Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung

Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung

von Jörg Calließ

»Zivil handlungsfähig? Wissenschaft, Initiativen und Organisationen, Politik als Akteure in den neuen Konflikten«. Unter diesem Thema führte die Informationsstelle Wissenschaft und Frieden im Januar eine Veranstaltung mit Aktiven aus den o.a. Bereichen durch. J.Calließ stellte auf dieser Veranstaltung sein Konzept vor, nachdem für die zivile Konfliktbearbeitung drei Zentren aufgebaut werden sollten. Ihre Funktion bestünde darin, die an ziviler Konfliktbearbeitung beteiligten Organisationen und entsprechende Verwaltungs- und politische Organe zu koordinieren sowie wissenschaftliches Know-how zu integrieren und entsprechende Öffentlichkeits- und Transfer-Arbeit zu leisten.(Nachfolgender Artikel basiert auf diesem Vortragsmanuskript.)

Der Primat ziviler Konfliktbearbeitung ist vierfach gefordert:

Begründet ist er zunächst und vor allem ethisch. Der Konsens darüber, daß Frieden vorrangig unter Verwendung friedlicher Mittel bewahrt und wo nötig geschaffen werden sollte, ist in einem jahrhundertelangen Prozeß erstritten worden und gehört zu den unverzichtbaren Errungenschaften unserer Zivilisation.

Zweitens ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung im Völkerrecht verankert. Die in Artikel 2 (3) der Charta der Vereinten Nationen festgeschriebene allgemeine Friedenspflicht weist eindeutig in diese Richtung. Deshalb ist es konsequent, daß der Generalsekretär der Vereinten Nationen Budros Ghali im Juni 1992 eine »Agenda for Peace« veröffentlichte, mit der die Entwicklung von wirksamen Instrumenten friedlicher Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung neu und nachdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Daß die internationale Völkergemeinschaft darin eine vorrangige Aufgabe sieht, zeigen auch die Bemühungen, regionale Systeme der Friedenssicherung aufzubauen. Im Rahmen des KSZE-/OSZE-Prozesses etwa wurden über die Jahre hinweg Verhaltensnormen und Kooperationsformen etabliert, die jedweder Gewalt in der Austragung von Konflikten vorbeugen sollten.

Drittens ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung durch die historische Erfahrung gestützt, und zwar zumindest in zweifacher Hinsicht: Historische Erfahrung zeigt zum einen, daß jede gewaltsame Austragung von Konflikten Kosten verursacht, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Zum anderen zeigt historische Erfahrung auch, daß zivile Konfliktbearbeitung erfolgreich sein kann. Gerade 200 Jahre nach dem Erscheinen von Kant's Schrift »Zum ewigen Frieden« ist es naheliegend, deutlich hervorzuheben, wie effektiv über ein dichtes Netz von Vereinbarungen, Verregelungen und Verrechtlichungen eine stabile Friedensordnung aufgebaut und gesichert werden kann. Der gesamte Prozeß der westeuropäischen Integration ist hierfür ein sehr ermutigendes Beispiel. Aber es gibt aus jüngster Zeit auch Beispiele dafür, daß es möglich ist, hoch brisante Konflikte, in denen lange und erbittert unter Einsatz von Gewaltmitteln gestritten wurde, in eine friedliche Bearbeitung überzuleiten.

Viertens schließlich ist der Primat ziviler Konfliktbearbeitung angesichts des Charakters der Konflikte, mit denen wir es heute hauptsächlich zu tun haben, unabweislich geboten. Die Mehrzahl der Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen, die nach 1989 stattgefunden haben und heute stattfinden, werden nicht zwischen Staaten, sondern innerhalb von bestehenden oder eben gerade zerfallenen oder sich erst konstituierenden Staaten ausgetragen. Sie haben ihren Ursprung in innergesellschaftlichen Gegensätzen und ihre Protagonisten sind gesellschaftliche Gruppen. Die Aufgabe der Sicherung und Gestaltung des inneren Friedens in solchen Gesellschaften, die latent und akut durch Bürgerkrieg bedroht sind, erfordert zunächst und vor allem, dauerhafte Formen konstruktiver gewaltfreier Konfliktbearbeitung zu institutionalisieren, auszufüllen und auszugestalten.

Das Bestehen auf dem Primat der zivilen Konfliktbearbeitung ist heute nicht länger allein Gegenargument gegen die alltägliche Praxis, in der angesichts von Konflikten immer zuerst darüber nachgedacht wird, wie mit militärischen Mitteln etwas bewirkt werden könnte. Zivile Konfliktbearbeitung ist heute eine konkrete Option und eine echte Chance. Bisher fehlt aber der notwendige organisatorische und institutionelle Unterbau für eine hochentwickelte kompetente und effektive zivile Konfliktbearbeitung. Allzulange haben sich die Staaten und die internationale Staatengemeinschaft darauf konzentriert, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß mit militärischen Mitteln in Konflikte interveniert werden kann. Im Interesse des Friedens in der Welt sind erhebliche Anstrengungen geboten, um endlich auch die Entwicklung von Konzepten und Instrumenten ziviler Gewalteindämmung, Streitbeilegung und Konfliktbearbeitung zu fördern und den Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur für die Zivilisierung der Konflikte voranzubringen. In dem Zusammenhange sind konzeptionelle und institutionelle Innovationen geboten.

Bezugspunkte für den Aufbau einer Infrastruktur

Bezugspunkte für den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung sind

  • die Herausforderung durch akute und latente Konflikte,
  • die Möglichkeit einer zivilen Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung von außen sowie
  • die Akteure und Akteursgruppen, die bereit und fähig sind, in der zivilen Konfliktbearbeitung mitzuwirken.

Dementsprechend läßt sich die gestellte Aufgabe klar umreißen: Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung erfordert die Schaffung von Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, in denen und durch die effektiv und erfolgreich

  • in bestehenden und zu erwartenden Konflikten,
  • durch bereitstehende und bereitzustellende Akteure und Akteursgruppen,
  • mit entwickelten und zu entwickelnden Konzepten, Ansätzen und Instrumenten

Gewalt eingedämmt, Streit geschlichtet und zivile Konfliktbearbeitung gefördert wird.

Hinter dieser übersichtlichen Formulierung der Aufgabenstellung stehen leider höchst unübersichtliche und dringend klärungsbedürftige Verhältnisse. Betrachtet man die Bezugspunkte, von denen her der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung entwickelt werden muß, so stößt man auf eine Reihe von offenen Fragen. Wir haben also die Situation, daß wir den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung zu einem Zeitpunkt beginnen müssen, da viele Klärungen noch ausstehen:

  • Zwar können wir die Notwendigkeit ziviler Konfliktbearbeitung betonen und begründen, und wir können immerhin auch sagen, wo sie gefordert ist, aber wir verfügen nur über lückenhafte und noch unzureichend geordnete Kenntnisse über die Konflikte, ihre Bedingungen, Dynamiken und Verläufe. Um den Bedarf an ziviler Konfliktbearbeitung päzise beschreiben zu können, bedarf es einer differenzierteren Topografie und Typologie von Konflikten sowie einer systematischeren Kenntnis über Konfliktkonstellationen, Konfliktdynamiken und Konfliktverläufe.
  • Zwar haben wir bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten der zivilen Konfliktbearbeitung entwickelt und hier und da auch schon erprobt, aber die Angemessenheit und Leistungsfähigkeit der meisten Konzepte und Instrumente können wir noch nicht klar einschätzen. Um entscheiden zu können, in welchen Fällen welche Initiativen Aussicht auf Erfolg versprechen, brauchen wir eine gründlichere Evaluation der bisher entwickelten und erprobten Konzepte und Instrumente und die Entwicklung, Erprobung und Evalution weiterer Interventionsoptionen.
  • Zwar ist eine Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Gruppen bereit, in der zivilen Konfliktbearbeitung mitzuwirken und viele von ihnen engagieren sich auch bereits ganz praktisch, aber die Klärung der Frage, wer was wie leisten kann, steht noch aus. Es gibt noch nicht einmal einen Konsens darüber, welche Fähigkeitsprofile Akteure haben müssen, die in Projekten der zivilen Gewalteindämmung, Streitschlichtung und Konfliktbearbeitung eingesetzt werden müßten, welche persönlichen Qualifikationen und welche fachlichen Kompetenzen für welche Art von Tätigkeiten erforderlich sind und wie geprüft werden könnte, wie geeignet die unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen für die Übernahme der einen oder der anderen Aufgabe sind.

Zivile Konfliktbearbeitung in Staat und Gesellschaft

Zivile Konfliktbearbeitung muß in der Staatenwelt und in der Gesellschaftswelt, auf der Makroebene und auf der Mikroebene stattfinden.

Waren bisher die Austragung von Konflikten, die Intervention in Konflikte und die Beendigung von Konflikten im wesentlichen Angelegenheiten, die in der „Staatenwelt“ – also durch einzelne Staaten oder durch Staatenbündnisse, durch Regionalzusammenschlüsse oder die Vereinten Nationen – geschahen, so ist unter den veränderten Bedingungen in zunehmendem Maße auch die „Gesellschaftwelt“ herausgefordert. Damit sind internationale und nationale Nichtregierungsorganisationen sowie ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure und Akteursgruppen mit in die Verantwortung für zivile Konfliktbearbeitung hineingenommen. Insbesondere all die gesellschaftlichen Gruppen, Organisationen und Institutionen, die traditionell in ihrer eigenen Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte, für Selbstbestimmung und Demokratie und für eine konsequente Durchsetzung von Normen und Regeln zur gewaltfreien Bearbeitung von Problemen und Konflikten eintreten können und sollten mithelfen, daß sich überall in der Welt Gesellschaften entwickeln können, die bereit und fähig sind, ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln und Konflikte friedlich auszutragen.

In der wissenschaftlichen Diskussion und in der praktischen Arbeit der letzten Jahre hat sich gezeigt, daß sowohl in der Staatenwelt als auch in der Gesellschaftswelt Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten sowohl auf der Mikroebene also auch auf der Makroebene bestehen. Sie weiter zu entdecken und zu operationalisieren und Perspektiven für ihre Bearbeitung zu entfalten, ist eine vordringliche Aufgabe. Dabei und darüber wird ein erheblicher Kommunikations- und Abstimmungsbedarf zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt entstehen. Bisher aber gibt es kaum eine Tradition des Dialogs zwischen beiden und schon gar nicht gibt es eine Praxis der Zusammenarbeit. Beides zu begründen und zu entwickeln, ist zugleich Bedingung und Aufgabe beim Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung.

Zivile Konfliktbearbeitung muß in allen Phasen des Konfliktverlaufs stattfinden.

Gebraucht werden deshalb Konzepte, Ansätze und Instrumente für

  • präventive und präemptive Einflußnahme,
  • deeskalierende Einflußnahme,
  • Vermittlung,
  • konflikttransformierende Einflußnahme,
  • konfliktlösende Einflußnahme,
  • »post-conflict-peace-making«.

In der einschlägigen Literatur der letzten Jahre sind unterschiedlich detaillierte Bilder vom Verlauf bzw. von den Verlaufsmöglichkeiten eines Konfliktes gezeichnet worden. In nahezu allen Phasen eines Konfliktverlaufes ist die Anwendung ziviler Mittel der Konfliktbearbeitung sinnvoll und deshalb geboten. Mit ihnen und durch sie kann präventiv, deeskalierend, gewalteindämmend und konfliktlösend gewirkt werden. Dazu ist es allerdings erforderlich, daß die für die spezifische Konfliktverlaufsstufe geeigneten Interventionen unternommen werden und daß sie nicht nur mit dem nötigen Engagement und der nötigen Hartnäckigkeit, sondern auch mit angemessener Kompetenz praktiziert werden.

Eine entscheidende Bedingung für die Wirksamkeit ziviler Konfliktbearbeitung dürfte zudem sein, daß sie möglichst früh ansetzt, oder genauer gesagt, zu einem Zeitpunkt, wo die Intervention noch greifen und die gesetzten Ziele befördern kann.

Entscheidend allerdings ist, daß keine Aufgabe nur auf einem Wege gelöst werden kann. Es bedarf also einer großen Vielfalt unterschiedlicher Maßnahmen. Wenn die nun von verschiedenen Akteuren und Akteursgruppen getragen werden, bedarf es einer intensiven Kommunikation, Abstimmung und Kooperation zwischen allen Beteiligten.

Aufbau einer Infrastruktur als Lernprozeß

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung ist ein Lernprozeß, in dem Akteure und Akteursgruppen ihre Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten systematisch, synergetisch und nachhaltig auf die Anforderungen und Notwendigkeiten von Zivilisierungsprozessen hin entwerfen, miteinander abstimmen und gegebenenfalls verknüpfen.

In diesem Lernprozeß muß eine Spirale der Qualifizierung, der Professionalisierung und der Möglichkeitserweiterung aller beteiligten Akteure und Akteursgruppen in Gang gesetzt werden. Zugleich muß das Spektrum der beteiligten Akteure und Akteursgruppen verbreitert werden.

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung ist ein Projekt, für das es keinen Bauplan gibt, und es macht auch keinen Sinn, in allen Details vorab festzulegen, wie eine solche Infrastruktur aussehen sollte. Vielmehr muß das Projekt als ein Lernprozeß angelegt und betrieben werden. Dieser Lernprozeß muß sowohl von den internationalen Organisationen und den staatlichen Regierungen und ihren Einrichtungen als auch von den internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen mitgetragen werden. Dabei sollten nicht nur die großen Nichtregierungsorganisationen sondern auch die regionalen und lokalen Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft, die Institutionen und Organisationen der Wissenschaft sowie die Medien einbezogen werden. Damit sind dann Akteure und Akteursgruppen beteiligt, die in unterschiedlichen Verantwortungs- und Handlungsfeldern tätig sind, deren Arbeit unter verschiedenen Rahmenbedingungen nach unterschiedlichen Leitbildern und mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen und Zielsetzungen geschieht. Dementsprechend sind sie auch mit verschiedenen Konzepten und Instrumenten und mit unterschiedlichen Wirkungsaussichten tätig. Im Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung geht es nicht um die Nivellierung dieser Unterschiede, sondern vielmehr darum, die je spezifischen – eigenartigen – Kompetenzen und Möglichkeiten der verschiedenen Akteure und Akteursgruppen richtig zum Tragen zu bringen und aus dem Nebeneinander ihres Tuns ein vernünftiges Miteinander zu gestalten.

Wenn es darum geht,

  • die Kräfte und Möglichkeiten für zivile Konfliktbearbeitung zu sammeln und zu bündeln,
  • die zivile Konfliktbearbeitung zu stützen, zu stärken und auszubauen,
  • ihr eine bessere Grundlage und neuere Träger zu gewinnen,
  • diese Träger konsequent zu professionalisieren und schließlich
  • die zivile Konfliktbearbeitung im Gesamtspektrum der Handlungsoptionen entschieden in den Mittelpunkt zu stellen,

dann brauchen wir Kommunikationsstrukturen, Abstimmungsmechanismen und Kooperationsstrukturen, in die alle denkbaren und notwendigen Akteure eingebunden sind und die bei aller Offenheit und Dezentralisierung doch Konzentration und Verbindlichkeit schaffen (die folgende These stellt einen Vorschlag hierfür zur Diskussion).

Eine übergreifende Dienstleistungsstruktur entwickeln

Der Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung sollte durch die Entwicklung einer übergreifenden Dienstleistungsstruktur eingeleitet werden, die so angelegt werden müßte, daß der Kommunikations-, Abstimmungs- und Kooperationsbedarf in bezug auf die strategisch bedeutsamen Aufgaben- und Funktionszusammenhänge gedeckt werden kann.

Strategisch bedeutsame Aufgaben- und Funktionszusammenhänge sind:

  • Beobachtung, Analyse und Frühwarnung,
  • Ausbildung,Training und Evaluation,
  • Maßnahmenplanung, Einsatzkoordination und Vermittlung.

Um der weiterführenden Diskussion über zivile Konfliktbearbeitung und über den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung einen Anstoß für weitere Konkretionen und für die Entwicklung sozialer Phantasie zu geben, schlage ich die Einrichtung von drei Dienstleistungszentren vor. Ganz unglücklich aber wäre ich, wenn sich die weitere Debatte nun ausschließlich auf Namen und Organisationsformen, Statuten, Ausstattungen und Zuständigkeiten der vorgeschlagenen Einrichtungen konzentrieren würde. Deshalb sollten die vorgeschlagenen »Dienstleistungszentren« zunächst vor allem unter dem Gesichtspunkt gesehen und diskutiert werden, wie die Aufgabenkomplexe der Beobachtung und Analyse, der Ausbildung und des Trainings, der Einsatzkoordination und Vermittlung strukturiert werden könnten und wie bei der Bewältung dieser Aufgaben die Kommunikation, Abstimmung und Kooperation zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Akteursgruppen gestaltet werden müßte.

Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse

Das »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« sammelt Informationen über die Entstehung, Zuspitzung, Eskalation, Austragung und Bearbeitung von Konflikten in unterschiedlichen Regionen. Hinweise und Informationen erhält es von internationalen Organisationen, von Regierungsstellen und unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen, von internationalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen, von den Wissenschaften und den Medien sowie von Einrichtungen für Beobachtung und Frühwarnung wie »international alert«, »amnesty international«, »human watch« usw. Verdichten sich Hinweise auf bedrohliche Entwicklungen, gibt das Zentrum eine Analyse und Bewertung der bisher gesammelten Informationen in Auftrag. Diese Analyse wird im wesentlichen wohl von einschlägig arbeitenden wissenschaftlichen Einrichtungen geleistet. Legen die ihre Analyse und Bewertung vor, so sorgt das Zentrum seinerseits für die Verbreitung der darin erarbeiteten Einsichten, um sicherzustellen, daß alle, die ihre Beobachtungen dem Zentrum gemeldet haben, ihrerseits auch Kenntnis von den anderen gesammelten Beobachtungen und von den danach erarbeiteten Analysen haben. Darüber soll eine Wahrnehmungsoptimierung aller beteiligten Akteure und Akteursgruppen gefördert und sichergestellt werden, daß alle auf dem gleichen Informationsstand sind und zwischen ihnen eine Abstimmung in bezug auf die Einordnung und Bewertung der Informationen möglich wird. Gibt es Grund zur Besorgnis über die Entwicklung eines Konfliktes, ist es Aufgabe des Zentrums, auf die Probleme und Gefahren hinzuweisen (Frühwarnung!) und zugleich einen Meinungsbildungs- und Entscheidungsvorgang zu katalysieren, in dem geklärt wird, wer wie und wann was unternimmt, um den Gefahren zu begegnen.

Das Dienstleistungszentrum muß nicht als eigene Einrichtung mit Haus, Stellenplan, Haushalt usw. ausgestattet sein. Denkbar wäre durchaus auch, es als Kontaktstelle zu betreiben, in der und über die die beteiligten Akteure und Akteursgruppen zusammenarbeiten. Eine bestimmte Zahl von kontinuierlich im »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« arbeitenden Experten erscheint aber notwendig, um Professionalität und Kontinuität zu sichern. Sinnvoll dürfte aber sein, daß diese Experten teils aus staatlichen Einrichtungen und Institutionen, teils aus den Nichtregierungsorganisationen, teils aus den Medien und teils auch aus wissenschaftlichen Einrichtungen kommen, um zeitlich begrenzt an dem gemeinsamen Auftrag zusammenzuarbeiten.

Dienstleistungszentrum Ausbildung und Trainung

Das »Dienstleistungszentrum Ausbildung und Training« qualifiziert Personen für Einsätze in Missionen der zivilen Konfliktbearbeitung. Bei der Entwicklung von Ausbildungs- und Trainingsprogrammen kooperiert das Zentrum mit staatlichen Instanzen und Einrichtungen, mit den internationalen Organisationen, den Nichtregierungsorganisationen und den wissenschaftlichen Einrichtungen sowie mit internationalen oder ausländischen Einrichtungen, die sich auf Ausbildung und Training spezialisiert haben. Mit diesen Partnern kooperiert das Zentrum in der Regel auch bei der Durchführung der Programme. Nichtregierungsorganisationen und Staat, Wissenschaft und Medien entsenden aus ihren Bereichen geeignete Personen zur Ausbildung und zum Training an das »Dienstleistungszentrum Ausbildung und Training«.

Ob die Ausbildung und das Training in einem Dienstleistungszentrum, also in einer einzigen Institution durchgeführt werden, oder aber von verschiedenen Trägern und damit an verschiedenen Orten durchgeführt werden sollten, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus offen bleiben. Hier kommt es zunächst doch nur darauf an, deutlich zu machen, welcher Art der Kommunikations-, Abstimmungs- und Kooperationsbedarf im Felde von Ausbildung und Training ist, wer daran beteiligt werden sollte und wie er strukturiert werden müßte. Anstelle des hier eingesetzten Dienstleistungszentrums könnte also auch durchaus ein Verbund oder eine Arbeitsgemeinschaft von Einrichtungen treten, die Ausbildungs- und Trainingsprogramme anbieten. Ob es sinnvoll ist, die Qualifizierung für zivile Konfliktbearbeitung akteursgruppenübergreifend anzulegen – wie hier vorgeschlagen – oder ob sie aber lieber für Akteure aus dem staatlichen Bereich und aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen getrennt durchgeführt werden sollte, bedarf gewiß noch weiterer Überlegung.

Dienstleistungszentrum für Einsatzkoordination und Vermittlung

Das »Dienstleistungszentrum Einsatzkoordination und Vermittlung« katalysiert und moderiert Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse darüber, wo und wann mit welchen Konzepten und Instrumenten in latente, eskalierende oder gewaltsam ausgetragene Konflikte interveniert werden soll. In diesem Zusammenhange arbeitet das Zentrum eng mit dem »Dienstleistungszentrum Beobachtung und Analyse« zusammen, um die Lücke zwischen Frühwarnung und Handeln so schnell wie möglich zu überbrücken.

Es macht wenig Sinn, davon auszugehen, daß sich immer alle Akteure und Akteursgruppen auf ein gemeinsames Vorgehen mit einer Reihe von gezielten Missionen und Interventionen verständigen. Vielmehr dürften sie jeweils in ihrem Verantwortungs- und Handlungsbereich ihre Unternehmungen in eigener Verantwortung und in eigener Regie betreiben. Gerade deshalb aber besteht ein erheblicher Bedarf an Kommunikation, wenn ein beziehungsloses Nebeneinander, ein unfruchtbares Konkurrieren oder gar ein gefährliches Gegeneinander vermieden werden soll und wenn die einzelnen Unternehmungen komplementär fruchtbar und womöglich synergetisch wirken sollen. Die Beratungs-, Steuerungs- und Koordierungsfunktionen des »Dienstleistungszentrums Einsatzkoordination und Vermittlung« wären deshalb am ehesten von einem Kontakt- und Steuerungskreis wahrzunehmen, der durch Delegierte aus dem staatlichen Bereich, dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen und aus dem Bereich der anderen Akteure und Akteursgruppen beschickt wird.

