Zeit des Übergangs. Zum Stand der amerikanischen Friedensbewegung

Zeit des Übergangs. Zum Stand der amerikanischen Friedensbewegung

von Paul F. Walker

Die späten 80er markieren einen bedeutenden Wendepunkt für die amerikanische Friedensbewegung: sie war von einer aktiven, sichtbar wirksamen zu einer relativ passiven politischen Kraft geworden. Ihr Einfluß schwand. Ob sie wieder eine machtvolle Kraft in der amerikanischen Politik werden wird, wie sie es vor noch nicht allzulanger Zeit war, ist heute eine offene Frage.

Vor fünf Jahren waren die Amerikaner frustriert, ungeduldig und verärgert über das langsame Tempo, in dem sich die amerikanische und die sowjetische Regierung auf Verhandlungen zubewegten. Eine Übereinkunft zur Begrenzung der Nuklearwaffen war seit über zehn Jahren nicht ratifiziert worden, Ost-West-Verhandlungen und Gespräche waren total zusammengebrochen und eine ganz neue Generation von Nuklearwaffen stand vor der Produktion. Millionen Amerikaner engagierten sich für Nuklearwaffenabrüstung und „Nuclear Freeze“.

Es hatte damals ein starkes Frustrationsgefühl über Präsident Carter gegeben, der in seiner Antrittsrede vier Jahre zuvor nukleare Abrüstung versprochen hatte. Die Regierungsübernahme durch Präsident Ronald Reagan, der seine Wahlkampagne auf eine Plattform restriktiver Steuerpolitik und außenpolitischer Stärke gegründet hatte, vertiefte nur diese Frustration. Die Friedensbewegung gedieh, genährt durch die antisowjetische und gefährliche Sprache von Präsident Reagan und tief betroffen über die Wahrscheinlichkeit nuklearer Konfrontation.

Phase des Niedergangs

Und doch ist nun wenig zu hören von der Friedensbewegung, insbesondere in den letzten anderthalb Jahren. Warum? Die Gründe sind unterschiedlich. Erstens mäßigte die Reagan-Administration ihre gewalttätige Rhetorik, ihr Gerede vom „begrenzten Nuklearkrieg“, von der Notwendigkeit „einen Krieg mit chirurgischen nuklearen Eingriffen zu führen“ und ihre „Entschlossenheit durch demonstrative nukleare Explosionen zu zeigen“, von dem „unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen dem Guten und Bösen, West und 0st, Engeln und Teufeln in der Welt“. Solche Brandreden hoher Regierungsvertreter beunruhigten einen Großteil der Bevölkerung. In den ersten drei Jahren der Reagan-Administration verbreiterten sie ironischerweise die Basis der Friedensbewegung.

Zweitens überraschte Präsident Reagan jedermann – mit Ausnahme seiner engsten Berater – mit seiner „Star-Wars“-Initiative. SDI sollte einen undurchdringlichen Verteidigungsschild über den Vereinigten Staaten errichten. Dadurch würde ein perfekter Schutz vor feindlichen Nuklearschlägen bereitgestellt. Obgleich Teile der Friedensbewegung, die besser Bescheid wußten skeptisch waren über „Star-Wars“, nahmen die meisten Amerikaner den Präsidenten bei seinem Wort und begannen zu hoffen, daß es etwas Licht am Ende des Tunnels geben würde.

Drittens entzog der Schritt Reagans, bilaterale Diskussionen mit den Sowjets zu eröffnen – kulminierend im Genfer Gipfeltreffen im November 1985 – der Friedensbewegung ihre Wirkung. Viele Amerikaner glaubten zu dieser Zeit, daß die Freeze-Bewegung schon ihre Aufgabe erfüllt hatte: Ost und West wieder an den Verhandlungstisch zu zwingen. Auch glaubten sie, daß es nun an der Zeit wäre, beiden Regierungen etwas Verhandlungsspielraum zu geben, um eine Übereinkunft über Rüstungskontrolle auszuarbeiten.

Die Reaktivierung der Friedensbewegung

Die amerikanische Friedensbewegung hat zwischen 1980 und 1985 offenbar ihre Position verändert. Hatte sie einst ein vollständiges

Nuclear Freeze“ und eine Beendigung des quantitativen und qualitativen Wettrüstens gefordert, hoffte sie nunmehr bloß noch auf Resultate des Genfer Dialogs.

Doch Politik ist immer dynamisch. Seitdem haben sich die Dinge bewegt. Friedensaktivisten, die gehofft und die Genfer Verhandlungen unterstützt hatten, wurden Zeuge, wie die Reagan-Regierung jeden sowjetischen Rüstungskontrollvorschlag zurückwies – Testverbot für Anti-Satellitenwaffen (ASAT), starke Reduzierungen bei den Offensivwaffen, Verbot des Star-War-Programms, Verbot der chemischen Waffen und gegenwärtig vor allem einen Stopp der Nuklearwaffentests. Die Friedensbewegung sah gleichfalls, wie die amerikanische Regierung voranschritt bei der Bereitstellung großer Geldmittel für Guerillaoperationen in Nicaragua und Angola und vor drei Monaten ankündigte, bald den SALT II-Vertrag zu verletzen; tatsächlich hatte Reagan erklärt, daß er sich nicht länger durch irgendwelche vergangenen SALT-Übereinkünfte gebunden fühle.

Darüber hinaus begann die amerikanische Regierung gegen Friedensaktivisten, die sich im gewaltlosen zivilen Ungehorsam engagiert hatten, brutal Front zu machen. Individuen, Gruppen katholischer Pazifisten und andere wurden während der zurückliegenden drei Jahre ins Gefängnis gesteckt für Aktionen des zivilen Ungehorsams wie der Beschädigung von Raketensilos, dem Besprühen von Bombern und dem Schütten von Blut auf Nuklearwaffenteile. Verschiedene Richter und Gerichte haben diese Menschen mit bis zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt und sie zu „Terroristen“, „Kommunisten“, „Verrätern“ erklärt, welche „die nationale Sicherheit bedrohten“.

Auf der sowjetischen Seite hat Generalsekretär Gorbatschow die sehr kluge und bedeutende Initiative eines einseitigen Teststopps für Nuklearexplosionen gestartet und dem privaten, nicht-regierungsoffiziellen Austausch von seismographischen Forscherteams zur Vor-Ort-Kontrolle zugestimmt. Zugleich hat er die Welt in seiner Rede vom 15. Jan. 1986 herausgefordert, das Undenkbare zu denken: wie die Nuklearwaffen bis zur Jahrhundertwende eliminiert werden könnten.

Der Streit um das Budget ´87

Die positiven Initiativen der Sowjets, eine „Friedensoffensive“ wenn man will, und das Fehlen eines positiven Schritts durch die Amerikaner, führte dazu, die amerikanische Friedensbewegung wieder zu stimulieren und – in begrenztem Ausmaß – auch den US-Kongreß. Das erste größere Indiz dieser Veränderung tauchte im Sept.1986 auf, als das Repräsentantenhaus 5 grundlegenden Zusatzanträgen zum Haushalt ´87 zustimmte. Obgleich noch nicht durch den Senat gebilligt, sind die Anträge ein wichtiger Schritt, damit Kongreß und Friedensbewegung die Rüstungskontrolle in ihre eigenen Hände nehmen. Die Kongreßanträge schlagen kurz gefaßt folgendes vor:

  1. die Mittel für „Star-Wars“ werden auf dem Niveau des letzten Jahres eingefroren, die Preissteigerungsrate berücksichtigend auf 3,1 Milliarden Dollar; dies liegt deutlich unter der Forderung des Präsidenten nach 4,8 Mrd.;
  2. Mittel für Waffensysteme, die SALT II-Beschränkungen überschreiten, werden abgelehnt, dies betrifft solche Programme wie Trident, MX, Midgetman und Cruise Missiles;
  3. ein Einjahresmoratorium für Nuklearwaffentests soll etabliert werden, beginnend mit dem 1. Jan.1987;
  4. ein Verbot der Anti-Satellitenwaffentests soll fortgesetzt werden und
  5. jede neue Produktion von chemischen Waffen soll blockiert werden.

Zum ersten Male war die Reagan-Administration derart erfolglos bei der Vorlage ihres Programms im Kongreß. Der Präsident hat mit einem Veto gegen das Budget gedroht, falls es diese Maßnahmen enthielte.

Internationalisierung der Friedensbewegung

Die gegenwärtige Konfrontation in Washington jedoch repräsentiert nur die Spitze des Eisberges, die Friedensbewegung scheint sich nun in einer radikaleren und progressiveren Weise zu rekonstituieren als zuvor. Während es früher eine Weigerung gab, nukleare Abrüstung mit anderen Fragen zu verknüpfen, diskutiert die Friedensbewegung nun verstärkt über eine nichtinterventionistische Politik. Während früher die Bewegung ein Einfrieren her Produktion, der Tests und der Entwicklung nuklearer Waffen unterstützte, argumentiert sie nunmehr für weitergehende Reduzierungen und eine mögliche Abschaffung von Nuklearwaffen.

Dies ist in der Tat eine Zeit des Übergangs, weil die Friedensbewegung erkannt hat, daß es ein Irrtum war, der Reagan-Regierung eine Atempause von einem Jahr oder mehr einzuräumen, um einen Rüstungsstopp auszuhandeln. Es ist zugleich eine Zeit der Chancen, weil Millionen Amerikaner erkannt haben, daß der Genfer Gipfel 1985 vor allem „Rauch und Zauber“, gute Öffentlichkeitsarbeit und nichts weiter war und daß die Verantwortlichkeit für Frieden nicht in Washington, Moskau, Bonn, London oder anderswo liegt, sondern in den Menschen, die aussprechen, daß ihr Leben davon abhängt.

Wir sind Zeuge dieser Wiedergeburt von Friedensaktivitäten in den USA, genau wie in Europa heute. Der Erfolg wird auch davon abhängen, ob die Bewegung ihre Politik und ihre Kommunikation über den Atlantik koordinieren kann. Besonders seit den Enthüllungen der Forschung über den nuklearen Winter und seit Tschernobyl nehmen die Menschen wahr, daß die potentiellen Gefahren der Nuklearenergie und der Nuklearwaffen nicht nur national, sondern international sind. In der heutigen Zeit ist es daher von großer Wichtigkeit, für die internationale Zusammenarbeit der Friedensbewegung zu arbeiten.

Paul F. Walker, Ph. D., ist Co-Direktor des Instituts für Frieden und Internationale Sicherheit in Cambridge, Massachusettes. Er ist außenpolitischer Berater von Jesse Jackson und war früher Direktor für Rüstungskontrollforschung bei der Union of Concerned Scientists.

Wege aus dem Wettrüsten

Wege aus dem Wettrüsten

Internationales Naturwissenschaftler-Forum ruft zum Stop aller Atomwaffen auf

von Uwe Reichert

Knapp 200 Wissenschaftler aus 32 Nationen trafen sich Mitte Juli auf Einladung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, um über ein dreißig Jahre altes, aber immer noch aktuelles Thema zu diskutieren: die vollständige Einstellung aller Kernwaffenversuche.

Eingeleitet wurde das dreitägige Forum durch Einführungsvorträge von Frank von Hippel, Princeton University, USA und dem Vizepräsidenten der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Yewgenij Velikhow. Diese Vorträge hoben schon die wichtigsten Punkte hervor, die anschließend in den Diskussionsrunden ausführlich erörtert wurden: eine Abkehr von der „alten Art des Denkens“ (sprich: Abschreckung), zuverlässige Verifizierbarkeit eines Teststops und alternative Wege, einen Teststop zu erreichen. Neben diesen drei Punkten wurde ausgiebig über die Einflüsse eines Kernwaffenteststops auf die Entwicklung und auf die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen diskutiert.

