatentod kognitiv und emotional an die Hingabe der neutestamentlichen Jesusfigur zu assimilieren und den Hinterbliebenen »himmlischen Trost« zu spenden. Nicht zuletzt erscheint diese Form der Re-Sakralisierung dazu angetan, politische Auseinandersetzungen um die ganze Veranstaltung durch Einbezug in die denkbar inklusivste Kategorie Gott im Keim zu ersticken. Damit nähern sich die Akteure einer Denkweise und Verkündigung an, die in den Kriegspredigten deutscher Bischöfe und Kirchenoberer der Nazizeit ihre wunderlichsten und zugleich giftigsten Blüten hervorgebracht hatten.

Ausblick

Der Leitgedanke der vorliegenden Analyse der zunehmenden Re-Sakralisierung des Militärischen im Umfeld der Bundeswehr, dass es im Kern um gesteigerte Kriegsführungsfähigkeit geht, um Legitimation, Motivation, Sinnstiftung, Beschwichtigung und Trost und nicht zuletzt um gesellschaftlichen Rückhalt für »unsere« Soldaten, besagt nicht, dass sich alles und in jedem Fall bewusst und absichtsvoll um diese Wirkungen dreht. Abgesehen davon, dass eine solche Generalisierung grundsätzlich problematisch ist, würde diese Zuschreibung u.U. auch eher Abwehr hervorrufen als Einsicht befördern, da sie im Ansatz Falschspielerei unterstellt. Es geht aber um funktionale Zusammenhänge, um plausible objektive Wirkungen, was immer die Akteure jeweils bezwecken. Welche Wirkungen sich unter welchen Bedingungen tatsächlich einstellen, bedürfte genauerer empirischer Untersuchungen. Eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problemfeld hätte darüber hinaus die zugrundeliegenden psychosozialen Wirkmechanismen zu klären. Hier kann nur vermutet werden, dass die Dynamik der Dissonanzbewältigung – angesichts fataler Folgen eigener politischer Entscheidungen – wahrscheinlich eine zentrale Rolle spielt.

Für Zeitgenossen, die sich noch irgendwie christlich-kirchlich verankern, mag vor allem die dritte Form der Re-Sakralisierung des Militärischen, der militärchristliche Synkretismus, ein Ärgernis darstellen. In der Tat ist kaum nachvollziehbar, wie die Inklusivität des christlichen Gotteskonzepts und der Figur des »gewaltfreien Christus« von der Verfolgung kollektiver Eigeninteressen im Wege militärgewaltsamer Durchsetzung in den Dienst genommen zu werden vermag. Kaum weniger befremdlich ist, dass sich »in den eigenen Reihen« kaum Widerstand dagegen regt; Bürger (2007) zufolge erklären bisher lediglich Christen aus ökumenischen Basisnetzwerken und Friedensorganisationen den öffentlichen Widerspruch. Augenscheinlich wird (wieder einmal) Dissidenten, Agnostikern und Atheisten anheimgestellt, dem militaristischen Missbrauch des Christentums Paroli zu bieten. Die allerdings dürfen sich nicht zu schade dafür sein. Denn der »Weihrauch« um Militär und Krieg und »Heldentod« ist und bleibt grundgefährlich für alle.

Schließlich sei zu bedenken gegeben, dass die quasi-religiöse Aufladung des Militärischen im Wege eines leeren Transzendenzbezugs gefährlicher sein könnte als der militärchristliche Synkretismus. Gegen diesen Synkretismus sind entsprechend der grundsätzlichen Ambivalenz des Religiösen im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen Korrekturen »von innen« aktivierbar und mobilisierbar. Woher aber könnten die entstehen, wie sich entfalten gegen die militaristische Indienstnahme einer frei flottierenden »Spiritualität«, des weit verbreiteten »Etwas-[über-das-Alltägliche-hinaus-muss-es-doch-geben]-Glaubens«?

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2006): Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin.

Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2009): Das Ehrenmal der Bundeswehr. Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit. Berlin.

Bürger, P. (2007): Der Schatten des Kreuzes. Telepolis, 06.04.2007. URL: http://www.heise.de

Durkheim, É. (1994): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Dutzmann, M. (2009): Ansprache zur Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr, 08. September 2009. URL: http://www.ekd.de/predigten

Guttenberg, K.-T. zu (2009): Rede des Verteidigungsministers auf der Trauerfeier in Ingolstadt. URL: http://www.bmvg.de

Januschke, E. (2010): Das Ehrenmal der Bundeswehr. Wissenschaft und Frieden, 28 (1), S.47-49.

Lübbert, K. (1987): Kirche und Militär. Vom Synkretismus zum Dialog. gewaltfreie aktion, 19 (Nr. 73/74), S.51-62.

Merkel, A. (2006): Vorwort der Bundeskanzlerin. In Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr (S.2-3). Berlin.

Mixa, W. (2005): Predigt beim ökumenischen Gottesdienst am 11.10.2005 im Bonner Münster anlässlich der Kommandeurtagung 50 Jahre Bundeswehr. URL: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/vortraege

Münkler, H. (2002): Heroismus ist unverzichtbar. Focus, 25.02.2002.

Schäfer, H.W. (2009): Zum Religionsbegriff in der Analyse von Identitätskonflikten: einige sozialwissenschaftliche und theologische Überlegungen. CIRRUS Working Papers, No. 6. URL: http://www.uni-bielefeld.de

Wakenhut, W. (2009): Ansprache von Militärgeneralvikar Walter Wakenhut aus Anlass der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten am 24.04.2010 in Ingolstadt. URL: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/vortraege

Zweites Vatikanisches Konzil (1982): Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et »Spes« vom 7. Dezember 1965. In Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des II. Vatikantischen Konzils und der Bischofssynode von 1963 bis 1982 (S.60-69). Bonn.

Anmerkungen

1) Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht in ihrem Vorwort zum Weißbuch von „Deutschlands Gewicht in der internationalen Politik“ (2006, S.2).

2) Wikipedia zeigt in der Kategorie »Militärisches Brauchtum und Ritual« 73 Seiten an. URL: http://de.wikipedia.org/wiki

3) Höchst aufschlussreich dürfte diesbezüglich z.B. sein, dass Frau Merkel anlässlich des Amtsantritts des evangelischen Militärbischofs Martin Dutzmann der kirchlichen Militärseelsorge attestierte, einen „unverzichtbaren Dienst für die Bundeswehr“ zu leisten (Lippische Landeszeitung, 26.09.2008).

Prof. em. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe. Er ist Mitherausgeber von »Krieg und Frieden – Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie«. Bis 2009 war er Mitglied der Redaktion von W&F.

zum Anfang | Der Kriegsdienst der Militärseelsorge

von Matthias Engelke

Deutsche SoldatInnen haben unabhängig von ihrem Stationierungsort das Recht auf Ausübung ihrer Religion und demgemäß auf Seelsorge. Entsprechend sorgt das Bundesministerium für Verteidigung dafür, dass die SoldatInnen vor Ort von Militärseelsorgern betreut werden können. Welche Rolle spielen die Militärpfarrer angesichts der steigenden Zahl von (Kampf-)Einsätzen der Bundeswehr im Ausland? Dieser Frage geht Matthias Engelke nach.

Gegenwärtig unterhält die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im In- und Ausland 101 Dienststellen, in der Regel jeweils mit einem Militärpfarrer bzw. einer Militärpfarrerin und einem Pfarrhelfer als Büroleiter; die Katholische Kirche beschäftigt in 101 Dienststellen im In- und Ausland insgesamt 65 haupt- und 27 nebenamtliche Militärpfarrer sowie zusätzlich 25 Pastoralreferenten und 87 Pfarrhelfer.

Jeder Militärpfarrer bekommt von der Bundeswehr ein eigenes Büro und einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Die Kosten für die Militärseelsorge trägt der Staat; im Jahre 1998 waren dies allein für die evangelische Militärseelsorge knapp 68 Millionen DM. (Werkner 2001, S.247) Das sind staatliche Zuschüsse für die Kirche, da diese während der Abordnung der Pfarrer zum Militär die Gehälter einspart. Pfarrer, die in die Verwaltungshierarchie der evangelischen oder katholischen Militärseelsorge überwechseln, werden Militärdekane – das sind Bundesbeamte.

Evangelische und katholische Militärbischöfe sind so genannte »geistliche Leiter« des Kirchenamts für die Bundeswehr bzw. des Militärbischofsamts. Das für die evangelischen Militärseelsorger zuständige Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr ist trotz dieser Bezeichnung kein Amt der Kirche, sondern untersteht dem Verteidigungsministerium; Leiter dieser Ämter tragen den Titel Militärgeneraldekan. Das katholische Militärbischofsamt hat auf Grund des Konkordats von 1933 mit der nationalsozialistischen Reichsregierung einen eigenen Rechtsstatus.

Soldaten zahlen Steuern – das war nicht schon immer so. Damit zahlen auch die Soldaten, die Kirchenmitglied sind, Kirchensteuern. Ein Teil dieser Kirchensteuern steht der Arbeit der Militärseelsorge in Form des Sonderhaushaltes zur Verfügung. Auch auf diesem Wege findet also eine versteckte Subventionierung der Kirche statt.

Den Militärpfarrern wird im Militärseelsorgevertrag von 1957 zugesichert, dass sie in der Verkündigung und Seelsorge „im Rahmen der kirchlichen Ordnung selbständig“ sind (MSV Artikel 4). Sie tragen kein Rangabzeichen und unterstehen nicht der militärischen Einheit, in der sie Dienst tun. Allerdings werden sie dennoch nach den Besoldungsrichtlinien für Offiziere mindestens im Rang eines Oberstleutnant alimentiert und von den Soldaten innerhalb der Hierarchie auch so wahrgenommen.

Von den Militärpfarrern wird erwartet, dass sie Lebenskundlichen-Unterricht erteilen, das ist Ethikunterricht für Soldaten. Teilnahme ist für Soldaten Pflicht; wollen diese unter Berufung auf die religiöse Freiheit (Grundgesetz Artikel 4, Absatz 1) nicht teilnehmen, muss der jeweilige Vorgesetzte eine Ersatzaufgabe (Besinnungsaufsatz o.ä.) stellen. Die Seelsorge steht Christen wie Nicht-Christen offen. Konfessionsunterschiede spielen außer bei der Ausgestaltung der Gottesdienste kaum noch eine Rolle. Kriegsgeräte wie Panzer oder Drohnen werden schon lange nicht mehr »getauft«.

Bei seelisch-psychischen Belastungen können sich die Soldaten an einen Psychologen oder einen Seelsorger wenden. Der Psychologe untersteht der militärischen Hierarchie. Nicht selten – so die eigene Erfahrung – werden Soldaten von ihrem Vorgesetzten zum Pfarrer geschickt, mit der Bemerkung „kümmern Sie sich um ihn, wir wissen nicht weiter“. Anfang dieses Jahres wurde, nach dem Bericht eines Kollegen im Einsatz in Afghanistan, ein Soldat zu ihm geschickt, der einen Afghanen, in der irrtümlichen Annahme, er würde eine russische Panzerbüchse auf ihn richten, erschossen hatte. So tragen Seelsorger dazu bei, die Armee einsatzbereit zu halten.

In welchem Kontext gestalten Militärseelsorger – unabhängig von ihrer persönlichen Interpretation dieses Dienstes – ihre Aufgabe? Gibt es übergeordnete religiöse Bezüge?

Die Religionssoziologie beschreibt Religion als ein gegenüber ihrer Umwelt autonomes System, das aber in einem fortwährenden Prozess von Wechselwirkungen mit ihr verbunden bleibt und geformt wird. (Brockhaus 2002) Religion „wird getragen von den religiösen Menschen und gewinnt erst durch deren Glauben (geprägt durch Lehre und Tradition), Verhalten (Kult, Ethik) und religiöse Vergesellschaftung (Gemeinschaft, Hierarchie, Organisation) Gestalt.“ (ebd.) Nach dem religionsphänomenologischen Ansatz zeichnet Religion die Beziehung zu einem wie auch immer genannten »Ganz Anderem«, das deutlich von der Alltagswelt geschieden ist. Besondere Räume, herausgehobene Zeiten und Ereignisse, z.B. Feste, gehören ebenso dazu wie »heilige Worte« in »heiligen Schriften« und »heilige Menschen« als »(religiöse) Spezialisten«. In Kult und Ritus werden »heilige Handlungen« vollzogen, in denen das »Ganz Andere« als präsent vorgestellt wird.

Bestehen Übereinstimmungen zwischen den Formmerkmalen von Militär und Religion? Wenn ja, ist Militär als eine Religion zu verstehen? Welches »Ganz Andere« wird dort als präsent erachtet?

Militär als Religion?

Militär zeigt sich in mehrfacher Hinsicht als ein autonomes System, das sich räumlich und zeitlich von der Zivilgesellschaft unterscheidet sowie durch besondere Riten, Feste, Gewohnheiten, eine eigene Sprache und Spezialisten auszeichnet.

Eine deutliche Trennung von »innen« und »außen« markiert bereits der Stacheldraht um jede militärische Einrichtung. Hinweisschilder machen auf den militärischen Sicherheitsbereich aufmerksam. Nur mit besonderen Formalitäten ist es dem Nicht-Soldaten erlaubt, militärisches Gelände zu betreten. Der Zeit- und Berufssoldat vollzieht in einem eigenen Ritual den Übertritt vom Bürger zum Soldaten, der nach der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Ideologie als »Bürger in Uniform« gilt. In diesem Ritual schwört der angehende Soldat vor der Fahne der Bundesrepublik Deutschland gegenüber einem höherrangigem Soldaten einen Eid. Er verlässt den Bereich der vom Tötungstabu geprägten Zivilgesellschaft und tritt ein in den Bereich des Militärs, das die Verletzung des Tötungstabus betreibt unter der Bereitschaft, dabei selber verletzt oder gar getötet zu werden.

Eine eigene Sprache mit besonderen Begriffen, meistens gespickt mit einer Fülle von Abkürzungen, sorgt dafür, dass der Nicht-Soldat sich als Außenstehender wahrnimmt. Gegner werden nicht getötet, geschweige denn ermordet, sondern »ausgeschaltet« oder »kampfunfähig gemacht«. Seit einiger Zeit werden wir wieder daran gewöhnt, dass Soldaten im Krieg nicht ums Leben kommen, sondern »fallen«. In einer ganzen Schriftenreihe werden die »heiligen Schriften« gesammelt, die dem normalen Bürger nicht zu Gesicht gelangen – die ZdVs, Zentrale Dienstvorschriften. Hier ist niedergelegt, was das Leben und Sterben des Soldaten betrifft, und zwar mit einem lückenlosen, alles umfassenden Gültigkeitsanspruch. Sinnfälliges Kennzeichen für diese Sonderwelt ist das gemeinsame Marschieren, das als solches allerdings nicht an das Militär gebunden ist: Der Einzelne geht in einer als »Einheit« bezeichneten Formation auf, die auf Befehl möglichst gleichzeitig gleichförmige Bewegungen ausführt.

Zu den besonderen Ereignissen gehören Gelöbnisfeiern, Gedenkfeiern der einzelnen Einheiten, Dienstjubiläen und Verabschiedungen und – seit einiger Zeit auch wieder – Gedenkfeiern für die im Krieg getöteten Kameraden. Eine eigene Hierarchie mit eigenen Verhaltensweisen und eigenem Ethos sorgt dafür, dass auch im Alltag ein Unterschied wahrgenommen werden kann zwischen der soldatischen und bürgerlichen Welt: Begegnen sich Oberst und Gefreiter in (Ausgeh-) Uniform im Theater, hat dieser jenen auf eine festgelegte und eingeübte Weise zu grüßen.

Für jedes formale Religionsmerkmal findet sich also ein Pendant innerhalb des Militärs. Das mögen die notwendigen Bedingungen dafür sein, um eine soziologisch abgrenzbare Form des Zusammenlebens als »Religion« zu bezeichnen. Aber erfüllt das Militär auch die hinreichenden Bedingungen dafür? Gibt es auch im Militär eine Vorstellung vom »Ganz Anderen«, zu dem eine eigene Beziehung hergestellt wird, die nur und ausschließlich innerhalb des Militärs möglich ist? Und verfügt auch das Militär über religiöse Spezialisten, die für die Kommunikation zu diesem »Ganz Anderen« und für seine Präsenz in Kult und Ritus sorgen?

In Deutschland haben wir uns an den Terminus »der Soldat als Bürger in Uniform« gewöhnt. Gemeint ist damit, dass das Militär innerhalb der Gesellschaft keinen Staat im Staate bildet, sondern die Grundrechte eines jeden Bürgers – wenn auch eingeschränkt – auch für diejenigen gelten, die als Soldaten ihren Dienst tun. Dabei wurde über Jahrzehnte ausgeblendet, auf welches praktische Ziel hin ein Soldat ausgebildet wird: Die Ausbildung eines Soldaten – in all ihren Facetten – zielt darauf ab, diesen selbst oder andere in die Lage zu versetzen, tötende Gewalt anzuwenden. Der gesamte gewaltige Verwaltungsapparat und Maschinenpark hat diesen einen Zweck: Soldaten in die Lage zu versetzen, mit Hilfe der erlernten Techniken, Regeln und Verhaltensweisen das Tötungstabu gezielt zu verletzen. Damit diese Verletzung nicht ungeschützt auf die Gesellschaft zurückschlägt, erschafft sie die Sonderexistenz Militär: Der Soldat, durch dessen Befehl am 4. September 2009 bei Kundus bis zu 140 Menschen getötet wurden, muss sich für keinen dieser Toten vor irgendeinem deutschen Gericht verantworten. Schon bei einer einzigen fahrlässigen Tötung drohte demselben Menschen außerhalb eines militärisch-kriegerischen Einsatzes eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.

Wer oder was sich aus diesem Ziel und Zweck des militärischen Handelns manifestiert, wird erkennbar, wenn der bei einem Einsatz getöteten eigenen Soldaten in einer besonderen Feier gedacht wird. Vorausgesetzt, das Militär untersteht dem Primat der Politik und dient als letztes Mittel einem politisch und gesellschaftlich akzeptierten Zweck, wie wird dies in Trauerfeiern sichtbar?

Einen Anhaltspunkt gibt die Trauerfeier am Ostersonntag 2010 in Kundus nach dem Tod von drei deutschen Soldaten am Karfreitag, dem 2. April 2010. Da ist zuallererst der große Abstand – der große Abstand zwischen dem Rednerpult und den Soldaten, die in drei Formationen einen freien Platz vor dem Rednerpult aussparen. In der Antike wurde die Würde einer Person dadurch sichtbar, wie viel Raum sie über sich, etwa in Form von Triumphbögen, aber auch vor sich in Anspruch nahm. Je größer der Abstand, um so höher die zugemessene Würde. Hinter dem Rednerpult in Kundus sind vier Personen zu sehen, in ihrer Absonderung erkennbar als Würdenträger. Abseits, bewacht von einigen Soldaten, die aufgebahrten Särge der getöteten Soldaten. Wo hält sich der Militärseelsorger der Einheit auf? Steht er bei den Soldaten oder in der Nähe der Särge? Nein, der Militärseelsorger steht hinter dem Rednerpult, zwischen dem General der Einheit und dem Minister für Entwicklungszusammenarbeit, Niebel, der sich zu diesem Zeitpunkt in Afghanistan aufhielt.

In den öffentlichen Reden wird der Tod der Soldaten zu dem vorgeblichen politischen Zweck des Einsatzes in Beziehung gesetzt. Sie hätten, um dieses Ziel zu erreichen, tapfer ihr Leben eingesetzt; ihr Tod dürfe nicht sinnlos sein. Ihre Kameraden sind dem Leben und Tod dieser Soldaten verpflichtet, indem sie den Einsatz unverändert fortsetzen.1

Dabei fallen zwei Dinge auf:

Der Tod der Soldaten im Auslandseinsatz generiert Sinn

Wie ist das möglich? Gemäß der politischen Ideologie haben Soldaten dafür zu sorgen, dass diejenigen notfalls zu sterben haben, die sich der politischen Zielsetzung (uneinsichtig/gewalttätig) widersetzen (Rebellen, Aufständische, Terroristen). Der Tod der eigenen Soldaten kann nicht das Ziel solcher Einsätze sein, er kann darum eigentlich auch nicht sinnvoll sein und schon gar nicht den Anlass bilden, Sinn zu stiften. So ist es konsequent, wenn der gegenwärtige Verteidigungsminister zu Guttenberg in einer dieser Trauerfeiern bei den Angehörigen der getöteten Soldaten um Verzeihung bat (am 24.4.2010). Der Tod der Soldaten wird jedoch ausdrücklich damit in Verbindung gebracht, dass nun für die Soldaten ein besonderer Sinn bestünde – nämlich weiter zu machen wie bisher.

Entsteht also durch den Tod der Soldaten ein besonderer Sinn? War ihr Leben vorher sinnlos? Indem Mitglieder der eigenen Einheit durch kriegerische Auseinandersetzungen ums Leben kommen, entsteht eine neue Unterscheidung: Die zwischen Opfern und Überlebenden. Dabei fühlen sich Überlebende oft in doppelter Weise moralisch belastet: Einmal fragen sich Soldaten, warum es diese Kameraden und nicht etwa sie selbst getroffen hat, und sie fühlen sich mit schuldig am Tod ihrer Mit-Soldaten. Zum anderen sind sie durch den Tod der Kameraden als Überlebende definiert, sie werden also durch den Tod ihrer zumeist ja Bekannten neu bestimmt. Die Freude, zu den Überlebenden zu gehören, kann darum mit Schuldgefühlen einhergehen, sich auf Kosten anderer, ja sogar auf Kosten der Toten, zu freuen.

Wann und wo diese Unterscheidung zwischen Überlebenden und Opfern in Erscheinung tritt, ist nicht vorhersehbar; sie kann alle Soldaten im Einsatz treffen. Dieser Willkür sind mehr oder weniger alle Soldaten im Einsatz ausgesetzt. Da sie unausweichlich mit Schuldgefühlen verbunden ist, bedarf es einer Form, diese in irgendeiner Weise zu bewältigen. Hier kommen die religiösen Spezialisten zum Zuge, die die Aufgabe haben, die Schuldproblematik zu bewältigen und an der Grenze zwischen Leben und Tod für die Kommunikation zu sorgen, und zwar in mehrfacher Weise: für die Kommunikation zwischen den Überlebenden und den Getöteten, zwischen den Angehörigen der Überlebenden und den Angehörigen der Getöteten, für die Kommunikation zwischen denen, die vor der Aufgabe stehen, dem Willkürereignis einen Sinn abzugewinnen, und denen, die dabei ums Leben kamen. Um diese Kommunikation konstituieren zu können, müssen die Getöteten in irgendeiner Weise repräsentiert werden. Ohne Gedenksteine, Grabplatten, Soldatenkreuze o.ä. würde die Differenz zwischen Opfer und Überlebenden hinfällig und es könnte weder die Kommunikation noch die Sinnstiftung funktionieren.

Diese Sinnstiftung ist mit der Bezeichnung »Opfer« verbunden. Innerhalb des jüdisch-christlich-islamischen Kontextes verschiebt die Opferbezeichnung die Schuldproblematik von einer individuellen, im Grunde nicht zu erfassenden Problematik hin zu einem übergeordneten Geschehen. Indem der einzelne Soldat den erteilten Auftrag trotz des Todes seiner Kameraden fortführt, gesteht er dem Tod dieser Mitsoldaten Sinn und sich selbst eine Entlastung seiner Schuld zu. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Betroffenen sind es also selbst, die das schaffen, wofür sie da sind: Ihr Glaube an den Sinn des Einsatzes ermöglicht den Einsatz.

Die Antike hatte für diese im militärischen Kampf zu Tage tretende Willkür eine Bezeichnung. Ihr war es möglich, diesen unfassbaren Grenzbereich zu benennen und ihm darum auch in der Öffentlichkeit zu besonderen Zeiten mit regelmäßigen Festen und speziellen Kulten und Ritualen auf speziell dafür vorgehaltenen Plätzen Raum zu geben: Der Name für diese Willkür hieß Mars oder bei den Griechen Ares. Es ist gewiss kein Zufall, dass für diesen Zweck der Planet Mars ausgewählt wurde bzw. dass dieser Planet als Kriegsgott bezeichnet wird. Nach dem Planeten Merkur weicht Mars am meisten von der Kreisbahn ab. Sein Verhalten erscheint nicht nur auf Grund seiner wechselhaften Helligkeit sondern auch, da an bestimmten Tagen in seiner Bahn rückläufig, für den Laien extrem willkürlich. Ares ist in der Mythologie Sohn von Zeus und dessen Schwester Hera; sie galt als besonders eifer- und rachsüchtig. Die Erscheinung des Mars in der Willkür des Krieges ist der Zweck des Krieges – der Krieg dient der Manifestation des Mars. Militär ist die gesellschaftlich legitimierte Erscheinungsform des mit dem Namen Mars bezeichneten erfahrbaren Numinosum, dem »Ganz Anderen«.

Die Abwesenheit der Anderen

Bei allen Trauerfeiern für die getöteten Soldaten wird stets ein nicht zu übersehender Aspekt vermieden: Nie ist von den – bei solchen kriegerischen Einsätzen unvermeidlich – verletzten und/oder getöteten Gegnern die Rede, von den Opfern der anderen Seite. Eine gemeinsame Trauerfeier ist geradezu unvorstellbar.

Dadurch wird augenfällig, dass die Militärseelsorger nicht im Dienste einer Institution stehen, die unabhängig vom Militär andere Zusammenhänge und Bezüge schafft und lebt, wie es etwa die weltweite Kirche beansprucht, sondern sie agieren innerhalb der Grenzen und Regeln des jeweiligen Militärs. Pfarrer, die in der Bundeswehr ihren Dienst leisten, leisten – wie Zeit- und Berufssoldaten – gegenüber ihrem Vorgesetzten einen Eid und überschreiten damit die Grenze zwischen der Zivilgesellschaft und dem Militär. Sie werden vom Staat bezahlt und unterstehen als Beamte den Weisungen des Verteidigungsministeriums vermittelt durch das Kirchenamt für die Bundeswehr bzw. das Militärbischofsamt. Militärseelsorgern wird die Freiheit der Verkündigung und der Seelsorge gewährleistet, im Einsatz allerdings innerhalb der vom Dienst habenden Kommandeur gesetzten Grenzen. Feindesliebe, die Jesus gemäß zum Weg derer gehört, die ihm nachfolgen, falls sie über Worte und Gebete hinaus womöglich auch zu den Feinden geht, ist ausgeschlossen. Christlicher Glaube hat sich hier dem Kriegsgott Mars unterworfen und von ihm entmündigen lassen.

