Vorwärts in Sachen Frieden?

Vorwärts in Sachen Frieden?

Interviews zur Koalitionsvereinbarung

von Bernhard Nolz

„Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert.„ Hat der Titel der Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter einer Friedensperspektive Bestand? Was sollten die Koalitionspolitiker/innen aus der Sicht von Friedenswissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern darüber hinaus bedenken, wenn sie an die Umsetzung der Vereinbarung gehen? Zu einigen Aspekten der Koalitionsvereinbarung sprach der Friedenspädagoge Bernhard Nolz für W&F mit Prof. Dr. Gert Sommer vom Forum Friedenspsychologie – BewußtSein für den Frieden, Oberstleutnant a.D. Lothar Liebsch vom Arbeitskreis Darmstädter Signal, Priv.-Doz. Dr. Johannes M. Becker vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Reiner Braun von der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit« und Prof. Dr. Wolfgang Popp von den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden.

Friedensaspekt Menschenrechtspolitik

W&F: Nur neun Zeilen der Koalitionsvereinbarung sind der Menschenrechtspolitik gewidmet.

Sommer: Das ist wenig, insbesondere in Anbetracht dessen, daß Menschenrechte in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der internationalen Politik geworden sind. Es ist begrüßenswert, daß sich die neue Regierung explizit auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bezieht und diese zu „Leitlinien für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung“ machen will. Entsprechend wird angekündigt, daß Menschenrechtsverletzungen international abgestimmt bekämpft sowie präventiv verhindert werden sollen. Es wird aber zu überprüfen sein, in welchem Ausmaß sich die Regierung an ihren eigenen Richtlinien orientieren wird oder ob sie, wie die Kohl-Regierung, hauptsächlich eine unverbindliche Menschenrechts-Rhetorik betreibt. Mit der gegen das Völkerrecht und gegen die deutsche Verfassung verstoßenden Militärdrohung gegen die Republik Jugoslawien ist bereits ein falscher Weg eingeschlagen worden.

W&F: Das Koalitionspapier läßt offen, von welchem Menschenrechtsverständnis die Regierungspartner ausgehen.

Sommer: Ein bedauerliches Defizit! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte enthält nämlich zum einen die bürgerlichen Rechte wie das Recht auf Leben, das Verbot von Diskriminierung und Folter, aber eben auch die sozialen Rechte, wie z.B. das Recht auf Arbeit, den Schutz vor Arbeitslosigkeit, das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung. Diese sog. zweite Generation der Menschenrechte wird von westlichen Regierungen leider allzugern »vergessen« oder – trotz aller UNO-Resolutionen – als zweitrangig abgetan. Für Deutschland und Westeuropa ist es aus der Menschenrechts-Perspektive wesentlich, daß z.B. das Recht auf Arbeit gewährleistet wird. Angesichts des weitreichenden Elends in der Welt wäre insbesondere die internationale Wirtschaft so zu gestalten, daß sie an menschlicher Entwicklung und ökologischer Erhaltung orientiert ist und nicht an kurzfristiger Gewinnmaximierung. Hier gibt es im Rahmen der UNO interessante Ansätze. Das Forum Menschenrechte und viele Menschenrechts-NG0s in Deutschland könnten wichtige Partner für die Bundesregierung bei einer zunehmenden Realisierung der Menschenrechte werden. Die Regierung darf diese Chancen nicht verspielen!

W&F: Die angekündigte Regierungsunterstützung für ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut in Deutschland werden Sie begrüßen.

Sommer: Natürlich, aber hier wäre besonders wichtig, daß dieses Institut interdisziplinär und zusammen mit Menschenrechtsorganisationen arbeitet und daß es auch Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und (West-)Europa intensiv erforscht. Leider wird bei Menschenrechtsverletzungen nur allzu häufig die Aufmerksamkeit auf die nicht-westlichen Länder gelenkt. Sie werden aber nicht nur dort verletzt! In der einzigen Weltmacht USA z.B. lebten in den letzten Jahren 30 Millionen Menschen zumindest für einige Monate unter der Armutsgrenze und die Menschenrechtsorganisation »Human Rights Watch« wies kürzlich darauf hin, daß der Einsatz von Polizeikräften in den USA von „weitreichender Brutalität“ insbesondere gegenüber ethnischen Minderheiten gekennzeichnet ist. Angesichts solcher Fakten ist der folgende Satz aus der USA-Passage in der Koalitionsvereinbarung mit erheblicher Skepsis zu betrachten: „Die enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen.“ Eine kritischere Distanz erscheint auch im Hinblick auf die Instrumentalisierung der UNO durch die USA notwendig.

Friedensaspekt Sicherheits- und Abrüstungspolitik

W&F: In der Sicherheitspolitik nicht Neues! Die Bundeswehr dient nach dem Willen der neuen Koalitionäre weiterhin „der Stabilität und dem Frieden in Europa„.

Liebsch: Politisches Ziel müßte die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt, also auch der Bundeswehr, sein, weil der Einsatz militärischer Mittel die denkbar schlechteste, teuerste und gefährlichste Möglichkeit ist, Konflikte zu lösen. Die Sicherheitspolitik muß wie jede Politik dem Wohl der Menschen dienen. Kriege und Kriegsdrohungen können diesem Anspruch nicht gerecht werden.

W&F: Die Bundesregierung will eine Wehrstrukturkommission einsetzen. Welche »Marschrichtung« sollte die einschlagen?

Liebsch: Die Arbeit der Wehrstrukturkommission muß von der Grundeinsicht geprägt sein, daß jeder Soldat auf dieser Welt ein Soldat zuviel ist. Ein erster Schritt wäre die Abschaffung der Wehrpflicht, d.h. die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee und ihre drastische Reduzierung auf ca. ein Drittel der jetzigen Stärke. Die Einführung eines sozialen Pflichtjahres oder andere Zwangsdienste lehnen wir als demokratie-unverträglich ab. Der Wehretat muß kontinuierlich abgesenkt und die vorhandenen Mittel dürfen nicht für Prestigeobjekte wie den Eurofighter verschleudert werden.

Ich erwarte, daß die Verteidigungspolitischen Richtlinien geändert werden. Streitkräfte sind grundsätzlich nur zur Landesverteidigung gerechtfertigt. Sie sollen nicht-angriffsfähig strukturiert sein, mit der Konsequenz, daß sich Kampfeinsätze der Bundeswehr gar nicht verwirklichen lassen.

W&F: Wie schon sein Vorgänger möchte sich auch Verteidigungsminister Scharping mit der Bundeswehr im (Umwelt-)Katastrophenmanagement profilieren.

Liebsch: Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- oder Umweltschutz; Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit sind Streitkräfte wenig geeignet. Diese für die Lösung weltweiter Konflikte zweifellos wichtigen Aufgaben müssen von anderen Kräften bewältigt werden. Entsprechende Absichtserklärungen in der Koalitionsvereinbarung begrüße ich sehr.

W&F: Die Vereinbarung bleibt weit hinter dem zurück ,was als eine neue aktive Friedenspolitik bezeichnet werden könnte.

Becker: Als ich las, daß Scharping zur Bedingung seiner Amtsübernahme gemacht hatte, daß der »Wehretat« nicht angekratzt wird, wurde mir die ganze Traurigkeit rotgrüner Sicherheitspolitik rasch deutlich. Da steht nichts in der Koalitionsvereinbarung von einer wirksamen Reduzierung des .Militärhaushaltes. Da lese ich nichts von der Aufkündigung der von Rühe und der konservativen Koalition geplanten Beschaffungsvorhaben. Da finde ich keinen Hinweis auf den entschlossenen Willen, der Sicherheitspolitik durch verstärkte Forschung nach gewaltfreien Mitteln der Konfliktregelung eine neue Logik geben zu wollen – es sind keinerlei Visionen zu entdecken!

Ja, wenn die DASA, bleiben wir bei dem konkreten Projekt Eurofighter, mit astronomischen Regreßforderungen droht, dann soll die neue Regierung den Herren in Ottobrunn doch zumindest eindeutig klarmachen, daß der Eurofighter das letzte Waffensystem war, was sie verkauft haben an die Bundesregierung!

W&F: Die Grünen-Forderungen nach „Raus aus der NATO“ und „Auflösung der Militärblöcke“ scheinen genauso vergessen wie die noch nicht sehr alten SPD-Forderungen nach einer jährlichen Kürzung des Wehretats um zehn Prozent.

Becker: Das gesamte Ausmaß des Dilemmas wird besonders deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Forderung nach Bundeswehreinsätzen out of Area noch Anfang der 90-er Jahre in der christdemokratischen Fraktion eine Minderheitsposition war, heute aber von der neuen rotgrünen Regierung getragen wird.

W&F: Wenn bei SPD und Bündnis 90/Grünen jegliche Ansätze eines neuen Denkens in der Frieden und Sicherheitspolitik fehlen, hoffen Sie auf die PDS?

Becker: Man kann wirklich nur hoffen, daß zumindest die PDS ihre Parteitagsbeschlüsse nicht so rasch vergißt und der Regierung zusammen mit der Friedensbewegung und der Friedensforschung Druck von links macht.

Friedensaspekt Forschungspolitik

W&F: Wie beurteilen Sie die Aussage der Süddeutsche Zeitung, die über die geplante Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik von einem „langsamen Umsteuern des Wissenschaftstankers“ spricht?

Braun: Ich würde die Chancen für eine neue Politik höher einschätzen. Erstmals ist in einer Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene das Konzept Zukunftsfähigkeit die Grundlage politisches Handelns. Besonders deutlich wird diese Orientierung im Bereich Bildung-, Forschungs- und Wissenschaftspolitik: „Dazu gehört die Ausrichtung von Forschung und Innovation auf nachhaltige Entwicklung und Zukunftsfähigkeit … Leitprojekte auf interdisziplinärer Basis sollen gefördert werden, ein forschungspolitischer Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und weiteren gesellschaftlichen Akteuren eingeleitet werden„. Damit wären Nicht-Regierungsorganisationen erstmals mit im Boot! Wenn das, was auf dem Papier steht, Realität würde, hätten wir deutliche Veränderungen, es wäre mehr als ein Einstieg in eine zukunftsfähige Wissenschaft.

W&F: Es fällt auf, daß Aussagen zur Friedensforschung im Abschnitt Innovation und Bildung völlig fehlen, (sie sind allerdings unter OSZE erwähnt).

Braun: Notwendig scheint mir, daß die Friedensforschung – besonders auch die naturwissenschaftliche – angesichts der existierenden Probleme und Konflikte auf der Welt wieder den Stellenwert bekommt, den sie einmal unter Gustav Heinemann gehabt hat.

W&F: Die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative hat in der Vergangenheit immer wieder die Dual-use-Thematik problematisiert.

Braun: Darüber steht im Regierungsprogramm kein Wort. Offensichtlich wird aber in großen Forschungsinstitutionen zunehmend Dual-use-Forschung betrieben. Aus meiner Sicht muß eine Militarisierung von Forschung und Entwicklung unbedingt verhindert werden. Das Ministerium müßte Initiativen entwickeln, daß die Zivilisierung von Forschung fortgesetzt und festgeschrieben werden kann.

W&F: Aus friedenswissenschaftlicher Perspektive machen doch einige aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft aktives politisches Handeln erforderlich.

Braun: Z.B. in der Biomedizin und in der Gentechnik, u.a. durch Klonen und Embrionen-Manipulation werden ethische Grenzen bedroht. Es scheint uns notwendig, hier auch juristische Barrieren zu ziehen, möglicherweise durch ein Moratorium. Besorgt sind wir auch über die unzureichenden Aussagen zum Forschungsreaktor in Garching FRM2. Notwendig ist aus unserer Sicht eine klare Absage an einen mit waffenfähigem Uran ausgerüsteten Reaktor.

Friedensaspekt Interkulturalität

W&F: Mit der kurzen Anmerkung „Dialog der Kulturen“ im Koalitionspapier soll wohl der in Europa und Nordamerika weit verbreiteten Theorie vom „Kampf der Kulturen“ eine Absage erteilt werden?

Popp: Diese Absicht kann man vermutlich den Verfassern unterstellen. Was aber dabei herausgekommen ist, ist die rotgrüne Variante eines diffusen deutschen Kultur-Imperialismus, der „Feindbilder zurückdrängen“ will. Notwendig wäre dagegen eine Kulturpolitik, durch die die Fähigkeit entwickelt wird, die eigene Lebensweise nicht zum Maßstab für andere zu machen und andere kulturelle Werte und Normen als gleichberechtigt gelten zu lassen.

Es ist fraglich, ob durch die Präsentation deutscher Kultur im Ausland und durch Programme deutscher Auslandssender der »Dialog der Kulturen« gefördert werden kann. Ins Reich der Träume gehört die Vorstellung, durch die „Förderung wirtschaftlicher Beziehungen“ die Mechanismen der Markwirtschaft, die sich z.B. in weltweiten rücksichtslosen Konkurrenzkämpfe um Märkte und Ressourcen äußern, zivilisieren zu können.