Das Dienstleistungszentrum sollte neben der Aufgabe der Einsatzkoordination auch die Funktion haben, qualifizierte Fachkräfte für einen Einsatz in den unterschiedlichen Missionen und Unternehmungen zu evaluieren und zu vermitteln. Es sollte zu diesem Zwecke Dateien über qualifizierte Personen verwalten, unabhängig davon, ob die unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen auch ihre je eigenen »Pools« haben. Wichtig wäre gerade, daß das »Dienstleistungszentrum Einsatzkoordination und Vermittlung« Pools aufstellt, aus denen gerade Personen unterschiedlicher Kompetenz und Qualifikation, aus unterschiedlichen Verantwortungs- und Handlungsbereichen für Missionen gefunden werden können, die – unabhängig davon, wer sie verantwortet und trägt – nur sinnvoll arbeiten können, wenn in ihnen Experten aus unterschiedlichen Bereichen konstruktiv zusammenarbeiten. Genau das aber dürfte bei der Mehrzahl der Missionen und Projekte, in denen und über die zivile Konfliktbearbeitung gefördert werden soll, der Fall sein.

Anmerkung

Die Thesen 1 bis 4 fassen unter dem Gesichtspunkt des hier gestellten Themas Analysen, Überlegungen und Vorschläge zusammen, die in früheren Publikationen bereits detaillierter entfaltet und begründet werden. Vergleiche insbesondere:

Literatur

Hanne-Margret Bickenbach u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1995: Konflikte – Abrüstung – Friedensarbeit, München 1994.

Jörg Calließ: Friede kann nicht erzwungen werden. Plädoyer für zivile Konfliktbearbeitung; in: Berliner Debatte INITIAL 6.1995, S. 37-46.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict – A Task for Civil Society, Loccumer Protokoll 7/93, Loccum 1993.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict – A Task for Civil Society: „Third Party Intervention“, Loccumer Protokoll 9/94, Loccum 1994.

Jörg Calließ, Christine M. Merkel (Hrsg.): Peaceful Settlement of Conflict as a Joint Task for International Organizations, Governments and Civil Society, Loccumer Protokolle 24/95, Loccum 1995.

Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, 2. Aufl., München 1993.

Friedensgutachten, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, hrsg. von Reinhard Mutz u.a., Münster 1995.

Jutta Koch, Regine Mehl (Hrsg.): Politik der Einmischung: Zwischen Konfliktprävention und Krisenintervention, Baden-Baden 1994.

Volker Matthies: Immer wieder Krieg? Wie Eindämmen? Beenden? Verhüten? Schutz und Hilfe für die Menschen?, Opladen 1994.

Volker Matthies (Hrsg.): Frieden durch Einmischung?, Bonn 1993.

Christine M. Merkel: Zivile Konflikttransformation, Gutachten im Auftrag der Evangelischen Akademie Loccum, Loccum (forum loccum extra) 1995.

Norbert Ropers, Tobias Debiel (Hrsg.): Friedliche Konfliktbearbeitung in der Staaten- und Gesellschaftswelt, Bonn 1995.

Wolfgang R. Vogt (Hrsg.): Frieden als Zivilisierungsprojekt – Neue Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1995.

Klaus Dieter Wolf (Hrsg.): Ordnung zwischen Gewaltproduktion und Friedensstiftung, Baden-Baden 1993.

Dr. Jörg Calließ ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Loccum.

Kräfte bündeln in schwieriger Zeit

Kräfte bündeln in schwieriger Zeit

von Peter Strutynski

Über 250 Friedensaktivisten aus über 80 Städten und noch mehr Initiativen/Gruppen/Verbänden trafen sich zum »2. Friedenspolitischen Ratschlag« am 9. und 10. Dezember in Kassel. Dabei stand nicht das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund (so wie noch beim 1. Ratschlag im November 1994), sondern der politische Erfahrungs- und Meinungsaustausch. Es ging darum, sich über tragfähige Friedensvisionen zu verständigen und Wege dorthin auszuloten sowie den in den letzten Jahren zum Teil gerissenen Kommunikationsfaden zwischen Friedensbewegung und Friedenswissenschaft neu zu knüpfen.

Die Friedensbewegung ist von den Kriegsereignissen der letzten Jahre tief erschüttert worden. Insbesondere auf die Massaker, Vertreibungen und Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien schien es für viele Menschen in unserem Land keine andere Antwort mehr zu geben als das – wenn's sein muß, auch militärische – „Dreinschlagen“, um dem Morden ein Ende zu bereiten. Politiker fast aller Parteien haben dies teils ähnlich gesehen und schließlich für NATO-Bombardierungen und für Bundeswehreinsätze plädiert, teils haben sie diese Stimmung aber auch bewußt genutzt, um ihre keineswegs friedlichen Interessen und Ziele auf dem Balkan durchzusetzen. Und für jene, die mit den realen Entwicklungen in Kroatien und Bosnien nur aus den gängigen Quellen der Massenmedien vertraut sind – die selten so gleichgeschaltet waren wie in dieser Frage – muß auch der Friedensschluß von Dayton und Paris als das Resultat der NATO-Bombardierungen vom August bis Oktober 1995 erscheinen.

Der Bonner Marschbefehl für die Bundeswehr beherrschte natürlich auch die Diskussionen des Kasseler Ratschlags. Bruno Schoch von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung rechtfertigte Militäreinsätze zur Verhinderung von Völkermord und zur Wahrung oder Wiederherstellung der Menschenrechte unter Berufung auf die militärische Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus im Jahre 1945 und erntete massiven Widerspruch aus dem Publikum. Wesentlich zurückhaltender argumentierte die Völkerrechtlerin Martina Haedrich (Jena), die dennoch ein Interventionsrecht der UNO als »ultima ratio« zur Durchsetzung des Völkerrechts nicht ausschließen wollte. Auch der dritte Podiumsteilnehmer, Wolfgang Vogt von der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg und gleichzeitig Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK), rief mit seinem Statement zunächst mehr Widerspruch als Zustimmung im Plenum hervor. Vor allem empfahl er, nicht mehr in nationalstaatlichen, sondern in „weltgesellschaftlichen“ Kategorien zu denken. Aus dieser Sicht gebe es auch keine rein „inneren“ Angelegenheiten von Staaten mehr, vor allem dann nicht, wenn z.B. „massenhaft Menschen umgebracht werden“. Vogt kritisierte aber genauso leidenschaftlich das zur Zeit noch gängige Politikmuster, wonach auf solche Situationen mit militärischen Aktionen des „Multisicherheitsmolochs“ NATO reagiert werde. Jegliches Militär müßte abgeschafft und durch eine neue Art internationaler Sicherheitsorganisation (Vogt nennt sie „Politär“) ersetzt werden. Die Hauptaufgabe der internationalen Politik bestehe aber darin präventiv zu wirken, d.h. mögliche Konflikte frühzeitig zu erkennen und darauf mit zivilen, nicht-militärischen Mitteln zu reagieren.

Dieser Gedanke beherrschte nicht nur die Plenumsdiskussion, sondern zog sich auch durch die Beratungen in den zwölf Arbeitsgruppen, in denen jede Menge von dem aufgearbeitet wurde, was der Friedensbewegung an neuen Themen und Herausforderungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts buchstäblich um die Ohren gehauen wird: Die UNO in der neuen Weltordnung, die ökonomische und politische Rolle der Bundesrepublik in der Welt, die Umrüstung der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, Atomtests und Atomwaffen, Rüstungsproduktion, Konversion und Waffenhandel, die Friedensaussichten für das ehemalige Jugoslawien und die Möglichkeiten humanitärer Hilfe, die Entwicklung ziviler Alternativen zu Krieg und Gewalt (z.B. das Modell eines Zivilen Friedensdienstes), Kriegsursachenforschung und Konzepte vorsorgender Friedenspolitik (z.B. das an Hand des Biosphärenreservats Rhön demonstrierte Konzept einer »Friedensverträglichkeitsprüfung«), die Rolle der Frau in Krieg und Frieden, die generelle Friedensfähigkeit oder -unfähigkeit der Menschen in einer strukturell nicht friedlichen Gesellschaft oder – aus sehr aktuellem Anlaß – die Frage nach einer politischen Lösung im türkisch-kurdischen Konflikt. Alle Themen wurden lebhaft, zum Teil kontrovers, vor allem aber ergebnisorientiert diskutiert.

Unter dem Titel „Kriege beenden, Gewalt verhüten, Frieden gestalten“ verabschiedeten die Teilnehmer des Kongresses eine Erklärung, in der sie sich u.a. einsetzen für

  • nichtmilitärische Konfliktlösungsstrategien auf der Basis kollektiver Sicherheitssysteme,
  • eine neue europäische Sicherheitsstruktur, für die die OSZE als positiver Ansatz gesehen wird,
  • einen alle Staaten umfassenden Atomteststopp,
  • das weltweite Verbot chemischer Waffen und die Vernichtung der Bestände,
  • das Verbot der Herstellung, Lagerung, des Exports und des Einsatzes von Minen
  • ein Verbot des Waffenhandels.

Die Teilnehmer forderten mehr Mittel für die Friedensforschung und einen angemessenen Beitrag der BRD zu einem multinationalen Programm des Wiederaufbaus im ehemaligen Jugoslawien.

Abschließend wurde beschlossen, im kommenden Herbst den „3. Friedenspolitischen Ratschlag“ wieder in Kassel zu veranstalten.

Dr. Peter Strutynski ist wiss. Mitarbeiter an der Universität – GHK Kassel.

Friedenspolitik aus gewerkschaftlicher Sicht

Friedenspolitik aus gewerkschaftlicher Sicht

Rückblick und Perspektive

von Dieter Schulte

„Zeitrechnung: Der 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet. Ein neues Zeitalter, auch wenn dessen Wesen darin besteht, vielleicht keinen Bestand zu haben.“ Günther Anders, der zu Recht als »Philosoph des Atomzeitalters« bezeichnet wurde, hat diese Erkenntnis 1958 in seinem Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki festgehalten.

Unser wichtigstes Ziel: Die atomare Abrüstung

Heute, im 50. Jahr der atomaren Epoche, sind diese Worte so aktuell wie damals. Zwar hofften nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des östlichen Blocksystems viele, ein neues Zeitalter des Friedens sei angebrochen, das die Epoche des Kalten Krieges und der Verschwendung ungeheurer Ressourcen in einem atemlosen Rüstungswettlauf ablöse. Schon bald zeigte sich jedoch, daß grundlegende Kriegsursachen fortbestehen, bis dahin unterdrückte Konflikte blutig eskalieren und daß die Staatenwelt nur sehr zögernd bereit ist, gewaltfreien Konfliktlösungsmechanismen ausreichende Unterstützung zu gewähren. Nach wie vor steht in Krisensituationen militärisches Denken im Vordergrund. Immer noch gibt es ca. 45.000 intakte Atomsprengköpfe auf der Welt.

Frieden kann auf der Basis von Atomwaffen nicht gedeihen. So wenig wie auf der Grundlage des atomaren Gleichgewichts des Schreckens zwischen Ost und West ein dauerhafter Friedenszustand möglich war, kann auch heute die Drohung mit möglicher atomarer Vernichtung langfristig Frieden schaffen. Eine auf atomare Abschreckung gegründete Rüstung verhindert wirkliches Vertrauen zwischen Staaten, denn Atomwaffen sind ihrer Natur nach Massenvernichtungswaffen.

Welche schreckliche Wirkung selbst ein begrenzter Einsatz von Atomwaffen hat, ist sogar heute noch an den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ablesbar. So weit wir heute wissen, starben in beiden Städten über 200.000 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Bombardierung. Mehr als 100.000 weitere Japaner wie auch Koreaner, die von der japanischen Besatzungsmacht zur Zwangsarbeit nach Japan verschleppt worden waren, sind seither durch die Spätfolgen der Atombombe ums Leben gekommen. Die Überlebenden sind vielfach durch die Atombombe gezeichnet, denn die radioaktive Strahlung läßt ihre Opfer nicht mehr los. Viele Überlebende haben eine inzwischen fast fünfzigjährige Leidens- und Krankengeschichte hinter sich, nicht wenige leben in materieller Armut. Zu den Opfern der Atomrüstung gehörten darüber hinaus die Menschen, die durch Testversuche verseucht wurden und häufig noch nicht einmal eine Entschädigung erhalten haben.

Die Gewerkschaften in Deutschland haben sich immer dafür eingesetzt, daß Atomwaffen letztlich abgeschafft werden müssen. Wir begrüßen die Abrüstungsabkommen zwischen Rußland und den USA, von denen das START II-Abkommen allerdings noch der Ratifizierung bedarf. Doch selbst nach erfolgreicher Umsetzung dieser Abkommen werden die beiden atomaren Hauptmächte im Jahr 2003 zusammen noch ungefähr 10.000 Atomsprengköpfe besitzen. Dazu kommen die Arsenale der kleineren Atomwaffenstaaten, die ihr Atompotential modernisieren und teilweise erweitern.

So sehr die deutschen Gewerkschaften die unbefristete Verlängerung des atomaren Nichtverbreitungsvertrages begrüßen, die in diesem Frühjahr in New York beschlossen wurde, die Verhinderung der horizontalen Proliferation allein reicht nicht aus. Auf Dauer läßt sich keine Welt vorstellen, in der einige wenige Staaten das Monopol auf Atomwaffen besitzen. Die Atommächte sind daher aufgefordert, die in Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages eingegangene Verpflichtung, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung“, endlich in die Tat umzusetzen.

Dazu gehört als erster Schritt ein vollständiger Verzicht auf alle Atomwaffenversuche, der schnellstmöglich vertraglich vereinbart werden muß. Die Ankündigung des neuen französischen Staatspräsidenten, sein Land werde im Herbst die Atomtests im Südpazifik wieder aufnehmen, ist ein Skandal. Wir fordern die französische Regierung dringend auf, den Willen der Völkergemeinschaft zu respektieren und von weiteren Atomtests Abstand zu nehmen.

Gewerkschaftliche Friedenspolitik: Kontinuität und Wandel

Der Deutsche Gewerkschaftsbund steht in einer Tradition, die in starkem Maße durch den Kampf gegen Faschismus und Militarismus geprägt ist. In Erinnerung an die Niederlage des Jahres 1933 und die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hat sich der DGB kritisch mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auseinandergesetzt. Zwar gab es in dieser Frage durchaus unterschiedliche Meinungen im DGB, doch eine deutliche Mehrheit stand einer Wiederbewaffnung Deutschlands ablehnend gegenüber. Der dritte DGB-Kongreß faßte dementsprechend 1952 einen Beschluß, in dem jeder deutsche Wehrbeitrag abgelehnt wurde. Der DGB kritisierte die Wehrgesetzgebung 1955, die Aufstellung der Bundeswehr und den Beitritt zur NATO.

Gegen die Absicht der Regierung Adenauer, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten, protestierten die deutschen Gewerkschaften mit bundesweiten Aktionen.

Erinnern wir uns:

18 bekannte deutsche Atomwissenschaftler, unter ihnen der Entdecker der Kernspaltung, Otto Hahn, veröffentlichten im April 1957 das Göttinger Manifest, in der sie jede Mitwirkung an der Herstellung, dem Einsatz und der Erprobung von Atomwaffen verweigerten. Der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner und der DGB-Vorstand schlossen sich dieser Initiative an.

Im März 1958 appellierten 44 Wissenschaftler an die Gewerkschaften, mit ihnen gemeinsam eine Kampagne gegen den Atomtod zu initiieren.

Die Kampagne »Kampf dem Atomtod«, in der die Gewerkschaften eine tragende Rolle übernahmen, war geboren. Ostern 1958 und in den Wochen danach fanden zahlreiche Großkundgebungen statt und auch die 1.500 Maikundgebungen standen im Zeichen des Kampfes gegen den Atomtod. Dem Ruf nach Arbeitsniederlegungen und gar einem Generalstreik folgte der DGB-Vorstand allerdings nicht.

Erst in den sechziger Jahren fanden Gewerkschaften und Bundeswehr zu wechselseitiger Akzeptanz und einem geregelten Miteinander. Der Deutsche Gewerkschaftsbund akzeptierte die Rolle der Bundeswehr in der militärischen Landesverteidigung und bezeugte den Soldaten Respekt für ihren Dienst.

Seminare und Diskussionsveranstaltungen vertieften den Dialog zwischen den Streitkräften und Gewerkschaften; Vorurteile auf beiden Seiten wurden überwunden.

Der DGB wollte damit das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform unterstützen und Tendenzen einer Berufsarmee oder der Verherrlichung militaristischer Traditionen entgegenwirken.

Gleichzeitig verteidigte er das grundgesetzlich geschützte Recht auf Kriegsdienstverweigerung und unterstützte diejenigen, die dieses Recht in Anspruch nehmen und vielfach einen gesellschaftlich nützlichen Sozialdienst leisten wollten.

Gewerkschaften und Friedensbewegung

Die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition war vom DGB begrüßt und unterstützt worden. Mit dem wesentlich von Bundeskanzler Helmut Schmidt betriebenen NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979, in dem der UdSSR die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland und einigen anderen westeuropäischen Ländern für den Fall angedroht wurde, daß sie ihre Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 nicht abrüste, schien neben vielen kritischen Bürgerinnen und Bürgern auch vielen Gewerkschaftern die Friedens- und Entspannungspolitik gefährdet.

Wie die Gesellschaft stellte der Streit um den NATO-Doppelbeschluß auch die Gewerkschaften vor eine Zerreißprobe; an der ersten Großdemonstration der neu entstandenen Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten nahmen trotz eines gegenteiligen Votums des DGB-Vorstandes Tausende Gewerkschafter unter den Fahnen ihrer Organisation teil.

Das Verhältnis des DGB zur Friedensbewegung entspannte sich, als Ostern 1982 die DGB-Jugend ihre Teilnahme an den traditionellen Ostermärschen der Friedensbewegung mit einem Solidaritätskonzert für die im Dezember 1981 in Polen unter Kriegsrecht verbotene unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc verband und sich somit von den an der Linie der sowjetischen Außenpolitik orientierten Kräften in der Friedensbewegung im Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei abgrenzte.

Den von diesen Kräften 1982 initiierten Krefelder Appell trug der DGB nicht mit. Statt dessen organisierte er im März 1983 eine eigene friedenspolitische Konferenz in Köln, die mit bundesweiten fünf Mahnminuten für den Frieden verbunden waren, während derer fast überall in der Bundesrepublik die Arbeit ruhte.

1983 wurden dann erstmals Kooperationsgespräche zwischen dem DGB und den im Koordinationsausschuß der Friedensbewegung vertretenen Organisationen geführt. An der größten Kundgebung der Friedensbewegung im Juni 1983 in Bonn war der Deutsche Gewerkschaftsbund offiziell beteiligt; die DGB-Jugend setzte sich im Mai 1985 im Rahmen einer Friedensfahrradstafette für eine atomwaffenfreie Zone in beiden deutschen Staaten ein.

Als die Friedensbewegung mit der Wiederbelebung der internationalen Abrüstungspolitik nach dem Amtsantritt des Reformers Michael Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU an Schwung verlor, ließ das friedenspolitische Engagement der Gewerkschaften nach. Die soziale Gestaltung der deutschen Einheit band alle Kräfte.

Von der Abschreckungslogik zum mehrdimensionalen Friedensbegriff

Die breite friedens- und sicherheitspolitische Diskussion der frühen achtziger Jahre hat auch in den Gewerkschaften dauerhafte Spuren hinterlassen. Sie hat zu einem umfassenderen Verständnis von Sicherheit und Frieden geführt, das sich in den Beschlüssen der letzten DGB-Bundeskongresse 1986, 1990 und 1994 deutlich widerspiegelt.

Unser friedenspolitisches Verständnis basiert nicht mehr auf Geist und Logik des Abschreckungsprinzips. Der DGB nahm das von der Palme-Kommission entwickelte Konzept der Gemeinsamen Sicherheit auf und spricht sich für eine defensive Umrüstung von Bundeswehr und NATO als Schritte auf dem Weg zur allgemeinen Abrüstung aus. Beides sind übrigens Gedanken, die auch angesichts der weltpolitischen Veränderung nach dem Zusammenbruch des östlichen Paktsystems weiterhin Gültigkeit haben, wenn sie von der Konzentration auf den Ost-West-Gegensatz befreit und um den Beitrag der gesellschaftlichen Organisationen ergänzt werden.

Wir gehen heute von einem umfassenden Friedens- und Sicherheitsbegriff aus, der die wesentlichen Gefährdungen unseres Landes wie der gesamten Menschheit weniger in militärischen Bedrohungen sieht als vielmehr in erster Linie in der globalen Krise der Umwelt sowie der weiter wachsenden Kluft zwischen reichen und armen Ländern und der Verletzung elementarer Menschenrechte in weiten Teilen der Erde.

Mit militärischer Gewalt kann diesen Bedrohungen kaum begegnet werden. Gefordert ist vielmehr eine Friedenspolitik, die sich über die Verhinderung von Kriegen hinaus aktiv für den Schutz der globalen Umwelt, die Schaffung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit sowie für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt.

Daß Sicherheit nicht ausschließlich militärisch zu definieren ist, sondern einen mehrdimensionalen Charakter hat, ist zum politischen Allgemeingut geworden. Übereinstimmung besteht weitgehend auch über die globalen Risiken, also Risiken, die das Überleben, die Sicherheit und die Lebensqualität großer Teile der Menschheit, wenn nicht sogar der Menschheit insgesamt betreffen: Umwelt- und Ressourcenraubbau, Bevölkerungswachstum, Migration und Proliferation, insbesondere von Massenvernichtungswaffen.

Einig ist man sich schließlich auch darüber, daß Sicherheit nicht mehr national gewährleistet werden kann, sondern nur noch auf der Grundlage internationaler Kooperation.

Im Ausbau und der Verzahnung weltweiter Bemühungen um Konfliktvermeidung und Abrüstung im Rahmen der UN und regionaler Sicherheitssysteme wie der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), der Schaffung gerechter weltwirtschaftlicher Austauschbeziehungen in der WTO (World Trade Organisation) u.a. durch die Vereinbarung von Klauseln gegen das Sozial- und Ökodumping, der internationalen Arbeits- und Sozialpolitik in der ILO (International Labour Organisation) mit der Politik von Weltbank und IWF (Internationaler Währungsfonds) könnte der Hebel für eine präventive globale Friedenspolitik sein.

Die Diskussion um die »deutsche Sonderrolle«

Nach den Schrecken des von Hitler-Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges wollten unsere westlichen wie östlichen Nachbarn ein entmilitarisiertes und friedliches Deutschland. Die Remilitarisierung der beiden deutschen Staaten vollzog sich in strikter Einbindung und unter Kontrolle der jeweiligen Bündnissysteme und ihrer Führungsmächte.

Die in der deutschen Bevölkerung weitverbreitete Ablehnung einer militärisch abgestützten Außenpolitik wurde von unseren Bündnispartnern einst selbst gewollt und hat wesentlich zur Festigung des Vertrauens in die »Zivilmacht« Bundesrepublik Deutschland beigetragen.

Heute wird – im Inland wie im Ausland – die gewachsene Verantwortung des vereinten Deutschlands beschworen, wenn eine stärkere deutsche Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen angemahnt wird. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß sich der Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland seit 1989 erheblich erweitert hat und daß unser Land von daher eine größere weltpolitische Verantwortung trägt.