Da die Menschen in der Bundeswehr einen Anspruch auf eine unabhängige Seelsorge haben, hat der deutsche Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes angefangen, eine solche in Deutschland aufzubauen. Nähere Informationen dazu finden Sie unter www.versoehnungsbund.de.

Literatur

Werkner, Ines-Jacqueline (2001): Soldatenseelsorge versus Militärseelsorge. Evangelische Pfarrer in der Bundeswehr, Baden-Baden, S.247.

Brockhaus Enzyklopädie (2002): Artikel zu Religion.

Militärseelsorge im Internet

Militärseelsorge in der Bundeswehr http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/ soziales/milseelsorge?yw_contentURL=/C1256EF4002AED30/N264HQC8277 MMISDE/content.jsp

Militärseelsorge http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de

Katholische Militärseelsorge – mit einem Lexikon der Ethik! http://www.katholische-militaerseelsorge.de/

Institut für Theologie und Frieden (in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge) http://www.ithf.de/

Graphik der Organisationsstruktur der evang. Militärseelsorge: http://www.militaerseelsorge. bundeswehr.de/portal/a/eka/mediabild? yw_contentURL=/02DB090200000001/W26L4NFT593INFODE/content.jsp

Anmerkung

1) „Es ist auch ganz klar, dass die Opfer, die gebracht werden, nicht umsonst sein dürfen.“ Brigadegeneral Frank Leidenberger, ISAF-Kommandeur für Nordafghanistan, Tagesschau vom 03.04.2010; http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan1740.html, eingesehen am 10.06.2010. „Ihr Tod darf aber nicht vergebens sein. Wir geben nicht klein bei. Wir werden wetier kämpfen. Und wir werden gewinnen.“ Frank Leidenberger, Tagesthemen vom 04.04.2010; http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt2192.html, eingesehen am 11.6.2010.

Dr. Matthias-W. Engelke, evangelischer Pfarrer in der Kirchengemeinde Lobberich in Nettetal/Niederrhein, ist Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes/deutscher Zweig. Von 1997 bis 2001 war er Militärpfarrer in Idar-Oberstein (Artillerieschule) und Birkenfeld (2. Luftwaffendivision).

zum Anfang | Kirchen und Krieg – das Beispiel Afghanistan

von Dietrich Bäuerle

Die Positionierung der Kirchen zum Afghanistankrieg entspricht bestimmten Entwicklungen von der Botschaft des Evangeliums über die verschiedenen Arrangements in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen bis hin zur gegenwärtigen Teilhabe und Teilnahme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in vielen Ländern der Erde. Diese Positionierung auf den verschiedenen Einfluss- und Machtebenen ist oft widersprüchlich: innerlich oft zerstritten, sowohl beteiligt am Widerstand gegen Unmenschlichkeiten wie auch korrumpiert durch die aktive Beteiligung am Unrecht, nur selten klar und eindeutig und trotz oftmals guten Willens nicht immer der Friedensbotschaft ihres Gründers Jesus Christus folgend.

Für die Schwierigkeit, eine Antwort auf die Frage nach der Stellungnahme der Kirchen zum Afghanistankrieg stehen zwei Hauptgründe:

Zum einen gibt es die kirchliche Äußerung schlechthin nicht, da wir es mit konfessionell unterschiedlichen Gemeinschaften zu tun haben, die zudem in sich noch einmal verschiedene Interpretationen abgeben.

Zum anderen erlebt die Öffentlichkeit im Verlauf der Debatte um Sinn, Zweck und Vertretbarkeit des Krieges wechselnde Darstellungen ganz unterschiedlicher Gruppierungen sogar in denselben Konfessionen.

Außerdem ist zumindest grob zu unterscheiden zwischen den offiziellen amtskirchlichen Verlautbarungen, in- und halboffiziellen Äußerungen einzelner Kirchenvertreter/innen und den zahlreichen Friedensinitiativen, -bewegungen und -organisationen mit kirchlichem bzw. christlichem Hintergrund.

Damit entsteht oft auch ein Spannungsfeld zwischen der Friedenspolitik der amtlich-offiziellen Kirchen und den Gewissensentscheidungen der einzelnen Christen – nicht nur in der Afghanistanfrage.

Zwischen biblischem Fundament und kirchlicher Kriegsethik und Kriegslogik

Zwar werden in den verschiedenen, sehr heterogenen Texten des Alten Testaments mit seiner mehr als tausendjährigen Schrifttradition Kriege auch als Heilige Kriege des Volkes Gottes verstanden, aus denen auch kirchliche Vertreter immer wieder ihre Rechtfertigung des Krieges bezogen haben. Dagegen fehlt dem Neuen Testament (NT) eine direkte prinzipielle Beurteilung des Krieges. Allerdings übernimmt das NT das Verständnis des alttestamentlichen Heiligen Krieges nicht, sondern konstatiert die militärische Macht eher als Faktum. Doch geht aus der Gesamtsicht der Worte und Taten Jesu wie seiner Anhänger hervor, dass Krieg, in dem es um zwischenmenschliche Gewalt, um Macht und Profit geht, nicht zu rechtfertigen ist. Eindeutig sind Aussagen des NT zum Frieden, der von Gott ausgeht, von Jesus gelebt und verkündet, von den Aposteln und Jüngern in die Welt getragen und als Heilsgeschehen und Neuschöpfung verstanden wird. Aus diesem Verständnis heraus wird das Neue Testament in der Theologie auch als die Friedensbotschaft Gottes interpretiert.

Diese Friedensbotschaft erfuhr vor allem durch die Politisierung des Christentums im 4. Jh., in der Kirchenväterliteratur, durch die Religions- und Kirchenpolitik der Kaiser Konstantin I. und Theodosius I. etwa ab dem 4. Jahrhundert eine Wendung hin zur Akzeptanz des Militärdienstes. Augustinus (354 – 430) als Kirchenlehrer und als Bischof von Hippo verlieh diesem Trend durch seine Bejahung des gerechten Krieges im 4. Jahrhundert lehrhaften Charakter. Biblische Orientierungen werden nunmehr ergänzt durch Anstöße aus einer griechisch-römisch geprägten Naturrechtslehre: Die Maßgabe durch die staatliche Obrigkeit, die Zielsetzung für das Allgemeinwohl, für Frieden und Gerechtigkeit, die Bestrafung schwerer schuldhafter Verbrechen, die Einschränkung auf die äußerste Notwendigkeit und letztlich das Motiv der Liebe in der Idee von der gerechtfertigten Verteidigung des Einzelnen wie der Gemeinschaft werden als Kriterien genannt, die es auch den Christen erlaubt, an einem gerecht genannten Krieg teilzunehmen bzw. ihn zu führen.

U. a. diese Kriterien dienten der ideellen ethisch-moralischen Unterfütterung eines neuen kirchlichen Machtverständnisses. Denn während im NT und bei den frühchristlichen Gemeinden der Friede als das entscheidende Charakteristikum der Botschaft Jesu, als die unmittelbare Konsequenz aus der Liebe und damit als ein tragender Grundwert verstanden wurde, wird in den Kirchenleitungen des Staatskirchentums der Friede zum zweckbestimmten politischen und ökonomischen Handlungs- und damit auch zu einem möglichen Kriegsziel. Dies belegen nicht nur die oft zitierten Kreuzzüge, sondern aktive Beteiligungen von Christen und ihren Kirchen an den verschiedensten Kriegen bis in die Gegenwart hinein. Auch die Positionen der beiden großen Kirchen in Deutschland zum Afghanistankrieg zeugen von den Nachwirkungen dieser Kriegs- und Friedensideologien eines staatstragenden obrigkeitlich geprägten Kirchenchristentums, auch wenn offiziell der Rückgriff auf die Lehre vom gerechten Krieg inzwischen verbal verworfen wird.

Unter dem Eindruck der Weltkriegsereignisse entwickelten sich nach 1945 allerdings differenziertere und kritischere Positionen zum Krieg und ausgeprägte Friedensethiken, die ebenfalls die verschiedenen Stellungnahmen zum Afghanistankrieg mit bestimmen.1

Kirchliche kriegs- und friedensethische Wirrungen zum Afghanistankrieg

Wer also nach der kirchlichen bzw. katholischen oder evangelischen Position zum Afghanistankrieg schlechthin sucht, steht vor einer Vielzahl heterogener christlicher Aussagen, die sich grob einteilen lassen:

Nach den offiziellen Amtskirchen, wie z.B. der deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich als die legitimen Vertreter ihrer Mitglieder verstehen. Zwar sind bei ihnen konfessionelle Unterschiede erkennbar, dennoch ist sowohl von katholischer wie von evangelischer Seite in der Afghanistanfrage – selbst bei Bedenken gegen den Bundeswehreinsatz – überwiegend, bis auf wenige Ausnahmen, eine moderate und teilweise zustimmende Haltung gegenüber der gegenwärtigen Politik der Bundesregierung erkennbar.

Nach den klaren Befürwortern von ISAF und damit auch des Bundeswehreinsatzes. Das sind sowohl verschiedene Vertreter/innen der Amtskirchen und den sich christlich nennenden politischen Parteien, aber auch einzelne Christen oder christliche Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Motiven einem militärischen Einsatz verschreiben.

Nach den militärkritischen und pazifistischen christlichen Gruppen unterschiedlicher Couleur, die sich als unterschiedliche Friedensgruppen, -initiativen, und -organisationen – wie z.B. Pax Christi (katholisch und ökumenisch), dem Internationalen Versöhnungsbund (ökumenisch) oder der Aktion Sühnezeichen (evangelisch) – mit deutlicher Kritik und Ablehnung gegen den ISAF- und besonders gegen den Bundeswehreinsatz wenden.

Beschränkt man sich hier aus redaktionellen Gründen auf kirchenoffizielle Verlautbarungen, so fallen unter den zahlreichen Äußerungen zur Erlaubtheit, zu Sinn und Zweck des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr bzw. des Afghanistankrieges überhaupt, besonders vier öffentliche kirchliche Stellungnahmen ins Auge, die in kurzer Folge im Januar 2010 abgegeben worden sind. Sie stehen ganz offensichtlich einerseits unter dem Eindruck der Bombardierung der Tanklastzüge am 4. September 2009 bei Kundus, bei der mehr als 140 Menschen, darunter auch Zivilisten, ums Leben kamen, andererseits im Sog der politischen Auseinandersetzungen zum Gesamtkomplex Afghanistan selbst:

Von evangelischer Seite verlauteten

Worte der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann zum Krieg in Afghanistan in ihrer Neujahrspredigt vom 1. Januar (Dok.. 1)2 und

das »Evangelische Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan – Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« der EKD vom 25. 1. 2010, unterzeichnet von der Ratsvorsitzenden Käßmann, deren Stellvertreter Präses Nikolaus Schneider, dem Landessuperintendent und Evangelischen Militärbischof Martin Dutzmann, und dem Schriftführer Renke Brahms, Friedensbeauftragter der EKD (Dok. 2)3.

Aus der katholischen Kirche kamen

der Gastbeitrag »Afghanistan braucht Frieden« des Vorsitzenden der katholischen deutschen Bischofskonferenz, des Freiburger Erzbischofs Robert Zollitsch, in der Frankfurter Rundschau vom 15. Januar (Dok. 3)4 und,

die Stellungnahme des Fuldaer Bischofs und Präsidenten der katholischen Friedensbewegung Pax Christi, Heinz Josef Algermissen, »Mut zur Wahrheit: Der Militäreinsatz ist gescheitert« vom 19. Januar (Dok. 4)5.

Margot Käßmanns kurze Predigtpassage „Nichts ist gut in Afghanistan“ (Dok. 1) benennt die Gegensätzlichkeiten klar wertend: Sie lehnt die „Logik des Krieges“, den „Pragmatismus der Waffen“ und die bewusste Inkaufnahme der Tötung auch von Zivilisten ab und setzt dagegen die Forderung nach mehr „Fantasie für den Frieden“: „Wir brauchen Menschen, die … ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben!“ Dass Käßmanns Predigtworte eine derart starke bestätigende wie ablehnende Resonanz in der Öffentlichkeit erfuhren und von ihr selbst später wiederholt worden sind, hat seinen Grund u. a. wohl darin, dass eine Kirchenvertreterin hier mit der Tradition der positiven Haltung gegenüber einem Krieg mit deutscher Beteiligung von evangelischer Seite gebrochen hat. Sie verschafft damit zugleich der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung Gehör, die Bedenken gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr äußern. Zugleich votiert sie gegen die offizielle Afghanistanpolitik von Bundesregierung und Bundestag, die von der Mehrheit der Medien bis dahin unterstützt wurde

Das gut drei Wochen später erscheinende »Evangelische Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan« (Dok. 2) unter Beteiligung von Margot Käßmann bringt allerdings eine Kehrtwende und fällt zurück in die bekannte kirchliche Bestätigung militärischer Gewalt zu Gunsten eines ethisch vertretbaren „gerechten Friedens“. Darunter verstehen die evangelischen Kirchenoberen, unter ihnen der evangelische Militärbischof, dass zum Aufbau einer Zivilgesellschaft in Afghanistan die Hilfsorganisationen nur beteiligt werden sollen, und zwar neben dem militärischen Einsatz. Das bedeutet die Unverzichtbarkeit des militärischen Engagements, das nach Meinung der Autoren/in „erste Erfolge“ zeitige und den Sinn und Zweck zivil-militärischer Kooperation bestätige: „Das zivile und das militärische Handeln müssen aufeinander bezogen und zugleich voneinander unterschieden sein.“ Die „Intervention mit militärischen Zwangsmitteln“ … mit „klaren Strategien und Zielen“ und „nüchtern“ kalkulierten „Erfolgsaussichten“ in diesem »Evangelischen Wort« lassen den gerechten Krieg wieder anklingen (s. u. zur EKD-Denkschrift von 2007) – auch wenn immer wieder Bedenken gegen die Inkaufnahme von Opfern geäußert werden. Damit kippt die kriegskritische Haltung in der Neujahrspredigt von Margot Käßmann zu Gunsten einer Sympathie für militärische Einsätze.

Der Beitrag des katholischen Erzbischofs Zollitsch (Dok. 3) propagiert eine gewaltkritische, aber eben keine gewaltfreie Ethik. Zwar fordert Zollitsch „Gewaltüberwindung und Gewaltlosigkeit“, plädiert für den gerechten Frieden, um im selben Atemzug jedoch herauszustellen: „In diesem Zusammenhang kann militärischem Handeln unter gewissen Voraussetzungen eine Gewalt eindämmende und damit eine für eine gewisse Zeit notwendige Rolle zufallen.“ Also auch in diesem katholischen Dokument eine klare Positionierung für die kriegerische Gewalt des Militärs und damit auch für die Inkaufnahme von Opfern, wenn auch unter strengen moralischen Auflagen. Bezeichnend ist, dass Zollitsch sich auf eine katholisch-amtskirchliche Verlautbarung beruft, in der Anklänge an die Ideologie des gerechten Krieges zu finden sind (s. u. zum Bischofswort von 2000).

Deutlich heben sich davon die Äußerungen des Fuldaer Bischofs und Präsidenten von Pax Christi, Heinz-Josef Algermissen, ab (Dok. 4): Er kommt zu der klaren Einsicht, dass der Militäreinsatz in Afghanistan gescheitert ist, und mahnt dessen Beendigung an, sieht die Bundesregierung aber bei der damaligen Londoner Afghanistankonferenz vom 28. Januar unter dem Druck der Bündnispartner, weiterhin militärisch zu agieren. In seiner Rolle als Pax-Christi-Präsident und gleichzeitiger Bischof von Fulda fordert Algermissen: „den schrittweisen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan …, regionale Waffenstillstandsvereinbarungen …, die Aufstockung der zivilen Hilfe für den staatlichen und gesellschaftlichen Aufbauprozess um mindestens den Betrag, der durch den Abzug der Truppen frei wird, … den Ausbau der Projekte des zivilen Aufbaus, die dazu beitragen, die aktive Beteiligung von Frauen am politischen und sozialen Leben zu unterstützen und zu fördern, die Unterstützung der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung, um Alternativen zu Drogenanbau, Kriminalität und Kriegsökonomie zu schaffen … (und) die Förderung des Dialogs auf allen Ebenen – mit Taliban ebenso wie mit anderen Gruppierungen der afghanischen Opposition zur Zukunftsgestaltung des Landes.“ Damit nimmt Algermissen eine klare kritische Haltung gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan ein, wie sie ursprünglich Käßmann vertreten, aber offensichtlich unter innerkirchlichem Druck mindestens teilweise wieder aufgegeben hat. Allerdings vermeidet Algermissen grundsätzliche friedensethische und kriegskritische Überlegungen.

Diese exponierten Äußerungen höchster kirchlicher Amtsträger sind aber immer im Zusammenhang mit den kirchenoffiziellen Verlautbarungen zu sehen. Denn beide Großkirchen, auch wenn sie den gerechten Krieg als politisches Leitbild ablehnen und für den gerechten Frieden plädieren, befürworten grundsätzlich den begrenzten Kriegseinsatz:

Margot Käßmann bezieht in ihrer Neujahrspredigt noch entschieden Stellung gegen den Afghanistankrieg. Doch nimmt sie zusammen mit ihren Amtskollegen – darunter dem Militärbischof Martin Dutzmann mit dem ganzen Gewicht seiner Funktion – die wesentlichen Argumente gegen den Militäreinsatz weitgehend zurück. Das erscheint amtskirchlich korrekt. Denn sie folgt damit amtskonform der Denkschrift ihrer Kirche von 2007, die »ius in bello«, also Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Mittel im Krieg, fordert. Diese Argumentation in einer komplizierten und nicht unbedingt allgemein verständlichen Diktion ist zwar noch nicht die explizite Befürwortung des gerechten Krieges, bedeutet aber de facto, dass ein Krieg zumindest phasenweise »gerecht« geführt werden kann, d. h. mit dem Ziel eines »gerechten Friedens« – also eine klare Rechtfertigung des Krieges.6

Die deutschen katholischen Bischöfe beziehen in ihrem Bischofswort »Gerechter Friede« von 2000 eine ähnliche Position. Sie bejahen Bundeswehr und NATO und rechtfertigen begrenzte militärische Einsätze nach strengen rechtlichen sowie ethischen Regeln. Damit behält die Lehre vom gerechten Krieg, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form, auch hier ihre Gültigkeit, ähnlich der offiziellen evangelischen Linie. Dem folgt ausdrücklich Robert Zollitsch unter bewusster Bezugnahme auf dieses Bischofswort, während Algermissen ein solches Rechtfertigungsdenken des kriegerischen Bundeswehreinsatzes für Afghanistan nicht ausdrücklich erwähnt.7

Dieses Denken bestätigte der katholische Militärgeneralvikar Wakenhut am 24. April in der Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen Soldaten, die mit ihrem Einsatz und Tod dafür „Verantwortung übernommen“ hätten, „dass Menschenwürde und Menschenrecht gewahrt bleiben, nicht nur in Afghanistan, sondern auf der ganzen Welt“. Er belegt und begründet diesen tödlichen Militäreinsatz in einer militaristischen Bibelinterpretation mit dem Jesuswort aus dem Schluss des Matthäusevangelium, „zu allen Völkern“ zu gehen und sie „zu Jüngern“ zu machen: „Und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich Euch geboten habe.“ – ein makabres Verständnis der Nachfolge Jesu in Form von Kriegsbereitschaft.8

Die offiziellen Kirchenvertreter stehen somit in der Gefahr, mit ihren Begründungsformeln für bestimmte Gewalt- und Kriegsformen die fortschreitende Militarisierung in Deutschland, in Europa und weltweit mit zu fördern. Doch die Diskussionen um die kirchlichen Positionen zu Afghanistan gehen weiter. Die verschiedenen christlichen Initiativen können dafür sorgen, dass der Strom der Kritik an ISAF, am Bundeswehreinsatz in Afghanistan und global nicht abreißt.

Perspektiven einer christlich-kirchlichen Friedensethik zu Afghanistan

Trotz der großen Spannweite christlich-kirchlicher Positionen könnten sich doch Grundzüge einer Art »christlichen Afghanistanethos« für einen gerechten Frieden herausarbeiten lassen. Leitorientierung bieten dafür zwei Faktoren. Denn unabdingbar für jede humane Befriedung und für die Beendigung aller gewalttätigen Konflikte sind:

Zum einen die biblischen Prinzipien der Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit, an die sich alle Christen unabhängig von ihrer politischen Tradition und von ihrer Zugehörigkeit zu Kirchen, Parteien, Organisationen und Vereinen halten müssten. Sie zeigen sich in Solidarität, Dialog, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit gegenüber allen Menschen – unter Verzicht auf egoistische Interessen.

Zum anderen die konsequente, bedingungslose und ausdrückliche Abkehr von Theorie und Praxis des »gerechten Krieges« hin zum Leitbild des »gerechten Friedens«. Sie zeigt sich nicht nur in bloßer Abwesenheit von Gewalt und Krieg, sondern in einem konkreten Friedensprogramm, im fairen Ausgleich von friedensbedrohenden Gegensätzlichkeiten und im Verzicht auf gewalttätige Konfliktlösungen und eigene Machtinteressen.

Aus christlich-kirchlicher Sicht könnten auf Afghanistan übertragen diese Kernaussagen und Grundhaltungen den Weg zum Frieden weisen:

Gerade die Kirchen müssten bestimmte Formen der Zusammenarbeit mit Politik und Wirtschaft auf Friedfertigkeit hin kritisch überprüfen und zu Gunsten eines zivilen Krisen- und Konfliktmanagements und eines gerechten Friedens hin korrigieren, ggf. auch bewusst im Gegensatz zu allen Macht- und Profitinteressen.

Damit müssten die Kirchen auch staatskirchenähnliche Kooperationsformen aufgeben, die der Rechtfertigung sog. gerechter oder angeblich noch akzeptabler Kriegsoperationen dienen, und die Ächtung und das Verbot von Kriegen fordern.

Entsprechend dem Beispiel Jesu müssten die christlichen Kirchen – ggf. auch in Auseinandersetzung mit den staatlichen Organen – Stellung für das Wohl und das Heil der Menschen im Allgemeinen und konkret im Fall Afghanistan im Sinne eines zivilen gewaltfreien Krisenmanagements und einer mitmenschlichen Entwicklungshilfe beziehen.

Gefordert ist generell der Dialog mit anderen Religionen in allen Konflikt- und Friedensfragen, für und in Afghanistan vor allem mit dem Islam.

Friedensfördernd wäre der Abzug der fremden Truppen aus Afghanistan, die Stärkung und Förderung ziviler einschließlich kirchlicher Hilfsorganisationen, u. a. durch die mit dem Truppenabzug frei werdenden Mittel.

Anmerkungen

1) Dazu Ulrich Frey: Von der »Komplementarität« zum »gerechten Frieden«. Zur Entwicklung kirchlicher Friedensethik. In: Wissenschaft & Frieden 4 / 2006

2) http://www.ekd.de/predigten/kaessmann/100101_kaessmann_neujahrspredigt.html

3) http://www.ekd.de/aktuell/68687/html

4) http://www.katholische-kirche.de42291/html

5) http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/ bewegung/afgh/algermissen.html

6) Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2007, u. a. Nr. 64 – 109

7) Die deutschen Bischöfe: Gerechter Friede. Bonn 2000, u. a. Nr. 137-144; 153-161

8) http:/www.katholische-militärseelsorge.de/uploads/media/Ansprache_zur_Trauerfeier_ in_Ingolstadt.pdf

Dr. Dietrich Bäuerle ist Politikwissenschaftler und katholischer Theologe, Mitglied der Pax-Christi-Kommission Friedenspolitik

zum Anfang | Zusammenarbeit mit dem Staat?

Friedenspolitik kirchlicher NGOs in Deutschland

von Ulrich Frey

Der Staat zeigte in Deutschland – in der alten Bundesrepublik, in der DDR und in der vereinigten Republik – sehr ungleiche Gesichter. Kriegsdienstverweigerung, Militärsteuerverweigerung, Protest gegen atomare Rüstung, Bausoldaten, »Wehrerziehung«, Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«: Diese Stichworte legen die Frage nahe, ob und wie kirchliche NGOs mit dem Staat zusammenarbeiten sollen oder können. Leitende Maximen dieses wechselseitigen Verhältnisses sind »ecclesia semper reformanda« (Die Kirche ist immer reformationsbedürftig) und »societas semper reformanda« (Die Gesellschaft ist immer reformationsbedürftig). Mit dem Cardoso-Report1 werden in diesem Beitrag die weltweit und national agierenden Kirchen als NGOs behandelt, weil sie sowohl als verfasste Kirchen als auch in Form »reiner« NGOs ihrer Mitglieder geeignet sind, Lücken zwischen einer sich schnell globalisierenden Politik und den stagnierenden politischen Institution auf nationaler oder lokaler Ebene zu füllen.

Allgemeine Grundlagen kirchlicher Friedensarbeit

Christenmenschen evangelischer Konfession (und wohl auch solche anderer Konfessionen) in kirchlichen NGOs und in verfassten Kirchen bestimmen sich „in ihrer Kirche als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft“. Sie betonen die „Freiheit zur Verantwortung“, wohin „sie sich als Christen gestellt fühlen“.2 Dass der Staat in der demokratisch geordneten alten und neuen Bundesrepublik und der real-sozialistischen früheren DDR den Christenmenschen unterschiedlich begegnete, berührt das gemeinsame Grundverständnis von Christen in Deutschland nicht. Die evangelische Kirche „vertritt aus Gründen des Glaubens keine abstrakte, allgemeine Staatstheorie.“ Zu unterscheiden ist zwischen dem „geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates“ als der „bleibenden Voraussetzung für die Bereitschaft zur Demokratie.“ Die Demokratie ist keine „christliche Staatsform“, hat aber innere Beziehungen zu den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens. Christen sind in diesem Sinne aufgerufen, in Verantwortung „der Stadt Bestem“ (Jeremia 29,7) zu wirken. Die Ordnungsaufgabe des Staates ist es, „Recht zu schützen, Frieden zu wahren, dem Bösen zu wehren und das Gute zu fördern.“ Um dieser Aufgabe willen kann nach Römer 13,1 der „Staat als Obrigkeit in erster Linie Gehorsam verlangen – sowie der Staat selbst zum Gehorsam vor Gott berufen ist. Eine Pflicht zum Widerspruch und zum (gewaltlosen) Widerstand haben die Reformatoren dann als gegeben angesehen, wenn der Staat in die Freiheit des Glaubens eingreift.“ 3 Deshalb hat sich die Bekennende Kirche in der 5. These der Theologischen Erklärung von Barmen (1934), heute eine evangelische Bekenntnisschrift, gegen den totalen Anspruch der nationalsozialistischen Diktatur gestellt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, die die geistliche Linie der evangelischen Kirche nach 1945 wesentlich prägten, waren existenzielle Zeugen solchen Widerstandes. Die Bergpredigt (Mattheus 5 – 7) orientiert Christenmenschen auf ihr friedenspolisches Aktionsprogramm hin.