Von allen Teilnehmern begrüßt und als erster, wichtiger Schritt in Richtung eines vollständigen Kernwaffenteststopps angesehen wurde das einseitige Moratorium, mit dem die Sowjetunion seit dem 6. August 1985 alle ihre Testexplosionen eingestellt hat (F. von Hippel: „Triumph des neuen Denkens“).

Dieses Moratorium sei in den USA anfangs überhaupt nicht beachtet worden, so S. Coleman von der „Better World Society“, USA. Nachdem das Moratorium jedoch mehrmals verlängert wurde, habe sich immer mehr die Überzeugung durchgesetzt, daß das Moratorium mehr als nur reine Propaganda sei. Ähnlich äußerten sich auch J. Legget und J. Rotblat (GB). Bei Meinungsumfragen in Großbritannien hätten sich 84 % der befragten Personen dafür ausgesprochen, daß sich Großbritannien dem sowjetischen Moratorium anschließen solle.

Von den westlichen Teilnehmern des Forums wurde die Sowjetunion wiederholt aufgefordert, das einseitige Moratorium weiterhin zu verlängern, und zwar solange, bis der wachsende Druck der Öffentlichkeit und des amerikanischen Kongresses die Regierungsverantwortlichen zwingt, ihrerseits auf Kernwaffenversuche zu verzichten. A. G. Arbatow (UdSSR) warnte allerdings, das einseitige Moratorium könne nicht ewig andauern, wenn die USA ihre Kernwaffentests fortsetzen würden. Nach Meinung von Ted Taylor (USA), der früher in Los Alamos selbst Kernwaffen entwickelte (die berühmte „Tornisterbombe“ geht auf sein Konto), ziehe sich aber die Auswertung von Tests und die Entwicklung neuer Kernwaffen über mehrere Jahre hin, so daß das Risiko, die USA könnten in absehbarer Zeit durch ihre Tests militärische Vorteile erzielen, relativ gering sei.

Mehrere Seismologen legten auf eindrucksvolle Weise dar, daß die Verifikation eines Kernwaffenteststopps vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen überhaupt kein Problem darstelle. Allgemein akzeptiert ist heute eine Nachweisschwelle von max. 1 Kilotonne. Die Verwendung moderner Seismographenarrays, Messungen in verschiedenen Frequenzbereichen und verfeinerten Auswertungsverfahren lassen die Nachweisschwelle weiter sinken. So präsentierte F. von Hippel ein Seismogramm, das in Norwegen aufgenommen wurde und eine sowjetische 0,5 Kilotonnen-Versuchsexplosion eindeutig registrierte. Durch weitere Verbesserungen der Nachweistechnik hofft man, auch 0,1 Kilotonnen-Tests zuverlässig registrieren zu können.

Um eine möglichst niedrige Nachweisschwelle zu erreichen, sind natürlich auch Seismographen nötig, die in unmittelbarer Nähe der Atomtestgelände aufgestellt sind. Gegenwärtig werden auf Initiative der amerikanischen Umweltorganisation NRDC (Natural Resources Defense Council) und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften jeweils drei Seismographenstationen um die Testgebiete in Nevada und in der Nähe von Semipalatinsk aufgebaut bzw. schon betrieben. Auf dem Moskauer Forum berichtete Thomas Cochran, ein Physiker, der für das NRDC arbeitet, über die Aktivitäten der amerikanischen Wissenschaftlergruppe, die wenige Tage zuvor in der Sowjetunion eingetroffen war und sofort damit begonnen hatte, die mitgebrachte Ausrüstung in der Nähe des sowjetischen Testgebietes aufzubauen. Cochran nannte dieses Unternehmen ein Demonstrationsprojekt, das zeigen soll, daß in der Sowjetunion Seismographen zur zuverlässigen Überwachung eines Teststopps stationiert werden könnten.

Sofortiger Teststopp oder Stufenplan

Wurde dieses Projekt von den Teilnehmern des Forums einstimmig als weiterer wichtiger Schritt in Richtung eines Teststops gewertet, so war man sich in einer anderen Sache weniger einig: in der Frage, ob man einen vollständigen Teststop auf direktem Wege oder über den Umweg der Begrenzung von Kernwaffentests erreichen solle. Eine solche Begrenzung könnte entweder über eine schrittweise Reduzierung der maximal zulässigen Sprengkraft (gegenwärtig 150 Kilotonnen) oder über eine Quotierung der Tests erreicht werden (z.B. zwei zulässige Tests pro Jahr). Dies würde den wichtigsten Bedenken der Teststoppgegner entgegenkommen, die meinen, daß ein vollständiger Teststop nicht ausreichend genug zu überwachen sei bzw. daß Tests zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der vorhandenen Kernwaffen nötig seien. Möglicherweise wäre ein solcher Kompromiß politisch leichter durchsetzbar als ein vollständiger Teststop. Aber abgesehen davon, daß damit die Gefahr besteht, daß ein Provisorium zum Dauerzustand erhoben werden könnte, gibt es auch andere Argumente, die gegen eine unvollständige Begrenzung der Kernwaffentests sprechen. Die Einhaltung einer Testschwelle von z.B. 5 Kilotonnen wäre schwieriger zu kontrollieren als die Frage, ob überhaupt ein Test stattgefunden hat (wie will man entscheiden, ob ein Test eine Sprengkraft von 4,7 oder 5,3 Kilotonnen hatte?) Bisherige Erfahrungen lassen leider befürchten, daß in einem solchen Falle die Supermächte sich gegenseitig der Vertragsverletzung beschuldigen würden, was dem rüstungskontrollpolitischen Klima sicherlich nicht förderlich wäre. Auch ließe sich im Falle einer Quotierung schlecht entscheiden, ob ein „Zuverlässigkeitstest“ nicht auch dazu benutzt wird, waffentechnisch relevante Untersuchungen durchzuführen.

Die Frage, ob alternative Konzepte ja oder nein, konnte natürlich in der Diskussionsrunde nicht eindeutig beantwortet werden. Einen Sinn hätten solche Kompromisse auf jeden Fall nur, wenn sie letztendlich doch ein vollständiges Testverbot zur Folge hätten.

Am Ende des Forums wurde eine Deklaration verabschiedet, in der die Hoffnung auf eine Verlängerung des sowjetischen Moratoriums ausgedrückt wird und in der alle Nuklearstaaten aufgefordert werden, sich einem Kernwaffenteststopp anzuschließen. Die Organisatoren des Forums überreichten diese Erklärung tags darauf dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow. Dieser Empfang machte denn auch den politischen Aspekt der Forums deutlich. Nicht umsonst fand das Forum entsprechende Beachtung in der östlichen Presse. Westliche Zeitungen hielten sich sehr zurück.

US-Wissenschaftler überwachen sowjetisches Atomversuchsgelände

Das Problem einer Vor-Ort-Kontrolle zur Überwachung von unterirdischen Nukleartests war in der Vergangenheit ein zentrales Hindernis bei den Rüstungskontrollverhandlungen gewesen. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion hatten sich wegen unterschiedlicher Standpunkte nicht auf konkrete Maßnahmen einigen können. Was auf Regierungsebene nicht gelang, brachte jetzt eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern zustande: den Aufbau von Seismographen um das sowjetische Testgelände in der zentralasiatischen Republik Kasachstan. Dies ist das erste Mal in der Geschichte, daß die Sowjetunion Ausländern erlaubt, auf ihrem Territorium seismische Messungen zur Überwachung von Kernwaffentests vorzunehmen.

Initiiert wurde das Projekt von der angesehenen, auf privater Ebene arbeitenden amerikanischen Umweltorganisation NRDC (Natural Resources Defense Council). Nach kurzen Vorgesprächen mit Vertretern der Sowjetischen Akademie der Wissens,chaften wurde am 28. Mai eine Vereinbarung unterzeichnet, die den Aufbau von jeweils drei Seismographenstationen um das amerikanische Testgelände in Nevada und um das sowjetische Testgebiet in der Nähe der Stadt Semipalatinsk vorsieht. Alle Stationen sollen gemeinschaftlich von amerikanischen und sowjetischen Wissenschaftlern betrieben werden. Die Meßdaten werden veröffentlicht und somit allen interessierten Stellen zugänglich gemacht.

Nachdem vom NRDC die erste Ausrüstung besorgt worden war, trafen die amerikanischen Wissenschaftler bereits Anfang Juli in der Sowjetunion ein. Dem Team gehören Geophysiker verschiedener Universitäten an; auf sowjetischer Seite werden sie von Kollegen des Instituts für die Physik der Erde unterstützt. Alle Seismographen wurden zunächst oberirdisch im Umkreis von 200 km um das Testgebiet stationiert. Bis zum Herbst sollen die Geräte in 100 m tiefen Bohrlöchern versenkt werden, um das Hintergrundrauschen zu reduzieren und so die Empfindlichkeit zu erhöhen. Voraussichtlich bis zum November stehen identische Geräte zur Verfügung, die um das amerikanische Testgelände in Nevada installiert werden. Die Laufzeit des gemeinsamen Projekts ist zunächst auf ein Jahr vorgesehen.

Wissenschaftlich betrachtet ist das Projekt eigentlich nur für den Westen interessant. Die Meßdaten von Seismographen innerhalb der USA werden alle veröffentlicht, so daß die Sowjetunion schon heute über eine genaue Kenntnis des amerikanischen Testgebiets verfügt. Vergleichbare Daten über die sowjetischen Testgebiete lagen bisher nicht vor, weil die Sowjetunion keine Seismogramme ihrer Nukleartests veröffentlichte. Selbst bei einem Testlauf eines weltweiten seismischen Überwachungsnetzes Ende 1984 speiste die Sowjetunion nur die Registrierungen von Erdbeben in die Datenbank ein; die Aufzeichnungen ihrer eigenen Nukleartests hielt sie zurück.

Entsprechend groß ist jetzt das Interesse westlicher Wissenschaftler an den seismischen Daten aus der Sowjetunion. Selbst wenn die Sowjets ihr Testmoratorium weiterhin verlängern und keine Nukleartests durchführen, so werden von den im Testgebiet stationierten Seismographen alle schwachen Erdbeben in dieser Region registriert. Die Auswertung dieser Daten liefert wertvolle Informationen über den geologischen Aufbau des sowjetischen Testgebietes. Wegen des härteren Untergrundes werden die durch Kernexplosionen hervorgerufenen Erderschütterungen dort weit weniger gedämpft als vergleichsweise im amerikanischen Testgebiet von Nevada. Dies hat in der Vergangenheit zu einer Überschätzung der Sprengkraft sowjetischer Kernwaffentests um bis zu einem Faktor 3 geführt. Mit den jetzt erwarteten seismischen Daten kann die Sprengkraft früherer – und eventuell auch heftigerer Tests in diesem Gebiet besser bestimmt werden.

Die Haltung der US-Regierung

Dies mag der Grund dafür sein, daß amerikanische Regierungsstellen das gemeinsame Projekt des NRDC und der sowjetischer, Akademie der Wissenschaften stillschweigend billigen. Offiziell betrachtet die US-Administration dies als eine private Angelegenheit. Die Ausfuhrgenehmigungen für die in der Sowjetunion aufgestellten Geräte wurden jedoch vom US-Handelsministerium schon 6 Tage nach der Antragstellung erteilt – eine Rekordzeit. Auch bekundeten mehrere Offizielle des Verteidigungsministeriums und der Waffenlabors ihr Interesse an den seismischen Daten aus der Sowjetunion. Die Einladung des NRDC an die amerikanische Regierung, sich aktiv an dem Projekt zu beteiligen, wurde jedoch nicht angenommen. Wissenschaftlern in Regierungsdiensten bleibt eine Mitarbeit versagt.

Die vom NRDC in der Sowjetunion aufgestellten Seismographen überwachen nur das Testgebiet bei Semipalatinsk zuverlässig. Für eine flächendeckende Überwachung im Falle eines umfassenden Kernwaffenteststopps müßten zusätzliche Seismographen auf sowjetischem Territorium installiert werden – nach Meinung führender Seismologen etwa 25. Diese würden zusammen mit einigen Seismographen außerhalb der UdSSR ein Überwachungsnetz bilden, das selbst schwache Kernexplosionen mit genügender Wahrscheinlickeit (ca. 90 %) nachweisen könnte.