Die außen- und sicherheitspolitische Lage Deutschlands hat sich mit dem Zusammenbruch des östlichen Blocksystems und der Wiedervereinigung dramatisch geändert. Militärisch sieht sich Deutschland auf absehbare Zeit keinerlei Bedrohung ausgesetzt; es ist im Gegenteil von Freunden umzingelt.

Dem Militär kommt dennoch nach wie vor auch in dieser Situation die klassische Schutzfunktion zu, der Rückversicherung für den unwahrscheinlichen, wenn auch nicht unmöglichen Fall einer Bedrohung durch eine militärische Aggression.

Irritierend ist es jedoch, wenn sich die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland fast ausschließlich auf Fragen wie die Osterweiterung der NATO oder die künftige Rolle der Bundeswehr und ihres Einsatzes außerhalb von NATO-Verpflichtungen konzentriert.

Gleichzeitig ist eine verhängnisvolle Tendenz zu beobachten, das verlorengegangene Feindbild des östlichen Kommunismus durch neue Feindbilder wie den islamischen Fundamentalismus oder »Die Serben« zu ersetzen. Eine kritische Auseinandersetzung und eine klare Position gegen religiöse Intoleranz, nationalistische Verblendung und Menschenrechtsverletzungen sind ebenso geboten, wie das Bemühen, das alte Denken in Feindbildern zu überwinden.

Von der oft zitierten Friedensdividende ist keine Rede mehr. Wo Abrüstung auf der Tagesordnung stehen müßte, sind wir statt dessen Zeugen einer Umrüstung, die gerade nicht auf eine strikte Defensivstruktur abzielt, sondern im Gegenteil offensive Qualitäten verstärkt. Auch die Bundeswehr beschreitet mit der Aufstellung sogenannter Krisenreaktionskräfte und ihrer Rüstungsplanung diesen Weg. Ein Monstrum wie das europäische Jagdflugzeug Eurofighter paßt nicht mehr in die sicherheitspolitische Landschaft.

Die Bundesrepublik muß ein verläßlicher Partner des Westens bleiben, der sich in der Stunde der Not seinen Bündnispflichten nicht entzieht und neue friedenspolitische Verantwortung übernimmt.

Nirgendwo steht jedoch geschrieben, daß Verantwortung nur wie Militär buchstabiert werden muß. Da auch die Befürworter internationaler Militäroperationen einräumen, daß damit Konflikte nicht zu lösen sind, bedeutet die Wahrnehmung der gestiegenen Verantwortung Deutschlands vielmehr in erster Linie, einen größeren Beitrag zur zivilen Konfliktvorbeugung und -bearbeitung zu leisten.

Es gibt aus Sicht der Gewerkschaften kein deutsches Interesse, das mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden muß oder darf. Der Einsatz von Militär – das gilt auch für militärische Operationen der UN – ist angesichts der unbestrittenen Erkenntnis, daß Konflikte mit militärischen Mitteln bestenfalls eingedämmt, nicht aber gelöst werden können, letztlich immer ein Zeichen der Hilflosigkeit.

In einem solchen Fall ist ein Konflikt blutig eskaliert und hat es die internationale Staatengemeinschaft versäumt, rechtzeitig Konfliktprävention zu betreiben bzw. friedliche Mechanismen zur Beilegung der zugrundeliegenden Streitigkeiten zur Verfügung zu stellen. Die Alternative zu Militäreinsätzen ist daher eine präventive Friedenspolitik, die sowohl die Ursachen für kriegerische Konflikte zu beseitigen versucht wie auch ein ausgefeiltes Instrumentarium friedlicher Konfliktlösung bereitstellt.

Das vereinte Deutschland wird seiner gewachsenen Verantwortung am besten dadurch gerecht, daß es im Konzert der Mächte beharrlich vor allem den Ausbau ziviler Konfliktbearbeitung verficht und entsprechende finanzielle Mittel bereitstellt.

Neue Instrumente friedlicher Konfliktvermittlung

Auch wenn die Hilflosigkeit der UN im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien als Menetekel eines vorläufigen Scheiterns friedlicher Konfliktvermittlung unübersehbar ist, so sind viele der Instrumentarien der Konflikteindämmung und -vermittlung – von Lösung will ich nicht sprechen –, die entwickelt und eingesetzt wurden, es wert, ausgebaut zu werden.

Zum erstenmal seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde ein internationaler Gerichtshof gebildet, der demnächst über den ersten Angeklagten zu urteilen hat. Wer Menschenrechte mit Füßen tritt, muß wissen, daß er nicht ungeschoren davon kommt. Hier kann Abschreckung vorbeugen!

Zudem wurde mit den Kriegsverbrechertribunalen der bis dahin strikt beachtete Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates zu Gunsten der Wahrung der grundlegenden Menschenrechte durchbrochen.

Wenn drohende Bürgerkriege und Massaker künftig vermieden werden sollen, dann muß die internationale Staatengemeinschaft auf diesem Weg fortschreiten.

Der Einsatz der Blauhelme hat den Krieg nicht beenden können, weil die entscheidende Voraussetzung dafür fehlt: das Einverständnis aller Konfliktparteien. Darum muß über Voraussetzungen, Ziele, Strategie und Ausrüstung neu nachgedacht werden.

Aber die grundlegende Voraussetzung muß als erstes erfüllt sein: Die finanzielle Basis der UN muß gesichert werden. Die UN brauchen eine wirkungsvollere Exekutive.

Die Bildung von Schutzzonen hat der bedrängten Bevölkerung nur eine Atempause verschafft, aber ohne sie wären die ethnischen Säuberungen noch schrecklicher geworden. Wenn Schutzzonen nicht ausreichen, muß über neue Formen zum Schutz der Zivilbevölkerung nachgedacht, müssen neue Wege entwickelt werden, um Kampfverbände und Bevölkerung zu trennen.

Waffenstillstandsvereinbarungen wurden immer wieder gebrochen und zur Aufrüstung mißbraucht, aber sie haben Tausenden das Leben gerettet. Darum kann die Konsequenz nur sein, wirkungsvollere Methoden zur Überwachung solcher Vereinbarungen zu finden und mit differenzierteren Sanktionen auf ihre Verletzung zu reagieren

Die zahllosen Vermittlungsmissionen haben bisher zu keinem Erfolg geführt, aber sie haben – so furchtbar dies klingen mag – diesen Konflikt »beherrschbar« gemacht und verhindert, daß aus dem Balkan ein regionaler oder gar ein europäischer Krieg wird. Die UN, die EU und Rußland kooperieren im gemeinsamen Willen, eine friedliche Lösung zu finden.

Multinationale Vermittlungsmissionen, durch die jede Konfliktpartei ihre Interessen berücksichtigt sieht, bedürfen sorgfältiger Vorbereitung, sachkundiger und geschickter Vermittler, sie brauchen den Rückhalt kollektiver Sicherheitstrukturen. Dies fällt nicht vom Himmel.

Die Vermittlungsmissionen der OSZE in den GUS Staaten sind wenig spektakulär, aber sie haben Konflikte eindämmen können. Der Krieg ist nach Europa und an seine östlichen Anrainergebiete zurückgekehrt. Mit der OSZE haben die Europäer eine Struktur, die dieser Bedrohung begegnen kann, wenn sie ausgebaut und zu wirkungsvollem Handeln befähigt wird.

Die Hilflosigkeit friedlicher Konfliktlösung hat ihre Ursache darin, daß sie zu spät begonnen wurde. Kaum jemand – bis auf wenige Experten – hat ahnen können, welches Pulverfaß der sozialistische Vielvölkerstaat gewesen ist.

Nach dem Ende der Blockkonfrontation gibt es erst recht keine einfachen Erklärungs- und Reaktionsmuster für die zahlreichen Konflikte in dieser Welt.

Die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen, ethnischen und politischen Konfliktpotentiale sind so vielfältig, daß verspätetes, aber auch voreiliges, von Unkenntnis, Halbwissen oder Vorverurteilungen geleitetes Handeln meist erst die Lunte ans Pulverfaß legt. Friedens- und Konfliktforschung, die von der Politik – und nicht nur von ihr – ernst genommen und mit politischem Handeln verknüpft wird, ist gerade nach Ende des Kalten Krieges notwendiger denn je.

Militärische Lösungen scheinen auf den ersten Blick erfolgversprechender zu sein. Wer von uns würde nicht angesichts der Bilder aus Bosnien nach dem Entscheidungsschlag der Völkergemeinschaft rufen? Aber zeigt nicht Somalia, wie wenig wirkungsvoll ein solcher Schlag selbst in einem Land ist, wo die Bürgerkriegsparteien weit weniger bewaffnet sind als in Bosnien?

Friedensmissionen der UN, und das heißt in Verantwortung und unter dem Kommando der UN, bleiben notwendig, aber sie werden nur dann Erfolg haben, wenn sie in eine umfassende Strategie der Konfliktlösung eingebunden sind.

Friedenssicherung braucht oft einen langen Atem. Konfliktursachen lassen sich oft erst in Jahrzehnten abbauen.

Der Beitrag der Gewerkschaften

Frieden kostet Geld – nicht nur für die Forschung und die internationalen Institutionen. Errungener Frieden muß konsolidiert werden:

Das derzeit größte Problem für den noch so jungen Frieden in Nahost ist die Stabilisierung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Bei meinem Besuch in Israel und in Gaza und Jericho im vergangenen Jahr wurde mir dies von Jassir Arafat wie von Shimon Perez und meinen Kollegen der Histdrut ans Herz gelegt: Die Europäer – von der EU, den Regierungen bis zu Unternehmern und Gewerkschaften – müssen sich mit Geld und Projekten engagieren, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, den Menschen, die nur das Elend der Flüchtlingslager kennen, zu zeigen, daß Frieden ihnen persönlich hilft.

Der Frieden in Nahost aber ist auch Beispiel dafür, was nichtstaatliche Organisationen für den Frieden tun können:

Norwegische Soziologinnen und Soziologen haben den ersten Schritt getan, um Israelis und Palästinenser ins Gespräch zu bringen. Ihr Außenminister hat diese Initiative weitergeführt und ein Wunder vollbracht, an das niemand mehr geglaubt hat.

Mit Mut und wenig spektakulär können viele Menschen gute Dienste für den Frieden leisten, wenn Staatsmänner am Ende ihres Lateins zu sein scheinen.

Wir Deutschen sollten nicht vergessen, daß die Friedens- und Entspannungspolitik durch viele kleine Schritte vorbereitet und begleitet wurde. Von Unternehmern wie Berthold Beitz, Gewerkschaftern wie Heinz Oskar Vetter oder Betriebsräten aus dem Ruhrgebiet.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat sich bemüht, serbische, kroatische und bosnische Gewerkschafter an einen Tisch zu bringen.

EGB und DGB unterstützen Hans Koschnik mit einem Telekommunikationsprojekt in beiden Teilen Mostars.

Unsere internationale Gewerkschaftsorganisation, der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, entstand im Kalten Krieg. Das hat ihn geprägt. Jetzt hat er die Chance, seine Kompetenz in globalen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen für die Vermeidung regionaler Konflikte einzubringen.

Unser Beitrag liegt neben der Beteiligung an guten Projekten und Diensten für den Frieden in Krisenherden auf drei Feldern:

1. Wir wollen weiterhin daran im Rahmen unserer Möglichkeiten mitwirken, daß die Bundeswehr eine Bürgerarmee im multinationalen Rahmen bleibt und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung geachtet wird.

2. Unsere Initiativen für eine soziale und ökologische Modernisierung des Industriestandortes Deutschland müssen Anstrengungen zu Rüstungskonversion einschließen. Es ist kein Ausdruck wirtschaftlicher Vernunft und politischer Verantwortung, wenn Deutschland im letzten Jahr den zweiten Platz auf der Weltrangliste der Waffenexporteure eingenommen hat. Aus den Unternehmen, die Waffen herstellen, haben sich Betriebsräte und ihre Gewerkschaften mit Vorschlägen zu Wort gemeldet, um alternative Produkte herzustellen, weil sie erkannt haben, daß Rüstung auf Dauer keine Konjunktur hat.

Praktisch bedeutet Rüstungskonversion:

  • Umlenkung finanzieller Ressourcen in den Unternehmen aber auch des Staates auf neue produktive Aktivitäten;
  • Umorientierung der militärischen Forschung und Entwicklung vor allem auf ökologische Projekte;
  • Neuorientierung der Aktivitäten der betreffenden Industrieunternehmen;
  • sichere soziale Perspektiven für demobilisierte Soldaten und Zivilbeschäftigte; gerade unsere Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren bei der Verringerung der deutschen Streitkräfte darum bemüht;
  • durch vorausschauende Standortkonversion können damit gerade in wirtschaftlich schwach strukturierten Regionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Hieran hat es in der Vergangenheit gemangelt;
  • die Entsorgung der überschüssigen Waffen durch ihre Vernichtung im eigenen Land. Der Export ist die kontraproduktivste und politisch risikoreichste Form der Entsorgung.

3. Wir sollten darüber nachdenken und öffentlich diskutieren, welchen Beitrag eine ungehemmte globale Konkurrenz um Märkte, Rohstoffe und Ressourcen – kurz um die Reichtümer dieser Erde zur Entstehung von Konflikten beiträgt. Wettbewerbsfähigkeit in diesem Konkurrenzkampf ist eine – nicht die einzige Voraussetzung für Wachstum und Arbeit in den Industrieländern – auch bei uns.

Aber auf Dauer kann nur ein ressourcenschonendes, sozialverträgliches Wachstum Arbeitsplätze, Umwelt und Lebensqualität sichern. Darum brauchen wir auch neue Strategien für ein Wettbewerbsmodell, daß die ökonomische, soziale wie ökologische Entwicklung anderer Regionen dieser Welt befördert, so wie dies auf dem Umweltgipfel in Rio oder dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen formuliert wurde.

Wie dieses globale Umsteuern bei uns konkret begonnen werden kann, wird in der Debatte um eine politische Neuorientierung, um ein neues Programm des DGB zu erörtern sein.

Dieses Programm soll uns ins 21. Jahrhundert führen. Die großen Herausforderungen wie die kleinen Aufgaben der Gewerkschaften, der gesellschaftlichen Gruppen unseres Landes wie der internationalen Staatengemeinschaft sind relativ ausführlich diskutiert und oftmals schriftlich fixiert worden: die Bekämpfung des Hungers, der Armut, der Arbeitslosigkeit, die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten, das ökologische Umsteuern.

Hiroshima und Nagasaki mahnen uns, sie unter einem Leitmotiv zu bearbeiten: Für den Frieden zu arbeiten – denn wir leben immer noch am Abgrund der atomaren Vernichtung – das sollten wir nie vergessen.

Dieter Schulte ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Bewegung und Forschung

Eine Befragung zu den Erwartungen von Friedensbewegung an Friedensforschung

Bewegung und Forschung

von Redaktion

Das Verhältnis von Friedensforschung und Friedensbewegung ist vielschichtig und kompliziert. Abgesehen davon, daß man sicher nicht von der Friedensbewegung und der Friedensforschung sprechen kann, ist doch tendenziell festzustellen, daß sie sich eher auseinander entwickelt haben, als daß die Zusammenarbeit zwischen ihnen ausgebaut worden wäre. Wir fragten 16 exemplarisch ausgesuchte, größere überregionale Initiativen und Organisationen der Friedensbewegung nach ihrer Kritik, ihren Erwartungen, Anforderungen und Wünschen, die sie an die Friedensforschung bezogen auf Inhalt und Struktur haben. Die Antworten, die wir bekommen haben, werden im folgenden abgedruckt.

Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Deutsche Sektion (IPPNW)

Unsere berufsspezifische, international operierende Ärzte-Organisation ist geradezu angewiesen auf eine breite Expertise friedenswissenschaftlicher Forschung. Dieser Wissenschaftszweig sollte unbedingt ausgebaut werden; sowohl die öffentliche als auch die alternative Finanzierung sollte aufgestockt werden. Das breite Spektrum von etablierter bis utopischer Friedenswissenschaft ist unbedingt zu erhalten. Sie sollte sich mit der Grundlagenforschung befassen und möglichst präventive Vorgehensweisen erarbeiten. Die Friedensforschung in der Bundesrepublik müßte sich mehr international orientieren und ihre häufige Zentrierung auf die Bundesrepublik bzw. Europa vernachlässigen. Sie sollte versuchen, mit Selbstvertrauen die gesellschaftlichen Verhältnisse politisch mitzugestalten und selbstbewußt ihren politikberatenden Charakter ausbauen.

Komitee für Grundrechte und Demokratie

Die Friedensforschung ist auf den Hund gekommen

Die letzte »ami« (antimilitarismusinformation) hat es auf den Punkt gebracht: die Friedensforschung ist auf den Hund gekommen: 1994 wird der Etat für Hundefutter im Rüstungshaushalt höher liegen als der Gesamtetat, der für Friedensforschung zur Verfügung steht. Oder: wenn der Steuerzahler 13 Pfennige für Friedensforschung gibt, gibt er gleichzeitig (pro Jahr) 1.000,- DM für den Rüstungshaushalt. Kann man angesichts dieser Lage überhaupt viel von Friedensforschung erwarten?

Dennoch – natürlich hat »die Friedensbewegung« Erwartungen an Friedensforschung. Meine Erfahrungen in der Friedensbewegung mache ich seit über 10 Jahren bei Pax Christi, der Initiative »Kirche von unten« und nun beim »Komitee für Grundrechte und Demokratie«. Sprechen kann ich jedoch nur für mich, nicht für die Erwartungen einer ganzen Organisation.

M.E. sollte die Hauptaufgabe der Friedensforschung in der Auslotung der Möglichkeiten nichtmilitärischer und ziviler Konfliktbewältigung liegen. Dabei sollten sowohl die politisch-offizielle und institutionelle Ebene, aber auch die Ebene der Basisbewegungen, der Aktionsmöglichkeiten gesellschaftlicher Einflußnahme von unten eine Rolle spielen. Es gibt zwar eine ganze Reihe von Ideen und Vorstellungen, aber sie sind oft noch nicht so weit entwickelt, daß sie bereits in größere Kreise von Politik und Gesellschaft hinein vermittelbar sind. Kritische Friedensforschung könnte in diesem Bereich die Vorschläge und Aktivitäten der Friedensbewegung unterstützen, untermauern und weiterentwickeln helfen.

Gleichzeitig muß kritische Friedensforschung aufpassen, daß sie sich nicht instrumentalisieren läßt – diese Gefahr ist gerade angesichts der Interventionsdebatte groß. Inzwischen bekommt man auf Podiumsdiskussionen schon ständig vorgehalten, daß doch die Friedensforscher auch großenteils für militärische Interventionen eintreten. Die Untermauerung neuer militärischer Interventionspolitik durch Friedensforschung hilft der Friedensbewegung natürlich nicht weiter, sondern wirkt extrem kontraproduktiv. Die »ultima-ratio«-Argumentationen von Friedensforschern zugunsten sog. humanitärer Militärinterventionen sind das Sprungbrett der Politiker für eine out-of-area-Politik von morgen, der es um ganz andere Interessen als humanitäre geht. Es gilt nicht zu erforschen, wie Kriege durch Kriege überwunden werden können, sondern wie neue Wege der gewaltfreien Bewältigung von Konflikten, Krisen und Kriegen gefunden werden können, und wie diese Möglichkeiten gesellschaftlich vermittelt werden können. Das ist – neben der Bearbeitung vieler wichtiger Einzelfragen und analytischer Arbeit – m.E. die wichtigste Aufgabe für künftige FriedensforscherInnen.

Bund für Soziale Verteidigung

Vier Themenbereiche erscheinen uns besonders wichtig:

  1. Europa: Während die westeuropäische Wohlstandsgesellschaft sich unter Führung der BRD anschickt, die militärische Absicherung ihrer Festung zu perfektionieren, gerät Ost-Europa mit zunehmender Geschwindigkeit in einen Macht- und Verteilungskampf, in dem Konfliktparteien immer häufiger militärische Gewalt als Mittel wählen, um Entscheidungen zu beschleunigen.
  2. Militär: Es gibt niemanden, der ernsthaft behaupten könnte, wir müßten uns zur Zeit militärisch verteidigen. Dieser Legitimationsverlust wird durch eine Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und die Suggestion, der Militärapparat könne all diese Probleme lösen, aufzufangen versucht. Daß diese Omnipotenzphantasien vieler Militärs und Militärpolitiker völliger Quatsch sind, wird bei einem rationalen Austausch von Argumenten schnell deutlich. Man kann nunmal mit einem Düsenjäger das Ozonloch nicht stopfen, sondern nur vergrößern.
    Militärintervention zur Durchsetzung humanitärer Interessen, wird in dieser Diskussion zum neuen Generalargument; und auch hier zeigt sich bei näherem Hinsehen rasch, daß Militärs weder die beste Motivation noch die ausreichende Ausbildung, noch die richtigen AuftraggeberInnen und Strukturen haben, um tatsächlich effektive humanitäre Hilfe zu leisten oder auch nur durchzusetzen. In diesem Zusammenhang sei ein hoher Bundeswehrsoldat in Somalia zitiert, der meinte, die Sachlage beim Ausladen von Lebensmitteln mit dem Satz „Wir sind nicht die Schauerleute der Nation“ klarstellen zu müssen. Nicht zuletzt wird die Rede vom Militär als letztem Mittel, der oft wie eine Heilslehre daher gebetet wird, zur Dauerlegitimation für Rüstungsausgaben. Wenn die Friedensbewegung dieses akzeptiert, gibt es keine vernünftige Begründung mehr gegen die Umrüstung der Bundeswehr zur weltweit agierenden Militärmaschine.
  3. Ist die UNO nicht schon die Alternative? Der Weltsicherheitsrat baut die UNO zur Weltpolizei um. Die Mitglieder des Rates und ihre engen Verbündeten sind aber nicht eo ipso die Guten, sondern ein Teil des Problems. Aufgrund der Machtverhältnisse im Weltsicherheitsrat ist eine Intervention der UNO nur in kleinen Staaten denkbar; damit wird sie zum Herrschaftsinstrument der Metropolen.

Welche Alternativen lassen sich vorstellen?

Die Voraussetzung für die Entwicklung vielfältiger Strategien zur zivilen Konfliktaustragung ist das Nicht-Akzeptieren der Eskalationsleiter mit Krieg als letztem Mittel. Hier ist die Zielsetzung eine grundsätzlich andere als bei deeskalierenden Maßnahmen und Gewaltmindernden Mitteln. Krieg als letztes Mittel setzt immer ein Sieg-Niederlage-Denken voraus, während die Philosophie der Gewaltfreiheit eher mit einem Win-Win-Spiel zu vergleichen ist.

Nicht-militärische gewaltfreie Mittel: Vor die Bearbeitung dieser vier Themenfelder ist für den BSV die Frage zu stellen, welche staatlichen und nicht-staatlichen Möglichkeiten es gibt im außenpolitischen Bereich, die propagierte gewachsene Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland mit nicht-militärischen gewaltfreien Mitteln wahrzunehmen.