Kirchliche friedenspolitische Arbeit in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wurde 1949 als »sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern« gegründet. Sie war nach Art. 1 der Verfassung vom 6.4.1968 „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Joachim Garstecki, langjähriger Studienreferent für Friedensfragen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (Bund), fasst zusammen: „Die evangelischen Kirchen in der DDR haben die politischen Rahmenbedingungen ihres Kirche-Seins in der DDR angenommen als Platz, an den Gott sie gestellt hat und an dem er etwas von ihnen erwartet. Die DDR war zum gesellschaftlichen, geistlichen und politischen Ort geworden, an dem sie als Kirchen lebten und ihr Zeugnis und ihren Dienst zu bewähren hatten. Dazu gehörte auch das kirchliche Friedenszeugnis. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich – und das war seit der EKD-Synode von Weißensee 1950 Konsens – auf einen kirchlichen Friedensbeitrag, der die traditionelle Ethik des gerechten Krieges hinter sich lässt und auf eine Ethik des Friedens im eigentlichen Sinne des Wortes ausgerichtet ist. Also nicht mehr das überkommene ‚Si vis pacem, para bellum‘, sondern ‚Si vis pacem, para pacem!‘ Dass die DDR-Kirchen in einer kommunistischen Diktatur, unmittelbar an der Konfrontationslinie von Warschauer Pakt und NATO, lebten, bedeutete nicht, dass sie ihre Friedensverantwortung umständehalber hätten suspendieren können. Das verbot sich allein schon angesichts der ständigen Gefährdung durch das militärische Drohsystem der atomaren Abschreckung zwischen Ost und West, das Frieden durch ein ‚Gleichgewicht des Schreckens’ zu sichern suchte und in das die DDR im Rahmen des Warschauer Vertrages eingebunden war. Aus dieser Einbindung resultierte eine hochgradige Militarisierung der DDR-Gesellschaft.“ 4 Weil die DDR-Verfassung 1968 die Mitgliedschaft der DDR-Kirchen in der EKD verbot, wurde im Jahre 1969 der Bund gegründet und damit die kirchliche Einheit mit der EKD formal aufgegeben. Inhaltlich bestand sie weiter. Das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum SED-Staat prägte die Bundessynode 1971 mit der Formel „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein.“ Auf dieser unterschiedlich interpretierten Grundlage nahm der Bund seine Friedensarbeit unabhängig vom Staat DDR wahr. Sie wurde im Einzelnen spezifiziert durch ein Gespräch zwischen dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen, Landesbischof Albrecht Schönherr und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 6.3.1978.5 Unter dem kirchlichen »Dach« wirkten auch die im Westen bekannten Friedensgruppen. Das wichtigste Ergebnis kirchlicher Friedensarbeit in der DDR war die das SED-Regime systemüberwindende gewaltfreie »friedliche Revolution« 1989, zu dem die Kirchen in der DDR, wesentlich die evangelischen Kirchen, beigetragen haben.6

Kirchliche friedenspolitische Arbeit in der BRD

In der alten und neuen Bundesrepublik hatten bzw. haben es Kirchen und kirchliche NGOs wesentlich leichter, Friedenspolitik gesellschaftlich und politisch eigenständig zu betreiben. Das Grundgesetz begrenzt staatliche Machtausübung durch die Grundrechte u.a. der Meinungs- und Gewissensfreiheit, der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes. Art. 140 GG garantiert die kirchliche Unabhängigkeit. Der 5. Barmer These entspricht das Grundgesetz in Art. 20 (4), wenn es festschreibt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Vom Widerstand zu unterscheiden ist die Bekämpfung „einzelner politischer Sachentscheidungen des Parlaments oder der Regierung“ durch „demonstrative zeichenhafte Handlungen“ bis hin zu Rechtsverstößen aus Gewissensgründen z.B. als ziviler Ungehorsam. Solche Handlungen müssen „als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst genommen werden.“ 7 Die Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 thematisiert schon ansatzweise die Herausforderungen, die die Gesellschaft, der Staat und die Staatengemeinschaft bisher nicht steuern konnte, so die „Ambivalenz wissenschaftlich-technischer Entwicklung“ (z.B. Kernenergie), ökonomische Probleme, die „beispiellose Hochrüstung in Friedenszeiten und die Strategie der nuklearen Abschreckung“.8 Die neuen sozialen Bewegungen bewertet die Denkschrift 1985 nur als „Indikatoren der globalen Überlebensprobleme“. „Sie bilden gewissermaßen deren Schatten: die Friedensbewegung, die Umweltschutzbewegung, die Anti-Kernkraftbewegung, die entwicklungspolitischen Aktionsgruppen und die Frauenbewegung.“ 9 Die Begriffe »Zivilgesellschaft« und »Netzwerke« als Synonyme für die Fortentwicklung von Formen demokratischer Partizipation diskutiert die Denkschrift noch nicht. Tatsächlich sind Aktivitäten der Zivilgesellschaft heute aber nicht nur Indikatoren einer Entwicklung, sondern sie haben auch konkrete gestaltende Funktionen, wie z.B. die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen und die Anwaltschaft für Frieden und Menschenrechte.10 In ihrem »Gemeinsamen Wort zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens« rufen der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz Christinnen und Christen aus „politisch-diakonischer Verantwortung und seelsorgerlichem Auftrag“ dazu auf, „ihre Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen und die bestehenden Handlungsspielräume im notwendigen Umfang zu nutzen“, besonders als Bürgerinnen und Bürger, bei Wahlen, in der Politik, im Journalismus und im Verbandswesen.11

Konkretisierung von Friedenspolitik

An ausgewählten Beispielen soll die kirchliche friedenspolitische Auseinandersetzung mit dem Staat skizziert werden. Weitreichende gesellschaftliche, politische und rechtliche Folgen auf beiden Seiten im Sinne eines »semper reformanda« sind das Ergebnis.

Gewissensentscheidungen

Schon im Parlamentarischen Rat kam es bei der Debatte um die Einführung des Art. 4 Abs. 3 zu einer Kontroverse zwischen Theodor Heuß und Fritz Eberhard. Heuß beschwor die Gefahr eines „Massenverschleißes des Gewissens“ im Falle der Einführung der Kriegsdienstverweigerung. Eberhard hielt dem entgegen: „Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl, und haben daraufhin getötet. Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben, und wir hoffen, er wird sie haben. …“12 Als die Bundesrepublik und die DDR 1949 gegründet wurden, diskutierte die Öffentlichkeit nach den traumatischen Erfahrungen des 2. Weltkrieges heftig eine denkbare Wiederbewaffnung. Als dann die Bundeswehr 1955 nach dem Beitritt zur NATO (1954) entstand, erhob sich auch die Frage, ob und wie eine Verweigerung des Kriegsdienstes im Einzelnen auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 und 3 GG geregelt werden sollte. Die EKD beschloss in dem Ratschlag zur Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer 1955: „Die evangelische Kirche muss daran erinnern, dass für den evangelischen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage vernehmbar wird und nicht an allgemeinen Maßstäben zu messen ist. Wenn der Staat, eingedenk dessen, dass es nicht das Amt des menschlichen Richters ist, über das Gewissen zu urteilen, objektiv feststellbare Momente für die Anerkennung der Haltung des Kriegsdienstverweigerers fordert, sollte doch das staatliche Gesetz die Möglichkeit offen lassen, auch der konkreten Gewissensentscheidung im Einzelfall eines unlösbaren Gewissenskonfliktes Raum zu gewähren. … In der weitherzigen Rücksichtnahme auf die Gewissensnot gewährt der Staat die Gewissensfreiheit, der er in Art. 4 Abs. 1 GG 13 besonderen Schutz zugesagt hat.“ Die EKD forderte gesetzliche Bestimmungen für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen für die »prinzipiellen Verweigerer« und für die »aktuellen Verweigerer«.14 Diese doppelte Forderung wurde von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK), der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer sowie von den Friedensdiensten der Aktionsgemeinschaft Dient für den Frieden (AGDF) nachhaltig vertreten. In der Praxis der Anerkennungsverfahren wurden Verweigerer aber nur nach Art. 4 Abs. 3 auf Antrag anerkannt, wenn „sie hier und heute jeden Kriegsdienst mit der Waffe ablehnen oder gehorchen“.15 Die situative Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 1 – ohne Gesetzesvorbehalt wie in Art. 4 Abs. 3 – schloss die Rechtsprechung in der Bundesrepublik zunächst grundsätzlich aus. Das führte zu schweren Belastungen der Antragsteller, weil sie nur als prinzipielle Verweigerer anerkannt werden konnten, wenn auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung in Reaktion auf Kritik daran allgemein eingeräumt hat, „die Gewissensentscheidung (sei) wesenhaft immer ‚situationsbezogen‘“.16 Erst das unanfechtbare Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Juni 2005 zum Freispruch des Majors Pfaff (BVerwG 2WD 12.4)17 ermöglicht zweifelsfrei die situative (= partielle) Kriegsdienstverweigerung, die die EKD schon 1955 gefordert und immer wieder angemahnt hatte. Die EKD stimmte dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zu.18 Das Gericht klärte auch unmissverständlich, die situative Verweigerung nach Art. 4 Abs. 1 werde nicht durch diejenige nach Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt, auch nicht aus dem Gesichtspunkt der „Funktionsfähigkeit der Streitkräfte“ nach den wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften des GG, weil die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht das höchste Staatsgut sei. Das ist, wie das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr feststellt, „von erheblicher politischer Bedeutung“, weil ein Soldat, dem der Missbrauch des Grundrechtes nach Art. 4 Abs. 1 nicht vorgeworfen werden kann, auch nicht wegen Ungehorsam belangt werden kann. Das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr sieht das »letzte Wort« über das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes noch nicht gesprochen, wonach die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr eine „normative Größe in der Grundrechtsdogmatik“ ausmacht (BVerfG-2 BvR 71/07).19

In der DDR gab es keine Grundrechte wie die des Grundgesetzes. 1962 war in der DDR die Wehrpflicht eingeführt worden – ohne das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und ohne zivilen Wehrersatzdienst wie nach Art. 4 Abs. 1 und 3 im Westen Deutschlands. Bis zum Frühjahr 1964 hatten über 1.500 junge Männer die Einberufung in die nationale Volksarmee (NVA) unter Berufung auf ihr Gewissen verweigert.20 Auf Drängen der Kirchen beschloss der Nationale Verteidigungsrat der DDR am 7.9.1964 die »Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten innerhalb der NVA« für die Verweigerer, die den Dienst „aus Glaubens- und Gewissensgründen“ ablehnten. Sie hatten 18 Monate waffenlosen Soldatendienst innerhalb der Armee zu leisten. Erst ab 1.3.1990 war ein Zivildienst erlaubt. Prominente Bausoldaten waren z.B. Rainer Eppelmann, letzter Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR und Wolfgang Tiefensee, Bundesminister a.D. Um in der speziellen Situation der DDR qualifiziert friedensethisch sprechen und beraten zu können, insbesondere zu Gewissensentscheidungen über die Alternativen (bewaffneter Dienst in der NVA oder Bausoldatendienst bzw. ‚ungesetzliche‘ Totalverweigerung), verfassten die evangelischen Kirchenleitungen in der DDR 1965 eine »Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen« unter dem Titel »Zum Friedensdienst der Kirche«. Darin hoben sie die Verweigerung des Waffendienstes als Totalverweigerer oder als Bausoldat als Ausdruck und Teil des der ganzen Kirche aufgetragenen Friedensdienstes hervor. Der Waffenverzicht der Totalverweigerer und der Bausoldaten sei nicht nur eine „mögliche christliche Handlungsweise“, sondern „ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn.“ Das stand im deutlichen Gegensatz zu der von den Kirchen in Westdeutschland vertretenen Position der »Komplementarität« vom Dienst an der Waffe und Waffenverzicht nach der 6. und 7. Heidelberger These, die aber von den dortigen Kriegsdienstverweigern und ihren Organisationen bestritten wurde.21

Ziviler Ungehorsam

Viele Menschen aus der Friedensbewegung, unter ihnen zahlreiche Christen und Christinnen, haben durch zivilen Ungehorsam, z.B. durch Aufrufe und Blockaden, ihrem Protest gegen Rüstung, Nachrüstung und Atomwaffen Nachdruck verliehen. Ziviler Ungehorsam ist eine gewaltfreie, öffentliche, symbolische, gesetzwidrige Protesthandlung, die im Rahmen einer relativ gerechten Ordnung aus Gewissensgründen oder um universalisierbarer politischer Ziele willen erfolgt und die Bereitschaft einschließt, für ihre rechtlichen Konsequenzen einzustehen.22

Strafgerichte haben jahrelang Sitzdemonstrationen, z.B. an Raketen-Stationierungsorten wie in Mutlangen, als Form des Protestes gegen die atomare Nachrüstung als »Gewalt« wegen Nötigung (§ 240 Strafgesetzbuch StGB) angesehen und Blockierende regelmäßig verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10.1.1995 (u.a. 1 BvR 718/89) entschieden, solche Sitzdemonstrationen seien grundsätzlich nicht nach § 240 StGB strafbar, weil das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG durch die „erweiterte Auslegung des Gewaltbegriffs“ in § 240 Abs. 1 StGB verletzt würde. Der Begriff »Gewalt« ist von den Strafgerichten kontinuierlich ausgeweitet worden. Über den unmittelbareren Einsatz körperlicher Kräfte hinaus wurde es auch als Gewalt angesehen, wenn der Täter nur mit geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess beim Opfer in Lauf setzt, sodass dieses von der Durchsetzung seines Willens Abstand nimmt (Vergeistigung des Gewaltbegriffs). Dadurch wird nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes entgegen dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr voraussehbar, welches Verhalten verboten sein soll und welches nicht.23

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen Pfaff hatte auch Folgen für die Strafbarkeit eines Aufrufes von Atomwaffengegnern an die Bundeswehrsoldaten des Jagdbombergeschwaders 33 (Büchel), der gegen die nukleare Teilhabe argumentiert und an das Gewissen der Soldaten appelliert. Dieser Aufruf ist nach dem Urteil des 1. Strafsenates des OLG Koblenz nicht strafbar.24

Nachrüstung

Der Beschluss der NATO vom 12.12. 1979, in Westeuropa amerikanische Pershing II-Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missile) zu stationieren, wenn nicht durch Verhandlungen der Abzug sowjetischer SS-20 Raketen und neuer strategischer Flugzeuge der Sowjetunion verhindert werden könnten (Doppelbeschluss), verursachte eine bisher in Westeuropa einzigartige Mobilisierung gegen die atomare Rüstung und gegen die Regierungen, die diese Waffen einführen wollten. Akteure waren eine breite Friedensbewegung, weitgehend bestehend aus christlichen Gruppen und Organisationen, aber auch aus verfassten Kirchen.

Die Friedensbewegung hat die Verhandlungen über den Abbau von Raketen in Ost und West politisch unter Druck gesetzt und damit die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur mitbestimmt. In den Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, in der NATO und zwischen den Vormächten des Kalten Krieges, den USA und der Sowjetunion, mobilisierte die Friedensbewegung die Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft gegen die Nachrüstung. Die neuen Raketen sind zwar stationiert worden, wurden aber im Rahmen der »doppelten Null-Lösung« des INF-Vertrages von 1987 wieder abgebaut. Als „wichtigstes Verdienst“ attestiert Thomas Risse-Kappen der Friedensbewegung, eine „gründliche Veränderung der sicherheitspolitischen Kultur“ „erstmals seit den fünfziger Jahren“ angestoßen zu haben. „Die aufkommende Friedensbewegung war 1981 der eigentliche Grund, warum sich USA und NATO nach langem internem Streit auf den Vorschlag einer weltweiten Null-Lösung bei den weitreichenden Systemen einließen.“ 25 Dies hätte „ohne die Massendemonstrationen der neuen Friedensbewegung“ nicht geschehen können.26 Die Aktiven der Friedensbewegung demokratisierten auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie präsentierten »Gegenexperten«27 und wirkten durch fachliche Initiativen wie dem »Darmstädter Signal«, das die Auseinandersetzung unter dem Schutz der Grundrechte in die Bundeswehr hineintrug.28 Über Teile der SPD und die neu entstandene Partei der Grünen drang die Friedensbewegung tief in den parlamentarischen Raum vor. Die Mitglieder der Kirchen votierten zum allergrößten Teil gegen die Nachrüstung. Unabhängig davon diskutierte die Friedens- und Konfliktforschung die zerstörerischen Folgen von Abschreckungspolitik.29 Frieden bedeutete nicht mehr nur negativ die Abwesenheit von Krieg, sondern wurde positiv besetzt. Die Friedensbewegung hat schließlich einen großen Anteil an der Überwindung eines dumpfen Antikommunismus mit starren Freund – Feindbildern aus der Zeit des Kalten Krieges. Das Bundesverfassungsgericht sah in der Bonner Friedensdemonstration 1981 und der süddeutschen Menschenkette 1983 Beispiele für die Demokratie fördernde Ausübung des Demonstrations- und Versammlungsrechtes (Art. 8 GG).30 Für Helmut Schmidt, Bundeskanzler bis 1982 und Erfinder des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, war die Friedensbewegung allerdings nur eine „psychotische Bewegung, wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung der Massenmedien.“ 31

Das Moderamen des Reformierten Bundes löste mit seinem »Nein ohne jedes Ja« zur Nachrüstung als einer Bekenntnisfrage eine scharfe theologische und friedensethische Debatte aus. „Angesichts der jeden Augenblick möglichen Katastrophe, angesichts der offenkundigen Bereitschaft politisch und militärisch Verantwortlicher, die Massenvernichtungsmittel in einem militärischen Konflikt einzusetzen, ja sogar den atomaren Erstschlag ins strategische Kalkül einzubeziehen, und angesichts der Abstumpfung und Gewöhnung vieler Menschen an das Leben am atomaren Abgrund ist die Friedensfrage zur Bekenntnisfrage geworden. Wie im Kirchenkampf die »Judenfrage« zur Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Bekennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch die Massenvernichtungsmittel in den status confessionis, d.h. wir sehen uns unumgänglich herausgefordert, diese Frage als eine Frage des Glaubens und des Gehorsams im Hören auf die Schrift und in der Bitte um die Leitung des Heiligen Geistes klar und verbindlich zu beantworten, weil es in ihr um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“ 32

Dagegen argumentierte die EKD auf der Grundlage der 8. Heidelberger These (1959): „Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch christliche Handlungsweise anerkennen.“ In ihrer Denkschrift von 1982 hält die EKD an dem »noch« fest, schränkt aber ein: „Allein, diese Handlungsweise ist nur in einem Rahmen ethisch vertretbar, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen.“ 33 Im Jahre 2007 ist die EKD zu der Ansicht gelangt: „Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ 34

Die christliche Friedensbewegung hat im Kampf gegen die Nachrüstung zentrale christliche Begriffe wie Schuld, Buße und Umkehr politisch erfahrbar gemacht:35

Schuld im Sinne Bonhoeffers als konkrete Schuld, in Solidarität mit dem konkreten Tod Christi am Kreuz – gegen die Sünde der Vergewaltigung der Schöpfung und die Verinnerlichung von Feindbildern in Gestalt eines traditionell geprägten christlichen Antikommunismus,

Buße im Vollzug der Verantwortung der Deutschen vor ihrer Geschichte in der Tradition des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.…Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Umkehr in Form paralleler Anstrengungen zur Unterstützung von Entspannungspolitik zwischen Ost und West und Bemühungen um Abrüstung in Ost und in West.

Christenmenschen in der Friedensbewegung haben die Kirche institutionell und personell erneuert. Friedenspfarrämter sind eingerichtet worden. Synoden haben zu Friedensfragen stattgefunden. Der Deutsche Evangelische Kirchentag 1983 in Hannover wurde durch die Kampagne »Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen« violett eingefärbt. Aktive der Friedensbewegung sind in die Kirchen eingewandert und haben dort Verantwortung übernommen.

Anmerkungen

1) United Nations, General assembly: We the peoples: civil society, the United Nations and global governance. Report of the Panel of Eminent Persons on United-Nations-civil Society Relations, A/58/817, 11.6.2004, S.13

2) Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh, 1985, S.9 ff

3) EKD aaO, S.15

4) Joachim Garstecki: Die Friedensarbeit der Kirchen in der DDR als Wegbereiterin der friedlichen Revolution, S.3, www.friedensdekade.de (Zugriff Juni 2010)

5) Honecker anerkannte das „eigenständige Wirken“ der DDR-Kirchen „als bedeutsamen Faktor des gesellschaftlichen Lebens heute und künftig“ an, Markus A. Weingardt: Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Kohlhammer, 2007, S.72

6) Markus A. Weingardt: Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Kohlhammer, 2007, S.67 ff; Reinhard Höppner, Wunder muss man ausprobieren. Der Weg zur deutschen Einheit, Aufbau-Verlag, 2009

7) EKD, aaO, S.22, 27

8) EKD, aaO, S.37

9) EKD, aaO, S.38

10) Siehe im Einzelnen: Thania Paffenholz: Civil Society an Peacebuilding, Summary of Results for a Comparative Research Project, The Centre on conflict, development and Peacebuilding, The Graduate Institute, Geneva, CCDP Working Paper Nr. 4, 2009, S.5, siehe auch den Cardoso Report (Anmerkung 1)

11) Kirchenamt der EKD/ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg,): Demokratie braucht Tugenden, Gemeinsame Texte Nr. 19, Hannover/Bonn, 2006, S.46 f

12) Dieter Deiseroth: Gewissensfreiheit und Recht. Entwicklungen, grundrechtliche Dimensionen und konkrete Konfliktlagen, in: Betrifft JUSTIZ, Nr. 93, März 2008, S.228 ff., S.230

13) Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Art. 4 Abs. 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Gewissensentscheidung als „jede ernste sittliche, das heißt an Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.“ (Deiseroth aaO, S.231, BVerfGE 45,54 (55), 48,127 (173 f))

14) Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (Hrsg.): NEIN zu Krieg und Militär, Ja zu Friedensdiensten, 2007, S.369 ff

15) Ulrich Finckh: Gewissen vor Befehl, in: Grundrechte-Report 2006, Frankfurt/Main, S.69

16) Deiseroth aaO, S.236 unter Bezug auf BVerfGE 69,1 (81 ff)

17) BVerwGE 127, 302 ff, EuGRZ 2005, 636; NJW 2006, 77,

18) Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh, 2007, S.40 ff, Ziffer 65

19) Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr (Hrsg.): Friedensethik im Einsatz. Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr, Gütersloh, 2009, S.138 ff . Das Urteil wird vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) kritisch bewertet (Stefan Sohm: Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens?, Neue Zeitschrift für Wehrrecht, Heft 1/2006, S.1 ff

20) Vgl. Joachim Garstecki aaO, S.4 f

21) Joachim Garstecki aaO, S.5

22) Wolfgang Bock, Hans Diefenbacher, Hans-Richard Reuter: Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht. Ein Gutachten, FEST Heidelberg, Reihe A Nr. 38, Texte und Materialien, 1992, aaO, S.82

23) Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichtes Nr. 17/95

24) »Informationen« des Komitees für Grundrechte und Demokratie Nr. 5/2005, »Frei-Raum« der Gewaltfreien Aktion Atomwaffen Abschaffen (GAAA), Nr. 3/Dezember 2005, S.8

25) Thomas Risse-Kappen: Null-Lösung, Entscheidungsprozesse zu den Mittelstreckenraketenwaffen 1970 – 1987, Campus, 1988, S.198

26) Thomas Risse-Kappen: aaO, S.90, S.104, S.194

27) Corinna Hauswedell: Friedenswissenschaften im kalten Krieg. Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Nomos, 1997, S.170 ff

28) Lothar Liebsch: Frieden ist der Ernstfall. Die Soldaten des ‚Darmstädter Signals’ im Widerspruch zwischen Bundeswehr und Friedensbewegung, Verlag Winfried Jenior, 2003

29) Corinna Hauswedell: aaO, S.301 ff

30) Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 14.5.1985 (1 BvR 233/81, 341/81), EuGRZ 1985, S.450, NJW, 1985, S.2395 ff., S.2398

31) Helmut Schmidt: Außer Dienst. Eine Bilanz, Pantheon, 2010, S.166

32) Moderamen des Reformierten Bundes (Hrsg.): Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Eine Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes, Gütersloh 1082, S.14

33) Ev. Kirche in Deutschland (Hrsg.): Frieden wahren, fördern und erneuern, Gütersloh, S.58)

34) Rat der EKD (Hrsg.): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Ev. Kirche in Deutschland, Gütersloh, 2007, S.103

35) Werner Krusche: Schuld und Vergebung der Grund christlichen Friedenshandelns, in: Vgl. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste/Gustav-Heinemann-Initiative/ Ohne Rüstung Leben/ Versöhnungsbund (Hrsg.), 3. Auflage, 1985

Ulrich Frey war Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) von 1972 bis 2000, derzeit ist er Mitglied des Ausschusses für öffentliche Verantwortung der Ev. Kirche im Rheinland und Sprecher der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Dem Militär den Boden entziehen!