Überwachungsnetz möglich

Die Initiative des NRDC hat gezeigt, daß es keine prinzipiellen Schwierigkeiten gibt, ein solches Überwachungsnetz zu installieren. Weitere Schritte müßten jetzt von offizieller Seite übernommen werden. Der amerikanische Kongreß hat bereits Anfang August auf die neue Entwicklung reagiert: Der Senat legte der Reagan-Administration mit einer Mehrheit von 64:35 Stimmen die Wiederaufnahme der Teststoppverhandlungen nahe; das von den Demokraten dominierte Repräsentantenhaus stimmte mit einer überraschend deutlichen Mehrheit von 234:155 Stimmen für einen Gesetzentwurf, der für das Jahr 1987 ein Verbot aller amerikanischen Nukleartests mit einer Sprengkraft von mehr als 1 Kilotonne vorsieht. Dieses Moratorium würde nach dem Entwurf nur dann beginnen, wenn die Sowjetunion dem weiteren Aufbau von Seismographen auf ihrem Territorium zustimmte; außerdem wird jedem Land nur ein Testgebiet zugestanden. Für den Fall, daß die Sowjets Tests außerhalb ihres zu bestimmenden Testgebietes oder solche mit einer Sprengkraft von mehr als 1 Kilotonne durchführen sollten, wäre das amerikanische Moratorium beendet. Falls auch der Senat, in dem die Republikaner die Mehrheit haben, diesem Entwurf zustimmt, würde er für die Reagan-Administration bindend werden.

Dr. Uwe Reichert, Diplomphysiker in Heidelberg, z. Zt. Stipendium der Stiftung Volkswagenwerk, Arbeitsgebiet: Rüstungskontrollforschung.

Weigerung

Weigerung

von Redaktion

Vor wenigen Monaten schrieben 350 Wissenschaftler und Techniker von Max- Planck- Instituten im Raum München einen Offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl. Sie erklärten: „Wir lehnen die Mitarbeit am SDI-Projekt ab“. Sie orientierten sich dabei am Beispiel vieler amerikanischer Kollegen, die ebenfalls die Mitarbeit am SDI-Projekt verweigern. In den USA haben bisher fast 3000 Wissenschaftler eine Petition gegen die star wars- Forschung unterzeichnet. Darunter befanden sich mehr als 500 Forscher der Cornell- University in Ithaca, NY.

380 Berliner Wissenschaftler und Techniker haben diese Initiative aufgegriffen und sich ebenfalls an den Bundeskanzler gewandt. Die Unterzeichner des Briefes sind Mitarbeiter des Hahn- Meitner- Instituts, der naturwissenschaftlichen Fachbereiche an der Freien Universität und an der Technischen Universität sowie des Fritz- Haber-Instituts. 315 bei DESY Hamburg tätige Wissenschaftler haben sich gegen eine deutsche Beteiligung am SDI-Projekt ausgesprochen. Das Deutsche Elektronen Synchrotron ist ein Großforschungszentrum, in dem mit Beschleunigern und Speicherringen hochenergetische Teilchenstrahlen für Experimente zur Erforschung der Struktur der Materie erzeugt werden. Im DESY ist bislang keine militärische Forschung betrieben worden. 78 Angehörige der Bundeswehr- Hochschule in Hamburg wandten sich gegen eine bundesdeutsche Beteiligung an SDI. 20 Berliner Physiker und Chemiker haben, neben einem Appell an die verantwortlichen Politiker, eine Verpflichtungserklärung – in Analogie zum hippokratischen Eid der Ärzte – unterzeichnet, die folgenden Wortlaut hat:

„Ich anerkenne, daß mir aus meiner Vorbildung und Tätigkeit als Naturwissenschaftler, Ingenieur oder Techniker eine besondere Verantwortung gegenüber der menschlichen Gesellschaft und der Umwelt erwächst.

Ich werde – selbst unter Bedrohung – meine Kenntnisse nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der Menschlichkeit anwenden.

Ich verpflichte mich, einer Nutzung naturwissenschaftlicher Ideen, Erkenntnisse und Entdeckungen, die zur Schädigung oder gar Vernichtung menschlichen Lebens oder zur lebensfeindlichen Störung natürlicher Gleichgewichte beitragen könnten, entgegenzuwirken. Insbesondere verpflichte ich mich, weder ab der Forschung und Entwicklung noch an der Herstellung, Erprobung und dem Einsatz nuklearer, biologischer, chemischer und anderer Massenvernichtungswaffen mitzuarbeiten.

Kollegen, die in Einhaltung dieser Verpflichtung in berufliche Schwierigkeiten geraten, werde ich über einen entsprechenden Hilfsfonds unterstützen.“

Friedensforum Stuttgarter Wissenschaftler

Friedensforum Stuttgarter Wissenschaftler

von Joachim Nitsch

Stuttgart ist durch eine beachtliche Konzentration wissenschaftlicher Einrichtungen gekennzeichnet. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich im Paffenwald (S.-Vaihingen). die Institute der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten der Universität, sowie Institute der Max- Planck- Gesellschaft, der Fraunhofer- Gesellschaft und der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR). Gemeinsam mit den geisteswissenschaftlichen Fakultäten im Stadtzentrum dürften rund 3000 Wissenschaftler und Ingenieure tätig sein, dazu kommen etwa 16 000 Studenten. Die Universität Hohenheim ist nur wenige Kilometer entfernt.

Eine günstige Ausgangsbasis für friedenspolitische Arbeit sollte man meinen. Nach anfänglich erfreulicher Resonanz – Anzeigen gegen „Nachrüstung“ mit zahlreichen Unterschriften, Vorträgen an Max- Planck- Instituten u. ä. – hat sich jedoch nur, neben einem studentischen Arbeitskreis „Frieden“, das „Friedensforum Stuttgarter Wissenschaftler“ permanent etabliert. Die verbliebenen 8 bis 10 Professoren und Wissenschaftler veranstalten inzwischen die 3. Ringvorlesung. Das Thema des Semesters lautet: „Bedrohung – Wahrnehmung, Realität, Analyse“. Noch drei Vorträge stehen aus:

30.5. A. A. Guha (Frankfurt). Feindbild und Bedrohungsvorstellungen. – Welche Rolle spielen dabei die Medien?

27.6. Dr. A. von Bülow (Bonn): Vertrauensbildende Verteidigungskonzepte? Auf der Suche nach entspannungsfördernden Militärstrukturen in Ost und West.

11.7. Dr. H. G. Brauch (Mosbach): Rüstungsvergleich als Rechtfertigungsinstrument für Aufrüstung am Beispiel der Genfer Gespräche.

Letzte Aktion war ein Offener Brief an Ministerpräsident Späth, einem der enthusiastischsten Befürworter von SDI. Antwort auf unsere kritischen Fragen erhielten wir nicht, auch die örtlichen Medien griffen den Brief nicht auf, alle Oppositionsfraktionen des Landtags (einschließlich der F.D.P.) stimmten unserer Position jedoch voll zu.

Uns beschäftigt vor allem eine Frage: Warum sind unter Tausenden von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren nur wenige zu eigenem Engagement in der wissenschaftlichen Friedensarbeit bereit? Zwar wissen wir von vielen Aufgeschlossenen und Gleichgesinnten (z. B. beim Göttinger Appell), einer aktiven Teilnahme wird jedoch mit deutlicher Zurückhaltung begegnet.

Uns scheint dies symptomatisch für die stark ingenieurwissenschaftlich bezogene, also anwendungsorientierte Forschung zu sein. Daß die Vorstände der Großforschungseinrichtungen die kritische Information über und die Bewertung militärischer Forschung und Entwicklung nur ungern sehen, dürfte bekannt sein. Die Zwänge aus der Beteiligung an „rüstungsrelevanter“ Forschung und Entwicklung, der mehr oder weniger starken Abhängigkeit vom Geldgeber oder von direkten Firmenaufträgen blockieren vielfach eine Aussprache oder die Diskussion kontroverser Standpunkte. Aufforderungen in dieser Richtung entzieht man sich zumeist mit dem Hinweis auf die ausschließlich naturwissenschaftlich- technische Kompetenz; die Beurteilung der rüstungstechnischen, militärstrategischen oder forschungspolitischen Auswirkungen sei auszuklammern oder Kompetenteren (wem?) zu überlassen. Da überlegt es sich ein Wissenschaftler zweimal, ob er sein Unbehagen oder seine Kritik allzu deutlich zum Ausdruck bringt. Erst kürzlich wurden die Vorschläge des Arbeitskreises „Verantwortung in Naturwissenschaft und Technik“ von Mitarbeitern der DFVLR (der sich überregional in mehreren Zentren der Forschungsanstalt gebildet hat) zur Diskussion der Weltraumrüstung im innerbetrieblichen Rahmen abgelehnt.

Darüberhinaus dürften aber auch der Widerwille, den bequemen Standpunkt des Nichtbetroffenseins aufzugeben oder einfach auch die Fülle der alltäglichen Arbeit oder Karriereabsichten Gründe für das zaghafte Engagement vieler in der angewandten Forschung Tätiger sein.

Bleibt als Freiraum die Universität. Doch auch dort ist man, wie an allen ingenieurwissenschaftlichen Universitäten, nicht ganz frei von den o.g. Zwängen, wenn auch der Spielraum größer ist. Trotzdem bedarf es eines gewissen Fingerspitzengefühls und Hartnäckigkeit, um z.B. oben erwähnte Ringvorlesung zu etablieren und am Leben zu erhalten. Nicht von ungefähr sind in dem Forum die Geisteswissenschaftler in der Überzahl, die Beteiligung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren läßt in Stuttgart zu wünschen übrig.

Das FSW hat deshalb beschlossen, sich an den Friedenswochen im November 1985 zu beteiligen, um noch mehr Hochschulangehörige zu erreichen und in Aufklärungs- und Diskussionsveranstaltungen darauf hinzuwirken, daß Naturwissenschaftler und Ingenieure nicht abseits stehen dürfen bei der Suche nach Wegen zur Abrüstung.

Dr. Joachim Nitsch, Wiss. Mitarbeiter der DFVLR im Forschungszentrum Stuttgart.

Friedensbewegung und Bundeswehr

Friedensbewegung und Bundeswehr

von Rolf Schellhase

Während für die Friedensbewegung der 50er fahre in ihrem politischen Kampf gegen die Wiederbewaffnung und die NATO-Integration der Bundeswehr, deren zu großen Teilen wehrmachterfahrenes Offizierkorps, deren ideologische Ausrichtung und die mit ihr und von ihr verfolgten Ziele im Zentrum der Kritik standen, hat die neue Friedensbewegung in ihrer weitgehenden Fixierung auf die US-Politik die nationalen Streitkräfte der Bundesrepublik bisher nur unzureichend als Instrument der Interessen ihres politischen Opponenten beziehungsweise als relativ eigenständigen Faktor im gesellschaftlichen und politischen System der BRD wahrgenommen und sich bislang kaum intensiver – von wenigen Ausnahmen abgesehen 1 – mit dieser von ihrem Selbstverständnis her „eigentlichen“ Friedensbewegung auseinandergesetzt.

Die Haltung der in ihrer sozialen und politisch-ideologischen Struktur sehr breit angelegten Friedensbewegung zur Bundeswehr bewegt sich, grob umrissen, zwischen den Polen der Akzeptanz einer noch bis auf weiteres für notwendig angesehenen Existenz der Streitkräfte einerseits und deren strikter politischer oder moralisch-pazifistischer Ablehnung andererseits. Während sich etwa die Jugendverbände der Gewerkschaften, der SPD und F.D.P. und der Kirchen teilweise sehr kritisch gegenüber der Bundeswehr und ihren Funktionen und Aktivitäten artikulieren, ist die Haltung der Mutterorganisationen, die gelegentlich versuchen, sich als Teil der Friedensbewegung darzustellen bzw. diese partiell zu vereinnahmen, nicht nur programmatisch ohne Abstriche Bundeswehr – und NATO-minded.