Im Bereich der Kirchen und Teilen der Friedensbewegung entsteht das Konzept des »Zivilen Friedensdienstes«, das als funktionales Äquivalent zum Militär ausgebaut werden soll. In diesem Zusammenhang sehen wir eine Reihe von relevanten Fragen an die Friedensforschung:

  1. Möglichkeit gewaltfreier und gewaltmindernder Außenpolitik
  2. Wirksamkeit von Embargo als politischem Druckmittel
  3. Delegation staatlicher Aufgaben im außenpolitischen Bereich an übergeordnete und untergeordnete Gremien Reformationsfähigkeit der UNO

Sollte die Friedensforschung ein Interesse an Ansätzen der Friedensbewegung haben, so wird sie vor allem die verschiedenen Aspekte der Diskussion um den Zivilen Friedensdienst wissenschaftlich begleiten müssen.

Deutsche Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK)

Die Friedensforschung sollte stärker auf die praktische Verwertbarkeit ihrer Forschungsergebnisse achten. Alternative Konzepte insbesondere zu militärischen Interventionen sollten interdisziplinär erarbeitet werden. Konkrete Erfahrungen von Initiativen und Organisationen z.B. in Jugoslawien sollten untersucht werden, und auf der Basis dieser Ergebnisse konkrete gewaltfreie Konzeptionen der Einmischung entwickelt werden, die für Organisationen der Friedensbewegung handhabbar sind.

Bei der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen sollte die Friedensforschung die Verständlichkeit auch für Nicht-Fachleute stärker im Blickfeld haben.

Amnesty international

Zusammenhang zwischen Friedens- und Menschenrechtsarbeit

Amnesty international ist zwar keine Mitgliedsorganisation der Strukturen der »Friedensbewegung«, dennoch interessiert und beschäftigt uns der innere Zusammenhang von Friedens- und Menschenrechtsarbeit sehr. Dabei sind eine Reihe von Punkten von außerordentlicher Bedeutung und die Hilfe einer unabhängigen Friedensforschung, die sich damit beschäftigt, sinnvoll:

  1. Die Begründung von militärischen Aktionen, mit dem Argument des Schutzes der Menschenrechte und die damit zusammenhängende Frage der Zweck-Mittel-Relation (»Menschenrechte sind keine Munition«).
  2. Die Benutzung und der Mißbrauch von Menschenrechtsargumenten zur Polarisierung in ethnischen und Nationalitätenkonflikten.
  3. Die rechtzeitige zivile Einmischung zugunsten der Opfer von Menschenrechtsverletzungen, um die Eskalation beginnender Krisen (die immer mit Menschenrechtsverletzungen verbunden sind) in Katastrophen zu verhindern, denen gegenüber nichts mehr getan werden kann.
  4. Die Stärkung des Instrumentariums, das dem vorbeugenden Menschenrechtsschutz dient, in internationalen Organisationen und Institutionen (UNO, KSZE, …).
  5. Die Stärkung der Zivilgesellschaft gegenüber einer Militarisierung von Gesellschaft und Außenpolitik, d.h., die Übersetzung von Menschenrechten in Bürgerrechte in jeder Gesellschaft.

Allein die Beschäftigung mit einem Katalog der vielen oft nicht gedachten oder angewandten Möglichkeiten nicht-militärischen Eingreifens in Konflikte wäre schon etwas, mehr jedenfalls als die Feststellung, daß es eben manchmal einen Konflikt zwischen Humanismus und Pazifismus gibt. Und für die eigenen Vorschläge sollte mensch dann auch laut werden und streiten – auch gegenüber PolitikerInnen der großen Koalition, die über die Gelder für die Friedensforschung bestimmen.

Netzwerk Friedenskooperative

Wer glaubt denn an den Weihnachtsmann?

Eine Wunschliste an die deutsche Friedensforschung müßte bei engagierten und betroffenen Menschen ziemlich lang werden. Schließlich sind die meisten rat- und hilflos gegenüber dem endlosen Greuel in Bosnien-Herzegowina, müde von der endlosen Diskussion um militärische »Lösungen«, wütend gegenüber dem offenbaren Unvermögen internationalen Krisenmanagements, einer von den G7 beherrschten UNO, die Kriegspartei wird, und einer Bundesregierung, die die Bundeswehr dazu benutzt, in Somalia den begehrten Sitz im Sicherheitsrat zu erfechten.

Aber wer glaubt denn an den Weihnachtsmann? Die Friedensforschungsinstitute werden die Frage, wie wir die Welt retten oder vielleicht die weitere Eskalation und Erweiterung des Krieges vor der eigenen Haustür (zuerst im Sandjak, der Vojwodina, in Mazedonien oder im Kosovo?) verhindern können, oder wenigstens erreichen, daß in der Bundesrepublik lebende Menschen nicht fürchten müssen, verbrannt zu werden, nicht stellvertretend für uns lösen – auch nicht mit mehr Geld, das ihnen jede/r wünscht. Als fachlich kompetente MitstreiterInnen für eine Veränderung politischen Handelns treten die ForscherInnen (noch) zu wenig in Erscheinung, während die sozialen Bewegungen sehr schwach geworden sind.

Mehr noch als die nie ernst genommene Politikberatung fehlen auch die kompetenten Analysen für sinnvolles Engagement von unten. Neben dem Frühwarnsystem, der Beobachtung und Warnung vor Konflikten, bevor geschossen wird, neben dem – nötigen – Fliegenbeinzählen der angehäuften Rüstungspotentiale, neben der Begleitung multilateraler Institutionen und den Ratschlägen, welche Konferenz und welche Maßnahmen auf der »hohen« politischen Ebene wünschenswert wären, fehlt also die Anstiftung zum Engagement von unten. Was können Gruppen, Städte, Organisationen, Kirchen im Konflikt, z.B. in Jugoslawien tun? Wo brennt es demnächst noch schlimmer, wenn wir uns nicht jetzt – und wie – engagieren? Wie können engagierte Menschen z.B. erfolgreicher als bisher die Rüstungsexporte, vielleicht zuerst in die Türkei – verhindern, und wie kann Friedensforschung dabei helfen? Kann die Forschung im Dialog mit Friedensgruppen einige der vielleicht naiven Vorschläge und Forderungen auf Nützlichkeit und Realisierungschancen abklopfen (z.B.: die Forderung nach einem Verzicht auf nationale Armeekontingente bei UN-Blauhelmen, also die persönliche Anstellung von Menschen bei der UNO für Aufgaben der Friedenserhaltung)?

Bundesarbeitsgemeinschaft für Friedens- und internationale Politik, Die Grünen

Wir als BAG Friedens- und internationale Politik haben einen großen Bedarf an friedenswissenschaftlicher Forschung. Wenn es darum geht, die Positionen zu den veränderten Bedingungen der Außen- und Sicherheits-, Entwicklungs- und Europapolitik zu entwickeln, sind Untersuchungen der kritischen Friedensforschung für uns Voraussetzungen dieser politischen Arbeit. Als ein Beispiel nenne ich die veränderte Rolle der internationalen Organisationen, von UNO über NATO und GATT, die in einer veränderten Welt sich selbst neu definieren und daher von uns neu verortet werden müssen.

So fordert die BAG durch die »Friedensdividende«, die im Zuge einer Abschaffung der Bundeswehr und der Umwidmung der Militärausgaben zu einem „Konversionsetat“ entsteht, u.a. die Friedenswissenschaft wieder stärker zu fördern. Wir sehen dabei allerdings große Unterschiede in der Verwertbarkeit friedenswissenschaftlicher Arbeitsergebnisse. Große, öffentlich geförderte Institute erarbeiten bei den gegebenen politischen Rahmenbedingungen (Abhängigkeiten der großen Parteien) Forschungsergebenisse, mit denen wir zum Teil wenig anfangen können. Als Beispiel: Wer, wie wir, die Abschaffung der Bundeswehr fordert, braucht keine Untersuchungen über »strukturelle Nichtangriffsfähigkeit«, sondern über die Operationalisierung einer kompletten Konversion der Bundeswehr. Nicht von ungefähr hat sich daher in den letzten Jahren beispielsweise als kritisches »linkes« Forschungsnetzwerk das Institut für Internationale Politik gegründet, das sich u.a. um solche Fragestellungen bemüht, das aber u.a. aus diesem Grund auch mit viel zu wenig Mitteln ausgestattet ist. Grundlagenforschung und tagespolitische Politikberatung sollten einander ergänzen. Die Form der Publikation sollte dem Publikationsmarkt überlassen bleiben und je nach Art der Veröffentlichung eine der bekannten Publikationsformen (Arbeitspapier, Buch-/Reihe, Zeitschriften) gewählt werden. Auch das setzt jedoch voraus, daß die finanziellen Mittel zur Produktion solcher Publikationen bereitgestellt werden.

Zu fördern sind Ansätze von Dokumentationszentren, die einen Überblick über die friedenswissenschaftliche Arbeit über die Publikationen hinaus geben.

Ohne Rüstung leben

Verstärkter Dialog zwischen Bewegung und Forschung

Zunächst einmal finden wir es gut, daß Friedensforschung nach der Meinung von Friedensbewegung überhaupt fragt. Denn eher ist es meist umgekehrt: Friedensbewegung berücksichtigt Ergebnisse der Friedensforschung in ihren Analysen und Folgerungen, ärgert sich über Friedensgutachten (wie das von 1993), freut sich über Stellungnahmen von Friedens- und KonfliktforscherInnen zum Friedensgutachten 1993. Erwartungen an die Friedensforschung haben wir folgende:

  • Verstärkter Dialog zwischen Friedensorganisationen und Friedensforschung (Runder Tisch 1x im Jahr).
  • Der politikberatende Teil von Friedensforschung sollte ausgebaut werden – gleichzeitig aber auch eine (Politik-)Beratung der Friedensorganisationen.
  • Friedensforschung sollte Konzepte entwickeln, mit denen Friedensorganisationen in der Lage sind, Aktionen/Kampagnen gegen bestimmte Rüstungsprojekte/out-of-Area-Einsätze/für die Abschaffung der Wehrpflicht/Bundeswehr unter den gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen erfolgreich umzusetzen.
  • Friedensforschung sollte Pilotprojekte wie das »Balkan Peace Team« und den »Zivilen Friedensdienst« wissenschaftlich begleiten.
  • Friedensforschung sollte ihre Ergebnisse außerhalb der Friedensgutachten auch in 4seitigen Argumentationshilfen zu bestimmten friedenspolitischen Themen – gut aufbereitet – und für Laien verständlich – herausgeben – u.U. auch mit Pro- und Contra-Argumenten. Für diese »Argumente« könnten Friedensorganisationen als Mitherausgeber gewonnen werden.
  • Friedensforschung sollte in eigener Sache (Finanzierung) kampagnenmäßig öffentlich aktiv werden – indem anschaulich angezeigt wird, wieviel von einem 100,- DM Schein in die Friedensforschung, in die militärische Forschung usw. fließt.
  • Friedensforschung sollte »Runde Tische« zur Konversion initiieren sowie die Thematik »Rüstung/Rüstungsexport« im Verhältnis zum »Arbeitsplatzargument« für die Öffentlichkeit aufzuarbeiten. (Vielleicht was für die »Argumente«-Reihe.)

Der Preis des Friedens

Der Preis des Friedens

Friedensbewegung als Opfer des Krieges in Ex-Jugoslawien

von Siegfried Fischer

Zu den Opfern des Krieges in Ex-Jugoslawien gehört nun auch die deutsche Friedensbewegung. So zumindest Dirk Kurbjuweit in der sechsten Nummer der »Zeit«. Der fünfte »Spiegel« läßt den grünen Ruf von Conny Jürgens nach militärischer Gewalt gegen die mordenden und vergewaltigenden Serben durch den SPD-roten a.D. General Manfred Opel militärisch konterkarieren. Die werweißwievielte TV-Talkshow hetzt den Interventionisten aus der x-ten gegen den Militäreinsatzverweigerer aus der gleichen oder einer anderen Partei. Es ist wie immer, jeder Krieg findet eben seine Fortsetzung an Stamm- und anderen Tischen.

Was den kleinen Politikern recht, war den Großen auf der Münchener Wehrkundetagung nur billig. Der türkische Verteidigungsminister will die NATO-Christen für einen unheiligen Krieg auf Seiten seiner bosnischen Glaubensbrüder begeistern. Die NATO projiziert aber die abschreckende Zahl von mindestens 200.000 Soldaten für den friedenschaffenden Einsatz in einem solchen Jugovietnam. Manfred Wörner fordert: „The Germans to the Front!“ Der neue Pentagonchef Les Aspin hört sich ruhig und gelassen das Hauptargument seines britischen Kollegen Hurd an: „Diplomaten sind billiger als Soldaten!“ Und unser Einheitskanzler erklärt freudig, daß trotz der unangenehmen Ereignisse an der Adria kein dritter Weltkrieg ins Haus steht.

Es ist aber auch ein sehr schwieriger und nicht nur kanzlerliker Eiertanz zwischen der noch geboten scheinenden Zurückhaltung und dem bei so manchem neu gewachsenen deutschen Verantwortungsgefühl. Einerseits fordert unser Großmachtselbstbewußtsein immer nachdrücklicher die Freigabe von deutschen Soldaten für weltweites peacekeeping and peacemaking. Andererseits wollen unsere Generale auch nicht zu anklagbaren Witwenmachern werden, selbst wenn Günther Nonnenmacher in der neunzehnten FAZ dieses Jahr für diesen altbekannten deutschen way of death warb.

Wie der neue deutsche way of life in der neuen Periode europäischer Unfriedlichkeit aussehen soll wird zwar viel diskutiert, bleibt aber, wie die Geschichte selbst, offen. Es hat den Anschein, als ob wir Deutschen regelrecht erschrocken darüber sind, daß wir nun aus dem Schatten der abschreckenden nuklearen Verantwortungslosigkeit heraustreten und uns entscheiden müssen. Angesichts unserer historischen Fehlleistungen in diesem Jahrhundert ist es nur normal, daß wir abwägen. Nicht normal ist es allerdings, wenn wir im Duell mit Andersdenkenden oder unserem eigenen Gewissen auf die gründliche Analyse der möglichen bzw. wahrscheinlichen Folgen unserer Entscheidungen verzichten.

Diese Forderung richtet sich an den Gesinnungsethiker wie an den Verantwortungsethiker; denn in unserer Welt ist jede politisch-militärische Entscheidung, egal ob im Frieden oder im Krieg, mit menschlichen Leiden und Opfern verbunden. Sage keiner, er habe es nicht gewußt. Sage deshalb jeder, der sich hierzu äußern möchte, auch den Preis, den er zu zahlen bereit ist oder den er andere zahlen lassen will.

Im Falle Jugoslawien ist alles schrecklich einfach und einfach schrecklich. Der Krieg ist im vollen Gange und hat seine eigenen bluttriefenden Gesetze. Die Beendigung dieses Krieges wird ebenfalls Blut, Leid und Tränen kosten. Wer nun das Ende des Krieges von außen beschleunigen will, muß sich entscheiden, ob er das mit dem Blut von Soldaten und/oder einem zivilen Einmischungsprogramm tut.

Ja, es ist richtig, wenn aktive und pensionierte Generale davor warnen, mit Kampftruppen in diesen jugoslawischen Neuordnungskrieg einzugreifen. Sie schreckt die Nichtgewinnbarkeit eines Guerillakrieges ohne klar erkennbaren Feind. Sie verschweigen aber den Hauptmangel ihres Berufsstandes. Was vorrangig für den bewaffneten Kampf ausgebildet, ausgerüstet und strukturiert wurde ist auf militärische Effizienz getrimmt, nicht aber darauf, mit menschlichem Fingerspitzengefühl politisch differenziert zu handeln. Der Kampftruppeneinsatz trennt keine Feinde, er schafft neue. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß den militanten Möchtegernpolitikern die Soldaten weg, nicht aber zulaufen.

Ja, es ist richtig, wenn Politiker Diplomaten für billiger halten als Soldaten. Sie verschweigen aber die Unfähigkeit der heutigen Diplomatie und Politik, den Rahmen der Nationalstaatlichkeit und der Staatenbündnisse verlassen zu können. Wo es keine regierbare Staatlichkeit mehr gibt, versagen alle darauf zielenden Resolutionen, Embargos und Gliederungsvarianten. Gerade die jugoslawische Konkursmasse ist der Beweis für die Überlebtheit klassischer Staatsstrukturen mit ethno-territorialer Grundorientierung. Hier hat jede politische Administration nur dann eine Chance, wenn sie der sozialökonomischen Gesundung und Entwicklung der Bevölkerung in konkreten Kommunen und Regionen dient. In Ex-Jugoslawien kommt es darauf an, daß die Menschen, egal welcher Religion und Nationalität, direkt am wirtschaftlichen Aufbau nicht aber an staatlicher Abgrenzung interessiert werden. Die jetzigen staatsdiplomatischen Spielregeln entlarven keine politischen Verbrecher, sondern helfen ihnen beim Völkermord.

Ja, es ist richtig, daß der wirtschaftliche Wiederaufbau erst nach dem Krieg geschehen kann und gegenwärtig caritative Aktionen gefragt sind. In Ex-Jugoslawien ist aber auch deshalb Krieg, weil angesichts fortdauernder ökonomischer Abgrenzung des Westens gegen die südosteuropäischen Habenichtse das Erbe der Titoschen Sozialismusvariante nun mit Waffengewalt umverteilt wird. Widersprüchliche politische Aktionen von EG- und NATO-Staaten ohne konkrete Hilfsangebote zur Überwindung des kriegsverursachenden status quo ante sind genauso kontraproduktiv wie militärische Aktionen ohne konkrete Aussagen über das Nachkriegsverhalten der Helfer. Die begründete Hoffnung auf einen demokratiefähigen Marshallplan für die Kommunen und Regionen in Ex-Jugoslawien kann den Krieg schneller beenden helfen als jede militärische Intervention. Vielleicht kann die Verweigerung militärischer Einsätze nichtmilitärische Optionen befördern helfen.

Der neue amerikanische Vizepräsident Al Gore hat einen globalen Marshallplan für unsere waidwunde Welt projiziert. Nicht militärische Befriedung oder diplomatisches Konflikthandling ist gefragt, sondern ein lokales, regionales und globales Entwicklungsmanagement, das einfühlsames Teilen ebenso zur Voraussetzung hat wie politische Härte gegen militante Pseudopolitiker. Selbst wenn wir schon so weit wären, müßten aber noch Millionen an den Folgen unseres bisherigen Tuns sterben.

Siegfried Fischer ist einer der beiden Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS).

Stillstand in der Friedensbewegung

Stillstand in der Friedensbewegung

von Johannes M. Becker

Die Kriege rücken näher, die gesamte Erde scheint sich sicherheitspolitisch in ein unüberschaubares Minenfeld zu entwickeln, auch die Bundesrepublik und ihre Armee sieht sich in die Pflicht genommen – und die Friedensbewegung unseres Landes verharrt nahezu bewegungslos, tritt nicht in Erscheinung.

Wo zu Zeiten der »Nach«rüstungs-Debatte über eine Million Bundesbürger Menschenketten bildeten und die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Initiierung einer neuen Qualität in der Rüstungspirale bewegen konnte, flimmern aus dem zerfallenen Jugoslawien heute Bilder von Feuer-Überfällen auf Friedhöfe, vom grenzenlosen Morden an Kindern, Frauen, Alten und natürlich (oft genug vergessen in der Aufzählung) auch Männern in die Wohnstuben. Aber die Bestürzung, Erregung und Trauer wird nur noch individuell empfunden, soziale Bewegung gegen die Krake Krieg erhebt sich nicht.

Es fehlt nicht an kritischen Stimmen zu dieser Lage – das Spektrum ist breit: Helmut Kohls Junge Union beispielsweise, während deren Hoch-Zeit nicht sonderlich in Erscheinung getreten, wirft der Friedensbewegung »Heuchelei« vor. Christliche Gruppen rufen heute alleine zum Gebet auf. Walter Jens hingegen, allzeit beteiligter Bewegungsfreund, kritisiert die Erstarrung von innen und ruft zu neuen Aktivitäten auf.

Die Gründe für den Stillstand der deutschen Friedensbewegung liegen wesentlich in deren Politikanlage in den 80er Jahren. Das Land der politischen Bewegung gegen seine Wiederbewaffnung, gegen seine drohende Atombewaffnung und gegen die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II in Westeuropa steht heute nicht mehr an der Nahtstelle zwischen der konkurrierenden bürgerlichen und der (avisierten) sozialistischen Gesellschaft. Die Systemkonkurrenz, das identitätsbildende Konstitutivum der Bundesrepublik, ist aufgelöst. Die Friedensbewegung der 80er Jahre, die einen Ausweg suchte aus dieser lähmenden Konkurrenz und die hierzu zum Hilfsmittel der Ein-Punkt-Bewegung griff, leidet nun unter dieser ihrer Strategieanlage.

„Gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Westeuropa“ lautete die Forderung, unter der Christen und Christdemokraten, Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten, Weinbauern, Krankenschwestern und Ingenieure sich am Beginn der 80er Jahre vereinten. Und die Fragen nach den verantwortlichen Kräften oder Gruppen, nach den Mechanismen für Rüstung und Krieg wurden innerhalb der Bewegung ausgespart zugunsten des Erhalts ihrer Breite. Das mögliche Ende der Ost-West-Auseinandersetzung geriet so ebenso wenig ins Blickfeld wie andere Konflikte, wie ethnische, wie religiöse oder schlicht der zwischen Arm und Reich. Von Kapitalismus-Kritik ganz zu schweigen.

Ein weiterer Grund für die heutige Erstarrung: die Bewegung gegen den »NATO-Doppelbeschluß« verlegte sich sehr stark auf das Auflisten und gegenseitige Abwägen von Rüstungsarsenalen, auf's »Raketenzählen«. In dem Augenblick, da Ende der 80er Jahre einzelne Regierungen mit quantitativer Abrüstung begannen, sah sich das Gewissen der Masse der einstmals Bewegten beruhigt; man lehnte sich im Vertrauen auf die große Politik wieder zurück und ignorierte die nun präferierte qualitative Hochrüstung der Industriestaaten. Bei diesem Argument allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Friedensbewegung Mitte der 80er Jahre zunächst einmal erfahren mußte, daß sich die Regierungen ihrer Länder nicht um sie scherte: der Bundestag segnete wie die Parlamente der übrigen westeuropäischen Länder die Stationierung ab und ignorierte die Umfrageergebnisse von der Mehrheit der Bundesbürger gegen die Raketen. Und Frankreichs sozialistischer Präsident Mitterrand fiel der deutschen Sozialdemokratie obendrein in Bonn in den Rücken, als er die Stationierung der amerikanischen Waffen (freilich nicht auf französischem Territorium!) forderte. Das Vertrauen in die »Politikmacher« war also bereits lange vor der Jugoslawien-Krise (mit dem dort beobachteten scheinbar ratlosen Zaudern der konservativen Bonner Politik) in weiten Teilen des kritischen Potentials der Bundesrepublik erschüttert.