Interkulturelle Dialoge müssen eingebettet werden in die Entwicklung einer Kultur des Friedens. Dann können sie dazu beitragen, Diskriminierungen abzubauen, Solidarität zu entwickeln, Gleichheit zu verwirklichen und Partizipation zu ermöglichen.

W&F: Statt zusammenfassender Worte Auszüge aus einem Brief, den der Literaturnobelpreisträger Jose Saramago den Wahl-Siegern geschrieben hat.

Freue Dich Linke, morgen schon wirst du weinen. Gründe fehlen Dir wahrlich nicht. Wegen der erdrückenden Flut von Neoliberalismen bewegst Du Dich rastlos umher, in die Mitte drängend und Deine Fahnen verbergend, orientierungslos und mit verwelkten Überzeugungen, ohne eine einzige zwingende Idee darüber, wie Du Dich verhalten solltest angesichts der Gewißheit, daß der Mandarin-Motor des geliebten Europa seit nunmehr 16 Jahren von konservativen, deutschen Köpfen geschmiert und regiert wurde, Dich darauf beschränkend, von Zeit zu Zeit abzuzeichnen an den Stellen, die man Dir dazu anwies.

Jetzt darfst Du schließlich Deine Hände gen Himmel recken und dem Heiligen Antonius der Vergeßlichen Dank sagen, denn diese Zeit ist nun vorbei. […]

Denkt die Linke schließlich, daß ihre Ideen – wenn es denn immer noch die gleichen sind – über Sozialismus und Sozialdemokratie vereinbar sind mit der vollkommenen Bewegungsfreiheit der Multis und der Finanzmärkte, die dem Staat lediglich Aufgaben in der aktuellen Verwaltung zugestehen und die Bürger zu bloßen Kunden und Konsumenten degradieren, deren Bedeutung sich daran bemißt, wieviel sie konsumieren und wie brav sie sich verhalten?„ (Freitag 46 v. 06.11.98)

Bericht vom European Peace Congress – Osnabrück ‘98

Bericht vom European Peace Congress – Osnabrück ‘98

von Tobias Pflüger

Vom 29. bis 31. Mai fand in Osnabrück der »European Peace Congress ‘98« statt. Annähernd 1.000 TeilnehmerInnen – schwerpunktmäßig aus Deutschland, aber auch aus vielen anderen europäischen Ländern – diskutierten in zahlreichen Foren u.a. zu folgenden Themen:

  • Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer
  • (Keine) Zukunft der Wehrpflicht
  • Staat und Pazifismus
  • konkrete Erfahrungen mit Kriegsdienstverweigerung und Krieg an den Beispielen Türkei und Bosnien
  • Rüstungsproduktion
  • Konversion
  • Militarisierung
  • Nukleare Bedrohung
  • Friedensgestaltung durch Nichtregierungsorganisationen
  • Zivile Friedensdienste
  • Nationalstaat und Weltregierung etc.

Der Schwerpunkt lag sicher im Bereich der Kriegsdienstverweigerung, die Diskussionen blieben aber nicht auf diese Thematik beschränkt.

Einen Gesamteindruck des »European Peace Congress« abzugeben, ist schwer, da durch die Vielzahl von Foren und Vorträgen zur gleichen Zeit (mit leider auch unterschiedlichen Zeitübergängen) es praktisch nur möglich war, den Kongreß partiell mitzubekommen. Die politischen Grundaussagen sind deshalb am ehesten in der Auswahl der ReferentInnen, aus dem vorgelegten Memorandum und den Beschlüssen des Abschlußplenums zu erkennen.

Bei der Auswahl der ReferentInnen fiel der starke internationale Charakter (Israel-Palästina, Russland, Polen, Türkei, Bosnien, Jugoslawien etc.) auf und bei den Großplenen die Fixierung auf »bekannte Namen«.

Als Vorsitzender des Trägerkreises hat Mohssen Massarat sieben schon laufende handlungsorientierte Projekte aufgelistet, die im Abschlußplenum zum Tragen kamen:

  • Das Menschenrecht der Gewissensfreiheit zur Kriegsdienstverweigerung verwirklichen
  • Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure
  • Eine europäische Kampagne Ziviler Friedensdienst
  • Kampagne »Fünf für Frieden«
  • Kampagne für einen Friedenssteuerfonds
  • Einrichtung einer internationalen Friedensuniversität
  • Zivile Friedensräte auf nationalen, regionalen (EU) und globalen (UN) Ebenen.

Das verabschiedete Memorandum macht den Versuch, die Idee des Pazifismus auf die Ebene der Mitgestaltung der laufenden Politik zu holen. Dabei werden aber auch Vorschläge zur Opposition gegen die herrschende Politik gemacht. Genau an diesem Ansatz krankt das lange Papier: einerseits Teil der laufenden Politik sein zu wollen und andererseits festzustellen, daß diese friedenspolitisch unzureichend ist. Kritik verdient auch der in Osnabrück deutlich werdende Trend, alles aufzunehmen, was gerade in der Friedensbewegung läuft, ohne es im Einzelfall inhaltlich zu prüfen und kritisch zu hinterfragen. Eine intensive Auseinandersetzung mit der laufenden Militarisierung der bundesdeutschen Politik fand nur zum Teil statt. Schwerpunkt bildete die Diskussion von Ideen, wie es anders gemacht werden könnte, ohne sich allerdings ausreichend damit zu befassen, ob in der laufenden Politik überhaupt dafür Platz ist, ob die Friedensprojekte angesichts der gegenwärtigen Personalisierung und Entpolitisierung der Politik überhaupt auf der Tagesordnung stehen oder wie sie dorthin kommen könnten.

Trotzdem hat der Kongreß meiner Ansicht nach einen sehr großen Wert für die Friedensbewegung:

  • Außerhalb und während der Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen ergaben sich viele informelle Gespräche und Treffen, ein Austausch zwischen den Menschen und Gruppen der Friedensbewegung war hervorragend möglich. Im Zeitalter von Telefon- und e-mail-Bekanntschaften war Osnabrück ein Ort, andere FriedensfreundInnen einmal leibhaftig vor sich zu sehen, näheres über ihre Arbeit zu erfahren und mit ihnen weitere Projekte zu planen. Der Austausch beispielsweise der Medienschaffenden der Friedensbewegung war in dieser Form einmalig und sollte unbedingt wiederholt werden.<0>
  • Der internationale Charakter des Kongresses ermöglichte es, mal über den deutschen Tellerrand hinaus zu schauen, sich gegenseitig zu informieren und Ideen auszutauschen.

Eine Vordokumentation des »European Peace Congress Osnabrück ‘98« ist im Friedens-Forum 4/98 und in Kurzform auch in der Zivilcourage 4/98 erschienen. Eine ausführliche Kongreßdokumentation wird im Münsteraner Agenda-Verlag erscheinen.

Ferien vom Krieg – Kinderfreizeiten als Friedensarbeit

Ferien vom Krieg – Kinderfreizeiten als Friedensarbeit

von Helga Dieter

Seit Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien haben Hanne und Klaus Vack, unterstützt durch Freundinnen und Freunde sowie weitere Mitglieder des Komitees für Grundrechte und Demokratie, auf insgesamt 97 Reisen in umkämpfte und zerstörte Gebiete für ca. 13,9 Millionen DM humanitäre und friedenspolitische Hilfe geleistet. Diese gewaltige Summe wurde ausschließlich von privaten Spenderinnen und Spendern gesammelt. Die Hilfe ging anfangs unter dem Titel »Helfen statt Schießen« überwiegend an Flüchtlinge in den verschiedensten Lagern in allen jugoslawischen Nachfolgerepubliken. Kriegs- und Flüchtlingskinder wurden bei diesen Hilfsaktionen besonders bedacht. Es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit vielen Friedensgruppen in verschiedenen Teilen Ex-Jugoslawiens. Angesichts der erbärmlichen Lebensumstände bildete aber die humanitäre Unterstützung den Schwerpunkt bei fast allen Reisen. Begleitend zu den Hilfslieferungen wurden dann 1994 erstmals Ferienfreizeiten für Waisen- und Flüchtlingskinder durchgeführt.

200 Kinder aus Slavonski Brod, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Nordbosnien, wo zu dieser Zeit Tausende von Flüchtlingen aus Bosnien z.T. in Eisenbahnwaggons und Zeltlagern in größtem Elend lebten, nahmen 1994 an der ersten Aktion »Ferien vom Krieg« teil. Die Mitglieder des Komiteevorstandes waren von der Lebensfreude und der aufkeimenden Hoffnung der Kinder so beeindruckt, daß für 1995 die Zahl der Ferienkinder auf 400 verdoppelt werden sollte. Der Erfolg war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend, denn 1.650 Kinder konnten nach einem organisatorischen Kraftakt in drei Orten an der Adria die Ferien genießen. Die scheuen, depressiven und einsilbigen Kinder strahlten schon nach wenigen Tagen Lebensfreude aus und zeigten Interesse an der Umgebung und den Fremden. 1996 konnten fast 3.000 Kinder „Einen Sonnenstrahl im lange abgedunkelten Keller“ erleben und 1997 schrieb ein Kind – stellvertretend für die anderen – an seine Ferienpatin: „Daß Frieden so schön sein kann, habe ich nicht gewußt.“

Bisher haben etwa 7.500 Kinder mit ca. 500 einheimischen Betreuerinnen und Betreuern »Ferien vom Krieg« erleben dürfen. Da die effektiven Kosten pro TeilnehmerIn (Fahrt, Versicherung, Visagebühren, Bootsfahrt usw.) höher sind als der Betrag einer »Patenschaft«, die nur Unterkunft und Verpflegung abdeckt, gab es fast 10.000 »Patenschaften«, d.h. fast 2,5 Millionen Mark Spendenaufkommen für diese Aktion.

Eindrücke von den Lebensumständen und in die Schicksale der Kinder

Auf den ersten Blick unterschieden sich die traumatisierten Kriegskinder eigentlich kaum von einer x-beliebigen Kindergruppe am Meer: Sie planschten im Wasser, lagen plaudernd am Strand, spielten Ball usw. Auf den zweiten Blick fiel die Armut auf: Keines von 200 Kindern hatte eine Matte oder Badeschuhe auf dem steinigen Boden, geschweige denn Luftmatratzen, Schnorchel oder ähnliches. Kein Walkman, kein Gameboy, nichts! Zehn Prozent der Kinder kamen ohne Gepäck, d.h. sie besaßen nur, was sie am Leibe trugen. Einige badeten in der Unterwäsche, die dann durchsichtig wird und »alles« abbildet. Niemand lachte oder verspottete sie.

Fast alle waren spindeldürr. Es gab aber auch einige auffällig dicke Kinder. Auf Nachfragen stellte sich bei all diesen heraus, daß es Waisenkinder waren, die bei der Großmutter oder in Heimen lebten. Die Lebensmittelzuteilungen für Flüchtlinge bestehen aus Mehl, Öl und Zucker, das ergibt einen süßen Pamp, mit dem die Kinder ihr Leid herunter würgen.

Statistisch müßten mindestens 30 von 200 Kindern eine Brille tragen, tatsächlich war es eines. Viele dieser Kinder sehen also die Welt nicht klar, mit allen Folgen, die das in der Schule und im Alltag hat. Bei der Versorgung der Zähne sah es nicht besser aus. Mangels Füllmaterial wurden kariöse Zähne gleich gezogen. So gab es niedliche Teenager, die das erste Make-up auftrugen, doch zu lächeln wagten sie nicht, weil ein Frontzahn fehlte. Mehrere Kinder durften nicht baden, weil sie infolge von Mangelernährung eiternde Furunkel hatten usw.

Die meisten dieser Flüchtlingskinder leben »zu Hause« zusammengepfercht, häufig ohne eigenes Bett und viele ohne sanitäre Einrichtungen. In dem Hotel teilten sie sich ein Zimmer mit Dusche, der eigene Schlüssel war ein sakraler Gegenstand – keiner ging verloren.

Die Kinder wurden vom Personal als Hotelgäste behandelt – und sie benahmen sich auch so. Daß bei ca. 1.600 Kindern, die einen Sommer lang in einem Hotel wohnen, kein Glas, kein Stuhl, keine Scheibe kaputt geht, darüber staunten besonders die deutschen BegleiterInnen, während die BetreuerInnen dies für selbstverständlich hielten, denn solche Dinge seien für die Kinder sehr kostbar.

Am Ende der Freizeit waren einige Kinder bereit, über ihre Kriegsbiografien zu sprechen. Wenn sie dabei von Gefühlen überwältigt wurden, wollten die BetreuerInnen das Gespräch meist abbrechen, doch alle Kinder bestanden darauf, ihre Geschichte für die Spenderinnen und Spender zu erzählen. Sie wollten ihr Leid ausdrücken, es öffentlich machen:

Da war Edina, die mit ihrer Familie auf der Flucht bei einer Hilfsorganisation um Essen anstand als eine Granate einschlug. Sie wachte im Krankenhaus auf und erfuhr später in einem Heim, daß die Eltern und der Bruder tot sind. Sie lebt jetzt bei der Großmutter. Nach vielen Operationen mit Narben überall, hat sie noch immer 7 Granatsplitter im Körper.