Die von der Friedensbewegung bislang weitgehend vernachlässigte differenzierte Auseinandersetzung mit Charakter, Funktionen und Aktivitäten der Bundeswehr in den verschiedenen Bereichen von Gesellschaft und Politik in der Bundesrepublik ist nicht zuletzt darin begründet, daß gerade auch von ihrem Selbstverständnis her kritische Autoren und Wissenschaftler das Thema „Bundeswehr“ aus verschiedenen, hier nicht näher zu erörternden Gründen gemieden haben 2 und u. a. deshalb innerhalb der Friedensbewegung über eine hauptsächlich emotional bestimmte Ablehnung der Bundeswehr hinaus bislang kaum effektives Wissen über die weitverzweigte gesellschaftliche Präsenz und Aktivität der Bundeswehr vorhanden ist. Dieses „Vermeidungsverhalten“ der Friedensbewegung den Streitkräften gegenüber geht nicht selten einher mit völlig unzeitgemäßen und in ihren Folgen für friedenspolitisches Handeln gegenüber der Bundeswehr fatalen Barras-Vorstellungen. Einen solchermaßen „hilflosen Antimilitarismus“ 3 gegenüber der Armee der Bundesrepublik kann sich eine Friedensbewegung, deren erklärtes Ziel es ist, zum möglichst raschen und umfassenden Abbau bestehender Gewaltpotentiale beizutragen, angesichts eines professionell konzipierten und wieder verstärkt und offen zu Tage tretenden gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs der Streitkräfte kaum mehr leisten. Vor dem Hintergrund der von Verteidigungsminister Wörner vor Offizierschülern vertretenen Position: „Nicht nur die Gesellschaft hat Ansprüche an die Bundeswehr. Auch die Bundeswehr hat Ansprüche an die Gesellschaft“ 4, tut die Friedensbewegung gut daran, sorgfältig darauf zu achten, welcher Art diese Ansprüche sind und in welchen Bereichen sie mit welchen Mitteln durchgesetzt werden sollen. Die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten des Umgangs der Friedensbewegung mit der Bundeswehr und den verschiedenen in ihr wirkenden Kräften sollte Bestandteil des derzeit verstärkt geforderten bzw. bereits stattfindenden Nachdenkens über eine erweiterte „Perspektive der Entmilitarisierung“ 5 unter den Bedingungen der erfolgten Stationierung und der mit der sogenannten Konventionalisierung drohenden weiteren Aufrüstung sein.

Für die Friedensbewegung ist erhöhte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Gefahr einer verstärkten militärischen Einflußnahme auf verschiedene Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Kultur nicht zuletzt deshalb geboten, weil das Militär, wie die zahlreichen und gut dokumentierten Affären und Skandale der Bundeswehr gezeigt haben, seine spezifischen Gestaltungsinteressen nicht nur innerhalb seines ureigensten Terrains, den Kasernen, durchzusetzen versteht, sondern sich effektiver demokratischer Kontrolle immer wieder weitgehend mit Erfolg zu entziehen vermochte.6

Die Tatsache, daß in großen Teilen der Bundeswehr unter gewendeten Verhältnissen Begriffe wie soldatische Ehre, Stolz, Mut und Tapferkeit, zynisch und maliziös strapaziert auch in der sogenannten Wörner-Kießling-Affäre, wieder ihren Aufschwung erfahren und unter einem CDU-Verteidigungsminister wieder explizit an bewährte Traditionen deutschen Soldatentums angeknüpft werden soll, kann von der Friedensbewegung nicht in der Weise interpretiert werden, als habe sie es bei der Bundeswehr mit einer nach längst überkommenen Managementmethoden geführten und völlig unflexiblen Institution zu tun.

Während sich die Friedensbewegung mit den Streitkräften häufig nur oberflächlich oder aktionistisch auseinandersetzt, geht die Bundeswehr, armiert mit aktuellen Forschungsergebnissen ihres Sozialwissenschaftlichen Instituts, zweckrational und verwissenschaftlicht an das den Streitkräften kritisch bis ablehnend gegenüber eingestellte Protestpotential heran. Hier widmet sich eine keineswegs nur kryptisch verfahrende militärisch orientierte Sozialforschung kontinuierlich, in der Funktion vergleichbar einem Frühwarnsystem, verschiedenen, jeweils aktuellen Struktur-, Legitimations- und Akzeptanzproblemen der Bundeswehr und präsentiert bestimmte Ergebnisse auch als Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit unter anderm in der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, die als Medium zur gezielten und aktuellen Informationsvermittlung für politische Akteure verschiedener Coleur erhebliche Wirksamkeit besitzt 7.

Das nicht nur von externen Kritikern der Bundeswehr monierte Faktum, daß die Konzeption vom „Staatsbürger in Uniform“ kaum mehr als die Wünsche und Hoffnungen einiger weniger Reformer darstellt 8 und die Realität der Bundeswehr allenfalls marginal berührt 9, die Tatsache, daß jedes Jahr etwa 200 000 Wehrpflichtige einen staatsbürgerlichen Unterricht erhalten, der kaum mehr zu vermitteln hat als eine modernisierte „geistige Rüstung“ 10, die Erfahrung, daß das Bundesministerium der Verteidigung einem Teil seiner Soldaten die Diskussion mit der Friedensbewegung unter Hinweis auf die gebotene parteipolitische Zurückhaltung des Militärs verbieten will, während hohe Offiziere sich unbehelligt und unkorrigiert in konservativen bis reaktionären und dem Militär gefälligen politischen Kreisen bewegen und den entsprechenden Medien äußern können, lassen die in dem von Jakob Moneta, Erwin Horn und Karl-Heinz Hansen 1974 aus aktuellem Anlaß veröffentlichten Buch Bundeswehr und Demokratie. Macht ohne Kontrolle? aufgeworfene Frage: „Ist die Bundeswehr zuverlässig demokratisch?“ 11 bis heute nicht befriedigend beantwortet und weiterhin aktuell erscheinen. Die von Immanuel Geiss im Vorwort zu dieser Publikation formulierte These: „Wie die Führer der Bundeswehr in einer Situation sich verschärfender ökonomischer und sozialer Krise und einer sich zuspitzenden politischen Polarisierung, wie sie immerhin auch bei uns denkbar geworden ist, handeln werden, dafür kann heute niemand garantieren“ 12, ist angesichts der Krise der Gesellschaft der BRD und der scheinbar fast vergessenen Tatsache, daß die Bundeswehr laut Notstandsgesetzgebung auch nach innen' eingesetzt werden kann, nach wie vor als ein dringender Hinweis zu demokratischer Wachsamkeit zu verstehen.

Wie dauerhaft resistent die Streitkräfte gegen ideologische Erneuerungen sind, verdeutlichen nicht nur die wieder offen und im Anschluß an Schnezsches Gedankengut beanspruchte sowie von Verteidigungsminister Wörner unterstrichene „Besonderheit des Soldatenberufs“ 13 und das Scheitern der Konzeption vom „Staatsbürger in Uniform“ bis auf den heutigen Tag; insbesondere die sukzessive und beharrliche Zurückdrängung fortschrittlicher Studieninhalte an den Hochschulen der Bundeswehr durch einflußreiche konservative Offiziere, die in einer ausgezeichneten empirischen Studie von Jopp nachgezeichnet und belegt wird 14, wirft ein weiteres Schlaglicht auf den in maßgeblichen Kreisen der Bundeswehr vorherrschenden politisch-ideologischen Geist.

Zieht man weiterhin in Betracht, daß der Einfluß der Bundeswehr über ihre eigenen Hochschulen hinaus auch andere Bereiche des zivilen Bildungswesens 15 erreicht und insbesondere der schulische Sektor 16 zum Teil in forcierter Kooperation mit der Schulverwaltung Gegenstand verstärkter ideologischer Anstrengungen und Einflüsse ist, daß die Bundeswehr sich, bedingt durch die noch weiter ansteigende Arbeitslosigkeit, um den Zulauf anpassungwilliger Freiwilliger, eventuell auch noch weiblicher Bewerberinnen, die dort einen „sicheren“ Arbeitsplatz suchen, keine wirklichen Sorgen zu machen braucht, so dürften bereits diese wenigen Hinweise deutlich werden lassen, daß die Friedensbewegung in Zusammenarbeit mit ihr verbundenen Wissenschaftlern der tendenziell wachsenden gesellschaftlichen Einflußnahme des Militärs erheblich mehr und differenzierte Aufmerksamkeit widmen und zur permanenten Veröffentlichung des „ubiquitären Militarismus“ 17 beitragen sollte, wenn sie an politischer Wirksamkeit gewinnen will.

Bei ihrer Auseinandersetzung mit der Bundeswehr hat die Friedensbewegung von der Tatsache auszugehen, daß die Streitkräfte der Bundesrepublik keinen monolithischen Block darstellen, sondern – wie verschiedene Initiativen kritischer Soldaten mit jeweils unterschiedlichen Anliegen gezeigt haben – auch innerhalb der Armee fortschrittliche und demokratische Kräfte existieren, die als genuine Ansprechpartner und Verbündete der Friedensbewegung anzusehen sind.

In den 70er Jahren sind kritische Impulse innerhalb der Bundeswehr vorwiegend von gewerkschaftlich orientierten wehrpflichtigen Mannschaftsdienstgraden ausgegangen. 18 Gleichzeitig haben aber auch fortschrittliche junge Offiziere, motiviert durch eigene Erfahrungen als Einheitsführer auf unterer Ebene und als Jugendoffiziere, durch die Publizierung ihrer Kenntnisse und Positionen einen erheblichen Beitrag zur Veröffentlichung der in der Bundeswehr herrschenden restriktiven politischen und ideologischen Verhältnisse und zur Entwicklung kritischer öffentlicher Aufmerksamkeit gegenüber den Streitkräften geleistet. 19 In der Diskussion um die zunehmende Verschärfung der US-Positionen innerhalb der NATO und die Folgen der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen haben sich darüber hinaus weitere Offiziere und Unteroffiziere zu Wort gemeldet und unter Bezugnahme auf die Verfassung und Souveränität der Bundesrepublik die Stationierung als der Sicherheit unseres Landes und des Friedens insgesamt abträglich kritisiert. 20

Teilweise arbeiten bereits Offiziere in lokalen Friedensinitiativen mit. 21 Mindestens ein Drittel der etwa 7000 jungen Offiziere, die in den letzten Jahren die Hochschulen der Bundeswehr absolviert haben, betrachtet nach einer Untersuchung des Verteidigungsministeriums die Friedensbewegung immerhin „mit skeptischer Sympathie“. 22

Die am weitesten entwickelte Position innerhalb dieser demokratischen Initiativen von Berufs- und Zeitsoldaten dürfte mit dem sogenannten „Darmstädter Signal“ markiert worden sein 23, und es kann vermutet werden, daß die Zahl derer, die die inhaltlichen Positionen des „Darmstädter Signals“ teilen, innerhalb der Bundeswehr erheblich größer ist, als die Zahl derjenigen, die sich bisher offen dazu zu äußern gewagt haben.

Für die Friedensbewegung der 80er Jahre. besteht zunächst einmal die Notwendigkeit, sich hinreichende Kenntnisse über die Entstehung, Geschichte und Rolle der Bundeswehr im gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik zu verschaffen. Die wenigen kritischen Publikationen zu diesem Themenkomplex verdeutlichen schnell, daß hier von praktisch orientierten und sachlich wie didaktisch kompetenten Historikern, Soziologen, Psychologen u.a.m. noch ein erhebliches Pensum an „Aufklärungsarbeit“ zu leisten ist.