Nach Pershing II und den Marschflugkörpern kam dann die Neutronenbombe, kam die französische, von den dortigen Sozialisten akzelerierte, nukleare Hochrüstung, kam der britische Falkland-Krieg, es lief der Afghaninstan-Krieg und wurde in Warschau der Belagerungszustand ausgerufen, es kam schließlich »Star wars/SDI« der USA und steht heute »Global Protection Against Limited Strikes« (GPALS) auf der Tagesordnnung. Zwischendrin, von vielen vergessen, intervenierten die USA noch in Grenada und bombardierten Tripolis. Die Leidensfähigkeit der Friedensbewegten war erschöpft. Immer war die Bewegung in der Defensive, reagierte sie – nie hatte sie Atem, zu agieren und eigene Visionen zur Konfliktregelung zu erarbeiten oder ihr eingangs aufgezeigtes Theoriedefizit aufzuarbeiten.

Der lautlose Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, eingeschlossen die Unterdrückung einiger hoffnungsvoller Emanzipations-Bewegungen in der III. Welt, legte dann den Eindruck von der Überlegenheit des Kapitalismus, von seiner Unbesiegbarkeit (zumindest zu Zeiten der heute Lebenden!) nahe. Der hiermit einhergehende Utopieverlust betraf, wie wir heute wissen, durchaus nicht nur die mit der DDR und der UdSSR sympathisierenden Kreise, sondern erfaßte weitere Teile der bundesdeutschen Linken.

Die Entwicklung der nicht-sozialistischen progressiven großen sozialen Bewegungen der Bundesrepublik bietet eine weitere Erklärung für die aktuelle Untätigkeit der Friedensbewegung: die GRÜNEN, die auf der einen Seite in ihrer Aufbauphase von der Dynamik der Friedensbewegung profitierten und andererseits dieser durch ihren argumentativen Brückenschlag zwischen der sog. zivilen und der militärischen Nutzung der Atomkraft Auftrieb gegeben hatten, haben am Ende der 80er Jahre ihren (zumindest außerparlamentarischen) Bewegungscharakter weitgehend verloren. Sie orientieren in ihrer Masse auf Regierungsbeteiligungen mit der Sozialdemokratie – und die ist in der Frage von Alternativen der Konfliktregelung, wie die jüngsten Auseinandersetzungen um die Bundeswehr zeigen, sehr ambivalent.

So wie Teil der SPD befürwortete auch der Vorsitzende des DGB Meyer Anfang August Kampfeinsätze der Bundeswehr im Rahmen der UNO, was ihm allerdings prompt die Schelte einiger Einzelgewerkschaften einbrachte. Erinnerungen werden da wach an die Schwierigkeiten, die der DGB seinen Mitgliedern oder Unterorganisationen noch zu Beginn der 80er Jahre bei deren Teilnahme an Veranstaltungen zum 1. September machte.

Die endlose Kette der Niederlagen wie die Enttäuschung über die Haltung der großen sozialen Bewegungen mögen auch den »postmodernen« Wertwandel unter vielen Friedensbewegten der frühen 80er Jahre begünstigt haben, den Wandel von der kollektiven Suche nach Politik- und Bewegungsformen hin zur Individualisierung der Politiksicht, häufig zum Rückzug vom politischen Engagement oder zum Hedonismus.

Wichtig bei der Haltung von SPD, DGB und GRÜNEN: die nicht unwesentliche Rolle der westdeutschen Kommunisten in Gestalt der DKP an der Friedensbewegung gegen die amerikanischen Raketen: die Bewegung wurde als »kommunistisch unterwandert« bezeichnet. Und hier treffen wir wieder auf das Ende des Ost-West-Konfliktes: Die DKP verlor mit dem Zusammenbruch der DDR ihren wichtigsten Geldgeber, und die aufopferungsvollen Parteimitglieder – in alle Winde zerstreut – fehlen der Friedensbewegung heute. Was natürlich endlich fragen läßt nach den Friedenskräften in der ehemaligen DDR: die aber haben heute andere Sorgen, denen geht es ums eigene Überleben.

Die deutsche Medienlandschaft schließlich wird der Friedensbewegung auch nicht aus ihrem Stillstand heraushelfen. Sie hält sich angesichts der grausamen Bilder aus dem zerfallenen Jugoslawien damit auf, tagelang über die Verantwortung für einen beschossenen Kindertransport zu räsonieren sowie über die mangelhafte Hilfsbereitschaft der nicht-deutschen (und -österreichischen) europäischen Staaten zu klagen. Zur selben Zeit verlegen die USA erneut Truppen an den Golf; eine Neuauflage des vermeintlich »sauberen«, weil angeblich mit computerhafter Präzision geführten Feldzuges gegen den einstmals ideell und materiell genährten Sadam Hussein steht vielleicht bevor.

Für die Rudimente der Friedensbewegung steht der nächste Konflikt bereits wieder vor der Tür – die Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich. Dieser Konflikt wird eine längere Konjunktur haben als die Auseinandersetzungen um eine neue Generation von Waffen. Der renommierte, linksliberale Pariser »Nouvel Observateur« fragte unlängst angstvoll, ob »Los Angeles« auch in Frankreich möglich sei… Und SPD und DGB werden täglich von der Kohl-Regierung daran gemahnt, die »Festung Europa« mitvorzubereiten. Woher sollen neue soziale Bewegungen gegen die Zementierung der herrschenden Verhältnisse kommen?

Johannes M. Becker, Privatdozent an der Philipps-Universität Marburg, ist Geschäftsführer und einer der Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Friedens- und Abrüstungsforschung (IAFA).

Jugoslawien zum Beispiel

Jugoslawien zum Beispiel

Die Friedensbewegung am Ende – Eine Nestbeschmutzung

von Werner Wintersteiner

„Warnung: Die Lektüre dieses Artikels kann ihr Wohlbefinden gefährden. Er ist absolut einseitig, ungerecht und polemisch.“ (Der Autor) Dieser Aussage schließt sich die Redakteurin an. Aber trotzdem oder gerade deshalb ist der Artikel hier zu lesen. Reaktionen von Leserinnen und Lesern sind willkommen.

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, pflegten wir das, was einfach geschah, als Fortschritt der Menschheit zu bezeichnen. Und wir, wir waren auch noch wer. Wir wußten, daß der Fortschritt auf unserer Seite ist, und sonnten uns in dem guten Gefühl, den Wind der Geschichte im Rücken zu haben. Der einzelne ist fehlbar, die GROSSE IDEE nicht. In Momenten der Bescheidenheit dachten wir demütig: Wie traurig, daß die GROSSE IDEE in uns nur so unvollkommene Verteidiger findet. Sonst hätte sie sich schon längst um die ganze Welt verbreitet, wo sie doch so klar und richtig ist, und DER FRIEDEN wäre eingekehrt. Aber sonst war die Lage ausgezeichnet, einfach deshalb, weil sie so beschissen war. Möge die Welt untergehen, so bleibt uns doch das Bewußtsein, daß wir ihren Untergang rechtzeitig vorhergesagt haben. Und wir haben uns ihm auch heldenhaft widersetzt. Die anderen gehen in Schmach unter, wir aber mit fliegenden Fahnen. Uns trifft keine SCHULD. Die Welt: Sie bestand aus Guten und Bösen. Auf diese einfache Formel ließ sich unser ach so komplexes Weltbild reduzieren: Die Feinde des Friedens und die Freunde des Friedens. Natürlich gab es – Augenaufschlag: leider! – auch in unseren Reihen faux amis, welche uns eine Supermacht als Verbündete einreden wollten, die Sowjetunion. Mit der simplen Argumentation, daß diese schwächer sei, daher die Rüstungsspirale nur nachziehe und eigentlich den Frieden brauche, ergo an ihm interessiert sei, um ihre schwache Ökonomie nicht noch mehr zu belasten. Nein, so naiv und einäugig wie diese Leute waren wir natürlich nicht, wir waren sozusagen die richtige Friedensbewegung. Wir sind von Anfang an gegen die beiden Supermächte aufgetreten, haben uns dem Blockdenken widersetzt, Ost und West verändern wollen, das geteilte Europa überwinden, die Atomkriegsgefahr bannen und dergleichen Heldentaten mehr.

Jetzt ist das geteilte Europa überwunden, jedenfalls mehr, als wir es uns je träumen haben lassen, die Atomkriegsgefahr ist gebannt, jedenfalls die Gefahr, die wir uns vorgestellt haben, wir haben gegen die faux amis recht behalten – warum sind wir dann so traurig?

Sozialismus als Mythos

Vielleicht wollten wir die Veränderung, die wir so lautstark propagiert haben, im Grunde unseres Herzens doch nicht. Vielleicht sind wir selber mehr mit dem alten System verhaftet, als wir es wahrhaben wollen. Wir haben den Sozialismus inhaliert, tiefer, als wir es gemerkt haben. Nicht aus Sympathie für den Stalinismus oder aus Blindheit für die Unfähigkeit des Systems, sondern weil wir für uns einen Mythos brauchten. Zur Rettung dieses letzten Mythos der Moderne, des Sozialismus, übernahmen wir heroische intellektuelle und moralische Anstrengungen, von denen wir bis heute gezeichnet sind. Natürlich, das muß man zu unserer Ehre sagen, haben wir nicht den häßlichen realen, sondern den schönen idealen in unseren Herzen getragen. Das war unsere HEIMAT. Der Sozialismus gab uns die Idee, daß die Geschichte einen Sinn und ein Ziel hat. Und damit die Vorstellung, daß UNSERE ARBEIT sinnhaft und zielführend ist. Denn wir waren die Sinnträger der Geschichte und hatten als solche automatisch, unschuldig sozusagen, mehr recht als alle anderen Menschen. Wir waren die unerbittlichen Rächer der Enterbten wir Robin Hood, unverletztlich wie die Hüter des Heiligen Gral und Auserwählte wie die Zeugen Jehovas. Wenn es aber diesen Sinn nicht gibt, wenn der Fortschritt nicht der Wind der Geschichte in unserem Rücken ist, sondern – mit Walter Benjamin – ein Sturm, der uns verkehrt in eine ungewisse Zukunft bläst, dann sind auch wir Friedensbewegte bloß eine Partei unter anderen Parteien. Unsere Anliegen mögen ehrenhaft sein, »richtiger« und automatisch durchsetzbarer als die Ziele unserer Gegner sind sie nicht mehr. Wo sollen wir künftig unsere Kraft hernehmen, wenn man uns unsere Allmachtsphantasien weggenommen hat?

Wir haben uns an die Blockkonfrontation mehr gewöhnt, als uns bewußt war. Innerhalb der Starre der Verhältnisse waren wir scheinbar die einzigen, die auf Veränderung drängten, die beweglich waren. Jetzt haben wir unser Beweglichkeits-Monopol verloren – schlimmer noch, die anderen, die etablierten Politiker haben uns – nach dem Ende des Patts der Ost-West-Konfrontation – mit ihrer neu gewonnenen politischen Mobilität längst überholt. Wir hatten Visionen, sie hatten keine. Jetzt haben sie welche, und wir keine. Sie reden jetzt von der »neuen Weltordnung« (natürlich wissen wir alle, was sie darunter verstehen), statt daß wir diesen Begriff besetzt hätten und unsere diesbezüglichen Utopien entwickelten.

Wir waren die, die immer laut NEIN gerufen haben. So waren wir wichtig. Was sollen wir jetzt tun, da unser NEIN sinnlos geworden ist? Wir waren die moralische Instanz, das Gewissen. Etwas anderes haben wir nicht gelernt. Was sollen wir jetzt tun, wo es nicht um Moral, sondern um Machbarkeit geht, auch die Machbarkeit des Friedens? Jetzt braucht es Techniker des Frieden-Machens, nicht nur Moral-Apostel. Nicht Heilsbringer sind mehr gefragt, sondern Pragmatiker der Konfliktlösung. Und ironischerweise eignen sich viele ehemalige »Techniker« der Kriegs-Diplomatie, wenn sie richtig eingesetzt werden, besser dazu als die Idealisten des Friedens. Profi bleibt Profi. Das tut weh. Oder eigentlich: Das sollte doch weh tun, so weh, daß wir über unsere Schwächen nachzudenken beginnen.

Retardierendes Moment: Der Golfkrieg. Wir konnten noch einmal mit gutem Gewissen gegen die USA (»Hauptfeind der Menschheit«) losziehen: Kein Blut für Öl. Wir konnten uns noch einmal in voller, wenn auch nicht alter, Größe emporrichten, den Kriegstreibern unser NEIN entgegenschleudern, »machtvolle Demonstrationen« abhalten; wir fanden Unmengen von Anschauungsmaterial für die beliebte Idee von der Manipulation durch die Medien, und mit dem Zorn des Gerechten haben wir die Quertreiber in den eigenen Reihen, die am Krieg etwas Gutes fanden, als Häretiker gebannt. Doch halt – wie war denn das mit Israel? Haben wir da nicht etwas übersehen? Haben wir nicht auch allzulange unkritisch die arabische Zionismus-Kritik übernommen? Und sind dann selber über die Raketen auf Tel Aviv erschrocken, mit denen Saddam Hussein die Verbindung zwischen seiner Kuweit-Aggression und dem »palästinensischen Befreiungskampf« herstellen wollte? Spät, aber doch haben wir da gerade noch die Kurve gekratzt, nicht alle von uns, ehrlich gestanden.

Die Ohnmacht während des Golfkriegs

Auf jeden Fall hat der Golfkrieg sehr widersprüchliche Gefühle in uns wachgerufen. Wir haben uns gleichzeitig bestätigt und vollkommen isoliert gefühlt, wir haben gleichzeitig unsere Bedeutung und unsere vollkommene Ohnmacht gespürt. Vielleicht hätten wir uns dieser Ohnmacht mehr stellen sollen. Stattdessen haben wir sie »überspielt« durch die Verzweiflung über die »unsolidarische« Haltung der prominenten Friedensaktivisten und Intellektuellen, von denen wir es nicht erwartet hätten, daß sie den Golfkrieg befürworten. War das wirklich Ausdruck der steigenden Tendenz, den Krieg wieder als Mittel der Politik zu akzeptieren? Jedenfalls hatte die Macht des Faktischen wieder einmal über unseren berechtigten und doch etwas lächerlich wirkenden Protest gesiegt. Mit „Wetten, daß Goethe den Wahnsinn verböte“ war eben kein Frieden zu machen.

Und dann kam das Kriegsende und damit auch das Ende dieser Friedensbewegung. Die Leute hatten sich verlaufen, dabei ging's jetzt erst los: Zerfall und immer wieder aufflackernde Kämpfe in der Sowjetunion, Zerfall und Krieg in Jugoslawien, „demokratische Unterdrückung“ der antidemokratischen Bewegung in Algerien usw.. Im Gegensatz zu den »seligen Zeiten des Kalten Krieges« gab es nicht mehr die Kriegsgefahr, sondern die Gefahr von Kriegen. Es gab nicht bloß die Gefahr von Kriegen, sondern gefährliche Kriege, an vielen Orten gleichzeitig, sinnlos, atavistisch und sogar in Europa. Gegen wen sich wenden? Und gegen wen zuerst? Wo bleibt die EINE FRAGE, das Hauptkettenglied, das man anpacken muß, damit alles ins richtige Lot kommt? Längst ist dem ARMEN VOLK (per definitionem unwissend und aufzuklärend), das sich immer nur auf eine Frage konzentrieren kann, der Überblick verloren gegangen. Aber auch wir, die – Möchtegern- Avantgarde – sind überfordert.

In dieser neuen Situation bleiben uns ein paar Optionen: Am besten, wir vergessen möglichst schnell diesen Lebensabschnitt, verwenden unser Wissen um die Bedrohtheit der Welt, um uns selber behaglich einzurichten für die letzten Tage. So beweisen wir wenigstens, daß wir uns ein gewisses Maß an Genußfähigkeit bewahrt haben. Wenn wir aber lieber beweisen wollen, daß wir zum HARTEN KERN gehören, dann wenden wir uns rastlos einer neuen Frage zu. Egal welcher. Das erspart uns das Nachdenken. Auf jeden Fall richten wir uns alle Fragen so zurecht, daß unser altes Weltbild noch halbwegs ungeschoren davonkommt. Ein Musterbeispiel dafür ist die Haltung der Friedensbewegung zu Jugoslawien.

Jugoslawien

„Friedensbewegung – Die Versager“ wirft uns die Presse unsere „peinlich passive Haltung zum Krieg in Jugoslawien“ vor, mit der wir, „die traditionellen Friedensapostel“ uns „praktisch selbst disqualifizieren“ 1. Die Friedensbewegung bleibt „stumm“ (Hans Rauscher) usw.

Wo bleibt die …?, Warum tut die … nichts? Die … hat versagt! Natürlich geht uns diese Feuerwehr-Rolle schon lange auf die Nerven. Kein Mensch schert sich normalerweise um die Friedensbewegung, man wird belächelt und verspottet, von den Medien bestenfalls denunziert, schlimmer: meist überhaupt ignoriert. Wenn dann wieder ein Krieg »ausbricht«, wie es so schön heißt, kommen die obigen Vorwürfe, hämisch – um zu beweisen, daß die Friedensbewegung ohnehin sinnlos ist, oder einäugig oder was man ihr sonst vorwerfen will. Die Frage, was mit der Friedensbewegung los ist, stellen aber auch ernsthaft besorgte Leute, die gerne ihre Verantwortung delegieren, und für die die Friedensbewegung in Kriegszeiten das personifizierte eigene schlechte Gewissen darstellt. Diese Leute sind zu bequem, selbst der freiwilligen Feuerwehr beizutreten und schieben alles auf eine Berufsfeuerwehr, die aber bitte nicht aus Steuergeldern finanziert werden darf! Sollen sie selber schauen, wo sie ihre Ausrüstung hernehmen, aber wehe, sie versagen im Brandfalle. Selber schuld, warum wollen sie auch Feuerwehrleute sein!

Es ist zweifelsohne leicht, diese Haltung zurückzuweisen und gute Gründe anzuführen, daß wir eben (z.B. in der Jugoslawienkrise) nicht mehr zustandegebracht haben. Wir können auf unsere geringe Infrastruktur und die mangelnden materiellen Ressourcen hinweisen, darauf, daß wir ein kleines Häuflein Freiwilliger sind, die eben nicht mehr leisten können. Wir können auf einige GUTE TATEN, z. B. Beratung und Aufnahme von Deserteuren, Proteste gegen das neue Asylrecht, Friedenskonferenzen, Spendenaktionen hinweisen. Es leuchtet auch ein, daß es schwer ist, sinnvoll in gewohnter Weise – Demonstrationen usw. – zu reagieren, wenn es keinen klaren Gegner, sondern eine verwirrende Fülle von Widersprüchen, Szenarien und Gegnern gibt, wo wir zwar einige Hauptbanditen ausmachen können, aber kaum jemanden, der einen weißen Hut trägt. Das enthebt uns jeder SCHULD, nicht aber der intellektuellen Anstrengung, nachzudenken, warum das denn so ist und welche konkreten Ursachen für die erschreckende Passivität der Friedensbewegung in der Jugoslawienfrage bestehen.

Natürlich muß man jede Bewegung an ihren objektiven Möglichkeiten messen und kann nicht verlangen, daß eine Friedensbewegung einen Krieg verhindert. Was aber die Qualität der neuen sozialen Bewegungen ausmacht, ist ihre Funktion als Seismograph und Kassandra. Und gerade als »Frühwarnsystem« hat diesmal die Friedensbewegung versagt. Es war nicht so, daß – wie etwa beim 2. Golfkrieg oder den westlichen Waffengeschäften mit Saddam Hussein – bloß niemand auf unsere Kassandrarufe hören wollte, es hat einfach kaum welche gegeben. Darüber hinaus müssen wir zugeben, daß wir in wesentlichen politischen Fragen im Zusammenhang mit Jugoslawien hilflos sind, oder auch ganz geteilter Meinung, und daß uns der Ansatzpunkt für ein wirkliches »Eingreifen« eigentlich fehlt.

Tödliche Vorurteile

Wenn wir uns nicht darauf zurückziehen wollen, daß die objektiven Bedingungen schrecklich und zum Verzweifeln sind – was ja stimmt, aber nicht die ganze Wahrheit ist – dann bietet vielleicht unsere Hilflosigkeit in der Jugoslawienfrage einen Anlaß zu einem zweifachen grundsätzlichen Nachdenken: darüber, welchen Anteil wir selbst an unserem Versagen haben und außerdem darüber, wie unter den heutigen Bedingungen eine erfolgreiche Friedensbewegung aufgebaut und strukturiert sein müßte; einer Bewegung, der es mehr um den Frieden geht als „um die Verteidigung eines über die unerwarteten Fährnisse der Zeit möglichst unbeschädigt hinwegzurettenden Selbstbildes“ 2.

„Schuld ist der (deutsche) Imperialismus“

Wir sind es gewohnt, die Opfer (die Guten) und die Täter (die Bösen) genau zu unter-scheiden, um uns auf die Seite der Guten, der Opfer zu schlagen. Offenbar untersuchen wir aber dazu nicht die konkrete Situation, sondern entscheiden nach sehr allgemeinen Merkmalen: Täter sind immer große, imperialistische Staaten, Opfer sind kleine Staaten, vornehmlich der 3. Welt. Je größer die Großmacht, desto böser. Je kleiner das Opfer, desto vertrauenserweckender. (Daß wir damit auch in der Vergangenheit nicht immer ganz richtig lagen – Kambodscha zum Beispiel – haben wir längst vergessen.) Um den konkreten Bezug zum eigenen Land herzustellen, appellierten wir immer an unsere eigenen Machthaber, damit sie die Opfer, nicht die Täter unterstützen. Ein gesundes Mißtrauen gegen unsere Regierung, die Vermutung, daß sie eher auf Seiten der Täter steht, hat sich in der Vergangenheit ebenfalls bewährt.