Fikreta ist die älteste von 5 Kindern. Die Mutter wurde von einem Scharfschützen erschossen, der Vater starb an der Front. Sie flüchtete mit den kleinen Geschwistern. Sie wurden in einer Fabrikhalle, dann in einer Schule und schließlich im Waisenhaus untergebracht.

Alma erzählte, wie sie auf der Flucht im Wald zu schreien begann, „weil überall die Körperteile abgeschlachteter Menschen“ lagen.

Wie ähnlich sich die grauenhaften Erlebnisse der Kinder aus den verfeindeten Lagern der Kriegsparteien sind, zeigen die folgenden Schicksale von einem serbischen und einem muslimischen Geschwisterpaar aus Bosnien:

Sanja und Milan sind sieben bzw. zehn Jahre alt. Sie mußten 1992 mit ansehen, wie ihr Vater erschlagen wurde und wie ihn dann ihre Mutter mit eigenen Händen hinter dem Haus begrub. Das war in einer Kleinstadt in der Herzegowina, heute Teil der kroatisch-muslimischen Föderation. Die beiden Kinder bewohnen jetzt mit ihrer Mutter ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft in Visegrad, serbische Republik. Das Haus gehörte früher einer muslimischen Familie, die geflüchtet ist.

Indira und ihre Schwester sind neun bzw. zwölf Jahre alt. Auf der Flucht mußten sie mit ansehen, wie ihre Mutter von einer Granate zerfetzt wurde. Sie suchten ihre Körperteile zusammen und beerdigten sie im Wald. Das war in der Kleinstadt Srebrenica, heute Teil der serbischen Republik. Die beiden Schwestern wohnen jetzt mit der Großmutter in einem Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft in Jasenica, kroatisch-muslimische Föderation. Das Haus gehörte früher einer serbischen Familie, die geflüchtet ist.

Die Wirkung der Freizeiten auf die Kinder

Indira ist eines der wenigen dicken Kinder. Sie war scheu, traurig, unbeweglich und klettete an ihrer Betreuerin, bis sie sich ins Wasser traute und dank eines sensiblen Helfers in wenigen Tagen schwimmen lernte. Sie war wie umgewandelt: strahlte, spritzte, jauchzte.

So ging es vielen Kindern; etwa 150 von 200 Kindern lernten in den zwei Wochen schwimmen.

Ich erkläre dieses Phänomen sowohl mit der erstmals im Leben zugleich erfahrenen Geborgenheit und Freiheit als auch mit dem neuen Körpergefühl, vom warmen Wasser umspült und getragen zu werden.

In den Gruppen aus geteilten Städten spielte es in solchen Situationen keine Rolle, wer woher kam, die gemeinsame Lebensfreude wurde von allen geteilt.

Wie die Freizeiten auf die Kinder wirken, können diese am besten selbst ausdrücken. Mit ihrem Einverständnis haben wir einige Zitate aus den Briefen an die Ferienpatinnen und Ferienpaten notiert und übersetzt:

„Jetzt lebe ich mit Bruder, Schwester und Mutter bei zwei Onkeln in einem Zimmer. Das ist sehr eng. Hier habe ich ein Zimmer mit einem Freund und einen eigenen Schlüssel. (Junge, 13 Jahre)

„Zu Hause haben wir keine guten Bedingungen fürs Leben. Aber wir sind froh, daß wir nicht gestorben sind.“ (Junge, 13 Jahre)

„Du bist der erste Mann in meinem Leben, der meine Träume erfüllt hat. Es tut mir leid, daß ich Dich nicht sehen kann, aber ich weiß, daß Du ein guter und schöner Mann bist.“ (Mädchen, 13 Jahre)

„Ich hoffe, daß Sie sich auch noch einen schönen Urlaub leisten können.“ (Junge, 14 Jahre)

„Ich habe schreckliche Männer erlebt, aber ich weiß, daß Du ein guter Mann bist.“ (Mädchen, 14 Jahre)

„Ich bin im Krieg verletzt worden und habe oft Schmerzen – aber hier spüre ich die kaum.“ (Junge, 13 Jahre)

„Mein Ort ist ausgebrannt und hier ist ein Paradies.“ (Mädchen, 12 Jahre)

Die friedenspolitische Wirkung der Aktion »Ferien vom Krieg«

Das Erleben von Geborgenheit, Fürsorge und Anerkennung hat subjektiv ganz sicher heilsame Wirkung. Ob darüber hinaus Verständigung, Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Glücksgefühle die indoktrinierten Feindbilder nachhaltig revidieren können, ist natürlich eine offene Frage, die alle Beteiligten aber aus tiefer Überzeugung mit »Ja« beantworten. Und dies ist nicht nur einfach Wunschdenken, sondern Ergebnis der Erfahrungen. Klaus Vack faßt dies so zusammen:

„Das Ambiente der Kinderfreizeiten ist besonders dazu angetan, daß Kinder gut miteinander auskommen, auch wenn es offizielle Politik, und meist auch der Wille der Erwachsenengesellschaft ist, die geschaffenen Feindbilder aufrecht zu erhalten. Trotzdem gehen wir davon aus, daß wenigstens etwas von dem, was wir an friedlichem Beisammensein und an Denkimpulsen in Richtung Gewaltfreiheit den Kindern vermitteln konnten, nicht wieder vollends verloren geht. Wenn die Kinder wieder nach Hause kommen, werden Freundschaften über ethnische Grenzen hinweg in der Tat das Thema Nr. 1 in der Familie, Nachbarschaft und den Schulen sein. In der moslemisch-kroatisch geteilten Stadt z.B. sind von den Kinderfreizeiten so starke Impulse ausgegangen, daß die Hauptstraße, die bislang die Stadt Gornji Vakuf trennte, von immer mehr Menschen von beiden Seiten, also nicht nur von Kindern, kaum mehr respektiert wird.“

Vilim Mergl, gebürtiger Kroate und ehrenamtlicher Koordinator der Gornji Vakuf-Freizeit resümiert:

„Im letzten Jahr weigerten sich die kroatischen Lehrer noch, mit den Muslimen gemeinsam ans Meer zu fahren. In diesem Jahr sind sie jedoch dabei. Zwar reisten die Gruppen wieder in getrennten Bussen an und wohnten in verschiedenen Pavillons, doch merkten die Jungen beim Fußballspielen schnell, daß es nicht darauf ankommt, wer Kroate oder Moslem ist, sondern wer wie gut zusammenspielt. Ähnlich erging es den Lehrern beim Kartenspiel. In den letzten Tagen gab es sogar gemeinsame Tisch-runden bei Spiel und Gespräch. Diese Situation ist zu Hause in Gornji Vakuf noch nicht vorstellbar.“

Gornji Vakuf wird wegen seiner politischen Verhältnisse oft auch »Klein Mostar« genannt. In diesem Jahr waren jedoch sogar der Sohn des muslimischen und die Tochter des kroatischen Ortsvorstehers in der gemeinsamen Freizeit. Werden sich nicht hundertfache Gespräche in den Familien über die Unsinnigkeit der Trennung und Feindschaft der Volksgruppen ergeben?

Hubertus Janssen und Wilfried Kerntke schreiben über die Zusammenarbeit mit der serbischen Friedensgruppe »zdravo da ste« (»Es soll euch gut gehen«):

Die Freizeit steht in einer Kontinuität mit der Arbeit, die sie das ganze Jahr über zur Stärkung dieser Kinder und ihrer Eltern, sofern sie die noch haben, leisten. Sehr engagiert arbeitet in dieser BetreuerInnengruppe auch Pero…. „ In dieser Hilfsgruppe »Zdravo da ste« habe ich dann entdeckt, wie man völlig anders miteinander und mit den Menschen und Konflikten umgehen kann. Und die Arbeit mit den Kindern hat mir geholfen, auch viel von mir zu verstehen. Ich arbeite mit den Kindern, aber die arbeiten auch mit mir.“

Uns, die wir einer doch ganz anderen Welt und vor allem auch aus ganz anderen Lebensbedingungen dazu gekommen sind, geht es ähnlich.

Im Friedenszentrum Osiek gibt es seit vielen Jahren eine Gruppe von Lehrerinnen, die sich in Konzepten der Friedenserziehung weiterbildet und dabei die internationale Diskussion ebenso rezipiert wie Supervisions- und Mediationstechniken praktiziert. In Ostslawonien, wo das Gemetzel begann und in langen Stellungskämpfen viele Opfer forderte, bis das Gebiet (außer der eingekesselten Stadt Osiek) serbisch besetzt wurde, dann unter internationaler Verwaltung stand und inzwischen zu Kroatien gehört, geht es dem Friedensbüro nun um die Wahrung der Minderheitenrechte des serbischen Bevölkerungsteils sowie die Akzeptanz bzw. einvernehmliche Rückkehr der dort unter serbischer Besatzung angesiedelten serbischen (Krajina-)Flüchtlinge.

In den von dieser Gruppe betreuten Freizeiten wurde in den Workshops das Thema »Krieg und Frieden« direkter thematisiert als bei den meisten anderen Gruppen. Die Aussagen der Kinderzeichnungen gleichen im Grunde den Äußerungen in den Briefen an die Ferienpaten der Gruppe aus Tuzla. Mit »Frieden« wird eindeutig die Ferienfreizeit assoziiert, während die Bilder zum Krieg einen Bruch zwischen häuslicher Idylle (Garten, Blumen, Kinder) und Zerstörung zeigen (ein Stacheldraht um den Blumengarten, Flugzeuge über dem Haus u.ä.).

In Tuzla stellen sich die Probleme wieder anders, denn in dieser Stadt gab es keine Pogrome, sondern ein multiethnisches kommunalpolitisches Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Viele Serben aus Tuzla haben gemeinsam mit den mehrheitlich muslimischen Bewohnern Tuzlas gegen die serbische Belagerung gekämpft. Der Teil der serbischen Bevölkerung, der die Stadt unter dem Druck der Propaganda verlassen hat, wird nun zur Rückkehr aufgefordert, obwohl in der Stadt über 40.000 Flüchtlinge aus Ostbosnien leben, vor allem die Frauen und Kinder aus Srebrenica. Das Dilemma der standhaften Friedenspolitik in Tuzla ist, daß dadurch nun den Ärmsten der Armen erneut die Vertreibung droht.

Bürgermeister Beslagic sieht in den Kinderfreizeiten, die letzten Sommer auch vom Gesundheitsminister besucht wurden, eine demonstrative Unterstützung seiner Friedenspolitik und erhofft sich auch in Deutschland größeres Verständnis dafür, daß eine Rückkehr der Auslandsflüchtlinge und eine Integration der Vertriebenen aus Ostbosnien gleichzeitig nicht machbar ist, weil die Stadt Tuzla und das Umland jetzt und auf nicht absehbare Zeit und schon über viele Jahre mit Binnenflüchtlingen total überlastet ist. Daß die Frauen aus Srebrenica in den letzten Monaten in Tuzla verstärkt öffentlich demonstrieren und Aufklärung über das Schicksal ihrer Männer fordern, hat mittelbar auch etwas mit den Kinderfreizeiten zu tun. Nicht nur die wunden Kinderseelen begannen bei den »Ferien vom Krieg« zu heilen, auch für viele Mütter sind sie ein Trost und eine Stabilisierung. Ihre ohnmächtigen Rachephantasien, die von nationalistischen Politikern geschürt werden, weichen mehr und mehr dem Bedürfnis nach Wahrheitssuche und der Bereitschaft zur Versöhnung.

Während einige der Frauen vor zwei Jahren noch äußerten, es sei ihnen unvorstellbar, daß ihre Kinder bei der Freizeit zusammen mit den serbischen Kindern spielen, so drücken sie für diesen Sommer die Hoffnung aus, daß sich Freundschaften entwickeln mögen, die zur Versöhnung beitragen.

Das ursprüngliche Ziel der Aktion »Ferien vom Krieg«, nämlich gemeinsame Freizeiten von Kindern aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, läßt sich bisher leider nicht realisieren, die Einreise aus der Föderation nach Serbien und umgekehrt ist nicht möglich. Doch innerhalb der Entitäten sind die Freizeiten einer der seltenen Versuche ziviler Konfliktbearbeitung durch gemeinsame Aktivitäten. Die buchstäbliche Ausstrahlung der Kinder nach ihrer Rückkehr ist in den Familien sinnlich erfahrbar und die zarten Bande zu den neuen Freunden der angeblich alten Feinde strahlen auch in vielen Gesprächen auf Familie, Schule, Nachbarschaft und Kommunalpolitik aus.

Nähere Informationen über die Aktion »Ferien vom Krieg 1998« erhalten Sie vom Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Bismarckstr. 40, 50672 Köln, Tel. 0221-523056, Fax. 0221-520559

Helga Dieter ist Koordinatorin des Komitees für Grundrechte und Demokratie für die Aktion Ferien vom Krieg 1998.