Für eine FREIe HEIDe

Dem Militär den Boden entziehen!

von Mani Stenner, Annemarie Friedrich, Knut Krusewitz, Ulrich Görlitz

Gemeinsame Beilage der Zeitschriften: FriedensForum * graswurzelrevolution * W&F * in Zusammenarbeit mit der Stiftung brandung – werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung. Mit dieser Broschüre wollen die Redaktionen dreier Zeitschriften aus der Friedensbewegung das Beispiel Wittstock (noch) bekannter machen und zur Hilfe und zum Mittun auffordern.

freie heide

„Als wir 1945 nach Gadow kamen, stand noch dieser herrliche Wald. Ich erinnere mich noch an die sauberen und gepflegten Wege. Gadow war ein schönes Walddorf. Wir konnten alle Dörfer in kurzer Zeit erreichen, selbst nach Neuruppin war es nicht weit. Wir sind oft nach Wallitz oder Rägelin zum Tanzen gefahren.

Himmelfahrt Dings mit dem Fahrrad durch die Heide nach Boltenmühle und Bienenwalde. Damit verbinde ich schöne Erinnerungen. Mit meiner Mutter ging ich auch Blaubeeren pflücken. Sie wuchsen bis an die Weheberge. Auch Pilze haben wir viel gepflückt. Für kurze Zeit habe ich im Wald gearbeitet, in Dünamünde und Hammelstall. Dann kam das Aus für den Wald mit Raupenfraß und großen Bränden. 1950 fingen wir wieder an, den Wald aufzuforsten, aber leider nicht lange. Unsere schöne Heide wurde russischer Schießplatz.

Wir wünschen uns wieder so eine schöne Heide, wie früher.

aus den Erinnerungen von Rudolf Heiler, Gadow 1996 40 Jahre lang waren die Gemeinden im Oetzigen) Kreis Ostprigniz-Neuruppin durch den sowjetischen Schießplatz voneinander getrennt. Jetzt könnte die Wittstock-Ruppiner Heide eine Modellandschaft im Sinne der „Agenda 21″ von Rio werden, mit Windpark und „sanftem Tourismus“, wäre da nicht die Bundeswehr, die die Landschaft weiter zerbomben will, um Kampfeinsätze in aller Welt zu üben.

zum Anfang | Ganz Gallien?

Mani Stenner

Vielleicht hätte Verteidigungsminister Rühe bei den Versprechungen bleiben sollen, keine Militärstandorte der früheren Sowjetarmee in den neuen Bundesländern für die Bundeswehr zu übernehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich am zähen Widerstand der Bürgerinitiativen im Kreis Ostprignitz-Ruppin die Zähne ausbeißt – wenn wir alle noch ein bißchen helfen!

Dabei muß man mit unterdrücktem Zorn konzidieren, daß sich Rühe und die Bundesregierung bisher bei der politischen Durchsetzung der Erweiterung der Bundeswehraufträge hin zur militärischen Absicherung einer immer offener agierenden deutschen Machtpolitik nicht ungeschickt angestellt haben. Wir haben uns ja fast schon an deutsche Truppen bei allen möglichen Einsätzen im Ausland gewöhnt. Doch war es ein langer und in Salamitaktik geschickt angelegter Weg, der vom parteiüberpreifenden Konsens einer Beschränkung auf reine Landesverteidigung zu einer neuen Bundeswehr für interessengeleitete Einsätze in aller Welt bis zur Ausweitung des westlichen Militärbündnisses NATO auf das Gebiet des ehemaligen Ostblocks führt. Jetzt wird ungeniert das Recht des Stärkeren exekutiert. Friedensgruppen hatten vor diesen Weiterungen schon gewarnt, als über nach außen immer streng humanitär begründete Missionen der Bundeswehr (Sanitätssoldaten in Kambodscha – die „Engel von Phnom Pen“ -, Minensuchboote im Persischen Golf, der mißglückte Einsatz in Somalia und die verschiedenen Beteiligungen im ehemaligen Jugoslawien) dieser Weg eingeleitet wurde. Jetzt ist es so weit, daß gar ein Teil der Bündnisgrünen diesen Weg in die Sackgasse militärischer Machtpolitik mit einem eigenen Antragsentwurf pro NATO-Osterweiterung absegnet.

Aber noch ist nicht ganz Gallien vom Imperium besiegt. Gerade in den neuen Bundesländern gibt es weniger Lethargie und Resignation vor der Arroganz der Macht, als sich Rühe und die Bundeswehrstrategen das vorgestellt haben. Menschen, die im Kalten Krieg unter massiver sowjetischer Militärpräsenz viel aushalten mußten, wollen sich jetzt von der Bundeswehr nicht ähnlichen Bombenabwurfs-, Truppenübungs- und Tiefflugterror gefallen lassen. Sie wollen ihre Heimat aufbauen und vor Zerstörung bewahren. Sie handeln nicht nach dem St. Florians-Prinzip, sondern sie protestieren auch dagegen, wozu in ihrer Heimat Krieg geübt werden soll. Sie haben dabei ähnliche Probleme wie die aktiven Friedensgruppen überall, zu viel Arbeit für zuwenig Aktive, ein scheinbar übermächtiger Gegner, massive Geldsorgen und die stete Mühsal, politisch, insbesondere durch Verankerung in der öffentlichen Meinung in der Region, Oberwasser zu behalten.

Das Bombodrom Wittstocker Heide steht nicht nur für regionale Umwelt- und Entwicklungszerstörung, sondern ist eindringliches Beispiel für die Vorbereitungen und Übungen der BW-Luftwaffe für künftige out-of-area-Kampfeinsätze. Der Widerstand an den „Stationierungsorten“, wo die offensive Orientierung am sichtbarsten ist, ist für alle in der Friedensbewegung Engagierten von höchster Bedeutung. Es wäre wirklich nicht nur symbolisch, wenn es uns in der FREIen HEIDe gelänge, dem Militär den Boden zu entziehen.

zum Anfang | Freie Heide im Überblick: Ein Bombenabwurfplatz für die Bundeswehr

von Komitee für Grundrechte und Demokratie

Wir sind von lauter Freunden umzingelt“ und eine Bedrohung für das Staatsterritorium der Bundesrepublik ist nicht in Sicht – so heißt es einmütig in allen Bedrohungsanalysen bis hin zum Minister der Verteidigung. Dennoch will die Bundeswehr in der Region Ostprignitz-Ruppin – südlich der mecklenburgischen Seenplatte im Norden des Landes Brandenburg – einen 142qkm großen Übungsplatz für Bombenabwürfe einrichten. Die Bundeswehr will hier Tiefflieger-Angriffe üben, bei denen die Maschinen bis zu 30 m Tiefe herunterkommen, um ihre mitgeführten Bomben abzuwerfen oder Raketen abzuschießen. Für dieses sog. Bombodrom sind pro Jahr rund 3.000 Einsätze geplant. Ein Einsatz umfaßt etwa 12 einzelne Tiefsturzflüge. Es handelt sich also in Wirklichkeit um 36.000 Anflüge. Auf der Liste der Waffen, die auf dem neuen Manöverplatz eingesetzt werden sollen, stehen u.a.: Bomben, Lenkflugkörper, Raketen, Artilleriewaffen, Bordkanonen, Maschinengewehre, Panzer-Abwehrwaffen, Handgranaten. Der Kerosinverbrauch der Kampfflugzeuge kostet pro Tag 80.000,- DM. Wochentags soll tags und nachts geschossen werden, in Ausnahmefällen sogar an Wochenenden. Den Terror, den diese Tiefflugübungen auf die anwohnende Bevölkerung ausüben werden, kann man sich kaum ausmalen. Langfristige und schwerwiegende gesundheitliche Schädigungen sind vorprogrammiert. Die unerträgliche Lärmbelästigung durch Tiefflüge kann zu Kreislaufproblemen, Angstzuständen, Hörstürzen u.a.m. führen. 6.000 Menschen wohnen unmittelbar in den Dörfern am Rand des Bombodroms, etwa 30.000 in den Städten rundum.

40 Jahre Kriegsübungs-Terror durch die Rote Armee

Die betroffene Bevölkerung rund um das Bombodrom ist gebeutelt genug. Nach dem 2. Weltkrieg hatte die Rote Armee dieses Gelände besetzt, die Gemeinden und Bauern enteignet und über 40 Jahre lang Krieg geübt. Eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands wurde zu einer zerbombten und ausgebrannten Region. Die Bürgerinnen und Bürger in den anliegenden Ortschaften wurden über diese ganze Zeit mit Schlachtenlärm terrorisiert. Immer wieder kam es zu Unfällen, wie z.B. zu Bombeneinschlägen auf Objekte, die außerhalb des Platzes gelegen sind. Zudem ist das Gelände ökologisch tiefgreifend geschädigt, der Grundwasserspiegel wegen des zerstörten Waldes abgesunken.

Widerstand der Bürgerinitiative FREIe HEIDe

Nach Bekanntwerden der Pläne der Bundeswehr gründete sich vor Ort – rund um das Bombodrom – eine Bürgerinitiative (BI) FREIe HEIDe. Am 15.08.1992 fand der erste große Protestmarsch mit rund 4.500 Personen statt – für diese gering besiedelte Region eine sehr hohe Beteiligung. Seitdem kämpft die BI gegen die erneute militärische Nutzung des Geländes und streitet für eine zivile Umwidmung. An den 40 Protestwanderungen durch das Gelände, die bis Ende 1996 stattfanden, haben rund 48.000 Menschen teilgenommen. In den Orten rings um das Gelände wurden Mahnsäulen errichtet. Eine umfassende Ausstellung dokumentiert den Protest der Bürgerinnen. 40.000 Unterschriften gegen das Bombodrom wurden dem Verteidigungsministerium übergeben. Bei der Landesregierung Brandenburg wurde Solidarität mit den anwohnenden Bürgerinnen und Bürgern eingefordert. 1996 fand der bundesweit größte Ostermarsch in der FRElen HEIDe statt.

Ökologische Alternativen werden verhindert

Die Region eignet sich ideal, um z.B. für einen sanften Tourismus genutzt zu werden, auf dem Platz ließen sich ökologische Modellprojekte einrichten. Der Umweltforscher Knut Krusewitz, der verschiedene Projektstudien zu dieser Region erstellt hat, spricht von der Möglichkeit, hier ein Biosphären-Reservat als Beispiel einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung aufzubauen. Gemäß der UN-Erklärung von Rio (1992) haben die Menschen ein Recht auf ökologische Entwicklung. Ein Kriegsübungsgelände ist mit einer solchen Entwicklungsperspektive nicht vereinbar.

Angst vor Arbeitslosigkeit soll Widerstand ersticken

Die Bundeswehr versucht in letzter Zeit verstärkt, das Arbeitsplatz-Argument in die Waagschale zu werfen und die Menschen der Region damit zu ködern. Wittstock soll eine Garnisonsstadt werden. Dadurch würden angeblich viele Arbeitsplätze geschaffen. In einer Region mit rund 23 % Arbeitslosigkeit ein verlockendes Angebot. Für die ersten 30 Arbeitsplätze bei der Bundeswehr bewarben sich 700 Personen. Die Bundeswehr stellte etwa aus jedem der umliegenden Dörfer einen Bewerber ein, um die ersten Spaltpilze in die Familien der Dörfer zu tragen. Es gibt sogar eine „Initiative Pro Bundeswehr“, die sich die Argumente der Bundeswehr zu eigen gemacht hat und sich für das Bombodrom einsetzt. Vor allem in Wittstock ist der Widerstand zu einem Teil aufgegeben worden. Das Arbeitsplatzargument ist jedoch nicht stichhaltig. Eine alternative ökologische Nutzung des riesigen Geländes, die Wiederaufforstung und die Umgestaltung der Gesamtregion zu einem touristisch attraktiven Erholungsgebiet würden langfristig viel mehr Arbeitsplätze schaffen und den ganzen Landkreis Ostprignitz-Ruppin wirtschaftlich wiederbeleben. Einige der Wirtschaftsbetriebe der Region haben dies auch erkannt und sich – neben der BI FREIe HEIDe – zur „Initiative Pro Heide“ zusammengeschlossen. Sie setzen sich vor allem aus ökonomischen Motiven für die zivile Nutzung des Geländes ein, die jedoch durch das drohende Bombodrom bislang verhindert wird.

Bombodrom vor Gericht

Neben Protestmärschen und Öffentlichkeitsarbeit hat die BI auch eine gerichtliche Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. 16 Ortsgemeinden, Kirchengemeinden und Privatpersonen haben sich zusammengetan und mit dem Ziel geklagt, daß der Bundeswehr die weitere Nutzung des Platzes untersagt werde. Ferner wird gerügt, daß bestehende Vorschriften zur Einrichtung von Manövergebieten nicht eingehalten wurden und der Einigungsvertrag verletzt worden sei. Ende August 1996 gab das Verwaltungsgericht Potsdam den Klägern weitgehend recht. Im Urteil wird der Bundeswehr auferlegt, vor der Platznutzung ein Planfeststellungsverfahren durchzuführen, bei dem das Landbeschaffungs- und Schutzbereichsgesetz zu berücksichtigen sind. Die Betroffenen können nach diesen Gesetzen Einsprüche erheben, die alle zu prüfen sind. Abwägungen müssen getroffen werden usw. All diese Erfordernisse hatte die Bundeswehr zu umgehen versucht, indem sie sich die Enteignung durch die Rote Armee selbst zu eigen machte.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Potsdam hat das Verteidigungsministerium Berufung eingelegt. Es will die eigenen Ansprüche gegen die Gesetze und gegen etwaige Einsprüche der Bevölkerung selbstherrlich durchsetzen. Auch die Klägerinnen selbst haben Berufung eingelegt, da das Gericht ihrem weitergehenden Antrag auf generelle Untersagung einer Nutzung seitens der Bundeswehr nicht gefolgt ist. Deshalb sind schon in der 1. Instanz für die BI hohe Prozeßkosten entstanden. Für die 2. Instanz benötigt die BI jetzt 80.000,- DM, die durch Spenden eingeworben werden müssen – hier ist ein erster konkreter Akt der Solidarität nötig!

Tiefflieger und Bombenabwürfe – wofür?

Welche Politik steht hinter den Plänen der Bundeswehr, diesen riesigen neuen und zusätzlichen Bombenabwurfplatz einzurichten? Für Zwecke der Landesverteidigung sind diese Übungen nicht nötig, da es keine Bedrohung mehr gibt. Der Warschauer Pakt ist aufgelöst. Allerdings hat sich die NATO nicht aufgelöst. Sie will nun zur Interventionsmacht außerhalb ihrer Grenzen werden. Statt in Richtung Osten geht die Orientierung der NATO und damit auch der Bundeswehr nun in Richtung Süden. Die neuen Konfliktszenarien konstruieren einen Spannungsbogen von Marokko bis Kasachstan. Sicherheitspolitik bedeutet gemäß den offiziellen neuen Dokumenten von Bundeswehr und NATO nicht mehr Landesverteidigung, sondern Bekämpfung von Krisen und Konflikten, die eine Bedrohung für die Interessen der reichen Länder darstellen könnten: Sicherung von Rohstoffen, Märkten und Wirtschaftswegen weltweit sowie letztlich auch die Verteidigung des Wohlstandes der sog. 1. gegen die sog. 3. Welt. Deshalb üben die Armeen der NATO nicht mehr die Bekämpfung potentieller Feinde an den Landesgrenzen, sondern sie üben Kriegseinsätze auf möglichen Kriegsschauplätzen fern der NATO-Länder. Dies ist der Kern der neuen „out-of-area“-Orientierung (außerhalb des Gebietes der vom NATO-Vertrag umfaßten Länder) von NATO und Bundeswehr.

Deshalb baut die Bundeswehr neue Krisenreaktionskräfte mit einem Umfang von ca. 50.000 Mann auf, die als Eliteeinheiten mit modernster Bewaffnung für solche Kriegsszenarien ausgebildet werden. Die Bundeswehr fordert also Übungsplätze für neue Formen der Kriegsführung – wie wir sie erstmals im Krieg der Alliierten am Golf 1991 erlebt haben. Damals war die Bundesrepublik nur mit einem Scheck von 18 Milliarden DM beteiligt. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht (1994) die Verfassung uminterpretiert. Während früher bis hin zu Kanzler Kohl Einigkeit darüber bestand, daß Bundeswehreinsätze, die nicht der Verteidigung dienen, vom Grundgesetz verboten sind, ist diese Verfassungsnorm nun auf den Kopf gestellt worden. Die neuen Strategien von NATO und Bundeswehr, denen gemäß nun Kriege in aller Welt mit Bundeswehrbeteiligung möglich sind, wurden nicht einmal im Parlament, geschweige denn in der Bevölkerung breit vorgestellt und diskutiert. Dies ist ein beängstigender Beitrag der Militärpolitik zur Entdemokratisierung der Bundesrepublik.

Wir brauchen eine andere Politik: Frieden durch Gcrechtigkcit

Die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist schnell verflogen. Wir sehen heute: die Schere zwischen Reich und Arm geht immer weiter auseinander, sowohl in unserem Land, erst recht aber weltweit. Die 358 reichsten Personen der Welt besitzen heute genausoviel wie die ärmsten 459b der Menschheit (also etwa 2,3 Milliarden Menschen), wie der neueste Bericht der UN-Entwicklungsbehörde mitteilt. Hunger und Elend sind nach wie vor weltweit verbreitet. 800 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen; 500 Millionen sind chronisch unterernährt.

Immer deutlicher spüren auch wir, wie der Sozialstaat Schritt für Schritt abgebaut wird. Die Zahl der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Ausgegrenzten nimmt zu – gleichzeitig steigen die Gewinne der Unternehmen immens. Der innergesellschaftlichen Spaltung in unserem Land entspricht die Nord-Süd-Spaltung im Weltmaßstab. Was bedeutet es, wenn die reichen Länder diese Spaltung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch absichern wollen? Wessen Reichtum soll die Bundeswehr in aller Welt verteidigen? Etwa den der 358 Multimilliardäre? Wir leben in weltwirtschaftlichen Strukturen, die so sehr vom Egoismus der Reichen bestimmt sind, daß die Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Statt diese Herrschaftsstrukturen nun noch militärisch abzusichern, sollten wir lieber alle unsere Kräfte auf die Frage konzentrieren, wie wir zu gerechterer Verteilung von Gütern, Lasten und Chancen beitragen können. Genügend Ansatzpunkte sind vorhanden:

– Wirtschaftsstrukturen müssen demokratisiert werden;

– zwischen Nord und Süd muß es einen Ausgleich geben, beginnend mit einem umfassenden Schuldenerlaß;

– Rüstungsexporte sind zu beenden;

– der Verschleuderung der Ressourcen künftiger Generationen durch immer schnellere Produktion und Konsumption muß durch eine neue Wirtschaftsweise Einhalt geboten werden;

– durch Projekte und Partnerschaffen zwischen Nord und Süd können Umorientierungen beispielhaft praktiziert werden. Nur durch Gerechtigkeit kann wirklicher Frieden geschaffen werden!

Konflikte gewaltfrei bearbeiten

Auch nach einer Veränderung der Weltwirtschaftsordnung gäbe es immer noch Konflikte. Daß sich Konflikte jedoch nicht mit kriegerischer Gewalt lösen lassen, sondern auf diese Weise immer erneut Gewaltstrukturen etabliert werden, können wir hundertfach aus der Geschichte lernen. Sollen wir trotzdem immer weiter auf solche (selbst)mörderische militärische Strategien und Mittel setzen? Friedensbewegung und Friedensforschung haben seit langem Konzepte der zivilen Konfliktbearbeitung und des gewaltfreien Widerstandes gegen Unrecht erarbeitet, die auch erfolgreich angewandt wurden. Das Konzept der zivilen Konfliktbearbeitung, das die Prävention, die Deeskalation und die Konfliktnachsorge umfaßt, kann in allen Phasen einer Krise angewandt werden. Nur machen sich die Staaten solche Konzepte nicht zu eigen, weil sich mit diesen Mitteln nicht die Ziele, die mit der Militärpolitik aktuell verfolgt werden, verwirklichen lassen. Deshalb muß mit Elementen ziviler Konfliktbearbeitung und humanitärer Hilfe von unten begonnen werden, wie es etwa das Komitee für Grundrechte und Demokratie – neben vielen anderen Friedensgruppen – ansatzweise während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien getan hat – und nachsorgend noch tut. Hier einige Beispiele:

– Partnerschaften mit den Kräften, die sich für Frieden engagieren;

– Unterstützung von Medien, die gegen den Haß arbeiten und Feindbilddenken unterlaufen;

– Unterstützung von und Werbung für Kriegsdienstverweigerung und Desertion;

– humanitäre und medizinische Hilfe für die Opfer des Krieges;

– Hilfe für Flüchtlinge;

– Gewinnen der Bevölkerung für Alternativen und für Versöhnung;

– Überzeugungsarbeit durch mediale Öffentlichkeitsinterventionen

Dabei muß es das Ziel sein, auch Kirchen, Gewerkschaften, Kommunen, Länder, Staatsregierungen und internationale Institutionen für eine Politik der zivilen Konfliktbearbeitung zu gewinnen.

Wir brauchen kein Bombodrom – Widerstand ist notwendig

Das Bombodrom in der Region Ostprignitz-Ruppin geht nicht nur die dort wohnenden Bürgerinnen und Bürger etwas an, sondern alle Bundesbürgerinnen und -bürger. Wie in einem Brennglas zeigt sich hier die Umorientierung der Bundeswehr zu einer modernen Interventionsarmee gemäß dem out-of-area-Konzept der NATO. Dieser Politik gilt es sich zu verweigern. Herrschende Politik will auf dem Bombodrom üben, wie künftig tödliche Bomben noch genauer ihr Ziel treffen können – stattdessen wollen wir lernen, wie das Brot zu den Hungernden kommt, d.h. wie eine Weltwirtschaft dafür Sorge trägt, daß die Mittel zum Leben gerecht produziert und verteilt werden. Nur so können wir verhindern, daß eines Tages auch Deutschland wieder zum Kriegsschauplatz wird.

zum Anfang | „Mord auf Raten“

von Annemarie Friedrich

Was das Leben neben dem russischen Schießplatz 40 Jahre lang für die AnwohnerInnen bedeutete und den Zorn der Menschen in der FREIen HEIDe gegen die neue Okkupation macht Annemarie Friedrich, „die Großmutter der FREIen HEIDe“' mit oft drastischen Worten deutlich. Wir zitieren aus ihrem Bericht beim Friedensratschlag vom Dezember 1996 in Kassel:

„Hier in dieser Region geht es um einen Mord auf Raten, nämlich um ein Aus nach dem anderen: Aus mit dem Segelflug in Berlinchen, mit Musikakademie, Schloßkonzerten und Kammeropern in Rheinsberg und dem Kulturzentrum Temnitzkirche Netzeband, mit der Reha-Klinik in Dorf Zechlin (ein Therapiezentrum mit Weltgeltung!), mit Hotelbauten, Feriendörfern, Wasser- und Sporteinrichtungen, mit der Öko-Ranch Zempow durch Verseuchung von oben, um nur einiges zu nennen. Investoren springen schon jetzt ab. Die Jugend muß abwandern.

Nur wenige Flugsekunden liegt das Bombodrom entfernt von 46 Anrainerdörfern und den Städten Rheinsberg, Wittstock, Neuruppin und Kyritz, nur wenige Flugminuten von Berlin, Potsdam und Brandenburg.

Zeitlich vor der Errichtung des Bombodroms war dieser Waldabschnitt am 1. Mai 1945 der Platz eines grauenvollen Massakers an Flüchtlingen, überwiegend Frauen, Kinder und alte Leute mit ihren Pferdewagen und ihren letzten Habseligkeiten. Noch leben Zeugen, die damals die Menschen- und zerfetzten Pferdeleiber eingruben. 40 Jahre lang flogen dort dann die Skelette bei den Bombeneinschlägen in die Luft. Und genau dort ist das Europäische Großbombodrom von dem „Christen“ Rühe geplant.

Und die Krone des Wahnsinns soll gegebenenfalls noch ein Atommüllager im Anrainerdorf Netzeband werden. Schlußfolgerung: Für alles, was in Bonn beschlossen wird, sind wir der Dreckabladeplatz. Eine gekonnte Konkurrenzausschaltung dieses schönen Landes, einst besonders geschätzt von Fontane, Knobelsdorff, Schinkel, Friedrich II, Tucholsky! Also immer drüber, auch über das ausgeschaltete Atomkraftwerk Rheinsberg, in dem nach wie vor strahlendes Material in ungeschützten Kellern lagert, immer drüber mit Jagdbombern, mit giftigem Kerosin-, Benzol- und Kohlenwasserstoffausstoß. …“

Annemarie Friedrich ist Vorstandsmitglied der BI FREIe HEIDe und Senioren des Kreistags Ostprignitz-Ruppin

zum Anfang | Der Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock
Ökologische, militärchemische und nutzungsalternative Aspekte

von Knut Krusewitz

1. Ökologische Aspekte

Das von der Bundeswehr 1994 widerrechtlich besetzte rund 14000 Hektar große ehemalige sowjetische Militärgebiet liegt in der Wittstock-Ruppiner Heide, einer Teillandschaft der Nordbrandenburgischen Sandflächen und Lehmplatten.

Naturräumlich wird das Areal im Norden durch die kiesige Endmoräne der Fürstenberger Platte geprägt, im Zentrum herrscht ein großer, flachwelliger Sander vor, und der südliche Teil wird durch die Ruppiner Grundmoränenplatte mit ihren leicht welligen Talsandflächen gebildet.

In diesem Gebiet herrschten ursprünglich Laubmischwaldgesellschaften als natürliche Vegetationsform vor.

Die heutige Vegetation ist Resultat einer über Jahrzehnte andauernden militärischen Nutzung, zunächst als Panzer- und Artillerieschießplatz, später zusätzlich als Luft-Bodenschießgebiet für die Luftwaffe. Wegen der Besonderheiten der militärischen Landnutzung – aus Sicherheitsgründen wurden bestimmte Bereiche des Kriegsübungsgebietes entweder gar nicht oder nur extensiv genutzt – stellt sich heute der ökologische Befund widersprüchlich dar.

So entwickelten sich durch den Militärbetrieb nicht nur große Flugsandflächen, Aufschüttungen und Bodenumlagerungen, sondern in dem von Wald völlig entblößten Zentrum auch großflächige Calluna vulgaris- und Sarothanmus scoparius – Heiden, deren landeskulturelle Bedeutung für Brandenburg beachtlich ist.