Eine von ihrem Selbstverständnis her praktisch-politische Friedensbewegung findet in der Analyse der gesellschaftlichen Präsenz und Aktivität der Bundeswehr 24, in der Auseinandersetzung mit Funktionen, Techniken und individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen militärischer Qualifikation und Sozialisation, in der konkreten und fallstudienartig durchzuführenden Untersuchung vermuteter Militarisierungsprozesse, in der Thematisierung des Verhältnisses von Militär und Medien in der BRD, in kontinuierlichen regionalen und lokalen Militäranalysen u.v.a.m. ein weites und bislang wenig beschrittenes Feld für Forschungs-, Lehr- und Lernprozesse, die nicht im überkommenen Sinne akademisch sind und als Beitrag zur Qualifizierung der Friedensbewegung einen Teil der Verantwortung der Wissenschaftler für den Frieden realisieren können.

Nicht zuletzt könnte die Tatsache, daß gerade Sozialwissenschaftler aus dem Umfeld der Bundeswehr auf den miserablen Zustand der mit dem Militär befaßten Soziologie hinweisen, in der Friedensbewegung engagierte Wissenschaftler dazu motivieren, über eine eben nicht „für den Dienstgebrauch“ gedachte Sozialforschung nachzudenken und sich dem Themenkomplex „Bundeswehr in Politik und Gesellschaft der BRD“ in Forschung, Lehre und Publikation intensiver und von der Form her zugänglicher zu engagieren 25.

Anmerkungen

1 Vgl. Steinweg, R. (Hg) 1981. Unsere Bundeswehr? Zum 25jährigen Bestehen einer umstrittenen Institution. Frankfurt/M. Das Verdienst, sich als Teil der Friedensbewegung von Anfang an vehement gegen die Militarisierung weiterer Arbeits- und Lebensbereiche gewehrt zu haben, kommt ohne Frage der demokratischen Frauenbewegung zu. Vgl. Janken, R. 1980. Frauen ans Gewehr? Köln (erweiterte Auflage 1983).Zurück

2 Eine der wenigen Ausnahmen stellt das bereits 1973 erschienene Buch von W. von Bredow, Die unbewältigte Bundeswehr. Zur Perfektionierung eines Anachronismus. Frankfurt/M., dar. Siehe dazu weiter Münch, M. 1983. Bundeswehr – Gefahr für die Demokratie? Köln.Zurück

3 von Bredow, W. 1983. Moderner Militarismus. Analyse und Kritik. Stuttgart. S. 98.Zurück

4 Der Spiegel. 10.10.1983, S. 22.Zurück

5 Delle, V. 1984. Die Zeichen werden nicht zurückgenommen. Zur Situation der Friedensbewegung. Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/1984. S. 262. Siehe weiterhin Beck Oberdorf, M./ Bredthauer, K./ Delle, V./ Dietzel, P./ Leinen, J. / Matthiessen, G./ Stammer, S. 1984. Bestandsaufnahme. Die Friedensbewegung und die neue Lage nach Stationierungsbeginn. Blätter für deutsche und internationale Politik. 5/1984.Zurück

6 Siehe dazu u.a. von Bredow, W. 1969. Der Primat des militärischen Denkens. Die Bundeswehr und das Problem der okkupierten Öffentlichkeit. Köln; von Bredow 1973. a.a.O. München 1983. a.a.O.Zurück

7 Vgl. u.a. Zoll, R./ Lippert, E./ Rössler, T. (Hg.) 1977. Bundeswehr und Gesellschaft. Ein Wörterbuch. Opladen; Zoll, R. (Hg.) 1979. Wie integriert ist die Bundeswehr? Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. München; Zoll, R. (Hg.) 1982. Sicherheit und Militär. Genese, Struktur und Wandel von Meinungsbildern in Militär und Gesellschaft. Opladen. Das Heft B 16/82 der Publikation „Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament“ vom 24.4.1982 enthält ausschließlich Beiträge zur Thematik Bundeswehr. Vgl. Kutz, M. Offiziersausbildung in der Bundeswehr. Historische und strukturelle Probleme. Zimmermann, P. Die Hochschulen der Bundeswehr. Ein Reformmodell in der Bewährung; Barth, P. Jugend und Bundeswehr. a.a.O.Zurück

8 Zur Kritik der Leistungsfähigkeit verschiedener MIK-Ansätze siehe von Bredow 1983. a.a.O. S. 65 ff. Zurück

9 Vgl. Ganser, H. W. (Hg.) 1980. Technokraten in Uniform. Die innere Krise der Bundeswehr. Reinbek; Hesslein, B. C. (Hg.) 1977. Die unbewältigte Vergangenheit der Bundeswehr. Fünf Offiziere zur Krise der Inneren Führung. Reinbek; Senger, R./ Wakenhut, R. 1982. Moralische Segmentierung und der Anspruch der Inneren Führung. Zoll (Hg.) 1982. a.a.O.Zurück

10 Vgl. Bald, D./ Krämer-Badoni, T./ Wakenhut, R. 1981. Innere Führung und Sozialisation. Steinweg (Hg.) 1981, a.a.O., S. 134 ff.Zurück

11 Moneta, J./ Horn, E./ Hansen, K.H. 1974 Bundeswehr in der Demokratie – Macht ohne Kontrolle? Frankfurt/M., S. 70.Zurück

12 Geiss, I. 1974. Bundeswehr und Demokratie. Moneta/Horn/Hansen 1974. a.a.O.S. X.Zurück

13 Der Spiegel. 10.10. 1983. S. 21.Zurück

14 Jopp, M. 1983. Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Das Beispiel der Bildungsreform in der Bundeswehr. Frankfurt/M./New York. Die sogenannte „Schnez-Studie“, in der Albert Schnez, seinerzeit Inspekteur des Heeres, 1969 seine reaktionären Vorstellungen von der Bundeswehr als „Kampf-, Schicksals- und Notgemeinschaft“ dargelegt hat, ist unter dem Titel „Gedanken zur Verbesserung der Inneren Ordnung des Heeres“ in dem von K. Heßler herausgegebenen Band Militär – Gehorsam – Meinung. Berlin/New York, 1971 abgedruckt.Zurück

15 Siehe u.a. Rilling, R. 1983. Militärische Forschung an den Hochschulen. Informationsdienst Wissenschaft und Frieden. 1/83 und 1/84.Zurück

16 Kerbst R./ Witt, G. 1983. Militarisierung des Bildungswesens. Englisch Amerikanische Studien. 2,3/83. Kerbst, R./Witt, G. (Hg.) 1984. Bundeswehr und Schule. Militarisierung – Jugendoffiziere – Friedenserziehung. Köln.Zurück

17 von Bredow 1983. a.a.O. S.111.Zurück

18 In diesem Zusammenhang sind insbesondere die unter den Titeln „Soldat 70“ und „Soldat 74“ bekanntgewordenen Positionspapiere wehrpflichtiger Soldaten zu nennen. Beide Papiere sind als Sonderdruck der in Dortmund erscheinenden Zeitschrift „elan“ erschienen. Demgegenüber sind die unter dem Titel „Leutnant 70“ erschienenen Thesen eindeutig affirmativer Art; „Leutnant 70“ ist abgedruckt in Blätter für deutsche und internationale Politik. 3/1970.Zurück

19 Vgl. dazu Hesslein 1977. a.a.O. und Ganser 1980. a.a.O.Zurück

20 Vgl. den Bericht im Stern vom 23.2.1984 unter dem Titel „Jetzt reden wir. Soldaten der Bundeswehr über Nachrüstung. MAD und Innere Führung“.Zurück

21 Der Spiegel. 6.12. 1982. S. 74.Zurück

22 Der Spiegel. 10.10. 1983. S. 21.Zurück

23 Vgl. „Darmstädter Signal“. Aktive Soldaten und Mitarbeiter der Bundeswehr sagen NEIN zur Stationierung neuer Atomraketen in unserem Land. Blätter für deutsche und internationale Politik. 4/1984.Zurück

24 Die Präsenz der Bundeswehr beschränkt sich keineswegs nur auf militärische Ausstellungen oder Schauveranstaltungen; vgl. dazu den Bericht „Ein wehrhaftes Volk“ in Konkret 12/1983. Gewissermaßen auf „leisen Sohlen“ gewinnt die Bundeswehr an Akzeptanz und politisch-ideologischem Einfluß über Kontakte z.B. zu Managerclubs, gezielte Einladungen zu Truppenbesuchen an bestimmte Personenkreise, über Einladungen von Offizieren zu lokalen politischen „Ereignissen“, Kultur- und Sportveranstaltungen oder „Sommerfesten“ von Behörden und anderen Institutionen, über informelle Gesprächs- und Arbeitskreise u.a.m. Diese aus einer anderen Perspektive auch als Verzivilisierung des Militärs beschriebenen Prozesse, die hier als latente Einflußnahme des Militärs auf verschiedenste gesellschaftliche Bereiche angenommen werden, sind bislang nur wenig untersucht und dargestellt worden.Zurück

25 „Nur für den Dienstgebrauch“ ist eine bundeswehrspezifische Bezeichnung für die niedrigste Einstufung von Verschlußsachen. Vgl. Lippert, E./Wachtler, G. 1982. Militärsoziologie – eine Soziologie „nur für den Dienstgebrauch?“. Beck, U. (Hg.) Soziologie und Praxis. Göttingen (Sonderband I der Zeitschrift Soziale Welt) Zurück

Dr. Rolf Schellhase ist Soziologe in Münster

Was wir brauchen. GEW-Kongreß in Göttingen

Was wir brauchen. GEW-Kongreß in Göttingen

von Jürgen Schutte

Die Gewerkschaften und die Friedensbewegung befinden sich auch im Wissenschaftsbereich noch in einem langwierigen und zeitweise deprimierend komplizierten Prozeß der Annäherung Der Umgang der einen mit den anderen kann aber wesentlich gefördert werden, wenn wir mehr und inhaltlich intensiver miteinander reden. Dies zeigte sich auch auf dem Kongreß „Hochschule in der Demokratie – Demokratie in der Hochschule den die GEW in Zusammenarbeit mit dem DGB, seinen Mitgliedsgewerkschaften und der Hans-Böckler-Stiftung vom 7.-10. Dezember 1984 in Göttingen durchgeführt hat.

Hier wurde in der Arbeitsgruppe „Für Frieden und Abrüstung – gegen eine Wissenschaft, die sich dem Problem der Bedrohung von Frieden und Arbeit nicht stellt“ u. a. eine intensive Diskussion über die Frage geführt, welche Forderungen die Gewerkschaften und die Friedensbewegung an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, wie sich das Verhältnis von Gewerkschaft, Friedensbewegung und Wissenschaft in Zukunft produktiv weiterentwickeln ließe

Beide Teile, Gewerkschaften wie Friedensbewegung, wären erst einmal aufgefordert, die jeweils eigene, aus der Tradition des politischen Handelns entstandene Auffassung und Verhaltensform so offen und erkennbar wie möglich in der Öffentlichkeit darzustellen, gegebenenfalls auch kritisch zu hinterfragen und immer wieder auch dem jeweiligen Handlungspartner nahezubringen. Die immer wieder zutagetretenden Probleme lassen sich nicht durch einfachen Appell beseitigen; wir sind im Interesse der gemeinsamen Sache aufgefordert, das Zusammengehen als einen beiderseitigen Lernprozeß zu organisieren, bei dem zunächst nicht mehr – aber auch nicht weniger – gefordert ist als Respekt vor dem Anderen. Es läßt sich ja doch beobachten, daß die Unkenntnis der Gedanken und Motive einen Leerraum schafft, in den unhabachtet und nicht selten unbewußt die gesellschaftlich verbreiteten von den herrschenden Kreisen sorgsam gepflegten Ängste und Vorurteile einwandern. Das lähmt uns gegebenenfalls und nützt in letzter Instanz nur denjenigen, die von der nächsten Runde des Wettrüstens mit ihren gefährlichen und teuren Projekten politisch oder finanziell profitieren wollen.