Nachhaltig friedlich

Nachhaltig friedlich

»Fernsehkinder« bei Kindern des Krieges

von Bernhard Nolz

Aktuelle Projekte zur Friedenserziehung in der Schule setzen bei den Defiziten an, die beim Fernsehen unbearbeitet bleiben. Erfolgreich ist Friedenserziehung vor allem dann, wenn Projekte realisiert werden, die schüler- und handlungsorientiert sind und Schülerinnen und Schülern ermöglichen, Friedenskompetenzen zu erwerben, wozu Empathie, Kritikfähigkeit und Ablehnung von Gewalt ebenso gehören wie das Wissen von den Gründen des Krieges und den Bedingungen des Friedens. Im schulischen Rahmen kommt es darauf an, alle an der Schule beteiligten Menschen für die Perspektive des Friedens zu sensibilisieren, Orte aufzusuchen, an denen Friedensarbeit geleistet wird, oder Menschen in die Schule zu holen, an denen SchülerInnen sich orientieren oder mit denen sie sich identifizieren können (vgl. Balser/Schrewe/Schaaf 1997)..

Schulische Erziehung kann nicht beides wollen: Erziehung zur Gewaltfreiheit und zur Gewaltakzeptanz. Daraus folgt: Friedenserziehung ist Aufklärungsarbeit. Jede neue SchülerInnen-Generation muß sich mit dem gesellschaftlichen Dauerskandal auseinandersetzen, daß immer wieder Milliardenbeträge für Kriege, Rüstung und Gewalt von den politisch Verantwortlichen zur Verfügung gestellt werden, während die Projekte und Initiativen für den Frieden ohne ausreichende Unterstützung bleiben.

Wenn in einer Gesellschaft das politische Handeln fast ausschließlich vom ökonomischen Denken bestimmt wird, versagen soziale Kontrollmechanismen und gewinnen sozialdarwinistische Maxime die Oberhand. Je mehr sich politisches Handeln von moralischen Kategorien wie Humanität, Frieden und Nächstenliebe entfernt, desto eindringlicher erwarten die politisch Verantwortlichen, daß die Schule Kompensationsarbeit leistet.

So behält Friedenserziehung ihre zeitlose Aktualität. Doch bedeutsamer für die Entwicklung friedenspädagogischer Prozesse ist Kontinuität. Mit dem Begriff der »Nachhaltigkeit« hat die pädagogische Basiskategorie Eingang in den naturwissenschaftlichen sowie in den politischen Diskurs gefunden. Auf diese Weise kehrt sie in die schulische Diskussion zurück, findet bei den Platzhaltern der Friedenserziehung freudige Aufnahme und stößt neue Lernprozesse an.

Lerngruppe »Kommunikation und Konflikt«

Sieben der 14 Schülerinnen und Schüler, mit denen ich das Friedensdorf Oberhausen besuche, gehören zur Lerngruppe »Kommunikation und Konflikt« (KoKo). Sie haben sich für eine zweijährige Teilnahme (9./10. Schuljahr) entschieden. Im Mittelpunkt stehen der Erwerb von Handlungskompetenz zur friedlichen Konfliktlösung, eine Einführung in das Streit-Schlichter-Programm (vgl. Jefferys/Noack) und das Bemühen, Wege aus der Gewalt zu finden. Lange habe ich nach einem geeigneten KoKo-Projekt gesucht, das Schülerinnen und Schülern Praxiserfahrungen ermöglicht. Im Rahmen des Frühjahrstreffen der »Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden« lernte ich das Friedensdorf Oberhausen kennen.

Es wird von den Schülerinnen und Schülern als KoKo-Projekt positiv aufgenommen, doch fahren letztlich 60% von ihnen nicht mit. An den Gründen werden die Problemlagen der Friedenserziehung ebenso deutlich wie die Unfähigkeit der Schule, den eigenen Zielsetzungen gerecht zu werden. Beispielsweise werden die Grenzen der Integration erfahrbar, weil vier türkischen Mädchen die Teilnahme von der Familie verboten wird. Vier KoKo-SchülerInnen entwickeln Leistungsängste. Ihnen erscheint – von einigen Fachlehrern darin bestärkt – das Risiko, durch eine dreitägige Abwesenheit vom Unterricht leistungsmäßig zurückzufallen, zu groß. Ganzheitliches Lernen in Projekten, das kognitive, affektive und soziale Lernziele umfaßt, ist auf Grund seines holistischen Charakters der Unübersichtlichkeit verdächtig. Solange die schulische Leistungsbeurteilung vorwiegend von schnell abfragbaren Wissensbeständen abhängig gemacht wird, wundert es den Friedenspädagogen nicht, wenn potentielle ProjektteilnehmerInnen mit Bedauern absagen.

Von einer anderen Qualität ist die Absage aus finanziellen Gründen. Die Anzahl der SchülerInnen, die jobben, um das Familieneinkommen aufzubessern, steigt. Die KoKo-Mitglieder haben auf diesen Hinderungsgrund mit Kreativität und mit sozialpolitischem Gespür reagiert: Eine kleine Werbekampagne und eine gezielte Spendenaktion wurden gestartet. Den Zuschuß des Fördervereins der Schule eingerechnet, sind über tausend Mark zusammengekommen. Und in unserer Stadt weiß man jetzt, wofür sich die Gesamtschule einsetzt. Diese Aktivitäten in den Wochen vor dem Besuch des Friedensdorfes haben zu einer verstärkten Identifikation mit KoKo geführt und die SchülerInnen motiviert, sich intensiver mit der Kriegsthematik zu beschäftigen.

Die Schülerinnen und Schüler geben verschiedene Gründe an, warum sie mit ins Friedensdorf fahren möchten: „Im Fernsehen habe ich schon viele Bilder von Kriegsopfern gesehen! Mich kann nichts mehr erschüttern!“ „Im Friedensdorf, da kann man mal richtig was tun.“ „Wir können den Kindern helfen, mit ihnen spielen und basteln und ihnen ein wenig Freude bereiten.“ „Ich suche einen Praktikumsplatz, weil ich Sozialpädagogin werden will.“ „Ich will sehen, ob ich dort meinen Zivildienst machen kann.“ „Ausländische Kinder sind immer so niedlich!“ „Die Informationsbroschüre des Friedensdorfes hat mich neugierig gemacht.“

Das Oberhausener Programm für den Frieden

Das Programm besteht aus drei Elementen.

  • Behandlung von Kindern in Europa als letzte Überlebenschance

„Verletzte und kranke Kinder, die in den Heimatländern nicht medizinisch versorgt werden können, nimmt das Friedensdorf in Oberhausen auf und stellt die kurzfristige medizinische Versorgung sicher. Das geschieht in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen europäischen Kliniken, die die stationäre Behandlung kostenlos übernehmen. Nach erfolgter Rehabilitation kehren die Kinder wieder in ihre Heimatländer zurück.

Das Friedensdorf wird im Bereich der Einzelfallhilfe tätig, wenn vier Grundsatzkriterien zur Aufnahme von Kindern erfüllt sind:

  • Eine medizinische Behandlung der Kinder im Heimatland ist nicht möglich.
  • Die Chance auf eine erfolgreiche Behandlung der Kinder in Europa muß gegeben sein.
  • Die Familien und Heimatländer der Kinder müssen eine Garantiererklärung abgeben, daß die Kinder nach erfolgreicher Rehabilitation zurückkehren können.
  • Die soziale Indikation muß gegeben sein, d.h. Friedensdorf International hilft den Ärmsten.

Das Friedensdorf konnte seit 1967 vielen tausend Kindern helfen, von denen die meisten in ihren Heimatländern keine Überlebenschancen gehabt hätten“.

  • Projekte in den Heimatländern der Kinder

„Katastrophenhilfe, medizinische Unterstützung und eigene Friedensdorf-Projekte sollen

  • Not, Leid und Elend lindern,
  • die wichtige Frage der Nachsorge für die Kinder, die in Europa behandelt wurden, beantworten und
  • verhindern, daß zahlreiche Kinder die Trennung von ihrer Familie in Kauf nehmen müssen.“

Friedensdörfer arbeiten erfolgreich bzw. sind im Aufbau in VietNam, Afghanistan, Sri Lanka, Rumänien, Angola, Georgien, Kasachstan und Litauen. Hilfsgüter und medizinische Einrichtungen gingen zusätzlich nach Albanien, Armenien, Guatemala, Haiti, Kenia, Nicaragua und Pakistan.

  • Friedenspädagogische Arbeit

„Wir sind der Meinung, daß wir damit, daß wir Verwundete verbinden, noch nichts gegen den Krieg und für die Erlangung eines dauerhaften Friedens in der Welt getan haben. Denn wir wissen, daß der Weltfrieden nicht von allein kommt. Die Umsetzung dieses Gedankens erfolgte auf zwei Ebenen. Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten erfahren im Friedensdorf Oberhausen, daß ein friedliches Zusammenleben mit anderen Kindern anderer Völker, Rassen und Religionsgemeinschaften möglich ist. Im Friedensdorf Oberhausen gibt es keine Feindbilder. Die Kinder kehren in ihre Heimatländer zurück und fast alle werden zu Botschaftern für Toleranz, Verständigung und Frieden. Zum zweiten wurde das Friedensdorf Bildungswerk gegründet. Mit dem friedenspädagogischen Ansatz und den Seminarangeboten hat das Friedensdorf Oberhausen bewiesen, daß jeder etwas tun kann für das friedliche Zusammenleben der Menschen aller Völker, Rassen und Religionsgemeinschaften.“ (Informationsbroschüre Friedensdorf Bildungswerk)

Das Schlimmste für die Kriegskinder sind nicht ihre Verletzungen, sagen die MitarbeiterInnen des Friedensdorfes, sondern es ist die Erfahrung, daß sie den Erwachsenen nicht mehr vertrauen können. Im Krieg geht aller Schutz verloren, für den zu sorgen Erwachsene da sind. Statt dessen morden, verletzen, zerstören Erwachsene andere Menschen und Sachen, vor den Augen der Kinder, und sie verletzen und töten auch Kinder. Bei der Versorgung der Verletzungen oder bei Amputationen müssen die Kinder erfahren, daß auch die Hilfe der Erwachsenen mit unsäglichen Schmerzen verbunden ist, weil es meistens an Verbandsmaterial, an Spritzen, an allem fehlt.

Die MitarbeiterInnen des Friedensdorfes fahren in die Kriegsländer. Dort geht nichts ohne örtliche Partnerorganisationen. Jede/r kann ermessen, wieviel Vertrauensarbeit bei den Kindern, ihren Familien, bei Behörden, Geistlichen u.v.a. nötig ist, bis klar ist, daß den MitarbeiterInnen des Friedensdorfes vertraut, ja das eigene Kind ihnen anvertraut werden kann. Es sind dieselben Personen, die sich auch in Deutschland um die Kinder kümmern. Sie begleiten die Kinder zu den Operationen, die die ÄrztInnen in Deutschland und in Nachbarländern unentgeltlich ausführen, und sind auch nachher für sie da. Darüber hinaus gibt es für Betreuungs- und Organisationsaufgaben einen großen Kreis ehrenamtlicher HelferInnen.

Was können wir denn nun tun?

Endlich stehen wir am Tor zum Friedensdorf. Nach einer Einführungsphase in die Arbeit der Einrichtung treffen die SchülerInnen zum ersten Mal auf die »Kriegskinder«. Das verläuft völlig unspektakulär. Man lächelt, sagt ein paar Worte und schon sitzt man zusammen auf einer Bank oder einer Mauer. Besonders die kleineren Kinder hängen sich an die »großen« Mädchen und Jungen und wollen sie gar nicht wieder loslassen. Das gesamte Repertoire der Kommunikationsformen zwischen Menschen, die sich kennenlernen, wird ausgespielt. Im Laufe der drei Tage basteln und spielen, musizieren, singen und tanzen die GesamtschülerInnen immer wieder mit den Kriegskindern – oder umgekehrt. An den Abenden sind die SchülerInnen erschöpft, aber zufrieden. Es ist befriedigend zu spüren, daß man gebraucht wird und Hilfe geben kann. Es schafft ein angenehmes Gefühl, wenn man bemerkt, daß man die BetreuerInnen der Kriegskinder für ein paar Stunden entlasten kann. Und man fühlt sich gut, wenn man alle Ressentiments oder Ängste, die man vorher gegenüber verletzten und verkrüppelten Kriegskindern gehabt hat, zugunsten von Zuneigung und Vertrauen überwinden konnte. In den abendlichen Gesprächen mit den Zivildienstleistenden – der Gemeinschaftsfernseher bleibt unbenutzt – wird das Positive konkretisiert. Die Arbeit mit Kriegskindern ist anstrengend, aber sie macht den »Zivis« Spaß, weil von Woche zu Woche Fortschritte in der Entwicklung der physischen und psychischen Gesundheit der Kinder zu beobachten sind.