In vielen Konflikten war es tatsächlich leicht möglich, einen »Hauptfeind« zu isolieren und nach bekanntem Muster die Komplicenschaft der eigenen Regierung zu entlarven. Vietnam, Nicaragua, auch der Golfkrieg scheinen noch im Kopf so mancher unserer Kommentatoren herumzuspuken, wenn sie ihre Jugoslawien- Kommentare schreiben. Heraus kommt dann ungefähr sowas: Der erste außenpolitische Erfolg – den Ausdruck »Sieg« mieden die Wohlerzogenen – des vereinigten Deutschland war die Aufspaltung Jugoslawiens.(…) Schließlich sind sie (die deutschen Politiker) ja Spezialisten für die Befriedung des Balkans, und das nicht erst seit Genscher & Mock.3

Die westdeutschen Imperialisten mit ihren österreichischen Handlangern haben also das arme Jugoslawien zerrissen, historische Anspielung: nicht zum ersten Mal. Das klingt sehr links und zeugt von einem kritischen Geist (das soll es ja wohl vor allem), aber es ist schlichtweg falsch und absurd. Ist es nicht typisch für uns, daß wir immer das Bedürfnis haben, uns abzugrenzen – von Großmächten, von (konservativen) Politikern? Nicht der Sache, sondern der Unterscheidung wegen, um unser Bild von uns selbst zu bewahren? Wenn wir uns aber so unbedingt in der Jugoslawienfrage abgrenzen wollen – warum tun wir es von Deutschland und nicht etwa von der noch viel größeren Großmacht USA – wie im Golfkrieg? Wenn wir schon so gerne Kapitalismus-Kritik leisten, wieso haben wir nie die mafiosen geschäftlichen Verbindungen von hohen amerikanischen Politikern (z.B. Präsident Bushs außenpolitischem Berater Lawrence Eagelburger) mit serbischen Firmen angeprangert, die wohl einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die fatale amerikanische Jugoslawienpolitik gehabt haben?4

„Die Serbenfeindlichkeit unserer Medien“

Unser zweites Liebkind ist die Kritik an unseren Medien und ihrer einseitigen Berichterstattung. Diese Kritik ist zweifelsohne wirklich nötig, und gerade gegenüber der Kronen-Zeitung mit ihrer „Jugo“-Hatz sind wir doch allemal im Recht, wenn wir die „Serbien-muß-sterbien“-Mentalität angreifen. Aber: Machen wir es uns nicht zu leicht? Natürlich muß eine Presse kritisiert werden, die antiserbisch und prokroatisch ist, präziser, eine Presse, die Serbien angreift, nicht weil Serbien Aggressor und Kroatien das Opfer ist, sondern weil Serbien Serbien ist, also böse – der direkte Rechtsnachfolger des Schimpfworts „Yugo“ – und weil Kroatien katholisch, konservativ, ex-habsburgisch – also gut ist. Natürlich müssen wir die unheilige Allianz bekämpfen, die Slawophilie und Deutschnationalismus hierzulande eingegangen sind. Aber bitte doch nicht so, daß wir zum Zeitpunkt, wo serbische Truppen gerade beginnen, Sarajewo zu beschießen, kein Wort der Kritik finden, aber stattdessen mit Tucholsky-Zitaten die historische Kontinuität von deutscher Serbienfeindlichkeit nachzuweisen versuchen.5

Wenn wir Serbien gegen seine falschen Gegner in Schutz nehmen und Kroatien vor seinen falschen Freunden bewahren, so dürfen doch wir nicht aufhören, die serbische Aggression (nicht die Serben schlechthin) zu verurteilen und die kroatischen (und bosnischen) Opfer (nicht die kroatische Regierung und den kroatischen Nationalismus) zu unterstützen. Derartig diffizile Unterscheidungen sind uns aber offenbar einfach zu anstrengend. Oder haben wir bloß Angst, nicht auf der »richtigen« Seite zu stehen und drehen einfach die Vorurteile des main-stream um, ohne zu bemerken, daß dabei nichts herauskommt als – neue Vorurteile?

„Schade um unser schönes Jugoslawien“

Nicht nur bei Peter Handke finden wir den Mythos eines nicht-entfremdeten, guten, weil selbstverwalteten Sozialismus, einer multikulturellen, weil nicht einheitlichen nationalen Gesellschaft. Aber Handke gibt wenigstens zu, daß er nicht von Politik spricht, wenn er seine jugoslawischen Träume spinnt.6 Was anderes ist es, wenn wir als Linke oder Friedensbewegung schematisch behaupten, jede Loslösung sei negativ, jedes Festhalten am Gesamtstaat hingegen positiv. Bei unserer Idealisierung Jugoslawiens haben wir nicht gemerkt, wie lange schon – etwa durch die Unterdrückung der Albaner im Kosovo – die multikulturellen Möglichkeiten verspielt worden sind, so verspielt, daß eine slowenische Friedensforscherin sogar meint: „Es ist kein großes Wunder, daß es jetzt zum Krieg gekommen ist, sondern es ist ein großes Wunder, daß der Friede über 40 Jahre aufrechtzuerhalten war.“ 7 Aber wir wissen schließlich alles besser, und wir wissen vor allem eines ganz genau: „Der Nationalstaat ist überholt“ – also was wollen sie denn? Die, die auf Teufel komm raus einen eigenen Staat anstreben, können nichts Gutes im Schilde führen. Daß sich die, die »übrig bleiben«, gegen die Abspaltung »wehren«, hat somit unsere Billigung oder Duldung. Zumindest solange es nicht zu »Gewaltexzessen« kommt. So kann man mit guten Vorsätzen auf den Lippen den Weg zur Hölle antreten. „Unter dem Vorwand das Erwachen des Nationalismus zu bekämpfen, haben wir es für gut befunden, Opfer und Aggressor auf dieselbe Stufe zu stellen. So haben wir den Aggressor ermutigt, der, weil er ungestraft bleibt, sich berechtigt glaubt, alles mit Waffen zu regeln und in jede Region, wo es ihm beliebt, Tod und Vernichtung hinzutragen.“ 8

Daß die nationale Aufspaltung des »Vielvölkerstaates« keineswegs nur nationale Ursachen hat, ist offenbar auch etwas, was uns entgangen ist. Wie überhaupt unser so prinzipienfester Anti-Nationalismus einmal hinterfragt gehört. Wir setzen jede nationale Bestrebung, aber auch jede im nationalen Gewand daherkommende demokratische Bestrebung mit Nationalismus gleich. Zugegeben, die Unterscheidung ist nicht immer leicht zu treffen, aber warum machen wir es uns so leicht? Natürlich erleben wir heute in Jugoslawien – wie auch anderswo – eine »künstliche« Nationalisierung, der wir hilflos gegenüberstehen. Ein Teil dieser Hilflosigkeit besteht schon in der Verwunderung über diese Künstlichkeit. Jede Konstitutierung einer Nation ist ein Postulat, eine Willensentscheidung, genauso wie die Entscheidung zum Vielvölkerstaat Jugoslawien in bewußter Absicht erfolgte und nicht »natürlich« war. Ob sie zu bejahen, zweckmäßig, von mir aus »fortschrittlich«, ist, läßt sich nur daran ermessen, ob sie mehr Demokratie, Wohlstand für ihre BürgerInnen erwarten läßt und daran, wie und durch wen sie überhaupt zustande kommt.

So gesehen sollten wir einmal die »nationalistische« Abspaltung Sloweniens, demokratisch erfolgt, die niemanden bedroht, die aber uns soviel Bauchweh macht, vergleichen mit der »internationalistischen« Haltung Serbiens, das in Kroatien wie in Bosnien einen nichterklärten Eroberungskrieg führt. Unserer „Ja, derfen's denn das“-Attitüde hat der slowenische Schriftsteller Drago Jancar berechtigterweise entgegengehalten: „Zuerst war die Begeisterung, dann war Verwunderung: Was machen die dort im Postkommunismus überhaupt? Nach der Verwunderung kam das Entsetzen: Jeden Augenblick schwappt es zu uns über. Und dann Wut: Die dort drüben und die dort unten. Sie wollen alles haben, was wir haben, Demokratie, materiellen Wohlstand, europäische Kultur, Nationalstaat.“ 9

„Tudjman=Milosevic“

Die faktische Gleichsetzung von Opfern und Tätern ist sicher unser schlimmster Fehler, und wir haben ihn wieder einmal mit besten Absichten begangen. Was liegt näher als der Vergleich und die Gleichsetzung zweier unsympathischer, undemokratischer, nationalistischer Führer der beiden Kriegsparteien? Es ist richtig, daß beide sich auf die Konfrontation und den Krieg eingestellt haben, es ist richtig, daß beide von der heiligen Nation und historischem Auftrag faseln, daß beide sehr unglaubwürdige Demokraten sind. Aber ebenso richtig ist, daß Tudjman und Milosevic unterschiedliche politische Figuren in unterschiedlichen politischen Systemen sind. Wieder einmal bleiben wir »internationalistische« Linke, die wir uns dem Kampf gegen den Nationalismus (Ersatz für den Kampf für den Sozialismus) verschrieben haben, Gefangene unserer eigenen Kategorien. Wir ignorieren, daß es in diesem Krieg – wie in jedem – nicht allein um Nationalismus, sondern um Macht und Geld geht, daß auch dieser Krieg als ein für manche sehr einträgliches Geschäft betrachtet werden muß10. Und wir sind lange – zumindest bis zum Krieg in Bosnien – auf den »internationalistischen« Schmäh hereingefallen, mit dem die großserbischen Ambitionen mit Blick auf das internationale Publikum gerechtfertigt werden. Wir geißeln, zurecht, aber in absurder Einseitigkeit, den kroatischen Nationalismus, weil er sich der traditionellen faschistischen oder faschistoiden Symbolik bedient, auf die wir Linke sozusagen konditioniert sind wie der Hund auf den Knochen. Wir übersehen, in tragischer und schuldhafter Verkennung, den serbischen Militarismus, weil wir gewohnt sind, die Sprache dieses sozialistisch-internationalistisch argumentierenden Nationalismus als fortschrittlich zu erkennen. Wir bemühen uns – zurecht – um ein systemisches Denken und versuchen beiden Konfliktparteien ihr Maß an Schuld zuzuweisen, daß es zum Krieg gekommen ist, aber wir übersehen dabei eine »Kleinigkeit«: Serbien hat Kroatien überfallen und nicht umgekehrt, Serbien hat Bosnien überfallen und nicht umgekehrt. Die faktische Gleichsetzung der beiden Kontrahenten bewahrt uns das »revolutionäre Gewissen«, aber es bedeutet, daß wir faktisch Täter gegen Opfer unterstützen. „Da man aber den Konflikt vorwiegend als einen ethnisch-nationalen wahrzunehmen pflegt, und deshalb eine Parallelisierung der nationalistischen Führer betreibt, ist einer sachliche Analyse der Kriegspartei bis in die Gegenwart hinein der Weg versperrt geblieben. (…) Milosevic wurde von der Weltöffentlichkeit nicht als die treibende Kraft der Krise und als Kriegstreiber identifiziert.“ 11

„Die Anerkennung kann die Probleme nicht lösen.“

Ein weiterer grundsätzlicher Fehler ist unsere Verweigerung einer bestimmten politischen Ebene. Scheinbar prinzipienfest lehnen wir die Ebene der »hohen Politik« ab und merken nicht, daß wir damit eine bestimmte »hohe Politik«, und zwar eine sehr gefährliche, kriegsbegünstigende, unterstützen. Wir sagen zum Beispiel: „Die Anerkennung hat gar nichts gelöst.“ Was soll das?“ 12 Natürlich kann eine Maßnahme allein überhaupt nichts lösen. Soweit ist der Satz bloß eine Binsenweisheit. Aber warum haben wir zuerst ständig betont, daß die diplomatische Anerkennung der neuen Republiken schädlich wäre (Herbst '91), um dann, als sie bereits erfolgt war, darauf hinzuweisen, sie könne „die Probleme nicht lösen“ (Frühjahr 1992)? Ignorieren wir damit nicht ein wichtiges Feld der Politik? Warum haben wir uns nie gefragt, welche Folgen die Nicht-Anerkennung auf den Zerfall Jugoslawiens hatte? Wieso haben wir die Augen davor verschlossen, daß die Nicht-Anerkennung eine permanente Ermutigung Serbiens dargestellt hat, seine Aggression vorzubereiten und durchzuführen? Denn es ist wohl heute kaum mehr zu bezweifeln, daß die Unterstützung der USA und Westeuropas besonders ab dem Frühjahr 1991 für die legitimistisch argumentierende Zentralregierung in Belgrad sehr zur Eskalation des Konflikts beigetragen hat.

Katzenjammer

Jetzt, nach dem Beginn des totalen Kriegs in Bosnien, hat uns wohl alle der große Katzenjammer erfaßt und wir spüren endlich, daß wir schief liegen. Doch auch jetzt noch hinken wir hinter den Großmächten hinterher, die ihre eigenen Wege der Befriedung gehen. Wir haben jede Initiative verloren. Halbherzig sprechen wir uns für internationale Maßnahmen aus, gleichzeitig fürchten wir – zurecht – auch ihre negativen Folgen.

Die Internationalisierung des Konflikts ist eine völlig richtige Maßnahme und wurde etwa von der slowenischen Friedensbewegung schon seit Mitte 1991 gefordert. Wir haben die Bedeutung einer Delegitimierung des jugoslawischen Bundesstaates aber viel zu lange als Nationalismus verkannt. Damals hätte internationaler Druck auf die Zentralregierung mit Wirtschaftssanktionen immerhin einiges bewirken können. Heute hingegen ist die Situation so zugespitzt, die Kämpfe haben solchen Haß verbreitet und die Armeen und bewaffneten Banden sind dermaßen unkontrollierbar geworden, daß auch Sanktionen nur mehr eine begrenzte Wirkung haben.

So liegt es in der Logik der Internationalisierung durch Staaten, daß als nächstes schärfere Interventionen, d.h. militärische, ins Auge gefaßt werden. Werden wir das, was wir im Golfkrieg so verurteilt haben, nämlich eine ausländische Militäraktion, nun am Balkan wieder erleben? Werden wir uns diesmal der »Macht des Faktischen« beugen? Wieviele von uns sympathisieren jetzt – hinter vorgehaltener Hand oder offen – mit einer »Operation Balkansturm«, weil sie ihnen als einziges Mittel scheint, den totalisierten Krieg in Bosnien und Kroatien aufzuhalten?

Das zeigt deutlich, daß wir als Friedensbewegung die Initiative verloren haben. Wir haben uns als Schönwetter-Bewegung erwiesen, die nicht viel helfen kann, wenn es brenzlig wird. Offenbar fehlen uns Konzepte und Vorschläge für eine »positive Internationalisierung«, bei der die Gefahr vermieden wird, die Spirale der Gewalt nur noch weiter zu drehen.

Angetreten sind wir, die »neue Friedensbewegung«, mit der optimistischen und frechen Losung: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn den Politikern zu überlassen.“ Gemeint haben wir vor allem die Gefahr eines Atomkriegs, eine Gefahr, die natürlich auch heute nicht gebannt ist. Aber wir haben ganz übersehen, daß auch »normale« Kriege – seit Wegfall des atomaren Patts umso leichter – stattfinden können, und offensichtlich in nächster Zeit immer häufiger stattfinden werden. Unsere Kritik am »abstrakten« Atomkrieg war – trotz aller Berechtigung – von einem eher unpolitisch-idyllischen Friedensbegriff geprägt, die »großen Friedensdemonstrationen« waren letztlich unpolitische Volksfeste der GUTEN LEUTE. Aus unserer Losung, die ja auf politische Einmischung zielte, ist oft etwas ganz anderes geworden: „Der Frieden ist uns zu heilig, um ihn als Politiker anzugehen.“

Unberechtigte Hoffnungen

Jetzt, wo Kriege in unserer Nachbarschaft stattfinden, ist es mit Friedensbewegung in einem viel unmittelbareren Sinn ernst geworden. Wo bleiben die zum Frieden »bewegten« Leute? Wieso, verdammt, haben sie sich gerade jetzt verlaufen, wo es nicht mehr darum geht, Gesinnung zu zeigen, sondern Hand anzulegen? Wir brauchen heute eine Friedensbewegung notwendiger denn je. Aber wenn wir etwas erreichen wollen, so müssen wir »den Frieden« und »die Friedensbewegung« entmystifizieren, »entmoralisieren«, von ihrer ideologischen »Aufladung« befreien:

1. Wir müssen uns verabschieden von unserem alten, romantischen Friedensbegriff, der mit unserer »fundamentalistischen« Kritik am Kapitalismus korrespondierte. Frieden war nur jenseits der bestehenden Gesellschaftsordnung denkbar. Was sich so revolutionär gab, war in Wirklichkeit – linkes Biedermeiertum: „Gefühlsmäßig wird Friede immer noch mit konfliktfreien, idyllischen, familialen, sicherheitsspendenden Kleingruppenerlebnissen identifiziert. Gerade diese Grundgefühle sind aber gegenwärtiger Friedensarbeit, wie mir scheint, eher hinderlich.“, warnte Peter Heintel schon vor etlichen Jahren die Friedensbewegung, um zu betonen, „daß nämlich erst durch Organisation konkret Friede erreicht werden kann, Friede also weniger ein durch humanistische Appelle oder moralische Forderungen erreichbarer Idealzustand ist, sondern harte Organisationsarbeit im Detail voraussetzt.“ 13 Das bedeutet also gerade nicht Aufgabe des kritischen Geistes, sondern im Gegenteil eine Politisierung der Friedensarbeit.

2. Wir müssen Werturteile, die hauptsächlich unser Selbstbild als BESSERE MENSCHEN aufrechterhalten, ersetzen durch konkrete politische Analysen der konkreten Situation. Das können wir nur, wenn wir insgesamt unser Selbstbild vom BESSEREN MENSCHEN aufgeben und uns als Pragmatiker des Friedenschließens begreifen. Wir brauchen deshalb nicht alle hohen Ideale auf den Müll zu werfen, die Arbeit ist auch so mühsam und frustrierend genug, daß wir der Ideale als Leitsterne und Orientierung bedürfen.

3. Wir müssen auch politische Felder, die uns nicht sympathisch sind, die aber eine entscheidende Rolle haben, endlich besetzen. Während es uns selbstverständlich ist, Vorschläge für staatliche Politik im nationalen Rahmen zu äußern, haben wir es bisher weitgehend abgelehnt, über internationale Konzepte für staatliche Politik nachzudenken. Unsere Haltung geht meist nicht über »Hände weg« hinaus: „Nein zur EG“ (gute Gründe), „Nein zur UNO-Aktion im Irak!“ (gute Gründe), „Nein zur diplomatischen Anerkennung der neuen Staaten“ (gute und weniger gute Gründe), „Nein zu (militärischen) Interventionen am Balkan“ (gute Gründe) usw. Doch so bleiben wir immer in der Defensive. Stattdessen sollten wir Konzepte für die Internationalisierung von Konflikten und für internationale Organe zur Konfliktlösung entwickeln. Solche Utopien und pragmatischen Vorstellungen stünden einer Friedensbewegung wohl an. Ähnlich wie es am Ausgang des Mittelalters darum ging, das alte Fehderecht durch die deutsche Landfriedensordnung zu ersetzen, die ein gewisses Gewaltmonopol der (lange sehr schwachen) Zentralregierung durchsetzte, geht es heute darum, das Gewaltmonopol der einzelnen Staaten einzuschränken zugunsten internationaler Organismen, die eine pazifizierende (wenn auch nicht wirklich friedensstiftende) Aufgabe übernehmen müssen.

Wie problematisch das einzelstaatliche Gewaltmonopol auch von einer ganz anderen Seite her ist, zeigt ebenfalls das jugoslawische Beispiel. Internationale Organisationen wie die UNO, eine Gemeinschaft von Staaten, haben keinerlei Möglichkeit des Eingreifens, wenn eine Zentralregierung »staatsfeindliche Umtriebe« bekämpft, z.B. die ihrer Völker, die eigene Wege gehen wollen. Jeder Versuch der EG, der KSZE, der UNO wurden von der (serbisch dominierten) jugoslawischen Regierung – völlig in Übereinstimmung mit internationalem Recht – als „Einmischung von außen“ interpretiert und zurückgewiesen.

Statt diese Fragen zu diskutieren und über bessere Möglichkeiten, auch in regionalem Rahmen, nachdenken, beklagen wir die Schwächen der UNO, oder noch schlimmer, wir entlarven ihr Versagen und ihren Mißbrauch durch die Großmächte. Damit ignorieren wir einfach die Aufgaben, die anstehen. Wenn sie nicht von demokratisch legitimierten Instanzen wahrgenommen werden, dann passiert es eben, daß die stärksten »Fürsten« sich als selbsternannte »Weltgendarmen« aufspielen. Natürlich war die von uns so scharf verurteilte Militärintervention gegen den Irak weder Lösung noch Vorbild, aber sie war die pervertierte Lösung, die die Idee des Richtigen noch in sich trug und wohl auch deshalb so viel Zustimmung gefunden hat. Der richtige Kern war, daß internationale Gemeinschaften gewaltsames Vorgehen gegen einzelne Mitglieder der Gemeinschaft nicht dulden sollten. Von diesen Überlegungen aus gewinnt auch unsere Forderung für eine weltweite Abrüstung ein größeres Gewicht. Besser eine stark bewaffnete Weltpolizei als Atomarsenale der Großmächte und Massenvernichtungswaffen für jeden besseren Kleinstaat.

4. Prinzipiell richtig ist der Gedanke, daß „der Krieg als soziale Institution nicht militärisch, sondern nur kulturell, d.h. durch Veränderung der Denk- und Verhaltensmuster zu überwinden“ 14 ist. Er darf aber nicht als Argument gegen die Suche nach politischen Lösungsmöglichkeiten aktueller Probleme ausgelegt werden. Vor allem müssen wir sehen, daß die »Zivilisierung« von Staaten über die Einführung demokratischer Strukturen hinaus eine elementare Voraussetzung für den Frieden ist. Diese Entwicklung der »zivilen Gesellschaft«, d.h. parteiunabhängiger Strukturen von Bürgerinitiativen, nicht nur der Friedensbewegung, ist nach wie vor unser wichtigstes Feld. Wir sollten uns, meine ich, nicht als Alternative, aber als entscheidendes Korrektiv der Parteien-Demokratie verstehen. An diesem Ziel ist die österreichische Friedensbewegung schon einmal, in den 80er Jahren, gescheitert. Sie war viel stärker als in anderen Ländern von politischen Parteien ideologisch und organisatorisch abhängig und wurde beinahe aufgesogen. Das sollte uns eine Warnung sein. Die wenigen Bewegungen, die heute noch bestehen, sind alle durch Partei-Unabhängigkeit gekennzeichnet und durch das mehr oder weniger konsequente Bemühen um Professionalisierung der Arbeit. Wir brauchen viel mehr Leute, die beruflich für Frieden und Konfliktlösung arbeiten, die auf verschiedensten Ebenen praxisbezogene Friedensforschung und Friedensarbeit betreiben. Gerade das Beispiel Jugoslawien zeigt, wie dringend solche Fachleute heute gebraucht werden, die Methoden und Wege gewaltfreier Konfliktlösung vorstellen und entwickeln können. Wir haben keine.

5. Stärkere internationale Vernetzung der Friedensbewegungen: Traditionell wurde dabei von Westeuropa der Osten, der Balkan vernachlässigt. Heute sollten wir wissen, wie explosiv die Situation in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist. Die Zusammenarbeit gerade mit den VertreterInnen der zivilen Gesellschaft dieser Länder kann vielleicht verhindern helfen, daß sich das jugoslawische Paradigma ausbreitet. Trotz ihrer bürokratischen Struktur ist die Helsinki Citizens Assembly (HCA) eine der wenigen internationalen Organisationen, die sich dieser Probleme annimmt. Die österreichischen Gruppen (und offenbar ist es in den meisten westeuropäischen Ländern ebenso) scheinen sich aber eher abzuwenden, wenn man den enttäuschend schwachen Besuch der zweiten HCA-Versammlung im März 1992 in Bratislava zum Maßstab nimmt.

Mit anderen Worten: Was ansteht, ist nichts Geringeres, als daß sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Wenn uns das gelingt, will ich gerne vom Fortschritt des Menschen überzeugt sein. Bis dahin bleibt mir bloß der Glaube, ganz im Sinne von Franz Kafka, der einmal gemeint hat: „An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.“ 15

Der Artikel wird erscheinen in der Zeitschrift AUFRISSE, Heft 3/1992, einem Doppelheft zum Thema „Untergehendes Jugoslawien“ Verlag für Gesellschaftskritik, Kaiserstraße 91, A-1070 Wien.