Sicherlich ist, das zeigte der Erfahrungsaustausch in Göttingen ebenfalls ganz deutlich, die Zusammenarbeit vor Ort, an den einzelnen Hochschulen und Wissenschaftsinstitutionen, schon weitgehend selbstverständlich und gewohnt. Zahllose Ringvorlesungen, Vortragsreihen, Workshops, Initiativen mit ganz unterschiedlichen Veranstaltungsformen und Adressaten, werden von gewerkschaftlich organisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mitgetragen.

Die Forderung des DGB-Bundeskongresses von 1982, „auf allen Ebenen eigene Maßnahmen (zu) organisieren und weiter(zu)führen" sowie „das Bewußtsein für eine aktive Friedenspolitik zu stärken“, ist ohne weitreichende Mobilisierung der gewerkschaftlich orientierten und organisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht zu erfüllen. Aus der Geschichte und Erfahrung der Gewerkschaftsbewegung ist vor allem der Gedanke beizutragen, daß es einen unauflösbaren Zusammenhang gibt zwischen der Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie den Fragen von Aufrüstung und Abrüstung, Frieden und Krieg. Beide Aspekte der Sache, die durchaus nicht in allen Gruppen der Friedensbewegung zusammengesehen werden, sind uns z. B. vertraut als die Frage nach den in der Abrüstungsdiskussion infragestehenden Arbeitsplatzinteressen. Auch zu diesen noch durchaus nicht zufriedenstellend geklärten Problemen wurde in der Arbeitsgruppe des Kongresses sehr konkret diskutiert. Was sagen wir jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die eine Beschäftigungsmöglichkeit im Zusammenhang von Rüstungsforschung angeboten bekommen? Wie sprechen wir mit Kolleginnen und Kollegen, deren Arbeitsplätze an der Aufnahme oder Fortführung von Panzer- oder Flugzeugproduktion hängen? Alle diese Fragen, die sich schnell zu einer Diskussion über gesellschaftspolitische Alternativen überhaupt ausweiten, bedürfen einer kontinuierlichen und verantwortungsbewußten Diskussion, in der wir auf keinen noch so utopischen Vorschlag vorab verzichten können. Diese Diskussion und eine große Anstrengung öffentlicher Verbreitung solcher Fragen und unserer – vorläufigen – Antworten sind die Voraussetzung dafür, daß es uns wirklich gelingt, die friedenspolitischen Forderungen des DGB in die Tat umzusetzen.

Die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft für die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Friedensbewegung hängt darüber hinaus unmittelbar zusammen mit dem Gesamtthema des GEW-Kongresses, insofern die Arbeitsbedingungen an den Hochschulen über den Charakter der an ihnen erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse mitentscheiden. Dies war ein weiterer Gesichtspunkt der Diskussion in der Arbeitsgruppe. Als ein wenn nicht beabsichtigter, so doch gerne akzeptierter Nebeneffekt der von der CDU/F.D.P.

Koalition geplanten Novellierung des Hochschulrahmengesetzes ist die weitere Erschwerung sowohl kritischer Wissenschaft als auch ihrer Vermittlung in die Öffentlichkeit analysierbar. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes, der beruflichen und sozialen Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie die Mitbestimmung an den Hochschulen und Forschungsinstitutionen entscheiden wesentlich darüber, ob es eine „Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung" noch geben wird – oder eine in unternehmerischer Regie. Die gegenwärtig gegebenen Möglichkeiten friedenspolitischen Engagements in der Hochschule sind nicht zuletzt auf die durch die wie immer in Ansätzen steckengebliebene Hochschulreform der siebziger Jahre mitbestimmt.

Über die in den Erfahrungsberichten aus den Hochschulen dokumentierten Veranstaltungen und Handlungsformen hinaus wären für die weitere Arbeit u.a. denkbar:

  • die Erstellung einer Referentenliste für die Gruppen der Friedensbewegung;
  • ein Verzeichnis der gewerkschaftlichen Friedensarbeitskreise und einschlägigen Projekte, damit örtliche Kontaktaufnahme ermöglicht wird;
  • Verankerung friedenspolitischer Themen und Projekte in bestehenden Kooperationsverträgen zwischen Gewerkschaften und Hochschulen;
  • verstärkte Einbeziehung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern von „außerhalb“ in Hochschulveranstaltungen zum Thema Frieden und Abrüstung;
  • kontinuierlichere Zusammenarbeit von örtlichen und regionalen Gewerkschaftsgliederungen – über die ÖTV hinaus – mit Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen einschließlich der Allgemeinen Studentenausschüsse;
  • stärkere Verbreitung der Forschungsergebnisse zu Fragen friedenspolitischer Bedeutung in den Gewerkschaften (Gewerkschaftspresse);
  • friedenspolitische Akzentuierung von „Prüfsteinen“ und Veranstaltungen zu den anstehenden Landtagswahlen wie zur Zeit in Berlin von der Hochschullehrer-lnitiative „Wählen Sie keine Parteien, die das Wettrüsten unterstützen!“ vorgeführt.

Ein ausführlicher Bericht des GEW-Kongresses „Hochschule in der Demokratie – Demokratie in der Hochschule“ von 7.-10.12.1984 in Göttingen mit der Dokumentation der wichtigsten Materialien wird voraussichtlich im April 1985 erscheinen und kann dann über den Buchhandel bzw. beim GEW-Hauptvorstand. Referat Hochschule und Forschung, Unterlindau 58, 6000 Frankfurt/Main, bezogen werden.

Jürgen Schulte ist Vorsitzender des Fachgruppenausschusses „Hochschule und Forschung“ und Mitglied im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Er ist Privatdozent und lehrt an der FU Berlin.

Den Frieden lehren. Einige Anmerkungen zu „Friedensvorlesungen“

Den Frieden lehren. Einige Anmerkungen zu „Friedensvorlesungen“

von Ranganathan Yogeshwar

Seit einiger Zeit finden an vielen Hochschulen der BRD Ringvorlesungen zur Friedensthematik statt. Die Zahl dieser wöchentlich stattfindenden, zum Teil öffentlichen Veranstaltungen, steigt. Dieser Beitrag analysiert einige Aspekte dieser Ringvorlesungen.

Als im vergangenen Wintersemester (1983/ 84) die Aachener Ringvorlesung „Verantwortung für den Frieden“ einen alle Erwartungen übertreffenden Erfolg feierte, fragte ich mich, ob es sich hierbei nur um ein „lokales“ Ereignis handeln würde, oder ob sich vielleicht Ähnliches auch an anderen Hochschulen der BRD abspielen würde. Die Beantwortung dieser Frage war jedoch nicht einfach: Wohl gab es vereinzelt Hinweise auf andere Veranstaltungen, jedoch wurde mir schnell bewußt, daß kein richtiger Überblick existierte. In einer Vielzahl von Telefongesprächen und Briefen löste sich der Nebel auf und ein erstaunliches Resultat wurde sichtbar: Es stellte sich heraus, daß bundesweit über 20 Ringvorlesungen stattfanden (Im Vergleich: Insgesamt gibt es in der BRD 39 Universitäten und 7 Technische Hochschulen.) Diese Reihen waren eine neben der anderen entstanden, glichen sich in Form und Art, und all, dieses, ohne daß es einen gemeinsamen Aufruf oder gar eine zentrale Koordination gegeben hätte. Die Erfreulichkeit dieser Tatsache bewog mich dazu, innerhalb des „Göttinger Kongresses“ den „Workshop: Ringvorlesungen“ zu organisieren und durchzufahren. Es erschien wichtig, auch die anderen darüber zu informieren, daß es sich bei den „Friedensvorlesungen“ nicht um Einzelveranstaltungen handelte, sondern daß sich ein möglicher Beginn einer breiten Bewegung an den Hochschulen abzeichnete, vielleicht eine neue Form des „Studium Generale“?

Was jedoch stellen diese Ringvorlesungen dar, wie waren sie aufgebaut, was war ihre Zielsetzung? Die Veranstaltungen waren „interdisziplinär“: Aus den verschiedensten Fachbereichen, von der Physik bis zu den Theaterwissenschaften wurden wöchentlich Vorträge zur Friedensthematik gehalten. Meist kamen die Referenten aus dem Hochschulbereich. Die Zielsetzung war, innerhalb von mehr oder weniger allgemeinverständlichen Vorträgen die Verantwortung des Wissenschaftlers sowie Aspekte der Friedensproblematik aus der Sicht des eigenen Fachbereichs zu verdeutlichen. Wieso aber ist dieses so wichtig?

Folgen der Wissenschaft bedenken

An den meisten Hochschulen der BRD und auch anderer Staaten werden Studenten kaum mit den Konsequenzen ihres Faches vertraut: im Gegenteil oft zieht man eine „wertfreie“ Anschauung vor, die kritische Auseinandersetzung wird allzuoft als negativ oder gar „zersetzend“ bewertet. Diese Haltung ist um so schlimmer, da der spätere Beruf oftmals in enger Beziehung mit der Rüstungsindustrie bzw. -forschung steht. So schreibt z. B. der amerikanische Physiker E. L. Woollett:

„…Die Hälfte aller Physiker und Ingenieure machen Forschung und Entwicklung; davon die Hälfte ist mit Forschung und Entwicklung für Rüstungszwecke beschäftigt.“ (E. L. Woollett. „Physics and modern warfare: the akward silence“ in Amer. J. Phys. 48 (2) 1980)

Nach Schätzungen arbeiteten Anfang der 80er Jahre zwischen 15 und 30 % der rund 2,5 Millionen Wissenschaftler der Erde (ohne Sozial- und Kulturwissenschaftler) für die Rüstungsforschung und -entwicklung. Den meisten Studenten aber ist diese Tatsache unbekannt, und die Ignoranz über den Stellenwert des gewählten Faches in bezug auf militärische Zwecke möchte ich als skandalös bezeichnen. Ein Ziel muß es also sein, dieses Loch an Unwissenheit zu füllen. Die Interdisziplinarität spielt hierbei eine Schlüsselrolle: Die immer enger werdende Spezialisierung verschlechtert den Kontakt zu anderen Disziplinen. Man forscht und entwickelt – und übersieht oftmals die Konsequenzen der Entwicklung, die häufig weit über den eigenen Fachbereich hinausragen. Umgekehrt ignoriert der Einzelne oftmals den „großen Rahmen“, der seine Tätigkeit umgibt, und so birgt gerade eine solche „ausschließende“ Spezialisierung eine große Gefahr des Mißbrauchs. Ein bekanntes Beispiel soll dies verdeutlichen:

„Insgesamt wurden für den Bau der Bomben 2 Milliarden Dollar investiert und 150 000 Menschen, darunter 14 000 Physiker, Chemiker und Ingenieure beschäftigt. Davon durften allerdings nur wenige (max. 100) Personen von dem übergeordneten Ziel der vielen Teilaufgaben informiert gewesen sein.“

(Vgl. R. Jungk: „Heller als Tausend Sonnen“, Reinbek 1964)

Aber aufgepaßt! Viele kritische Geister zitieren im Kontext des militärischen Mißbrauchs von wissenschaftlicher Erkenntnis historische Beispiele, ohne jedoch die Aktualität dieser Tatsache zu unterstreichen, so daß bei manchen der falsche Eindruck entsteht, es handele sich um einen längst begangenen Fehltritt der Wissenschaft, der mittlerweile behoben sei. Gerade die Aktualität der gesamten Thematik ist eine wichtige Eigenschaft dieser Reihen, denen man manchmal nachsagt, sie seien „politische Manifestationen“. Wohl sind es politische Themen, die behandelt werden; die Vorträge vermitteln allerdings ein Fundament an Informationen und Wissen, daß bei Manifestationen oftmals fehlt. Bleiben wir jedoch noch einen Moment bei der Vielfalt der beteiligten Fachbereiche: Wie breit war eigentlich das Spektrum der beteiligten Disziplinen? Ich verglich die Verteilung der Ringvorlesungsbeiträge mit der Verteilung der Studenten nach Fachbereichen (Abb. S. 13). Beispiel: Momentan studieren etwa 16 % aller Studenten ein naturwissenschaftliches Fach; demgegenüber befaßten sich etwa 30 % aller fast 200 gehaltener Vorträge innerhalb der Ringvorlesungen mit naturwissenschaftlichen Aspekten der Friedensthematik. Darunter fallen Vorträge über Kernwaffen oder über chemische Waffen etc. Man erkennt, daß Natur-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften überproportional an den Veranstaltungen beteiligt waren, die anderen Disziplinen in etwa entsprechend der „Erwartung“. Es gibt jedoch eine deutliche Ausnahme: Stellen die Ingenieurwissenschaften im Hochschulspektrum immerhin 18 % aller Studenten, so fehlten sie fast vollkommen bei den Ringvorlesungen! Dieses Fehlen eines so wichtigen Zweiges, der stark innerhalb der militärischen Forschung und Entwicklung verwickelt und beteiligt ist, erscheint mir erstaunlich. Wieso fehlen die Ingenieure? Eine mögliche Erklärung ist ihre Verbindung mit der Industrie: Sind andere Fachbereiche oftmals abgekoppelt von der Welt außerhalb der Hochschule, so sind es fast ausschließlich die Ingenieurwissenschaften, die durch Forschungsaufträge und Praktika einen tiefen Kontakt zur Industrie pflegen. In dieser Umgebung wird wohl kaum eine kritische Haltung zur eigenen Tätigkeit bzw. zur beteiligten Firma gefördert!