Für solche Erfahrungen reicht ein dreitägiger Aufenthalt nicht aus. Für etwas anderes wird aber bei den meisten SchülerInnen eine Grundlage geschaffen: für den Wunsch zu helfen. Sie wollen anderen Gutes tun. „Denn“, so formuliert es einer, „wann ist man schon mal so nah dran am Leid anderer Menschen?“ Die meisten Menschen helfen nicht wegen irgendwelcher abstrakter Prinzipien oder Ideologien, sondern wegen konkreter Menschen (vgl. Krahulec 1997). So funktionieren u.a. viele erfolgreiche und dauerhafte Lernbeziehungen in der Schule.

Einige koppeln den Helferwunsch an die Absicht, schon bald zu einem Besuch ganz bestimmter Personen wiederzukommen. Vier Schülerinnen möchten Zivildienstleistende wiedersehen. Drei der Teilnehmenden sind nach zwei Wochen wieder in Oberhausen, weil sie mit einer angolanischen Kindergruppe noch einmal singen und tanzen wollen.

Mit der Entwicklung von Helferbewußtsein, das in die Tat umgesetzt werden kann, wird ein wichtiges Teilziel eines friedenspädagogischen Programmes erreicht. In einem 3-Tage-Seminar kommen die SchülerInnen über die Rolle der »HelfershelferInnen« kaum hinaus. Aber es besteht die Chance, daß sie nach der Rückkehr in den schulischen Alltag in der Lage sind, Informationen und Erfahrungen aus dem Friedensdorf in ihren eigenen Lebenszusammenhang zu integrieren und zusammen mit anderen persönliche und gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen (vgl. Negt 1997).

Nachhaltige Entwicklung von unten

Verantwortungsbewußtsein und Bildung sind nicht zu trennen. Jugendliche übernehmen am ehesten dann Verantwortung, wenn sie den Eindruck haben, daß sie etwas konkret und direkt bewirken können (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1997). Bildungseinrichtungen und den darin Tätigen fällt die Aufgabe zu, Jugendlichen Orientierungen zu geben. Bei der Planung des Seminars im Friedensdorf glaubte ich durch ein besonderes Kontrasterlebnis den Erkenntnisprozeß meiner SchülerInnen anregen zu können. Zudem wollte ich einem vor Fahrtantritt geäußerten Wunsch nach Abwechslung entgegenkommen, gegenüber der erwarteten spartanischen Lebensweise und dem komprimierten Bildungsangebot des Friedensdorfes. Also fahren wir ins CentrO, Deutschlands größtes Einkaufszentrum, das eher einem riesigen Unterhaltungszentrum gleicht. Für fast alle Schülerinnen und Schüler – und auch für mich – verliert das CentrO binnen Stundenfrist seinen Glanz, so daß sich der Besuch zur lästigen Pflicht entwickelt. Fast alle finde ich nach zwei Stunden im riesigen Rondell-Treffpunkt wieder. Auf einer Mega-Leinwand wiederholen sich alle paar Minuten dieselben News und Werbespots. Nach der dritten Wiederholung sagt eine Schülerin: „Viel lieber wäre ich jetzt bei den Kriegskindern. Was will ich in einem Konsumpalast, wenn ich eh kein Geld habe und genau weiß, daß ich zur gleichen Zeit einem schwerverletzten Kind, das gerade wieder mit einer Prothese gehen gelernt hat, mit seiner Anwesenheit Freude bereiten könnte!“

Was können wir für die Kriegskinder und für die Opfer von Kriegen tun? Was können wir gegen den Krieg tun? Auf diese Fragen wollen wir mit dem Besuch des Friedensdorfes Antworten finden.

Eine erste Antwort lautet: Wir wissen jetzt, was im Friedensdorf Oberhausen geleistet wird. Wir können mit dazu beitragen, daß die Arbeit des Friedensdorfes bekannter wird und sich auch in unserer Region Ärzte und Krankenhäuser finden, die Kriegskinder kostenlos behandeln. Damit ist ein Projekt skizziert, von dem zu hoffen ist, daß es an unserer Schule entstehen wird. In einem solchen Schulprojekt kann auch ein zweiter Aspekt vertieft werden. Etwas für die Kriegskinder zu tun, kann auch heißen, Informationen und Kenntnisse über die Situation in den Heimatländern der Kinder zu verbreiten und Hilfsmaßnahmen durch lokale Initiativen zu unterstützen.

Am zweiten Tag unseres Aufenthaltes im Friedensdorf stellt uns ein Mitarbeiter eine überraschende Frage: „Was könnt ihr für eine umwelt- und sozialverträgliche Entwicklung der Welt in Siegen tun?“ Von der »Lokalen Agenda 21« haben die SchülerInnen noch nichts gehört. „Die Agenda 21 fordert die Einbindung der Gesellschaft. Bürger und Bürgerinnen und kommunale Verwaltung sollen gemeinsam eine Lokale Agenda 21 erstellen, die den Weg zu einer zukunftsfähigen Gemeinde beschreibt. … (Sie) macht deutlich, daß nachhaltige Entwicklung, Armutsbekämpfung und die Erhaltung der Umwelt nicht möglich sind, ohne die Beseitigung von Ungleichheiten zwischen den Bevölkerungsgruppen und den Geschlechtern.“ Auch nach weiteren Informationen fällt es den Schülerinnen und Schülern schwer, die Verbindungslinien von ihrem Engagement für die Kriegskinder zur Agenda 21 nachzuvollziehen bzw. herzustellen. In den Gesprächen der Arbeitsgruppen merken wir, daß wir von den Kriegskindern, die nebenan spielen, nicht loskommen. Stichwörter wie Veränderung von Konsumgewohnheiten, Erhaltung der biologischen Vielfalt, Schutz der Süßwasserressourcen oder nachhaltige Städteplanung verwirren uns anfänglich mehr, als daß sie uns zu weiteren Erkenntnissen führen. Erst als wir uns eine Filmdokumentation über die Arbeit des Friedensdorfes in Vietnam ansehen, steht uns das Zwingend-Nachhaltige der Agenda 21 plötzlich vor Augen. Uns wird klar, daß die Arbeit an einer sozial- und umweltverträglichen Entwicklung unserer Stadt und unserer Welt nicht in Einklang zu bringen ist mit Gewalt und Krieg. Militärische Gewalt, die von Soldaten und Waffen ausgeht und von deren Produktion und Export, zerstört alles Lebendige und Wachsende und macht jegliche nachhaltige Entwicklung zunichte.

Literatur I

Balser, Hartmut/Schrewe, Hartmut/Schaaf, Nicole (Hrsg.) (1997): Schulprogramm Gewaltprävention. Ergebnisse aktueller Modellversuche, Neuwied/Kriftel/Berlin.

Forum Umwelt & Entwicklung (Hrsg.) (1997): Lokale Agenda 21. Ein Leitfaden, Bonn.

Informationsbroschüre Friedensdorf Bildungswerk, Postfach 140162, 46131Oberhausen

Jefferys, Karin/Noack, Ute (1995): Streiten – Vermitteln – Lösen. Das Schüler-Streit-Schlichtungsprogramm für die Klassen 5 – 10, Lichtenau.

Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.) (1997): Jugend `97. Zukunftsperspektiven – Gesellschaftliches Engagement – Politische Orientierungen, Opladen.

Krahulec, Peter (1997): Lernziel Zivilcourage“ – eine didaktische Skizze. In: kursiv – Journal für politische Bildung 4/97.

Negt, Oskar (1997): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche, Göttingen.

Literatur II: Kinder in modernen Kriegen – Kinder- und Jugendbücher

Abdel-Qadir, Ghazi/Göbel: Dorothea: Mister Petersilie. 160 S., Sauerländer Verlag, DM 24,80.

Eine humorvoll-nachdenkliche Geschichte um unverbrüchliche Freundschaft und Solidarität unter Kindern in einem Flüchtlingslager.

Baksi, Mahmut/Wiesmüller, Dieter: Ich war ein Kind in Kurdistan. Aus dem Schwedischen von D. Nüßfeldt, 80 S., Carlsen Verlag, DM 19,90.

Die Bilder der frühen Kindheit Mahmuts in einem kurdischen Dorf kontrastieren mit den späteren Erfahrungen: der Unterdrückung der kurdischen Kultur, die er als Jugendlicher erlebte. Ein Rückblick – der Autor lebt seit 20 Jahren in Schweden.

Camir, Daniella: Samir und Jonathan. Aus dem Hebräischen von A. Birkenhauer, 192 S., Hanser Verlag, DM 26,00.

Samir, ein palästinensischer Junge, wartet im jüdischen Krankenhaus auf seine Operation. Es ist so fremd dort und wegen Ausgangssperren ist er von seiner Familie getrennt. Samir macht wichtige Entdeckungen und schließt Freundschaft.

Westall, Robert: Das Versteck unter den Klippen. Aus dem Englischen von F. Schnütz, 180 S., Nagel & Kimche, DM 25,80.

England im Luftkrieg. Der 2jährige Harry wird bei einem Bombenangriff von seiner Familie getrennt. Es beginnt die spannende Geschichte seiner Robinsonade.

Baksi, Mahmut/Clason, Elin: In der Nacht über die Berge. Aus dem Schwedischen von C. Holliger, 160 S., Nagel & Kimche, DM 24,80.

Der Autor stellt – authentisch – das Leben und die dramatische Flucht einer kurdischen Familie vor.

de Groen, Els: Haus ohne Dach. Aus dem Niederländischen von S. Mrohek, 244 S., Bertelsmann Verlag, DM 29,80

Die erschütternde Geschichte von fünf Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die auf der Flucht vor dem wahnsinnigen Krieg in ihrem Land und zugleich auf der Suche nach dem Ursprung des Übels sind.

Hegmanns, Dirk: Rheinpiraten. 220 S., Hammer Verlag, DM 22,80.

Franz, ein Mitglied des Jugendwiderstands gegen die Nazis, muß mit ansehen, wie 13 Freunde, Kölner »Edelweißpiraten« zwischen 15 und 18 Jahren, ermordet werden.

Mead, Alice: Ein Gedicht für die Freiheit. Aus dem Amerikanischen von S. Naoura, 160 S., Bertelsmann Verlag, DM 22,80.

Ein aufrüttelnder Roman über die Suche einer ganzen Generation nach ihrer Welt von morgen in Kosovo, einem von Haß zwischen den Völkern gezeichneten Land.

Wassiljewa, Tatjana: Ab jetzt zählt jeder Tag. Aus dem Russischen von G. M. Werner, 216 S., Beltz & Gelberg Verlag, DM 26,00.

Die 13jährige Tanja läßt Rußland und ihre Kindheit hinter sich, als sie nach Deutschland verschleppt wird, wo sie als Zwangsarbeiterin im »Dritten Reich« das Kriegsende erlebt.

Härtling, Peter: Krücke. 160 S., Gulliver 178, DM 9,80.

Thomas sucht bei Kriegsende verzweifelt nach seiner Mutter. Als er vor dem zerstörten Haus seiner Tante in Wien steht, weiß er nicht mehr weiter. Da findet ihn Krücke und hilft ihm zu überleben.

Klare, Margaret: Liebe Tante Vesna. 88 S., Gulliver 169, DM 7,80.

Die fiktiven Briefe der 10jährigen Marta aus Sarajevo an ihre Tante in Deutschland spiegeln den Alltag der Menschen in der bosnischen Hauptstadt wider.

Die Buchvorschläge sind von Bernhard Nolz zusammengestellt und dem Katalog »Das Buch der Jugend 1997/1998« entnommen, der vom Arbeitskreis für Jugendliteratur München herausgegeben wird (Redaktionsschluß: 31.7.97).

Bernhard Nolz ist Gesamtschullehrer in Siegen, Moderator in der Lehrerfortbildung (Gewaltprävention) und Sprecher der PPF

Nachruf für Roland Röhl

Nachruf für Roland Röhl

von Jürgen Schneider

Am 24. Dezember 1997 hat uns viel zu früh Roland Röhl verlassen – nach einem langen Kampf gegen eine heimtückische Krebskrankheit, die er seit Jahren in sich wußte und mit der er sich gedanklich und seelisch schon seit längerer Zeit in bewundernswerter Weise auseinandergesetzt hatte. Mit ihm haben wir einen Freund, einen für alle Fragen der Umwelt- und Friedensbedrohung sensiblen Menschen und einen herausragenden Beobachter, Berichterstatter und Journalisten der Wissenschaft verloren.

Roland Röhl wurde am 9.3.1955 in Berlin geboren. Nach dem Abitur begann er das Studium der Chemie an der TU Berlin. Er spezialisierte sich bald im Bereich der Biochemie. Bereits seine Diplomarbeit über Proteinsynthese schrieb er am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin-Dahlem. Dort erarbeitete er auch seine Dissertation über Struktur und Funktion von Ribosomen, mit der er 1981 promovierte.