Anmerkungen

1)) Peter Seipel, in: Wiener 1/92 Zurück

2)) Winfried Thaa. Die Unfähigkeit zu handeln. In: Kommune 4/1992, S. 40ff, hier S. 42 Zurück

3)) Mirko Messner. Die Spezialisten. In: Tango 15 (15.4.1992), S.3 Zurück

4)) Vgl. dazu Ivo Skoric. The Army Against The Country: A Story About The War in Croatia. In: The Intruder 5/1992, S.6-7, sowie: Dunja Melcic. Der Durchbruch der Weltpolitik und die schwierigen bosnischen Verhältnisse. In: Kommune 4/1992, S.14 ff Zurück

5)) Aufmacher der Wochenzeitung „Ulenspiegel“ 173, 20. April 1992 Zurück

6)) Vgl. Interview mit Peter Handke „Durchs Reden zugrunde gerichtet“. In: Profil 19/1992, S.96/97 Zurück

7)) Vlasta Jalusic, Was hat „Jugoslawien“ zusammengehalten? In: alpe adria 6/1991, S.9ff Zurück

8)) Pascal Bruckner. Survivrons-nous à la Jougoslavie? In: Le monde, 28.5.1992, S.2 Zurück

9)) Zitiert aus Drago Jancar. Bericht aus dem Neunten Land – Trugbild oder Wirklichkeit. In: Kommune 2/1992, S.58ff Zurück

10)) Vgl. Anm. 4 Zurück

11)) Dunja Melcic: Der totale Krieg als Endphase »Jugoslawiens«. In: Kommune 5/1992, S.22ff Zurück

12)) Karl Kumpfmüller. Interview in: TANGO 6(11.2.1992), S.1-2 Zurück

13)) Peter Heintel: Emotion und Organisation. In: Dialog, Beiträge zur Friedensforschung 8(1/1987), S.29ff Zurück

14)) Gerald Mader, Eröffnungsrede der Internationalen Sommerakademie in Schlaining, 5.7.1991, zitiert nach alpe adria 4/1991, S.26. (Die Polemik richtet sich ausdrücklich nicht gegen den Autor dieses Satzes.) Zurück

15)) Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. Zitiert nach: Josef Mühlberger (Hrg.): Franz Kafka. Die kaiserliche Botschaft. Graz/Wien (Stiasny-Bücherei) 1960, S.83 Zurück

Werner Wintersteiner ist Herausgeber der friedenspolitischen Zeitschrift alpe-adria, Obmann des Vereins „Alpen-Adria-Alternativ“, Rathausgasse 8, A-9500 Villach.

Sind Kriege wieder führbar? oder: Warum wir Krieg generell ablehnen

Sind Kriege wieder führbar? oder: Warum wir Krieg generell ablehnen

von Bendorf • Birk • Gonsior

Prof. Dr. W. Buckel war und ist ein wackerer, unermüdlicher Mitstreiter der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«. In unserer vorletzten Ausgabe war sein Brief an den Vorstand der Initiative zu lesen, in dem er seine abweichende Meinung zum Golfkrieg kundtat. Prof. Buckel schrieb darin u.a.: „Der fundamentalistische Standpunkt »Krieg um keinen Preis« ist einfach in der Realität sinnlos.“

Die Debatte über die Legitimation von Kriegen, die durch den Golfkrieg aufbrach, ist auch im Vorstand der Naturwissenschaftler-Initiative geführt worden. Wir veröffentlichen einige persönliche Kurzstatements aus diesem Kreis, mit der Aufforderung zur Einmischung an unsere Leser und Leserinnen.

Prof. Dr. Bernhard Gonsior

Friedliche Wege in die Zukunft?

Unser Kongreß in Münster zu Beginn dieses Jahres enthielt diesen Satz als Motto. Nur das Fragezeichen fehlte, das heute meine Stimmung wiedergibt. Es reflektiert die Erkenntnis, wie schwer es ist, friedliche Wege in die Zukunft zu finden.

Nach dem Zerfall des sog. Ostblocks wurde klar, daß das bilaterale Problem der Ost-West-Konfrontation einer multilateralen Problematik weichen würde. Der Golfkrieg zeigte Charakteristika der Nord-Süd-Auseinandersetzung, ausgebrochen auf der Basis der ungelösten Probleme im Nahen Osten. Wer hätte gedacht, daß dabei auch unter uns die Meinung aufkam, unter bestimmten Umständen sei Krieg möglich und führbar, wenn es zur Lösung von Problemen beiträgt.

Ich denke, daß der Golfkrieg gezeigt hat: Krieg darf nicht sein. er löst keine Probleme, er zerstört.Wir müssen in der Zukunft eine Diskussion darüber führen, ob dies unsere unumstößliche Position ist, ob wir damit noch Konsens erreichen können.

Diese Diskussion war deutlich und klar angesichts der atomaren Bedrohung eines Ost-West-Konflikts. Es besteht die Gefahr einer Aufweichung dieser Position unter gewissen Umständen. Das begünstigt Kriege, wie sie in Zukunft drohen: Nationalitätenkonflikte, Rohstoff- und Energiekonflikte, die die Nord-Süd-Konfrontation bestimmen werden und die Auseinandersetzung um Wasser und andere lebenswichtige Quellen.

Die atomare Bedrohung bleibt: das START-Abkommen ist kein einschneidender Abrüstungsvertrag geworden; die nuklearen Sprengköpfe bleiben, modernisiert kehren sie nach Europa zurück, Frankreich produziert neue, atomare Kurzstreckenraketen (HADES), die nach Deutschland reichen.

Auch bei uns wird weitergerüstet. Der Etat für Wehrforschung steigt. Die NATO probt das Umdenken und Umlenken auf neue Feindbilder. Auf welche?

Ich denke, unsere Position muß eindeutig auf Kriegsvermeidung, auf das friedliche Lösen von Konflikten gerichtet sein. Das Denken von Ausnahmen bedeutet unser Versagen. Unsere Position muß Militärkritik sein. Unsere Position sucht den Frieden unter den Völkern und mit der Natur, so sehr man an den Umständen auch verzweifeln mag.

Unsere konstruktive Utopie besagt: Unter dem gemeinsamen Dach Europas vom Atlantik bis zum Ural darf es keine Atomwaffen geben, muß die gemeinsame Sicherheit durch gemeinsame Abrüstung vorangetrieben werden. Unsere konstruktive Utopie verlangt, daß wir von den Atommächten bis 1995 eine drastische Reduktion der atomaren Waffen fordern, damit Weiterverbreitung vermieden und der Weiterverbreitungsvertrag gesichert wird. Auch die Bush-Gorbatschow-Initiativen sind dann noch weit von dem entfernt, was wir fordern müssen. Unsere konstruktive Utopie enthält schließlich, daß wir den Frieden mit der Natur zum Bestandteil unserer gemeinsamen Sicherheit machen.

Nach wie vor bleiben unsere Forderungen aus den Hamburger Abrüstungsvorschlägen und der Mainzer Appell zur Verantwortung für den Frieden maßgebend.

Rosemarie Bendorf

Wir müssen eine klare Sprache sprechen

Es fällt mir schwer aus aktueller Sicht etwas zur Krieg/Frieden-Problematik zu schreiben, denn meine Haltung ist zu dieser Frage starr und unverrückt, seid ich denken kann. Das rationale Element spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Geboren und aufgewachsen nach dem Krieg, haben dessen Spuren und Folgen doch nachdrücklich meine Kindheit bestimmt. Meine Spielplätze lagen, nicht ungefährlich, in Trümmergrundstücken; drei meiner Onkel waren im Krieg umgekommen; meine Familie, die vorher in drei oder vier eng beieinanderliegenden Dörfern gelebt hatte, war nun zerstreut zwischen Hamburg und München, Cottbus und Köln. Der Neuanfang in der Fremde und mit einer armseligen Habe war schwer. Noch heute bin ich voller Bewunderung für meine Tanten, die ohne ihre Männer Flucht und Neubeginn mit ihren kleinen Kindern unter den schwierigsten Bedingungen durchstanden und meisterten. Hinzukam eine wirklich überzeugende antimilitaristische Erzeihung in meinen ersten Schuljahren, gefestigt durch die Lektüre Heinrich Bölls, dessen Bücher ich verschlang.

Einige Anmerkungen möchte ich machen zum heuchlerischen und verbrämenden Umgang mit Worten und Begriffen. Eine klare Sprache ist aber eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Es beginnt damit, daß das Kriegsministerium Verteidigungsministerium heißt, ohne mit der ihm unterstellten Armee samt Waffenarsenal streng den Kriterien einer reinen Verteidigungsstreitmacht zu genügen. In der DDR wurde z.B. oft das Bild Wilhelm Buschs gebraucht, der seine »Waffen« – die Stacheln – nur zu seiner Verteidigung einsetzt und einsetzen kann. Es endet damit, daß Waffen »peace keeper« heißen und vorgegeben wird, daß Kriege zur Konfliktlösung tauglich, ja mitunter das einzig mögliche Mittel seien.

Damit bin ich bei der gegenwärtigen Situation. Im Philosophischen Wörterbuch fand ich unter dem Stichwort Krieg folgende Definition: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mittels organisierter bewaffneter Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele und ökonomischer Interessen.“ Eine schrecklich trockene Formulierung – nichts von Tod, Verwüstung, Haß und Schuld! Die Formulierung ist mir dennoch wichtig, weil sie klipp und klar sagt, wozu das Mittel Krieg einsetzbar ist: zur gewaltsamen Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen des Kriegführenden. Krieg so entsprechend seinem Zweck eingesetzt, brachte oft den gewünschten Erfolg (siehe die Geschichte Preußens). Aber Konflikte, wie man in jüngster Zeit lesen und hören konnte, wurden durch Kriege nie gelöst und sie sind auch per definitionem kein brauchbares Instrument dafür. Jede x-beliebige Nachricht aus Krisengebieten bestätigt dies wieder und wieder. Die Vorgabe mit Hilfe des Krieges Konflikte lösen zu wollen, scheint mir nur vorgetäuscht, um die eigentlichen ökonomischen und politischen Interessen zu bemänteln. Dies ist ein weiterer Grund für mich den Krieg abzulehnen, da er unmöglich das Ziel, zu dem er vorgeblich eingesetzt wird, erreichen kann.

Mit weiteren Ablehnungsgründen, die vor allem in der immer stärkeren Verletzlichkeit moderner Industriegesellschaften, der möglicherweise weltzerstörenden Wirkung der neuesten Waffensysteme und dem Wegfall des Feindblocks im Osten liegen, will ich mich hier nicht befassen. Sie erhärten meine Absage an den Krieg – sind aber für mich nicht ausschlaggebend.

Fazit: Ich lehne den Krieg, zu welchem Zweck auch immer ab. Meine Gründe sind mehr emotionaler Art als rationaler; werden aber durch die Forschungen zu den Folgen eines Krieges in der heutigen Welt nur erhärtet.

Dr. Isolde Birk

Kriege durch klügere Politik und Stopp des Waffenexports verhindern

Insbesondere im Zusammenhang mit dem Golfkrieg wurde viel darüber diskutiert, ob es richtig sei, einen Aggressor – wie zum Beispiel Saddam Hussein – mit Waffengewalt dazu zu bringen, seine Truppen wieder zurückzuziehen und das Land aufzugeben. Von vielen wurde diese Massnahme begrüsst, weil sie Krieg für die einzige oder adäquate Möglichkeit hielten, Kuwait zu befreien. Hierbei spielte auch der Wunsch, S. Hussein zu bestrafen, eine grosse Rolle.

Ich bin voll und ganz der Meinung, daß es die Völkergemeinschaft nicht tolerieren sollte, daß ein Land überfallen wird. Und sicher ist es auch richtig, daß der jeweilige Aggressor bestraft werden sollte. Aber ich halte Krieg für das falsche Mittel, um das überfallene Land wieder zu »befreien« und wie gerade das Fallbeispiel Golfkreig wieder zeigt, wird eben nicht der Aggressor durch den Krieg bestraft (zumindest nicht angemessen), sondern das Volk, eigentlich sogar mehrere Völker.

Krieg ist immer ein Zeichen für politisches bzw. diplomatisches Versagen. Sogar die Tatsache, daß S. Hussein Kuwait angreifen konnte, war schon eine Folge politischen Versagens, denn es gab genug Gründe zu befürchten, daß er Kuwait angreifen wollte. Es wäre also möglich und notwendig gewesen, vor dem Angriff auf ihn einzuwirken, um diesen zu verhindern. Und: hätte man versucht, Kuwait mit einem solchen Aufwand zu »befreien«, wenn es dort kein Öl gäbe? Und: hätte S. Hussein angreifen können, hätten ihm andere Länder nicht Waffen und Industrieanlagen zur Herstellung von Waffen geliefert?

Aber es wurde Krieg gegen Hussein geführt und das Ausmaß der Zerstörung, auch in Kuwait, ist weit grösser, als es zu erwarten gewesen wäre, hätte man sich ausreichend bemüht, mit anderen politischen Mitteln Husseins Abzug zu erreichen:

  • Es wurden mehr Soldaten und Zivilisten verwundet und getötet.
  • Leben und Gesundheit der Bevölkerung sind durch die zerstörte Infrastruktur und dem daraus folgenden Mangel an Lebensmitteln und sauberem Wasser bedroht.
  • Auch ohne den Einsatz von A-, B- und C-Waffen war die Zerstörung durch konventionelle Waffen verheerend. Aber immer besteht heute bei Kriegen die Gefahr, daß auch A-, B- und C-Waffen eingesetzt werden. Und es besteht auch immer die Gefahr, daß im Falle einer Eskalation auch die beste B- und C-Waffen-Konvention nicht eingehalten wird.
  • Durch den Krieg wurden auch zunächst unbeteiligte Völker betroffen: so wurde Israel mit C-Waffen bedroht und mit konventionellen Waffen angegriffen.
  • Der ökologische Schaden, der durch ins Grundwasser und ins Meer diffundierendes Öl sowie durch die Verbrennung des Öls entstanden ist, ist schon jetzt katastrophal und die weiteren Auswirkungen sind noch gar nicht abzuschätzen. Die ökologischen Schäden haben noch mehr als die Anwendung von Waffen globale Auswirkungen, die uns noch lange verfolgen werden.

Fehlende Überweisungen ausländischer Arbeitnehmer in der Golfregion an ihre Familien in der Heimat bedrohen deren Existenz. Länder der sogenannten »Dritten Welt« wurden während des Golfkrieges noch mehr vernachlässigt, und da für den Krieg auch von den nicht direkt beteiligten Industriestaaten immense Summen ausgegeben wurden, steht weniger Geld für Entwicklungshilfe zur Verfügung.

Dies sind nur einige wenige Punkte, die darauf hinweisen, daß ein »Befreiungskrieg« weit grössere Schäden anrichtet als andere politische Mittel, auch wenn diese vielleicht mehr Zeit brauchen.

Dies gilt nicht nur für den Golfkrieg, sondern für alle Kriege. So könnte zum Beispiel auch der Bürgerkrieg in Jugoslawien durch Einmischung von außen in Form von Waffengewalt eskalieren. Aber: gäbe dies diesen Bürgerkrieg ohne (deutsche und andere) Waffenlieferungen von aussen?

Krieg muß nicht sein und darf nicht sein. Es gibt genug andere politische Mittel, um Krieg zu vermeiden. Auch Angriffskriege wie die eines machtgierigen Saddam. Durch eine klügere Politik und Diplomatie hätte man diesen Krieg verhindern können, hätte man das gewollt. Vor allem aber hätte man ihn verhindern können, hätte man keine Waffen geliefert.

No Germans to the Front

No Germans to the Front

Plädoyer für eine neue Friedensbewegung – neun Thesen

von Jürgen Link

Ein mögliches Szenario

Folgendes Szenario kann nur noch durch eine neue Friedensbewegung und/oder unvorhersehbare günstige Entwicklungen verhindert werden: Nach der Dezemberwahl zu einem gesamtdeutschen Parlament wird entweder bereits eine Große Koalition gebildet, oder aber mindestens ein informeller Stab auf der Basis einer Großen Koalition. Dieser Stab berät ein Paket von Änderungen bzw. Ergänzungen des Grundgesetzes, damit die nötige Mehrheit gesichert ist. Zu den Änderungen wird u.a. gehören, daß der Bundeswehr militärische Out-of-Area-Einsätze erlaubt werden. Als Rahmen wird mindestens die UNO genannt werden, eventuell mit einer Formulierung, die später als Öffnungsklausel interpretiert werden kann. Bereits 1991 werden dann erste deutsche militärische Einheiten in die Dritte Welt geschickt werden können. Vielleicht wird es 1991 bereits die ersten in action gefallenen deutschen Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg geben – möglicherweise bereits eine deutsche militärische Verwicklung in eine gefährliche Eskalation.

Eine folgenreiche Entscheidung

Die Wichtigkeit einer solchen Entscheidung kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es handelt sich seit der Wiederbewaffnung und seit der Debatte um eine Atombewaffnung in den fünfziger Jahren um die wichtigste militärpolitische und damit wahrscheinlich überhaupt um die wichtigste politische Entscheidung der bisherigen Bundesrepublik. Die Frage der Pershings war zweifellos weniger folgenreich. Nun gibt es gegenüber Fragen von solcher Leben-und-Tod-Qualität zwei diametral entgegengesetzte Demokratie-Auffassungen. Die eine Auffassung hat die FAZ in einem Kommentar anläßlich des Tempos der Wiedervereinigung klassisch formuliert: „Die ganze Idee der repräsentativen Demokratie beruht auf der Erfahrung, daß die schwierigeren politischen Entscheidungen besser von frei gewählten Vertretern des Volkes als von den Wählern selbst entschieden werden.“ (21.3.1990, Seite 16) Dieser Auffassung liegt letztlich die Carl Schmittsche These zugrunde, daß die eigentlichen Fragen der Souveränität die Fragen des sog. »Überlebens«, darunter besonders die militärischen Fragen sind, und daß der Kreis der Diskutierenden und Entscheidenden um so mehr eingeengt und das Tempo um so mehr gesteigert werden sollte, je mehr man sich diesen Fragen nähert. Ich habe Antje Vollmers Diktum, daß das Tempo der Wiedervereinigung »unmenschlich« gewesen sei, so verstanden, daß sie die umgekehrte Auffassung von Demokratie vertritt: Je wichtiger die Frage, desto weiter der Kreis der Diskutierenden und Entscheidenden, desto ruhiger das zeitliche Tempo. Sollte das in These 1 entworfene Szenario Wirklichkeit werden, so wäre zumindest das Tempo noch viel unmenschlicher als das der Wiedervereinigung. Fazit daraus für die Meinungsbildung innerhalb des nichthegemonialen politischen Spektrums der Bundesrepublik: Ernstgenommen werden kann und muß ein Plädoyer für die Verschickung der Bundeswehr in die Dritte Welt; nicht ernst genommen werden kann ein solches Plädoyer, wenn es dabei gleichzeitig für das Szenario aus These 1 plädiert, also »aufs Tempo drücken« will und sich demnach einer breiten Debatte mit humanem Zeitrahmen widersetzt. Dieser Zeitrahmen müßte mindestens an der Debatte um Wiederbewaffnung, Atombewaffnung und Pershings orientiert sein.

Der Faktor »Zeit«

Damit eine solche Debatte fair und lebensverpflichtet geführt werden kann, muß ferner betont werden, daß es dabei um eine Langzeit- und Grundsatzentscheidung geht wie bei der Einführung neuer Risiko-Technologien, und nicht um eine kasuistische Einzelfallprüfung. Wir würden unseren Verpflichtungen gegenüber den heutigen und künftigen deutschen Kindern absolut nicht gerecht, wenn wir meinten, dem Einsatz deutscher Truppen im UNO-Rahmen in der 3. Welt zustimmen zu können, weil wir uns einzelne sog. »saubere« Fälle ausmalen könnten wie etwa vor dem Sturz der Sandinisten einen Einsatz in Nicaragua, oder wie einen Einsatz gegen einen Staatsmann, den wir für vergleichbar mit Hitler halten. Es geht nicht um den Grad der psychologischen »Verkaufbarkeit« des ersten Einsatzes, sondern es geht um eine strukturelle Entscheidung über Einsätze nach dem Jahr 2000, deren Szenarien wir uns jetzt noch gar nicht konkret ausmalen können. Der Vorwurf der »Drückebergerei«, der gegen Thesen wie diese hier erhoben zu werden pflegt, trifft in Wahrheit jede kasuistische Begründung von Bundeswehreinsätzen. Feindbilder wie Hitler-Analogien können mehr oder weniger zutreffen. In jedem Fall ist vor ihrer funktionalen Beliebigkeit zu warnen (man denke nur an den völligen Austausch solcher Feindbilder bei den Führern des Iran und des Irak binnen kürzester Zeit). Zu entscheiden ist also nicht die Frage, ob deutsche Truppen für alle Zukunft in Eskalationssituationen der 3. Welt geschickt werden sollen. Wessen Phantasie heute nicht einmal an die eines mittleren Pentagon-Computers heranreicht, kann auf den Titel eines Realpolitikers auf keinen Fall mehr Anspruch erheben.

Das UNO-Argument

Ich habe in dem obigen Szenario als sog. »kleinstes Übel« die Festschreibung auf den Rahmen der UNO angenommen. Da alle anderen möglichen Kompromisse zwischen SPD und CDU noch viel gefährlicher wären, beschränke ich mich im folgenden auf die UNO. Wenn ich es richtig sehe, umfaßt das Pro-UNO-Argument die folgenden Teil-Argumente:

  1. Die UNO garantiert angeblich, daß nur sog. »saubere« Militäreinsätze gefahren werden können. Inhaltlich wird das etwa wie folgt umschrieben: Bloß Einsätze zur Unterstützung von Demokratien gegen Diktaturen; bloß Einsätze auf Bitte von Ländern der 3. Welt; bei Konflikten zwischen verschiedenen Typen von Diktaturen (das ist in der 3. Welt der Normalfall) mindestens klare Verletzungen von Völkerrecht auf der zu bekämpfenden Seite (dies der aktuelle Fall Kuwait).
  2. Der UNO-Rahmen garantiert angeblich, daß der Einsatz von Armeen geopolitischer Hegemonialmächte mit globaler High-Tech-Logistik und Besitz von Superwaffen (Stichwort »Weltpolizei«) deren Qualität völlig ändere: Eine Armee wie die der USA oder die des künftigen Gesamtdeutschland sei im UNO-Rahmen mit einer Armee etwa vom Typ Finnland, Schweden usw. und/oder mit einer Within-Area-Armee (Typ Ghana in Liberia) äquivalent.
  3. Die UNO garantiert schließlich angeblich, daß ein Eskalations-Prozeß des schrittweisen »Versumpfens« (Modell Korea und Vietnam) absolut ausgeschlossen werden könne.

    (Auf »Argumente« wie das, daß »wir uns nicht drücken können«, daß »wir erwachsen werden müssen«, daß »wir Verantwortung übernehmen müssen«, daß »die Völkerfamilie uns drängt« usw. – sämtlich Umschreibungen für »Krieg« ! – gehe ich nicht ein: empfehle dazu lieber die Lektüre der Kriegs-„Fackeln« von Karl Kraus.)