Professionelle Naturschützer beurteilen den Naturschutzwert dieses vormaligen Kriegsübungsgebietes in einer „Biotopkartierung“ zusammenfassend so:

Dies Gebiet hat „einen hohen ökologischen Wert, denn es birgt in sich eine Vielzahl wertvoller Biotope, die durch die herrschenden Bedingungen eng miteinander verbunden sind. Sie bieten einer Vielzahl von Arten Schutz, Nahrung und Lebensraum. Auch die Großflächigkeit und Nährstoffarmut des Gebietes sowie die sich daraus ergebende Bedeutung als Versickerungsraum zur Bildung hochwertigen Grundwassers sind wertbestimmend. Darüber hinaus wird der Wert des Gebietes durch das Vorkommen einer Anzahl geschützter Tiere, Pflanzen und Pflanzengesellschaften unterstrichen.“ (Institut für Ökologie, 1993, S. 34)

In diese Biotopanalyse wurden allerdings die militärisch verursachten Altlasten nicht einbezogen. Ein schwerwiegender Fehler, denn dies ehemalige Militärgelände ist erheblich kontaminiert, wodurch sein ökologischer Wert enorm geschmälert wird. Dieser Wertverlust ließe sich allenfalls durch ein aufwendiges Sanierungs- und Rekultivierungsprogramm ausgleichen.

2. Militärchemische Aspekte

Militärchemische Altlasten finden sich auf allen Truppenübungs-, Schieß- und Bombenabwurfplätzen. In einem regierungsamtlichen Altlastenbericht über das frühere ostprignitzer Militärgelände heißt es dazu:

„Ausgehend von einer sehr intensiven Munitionsbelastung und militärischen Nutzung seit mehr als vierzig Jahren ist es erforderlich, ca. 3/4 der Gesamtfläche einer Reihe spezifischer Untersuchungen des Bodens und des Grundwassers auf Folgen des Militärbetriebes zu unterziehen (z.B. Sprengstoffe und Sprengstoffmetaboliten, Schwermetalle wie Hg, Pb, Cu, Zn, Cd). In diese Untersuchungen sollten sowohl Boden- als auch Grundwasseranalysen einbezogen werden.“ (IABG, 1993, S. 56)

Was sind militärchemische Altlasten und welche Bedeutung haben sie für unser Thema?

Militärchemische Altlasten resultieren aus Inhaltsstoffen chemischer Waffen und konventioneller Kampfmittel. In unserem Fall sind allerdings nicht „chemische“, sondern „konventionelle Kampfstoffe“ von Interesse. Es handelt sich dabei um Treib-, Spreng- und Zündstoffe, um Brandmittel sowie um Nebel- und Rauchmittel. Bei ihren Rückständen – beispielhaft TNT – handelt es sich um umfangreiche, weit verzweigte und toxikologisch oft mehrfach stark wirksame chemische Schadstoffgruppen.

Militärchemische Stoffe besitzen umwelt- und gesundheitsgefährdende Eigenschaften, weil sie „nach speziellen taktischen Erfordernissen des Militärs zur gezielten Schädigung oder Zerstörung des menschlichen Organismus und der gebauten oder natürlichen Umwelt entwickelt wurden.“ (SRU, 1995, S. 171)

Militärchemische Altlasten sind für unser Thema aus umwelttoxikologischen, sanierungsplanerischen, regionalpolitischen und nicht zuletzt aus pazifistischen Gründen bedeutsam. (Krusewitz, 1996 a)

Der regierungsnahe Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) argumentiert, daß militärchemische Stoffe in der Regel „über die akut schädigende Wirkung hinaus in mehrfacher Hinsicht chronisch toxische sowie umwelttoxische Eigenschaften (Kanzerogenität, Mutagenität, Teratogenität) aufweisen“ und daß ihre „Abbauprodukte oft gleich toxisch oder sogar stärker toxisch sind als die Ausgangs- beziehungsweise Zielsubstanzen (Toxizitätszunahme infolge der Abbauvorgänge).“

Zudem handle es sich bei ihnen um naturfremde organische Stoffe. Ihr naturfremder Charakter „äußert sich in begrenzter Bioabbaubarkeit oder als Hemmstoff beim Bioabbau, was das jahrzehntelange Verbleiben dieser Stoffe einschließlich ihrer Metaboliten in Boden und Untergrund mitbedingt.“

Deshalb stellte der Umweltrat fest: „All diese Eigenschaften sind sanierungsrelevant.“ (SRU, 1995, S. 174)

Die Forderung nach Detektion und Sanierung der militärchemischen Altlasten auf dem ostprignitzer Militärareal ist auch dann unaufgebbar, wenn Sanierungsziele von dessen zukünftiger Nutzung abhängig gemacht werden. Darauf komme ich gleich zurück.

Denn für diese frühere Militärlandschaft gilt allemal, was MitarbeiterInnen des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie (ICT) kürzlich für vergleichbare Flächen ermittelten:

„TNT ist in hohem Maße giftig, krebserzeugend und mutagen, verändert also die Erbsubstanz. Gelände ehemaliger Truppenübungsplätze und Sprengstoffbetriebe, die nun brachliegen, sind oft so stark damit kontaminiert, daß sie landwirtschaftlich nicht mehr zu nutzen sind.“ (Bunte u.a., 1996, S. 102)

Diese Eigenschaften sind aber vor allem relevant für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen in der Ostprignitz. Denn die Beurteilung der von militärchemischen Altlasten ausgehenden Umwelt- und Gesundheitsgefährdung hängt nach Auffassung selbst der Bundesregierung weniger von der in den Böden enthaltenen Schadstofflast ab, sondern wesentlich von der Exposition über die fünf wichtigsten Gefährdungspfade, also Luft, Oberflächen- und Grundwasser, Boden sowie Nahrungsmittelkette. (Deutscher Bundestag, 1990, S. 23)

Über solche toxikologischen Wirkungspfade in der Region wissen wir noch immer zu wenig.

3. Konversionsaspekte

Die Leitlinien für Konversion im Land Brandenburg von 1992 erklären dies Programm zu einer „gesamtgesellschaftliche(n) Gestaltungsaufgabe im Schnittpunkt von Friedens-, Abrüstungs-, Wirtschafts-, Umwelt-, Regional-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Kulturpolitik“, die nur im „Zusammenwirken von EG, Bund, Ländern und Gemeinden bewältigt werden“ könne. Diese definitorische Bestimmung verweist, wenngleich abstrakt, auf die Vielschichtigkeit der praktischen Probleme einer Konversion des ostprignitzer Kriegsübungsgebietes. Erschwerend kommt hinzu, daß dies Gebiet streitig ist.

Über zivile Nutzungsalternativen entscheiden vorrangig die Anrainergemeinden in Übereinstimmung mit landesplanerischen Vorgaben. Sie können aufgrund ihrer Planungshoheit bereits heute alternative Zweckbestimmungen der Militärfläche durch ihre jeweilige Bauleitplanung festlegen.

Von erheblicher Bedeutung für diese Gemeinden sind daher Informationen einerseits über Militäraltlasten, Sanierungsbedarf und Landbeschaffungsinteressen der Bundeswehr sowie anderseits über Möglichkeiten der geordneten kommunalen Entwicklung, Zielrichtung der nachmilitärischen Raumnutzungsstruktur, Finanzierungs- und Fördermittel.

Verbindliches Ziel der Konversion ist die Wiederherstellung der Kulturlandschaft Ostprignitz. Danach erst kann das zivile Potential dieser Region entwickelt werden, schaffen intakte Natur, gepflegte Landschaften und Wälder die Grundlage für funktionierende Dörfer, den Erhalt und die Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze, den Ausbau umweltgerechter Formen der regionalen Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung.

Konversionsplanerisch sind dabei von den Gemeinden sowohl die Fragen des Bedarfs, des geeigneten Standortes, des Umfangs der nichtmilitärischen Bodennutzung als auch die Grundzüge der Erschließung und Standortgestaltung zu lösen. Dieser Entscheidungsprozeß bedarf eines Planwerkes und eines geregelten Planfeststellungsverfahrens, der „Flächennutzungsplanung“. (Hinzen u.a., 1995)

Die ostprignitzer Anrainergemeinden können aus unschwer erkennbaren Gründen weder die Altlastensanierung noch den gesamten Konversionsprozeß ohne erhebliche Hilfen von Kreis, Land und EU beginnen. Aber bereits hier und heute müssen wir verhindern, daß der Konversionsprozeß in eine falsche Richtung startet.

Aus gegebenem Anlaß befürchten wir nämlich, daß militärische Folgeprobleme in strukturschwachen ländlichen Regionen wie der Ostprignitz „passiv saniert“ werden sollen. So behaupten der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), der Deutsche Rat für Landespflege, aber auch der Bund Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) neuerdings, in strukturschwachen Räumen bestünde „nur ein geringes wirtschaftliches Nutzungsinteresse“ an freiwerdenden militärischen Flächen, weshalb sie „im allgemeinen nicht für Zwecke der Siedlung oder Wirtschaft“ erschließbar seien. Aus diesem Grund sehen sie beispielsweise „Truppenübungsplätze als bedeutende Potentiale für den Naturschutz“ an.

Gemeinden, die aus finanziellen Gründen solche Militärareale nicht „verwerten“ können, sollen sie als „Vorrangflächen für den Naturschutz“ sichern. (SRU, 1995, S. 197) Ohne finanzielle Ausgleichszahlung, versteht sich.

Diese Empfehlung führt nicht zufällig „zu der Überlegung, von Altlasten betroffene Flächen“ wie das ostprignitzer Kriegsübungsgebiet „Naturschutzzwecken zu widmen“, und zwar mit dem erklärten Ziel, „die Altlasten nicht (!) zu sanieren.“ (SRU, 1995, S. 73) Sie sollen also passiv saniert werden.

Sollten Anrainergemeinden, Kreis und Land sich für diese Nutzungsalternative entscheiden, dann werden die brisanten militärchemischen Altlasten auch dann nicht saniert, wenn die Bundeswehr das Gelände förmlich freigibt. Es ist nämlich absehbar, daß mangelnde öffentliche und private Nachfrage nach großen Grundstücken, kommunale Finanzmittelknappheit sowie ungeklärte militärische Altlastenprobleme sie zwingen werden, die Option „Sanierung durch Naturschutz“ zu akzeptieren.

Angesichts der skizzierten regionalen Konversionsanforderungen büßen tradierte friedenspolitische Empfehlungen und Kooperationsformen ihre Überzeugungskraft ein. Die Friedensbewegung steht indes nicht nur in der Ostprignitz vor der schwierigen Aufgabe, rasch ein aufklärerisches Verständnis von sozialgerechter, naturverträglicher und nachhaltiger regionaler Friedensarbeit zu entwickeln, das sie befähigen würde, neue friedenspolitische Bündnisse zu stiften sowie neue pazifistische Kooperationsformen zu erproben.

Schließlich „herrscht“, wenn das Militär eine Region verlassen hat, nicht Frieden. (Krusewitz, 1996 b, S. 3-24) Deshalb ist es so verdammt schwer, die Frage nach der „pazifistischen Alternative“ in der Ostprignitz empirisch gehaltvoll zu beantworten.

Literatur

Altner, Günter u.a., Hrsg., Jahrbuch Ökologie 1993, München 1992
Bunte, Gudrun u.a., Detektion von Explosivstoffen, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 8 (August) 1996
Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/6972 vom 26. April
Hinzen, Hajo u.a., Umweltschutz in der Flächennutzungsplanung, Wiesbaden, Berlin 1995
IABG (Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft), Ermittlung von Altlasten-Verdachtsflächen auf den Liegenschaften der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGT): Ergebnisbericht Truppenübungsplatz Wittstock, unveröffentl. Bericht, Berlin 1993
Institut für Ökologie und Naturschutz, Biotopkartierung und Einschätzung des Naturschutzwertes militärischer Übungsgelände: Truppenübungsplatz Schweinrich/Gadow, unveröffentl. Bericht, Gosen 1993
Krusewitz, Knut (a), Warum ist militärchemische Altlastensanierung ein pazifistisches Thema? Der Hall des Truppenübungs- und Schießplatzes Wittstock, Weyhers 1996
Krusewitz, Knut (b), Rhöner Friedenswanderungen durchs UNESCO-Biosphärenreservat, in: Zeitschrift des Studienarchivs Arbeiterkultur und Ökologie Baunatal, Jg. 10, Juni 1996
SRU (Rat von Sachverständigen für Umwelttragen), Sondergutachten Altlasten II, Stuttgart 1995

zum Anfang | Gemeinden wehren sich

von Helmut Schönberg

Die Bundeswehr wird durch ihre Landnahme von den Menschen in der Wittstocker Heide nach den früheren Erfahrungen wie eine neue Besatzungsmacht erlebt. Vor Gericht gab es bisher nur einen Teilerfolg. Privatpersonen können demnach erst klagen, wenn Schäden durch den Bundeswehr-Übungsbetrieb real eintreten. Beim Planungsrecht der Gemeinden wird es eine neue Runde beim Oberverwaltungsgericht geben. Die Rechtskosten wurden bisher größtenteils den klagenden Bürgern und Gemeinden auferlegt. Die Situation aus Sicht der Gemeinden und den Zwischenstand im Rechtstreit vor den Verwaltungsgerichten beschreibt Helmut Schönberg, Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich, bei einer Sitzung im Kreistag:

Die Schießplatzproblematik beschäftigt unsere Menschen nun schon seit 50 Jahren, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Als die sowjetische Besatzungsmacht mit der Einrichtung eines Schießplatzes begann, ahnten die Menschen dieser Region damals noch nicht, daß damit die Heide für sie auf lange Zeit abgeriegelt werden sollte.

Der Kalte Krieg und der beginnende Ost-West-Konflikt waren der Hintergrund für eine fortlaufende Landnahme durch die sowjetische Besatzungsmacht. In der Heide wurde für den Ernstfall geübt. Die Panzer zerwühlten den Boden und der Lärm der Artillerie und der Bomber, die tausendfach Bomben über das Zielgebiet der Heide entluden, bestimmte den Alltag. Zu Beginn der achtziger Jahre wurden, als Antwort auf die Stationierung von Pershing II Raketen in Westdeutschland, SS 20 Raketen mit Atomsprengköpfen in die Heide gebracht. Und wieder brauchten die sowjetischen Militärs mehr Platz. Jetzt wurden sogar weite Teile mit Stacheldraht abgesperrt.

Die Heide war über die Zeit längst zu einem militärischen Faktum im Ost-West-Konflikt geworden. Die Interessen der hier lebenden Menschen blieben dabei auf der Strecke. Das System erlaubte keine Fragen und keinen Widerstand. Erst mit der Auflösung des Warschauer Vertrages und der Beseitigung des Ost-West-Gegensatzes keimte bei den Menschen wieder die Hoffnung auf eine friedliche Heide. Mit dem Vertrag zum Abzug der GUS im Jahre 1990 war das Ende der militärischen Nutzung in Sichtweite gerückt. Spontan bildeten sich Initiativen für eine zivile Nachnutzung: „Rettet den Dranser See“ und „Zweckverband der Anliegergemeinden“.

So wurde das LSG um den Dranser See von Militärmüll entrümpelt, Militärstellungen eingeebnet, Badestellen angelegt und die Wege um den Schießplatz instand gesetzt. Die Gemeinde Schweinrich hat für Rekultivierungsarbeiten auf dem ehemaligen Schießplatz im Bereich des Dranser Sees in den Jahren 1990-1991 ca. 50.000 DM aufgebracht. Weiterhin waren 8 Bürger 2 Jahre lang in der ABM-Maßnahme „Dranser See“ tätig und weitere 10 Bürger ein Jahr in der ABM-Maßnahme „Schießplatzwege“. In diesen beiden Maßnahmen wurden Werte in Höhe von 2 Mill. DM geschaffen. Im Jahre 1992 waren diese Aktivitäten deutlich sichtbar geworden: Badestelle bei Griebsee, Wanderweg um den Dranser See, Instandsetzung der Wege zwischen Zempow, Dranse, Schweinrich, Zootzen und Gadow.

Auf Veranstaltungen wurde über die zivile Nachnutzung diskutiert und Nutzungskonzepte entwickelt – Vertreter der Bundeswehr, der GUS-Streitkräfte und der Landesregierung Brandenburg machten uns Mut, für eine zivile Nachnutzung zu wirken. Die Bundeswehr erklärte im Jahre 1991 schriftlich, daß grundsätzlich keine ehemaligen sowjetischen Liegenschaften übernommen werden. Die Ankündigung im Juni 1992, den Platz doch zu übernehmen, stoppte unseren Elan vehement.

Es entwickelte sich eine friedliche Protestkultur, die mit dazu beigetragen hat, daß die militärische Nutzung bislang verhindert werden konnte. Auf über fünfzig Protestveranstaltungen bekundeten ca. fünfzigtausend Bürger ihren Willen gegen eine militärische Nutzung. Bürger beiderseits des ehemaligen Schießplatzes begegneten sich wieder und wir lernten unsere schöne Umgebung auf den Wanderungen neu kennen. Es entstand ein regionales Wir-Gefühl, nach vierzigjähriger Trennung durch den russischen Übungsplatz hatten sich die Menschen wieder etwas zu sagen.

Der ehemalige Landkreis Wittstock reichte eine Klage gegen die militärische Nutzung beim Verwaltungsgericht Potsdam ein, die dann auf den späteren Landkreis OPR erweitert wurde. Weitere Gemeinden, eine Kirchengemeinde und Privatpersonen schlossen sich der Klage an. Obwohl das Verwaltungsgericht unsere Klage teilweise abgewiesen hat, bin ich dem Verwaltungsgericht für die deutlichen Aussagen dankbar. Durch das Verwaltungsgericht wurde für Recht erkannt: „Es wird festgestellt, daß für die militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock durch die Beklagte (Bundeswehr) zu militärischen Zwecken ein förmliches Planungsverfahren nach § 1 Abs. 2,3 des Landbeschaffungsgesetzes erforderlich ist. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.“

In der Urteilsbegründung wurde weiter ausgeführt:

– Die Klägerin (Gemeinde Schweinrich) hat die maßgeblichen Grundlagen geschaffen, um eigenverantwortlich von ihrer Planungshoheit Gebrauch zu machen.

– Das Rechtsverhältnis ist streitig, weil Klägerin und Beklagte den vorliegenden Lebenssachverhalt in rechtlich relevanter Weise abweichend würdigen.

– Die Beklagte ist nämlich nicht berechtigt, derzeit das streitbefangene Gelände auf den Gemarkungsflächen der Klägerin als Truppenübungsplatz zu militärischen Zwecken zu nutzen.

– Wegen der Nähe des unbeplanten Innenbereiches der Klägerin zum streitbefangenen Gelände sind aufgrund des Aufstellungsbeschlusses über den Flächennutzungsplan Standortzuweisungen im Rahmen der Bauleitplanung der Klägerin denkbar, die mit der Nutzung des streitbefangenen Geländes als Truppenübungsplatz unvereinbar sind.

– Das streitbefangene Gelände ist zu militärischen Zwecken nicht (mehr) gewidmet, denn mit der Übergabe durch die sowjetischen Truppen und die Übernahme der Bundesfinanzverwaltung ist die auflösebedingte Entwidmung eingetreten.

– Die Beklagte ist schließlich nicht befugt, das streitbefangene Gelände aufgrund der Zustimmung des deutschen Bundestages zu dem Truppenübungsplatzkonzept des Bundesministers der Verteidigung militärisch zu nutzen.

– Abschließend stellt dasVerwaltungsgericht fest, daß die Unterhaltung einerfunktionsfähigen militärischen Landesverteidigung durch das geforderte Planungsverfahren nicht gefährdet ist. Angesichts einer verkleinerten Bundeswehr stehe ausreichend Übungsgelände zurVerfügung.

Die Gemeinde Schweinrich hat auf ihrer letzten Gemeindevertretersitzung einstimmig entschieden, in die Berufung zu gehen, weil die mögliche Inbetriebnahme des Luft-Boden-Schießplatzes ein in seinem Umfang noch nicht vorhersehbaren Eingriff in unseren Lebensraum darstellt. Bislang treibt die Bundeswehr mit ihrem Schießplatzkonzept ein Verwirrspiel. So erklärte der Platzkommandant im November 1995 den anwesenden Bürgermeistern das Schießplatzkonzept mit Schießbahnen für Panzer und Artillerie und vor dem Verwaltungsgericht in Potsdam erklärte die Bundeswehr, daß die Schießbahnen für Panzer und Artillerie entfallen. Zu den Flughöhen gibt es ebenfalls widersprüchliche Informationen. Bislang sollten die Flugzeuge nur auf dem ehemaligen Schießplatzgelände unter 100 m fliegen. Mit dem Schreiben der Wehrbereichsverwaltung VII vom 19.09.1996 teilt die Bundeswehr mit, daß bereits außerhalb des Übungsgeländes eine Flughöhe von derzeit 60m und in naher Zukunft auch 30m erreicht werden kann, und damit die Windkraftanlagen abgelehnt werden. Der Gemeinde Schweinrich wurde mit Schreiben vom 05.01.1996 mitgeteilt, daß die weitere Wohnbebauung 3000 m von der Schießplatzgrenze zu planen wäre. Die tatsächliche Gegebenheit sieht jedoch so aus, daß sich die vorhandene Wohnbebauung 200-800 m vom ehemaligen Übungsplatz befindet. Diese aufgezeigten Beispiele zeigen, daß genügend Konfliktstoff vorhanden ist, den es gilt, rechtlich zu klären. Auch bezüglich unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.

Daß Schweinrich als Wohnstandort angenommen wird, zeigt die rege Bautätigkeit der letzten Jahre. Durch Maßnahmen der Dorferneuerung hat sich unsere Gemeinde nach der Wende positiv entwickelt. Die gesamte Schießplatzproblematik wirkt sich jedoch negativ auf die weitere Entwicklung der Gemeinde aus. Zwar sind für die Zukunft noch fünf Baugenehmigungen beantragt bzw. erteilt, doch tragen auch potentielle Interessenten der Ungewißheit Rechnung und weichen zu unserem Leidwesen auf andere Standorte aus.

Aus diesem Grunde sind wir gefordert, Rechtssicherheit herbeizuführen. Bedauerlicherweise müssen wir uns regelrecht uns zustehendes Recht einklagen, denn die Bundeswehr will uns selbst das vom Gericht geforderte förmliche Planungsverfahren verwehren.

Unverständlicherweise gilt bei diesem Urteil nicht gleiches Recht für alle übrigen Gemeinden. So wurde einigen Gemeinden das Planungsverfahren zuerkannt, anderen dagegen nicht. Die möglichen Belastungen sind allerdings beispielsweise in Frankendorf und Flecken Zechlin ähnlich wie in Schweinrich. Da nicht alle betroffenen Gemeinden vor dem Oberverwaltungsgericht in Berufung gehen können, wäre es zu begrüßen, daß der Landkreis die Interessen aller betroffenen Gemeinden wahrnimmt.

Helmut Schönberg ist Bürgermeister der Gemeinde Schweinrich und Mitbegründer der BI FREIe HEIDe

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Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann

Bombenabwurfplatz Nordhorn-Range

Zur Geschichte

1933 Krupp von Bohlen und Halbach überläßt 2220 ha Heidegelände der Deutschen Wehrmacht zur militärischen Nutzung.

1945 Die Royal Air Force (RAF) beschlagnahmt das Gelände und nutzt es als Bombenabwurfplatz, genannt Nordhorn-Range.

1971-1973 Die 1. Bürgerinitiative Deutschlands (Notgemeinschaft) organisiert Platzbesetzungen und Demonstrationen gegen den Platz.

1973 Eine Verlagerung des Platzes ins Ramsloher Moor scheitert am Widerstand der Bevölkerung.

1985 Aussiedlung der Bewohner in der Einflugschneise (ca. 50 Häuser) wegen des Lärmterrors und der Fehlwürfe.

1988 Inbetriebnahme des AKW Lingen in der Einflugschneise.

1988 Die Bürgerinitiative Notgemeinschaft wird wieder aktiv, auf Betreiben des Arbeitskreises Frieden.

1990 BI initiert ein Klageverfahren, dem sich das Land Niedersachsen und die umliegenden Kommunen anschließen. Diese Klage ist bis heute nicht verhandelt worden.

1992 Beschuß von Demonstranten durch einen Düsenjet. 1995 Modernisierung der Flug- und Kontrolleinrichtungen auf den technisch neuesten Stand.

1996 Ankündigung des Abzugs der RAF im Jahr 2002, danach ist die Übernahme durch die Bundeswehr geplant.

Zur Situation heute

Die Bevölkerung hat resigniert, die Politiker hoffen auf eine Entlastung und evtl. Verlegung des Platzes nach Wittstock. Teile der Notgemeinschaft denken ähnlich. Alle fordern: „Die Range muß weg“. Das Militär wird aber grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Diesem St. Floriansprinzip widersetzt sich in Nordhorn der Arbeitskreis Frieden und hat enge Kontakte zur BI Freie Heide. Wir lassen uns nicht zu Gegnern machen und fordern das Ende des lebensgefährlichen Terrors über den Köpfen der Menschen. Gemeinsame Aktionen wie die Teilnahme am Ostermarsch, die Ausstellung über das Bombodrom und die Aufstellung einer Mahnsäule der BI FREIEn HEIDe in Nordhorn sollen die Solidarität der Friedensbewegung stärken.

Arbeitskeis Frieden c/o Ursula Revermann Zedernstr. 3, 48531 Nordhorn Tel.05921/37585.

Die Bürgerinitiative

OFFENe HEIDe in der Colbitz-Letzlinger Heide

Wenn sich die Orts- und Personennamen auch unterscheiden, die Probleme in der Auseinandersetzung mit den Plänen der Bundeswehr sind in der Colbitz-Letzlinger und in der Wittstocker Heide die gleichen. Mit rund 230 qkm ist die militärisch besetzte Fläche bei uns noch größer. Unter der Heide hat sich ein riesiges Grundwasserreservoir gebildet. Es versorgt rund 600000 Menschen mit bestem Trinkwasser. Schon allein aus dieser Tatsache verbietet sich ein militärischer Mißbrauch des Gebietes.

Die Planungen der Bundeswehr sehen ein lasergestütztes Gefechtsübungszentrum vor. 1934 wurde ein Versuchsplatz für Geschütze eingerichtet, aus dem nach dem Ende des 2. Weltkrieges ein Truppenübungsplatz der Sowjetarmee entstand.