Kontakt zur Öffentlichkeit wichtig

Ein wichtiger Punkt ist der Kontakt zur Öffentlichkeit. Hatte doch auf manchen Plakaten der Reihen ein Satz wie „für jeden zugänglich“ gestanden, hatte die Lokalpresse manchen Bürger dazu aufgerufen, sich an der Reihe zu beteiligen, so kamen dennoch wenige. Wohl gab es einige, doch sie standen in keinem Verhältnis zu den oft über 1000 Zuhörern aus dem Hochschulbereich. Dieses Zeichen scheint mir ein Symptom einer tiefen und ernsten Krankheit zu sein, die nicht nur den Hochschulbereich sondern gar einen Großteil der Wissenschaft befallen hat. Über Jahre hat eine Abkopplung von der Gesellschaft stattgefunden. Der Wissenschaftler ignoriert allzuoft die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Sind die Mittel zur Forschung bewilligt, so zieht er sich in seinen Elfenbeinturm zurück und tritt kaum mit der Außenwelt in Verbindung. Etwas überspitzt schreibt z. B. H. G. B. Casimir:

„Die Förderung der Elementarteilchenphysik ist „eine niedliche Farce“. Die Gesellschaft gibt vor, die Teilchenphysik zu unterstützen, weil sie an deren Erkenntnissen interessiert ist, obwohl sie jedoch in Wirklichkeit nur praktische Resultate will. Und die Teilchenphysiker halten diese Hoffnung auf praktische Anwendung aufrecht, obwohl sie eigentlich nur an den fundamentalen Zusammenhängen interessiert sind.“ (H. G. B. Casimir: „Avoid military research, Casimir tells physicists“, Phys. today Dez. 1975)

Diese Haltung wird womöglich durch die Tatsache unterstützt, daß die immer fortschreitende Technik sich von den meisten Bürgern entfremdet hat und diese nur noch zu unwissenden Verbrauchern degradiert, verstärkt durch eine hohe Trennmauer von Fachtermini und Formeln zwischen Wissenden und Unwissenden. Die technische Entfremdung der nächsten Umgebung hat viele in eine passive Haltung gezwungen, in der sie, die Funktionsprinzipien ignorierend, in einer unaufhaltsam steigenden Innovationsflut untergehen. Hierdurch flaut eine kompetente Kritik des Bürgers an den Werken der Wissenschaftler ab und übergibt letzterer einen nie dagewesenen Freiraum. Die Aufspaltung zwischen Wissenschaft und Bürger birgt eine tiefe und zu wenig beachtete Gefahr in sich. Gerade die engagierten Referenden der Vortragsreihen sollten diesen Punkt mehr als bisher beachten: Alleine der vernünftige Gebrauch der Sprache mit dem Ziel einer Allgemeinverständlichkeit wäre ein großer Schritt hin zu mehr Kontakt mit der Öffentlichkeit. Das Aufgeben gewisser „Privilegien“ ist vielleicht der Preis, den Wissenschaftler bezahlen müssen, falls sie ihre Verantwortung dem Bürger glaubhaft machen möchten. Eine solche Haltung sehe ich in einem gewissen Gegensatz zu Formeln wie „Die Mainzer 23“, die wohl in Verbindung mit dem illustren Kreis der „Göttinger 18“ gebracht werden sollen…! Was gibt es für Alternativen zu den Ringvorlesungen? Auf den ersten Blick fallen fachinterne Seminare auf, Kolloquien und Arbeitsgruppen. Die bessere Frage ist jedoch: Müssen es Alternativen sein? Es gibt zusätzliches, was man tun kann, jedoch die Form dieser Vortragsreihen, die oftmals die einzigen interdisziplinären Veranstaltungen im Angebot der Hochschulen darstellen, sollte aus manchem der genannten Gründe fortgesetzt werden, also kein „Entweder oder“ sondern ein „Sowohl als auch!“ Am wichtigsten erscheint mir die Einbeziehung der Verantwortungs- und Friedensthematik in den regulären Unterricht. Langfristig sollte die Behandlung dieser Aspekte ein fester Bestandteil des Lehrstoffs werden und nicht durch Veranstaltungen außerhalb des regulären Lehrbetriebs nur wenigen Interessierten vermittelt werden. Nur so kann die starke Kopplung zwischen dem Erlernten und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen bewußt gemacht werden.

Kontinuität sichern

Ein letzter Punkt sollte erwähnt werden: die Kontinuität. Viele Ringvorlesungen begannen im Rahmen der Aufrüstungsdebatte im vergangenen Herbst. Das allgemeine Interesse an dieser Debatte flaut leider etwas ab, doch dieses Verhalten hat sich auch bei vergangenen Auseinandersetzungen gezeigt. Auch bei Wissenschaftlern lösen solche Debatten eine Aktivität aus, die unmittelbar politische Ziele hat. Nach einem Erfolg (z. B. das Atomteststop-Abkommen) oder einem Mißerfolg (z. B. die jetzt stattgefundene Stationierung) läßt das Engagement nach, und die meisten der Betroffenen wenden sich wieder ihrer „alltäglichen“ Beschäftigung zu. Im Gegensatz zu diesen politischen „Höhepunkten“ beinhaltet die Idee der Lehre eine Kontinuität. Die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers ist keine eng zeitlich begrenzte, sondern trägt Langzeitcharakter. Aktuelle Themen sollen helfen, diese Frage immer wieder neu zu stellen; das Ziel ist jedoch eine langfristige Veränderung des Bewußtseins. Von daher sollten sich Veranstalter solcher Reihen nicht enttäuschen lassen, falls die Zuhörerzahlen etwas schrumpfen. Wichtig ist, die Verantwortungs- und Friedensthematik langfristig in die Hochschulen zu integrieren, und dieses Ziel ist erreichbar, wenn wir es nur wollen.

Anmerkung: Im Rahmen des „Workshops: Ringvorlesungen“ hat sich das „Forum Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung“ (Kontaktadresse: Dr. H. G. Franke, Institut für Kernphysik, Domagkstr. 71, 44 Münster) bereit erklärt, Interessenten für die Organisation von Ringvorlesungen zu unterstützen. (Referentenlisten, Literaturverzeichnisse…)

Editorial

Editorial

Die Lage der Friedensbewegung?

von Redaktion

Die Herbstaktionen haben trotz der unermüdlichen Arbeit vieler Friedensgruppen wohl vor allem beim äußeren Kreis der im Laufe des letzten Jahres erstmals Aktivierten Ermüdungserscheinungen signalisiert. Doch zugleich lassen sich jüngste Wahlergebnisse nur so deuten, daß die Anhänger der Aufrüstung weiter an Boden verlieren. Hier zeigen sich die Wirkungen der steten Aufklärungsarbeit.

In der Wissenschaftlerfriedensbewegung hat sich gerade mit dem Göttinger Kongreß gegen die Militarisierung des Weltraums außerordentliche Kontinuität gezeigt. Neue Initiativen bilden sich: Kongresse der Planer und der Kulturwissenschaftler stehen bevor.

Eine wichtige Aufgabe der Friedensbewegung ist die Sicherung der inzwischen aufgebauten Infrastruktur. Der Informationsdienst ist Teil dieser Infrastruktur: Wir versuchen den Initiativen und Mitgliedern der Friedensbewegung durch qualifizierte Fachbeiträge, Materialien zur Rüstungsproblematik und das Angebot des wechselseitigen Informationsaustausches zu nützen.

Nach einem Jahr Arbeit sind wir recht zufrieden: das im Oktober 1983 gestartete Projekt ist angenommen worden. Der Informationsdienst ist heute in den meisten großen Wissenschaftlerinitiativen fest verankert. Es gibt Leserresonanz und vor allem: Mitarbeit durch Beiträge, Informationsübermittlung, Anfragen.

Der Informationsdienst ist ein Non-Profit-Unternehmen: die Einnahmen werden ausschließlich zur Absicherung des Projektes verwandt. Der, Info-Etat ist vom Haushalt des Herausgebers BdWi getrennt. Die finanziellen Belastungen des Projektes – jährliche Gesamtkosten von weit über 40.000 – sind extrem hoch und steigen weiter an: ab 1.1.1985 nehmen die Druckkosten aufgrund der 1984 stark gestiegenen Papierpreise rapide zu. Von Kostendeckung ist das Projekt noch weit entfernt.

Dennoch haben uns die Resonanz, natürlich auch die kontinuierlich zunehmende Anzahl von Abonnenten zu der finanziell riskanten Entscheidung Veranlaßt, das begonnene Projekt fortzufahren. Wir müssen den Verkaufspreis neu festsetzen. Das Jahresabonnement soll 1985 20.- DM betragen (für Studenten und Arbeitslose weiterhin 15,- DM). Das Einzelheft wird zukünftig 5.- DM (4,- DM) kosten. Wir bitten dringend darum, uns die beiliegende Einzugsermächtigung (siehe S. 23) möglichst rasch zurückzusenden. Sie ersparen uns eine vierstellige Portosumme!

Wir wollen im nächsten Jahr den Gebrauchswert des Informationsdienstes noch erhöhen:

– durch den intensiveren Aufbau eines Kommunikationsnetzes mit den Institutionen der US-amerikanischen Friedensbewegung und ihren Publikationen.

– durch den Ausbau unserer Verbindungen zu den Friedensinitiativen der verschiedenen Berufsgruppen und an den einzelnen Hochschulen.

– durch verstärktes Aufgreifen der Diskussion über Fragen der „Sicherheits-“ und Rüstungspolitik sowie alternativer Konzepte.

Zur Darmstädter Verweigerungsformel

Zur Darmstädter Verweigerungsformel

von Gernot Böhme

Auch wir haben Appelle unterzeichnet, auch wir konnten für manche Mark unsere Namen in Wochenblättchen lesen. Appelle, Appelle an andere! Aber wir haben dabei nicht verdrängt, daß Wissenschaftler und Techniker einen ganz wesentlichen Beitrag zur Rüstungseskalation leisten, daß sie häufig sogar die Initiatoren neuer Waffenentwicklungen sind, daß in ihren Gehirnen, auf ihren Papieren, in ihren Computern bereits Waffen konzipiert werden, lange bevor noch Militärs auch nur von ihnen träumen, geschweige den Politikern ihre Notwendigkeit postulieren können. Schon die Atombombe ist dafür ein klares Beispiel.