Die Widerlegung

An diesen drei Argumenten hängt also alles. Bessere gibt es einfach nicht. Durch diese hohle Gasse muß mithin jede lebensverpflichtete Entscheidungsfindung hindurch. Es kann nun m.E. leicht gezeigt werden, daß keines dieser drei Argumente auch nur einem halbstündigen ernsthaften Nachdenken standhält.

a) Das Legitimationsproblem

Soweit die UNO so etwas wie tatsächliche (vor allem also militärische) Souveränität ausüben kann, so weit liegt diese Souveränität bei den ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates. So lange nun der Ost-West-Gegensatz funktionierte, konnte man annehmen, daß jedesmal, wenn eine Hegemonialmacht Hegemonialpolitik unter dem Deckmantel der UNO betreiben wollte, die andere Seite aus ebenso hegemonialpolitischen Gründen ein Veto dagegen eingelegt hätte. Selbst das aber stimmte so nicht ganz: Es gab das nicht genug bedenkenswerte Menetekel Korea. Damals profitierten die USA blitzschnell von einer zeitweiligen UNO-Boykott-Politik der Sowjetunion, um ihre eigene Militärintervention von der UNO absegnen zu lassen. Dieser Präzedenzfall ist deshalb so enorm wichtig, weil er strukturelle Lehren in sich schließt. Für alle Zukunft ist es keinesfalls auszuschließen, daß in bestimmten Situationen wiederum ein Teil der UNO die UNO-Legitimität für sich beanspruchen könnte. Wer jetzt militärisch einsteigen will, wird dann in einem Chaos von kontroversen Legalitäts- und Legitimitäts-Auffassungen stecken, wobei praktisch dann die sog. »Psychologie« entscheiden wird.

Noch viel brisanter allerdings ist die Lage geworden, seit es den Ost-West-Gegensatz nicht mehr gibt. Die Integration des früheren »Ostblocks« in die westliche konkurrenzliberale Wirtschaftsordnung bei gleichzeitigem enormem wirtschaftlichem »Gefälle« hat den Osten strukturell so abhängig und erpreßbar gemacht, daß er als mögliches Korrektiv für heikle UNO-Einsätze ausfällt.

Die augenblickliche Krise um die irakische Besetzung Kuwaits hat darüber hinaus (das ist ihr einziger positiver Aspekt) bewiesen, daß schon jetzt der UNO-Sicherheitsrat bereit ist, ex post für Militäraktionen globaler Hegemonialmächte von krassestem »Weltpolizei«-Typ Blanko-Persilscheine zu erteilen, die nicht einmal symbolisch so etwas wie eine UNO-Aufsicht zur Bedingung machen. Nach dem Überfall auf Kuwait setzten sich unter rein nationalem bzw. informellem NATO-Kommando High-Tech-Armadas weniger globaler Hegemonialmächte in Marsch, deren „Logik des Krieges“ (Mitterrand) absolut nicht an die UNO gebunden ist. Die UNO hat diese „Logik des Krieges“ unter nationalem bzw. informellem NATO-Kommando aber pauschal legitimiert. Damit hat sie strukturell autonome Weltpolizei-Einsätze derjenigem Mächte legitimiert, die die nötigen High-Tech-Armadas besitzen.

Was das Argument betrifft, die UNO garantiere aber mindestens den Einsatz bloß gegen Diktaturen und ggf. für Demokratien, so brauche ich auf die konkrete Schwierigkeit der Definition von »Diktaturen« und »Demokratien« zumindest in der 3. Welt nicht ausführlich einzugehen. Wiederholt werden müßte aber wohl, daß die konkrete Stärke der Armeen verschiedener Länder (wer z.B. Flugzeugträger besitzt und wer nicht) niemals von einem globalen demokratischen Prozeß (von einer »demokratischen Völkerfamilie«) beschlossen worden ist.

b) Der Charakter militärischer Operationen

Das zuletzt Gesagte beweist folglich auch, daß nichts, aber auch gar nichts garantiert, daß Operationen einer globalen Hegemonialmacht unter UNO-Flagge allein durch die UNO-Flagge ihre Qualität ändern und dann mit Truppen mittlerer und kleinerer Mächte bzw. mit Truppen von Within-Area-Mächten äquivalent gesehen werden können. Wenn die Bundeswehr unter UNO-Flagge eines Tages in Südamerika oder im südlichen Afrika operieren sollte, so werden diese Operationen niemals von den globalen Sonderinteressen der Hegemonialmacht Deutschland, werden niemals von ihrem exklusiven High-Tech-Potential usw. getrennt werden können. Niemals wird die Bundeswehr allein durch die UNO-Flagge zu einer finnischen oder sagen wir tansanischen oder bolivianischen Armee werden. Ihr tatsächliches Kommando wird schon aus operativen Gründen des Know-how usw. stets nur ein nationales, allenfalls ein informelles NATO-, niemals ein wirkliches UNO-Kommando sein können.

c) Was 2001 passieren könnte

Schließlich gibt es durch die UNO-Flagge auch keine Garantie gegen ein sog. »Versumpfen« vom Typ Vietnam. UNO-Einsätze finden entweder in Situationen objektiv eindeutiger Deeskalation statt (dann sind sie nicht problematisch) – oder aber in Situationen, deren objektive Eskalations- oder Deeskalations-Tendenz unklar ist – oder in Situationen mit objektiver Eskalations-Tendenz. Wiederum geht es nicht darum, über den ersten, unproblematischen Fall zu diskutieren, sondern nur über die problematischen Fälle. Für UNO-Truppen in einer objektiven Situation der Eskalation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie beschränken sich auf Defensive und möglichste Passivität – dann wird ein sog. »ohnmächtiger UNO-Einsatz« gefahren, der sich an der »Heimatfront« psychologisch schwer »verkaufen« läßt. Oder sie gehen in einer solchen Situation auch unter UNO-Flagge zur Logik des High-Intensity-High-Tech-Warfare einer Weltpolizei über, d.h. u.a. zur Logik der Vergeltungsschläge vom Typ Bekaa-Ebene im Libanon (»surgical-strikes against the enemy's sanctuaries«).

Wie schon gesagt, können wir es uns m.E. nicht länger leisten, mit unserer Phantasie sogar hinter mittelstarken Computern des Pentagons oder auch der Hardthöhe herzuhinken. Deshalb hier eine kurze Simulation »2001«: In Südafrika ist mit Ach und Krach ein Kompromiß zwischen der weißen Minderheit, der Inkatha und einem Teil der ANC-Führung zustandegekommen. Dieser Kompromiß schafft die Apartheid formell ab, sichert aber der weißen Minderheit und ihren schwarzen Kollaborateuren vom Inkatha-Typ mittels eines komplizierten Systems von Vetorechten und »ethnischen« Zweiten oder Dritten Kammern de facto weiter die Hegemonie. Vor allem liegt die bewaffnete Macht weiter de facto in der Hand der weißen Minderheit und ihrer Kollaborateure. Über diesen Kompromiß, der von den globalen Hegemonialmächten voll unterstützt wird, ist es zu einer Spaltung des ANC gekommen: Ein Teil der Führung und vor allem eine großer Teil der jüngeren Generation ist zu radikal »afrikanistischen« Gruppen wie dem PAC (Pan-Africanist Congress) übergegangen. Nach Jahren des Hin und Her und der sozialen und ethnischen Spannungen steigt in ganz Afrika eine neue Welle des Nationalismus an, die auf Südafrika übergreift. Die »afrikanistischen« Strömungen werden in der schwarzen Zivilgesellschaft dominant. Es kommt zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation. China praktiziert aus irgendeinem Grunde im UNO-Weltsicherheitsrat gerade eine Politik des leeren Stuhls. Die USA sind durch Einsätze in Südamerika und anderweit überlastet. So beschließt der Sicherheitsrat bei Stimmenthaltung Rußlands, an das die Stimme der früheren Sowjetunion inzwischen übergegangen ist, den Einsatz einer UNO-Friedenstruppe unter hauptsächlich westeuropäischer Beteiligung und deutscher Hegemonie. Die Truppe wird zunächst zwischen Zonen der Regierungskontrolle und Zonen stationiert, in denen die Resistenz dominiert (sog. Zonen des »Befreiten Azania«). Die »Bild«-Zeitung malt einen Führer der Resistenz-Seite als „irrsinnigen Gorilla “ („der King-Kong von Kap“ o. ä. und natürlich als „Weltterroristen Nr. 1“ aus. Es kommt zu einem blutigen Anschlag auf deutsche UNO-Truppen, dessen Hintergrund unklar ist, der aber von »Bild« usw. dem »Irren« in die Schuhe geschoben wird. Nun steht die entsprechende Bundesregierung »psychologisch« unter »Zugzwang«. Es geht dann angeblich darum, ob „wir“ als Weltmacht „in Afrika und der ganzen 3. Welt unser Gesicht verlieren“. Die Bundesregierung beschließt unter Druck der Südafrikanischen Regierung, den USA und der »Bild«-Stimmung einen „major surgical retaliation strike“ gegen angenommene »sanctuaries«, die vom MAD angeblich zweifelsfrei ausgemacht wurden. Dabei werden Hunderte schwarzer Frauen und Kinder getötet. Auf der azanischen Seite wird von nun an vom »German Massacre« und den »German Kid Killers« gesprochen, und eine »Logik des Krieges« zwischen »Deutschland« und den schwarzafrikanischen Massen Azanias beginnt.

Die Folgen der Weltwirtschaftsentwicklung

Nach diesem möglichst konkreten Szenario noch eine strukturelle Einschätzung. Es gibt tendenziell zwei mögliche Entwicklungen des Nord-Süd-Konflikts. Die optimistische geht davon aus, daß die nächsten Jahre einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung sehen werden, der das Gefälle auch der Länder des Ostens und Südens gegenüber den reichen Weltmächten erheblich verringern würde. Die früheren Ostblockländer und die sogenannten Schwellenländer würden etwa den Lebensstandard Spaniens (Normalitätsklasse 2) erreichen und die meisten armen Länder würden den Rang von Schwellenländern (Normalitätsklasse 3) erreichen. Selbst bei diesem Szenario werden sich allerdings Krisen vom Typ Irak-Iran, Irak-Kuwait u.ä. kaum verringern. Vielmehr dürften Separatismus-Krisen in der Ex-Sowjetunion und anderswo hinzukommen. Besonders häufig könnten Krisen vom Irak-Typ eintreten, weil gerade Schwellenländer in einer konkurrenzliberalen Weltwirtschaftsordnung strukturell leicht in die Schere zwischen dem Aufstieg zur Normalitätsklasse 2 und dem Absinken zur Normalitätsklasse 4 geraten können. Sie werden dann strukturell zur Anwendung militärischer Macht versucht. Sehr viel düsterer sieht das Szenario aus, wenn man keinen nennenswerten Take-off-Effekt bei der Mehrzahl der Gebiete des alten Ostblocks und der 3. Welt annimmt. Es werden dann die Gelegenheiten für Weltpolizei-Einsätze, und zwar mit und ohne UNO, nicht ab-, sondern zunehmen. Die UNO-Einsätze werden dann ferner tendenziell eher zunehmend heiklen Charakter annehmen.

Realistische Risiko-Szenarien

Ich fasse zusammen: Man kann und muß die Entscheidung, der Bundeswehr via UNO die Tür zur 3. Welt zu öffnen, als langfristige Grundsatzentscheidung erster Ordnung betrachten und nicht als kasuistische Opportunität. Diese Entscheidung ist daher einer Entscheidung über die Einführung neuer Risiko-Technologien politisch gesehen analog. Wie würde ein Experte angesehen, der im Falle der Einführung der Gen-Technologie bloß schöne Sachen ausmalte und kein einziges realistisches Risiko-Szenario auch bloß diskutierte? Ich habe hier keineswegs GAU-Szenarien diskutiert – die könnten noch viel, viel schlimmer aussehen. Ich habe versucht, etwa die Szenarien-Zone mittlerer Wahrscheinlichkeit anzugeben. Aber selbst wenn wir die Wahrscheinlichkeit für Szenarien wie das südafrikanische »bloß« mit 10%, ja bloß mit 5% einschätzten, müssen wir gerade als Realisten UNO-Einsätze der Bundeswehr strikt ablehnen. Einzig und allein die Null-Lösung schützt wirklich vor unkalkulierbaren Eskalations-Risiken. Einzig durch grundsätzlichen Verzicht auf Out-of-area-Einsätze, einschließlich UNO-out-of-area-Einsätze, kann Deutschland glaubhaft so etwas wie eine Deeskalations-Macht werden.

Das militärische Ungleichgewicht in der UNO

Diese Rede scheint hart und niemand mag sie hören. Warum eigentlich nicht? Ich glaube aus einem einfachen Mißverständnis heraus: Praktische PolitikerInnen meinen offenbar häufig, die prinzipielle Ablehnung militärischer UNO-Einsätze in der 3. Welt für die Bundeswehr wäre mit so etwas wie einer »Anti-UNO-Haltung« äquivalent. Diese Verdrehung wird gerade von Vertretern des linken SPD-Flügels wie Norbert Gansel suggeriert. Es handelt sich um eine plumpe Verdrehung: Gerade umgekehrt leidet die demokratische Tendenz der UNO unter dem ungemeinen militärischen Ungleichgewicht zugunsten der nördlichen High-Tech-Weltpolizeimächte. Dieses strukturelle Ungleichgewicht, das jeder wirklichen Deeskalation des Nord-Süd-Konflikts diamentral entgegensteht, würde durch einen Einstieg der Bundeswehr nur noch weiter erhöht. Es wäre also ein Beitrag zur wohlverstandenen, gerade auch militärischen Stärkung der UNO als einer demokratischen Völkerfamilie, die diesen Titel nicht bloß als Witz führen würde, wenn eine Hegemonialmacht wie das wiedervereinte Deutschland das Gewicht der mittleren und kleineren Mächte sowie der jeweiligen Within-Area-Mächte bei konkreten Krisenfällen durch seine Abstinenz stärken würde.

Für eine Anti-Eskalationspolitik

Zum Schluß noch ein letztes Szenario, diesmal ein utopisches, ein vom Prinzip Hoffnung geschriebenes: Hier und heute fassen einige grüne Politikerinnen und Abgeordnete den Mut, explizit auch UNO-Einsätze der Bundeswehr abzulehnen und überall, bis hin zum Bundestag selbst, explizit dagegen zu argumentieren. Sie einigen sich auf eine entsprechende Anti-Eskalations-Erklärung als gemeinsame Basis. Daraus entsteht eine neue Friedensbewegung, die sich so schnell wie die damalige Anti-Pershing-Bewegung stärkt und verbreitert. Unter dem Druck dieser Bewegung einigt sich die gesamte Grüne Fraktion auf die Anti-Eskalations-Erklärung. Sie vollbringt Wunder von Mut und Einsatz, Wunder von Verleugnung jeder Drückebergerei, um einzelne Abgeordnete der CDU, FDP und SPD zu überzeugen. Da setzt natürlich die Peitsche der Fraktionsdisziplin ein: die Zweidrittelmehrheit für das Paket zur Grundgesetz-Änderung soll durchgepeitscht werden, z.B. mit Rücktrittsdrohungen führender Politiker. Und da gelingt es den Frauen, erfolgreich die »Strick-Taktik« »eine links, eine rechts« anzuwenden: für jede SPD-Politikerin, die sich der Grundgesetzänderung widersetzt, wird eine CDU-Politikerin gewonnen und umgekehrt, so daß immer klar ist: das Links-rechts-Gleichgewicht wird durch die neue Friedensbewegung nicht verschoben. Keine von der CDU und keine von der SPD fällt ihrer Fraktion in den Rücken, weil auf der Gegenseite exakt genau so viele für die Beibehaltung des Grundgesetzes in diesem Punkte sind. Und so geschieht das Wunder: Die Zweidrittelmehrheit gerät kippt! Deutschland hat seine Lektion aus 2 Weltkriegen tatsächlich doch noch gelernt.

Jürgen Link ist Hochschullehrer für Germanistik an der Univ. Düsseldorf.

Für ein ziviles Europa

Für ein ziviles Europa

Lindener Erklärung von Friedensgruppen aus BRD und DDR, beschlossen am 11.3.90 in Hannover-Linden

von Entmilitarisierung

I

Ausgelöst durch Glasnost und Perestroika zerbricht in dieser Zeit die Nachkriegsordnung. Europa steht nun vor der Aufgabe, eine Friedensordnung aufzubauen, die der durchgreifenden Entmilitarisierung und der Kooperation zum gegenseitigen Nutzen auf ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellem Gebiet verpflichtet ist. Wir plädieren dafür, die politische Neuordnung Europas demokratisch zu legitimieren und im Rahmen der KSZE auszubauen. Unter Beteiligung aller KSZE-Staaten ist die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen den Verpflichtungen der zu schaffenden gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur unter Einschluß der UdSSR und Polens unterzuordnen. Die Militärbündnisse sind zugunsten dieser Struktur aufzulösen.

II

Jetzt haben wir die Chance, die bestehenden Ungleichgewichte (sowohl in Europa als auch im Verhältnis zur 2/3-Welt) durch konsequente Abrüstung und durch eine neue Qualität internationaler Kooperation abzubauen. Diese ermöglichen heute, daß wir uns von Feindbilddenken und Geist, Logik und Praxis der Abschreckung verabschieden. Wir wollen ein Europa, das seine Verantwortung für das neue Denken und eine für die 2/3-Welt gerechte Weltwirtschaftsordnung, in der Frieden und Umweltbelange gefördert werden, wahrnimmt. Wir wollen ein Europa, in dem auch die sozialen Menschenrechte – wie das Recht auf Wohnung, Arbeit und Bildung, die Gleichstellung der Frauen – verwirklicht werden. Wir wollen ein Europa, in dem die Eigenheiten der Kulturen und Regionen erhalten bleiben und entwickelt werden können. Wir setzen uns dafür ein, daß die KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst 1990 eine neue gesamteuropäische Friedensordnung beschließt, mit der ein umfassender Abrüstungs- und Entmilitarisierungsplan für Europa und Nordamerika einhergeht.

III

Für uns als Deutsche in West und Ost gilt: Die Kapitulation des Deutschen Reiches vom Mai 1945 ist endgültig und unwiderruflich. Wir fordern die Bundesregierung auf, die politische Neuordnung Europas nicht für neue Ansprüche an Osteuropa zu mißbrauchen. Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist endgültig und nicht verhandelbar.

Wir wollen ein neues Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zum Nutzen der Menschen. 45 Jahre Trennung in zwei weitgehend gegeneinander abgegrenzte Gesellschaften sind nicht durch wenige administrative Akte aufzuheben. Beide Gesellschaften müssen sich aufeinander zu reformieren. Das Selbstbestimmungsrecht haben sich die Menschen in der DDR im Oktober 1989 nicht dazu erkämpft, um zur Kohlonie der Bundesrepublik zu werden. Ein Beitritt der DDR zur BRD gemäß Art. 23 GG kommt für uns daher nicht in Frage.

IV

Während in der DDR einseitige Abrüstung eingeleitet wird, hält Bonn an der Stationierung von Atomwaffen und an Modernisierung fest. Der höchste Militäretat seit Kriegsende wurde beschlossen und die Ausdehnung der NATO nach Osten wird propagiert. Wir treten dem entgegen. In BRD und DDR müssen jetzt endlich alle Atomwaffen beseitigt werden. Alle neuen Waffenprojekte sind zu stoppen und die Bundeswehr abzubauen. Eine deutsch-deutsche Armee ist für uns nicht akzeptabel!

Die Initiativen der DDR-Friedensbewegung zur radikalen Entmilitarisierung (Appell der 89) bedürfen einer bundesdeutschen Antwort in Form einer Kampagne zugunsten einer »Bundesrepublik ohne Armee«, mit beiden wollen wir Vorschläge für eine militär- und manöverfreie BRD und DDR und ihre Einbindung in die neue gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsstruktur fördern.

Beginnen wir jetzt, die dringend benötigten Mittel für soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Aufbau und Bewahrung der Umwelt einzusetzen, indem Kasernen geschlossen, Rüstungsproduktion umgestellt, Truppenübungsplätze rekultiviert, Rüstungsprojekte und -exporte gestoppt und Truppen aufgelöst werden.

Beginnen wir jetzt, durch Entmilitarisierung freiwerdende Mittel der 2/3-Welt zur Verfügung zu stellen, so daß sie sich aus politischen und ökonomischen Abhängigkeiten befreien kann.

Wir sind nicht bereit, die Politik allein den PolitikerInnen und Bürokraten zu überlassen. Wir wissen, Frieden braucht Bewegung, braucht außerparlamentarische Aktivitäten – wie die Erfahrungen der Runden Tische beweisen. Dies gilt in beiden deutschen Gesellschaften.

In der Arbeitsgruppe »Entmilitarisierung« wurden folgende Forderungen entwickelt:

  1. Wir fordern die völlige Entmilitarisierung des Territoriums der heutigen beiden deutschen Staaten bis spätestens zum Jahre 2000.
    Wir unterstützen die Kampagnen »Bundesrepublik ohne Armee« und »Appell 89«, die in der BRD und der DDR für dieses Ziel arbeiten.
    Der faktische Zerfall der NVA bietet die Möglichkeit zur Entmilitarisierung der DDR schon jetzt. Wir fordern eine substantielle Reduzierung der Bundeswehr schon vor und unabhängig vor eventuellen Vereinbarungen bei den Wiener Verhandlungen.
    Als Zwischenschritt auf dem Weg zur völligen Entmilitarisierung fordern wir für die 2:4 Gespräche einen Beschluß zur Reduzierung der Gesamtzahl deutscher Soldaten auf maximal 100.000 bis spätestens 1995.
  2. Wir fordern die sofortige, ersatzlose Einstellung aller militärischen Manöver und Tiefflüge, ohne deren Verlagerung ins Ausland.
  3. Wir fordern, heute schon den Abzug aller A-B-C-Waffen vom Territorium der beiden deutschen Staaten bis spätestens 1995 zu beschließen und die Verpflichtung, auf den Besitz oder Mitbesitz und die Verfügung von A-B-C-Waffen sowie auf deren Erforschung, Entwicklung und Produktion zu verzichten, in der Verfassung zu verankern.
  4. Wir fordern ein gesetzlich verankertes, wirksames Verbot aller Exporte von Rüstung und Rüstungsproduktionstechnologien.
  5. Wir fordern, heute schon zu beschließen, als Zwischenschritt zur völligen Einstellung von Militärausgaben, die Haushalte bis spätestens 1995 um mindestens real 50% der Höhe des Jahres 1990 zu kürzen.
    In den ersten Jahren sollten die freiwerdenden Gelder vorrangig für Konversionsmaßnahmen sowie für die Reintegration von Soldaten der NVA und Bundeswehr ins zivile Berufsleben verwendet werden. Langfristig sollten die Gelder für die Bewahrung der Umwelt, soziale Gerechtigkeit und für die 2/3-Welt zur Verfügung gestellt werden.
  6. Wir fordern die Fortsetzung des Runden Tisches beim Verteidigungsministerium der DDR auch nach der Wahl am 18.3.90 und die Einsetzung eines solchen Tisches beim Verteidigungsministerium der BRD.