Mit der politischen Wende in der DDR wurde auch die Forderung laut, dieses Areal endlich einer friedlichen Nutzung zuzuführen. Doch die Bundeswehr zeigte Interesse an dieser großen Fläche. Politiker aller Couleur sprachen sich für eine ausschließlich zivile Nutzung der Heide aus. Der Landtag und eine Vielzahl von kommunalen Parlamenten aus der Region faßten entsprechende Beschlüsse. Während eines Protestcamps 1993 reifte die Idee, den Weg des zivilen Ungehorsams zu gehen. An jedem ersten Sonntag im Monat wird bei einem Friedensweg bewußt die Sperrausschilderung des Truppenübungsplatzes ignoriert. Am 7. September 1997 findet also der 50. Friedensweg statt, zu welchem ich schon jetzt herzlich einlade. Das Spektrum der FriedenswegteilnehmerInnen geht von Pazifisten über Umweltschützer bis hin zu Heimatfreunden.

Der „Wirtschaftsfaktor Bundeswehr“ zeigt sich bislang nur in den Aufträgen zur Entsorgung der sogenannten Manöverboxen von Rüstungsaltlasten. Die Bundeswehr stellt sich als einzig potenter Auftraggeber für diese Arbeiten dar und spielt mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Gegend. Diese Märchen der Bundeswehr werden von Teilen der Bevölkerung und der Kommunalpolitiker geglaubt. Gegen eine solche Erosion der Beschlußlage kämpfen wir gegenwärtig an.

Kontaktadressen:
Helmut Adolf, Vor der Teufelsküche 12, 39340 Haldensleben Tel.: 03904/42595, Fax 464933
Dr. Erika Drees, Beethovenstr. 13, 39576 Stendal Tel.: 03931/216267, Fax 316008
Birgit Hinz, Klosterstr. 8, 39638 Letzlingen Tel.: 039088/437

Nicht hier und nicht anderswo …

Goose Bay (Kanada)

Opfer von Kriegsspielen der Bundeswehr sind nicht nur die AnwohnerInnen von Schießplätzen in der Bundesrepublik. Eher noch ungehemmter werden Angehörige indigener Völker durch Tiefflüge und Schießübungen terrorisiert. Die Bundesluftwaffe fliegt z.B. schon lange über das Land der Innu.

Täglich donnern rund dreißig Kampflugzeuge der Bundeswehr und anderer NATO-Staaten während der Flugsaison von April bis Oktober in 30 Meter Höhe mit Geschwindigkeiten über 1000 km/h über einen 100.000 qkm großen Teil von Labrador und Ostquebec, dem Lebensraum der 12.000 Innu. Im Tiefflugübungsgebiet ist auch ein Schießplatz für Bombenabwürfe ähnlich wie die Anlage in Wittstock enthalten.

Seit 1990 besteht etwa die Hälfte der 8.000 bis 10.000 Tiefflüge, die pro Jahr vom Luftwaffenstützpunkt Goose Bay aus durchgeführt werden nur aus Flügen von Tornado- und Phantom-Flugzeugen der Bundeswehr. Das Bundesverteidigungsministerium zahlt dafür jährlich acht Millionen Dollar an die kanadische Regierung. Außerdem nutzen bislang noch andere NATO Staaten (Niederlande, Kanada und Großbritannien, Frankreich und Italien haben Interesse bekundet) das Gebiet.

Die Piloten der Düsenjäger fliegen bevorzugt durch Flußtäler und über Wasserflächen, also genau dort, wo sich die Jagdlager der Innu und die Brutgebiete und Lebensräume vieler Wildtiere befinden. Die Testpiloten loben die „idealen Tiefstflugbedingungen“, da weder Hochspannungsleitungen, Hochhäuser noch Nebel ihren Flug über der subarktischen Landschaft behindern. In einigen Gebieten üben die Piloten den Abwurf von Bomben.

Nitassinan – das heißt „unser Lande“

Die Innu leben seit etwa 9000 Jahren in dem Gebiet, das große Teile des heutigen Labrador und des nördlichen Quebec umfaßt. Sie nennen ihr Land Nitassinan. Die tiefe Verwurzelung mit dem Land zeigt sich darin, daß jeder Fluß, See oder Berg in ihrer Sprache einen eigenen Namen und eine eigene Bedeutung hat.

Innu bedeutet „Mensch“. Die Innu gehören zur Sprachgruppe der Algonquin und sind mit den Cree verwandt. Trotz des ähnlich klingenden Namens sind sie nicht mit den Inuit („Eskimo“) zu verwechseln. Die Innu haben keine Verträge mit den Kolonialmächten oder deren Rechtsnachfolgern über die Abtretung von Land geschlossen und betrachten sich als legitime Eigentümer Nitassinans. Daher bestreiten sie der kanadischen Bundesregierung das Recht, irgendwelche Nutzungsverträge über Nitassinan mit Dritten abschließen zu können. Die Innu fordern von Kanada und anderen NATO-Staaten, ihre Landrechte zu respektieren und nicht zu ihren Ungunsten in das schwebende Landrechtsverfahren einzugreifen.

Auswirkungen der Tiefflüge auf die Innu

Die Tiefflüge wirken sich auf die Innu katastrophal aus, vor allem soweit sie sich traditionell von Jagen, Fallenstellen, Fischen und Sammeln von Wildfrüchten ernähren. Einen wichtigen Faktor stellen dabei die Karibus, eine wildlebende Rentierart, dar. Die Innu haben beobachtet, daß diese Wildbestände stetig abnehmen. Die Tiere stehen durch die permanenten Tiefflüge unter Dauerstreß, eine steigende Zahl von Totgeburten ist nur eine Folge davon. Ebenso ist die Qualität des Fleisches derTiere schlechter geworden, da sie zu hastig und zu wenig Nahrung aufnehmen. Auch auf andere Tierarten wirken sich die Tiefflüge negativ aus. So fressen aufgrund der Belastung Nerz-Weibchen ihren Nachwuchs auf. Biber und Otter büßen an Gewicht ein, da sie sich nicht mehr an das Tageslicht trauen, Gänse und Enten verschwinden aus den betroffenen Gebieten.

Widerstand

Die Innu wehren sich gegen die Inbesitznahme ihres Lebensraumes. Seit den Achtzigerjahren wurden Aktionen durchgeführt. So besetzten sie mehrmals den Bombenabwurfplatz, die Startbahn des Stützpunktes in Goose Bay und klagten vor kanadischen Gerichten. Zusammen mit internationalen Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen wird weiter daran gearbeitet, daß das Tieffluggelände geschlossen wird.

„Innu Nation“', Postoffice Box 119; Sheshatshiu, Labrador, AOP 1 Mo Cananda; Tel.: 001/709/4978398, Fax: 001/709/4978396; Für diesen Text haben wir mit Dank Informationen der „Gesellschaft Für bedrohte Völker“ verwendet, die Redaktion.

zum Anfang | Ökologische, pazifistische und regionalpolitische Argumente
FREIe HEIDe als Focus der Friedensbewegung

von Knut Krusewitz

Die Auseinandersetzung um eine FREle HEIDe ist aus mehreren tatsächlichen, aber auch potentiellen Gründen von erheblichem regionalen und überregionalen Interesse.

Ich rede zunächst über tatsächliche Gründe.

1. Die Auseinandersetzung verweist auf einen Strukturkonflikt zwischen Militär, Ökologie und Regionalbevölkerung, auf einen friedenspolitisch beachtlichen Fall also, im dem nicht bloß marginale, sondern grundsätzliche militärische, ökologische und gesellschaftliche Belange konfliktär bearbeitet und verhandelt werden.

2. Der Konfliktverlauf in der Ostprignitz hat die brisante Frage nach dem Primat des Militärischen oder des Zivilen ins öffentliche Bewußtsein gehoben.

Mit ihrem rechtswidrigen Einmarsch in die Ostprignitz im Jahre 1994 hat die Bundeswehrführung den Primat des Militärischen über das Zivile vorläufig durchgesetzt.

Streitig ist seither, ob in Brandenburg militärische Sonderinteressen von Luftwaffe, Heer und Rüstungsindustrie privilegiert werden dürfen gegenüber zivilen Mehrheitsinteressen an einer sozial und ökologisch sinnvollen Konversion des „Bombodroms Wittstock“, eines vormaligen Kriegsübungsgebietes der Westgruppe der Sowjetischen Armee.

Dieser Strukturkonflikt zielt auf den Kernbestand unserer Demokratie, denn der Primat der Politik gegenüber dem Militär zählt zu den unaufgehbaren Errungenschaften der deutschen Nach kriegspeschichte.

3. Daraus resultiert die Frage, wie lange die Mehrheit der Regionalbevölkerung wirksam Widerstand leistet gegen die rechtswidrige Privilegierung militärischer Sonderinteressen gegenüber allgemeinen gesellschaftlichen Belangen, wozu vorrangig pazifistische und ökologische gehören. Die Genese des regionalen Widerstands ist zweifellos von erheblichem überregionalen Interesse.

4. Der Konflikt um die Einrichtung eines Kriegsübungsgebietes für die Bundeswehr in der Ostprignitz hat überdies das komplexe Problem aufgeworfen, wie die Betroffenen bei Militärplanungen die Einhaltung demokratischer Spielregeln und verfahrensrechtlicher Transparenz zwischen Bund, Land, Kreis und Gemeinden friedenspolitisch einfordern und gegebenenfalls rechtlich durchsetzen können.

Das kostspielige Einklagen von Rechten vor Verwaltungsgerichten kann jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluß sein, weil es nicht Verallgemeinbar ist.

5. Der Strukturkonflikt im Kreis Ostprignitz-Ruppin gibt Anlaß, unter den veränderten militärstrategischen Bedingungen von NATO und Bundeswehr über die Handlungsfelder regionaler Friedensarbeit erneut zu befinden.

Regionale Friedensarbeit kann sich nicht mit der Abwehr von Militärplanungen begnügen, sondern sie muß eigenständige Beiträge zur sozialgerechten und umweltverträglichen Regionalentwicklung leisten.

In unserem Fall geht es um ein Konversionsprogramm für den Schieß- und Bombenabwurfplatz Wittstock, das allerdings mehr beinhalten müßte als die bisher vorherrschende Forderung nach Wideraufforstung der devastierten Militärflächen.

6. Die Aktivitäten der FREIe HEIDe haben die Problematik von politischen und administrativen „Abwägungsverfahren“ erneut bewußt gemacht. Hier geht es um das rational nicht lösbare, aber praxisrelevante Problem, wie Belange der „Verteidigung“ gegen Belange der „nachhaltigen Nutzung“ der Region Ostprignitz „abgewogen“ werden sollen. Kriegsplanungen und nachhaltige Regionalplanung in der Ruppiner Heide (und anderswo) sind unvereinbar, weil sie sich sachlich und logisch wechselseitig anschließen. Materiell ist deshalb die Frage streitig, ob es überhaupt möglich ist, das Interesse von Luftwaffe und Heer, die Ostprignitz als Kriegsübungsgebiet für weltweite Militäreinsätze zu nutzen, mit dem Interesse der Bevölkerung in den Anrainergemeinden an einer dauerhaft umweltverträglichen und sozial verträglichen Regionalentwicklung rational abzuwägen.

Bei zivilen Abwägungsfaktoren geht es beispielsweise um

– die Konversion des Bombodroms in die Beispiellandschaft einer nachhaltigen Regionalentwicklung,

– Sanierung der militärischen Altlasten,

– die Überwindung der regionalen Strukturschwäche,

– Kommunale Planungs- und Entwicklungsrechte

– sowie die Fortentwicklung der regionalen Friedenskultur.

– Wer militärische Nutzungsinteressen im Abwägungsverfahren höher bewertet als zivile, muß dann auch die fatalen Folgen für eine nachhaltige Regionalentwicklung der Ostprignitz rechtfertigen.

Die regionale Strukturschwäche würde verlängert, unproduktive zivil-militärische Arbeitsplätze müßten weiterhin alimentiert werden, die gesundheitsbedrohenden alten und neuen Militärlasten blieben dauerhaft erhalten und die militärische Ressourcennutzung in der Region würde zivile Ansprüche beschneiden. Fazit: Die Militarisierung der Ostprignitz würde ihre nachhaltige Entwicklung verhindern.

Die Militärpräsenz in der Region beeinträchtigt keineswegs nur ihre räumlichen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungsmöglichkeiten, sondern sie gefährdet auch die regionale Friedenskultur. Die BI FREIe HEIDe hat mehrfach den Nachweis erbracht, daß die Bundeswehr und ihre ideologischen Dolmetscher in der Region die bereits vorhandenen und Verhaltensdispositionen verstärken, wonach kriegerische Gewaltanwendung als normale Äußerungsform national- und bündnisstaatlichen Konfliktverhaltens gilt. Wie soll Unvereinbares – Kriegskultur auf der einen Seite, Friedenskultur auf der andern – überhaupt im gesetzlich vorgeschriebenen Abwägungsverfahren vergleichbar gemacht werden?

Dies sind, wie gesagt, Problemstellungen, die von der BI FREIe HEIDe und ihren Kooperationspartnern bereits bearbeitet werden, woraus ihre tatsächliche regionale und überregionale Bedeutung resultiert.

Es gibt aber auch Themen und Problemstellungen, die erst noch zu bearbeiten wären, woraus sich ihre potentielle Bedeutung ergibt.

Ich rede deshalb jetzt über solche Problemstellungen.

1. Wichtige Themen und Ziele der ostprignitzer Friedensarbeit sind verallgemeinerbar.

Ihre ProtagonistInnen versuchen, durch theoretische und praktische Anstrengungen alle Aktivitäten in der Region zu bündeln,

– die zur sozialenGerechtigkeit,

– zur naturverträglichen Regionalentwicklung

– und zur Völkerverständigung beitragen,

– um dadurch Frieden zu schaffen.

2. Der Strukturkonflikt zwischen Region, Militär, Ökologie und Frieden zwingt uns, seine Konstellation kritisch-aufklärerisch zu Ende zu denken. Dies Argument besagt erst einmal nur: Für diesen Konflikt

– gibt es keine Lösung vom Typ „sowohl als auch“,

– sondern nur eine vom Typ „entweder oder“.

Ich verweise auf die „Rio-Deklaration“ der Vereinten Nationen vom Juni 1992. Von ihren siebenundzwanzig Grundsätzen sind für unseren Kontext die Normen 1, 8, 24 und 25 von erheblichem Interesse. Ich zitiere sie wegen ihrer Bedeutung vollständig.

GRUNDSATZ 1: „Die Menschen müssen bei allen Bemühungen, eine nachhaltige, die Umwelt nicht zerstörende Entwicklung („sustainable development“) zu sichern, im Zentrum stehen. Sie haben das Recht auf ein gesundes und produktives Leben in Harmonie mit der Natur.“

GRUNDSATZ 8: „Um eine nachhaltige Entwicklung und eine bessere Lebensqualität für alle Menschen zu erreichen, sollten die Staaten nicht tragfähige Strukturen in Produktion und Verbrauch vermindern und beseitigen.“

GRUNDSATZ 24: „Krieg zerstört die Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung.“

GRUNDSATZ 25: „Frieden, Entwicklung und Umweltschutz hängen eng miteinander zusammen und sind unteilbar.“ (Altner, Hrsg., 1992, S. 279 ff.)

Diese Grundsätze lassen sich unschwer zu einem pazifistischen Einwand gegen die Militärpräsenz in der Ostprignitz und anderswo bündeln:

Nicht erst Kriegsführung, sondern bereits Kriegsvorbereitung und Kriegsübung – der militärstrategische Zusammenhang – Destruieren die „Möglichkeit der nachhaltigen Entwicklung“ dieser Region.

Die methodische Implikation des Arguments vom aufklärerischen Zu-Ende-Denken besagt immerhin:

Die Entwicklungskomponenten Regionalökonomie, Ökologie und Frieden müssen ursächlich zusammengedacht werden. Sie sind sachlich und logisch als notwendige Einheit zu begreifen und dürfen deshalb politisch nicht länger gegeneinander ausgespielt werden. (Krusewitz, 1995)

Und ihre praktische lautet: Planung und Übung von Kriegen sind notwendige Bestandteile des Militärkomplexes aus Staatsbürokratie, Rüstungskapital, Streitkräften, Wissenschaftsbetrieb und Massenmedien, einer Symbiose, die wohl außer der Bundeswehrführung niemand zu den „tragfähigen Strukturen in Produktion und Verbrauch“ rechnen dürfte. Die Ostprignitz liefert deshalb den regionalen Anschauungsunterricht für die Berechtigung der pazifistischen These, wonach eine Kulturlandschaft nicht gleichzeitig als nachhaltige Modellregion und als Kriegsübungslandschaft entwickelt werden kann.

3. Aus dieser Einsicht ergibt sich der Schwerpunkt zukünftiger Friedensarbeit in der Region.

Der ehemalige Schieß- und Bombenabwurfplatz sollte zur Beispiellandschaft für die im Rahmen der Vereinten Nationen geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung umgestaltet werden.

Zur Erinnerung

Durch die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro ist die umfassende Zielbestimmung „sustainable development“ (nachhaltige Entwicklung) als wegweisende Programmatik für die Bewältigung der gemeinsamen Zukunft der Menschheit für die internationale Völkergemeinschaft verbindlich geworden.

Die regionale Umsetzung dieser vorbildlichen Konzeption blieb bislang in der Bundesrepublik auf UNESCO-Biosphärenreservate beschränkt. Diese im Aufbau befindlichen Biosphärenreservate spielen als Modellandschaften einer umwelt- und sozialverträglichen Regionalentwicklung eine hervorragende Rolle. Sie können sich deshalb als Beispiele für die im Rahmen der „Agenda 21“ der Vereinten Nationen heute weltweit geforderte Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum profilieren.

Biosphärenreservate sollen nicht zuletzt die Entwicklung und Wiederherstellung von Kulturlandschaften wie der Ruppiner Heide fördern. Diese UNESCO-Modellandschaften dienen also der theoretischen, praktischen und ethischen Neugestaltung der Beziehung der Menschen zur Natur. In dieser Zielstellung sind allerdings dauerhaft strategische Konflikte angelegt.

Nachhaltig ist eine Regionalentwicklung nämlich erst dann, wenn sie die Herausbildung sozialgerechter, naturverträglicher und friedensfördernder Arbeitsformen, Wirtschaftsektivitäten und Lebensstile fördert und verstetigt.

Das überragende pazifistische Potential dieses Verständnisses von Nachhaltigkeit für die emanzipatorische Friedensarbeit in der Ostprignitz Ware aber friedensdidaktisch erst noch zu erschließen.

Knut Krusewitz ist Hochschullehrer an der TU Berlin im Fachbereich Umwelt und Gesellschaft und Leiter der Rhöner Friedenswerkstatt

zum Anfang | Das geht uns alle an, denn das weltweite Konzept der Bundeswehr muß die Betroffenen organisieren.

von Ulrich Görlitz

Die Menschen zwischen Wittstock, Rheinsberg und Ruppin kämpfen nicht nur für ihre eigene und ihrer Familie Gesundheit, nicht nur, um wieder Land- und Forstwirtschaft zu betreiben, nicht nur für direkte Besuchswege statt 30 km Umweg, die das Auto notwendig machen. Nein, sie wissen genau, daß das, was hier geschehen soll, auch anderen nicht zumutbar ist, nicht nur wegen der persönlichen Leiden, sondern wegen der Verbrechen gegen die Menschheit, an denen hier gearbeitet werden soll. Diese Verbrechen heißen Krieg, den wir möglich machen, wenn wir still ertragen, ohne unser Recht auf Leben und Gesundheit mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Das Stillhalten in diesem Lande hat wiederholt für andere Menschen das Hundertfache an Leiden ermöglicht.

Die Regierenden einschließlich ihrer Generalität sind nicht etwa der Auffassung, dieses Land müsse gegen militärische Angriffe verteidigt werden. Das war bisher, so unsinnig das für ein hochindustrialisiertes Land ist, die Legitimierung von Rüstung, wen Militär überhaupt. (Was hätten Ciba-Geigy, BASF oder ein AKW für Sarajevo bedeutet?) Merkwürdigerweise sind Kriege nach solcher Rüstung dann doch „ausgebrochen“. Militärische Feinde müssen sie uns nicht mehr suggerieren. Die ethikfreie Wertung von Lebensstandard erlaubt es, bereits dessen Bedrohung zum Verteidungsfall zu erklären.

„Verteidigung“ gegen wen, bitte? Gegen Industriekonkurrenten in den USA, in Japan oder gar in anderen europäischen Ländern? Keineswegs, die haben sich in NATO bzw. SEATO zur Wahrung gleicher Interessen zusammengetan und ihr Kapital konkurriert längst grenzüberschreitend ohne wechselseitige Vernichtung. Gegen wen also Krieg? Gegen unbotmäßige Rohstoffländer mit meist verarmtem Staatsvolk, gegen Länder, die sich dem „freien Markt“ der Industrieländer entziehen wollen, gegen Länder, die derzeit schon die meisten Flüchtlinge „liefern“. (Dieser „Rohstoff Arbeit“ schafft selbst den Industriestaaten schon genug Verteilungsprobleme.) Krieg allerdings erst, wenn die wirtschaftliche und politische Repression versagt, aber dann rentiert sich das „Bombodrom“ bei Wittstock.

Sie planen also Krieg zur Aufrechterhaltung der derzeitigen ungleichen Güterverteilung mit allen Konsequenzen fortgesetzter Zerstörung dieses Globus. Spätestens seit Milosevic und Tudjman ist militärische Problemlösung obsolet. Dennoch wird Angriff geübt. Art. 26 GG verbietet aber die Vorbereitung eines Angriffskrieges, stellt sie unter Strafe, also wird wieder Verteidigung behauptet. Die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen enthielt auch Hitlers Schlagwort „Volk ohne Raum“.

Damit diese in weltweitem Maßstab blitzkriegartig möglich wird, ist in der NATO die Strategie der „schnellen Eingreiftruppe“ entwickelt worden. Außerdem behält sich die NATO den Ersteinsatz von A-Waffen vor. Beides macht die Angriffsbereitschaft als Drohung deutlich. Dennoch gilt die NATO als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“, dem beizutreten der Art. 24 GG erlaubt. Offensichtlich konnten sich „die Väter des Grundgesetzes“ nicht vorstellen, daß so ein System gegenüber Nichtmitgliedern angriffsbereit sein könnte. Das Verfassungsgericht hat bei der Freigabe der Bundeswehr für weltweite Einsätze keinen Anstoß an diesen Tatsachen genommen. Recht ist der Macht sogar hierbei nachrangig.

Das eigentliche Interesse für Krieg und Rüstung wird in Industrie- und Kapitalkreisen gehegt, wie schon die Aufgabenbeschreibung der neuen Bundeswehr offenbart. Das zeigt auch, neben anderen Projekten, der „Eurofighter“, einst „Jäger 90″. Zur Hochzeit des Kalten Krieges geplant, schon in den Achtzigern fragwürdig, gibt es keinen belegbaren Bedarf mehr, nur industrie- und wissenschaftspolitische Argumente. Er muß auf dem freien Mark verkauft werden, weil er sonst zu teuer wäre. Bei Übung und Verkaufsvorführung wird er hier bei Wittstock, bei Nordhorn, in Texas oder in Kanada sinnlos Menschen quälen und Natur zerstören.

„Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ (Art. 25 GG) Unser aller Pflicht ist, die Realität zu verändern. Seit 1928 gilt allgemeines Kriegsverbot, das auch in die UN-Satzung (Art. 2 Nr. 4) als Gewaltverbot eingegangen ist. Nur Verteidigung wird den Staaten als „naturgegebenes Recht“ zugestanden. Was die Bundeswehr als „vitale“ Sicherheitsinteressen Deutschlands „verteidigen“ will, u.a. die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“, rechtfertigt gemeinsames Völkerrecht allenfalls wirtschaftliche und politische Repression, nicht militärische Aktionen. Es gibt keinen legitimen Weltpolizisten, schon gar keinen deutschen, auch nicht im NATO-Verbund!

Das friedliche Zusammenleben der Balkenvölker ist nicht im Tiefflug herbeizubomben. Die „humanitären Einsätze“ der Bundeswehr in Somalia und Kambodscha erforderten nicht das Zielwerfen von Medikamenten und Nahrung im Tiefflug. Die Bundeswehreinsätze dort waren und sind Instrumente der psychischen Gewöhnung des Staatsvolkes an unbegrenzte Bundeswehreinsätze. Hier bei Wittstock wird für die NATO-Planung gebombt, evtl. für Pläne des deutschen Stabes. Beide enthalten den Angriffskrieg einschließlich der Übung des A-Waffen-Abwurfes. Das ist völkerrechtswidrig. Betroffen sind bei solchem Angriff aller Erfahrung nach fast ausschließlich „Nichtkombattanten“, Zivilisten, und bei den Übungswürfen dafür die Menschen der Region östlich und süd-östlich von Wittstock. Völkerrecht und Bundesrecht ermutigen und verpflichten uns zum Widerstand, zum Versuch Luftbombardements unmöglich zu machen. Es ist nötig, diese Haltung über die Grenzen dieses Staates hinweg bekanntzumachen. Eine Welt ohne Krieg muß kein Traum bleiben.