Wir teilten auch nicht das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer im Waffenpoker erstarrten Politik, auch nicht die Verlegenheit in Bezug auf mögliche Widerstandsformen. Denn für uns als Wissenschaftler und Techniker gibt es eine klar zu bezeichnende Aufgabe: Abrüstung im eigenen Hause! Weg mit der Rüstungsforschung! Wir haben uns deshalb auch gar nicht erst auf so hehre und so vage Ziele wie den „Frieden“ eingelassen, sondern auf das Thema, zu dem unsere Berufsgruppe durch ihr Verhalten unmittelbar etwas beiträgt: Rüstung/Abrüstung. Es gibt keine Rüstungsentwicklung ohne die Arbeit von Wissenschaftlern und Technikern! Ihre Appelle werden deshalb hohl klingen, ihre Rede von der „Verantwortung“ der Authentizität ermangeln, solange sie nicht klar und öffentlich die Verantwortung dafür übernehmen, daß sie es sind, die die Möglichkeiten der Massenvernichtung beständig steigern. Sie? Die wissenschaftlich-technische Intelligenz im ganzen. Unsere erste Maxime muß sein, mit den Spaltungen aufzuhören – in Wissenschaft und Technik, in Grundlagenforschung und Anwendung, in Hochschul- und Industrieforschung , die immer den anderen die Verantwortung zuzuschieben erlauben. Wir müssen die Debatte in unserer Berufsgruppe eröffnen, wir müssen den Konflikt wagen.

Ja, den Konflikt, denn nicht die im kleinen Friedfertigen sind die Träger des Friedens im Großen, sondern umgekehrt: die Konfliktscheuen befördern den Krieg. So dialektisch ist die Geschichte.

Eine wirklich machtvolle Aktion wäre es, wenn die Wissenschaftler und Techniker kollektiv ihre Kompetenz dem Krieg und seiner Vorbereitung verweigern würden. Rüstungsforschungsfreie Institute, Fachbereiche, Hochschulen – das wäre etwas, nicht bloß symbolisch und schon wieder lächerlich in seiner Wirkungslosigkeit wie Atomwaffenfreie Fachbereiche. Doch leider, durch Mehrheitsbeschlüsse oder auch autoritäre Anordnungen philosophischer Institutsbeherrscher ist das nicht möglich: dem steht die Freiheit der Forschung entgegen, ein Grundrecht. Aber immerhin sind wir bei diesen Überlegungen auf den Paragraphen 6 des Hessischen Hochschulgesetzes gestoßen. Es sei hier zitiert, hat man doch selten genug Gelegenheit ein Gesetz zur Hebung der Moral und zur Stärkung der Zivilcourage zu zitieren:

Alle an Forschung und Lehre beteiligten Mitglieder und Angehörigen der Universitäten haben die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis mitzubedenken. Werden ihnen Ergebnisse der Forschung, vor allem in ihrem Fachgebiet, bekannt, die bei verantwortungsloser Verwendung erhebliche Gefahren für die Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenleben der Menschen herbeiführen können, sollen sie den zuständigen Fachbereichsrat oder ein zentrales Organ der Universität davon unterrichten.

Dieses Gesetz könnte auch die Basis institutioneller Aktionen sein, Sonst gibt es nur den Weg des klaren und deutlichen NEIN! des einzelnen Wissenschaftlers und Technikers und der vielen Einzelnen. Dadurch werden wenigstens Positionen klar, wird das Problem Rüstung als Problem der wissenschaftlich-technischen Intelligenz thematisiert, als das was es für Wissenschaft und Technik ist: eine „Lebens“-Frage. Wir haben deshalb in der THD-Initiative für Abrüstung die Darmstädter Verweigerungsformel entwickelt, die wir nun mit einer Liste von Erstunterzeichnern an alle Wissenschaftler und Techniker und solche, die es werden wollen, weitergeben.

Ich sage: wir haben sie entwickelt. Und in der Tat, wir haben Monate dazu gebraucht und endlose Sitzungen. Das zeigt, wie heikel das Thema ist und wie schwer es selbst Leuten „guten Willens“ fällt, hier eine klare Stellung zu beziehen. Die eigentliche Erklärung ist nur kurz und verrät kaum, wieviel Reflexion in ihr steckt. Ich möchte sie deshalb auf dem Hintergrund unserer Diskussion erleichtern und die Argumentation bei der Weitergabe stärken.

Ich erkläre hiermit, daß ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlicher und technischen Wissen entgegenwirken.

Viele sagten, sie seien doch keine radikalen Pazifisten, auch Landesverteidigung sei zu bejahen. Diesen ist zu antworten, daß darüber durch die Formel nichts entschieden ist. Aber eine prinzipielle Verteidigungsbereitschaft braucht ja nicht die Arbeit an der ständigen technischen Verbesserung (sog. Modernisierung) der Waffen einzuschließen. Vielmehr weiß der Wissenschaftler gerade, daß jede „Verbesserung“ der Rüstung sich über kurz oder lang gegen das eigene Lager richtet. Das folgt aus der Universalität von Wissenschaft und Technik.

Wir hätten ja lieber schlicht von der Verweigerung der wissenschaftlich-technischen Kompetenz gesprochen. Aber das trifft auf die Skrupel derer, die ihre Kompetenz in Ergebnissen materialisiert und publiziert von anderen zu Rüstungszwecken verwendet sehen. Deshalb haben wir nur von der aktuellen Tätigkeit gesprochen. Und auch die haben wir näher qualifiziert: verweigert soll werden die Beteiligung an der Entwicklung militärischer Rüstung. Damit haben wir an die Fähigkeit von Wissenschaftlern und Technikern appelliert, zu erkennen, worum es in ihrer Forschung und Entwicklung geht, Allerdings war uns klar, daß es manchmal nicht zu erkennen ist, daß insbesondere die Arbeitsteilung dem Einzelnen den Durchblick auf das verwehrt: Ich will mich nicht beteiligen. „Ich werde“ wäre klarer und entschiedener gewesen. Aber so steht es eben: daß man gerade noch für seinen Willen, kaum noch für seine Handlungen gutsagen kann.

Wir sprechen von Wissenschaftlern und Technikern. „Wissenschaftler“ scheint einigen zu weit. Da würde man gerade nur die zur Unterschrift kriegen, die nicht betroffen sind, da geht das Spalten schon wieder los. Und wer ist nicht betroffen! Philosophen, Psychologen! Hat denn das Pentagon nicht die Entscheidungstheorie gefördert, ist nicht die moderne Psychophysik auf den Finanzen der Navy gewachsen? So könnte man weitertragen. So muß man weitertragen. Deshalb schließt unsere Formel mit der Verpflichtung, sich um die Aufklärung des Beitrages des eigenen Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung zu bemühen. Dieser Satz ist auch aufgenommen worden, weil einige die Formel für zu negativ hielten, andere das Unterschreiben für zu leicht. Die Verweigerung ist zugleich eine positive Verpflichtung, die Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissens für militärische Zwecke zu thematisieren und die Auseinandersetzung darüber in unserer Berufsgruppe zu entfalten.

Dr. Gernot Böhme ist Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt.

Darmstädter Verweigerungsformel

Darmstädter Verweigerungsformel

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

„Das Wettrüsten ist primär ein Produkt von politischen Kräften. Doch Wissenschaftler tragen ihrerseits zu der katastrophalen Tendenz der internationalen Verhältnisse bei. Ungefähr eine halbe Million Naturwissenschaftler und Techniker ein hoher Prozentsatz des gesamten wissenschaftlichen Personals – ist direkt in militärischer Forschung und Entwicklung beschäftigt. Diese Wissenschaftler und Techniker sind ständig damit beschäftigt, neue Mittel der Zerstörung zu entwickeln, und machen damit den Fortbestand der Spezies Mensch auf diesem Planeten immer schwieriger. Das nukleare Wettrüsten lebt von dem ständigen Zustrom wissenschaftlicher Innovationen, und der Eindruck verstärkt sich, daß die Wucht des Wettrüstens durch die Aktivitäten der Wissenschaftler bestimmt wird. Dieser Eindruck ist zwar übertrieben; eine Vielfalt von Faktoren, die miteinander wechselwirken, spielt eine Rolle, sie werden gemeinhin als der militärisch-industrielle Komplex bezeichnet. Aber die Einführung jeder neuen Waffe ist ein irreversibler Schritt, und in diesem Sinne ist die Rolle der Wissenschaftler von entscheidender Bedeutung. Diese Rolle des Wissenschaftler widerspricht seinem traditionellen Beruf.“ (Ergebnisse und Empfehlungen des Pugwash/Unesco Symposions, Ajaccio/Korsika, 1982)

Ohne die Mitarbeit von Wissenschaftlern und Technikern wäre das Wettrüsten nicht möglich. Sie haben einzeln und kollektiv sich gegen die Verwendung ihrer Fähigkeiten immer wieder gewehrt. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise haben 1957 achtzehn Atomwissenschaftler ausdrücklich und öffentlich erklärt, daß sie nicht bereit sind „sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“

Das „Gleichgewicht der Abschreckung“ war immer labil: seit der Legitimation, es erhalten zu wollen, haben beide Seiten ihr Rüstungspotential ständig erweitert und technisch verbessert. Die technischen Innovationen haben schließlich die Strategie der Kriegsverhütung durch Abschreckung überholt: Die Stationierung von Mittelstreckenraketen markiert wegen der kurzen Flugzeit und der Zielgenauigkeit den Übergang zu einem Zustand der Instabilität. In dieser Situation können technische Innovationen, auf welchem Gebiet auch immer, katastrophale Auswirkungen auf den Weltfrieden haben. Der Physiker H.P. Dürr, MIP München, hat die Situation durch folgendes Beispiel veranschaulicht: Die Erfahrung, daß man Wasser bei 30 oder bei 60 Grad noch Wärme zuführen kann, ohne daß es zu kochen anfängt, berechtigt noch nicht zu der Behauptung, daß das auch in der Nähe von 100 Grad noch möglich ist. Zwar könnte man durch Tricks auch über 100 Grad das Kochen noch eine Weile verzögern, dann genügt aber eine Kleinigkeit, um den Zustand blitzartig umkippen zu lassen. In dieser Phase der Überhitzung geraten wir, sagt er, durch die Aufrüstung mit Pershing II und Cruise Missiles hinein.

Wir sind der Meinung, daß auf diesem Hintergrund die Rolle von Wissenschaft und Technik in der Waffenentwicklung grundsätzlich zur Diskussion gestellt werden muß. Um diese Diskussion zu entfalten und meine Stellung darin klarzumachen, unterzeichne ich folgende Erklärung:

Ich erkläre hiermit, daß ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftler oder Techniker an der Entwicklung militärischer Rüstung nicht beteiligen will. Ich werde mich vielmehr um eine Aufklärung des Beitrages meines Fachgebietes zur Rüstungsentwicklung bemühen und der militärischen Verwendung wissenschaftlichen und technischen Wissen entgegenwirken.

Der Text wurde von der UHD-Initiative für Abrüstung formuliert. Erstunterzeichner sind: Von der TH Darmstadt: Prof. G. Böhme FB 2, Prof. Dahmer FB 2, Prof. Gamm FB 3, Prof. Ganter FB 4, Prof. Ipsen FBI, Prof. Kankeleit FB 5, Prof. Koneffke FB 3, Prof. Körner FB 11 Prof. K. Nixdorff FB 10, Prof. Wolters FB 13. Von der FH Darmstadt: Prof. Bartels SuK, Prof. Biel Architektur, Prof. Burhenne Informatik, Prof. Dippel, Informatik, Prof. Dolejsky MN, Prof. Köster E-Technik, Prof. Krier Informatik, Dipl.-Soz. Mayer Soz. und Kulturwiss., Prof. Meurer Gestaltung, Prof. Priewe SuK, Prof. Rasch E-Technik, Prof. Roth MN, Prof. Schwebel E-Technik, Prof. Thiem MN, Prof. Wenisch MN, Prof. Winkler Informatik.