In Berlin und in Göttingen absolvierte er noch ein Zweitstudium in Philosophie und Publizistik. In Göttingen arbeitete Roland Röhl ab 1981 mit einem Forschungsstipendium am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie bei dem Nobelpreisträger Prof. Manfred Eigen über Fragen der molekularen Grundlagen der Entwicklung des Lebens.

Seit 1980 hatte sich Roland Röhl verstärkt dem Wissenschaftsjournalismus zugewandt. 1982 erhielt er einen Preis im Wettbewerb »Reporter der Wissenschaft«. Ab 1984 machte Roland Röhl dann endgültig den Schritt zum freien Wissenschaftsjournalisten. Die Themenbereiche, über die Roland Röhl Sendungen und Berichte machte, waren weit gefächert: Von Biologie, Ökologie, Evolution, Verhaltensforschung, Naturschutz, Meeresforschung, Gentechnologie über Wissenschaftgeschichte und Porträts bis hin zu Fragen der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, der Friedens- und Konfliktforschung sowie den Fragen der ökologischen und sozialen Sicherheit, einem lange Zeit in der professionellen Friedensforschung vernachlässigten Aspekt der Sicherheit. Diese Problematik hat Roland Röhl in eindringlicher Weise dargestellt in seinem Film »Jenseits von Raketen«.

Sein 1985 erschienenes und immer noch lesenswertes Buch »Natur als Waffe« füllte eine Lücke in der Berichterstattung über die erschreckende Vielfalt der militärischen Planungen zur Bemächtigung unserer Umwelt zu Zwecken der Kriegsführung.

Es ist eine hier gar nicht darstellbare Fülle von in verschiedenen Anstalten gesendeten Rundfunkbeiträgen und -Berichten, Fernsehfilmen und darüber hinaus von zahlreichen Zeitungsberichten und Artikeln in Büchern und Zeitschriften (auch in W&F), die das Schaffen von Roland Röhl charakterisieren.

Besonders in die vielfältigen Fragen der Friedens- und Konfliktforschung hat sich Roland Röhl tief eingearbeitet durch Literatur-Studium, Leitung von Arbeitsgruppen bei den »Göttinger Wissenschaftlern für Frieden und Abrüstung« sowie durch den Besuch von Tagungen, Kongressen und internationalen Instituten wie z. B. dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI. Besonders die Kongresse und Fachtagungen der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« haben durch die zahlreichen Beiträge von Roland Röhl eine immer hervorragende und informative Berichterstattung bekommen.

Roland Röhl hat zahlreiche Beiträge geliefert zu Fragen und Problemen der Rüstung allgemein, der Rüstungskontrolle, zu atomaren, chemischen und biologischen Waffen, zum Atomwaffensperrvertrag und zur Ambivalenz der zivilen Atomenergie. Hier sei nur als ein Beispiel hingewiesen auf seinen hervorragenden Film über das Problem der Schäden durch Niedrigstrahlung »Risiko Radioaktivität«.

Über die Kongresse und Fachtagungen aus dem Bereich der Friedensforschung hat Roland Röhl immer mit großem Sachverstand und Engagement berichtet. Sein kritischer Verstand, sein durch Recherchen im In- und Ausland geschulter Blick für die wesentlichen Dinge, seine schwungvolle, auch humorvolle und manchmal leicht ironische Art der Fragen und auf den Punkt gebrachten Aussagen machten seine Beiträge nicht nur verständlich und leicht erfaßbar, sondern auch zu einer reichlich sprudelnden Quelle der Information.

Roland Röhl hat sich in hervorragender Weise aufklärend eingemischt in die öffentliche Diskussion um relevante und brennende Themen. Seine vorbildliche Berichterstattung, die auch immer spannend und anschaulich war, hat viele Menschen bereichert. Damit hat Roland Röhl nicht nur die Menschen aus der Friedensbewegung erreicht sondern auch darüber hinaus viele Zuhörende und Zusehende in Funk und Fernsehen sowie Leser verschiedener Printmedien. Was Roland Röhl geleistet hat, war stets bester Journalismus, der den kritischen Geist informiert und zugleich die empfindende Seele aufrüttelt.

Roland Röhl wird nicht nur den am engsten mit ihm verbundenen Menschen und seinen Freunden schmerzlich fehlen sondern auch dem Kreis der Friedensfreunde in Göttingen, bei denen er sich jahrelang engagiert hat ebenso wie der Naturwissenschaftler-Initiative. Der Friedensbewegung insgesamt und auch der Öffentlichkeit ist mit ihm ein kritischer, fröhlicher, engagierter und sachkundiger Berichterstatter verloren gegangen. Wir trauern um diesen Menschen, den kundigen Begleiter und wertvollen Informanden der Friedensbewegung und der Öffentlichkeit.

Prof. Dr. Jürgen Schneider, Göttingen

Europa atomwaffenfrei

Europa atomwaffenfrei

Konferenz auf Burg Schlaining

von Manfred Mohr

Burg Schaining, malerisch im österreichischen Burgenland gelegen und Sitz der Europäischen Friedensuniversität, war als Konferenzort gut gewählt. Zur Konferenz geladen hatten – neben der Friedensuniversität – folgende NGO's bzw. Bewegungen: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Internationales Friedensbüro (IPB), Internationale Juristenvereinigung gegen Atomwaffen (IALANA), Internationales Netzwerk von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren (INES), Projekt für europäische atomare Nicht-Weiterverbreitung (PENN), Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (WILPF). Der Einladung waren über 120 Teilnehmer gefolgt, die die Breite der konferenztragenden Organisationen und der europäischen Antiatomwaffenbewegung widerspiegelten. Es trafen sich Wissenschaftler, Politiker und Friedensaktivisten; häufig waren alle drei Qualitäten in einer Person vereinigt.

Die Konferenz (13.-15.06.1997) setzte sich aus Grundsatzreden, u.a. der Schwedin Mai-Britt Theorin, Arbeitsgruppensitzungen, u.a. zur weiteren Delegitimierung nuklearer Waffen und zur NATO-Osterweiterung, und einer abschließenden Plenarsitzung zusammen, auf der ein Aktionsprogramm und das »Schlaining Manifest« verabschiedet wurden. Aus der Konferenzdiskussion und den Abschlußdokumenten sollen folgende Punkte hervorgehoben werden:

  • Vor dem Hintergrund des Kernwaffengutachtens des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom Juli 1996, der NATO-Erweiterung und der EU-Entwicklung hat die Nuklearwaffenproblematik erneut an Aktualität gewonnen. Die Bewegung für ein atomwaffenfreies Europa und für eine atomwaffenfreie Welt hat neuen Auftrieb bekommen. Sie kann sich auf eine weitgehende, in Meinungsumfragen bekräftigte Ablehnung von Kernwaffen in der Bevölkerung stützen.
  • Nach dem erwähnten IGH-Gutachten sind die Drohung mit und der Einsatz von Kernwaffen generell völkerrechtswidrig. Der Gerichtshof sieht sich allerdings (und lediglich) außerstande, die Legalitätsfrage für extreme Selbstverteidigungssituationen zu entscheiden, in denen das bloße Überleben eines Staates auf dem Spiel steht. Diesen Feststellungen des Hauptrechtsprechungsorgans der UNO widerspricht die geltende Nukleardoktrin der NATO, die weder an der (Erst-)Einsatzoption Abstriche macht noch auf solche »Extremsituationen« begrenzt ist. Von daher ist das Gutachten hervorragend geeignet, die Rechtswidrigkeit der NATO-Konzeption zu belegen und (entsprechend) in nationalen bzw. internationalen Gerichtsverfahren als Argumentationsbasis benutzt zu werden.
  • Es bestehen die Chance und die Notwendigkeit, Kernwaffen endgültig abzuschaffen. Ein hierauf gerichteter schrittweiser Prozeß kann u.a. die Trennung der nuklearen Gefechtsköpfe von den Trägersystemen sowie die Schaffung nuklearwaffenfreier Zonen umfassen. Entscheidend ist, daß – im Einklang mit Art. VI des Atomwaffensperrvertrages (NPT) und wie von der UN-Generalversammlung bzw. dem Europäischen Parlament gefordert – endlich nukleare Abrüstungsverhandlungen in Gang kommen, deren Ziel der Abschluß einer (Anti-)Kernwaffenkonvention nach dem Muster des Chemiewaffenübereinkommens sein muß.
  • Eine künftige europäische Sicherheitsstruktur sollte sich weniger an einer osterweiterten NATO als an der OSZE orientieren. Dies hat neben sicherheitspolitischen auch Kostengründe. Gemeinsame, gesamteuropäische Sicherheit sollte sich eher auf Konfliktverhütung als auf militärische Mittel stützen. Die Europäische Union sollte ihre sich herausbildende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zur Stärkung der Stabilisierungskapazitäten der OSZE einsetzen. Auf jeden Fall muß verhindert werden, daß die EU-Entwicklung zu einer nuklearen Proliferation führt; die EU darf nicht zu einer neuen Kernwaffenbewegung werden.
  • Die nächsten praktischen Schritte der Antiatomwaffenbewegung in Europa können bzw. sollten umfassen:
  • eine öffentliche Diskussion und Kritik der NATO-Atomwaffendoktrin, u.a. des Konzepts der »nuklearen Teilhabe«;
  • Lobbyarbeit für atomwaffenfreie Zonen in Europa;
  • Stärkung und Schutz von »Ausplauderern« (»whistleblower«);
  • Schaffung eines europäischen Netzwerks innerhalb der globalen Kampagne »Abolition 2000«;
  • Vorbereitungsaktivitäten zur Haager Friedenskonfernez 1999;
  • Anti-Atomwaffen-Aktionen verschiedenster Art.

Die Konferenz in Burg Schlaining hat der europäischen Friedens- und Abrüstungsbewegung neue Impulse gegeben; auf ihr »follow-up« kann man gespannt sein. Sie hat zugleich verdeutlicht, daß die Atomwaffenproblematik in breitere sicherheitspolitische Fragestellungen – etwa einer europäischen Sicherheitsstruktur oder der vollständigen, auch konventionellen Abrüstung – eingebettet ist.

Prof. Dr. Manfred Mohr ist Völkerrechtler, Gründungsmitglied und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der IALANA

Editorial

Editorial

von Jürgen Nieth

Wir leben im Zeitalter der Medien. Das Grauen des Krieges erreicht uns per Satellit – aber wieviel davon nehmen wir wirklich wahr, wie reagieren wir, wann werden wir selbst aktiv? Fast 200 Kriege seit 1945, weit mehr bewaffnete Konflikte. In den letzten dreißig Jahren sank die Zahl der weltweit registrierten Kriege nicht unter fünfundzwanzig, bis vor kurzem mit jährlich ansteigender Tendenz. Doch die große Mehrheit dieser Kriege ließ die ganz große Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land seltsam unberührt.

Liegt es daran, daß neunzig Prozent der Kriege in den letzten 50 Jahren »weit weg« in der sogenannten Dritten Welt stattfanden? Aber die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion waren in zahlreiche Konflikte involviert, so mancher Konflikt wurde zum »Stellvertreterkrieg« hochgerüstet? Auch bei den Konfliktursachen zahlreicher innerstaatlicher Kriege waren die Industrienationen nicht unbeteiligt. Willkürliche Grenzziehungen bei der Bildung der Staaten gehen auf die alten Kolonialmächte zurück. Das ökonomische Gefälle zwischen ethnischen Gruppen, Schichten und Regionen ist vielfach bedingt durch die ökonomischen Interessen der Industriestaaten oder großer Konzerne. Länder, die zum eigenen Einflußbereich gezählt werden, werden hochgerüstet. Daß in vielen Ländern die historischen Erfahrungen sowie Regeln und institutionelle Formen für einen Machtwechsel fehlen, auch daran sind die Nationen des »reichen Nordens« nicht unbeteiligt. Wo Regierungen heute nur die blanke Not verwalten, hat die Demokratie kaum eine Chance.

Sicher, es gab Engagement in unserem Land. Zum Beispiel die Solidaritätsbewegung, die die Antikolonialkriege und die Kriege, die mit dem Ziel der Veränderung einer Gesellschaftsordnung geführt wurden (z. T. gegen von außen gestützte und ausgehaltene Diktatoren) begleitete. Nach anderen Kriegen wuchs in unserer Bevölkerung manchmal kurzfristig die Spendenbereitschaft zur Minderung der größten Not. Massenbewegungen waren das nicht.

Dann, wenn in unserem Land wirklich Massen aktiv wurden, dann hatte es immer etwas mit der »eigenen Situation« zu tun. Das war so in der Friedensbewegung der achtziger Jahre, als die maßlose Steigerung des Rüstungswahnsinns, die Angst vor einem Weltbrand, der auch unser Land vernichtet hätte, Millionen mobilisierte.

Das war auch bei den beiden wirklich großen Antikriegsbewegungen der Fall: Vietnam und Golfkrieg II.