Ulrich Görlitz engagiert sich in der Berlin/Potsdamer UnkrstützerInnengruppe für die FREIe HEIDe

zum Anfang | Kontaktanschriften der BI FREIe HEIDe

Kontaktadressen. Bernd Lüdemann, Ringstr.24, 16909 Wittstock, Tel.: 03394-433298

Vorstandsvorsitz: Helmut Schönberg, Tannenstr.12, 16909 Schweinrich, Tel.: 033966-60246

Pressekontakte: Annemarie Friedrich, Strandweg 3, 16837 Flecken, Zechlin

Benedikt Schirge, Dorfstr. 27, 16831 Zühlen, Tel.: 033931-2338

R. Lampe, Anger 9, 16837 Dorf Zechlin, Tel.: 033923-70469

Spendenkonto der BI FREIe HEIDe

H. Schönberg, Konto-Nr. 1680000167

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ: 16050202)

Unter dem Stichwort „Freie Heide“

Spendenkonto für Prozeßkosten

BI FREIe HEIDe, Kto-Nr. 162 1012022

Sparkasse Ostprignitz-Ruppin (BLZ 16050202)

Materialien zur FREIen HEIDe

Die Berlin/Potsdamer UnterstützerInnengruppe FREIe HEIde hat verschiedene Materialien erstellt, die bestellt werden können (c/o Verein Freie Kultur Aktion, Rathenower Str. 22, 10559 Berlin, Tel./Fax: 030-3946167):

– Reader zum Widerstand (48 Seiten): 5,- DM

– Diaserie zur FREIen HEIDe (50 Dias mit Text): 15,- DM (und 200,- DM Kaution)

– Aufkleber: 1,- DM

– Luftballon: -,50 DM

– Postkarten (10 versch. Motive) je Stück: 1,- DM

– Bürgerinnen-Information zur FREIen HEIDe, A5-Heftchen, gegen Vorausszahlung per Scheck oder Schein (10 Expl. DM 10,-, 25 Expl. DM 20,-; 50 Expl. DM 35,-) zu bestellen: Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 64759 Sensbachtal

Materialien zu Truppenübungsplätzen und Konversion

– Wissenschaft und Frieden, Dossier Nr. 19, „Ökologie und Militär, Truppenübungsplatz als Biotop?“, Preis: 3,- DM zu bestellen bei W&F, Reuterstr. 44, 53113 Bonn, Tel.0228/210744, Fax: 0228/214924

– „Bericht der Landesregierung zur Realisierung des ihr durch den Landtag bezüglich des Truppenübungsplatzes Wittstock erteilten Auftrages“ (Drucksache 1/1993) in Ausführung des Beschlusses des Landtages Brandenburg vom 18. November 1994 (Drucksache 2/45-B), 24 Seiten, 4 DM Kopierkosten + Porto beim Netzwerk

– Kleines Infopaket zu den Tiefflügen Goose Bay (Kanada), 4 DM Kopier- und Versandkosten beim Netzwerk

Materialien zur out-of-area-Politik

Das Netzwerk Friedenskooperative hat in Zusammenarbeit mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie eine aktuelle Materialien-Zusammenstellung zur „out-of-area“ Politik der Bundesregierung/Bundeswehr erstellt. Die Texte sind zum Preis von DM 10,- incl. Porto zu bestellen. Hier sind auch zahlreiche weitere Informationen zu Themen und Kampagnen der Friedensbewegung erhältlich:

Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88,

53111 Bonn, Tel.: 0228/692904.

zum Anfang | Was tun für die FREIe HElDe!

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten (und Notwendigkeiten), die FREIe HEIDe und die anderen Initiativen, die sich gegen Schießplätze und die out-of-area-Planungen der Bundeswehr wehren, zu unterstützen.

Finanzielle Unterstützung für die Prozeßkosten, aber auch für die Arbeit der BI ist natürlich sehr wichtig (siehe die beiden Spendenkonten). Der bundesweite Kongreß zu Wittstock im Oktober 1996 wie die BI FREIe HEIDe halten die Einrichtung eines BI-Büros für die Stabilisierung der Arbeit und zur Koordination der Kontakte zu den vielen Gruppen, die sich für den Widerstand gegen das Bombodrom interessieren, für unbedingt erforderlich. Die geplante „Heidewerkstatt“ bräuchte einen Sponsorenkreis, der regelmäßig etwa DM 6.000,- pro Monat abdeckt.

Die BI lädt ein, an den regelmäßigen Protestwanderungen wie auch bei Sommeraktionstagen und den vielen weiteren Veranstaltungen teilzunehmen (Termine bei den Kontaktadressen erfragen). Aber das Bombodrom und der Widerstand dagegen kann und soll auch in vielen anderen Regionen thematisiert und ,zur eigenen Sache“ gemacht werden. Vertreterinnen der BI sind bereit, zu Informationsveranstaltungen in andere Orten zu kommen, eine Ausstellung und eine Diaserie können ausgeliehen und weitere Informationsmaterialien für die eigene Öffentlichkeitsarbeit angefordert werden.

Man könnte von der eigenen Gruppe aus eine Partnerschaft mit der BI schließen oder das eigene Gemeindeparlament zu einem solchen Beschluß drängen. Ein wichtiges Symbol für die FREIe HEIDe sind die an verschiedenen Orten der Heide von Solidaritätsgruppen aufgestellten Mahnsäulen. Für weitere ist noch genug Platz! Und die BI freut sich immer über Besuche von Partnergruppen und solchen, die es werden wollen.

Für die ganze Region schließlich ist auch der private Besuch, der Urlaub in der schönen, gastlichen Gegend so wichtig wie weitere mit der Idee einer ökologischen Musterlandschaft verträgliche Investitionen und Neuansiedlungen.

Dies gerade auch, um schon in der zeitlichen ,Hängepartie“ bis zur letzten Instanz der Prozesse den Menschen der Region deutlich zu machen, daß ein ziviler Aufbau und die Attraktivität für an Fluglärm nicht interessierte Touristinnen auch ökonomisch nützlicher ist als vermeintliche Arbeitsplätze bei der Bundeswehr.

Ihre/Eure eigenen Ideen zur Unterstützung sind bei der BI immer willkommen. Gemeinsam können wir dem Militär den Boden entziehen!

Impressum: Gemeinsame Beilage der Zeitschriften Friedensforum, Graswurzelrevolution und Wissenschaft & Frieden, in Zusammenarbeit mit der Stiftung Brandung – Werkstatt für politische Bildung in der Heinrich-Böll-Stiftung, Lindenstr. 53, 14467 Potsdam, Tel./Fax: 0331/292092
Redaktion: Kristian Golla, Martin Singe, Mani Stenner (V.i.S.d.P.), c/o Netzwerk Friedenskooperative, Römerstr. 88, 53111 Bonn Tel. 0228/692904, Fax: 0228/692906 E-Mail: friekoop@link-k.cl.sub.de Internet: http://www.friedenskooperative.de

»Networking« für den Frieden

»Networking« für den Frieden

von Reiner Braun

»Networking« spielt in den Diskussionen der NGOs zunehmend eine immer größere Rolle. Es geht darum, durch Zusammenarbeit Synergieeffekte für bestimmte Projekte zu erreichen. International Networking ist geradezu ein Hit, um durch internationale Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen effektiver auf politisch-gesellschaftliche Prozesse einzuwirken.

Erfolge sind dabei auf den großen internationalen Kongressen sicherlich festzustellen, durchschlagende Änderungen hat Networking aber noch nicht bewirkt. Das gilt auch für INES – das »International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility«.

INES – ein Netzwerk von mehr als 90 wissenschaftlichen Ingenieursorganisationen aus 40 Ländern bringt vieles gedanklich zusammen, kann inhaltliche Diskussionen vorantreiben, kann vernetzend helfen – aber politisch Einfluss nehmen konnte es bisher nur in geringem Maße.

INES wurde gegründet auf dem Challenges-Kongress 1991 in Berlin und arbeitet als gemeinnützige Organisation, die sich für einen verantwortlichen Gebrauch von Wissenschaft und Technik einsetzt. Die Ziele und Projekte von INES umfassen Abrüstung und internationalen Frieden, ethische Fragen und eine gerechte nachhaltige Entwicklung. Ein Schwerpunkt der Arbeit von INES liegt in der internationalen Vernetzung von IngenieurInnen und WissenschaftlerInnen. Dem dienen auch die alle fünf Jahre stattfindenden internationalen Kongresse. Bei dem diesjährigen Kongress in Stockholm ging es vor allem um Fragen von Wissenschaft und Zukunftsfähigkeit.

Zum zweiten kümmert sich INES intensiv um nukleare Abrüstung. Dabei geht es besonders um Fragen der Proliferation, um nukleare Abrüstung und mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Das International Network of scientists and engineers against proliferation – eine Arbeitsgruppe von INES – hat maßgeblichen Anteil daran, dass es den Vorschlag für Nuklearwaffenkonventionen gibt. Für INES ist es eine Selbstverständlichkeit mit anderen Netzwerken zusammen zu arbeiten. So auch mit dem Netzwerk Abolition 2000, in dem sich mehr als 2000 Organisationen aus aller Welt zusammengefunden haben.

Die Unterstützung der »Whistle-blower« – die aus ethischer Verantwortung die Arbeit verweigern bzw. über Arbeiten informieren, die den Frieden, die Umwelt oder die Zukunft gefährden – ist ein weiterer wichtiger Teil der Arbeit von INES. So unterstützt INES die russischen Wissenschaftler Dr. Nikitin und Dr. Mesajanov, die die Öffentlichkeit über die unsachgemäße Lagerung von Atommüll bzw. über die Nichteinhaltung der Chemiewaffenkonvention informierten und deshalb verfolgt werden. INES hat einen eigenen Fonds gegründet um diese Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen.

Neben den inhaltlichen Projekten befasst sich INES aber auch mit humanitären Fragen. INES vergibt das »Robert Havemann-Stipendium« an russische WissenschaftlerInnen, die vor ihrem Diplom oder ihrer Promotion stehen. Die Erfahrung zeigt, dass für alle StipendiatInnen die Unterstützung unbedingt notwendig war, damit diese ihre Arbeiten fertig stellen konnten.

Ein weiteres humanitäres Projekt ist die Unterstützung der Universität von Kapmandu mit technischem Equipment. Eine Universität, die bis vor kurzem keinen einzigen PC kannte und wo die Lehrbücher im Wesentlichen aus den 50er Jahren waren.

Viele internationale Organisationen haben ein Strukturproblem. Sehr leicht dominieren eine oder wenige Personen, es setzt sich ein undemokratisches »Führungsprinzip« durch. Dem begegnet INES durch eine strikte Beachtung demokratischer Prinzipien in allen Entscheidungsstrukturen. Dazu gehört das Council, in dem alle Mitgliedsorganisationen durch eine Vertreterin/einen Vertreter repräsentiert sind sowie einige individuelle Mitglieder (namhafte Persönlichkeiten wie z.B. Nobelpreisträger Josef Rothblatt). Dazu gehört, dass das Excecutive Commitee, die auf den Council-Sitzungen beschlossenen politischen Beschlüsse umsetzt und auch die Finanzen kontrolliert.

Ziel von INES ist und bleibt es, Wissenschaft und Zukunftsfähigkeit, Wissenschaft und Abrüstung sowie Wissenschaft und Ethik zusammenzuführen; auf PolitikerInnen und Öffentlichkeit einzuwirken um eine zukunftsfähige Politik durchzusetzen und dazu mit allen zusammen zu arbeiten, die sich für Frieden und Umwelt engagieren.

In diesem Zusammenhang kommt der von INES geführten DataBank zu Sustainable Development eine besondere Bedeutung zu. Aus der sozialen Weltlage ergibt sich, dass diese DataBank auch die Frage der »social dimension of sustainability« besonders gewichten muss, schließlich legt INES großen Wert auf die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen, von Institutionen, die sich in den Ländern des Südens mit der Problematik »Sustainability« beschäftigen, in Ländern, in denen Armut, Hunger, Unterernährung und Massenarbeitslosigkeit verhindern, dass diese Diskussion gesellschaftsfähig wird.

Es wäre ein großer Erfolg, wenn mit Hilfe dieser DataBank die Sustainability-Debatte weltweit einen neuen Impuls erhalten würde.

Reiner Braun ist Geschäftsführer der NaturwissenschaftlerInnen-Initative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit« und von INES

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

Haben Friedensaktivisten jemals einen Krieg verhindert?

von Lawrence S. Wittner

Manche Beobachter geben sich sicher, dass die nächste Runde im »Krieg gegen den Terror«, ein Angriff gegen den Iran, längst beschlossene Sache ist. In der Tat formiert sich hinter dem Obersten Kriegsherrn im Weißen Haus augenscheinlich eine ganz große Koalition der Willigen. In dieser Situation drängt sich die Titelfrage des vorliegenden Beitrags mit besonderer Dringlichkeit auf. Mit einem genaueren Blick in die US-amerikanische Geschichte zur Beantwortung dieser Frage stellt der Autor klar, dass auch die mächtigsten Kriegsherren die Schwachstelle »öffentliche Meinung« haben und an dieser Achillesferse zu fassen sind.

Die Rolle von Friedensaktivismus bei der Beendigung von Kriegen der USA hat noch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Obwohl Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten US-amerikanische Friedensbewegungen ausgiebig untersucht haben, wissen wir wesentlich mehr über deren Organisationsgeschichte als über ihren Einfluss auf die Politik. Demnach kann ich hier nur einen vorläufigen Bericht geben.

Krieg – das Ende von Friedensbewegungen?

Ich möchte mit den provokativen Kommentaren mancher Beobachter beginnen, wonach Kriege eher zum Ende von Friedensbewegungen führen als umgekehrt Friedensbewegungen zum Ende von Kriegen. Das ist tatsächlich bisweilen der Fall. Aufgrund der Stärke des Nationalismus sammeln sich viele Leute hinter der eigenen Fahne, sobald ein Krieg erklärt ist. So nimmt es nicht Wunder, dass durchaus starke US-amerikanische Friedensbewegungen mit Eintritt der Vereinigten Staaten in den Bürgerkrieg und den Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammenbrachen. In jüngerer Zeit lassen Umfragen erkennen, dass in den USA die Orientierung auf Frieden wesentlich (wenn auch nur vorübergehend) abnahm mit dem Eintritt in den Vietnam-Krieg, den Golf-Krieg und den Irak-Krieg. Auch hat gezielte regierungsamtliche Unterdrückung in Kriegszeiten – z.B. während des Ersten Weltkriegs –Friedensbewegungen geschwächt oder zerstört.

Hinzu kommt, dass Friedensbewegungen, auch wenn sie eine Kriegszeit überdauerten, nicht immer sehr effektiv gewesen sind. Der Krieg von 1812 mag (wie Samuel Eliot Morison behauptet hat) der unpopulärste Krieg in der Geschichte der USA gewesen sein.1 Jedenfalls löste er eine Flut von Kritik aus, vor allem im Nordosten. Aber die zahlreichen öffentlichen Verurteilungen dieses Krieges konnten ihn nicht stoppen. Das gleiche Phänomen ist im Falle der »Pazifizierung« der Philippinen im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zu beobachten. Obwohl eine starke Anti-imperialistische Liga diesen Krieg (mit Hunderttausenden getöteten Filipinos und 7.000 Opfer auf US-Seite) konsequent in Frage stellte, tobte er sich aus bis zum militärischen Sieg der USA.

Gegenbeispiele

Es gibt andererseits Beispiele dafür, dass die Friedensbewegung US-Kriegen ein Ende gesetzt hat. Der Krieg gegen Mexiko in den 1840er Jahren ist ein solcher Fall. Von Anfang an verschrien als Eroberungskrieg und als Krieg für die Sklaverei, setzte der Mexiko-Krieg eine bemerkenswert starke Oppositionsbewegung in Gang. Zwar verlief dieser Krieg auf der militärischen Ebene sehr erfolgreich für die Vereinigten Staaten und Präsident Polk forderte die Annexion von ganz Mexiko. So sah er sich hereingelegt, als sich sein Verhandlungsführer, Nicholas Trist, seinen Instruktionen widersetzte und einen Vertrag unterschrieb, der lediglich die Annexion von etwa einem Drittel Mexikos vorsah. Angesichts des heftigen öffentlichen Widerspruchs hielt er es jedoch nicht für möglich, den Krieg bis zur Einnahme ganz Mexikos fortzusetzen. Widerstrebend zeichnete er Trists Friedensvertrag gegen, so dass der Krieg zu Ende ging.

Als weiteres Beispiel für die Wirksamkeit der Friedensbewegung kann deren Rolle im Vietnam-Krieg gelten. Gegen Ende 1967 wurde, wie Lyndon Johnson sich erinnerte, „der Druck so groß“, dass Verteidigungsminister Robert McNamara „nachts nicht schlafen konnte. Ich befürchtete einen Nervenzusammenbruch.“ Johnson selbst schien besessen von dem Widerstand, den seine Kriegspolitik hervorgerufen hatte. Gespräche mit Kabinettsmitgliedern eröffnete er mit der Frage: „Warum seid ihr nicht unterwegs zum Kampf mit meinen Gegnern?“ Nachdem McNamara zurückgetreten und Johnson selbst durch eine Revolte innerhalb seiner eigenen Partei aus dem Amt gejagt war, steckte die Nixon-Administration, wie Henry Kissinger klagte, „zwischen dem Hammer Kriegsgegner und dem Amboss Hanoi.“ Kissinger notierte: „Das Regierungsgefüge fiel auseinander. Die Exekutive steckte in einer Kriegsneurose.“ Und weiter: „Die Kriegs- und Friedensproteste zerbrachen das Selbstvertrauen, ohne das eine Führungselite ins Stolpern gerät.“ In einer sorgfältigen, gut recherchierten Studie (Johnson, Nixon, and the Doves) gelangte der Historiker Melvin Small zu dem Schluss, dass „die Anti-Kriegsbewegung und die Kriegskritik in den Medien einen wesentlichen Einfluss auf die Vietnam-Politik von Johnson und Nixon hatten“, sie zur Deeskalation und letztlich zum Rückzug bewegten.

Ein Beispiel mehr für die Wirksamkeit der Friedensbewegung ergab sich im Kontext der entschiedenen Versuche der Reagan-Administration, die von den Sandinisten geführte Regierung Nicaraguas zu stürzen. Wie in Vietnam war die US-Regierung nicht in der Lage, ihre immense militärische Überlegenheit gegenüber einem kleinen Agrarstaat erfolgreich auszuspielen. Der Druck seitens der Bevölkerung gegen die Militärintervention in Nicaragua verhinderte nicht nur den Einsatz von Kampftruppen. Er führte auch zu einer Initiative im Kongress, die auf eine Streichung der Finanzierung der US-Platzhalter Contras durch die US-Regierung hinauslief (das Boland Amendment). Obwohl die Reagan-Administration das Boland-Amendment zu umgehen versuchte, indem sie Raketen an den Iran verkaufte und den Ertrag an die Contras weiterleitete, schlug dieses Projekt fehl und schadete den Reagananhängern mehr als den Sandinisten.

Ende des Kalten Krieges

Beachtliche Gründe sprechen auch dafür, dass letztlich die Friedensbewegung dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt hat. Der Widerstand der Friedensbewegung gegen das nukleare Wettrüsten und dessen eindeutigste Manifestation, die Atomwaffentests, führte unmittelbar zu Kennedys Universitätsrede von 1963 und im gleichen Jahr zum »Teilweisen Teststopp-Vertrag«, mit dem die sowjetisch-amerikanische Entspannung einsetzte. Kennedys Rede wurde in Teilen von Norman Cousins verfasst, Gründer und stellvertretender Vorsitzender des National Committee for a Sane Nuclear Policy, die größte amerikanische Friedensorganisation. Cousins handelt auch den Vertrag aus.

Als die angriffswillige Reagan-Administration den Kalten Krieg wiederbelebte und das nukleare Wettrüsten intensivierte, löste sie den größten Friedensaktivismus in der bisherigen Geschichte aus. In den Vereinigten Staaten gewann die Nuclear Freeeze-Kampagne die Unterstützung der wichtigsten Religionsgemeinschaften, von Gewerkschaften, Berufsgruppen und der Demokratischen Partei, organisierte die bis dato größte politische Demonstration in der Geschichte der USA und gewann die Zustimmung von mehr als 70% der Bevölkerung. In Europa kam es zu einer i.W. gleichartigen Entwicklung und im Herbst 1983 demonstrierten etwa fünf Millionen Menschen gegen die vorgesehene Stationierung von Mittelstreckenraketen. Reagan war verblüfft. Im Oktober 1983 sagte er Außenminister George Shultz: „Wenn die Entwicklung sich zuspitzt, sollte ich vielleicht (den sowjetischen Premier Juri) Andropow aufsuchen und ihm vorschlagen, alle Atomwaffen abzuschaffen.“ Shultz war entsetzt, stimmte aber zu, dass „wir die Dinge nicht laufen lassen können“.

So forderte Reagan im Januar 1984 in einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung Frieden mit der Sowjetunion und eine atomwaffenfreie Welt. Seine Berater sind sich einig, dass diese Rede den Russen seine Bereitschaft signalisieren sollte, den Kalten Krieg zu beenden und die Atomwaffenarsenale zu reduzieren. Doch die sowjetische Führung war erst mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 bereit, sich auf Reagans Vorschläge einzulassen. Anders als seine Vorgänger war Gorbatschow, sozusagen ein Bewegungs-Konvertit, willens, initiativ zu werden. Sein »neues Denken« – worunter er die Notwendigkeit von Frieden und Abrüstung im Nuklearzeitalter verstand – war fast eine Kopie des Programms der Friedensbewegung. Wie er selbst erklärt hat: „Das neue Denken trug den Schlussfolgerungen und Forderungen der Ärzte, Naturwissenschaftler, Umweltexperten und verschiedener Antikriegsorganisationen Rechnung und nahm sie in sich auf.“ Kein Wunder, dass Reagan und Gorbatschow, angetrieben von der Friedensbewegung, sich rasch auf Atomwaffen-Abrüstungsverträge und ein Ende des Kalten Krieges hin bewegten.

Nicht geführte Kriege

Wir sollten auch an die Kriege denken, zu denen es dank des Aktivismus der Friedensbewegung nicht kam. Historiker haben die Meinung vertreten, dass die antiimperialistische Kampagne gegen den Philippinen-Krieg später US-Kriege dieser Art und dieses Umfangs verhindert hat. Sie haben auch geltend gemacht, dass der Druck der Friedensbewegung dazu beigetragen hat, 1916 einen Krieg mit Mexiko zu verhindern und die Konfrontation mit Mexiko in den späten 1920ern zu mildern. Und wie viele Kriege, so können wir uns selbst fragen, wurden verhindert durch die Durchsetzung zahlreicher Ideen und Vorschläge, die letztlich der Friedensbewegung entstammen: internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Völkerrecht, Entkolonialisierung, der Völkerbund, Abrüstungsverträge, die Vereinten Nationen und gewaltfreier Widerstand? Diese Frage werden wird wahrscheinlich nie beantworten können.

Wir wissen jedoch, dass die Friedensbewegung seit 1945 eine wesentliche Rolle bei der Verhinderung eines Krieges besonderer Art gespielt hat: eines Atomkriegs. Bei den gegebenen Platzbeschränkungen kann hier nur ein kleiner Teil der Evidenz zur Begründung dieser These dargelegt werden. Sie wird aber in meinem dreibändigen »The Struggle Against the Bomb« detailliert entfaltet.

1956 bedauerte Henry Cabot Lodge Jr., US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, dass die Atombombe „einen »schlechten Ruf«“ bekommen hat, „und zwar so sehr, dass das uns effektiv hindert, sie zu gebrauchen.“ Als später im Laufe dieses Jahres der Vereinigte Generalstab und andere Funktionsträger größere Flexibilität bei der Verwendung von Atomwaffen forderten, antwortete Präsident Eisenhower: „Die Verwendung von Atomwaffen würde angesichts des gegenwärtigen Standes der Weltmeinung gravierende politische Probleme zur Folge haben.“ Und Mitte 1957 tat Außenminister John Foster Dulles ambitiöse Vorschläge, Krieg mit Atomwaffen zu führen, bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates mit der Bemerkung ab, „die Weltmeinung (sei) noch nicht bereit, den allgemeinen Gebrauch von Atomwaffen zu akzeptieren.“

Diese Überzeugung beunruhigte US-Entscheidungsträger auch während des Vietnamkriegs, als – mit Dean Rusk gesprochen – die Kennedy-, Johnson- und Nixon-Administrationen bewusst „lieber den Krieg verloren, als ihn mit Atomwaffen zu »gewinnen«“. McGeorge Bundy, der zweien dieser Präsidenten als Nationaler Sicherheitsberater diente und dem dritten als Fachgutachter, vertrat die Meinung, dass die Entscheidung der US-Regierung, keine Atomwaffen einzusetzen, nicht auf Furcht vor nuklearer Vergeltung seitens der Russen und Chinesen basierte, sondern auf Furcht vor der verheerenden öffentlichen Reaktion, die ein Atomwaffeneinsatz in anderen Ländern und insbesondere in den USA selbst hervorrufen würde.

Zum entscheidenden Test kam es während der Reagan-Administration, als höchste Verantwortliche für die nationale Sicherheit – vom Präsidenten abwärts – bei Amtsantritt leichtzüngig davon redeten, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen. Doch diese Position änderte sich bald aufgrund der massiven öffentlichen Entrüstung darüber. Im April 1982 fing Reagan an, öffentlich zu erklären: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen und darf niemals geführt werden.“ Und er fügte hinzu: „Denen, die gegen den Atomkrieg protestieren, kann ich nur sagen: »Ich stehe auf eurer Seite!«“

Ich fasse zusammen: Obwohl es noch viel zur Wirksamkeit der Friedensbewegung zu forschen gibt, erscheint es mir nur fair, zu sagen, dass der Friedensaktivismus der US-Außen- und Militärpolitik in zahlreichen Fällen Einhalt geboten hat.

Anmerkungen

1) Im Krieg von 1812-1814 gegen Großbritannien versuchten die US-Amerikaner vergeblich, nach Kanada vorzudringen. [Anm. d. Übers.]

Dr. Lawrence S. Wittner ist Professor für Geschichte an der State University New York/Albany und Verfasser von »Toward Nuclear Abolition: A History of the World Nuclear Disarmament Movement, 1971 to the Present«, Stanford University Press. Der vorliegende Aufsatz war ein Redebeitrag des Autors zu einem Roundtable-Forum im Rahmen der diesjährigen Jahresversammlung der American Historical Association am 7. Januar 2006 und wurde zunächst von History News Network veröffentlicht (s. http://hnn.us/articles/20367.html). Dem weniger formellen Kontext entsprechend enthält er weder Fußnoten noch Literaturnachweise. Die Redaktion wurde dankenswerterweise von Wolfgang Sternstein auf ihn aufmerksam gemacht. Besonderer Dank gilt dem Autor für die umstandslose Erlaubnis zur Veröffentlichung einer deutschen Version. Die Übersetzung besorgte Albert Fuchs.