Vietnam, das war nicht nur der Kampf David gegen Goliath. Bis Vietnam waren die USA für Millionen Menschen in unserem Land das Vorbild schlechthin. Am Mekong aber zerbombten die B 52 den Traum von westlicher Freiheit und Demokratie. Vor allem für die Jugend trat an die Stelle des »Leitbilds« USA, das »Leidbild« Vietnams.

Golfkrieg II, hier zerstoben die »89er Hoffnungen« auf einen umfassenden Frieden und eine »neue Politik«. Krieg erschien wieder als Ultima ratio bei der Durchsetzung ökonomischer Interessen. Und die nach dem Ost-West-Konflikt übriggebliebene Supermacht konnte offensichtlich jetzt sogar schneller und rücksichtsloser ihre Interessen durchsetzen als vorher.

Das Hemd ist näher als der Rock. Das mag ein Stück weit erklären, warum auf dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes die vielen Kriege so wenig Beachtung fanden, warum auch bei einer friedenspolitisch engagierten Öffentlichkeit in den achtziger Jahren der Blick im Großen und Ganzen »eurofixiert« blieb. Heute ist weit und breit kein Feind in Sicht. Vielleicht liegt darin eine Chance den Blick frei zu bekommen für das was anderswo passiert und dafür, daß mancher Krieg viel mehr mit uns zu tun hat, als wir wahrhaben wollen.

Das Ringen um Macht- und Einflußsphären, um Rohstoff- und Absatzmärkte wurde mit dem Ost-West-Konflikt nicht beendet – es hat sich höchstens verlagert, wie man an der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und den USA um das Zentrum Afrikas sieht. Daß die Bundesregierung in diesem Machtpoker nicht abseits steht, wurde spätestens deutlich, als sie gegen die Mehrheit der westeuropäischen Staaten die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durchsetzte, mit den bekannten fatalen Folgen für Bosnien. Das wird auch in diesen Tagen sichtbar, wenn unter der Führung von Daimler Aerospace (DASA) und Thyssen ein internationales Industriekonsortium versucht, Südafrika einen Vier-Milliarden-Waffenauftrag aufzudrücken und wenn die Bundesregierung dazu Schützenhilfe gibt.

Das die friedenspolitisch Engagierten sich heute besonders um zivile Konfliktbearbeitung bemühen ist angesichts der Folgen des ersten Krieges auf europäischem Boden seit Jahrzehnten – in Exjugoslawien – verständlich und notwendig. Genauso wichtig aber ist, daß die Konfliktursachen nicht aus dem Blick verloren gehen, für die auch unser Land eine Verantwortung trägt: Ich möchte zwei hervorheben: die Waffenexporte und die ungerechte, die große Teile der Welt weiter verarmende Weltwirtschaftsordnung.

Ihr Jürgen Nieth

Tahiti Mon Amour

Tahiti Mon Amour

Tagung von »Abolition 2000« im Südpazifik

von Lars Pohlmeier • Jürgen Scheffran

Die französischen Atombomben im Südpazifik sind abgezogen, doch die Unsicherheit über die Folgen der Atomtests ist bei den Menschen geblieben. Ein Jahr nach dem vorerst letzten französischen Test organisierte »Abolition 2000«, das globale Netzwerk für die Abschaffung der Atomwaffen, vom 20. – 27. Januar eine Welt-Konferenz auf Moorea, der Nachbarinsel von Tahiti, um die Aufmerksamkeit erneut auf diese Region zu lenken. „Die französische Regierung soll ihre Daten über den Gesundheitszustand der zivilen Inselbevölkerung der Te Ao Maohi und der ehemaligen lokalen Arbeiter auf Mururoa und Fangataufa im Südpazifik offenlegen und öffentlich zugängliche Studien durchführen,“ forderte Gabriel Tetiarahi von der tahitianischen Bürgerbewegung Hiti Tau vor 140 TeilnehmerInnen aus 65 Ländern.

»Abolition 2000«: Die anti-nukleare Kettenreaktion

Ins Leben gerufen wurde das Friedens-Netzwerk »Abolition 2000« im April 1995 während der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz zum Atomwaffen-Sperrvertrag (NPT: Non-Proliferation Treaty) in New York. Hier traf eine »kritische Masse« von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) zusammen; verschiedene Flüsse vereinten sich zu einem breiten Strom, mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Gelegenheit zum Zusammentreffen gab es während des täglich stattfindenden NGO Abolition Caucus (Ratschlag für die Abschaffung der Atomwaffen). Hier wurde am 25. April eine Erklärung verabschiedet, die in New York bereits von mehr als 200 NGOs unterstützt wurde. Kernpunkt der 11-Punkte-Erklärung ist der sofortige Beginn und Abschluß von „Verhandlungen über eine Konvention zur Abschaffung der Atomwaffen, die die stufenweise Eliminierung aller Atomwaffen innerhalb eines Zeitplans festlegt, mit Vorschriften zur effektiven Vertragsüberprüfung und -durchsetzung.“ Am gleichen Tag stellte im Rahmen eines zweitägigen Forums das International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) den Bericht einer Expertengruppe zur atomwaffenfreien Welt vor, dessen Kernpunkt ebenfalls die Forderung nach einer Nuklearwaffenkonvention (NWK) ist. Am folgenden Tag diskutierten etwa hundert NGO-Vertreter Strategien für die Abschaffung der Atomwaffen und vereinbarten eine längerfristige Zusammenarbeit.1

Im November 1995 wurde das Netzwerk »Abolition 2000« in Den Haag offiziell gegründet. Grundlage der Zusammenarbeit ist die New Yorker Erklärung, die heute von fast 700 NGOs weltweit unterstützt wird. In Den Haag wurden auch verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet (Nuklearwaffenkonvention, Eurobombe, Projekt Weltgerichtshof, Kernwaffentests, Tschernobyl und Kernenergie). Im März 1996 wurde in Edinburgh die Einrichtung eines Kontaktbüros beschlossen sowie einer Interim Management Group, die eine lockere Koordination des Netzwerks durchführt. Die Kommunikation verläuft vorwiegend über eine email discussion group im Internet (abolition-caucus@igc.apc.org), die sehr stark genutzt wird. Die Zusammenarbeit erfolgt auch in nationalen oder regionalen Koalitionen, in Deutschland durch den Trägerkreis »Atomwaffen Abschaffen«, der schon 1994 ins Leben gerufen worden war und inzwischen 20 Organisationen umfaßt. Zu den Aktionsschwerpunkten in Deutschland gehörten bislang Unterschriftenaktionen und Beilagen in überregionalen Zeitungen, Plakataktionen, offene Briefe, Presseerklärungen und Diskussionrunden.

In den fast zwei Jahren nach Initiierung des Netzwerks wurde »Abolition 2000« von positiven Entwicklungen geradezu verwöhnt. Dies betrifft neben dem starken Wachstum des Unterstützerkreises vielfältige politische Entwicklungen, die zu einer politischen Kettenreaktion für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt geführt haben. Zu nennen sind hier nur der Proteststurm gegen die französischen Atomtests, der Friedensnobelpreis für Joseph Rotblat, das Interesse an Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl, die atomwaffenfreien Zonen in Afrika und in Südostasien, das Urteil des Weltgerichtshofs zur Illegalität der Atomwaffen, der Bericht der Canberra-Kommission zur Abschaffung der Atomwaffen, der Atomwaffenteststopp, die Erklärung von 60 Generälen und Admirälen für die Abschaffung der Atomwaffen und schließlich die breite Mehrheit in der UNO für eine Nuklearwaffenkonvention Ende 1996. Was hiervon auf das Konto von »Abolition 2000« geht, ist im einzelnen schwer auszumachen. In einigen Fällen ist ein Einfluß jedoch nachzuweisen, etwa beim Urteil des Weltgerichtshofs und bei der Nuklearwaffenkonvention, die beide von NGOs vorweggenommen wurden. Die Gegenkräfte dürfen jedoch nicht übersehen werden, allen voran das Beharren des mächtigen NATO-Blocks, an Atomwaffen festzuhalten.

Die Tagung in Tahiti/Moorea fand nach dem als Erfolg angesehenen Jahr 1996 statt und zu Beginn des für die Bewegung kritischen Jahrs 1997. Ob das derzeitige »Fenster der Gelegenheit« für die nukleare Abrüstung genutzt werden kann, hängt sicherlich auch von der weiteren Entwicklung von »Abolition 2000« ab. Eine wichtige Rolle spielte daher in Tahiti auch die weitere organisatorische und strategische Orientierung des Netzwerks, wobei die Fokussierung auf die Südpazifikregion eine verstärkte Ausrichtung auf regionale Aspekte repräsentierte. Die eher globalen Fragen kamen u.a. in den genannten Arbeitsgruppen zur Sprache. In der größten Arbeitsgruppe wurden Fragen zur Nuklearwaffenkonvention, zum NPT und zum Urteil des Weltgerichtshofs im Zusammenhang diskutiert. Im Vordergrund stand hier die Lobbyarbeit im Vorfeld und während der Überprüfungskonferenz zum NPT, die vom 7.-18. April 1997 in New York stattfinden wird. Hier soll ein im Rahmen von »Abolition 2000« erarbeiteter Entwurf einer Nuklearwaffenkonvention der Öffentlichkeit präsentiert werden. Daneben gab es weitere Arbeitsgruppen zu einzelnen Regionen, die z.T. sehr konkrete Aktionsvorschläge ausarbeiteten. Zahlreiche Resolutionen wurden verabschiedet. Eine Demonstration anläßlich des 1. Jahrestages des letzten französischen Atomtests schloß die Tagung ab.

In den Sitzungen der Interim Management Group und im Plenum wurden u.a. Verbesserungen der organisatorischen Struktur sowie zukünftige Schwerpunkte der Zusammenarbeit beraten. Einigkeit herrschte darüber, daß die Medienarbeit verbessert werden müsse und mehr regionale Vertreter in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden müssen, um der Dominanz aus USA und Europa etwas entgegenzusetzen. Die Verbreiterung der Basis und eine stärkere Identifikation mit dem Netzwerk wurde auch als ein Weg aus der permanenten Finanzknappheit gesehen. Die Tagung machte deutlich, wie ungewöhnlich und schwierig der unternommene Versuch ist, ein globales Netzwerk von dieser Größe zusammenzuhalten und politische Wirkung entfalten zu lassen.

Aufregung erzeugte schon im Vorfeld der Tagung die Debatte um den nuklearen Kolonialismus, der durch die Wahl des Tagungsorts vorgegeben war. Während einige befürchteten, das im Gründungsstatement nicht vorgesehene Thema könnte die Unterstützerbasis verkleinern, traten die Veranstalter, allen voran Hiti Tau, vehement für die Behandlung dieser Thematik ein. Eine Tagung etwa in Europa würde notwendig die dort brisanten Themen der NATO-Osterweiterung und der atomwaffenfreien Zone Ost- und Mitteleuropa in den Vordergrund rücken. Eine Ausblendung der durch Atomwaffen verursachten Leiden im Pazifik würde daher den Vorwurf des Eurozentrismus auf sich ziehen. Dementsprechend nahm diese Thematik dann auch breiten Raum auf der Tagung ein, was bei den Teilnehmern letztlich auf breite Zustimmung stieß – auch die Vertreter der nördlichen Hemisphäre konnten um einige Erfahrungen reicher nach Hause fahren.

<>Nuklearer Kolonialismus und Gesundheitsfolgen im Südpazifik<>

Eine solche Konferenz der Mitgliedsorganisationen im Südpazifik durchzuführen, war zugleich Tribut an die Leiden der indigenen Völker in den Atomtestgebieten2, „denn alle Tests wurden auf dem Land von indigenen Völkern durchgeführt“, wie Pauline Tangiore, eine Repräsentantin des Maori-Volkes in Neuseeland, hervorhob. Sie forderte Rechte auf Selbstbestimmung der indigenen Völker. In der Moorea- Deklaration, der Abschlußerklärung der Konferenz, unterstützten die Delegierten Souveränität und Unabhängigkeit der indigenen Völker als wichtiges Element auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen.

Ausnahmslos sind Atomtests der großen Atommächte USA, Großbritannien, UdSSR/Rußland, China und Frankreich in Gebieten mit ethnischen Minderheiten durchgeführt worden. Zur Mißachtung der Menschenrechte dieser Völker gehörte auch, daß die gesundheitlichen Folgen verschleiert wurden. Frankreich beispielsweise beteuert bis zum heutigen Tag die angebliche medizinische Unbedenklichkeit seiner Atomversuche. Wissenschaftlich bewiesen wurde die Behauptung nie. Stattdessen wird die Arbeit unabhängiger Wissenschaftler behindert. So geschehen bei einer Studie, die die holländischen Wissenschaftler Peter de Vries und Han Seur gemeinsam mit Hiti Tau und dem Weltkirchenrat derzeit durchführen. Polizeikräfte drangen in das Büro von Hiti Tau ein und versuchten sich Zugriff auf die Untersuchungsdaten zu verschaffen. Der Abschluß der Untersuchungen an 1.000 ehemaligen polynesischen Arbeitern auf den Testgebieten wird sich daher verzögern. Es sind diese Arbeiter, die radioaktiven Müll gestapelt oder verbrannt haben, die in der Lagune geschwommen oder entgegen den offiziellen Verboten lokalen Fisch gegessen haben, die wichtige Hinweise darüber geben können, was wirklich passiert ist.