Kritische Wissenschaft und Friedensbewegung

Kritische Wissenschaft und Friedensbewegung

Soziologische Selbstreflexion zur Stärkung der Bewegung

von Lars Schmitt

Mit seinem Beitrag in der ersten Ausgabe von Wissenschaft und Frieden 2004 präsentierte Dieter Rucht die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002. In W&F 2-04 unterzog Peter Strutynski die Befragung und ihre mediale Aufbereitung einer kritischen Betrachtung. Lars Schmitt setzt die Diskussion fort. Sein Plädoyer: Die Ergebnisse dieser Analyse als Ausgangspunkt für eine tiefere soziologische Reflexion nutzen, die emanzipatorischen Bewegungszielen nicht gegenübersteht, sondern diese fördert.

Der Beitrag von Dieter Rucht, der sich mit der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2002 befasst, wurde vom Herausgeber mit den Worten eingeleitet, eine wissenschaftliche Objektivierung ginge notwendigerweise immer mit einer „Distanzierung von diesem Prozess“ des Protestierens einher und „Regierenden [würde] möglicherweise neues »Herrschaftswissen« geliefert“. Andererseits böte diese Distanzierung Möglichkeiten der „Selbstreflexion im Interesse der eigenen Aktivierung und Effektivierung.“ Die Notwendigkeit einer soziologischen Selbstreflexion soll mit dem vorliegenden Beitrag verdeutlicht werden. Dabei stellt sich als andere Seite der Medaille aber nicht die Lieferung von Herrschaftswissen an Regierende heraus. Vielmehr geht es darum, eine Bewusstheit der Eingebundenheit von kritischer Wissenschaft und sozialer Bewegung in »Herrschaft« zu erlangen, die dann dazu dienen kann, beide emanzipatorischer und anschlussfähiger zu gestalten und den selbst gestellten Ansprüchen gerechter zu werden. Sowohl der Bedarf als auch die Skizze einer soziologischen Selbstreflexion lässt sich gut an dem Beitrag von Dieter Rucht und der entsprechenden kritischen Reaktion von Peter Strutynski entwickeln.

Heterogen in der medialen Darstellung und im Erscheinungsbild entpuppt sich die neue Friedensbewegung – so Dieter Rucht – doch als das klassische Bevölkerungssegment der neuen sozialen Bewegungen der 80er Jahre (vgl. dazu Brand/Büsser/Rucht 1986, 217 f.): weit überdurchschnittlich gebildet, politisch links, tendenziell im sozialen Dienstleistungssektor im weitesten Sinne tätig. Damit repräsentiert sie nicht breite Bevölkerungsschichten, die politische Mitte fehlt. Grundlage für diese Argumentation bietet die Auswertung der ersten 781 von 1430 Fragebögen, die nach dem Zufallsprinzip an Berliner Demonstrierende des 15.2.03 verteilt wurden. Daraus kann man ableiten, dass sich hier nicht die »sozial Abgebautesten« mobilisieren. Dieser »quantitativen« Darstellung setzt Peter Strutynski in Heft 2-2004 eine »qualitative« entgegen. Es sei, so Strutynski, keine Überraschung, dass sich die Friedensproteste sozialstrukturell so darstellen. Es gebe große Bevölkerungsteile, denen das Instrument des Demonstrierens fern liege. Dies bedeute aber nicht, dass die Proteste nicht repräsentativ seien. Im Gegenteil: ebenso große Bevölkerungsanteile – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den am Krieg direkter beteiligten Staaten – lehnten bekanntlich den Krieg ab.

Sind diese Demonstrationsszene und die dazu vorgelegten Interpretationen nun ein Indiz für den Protestwunsch breiter Bevölkerungsteile oder für den Protest einer »sozialen Elite«?

Die Antwort lautet: Beides – und führt uns zu einer weiteren Frage, die vielleicht eine wichtigere Verbindung von Friedensbewegung und soziologischer Beobachtung thematisiert. Viele Menschen erfahren ein „alltägliches Leiden an der Gesellschaft“ (Bourdieu 1997) und haben Gründe zu protestieren. Dieses Leiden äußert sich bestenfalls in »Stimmungsbildern«, wird aber nur bei bestimmten Anlässen von einem bestimmten Bevölkerungssegment in eine als »sozialer Protest« wahrnehmbare Form umgesetzt. Woran liegt das? Oder – um es plakativ abzubilden – anders gefragt: Warum scheint der Teamchef der deutschen Fußballnationalmannschaft, Rudi Völler, mehr Menschen aus der Seele zu sprechen als Namensvetter Dutschke? Mein Deutungsangebot ist: Völler hat mit seinem »Ausbruch« gegenüber dem Sportjournalisten am 06.09.03 im Interview nach dem Länderspiel der Nationalmannschaft in Island den Konsensrahmen verlassen. Sowohl seine Wortwahl als auch die Intonation waren unüblich für dieses Setting. Damit hat er den »normalen Lauf der Dinge« kurzfristig unterbrochen. Dieser normale Lauf der Dinge – der Konsens – bedeutet aber die unhinterfragte Reproduktion des Gegebenen. Dieses Gegebene ist bekanntlich nicht neutral, sondern hierarchisch strukturiert. Chancen auf Lebensqualität (Bildung, Anerkennung, Einkommen etc.) sind sowohl global als auch auf nationalstaatlicher Ebene ungleich verteilt. Frauen haben geringere Chancen als Männer, Unterschichtkinder geringere als Akademikerkinder, Ausländer geringere als Deutsche etc. Als Beispiel dafür, dass dieses Wissen potentiell auch einer nicht-akademischen Öffentlichkeit zugänglich ist, sei die Diskussion um die Ergebnisse der PISA-Studie genannt. Der Stern titelt sogar: „Das Märchen von der Chancengleichheit“ (Stern Heft 30-2003). Die Wirkungsmächtigkeit dieses Märchens besteht darin, dass die Ungleichheit der Chancen als naturgegeben vermittelt, erlebt und durch Konsensverhalten reproduziert wird. Die unhinterfragte Reproduktion von Gesellschaft und damit der ungleichen Chancenverteilung erfährt durch das unkonforme Verhalten von Völler einen Bruch. Dies ist ein Grund für die wahrnehmbare Solidarität mit Völler, weil der normale, aber dennoch für viele benachteiligende Gang der Dinge punktuell außer Kraft gesetzt wird. Ein anderer Grund liegt darin, dass Völler – obwohl er sicherlich nicht zu den sozial Abgebauten zählt – in dieser emotionalen Situation seinen Habitus, d.h. seine soziale Herkunft »von unten« nicht verborgen hat und damit viel eher als Sprachrohr zumindest von Angehörigen der Unterschicht wahrgenommen wird als z.B. Rudi Dutschke. Was will diese Beschreibung zeigen? Sie soll einen bislang wenig berücksichtigten Zusammenhang zwischen kritischer Wissenschaft und Friedensbewegung ins Blickfeld rücken. Beide sind Teil einer hierarchisierten Gesellschaft und beide sind hierbei nicht »unten« anzusiedeln. Daher können beide nicht davon ausgehen, von unter den bestehenden Verhältnissen leidenden Menschen als emanzipatorische Medien oder als Sprachrohr wahrgenommen zu werden, obwohl sie dies vielleicht sogar aufgrund der emanzipatorischen Inhalte de facto sind. Wer sich traut, öffentlich die Stimme (oder das Plakat) zu erheben, wird als »legitim«, als privilegiert eingestuft und ist dies in der Regel ja auch (vgl. Bourdieu 1992, 174 ff.). Zudem haben – wie alle anderen Akteurinnen und Akteure – auch diejenigen des akademischen Feldes und sozialer Bewegungen die kritisierten hierarchischen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens verinnerlicht. Das heißt, dass diese Strukturen sogar auf einer körperlichen Ebene (Erfahrung) zwangsläufig zu einer »eigenen Selbstverständlichkeit« geworden sind. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine Kritik des Gegebenen – von wem auch immer geäußert – eine Reflexion des Gesellschaftsgefüges und der eigenen Position darin und vor allen Dingen ein Bewusstsein über die Verinnerlichung dieser Position beinhalten muss, will sie nicht nur „eine Manifestation des Mehrheitswillens der Bevölkerung“ sein – wie Peter Strutynski die Demonstrationen gegen den Irakkrieg wertet –, sondern eine Manifestation der Mehrheit. Das ist leider ein großer Unterschied, der Emanzipatorisches dort suggeriert, wo aber eben auch unausgesprochene Machtverhältnisse sind. Wenn eine Gruppe von Menschen das äußert, was viele gerne hätten, heißt das noch lange nicht, dass diese Gruppe als Sprachrohr »der Bevölkerung« wahrgenommen wird. Im Gegenteil kann gerade dadurch, dass allzu leicht von der Gemeinsamkeit der Wünsche (»Nicht diesen Krieg«) auf eine Sprachrohrfunktion geschlossen wird, ein wirkliches Problem verschleiert werden. Es ist alles andere als unplausibel anzunehmen, dass Menschen sogar bei einer Befragung zugestehen würden, dass das, was eine soziale Bewegung öffentlich anprangert, eine Manifestation ihrer eigenen Meinung sei. Dies ändert aber nichts daran, dass von den gleichen Personen gleichzeitig diese Bewegung als eine Gruppe von Menschen wahrgenommen wird, die privilegierter sind als sie, die Befragten, selbst. Durch die empirisch erfassbare Gemeinsamkeit der geäußerten Anliegen gerät das aus dem Blickfeld, was nicht gemeinsam ist. Das entspricht dann keiner adäquaten Abbildung von sozialer Wirklichkeit mehr und es läuft emanzipatorischen Zielen zuwider, weil eine Gemeinsamkeit in der Kritik gegebener Verhältnisse, nur dann erzeugt werden kann, wenn man sich der Unterschiedlichkeiten bewusst wird und nicht eine gemeinsame Oberfläche schon für eine gemeinsame Lage hält. Warum muss es aber so kompliziert sein? Warum kann es nicht einfach so sein – und das wäre so schön –, dass eine Gruppe von Menschen das äußert, was viele denken und damit ein kritischer Zeitgeist zum Ausdruck gebracht wird?

Dies liegt an der Tatsache, dass es nicht gleich verteilt ist, sich legitimiert zu fühlen, die eigene Stimme zu erheben. Und mehr noch: diese Unterschiede in der Gesellschaft sind hierarchisierte Unterscheidungen, das heißt sie sind sichtbar, werden erkannt und anerkannt. Wenn man z.B. eine Rentnerin aus einem Arbeitermilieu mit der Aussage eines streikenden Studenten konfrontiert, die eine Forderung nach Abrüstung statt Sozialabbau beinhaltet, dann kann die Rentnerin dem möglicherweise zustimmen. Wird sie aber mit diesem Studenten direkt konfrontiert, nimmt sie ihn möglicherweise als eine Person wahr, die vieles hat, was ihr versagt geblieben ist: Er hat Zeit zu protestieren; Mut (eventuell sogar als Respektlosigkeit wahrgenommen) den Mund aufzumachen etc. Kurzum: Sie nimmt ihn als privilegiert wahr und nicht als Träger eines gemeinsamen Anliegens. Und sie empfindet dies möglicherweise als normal und nimmt es hin.

Was macht diese Analyse plausibel, wo ist dieses Problem zu verorten und wie ließe es sich angehen?

Dass definierbare Chancen in der bundesdeutschen Gesellschaft nach verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten ungleich verteilt sind, ist kein Geheimnis. Sucht man dieses Problem allein auf der Ebene der Verteilung, d.h. der Strukturen, dürfte die Rentnerin gar nicht wahrnehmen, dass dieser Student privilegiert ist, da sie – dies ist banal – keine Struktur vor sich hat, sondern einen Menschen. Die ungleiche Chancenverteilung muss also irgendwie an den Menschen ablesbar sein. Sucht man umgekehrt das Problem nur auf der Ebene der Akteurinnen und Akteure, wäre es gar nicht vorhanden, weil dann ja jeder Mensch einfach seine Anliegen gleichberechtigt äußern könnte. Der Schlüssel liegt darin, dass alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure die Verhältnisse, die sie vorfinden, verinnerlichen. Diese »lebendigen Strukturen« sind das, was Pierre Bourdieu Habitus nennt (vgl. Bourdieu 1974, 1982, 1987 sowie Krais/Gebauer 2002). Wir wachsen in einer bestimmten Umgebung mit bestimmten Eltern, in einem bestimmten Milieu, mit einer bestimmten Geschlechterzuweisung etc. auf. Wenn wir uns in der Umgebung bewegen und zurechtfinden, verinnerlichen wir sie. Dies ist nicht in erster Linie ein kognitiver Prozess, sondern geschieht v.a. auf der Basis von Erfahrungen (d.h. körperlich). Die Umgebung wird mit unserer Erkundung also ein Stück von uns selbst. Dennoch sind wir diejenigen, die diese Selbstwerdung aktiv produzieren, indem wir uns in bestimmten Umgebungen bewegen, lernen und uns selbst aktiv weitere Umgebungen suchen. Dabei bevorzugen wir aber diejenigen, die nahe bei dem sind, was wir bisher verinnerlicht haben. Mit diesem Habituskonzept lässt sich also erklären, warum Strukturen sich immer auch als Unterschiede in Menschen manifestieren und zu sichtbaren Unterscheidungen (Identitäten) werden. Dabei wird deutlich, dass Gesellschaft und Individuum sich nicht gegenüberstehen, sondern soziale und personale Identität zusammenfallen. Da nun aber das, was Menschen in ihrer Wirklichkeit vorfinden, sehr dem ähnelt, was ihre »Identitäten« ausmacht – weil diese ja aus besagter Wirklichkeit hervorgegangen sind –, wird das soziale Gefüge in der Regel als stimmig, normal, selbstverständlich erlebt. Dies erklärt, warum selbst Menschen, die von der Ungleichverteilung von Chancen negativ betroffen sind, an der Reproduktionen ihrer eigenen Unterdrückung mitwirken. Die Sozialpsychologie spricht hier von „oppression as a cooparative game“ (Sidanius/Pratto 1999). Dies bietet auch eine Erklärung dafür, dass die Rentnerin das von ihr wahrgenommene Gefüge hinnimmt, weil es zu ihr selbst passt.

Damit wird deutlich, warum eher nach der Transformation von Bewegungshandeln »nach oben« in institutionalisierte Politik gefragt wird (vgl. z.B. Raschke 2003), als nach einer Übersetzung »nach unten«. Die Hierarchie ist anerkannt.

Die emanzipatorische Wirksamkeit von Protest wird also konterkariert durch einen unsichtbar gemachten Chancenverteilungskonflikt. Diese Unkenntlichmachung wird verstärkt und damit die Wirksamkeit weiter gebremst, wenn die ungleiche Verteilung von Chancen sich hinter einer Gleichheit von Meinungen verstecken kann. Das also, was von Strutynski in Anschlag gebracht wird, um die Protestbewegung zu stärken – nämlich der Hinweis auf die Meinungsgleichheit zwischen Protestierenden und Bevölkerung –, bewirkt im Endeffekt eher das Gegenteil.

Weit davon entfernt eine fatalistische Aussage zu sein, kann diese soziologische Selbstreflexion dazu dienen, besagte Unkenntlichmachung rückgängig zu machen und damit nicht nur eine adäquatere Analyse gesellschaftlichen Zusammenlebens und sozialen Protests zu liefern, sondern – ohne normativ zu sein – eine größere Anschlussfähigkeit an Menschen herzustellen, die ein Anliegen haben, Bewegungsziele umzusetzen. Auf der Ebene von inhaltlichen Forderungen ist ein wichtiger anschließender Schritt ja bereits erfolgt, weil die Friedensbewegung z.B. nicht nur eine »abgerüstete europäische Verfassung« fordert, sondern dies mit einem sozialstaatlichen Anliegen verknüpft. Dies ist insofern als bedeutsam einzustufen, als Transnationalisierungsdiskurse einerseits und neoliberale Diskurse, die die Eigenverantwortung von Menschen für ihre Lage predigen, andererseits, eher dazu »einladen«, Protest auf die globale Weltordnung zu beziehen, als dazu, »in eigener Sache« soziale Gerechtigkeit zu fordern oder gar beides zusammen zu denken (vgl. Bonacker/Schmitt 2004).

Pierre Bourdieu hat seine Analysekonzepte, die in Form von »Wieder-Sichtbarmachung von Herrschaftsverhältnissen« auch gleichzeitig Praxiskonzepte sind, bereits selbst sowohl auf Wissenschaft als auch auf soziale Bewegung angewandt. So analysiert er z.B. an den Mechanismen männlicher Herrschaft, wie Gewalt symbolisch legitimiert und über den Gleichklang von inkorporierten und äußeren Strukturen sogar von den Beherrschten reproduziert wird. Eine Schlussfolgerung für soziale Bewegung am Beispiel der Frauenbewegung sei, dass diese – um ihr emanzipatorisches Potential und den »Scharfblick der Ausgeschlossenen« zu nutzen – ihr eigenes Denken dekonstruieren müsse, um männliches Denken zu dekonstruieren. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass auch Frauen die herrschenden Dominanzverhältnisse verinnerlicht haben (vgl. Bourdieu 1997a, 1997b, 1998a). Eine praktische Konsequenz war Bourdieus Bestreben, mit raisons d’agir (ders. 2001) eine in diesem Sinne aufgeklärte europäische soziale Bewegung zu begründen. In seinen Analysen zum akademischen Feld (ders. 1988) kommt er zu dem gleichen Ergebnis und zu der gleichen Forderung (ders. 1998b): Wissenschaft muss reflexiv sein, d.h. sie muss die eigenen Produktionsbedingungen und die eigene privilegierte Position reflektieren, will sie eine Aussage über ihren Gegenstand machen. Erst eine derartige Reflexion des eigenen Eingebundenseins in Herrschaft bietet zudem kritischer Wissenschaft die Möglichkeit, kritisch zu sein und sozialen Bewegungen die Möglichkeit, sozial zu sein, d.h. sich auf Menschen beziehen zu können, die unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen leiden.

Um es zusammenzufassen: Die Kritik von Peter Strutynski an der quantitativen, in Teilen tautologisch anmutenden Beschreibung und Interpretation der Berliner Friedensdemonstration vom 15. Februar 2003, wie sie Dieter Rucht vorgelegt hat, greift zu kurz, denn man hätte diese Verwissenschaftlichung von Selbstverständlichkeiten nutzen können, um diese Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Statt dessen begeht Peter Strutynski trotz seines qualitativen Herangehens einen positivistischen Fehler, in dem er aus der Gleichheit der Meinung von Demonstrierenden und „weiten Bevölkerungsteilen“ eine Einigkeit schließt und nicht auf eine sehr grundlegende Ungleichheit hinweist. Rudi D. darf eben nicht für Rudi V. gehalten werden, sondern die Habitus-Unterschiede von Protestierenden und weiten Bevölkerungsteilen müssen thematisiert werden, damit Rudi V.‘s beliebter Konsensbruch für emanzipatorische und von vielen auch befürwortete Inhalte Rudi D.‘s genutzt werden kann. Die inhaltlichen Gemeinsamkeiten der Rentnerin und des Studenten können erst dann die habituellen Unterschiede – und damit das Machtgefälle zwischen beiden – überbieten. Eine soziologische Beobachtung des Protests sollte – schon aus Gründen der Wissenschaftlichkeit – Phänomene an gesellschaftliche und verinnerlichte Strukturen zurückbinden, da sonst unter Vorspiegelung von Ungleichheiten als Gemeinsamkeiten emanzipatorisches Potenzial verschleudert wird und Sprachrohre ihr herrschendes Eigenleben führen.

Literatur

Bonacker, Thorsten und Lars Schmitt (2004): Politischer Protest zwischen latenten Strukturen und manifesten Konflikten. Perspektiven soziologischer Protestforschung am Beispiel der (neuen) Friedensbewegung, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen (i.E.).

Bourdieu, Pierre (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.

Ders. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.

Ders. (1987): Sozialer Sinn, Frankfurt a.M.

Ders. (1988): Homo academicus, Frankfurt a.M.

Ders. (1992): Rede und Antwort, Frankfurt a.M.

Ders. u.a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz.

Ders. (1997a): Die männliche Herrschaft, in: I. Dölling und B. Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M., S. 153-217.

Ders. (1997b): Männliche Herrschaft revisited, in: Feministische Studien, H. 2, Jg. 15, S. 88-99.

Ders. (1998): La domination masculine, Paris.

Ders. (1998a): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz.

Brand, Karl-Werner, Detlef Büsser und Dieter Rucht (1986): Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. und New York.

Krais, Beate und Gunter Gebauer (2002): Habitus, Bielefeld.

Raschke, Joachim (2003): Bewegung, Reform, Protest. Blockaden und Veränderungen, Festvortrag anlässlich des 15jährigen Bestehens des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen vom 25.01.03.

Rucht, Dieter (2004): Die Friedensdemonstranten. Wer waren sie, wofür stehen sie? In: Wissenschaft und Frieden, Heft 1, 2004, S. 57-59.

Stern, Heft 30, 2003: Das Märchen von der Chancengleichheit.

Strutynski, Peter (2004): Friedensbewegung unter soziologischer Beobachtung, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2, 2004, S. 54-56.

Lars Schmitt ist Diplom-Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Konflikte und soziale Ungleichheit; sozialer Protest; soziologische Theorie; soziologische Konfliktmediation.

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

Ziviler Widerstand – eine Erfolgsstory?

von Jürgen Nieth

Für unseren Autor Jørgen Johansen ist der zivile Widerstand in den letzten 30 Jahren erfolgreicher als der bewaffnete Kampf. Er – wie auch die meisten anderen AutorInnen in dieser Ausgabe – bezieht sich dabei vor allem auf den Kampf gegen ausländische Besatzung und für gesellschaftliche Veränderungen. Aber wie ist das mit dem zivilen Widerstand innerhalb einer Gesellschaft zur Durchsetzung politischer Ziele, von Reformen unterhalb der gesellschaftlichen Umwälzung? Wann wird hier Protest zum Widerstand und sind hier Erfolge messbar?

Werfen wir einen Blick auf die Friedensbewegung in unserem Land, ihre Entwicklung, die unterschiedlichen Aktionsformen, Erfolge und Misserfolge.

»Ohne mich« – skandierte die Bewegung gegen die Gründung der Bundeswehr und die Einbeziehung der BRD in eine (West-) Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG). »Ohne mich«, das war die angekündigte Kriegsdienstverweigerung, Teil der Bewegung gegen die Remilitarisierung. Die staatliche Macht reagierte massiv. Eine Volksbefragung wurde verboten, die Initiatoren verfolgt und die Polizeieinsätze gegen Demonstranten waren durch äußerste Härte gekennzeichnet: 1952 wurde während einer Friedensdemonstration in Essen ein Demonstrant erschossen. Politisch erlitt die Friedensbewegung damals eine Niederlage: Die Bundeswehr wurde gegründet, der EVG-Vertrag ratifiziert – als kleiner Erfolg blieb, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gesetzlich festgeschrieben werden musste.

»Kampf dem Atomtod« – »Solidarität mit Vietnam«. Die Friedensbewegung der sechziger Jahre formulierte aktiver, die dominierende Protestform blieb die Demonstration, doch zugleich gab es zunehmend Aktionen des zivilen Ungehorsams: Sitzstreiks vor Kasernentoren und Straßenblockaden. Die meisten wurden gewaltsam aufgelöst und endeten mit einer Verurteilung der Protestierenden. Auch hier nur punktuelle Erfolge der Friedensbewegung: Der Griff der Bundeswehr nach Atomwaffen scheiterte. Die USA mussten sich aufgrund der weltweiten Proteste aus Vietnam zurückziehen.

»Aufstehen – Frieden braucht Bewegung«. Das »Tu selbst etwas« entspricht der Massenbewegung für den Frieden in den achtziger Jahren. Ideenreich und vielfältig sind deren Aktivitäten: Demonstrationen bis zur Beteiligung Hunderttausender, Kultur- und Sportveranstaltungen, Menschenketten, berufsspezifische Aktionen, Unterschriftensammlungen, Volksbefragungen, Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie Blockaden und das Begehen von Militärgelände. Der staatliche Gewaltapparat reagiert widersprüchlich. Einerseits gibt es die Einkesselung von DemonstrantInnen, die gewaltsame Auflösung von Blockaden und die Verurteilung der Blockierenden. Andererseits werden später viele von ihnen rückwirkend freigesprochen und massive staatliche Gewalteinsätze – mit Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstock – werden zur Ausnahme. Das hat zwei Ursachen:

• Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung stimmt inhaltlich mit den Hauptforderungen der Friedensbewegung überein, sie ist gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen. Die Regierung hat in dieser Frage die Mehrheit verloren.

• Die Aktionen der Friedensbewegung haben eine »positiv-friedliche« Ausstrahlung. Auch bei den Aktionen des zivilen Ungehorsams wird deutlich, dass von den Protestierenden keine Gewalt ausgehen wird. Der Einsatz brutaler Gewalt von Seiten des Staates ist in dieser Situation nicht mehr legitimierbar.

Die vielfältigen Aktionsformen, deren sich die Friedensbewegung in den achtziger Jahren bediente, erleben in den Protesten gegen die beiden US-Interventionen im Irak – schwächerer bei den Balkankriegen – eine Renaissance.

Und die Erfolgsfrage? Der Sturz eines Regimes, die Befreiung von ausländischer Besatzung, sind messbare Erfolge. Ob angestrebte politische Veränderungen innerhalb eines Systems stattgefunden haben, weil eine Massenbewegung sich dafür eingesetzt hat, ist dagegen schwer feststellbar. Es bleibt aber die gut begründbare Annahme, dass die Entwicklung ohne die Friedensbewegung viel negativer verlaufen wäre.

Die Mittelstreckenraketen wurden stationiert und später wieder abgebaut. Die USA haben den Irak besetzt und sich damit weltweit isoliert. Die Bundeswehr steht am Hindukusch aber in der Verurteilung des Irakkrieges gibt es wie in der »Stationierungsfrage« eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der Friedensbewegung.

Vielleicht ist das die entscheidende Messlatte: Der Gewinn der Meinungsführerschaft. Sie ist nicht die Garantie dafür, dass sich etwas verändert, aber sie ist die Voraussetzung für Veränderungen. Die Meinungsführerschaft zu behaupten und inhaltlich auszubauen – von der punktuellen zu einer umfassenden friedenspolitischen, dafür bedarf es zivilen Widerstands: Vielfältig, im Ziel übereinstimmend und gewaltfrei.

Jürgen Nieth