Zwischen 8.000 und 12.000 Polynesier arbeiteten nach 1964 auf den Testanlagen von Mururoa und Fangataufa. „Wir mußten uns schriftlich verpflichten, über Gesundheitsfragen Stillschweigen zu bewahren und keine finanziellen Ansprüche geltend zu machen gegenüber der französischen Regierung,“ berichtet Mathieu, ehemaliger Arbeiter auf dem Mururoa-Testgelände. Ähnlich geht es den französischen Soldaten, über deren Gesundheitszustand in der Öffentlichkeit nichts bekannt ist. Das »Centre d`Expérimentations du Pacifique« (CEP), wie der euphemistische Name für die französische Atomtestbehörde im Pazifik heißt, beteuert zwar unentwegt: „alles harmlos und ungefährlich“. Tatsächlich aber wurden – wenn überhaupt – nur schlampig Daten erhoben. Experten befürchten, daß deshalb auch die Veröffentlichung der geheimen Daten kaum Sinn macht. Zwar existiert offiziell seit 1979 ein Krebsregister, doch Insider der Verwaltung räumen ein, daß das Register erst seit 1988 vernünftig geführt wird. Die vorhandenen Ergebnisse weisen auf eine stark erhöhte Krebsrate in Französisch-Polynesien hin. Inwiefern dies wirklich mit den Tests und nicht mit geänderten Lebensgewohnheiten in Verbindung steht, müßten umfangreiche epidemiologische Studien genauer untersuchen.

Anstrengungen der französischen Regierung, die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEO) mit einer Studie zu beauftragen, haben bereits scharfe Kritik auf sich gezogen. Zeitraum der Studie soll 1996 bis 2006 sein, wobei auf eine rückwirkende Betrachtung verzichtet wird. Untersucht wird auch nicht die Bevölkerung, sondern Auswirkungen der Atomtests auf die Umwelt allgemein. Folglich gehört dem Forscher-Gremium kein Mediziner an. Ob Frankreich die Ergebnisse in jedem Fall veröffentlichen oder unter Verschluß halten wird, ist ebenfalls offen. Vielleicht ist letzteres aus der Sicht der Kritiker auch gar nicht nötig, wenn die leitenden Wissenschaftler der Untersuchung so ausgesucht werden, daß ein Freibrief für Frankreich von vornherein feststeht. Besonders an der Person der US-amerikanischen Atomphysikerin Gail de Planque entzündet sich Streit. De Planque hat bereits für das Department of Energy der USA in anderen Testgebieten gearbeitet und gilt als entschiedene Befürworterin der Atomtechnologie.

Die Kontrolle im Gesundheitssystem durch das französische Militär ist bestens organisiert gewesen. Die Gesundheitsbehörde Tahitis unterstand bis 1985 dem Militär, Kranke wurden vorzugsweise nach Frankreich ausgeflogen und dort behandelt. Viele wissenschaftliche Fragen müssen vorerst unbeantwortet bleiben. Eingeräumt wurden von der französischen Regierung während der fast 200 Atomtests lediglich drei Unfälle, bei denen Radioaktivität freigesetzt wurde. Im Jahr 1979 blieb eine Atombombe im Schacht stecken, so daß die 150 Kilotonnenbombe höher als vorgesehen gezündet wurde. Eine Million Kubikmeter Basalt und Korallenboden brachen vom Atoll ab, eine riesige Flutwelle entstand. Schon 1966 hatte ein Taifun 10 bis 20 Kilogramm Plutonium ins Meer gefegt.

Was bleibt sind persönliche Zeugnisse, wie das einer Überlebenden des ersten Atomtests der USA auf dem Bikini-Atoll 1954. Ihre Geschichte von Fehlgeburten, geschädigten Kindern bis hin zu Kindern, „die ich geboren habe und nicht als Menschen erkennen konnte“ hatte eine Kraft, der sich selbst die US-Regierung nicht verschließen konnte. Für diese Bewohner der Marschall-Islands wurden Millionen Dollar an Kompensationen bezahlt. Das hält die US-Regierung allerdings nicht davon ab, weiter gegen Atomwaffen gerichtete Unabhängkeitsbestrebungen zu unterdrücken. Mit allen verfügbaren Mitteln wurde etwa versucht, die anti-nukleare Verfassung von Palau auszuhebeln. Zwei Frauen aus Palau, denen tagelang die Einreise nach Tahiti über die USA verweigert wurde, konnten eindrücklich von den Drangsalierungen berichten. Schlimmer noch: derzeit werden Überlegungen über ein atomares Dauerlager im Pazifik angestellt, u.a. mit der Begründung, daß das Gebiet ohnehin radioaktiv verseucht sei. Russisches Waffenplutonium soll dort gleich mitgelagert werden.3 Jüngst geisterten Überlegungen der Bundesregierung durch die bundesdeutsche Presse, auch deutschen Atommüll im Pazifik zu lagern. Dort ist der Müll zwar auch nicht sicher – aber er wäre dann wenigstens erstmal weit weg.

Katastrophe für den Tourismus?

Die Veranstalter der Tagung sahen es als großen Erfolg an, viele Menschen von innerhalb und außerhalb der Pazifik-Region zum Kongreß auf Moorea zu versammeln und damit das Augenmerk auf Probleme des nuklearen Kolonialismus zu lenken. Manche TeilnehmerInnen nannten die hohe Teilnehmerzahl gar „ein Wunder“ angesichts der hohen Reisekosten, zumal die Flugpreise innerhalb der Pazifikregion die Reisekosten europäischer Teilnehmer sogar noch deutlich überstiegen.

Die Konferenz wurde ausführlich in den Printmedien behandelt, wobei die Rezeption in den pro-französischen Zeitungen auf Tahiti unterschiedlich, zum Teil sogar schroff ablehnend war. Der in Kommunalwahlen gewählte konservative Territorial-Gouverneur Gaston Flosse behauptete öffentlich wider besseres Wissen, er sei nicht eingeladen worden. Als Versicherungsmakler und Hotelbesitzer profitiert der ehemalige Volksschullehrer und Chirac-Freund Flosse (Chirac ist Patenonkel seines Sohnes Jaques) besonders von der französischen Präsenz. Teile der Lokalpresse nahmen seinen Vorwurf der Einseitigkeit und „politischen Maskerade“ des Abolition-2000-Kongresses dankbar auf und berichteten journalistisch inkompetent über den Kongreß. Dies gipfelte in dem Vorwurf des Lokalblatts »La Depeche de Tahiti«, daß der Kongreß eine Katastrophe für den Tourismus auf Tahiti sei, da Berichte über Radioaktivität Touristen abschrecke, so als ob die Menschen weltweit noch nicht erkannt hätten, wer 30 Jahre lang in der Region Atombomben gezündet hat. Daß sie von den Lokalmedien hinters Licht geführt werden, ist auch einigen Tahitianern nicht entgangen. Was wirklich Sache ist, konnten sie einem alternativen Radiosender entnehmen, der die Aufklärung über die Testfolgen zu seiner Sache gemacht hat.

Anmerkungen

1) Das Forum wurde von der »International Coalition for Nuclear Non-Proliferation and Disarmament« veranstaltet, das einen Ursprung von »Abolition 2000« darstellte und nach der NPT-Konferenz im Netzwerk aufging. Diese Koalition wurde 1993 von den folgenden Organisationen ins Leben gerufen: International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility (INES), INESAP, International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), International Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), International Peace Bureau (IPB). Zur Entwicklung siehe J. Scheffran, »Abolition 2000« and the Anti-Nuclear Chain Reaction, INESAP Information Bulletin, No.11, December 1996, S. 52. Im selben Heft finden sich weitere Beiträge zu »Abolition 2000«. Zurück

2) Zu den Folgen der Atomrüstung im Pazifik siehe etwa: B. Hussein, Mururoa – The untold story, Pacific Islands Monthly, January 1997, S. 14-18; Exodus – An Introduction to Environmental Issues in the Pacific, Greenpeace New Zealand, Pacific Conference of Churches, 1995; E. Weingartner, The Pacific Nuclear Testing and Minorities, London: The Minority Rights Group, 1991; A. Makhijani, A. Robbins, K. Yih, Radioaktive Verseuchung von Himmel und Erde, IPPNW-Wissenschaftliche Reihe Band 2, 1991; A. Behar, Les Essais Nucléaires Français En Polynesie, IPPNW Frankreich, April 1990. Zurück

3) Siehe: Ab auf die Insel, Der Spiegel, 29/1996, S. 86-87 Zurück

Lars Pohlmeier ist Medizinstudent in Hamburg, freier Journalist und Vorstandsmitglied der IPPNW. Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Assistent bei IANUS an der TH Darmstadt, Herausgeber des INESAP Information Bulletin und Koordinator der NWK-Arbeitsgruppe in »Abolition 2000«

Wissenschaftler-Aufruf – Nachdenken und Handeln

Wissenschaftler-Aufruf – Nachdenken und Handeln

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Die Wirtschafts- und Wachstums-Modelle, die
dieses Jahrhundert in den Industrieländern bestimmt haben, sind offenkundig an ihre
Grenzen gestoßen. Das Modell der Konsumgesellschaft mit sozialstaatlichen Elementen ist
in der Krise. Die neoliberale Theorie einer Entwicklung für alle durch einen
ungezügelten »freien« Weltmarkt ist, gemessen an rationalen, sozialen, ökologischen
und ethischen Maßstäben, gescheitert. Für wachsende Minderheiten in den Staaten des
Nordens bringt ihre Verwirklichung kulturelle und materielle Armut, für die Mehrheit der
Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika bedeutet sie die Entwicklung in die
Katastrophe.

Die Antwort der wirtschaftlichen und
politischen Entscheidungsträger heißt: Deregulierung, Sozialabbau, Entwicklung von
Hochtechnologien, Abschottung gegenüber Immigranten und Asylsuchenden, in der Hoffnung,
bei der Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Ländern zu den wenigen potentiellen
Gewinnern zu gehören. Militärische Gewaltmittel sollen künftig verstärkt eingesetzt
werden. Diese werden das internationale System der Ungleichheit und Verelendung eher
bewahren als beseitigen. Statt Mittel für Friedens- und Konflikt-Forschung und für die
Bekämpfung und Vermeidung der Ursachen von Hunger, Elend, Umweltzerstörung und
Konflikten bereitzustellen, werden neue und teure Rüstungs-programme bis hin zu
kostenintensiven militärischen Satellitensystemen ausgegeben. Sie sollen Europa neben den
USA zur weltweit einsetzbaren und eigenständig agierenden Militärmacht machen. Das ist
kein Ausweg aus der Krise, sondern es verstärkt sie nur.

Ein »weiter so« mit Sparpaketen und
Einschnitten in das soziale Netz führt in die falsche Richtung. Damit werden der Abbau
sozialer Systeme und die Vernichtung von Arbeitsplätzen fortgesetzt. In Deutschland fehlt
es an einer phantasievollen geistigen und politischen Alternative.

Unser Ruf richtet sich an
WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und PublizistInnen, alle, die
für sich intellektuelle Kenntnisse und Bildung in Anspruch nehmen: Wir dürfen uns nicht
länger darauf beschränken, Seismographen der gesellschaftlichen Erschütterungen und
Analytiker sich scheinbar zwangsläufig vollziehender Umbruchsprozesse zu sein, so wichtig
dies auch immer bleiben wird. Es genügt nicht, nur die Probleme zu diskutieren, wir
müssen auch die Ursachen aufdecken, Wege der Veränderung zeigen und diese öffentlich
machen. Wir sind gefordert, den Versuch eines moralischen, geistigen und politischen
Aufbruchs zu wagen, der aus der neoliberalen Hegemonie herausführt zu einem neuen
Gesellschaftsvertrag, zu Perspektiven der sozialen, kulturellen und moralischen Fragen des
Übergangs in das 21. Jahrhundert. Neuer Mut zu konkreten Utopien ist gefordert.

Wir müssen darüber nachdenken,

  • wo die Grenzen des Wachstums liegen und wie in
    einer endlichen Welt eine Gerechtigkeit der Verteilung geschaffen werden kann, die uns
    immer noch durch unendliches Wachstum versprochen wird,
  • wie und unter welchen Bedingungen
    Vollbeschäftigung verwirklicht werden kann, ohne die eine demokratische Partizipation
    aller nicht friedvoll zu verwirklichen ist,
  • wie die Umwelt erhalten und die Entwicklung
    der Dritten Welt ermöglicht werden kann, damit der Raubbau an der Natur und an den
    Menschen beendet wird und neue Nachfrage nach bezahlter und sinnvoller Arbeit entsteht und
    gerecht zu verteilen ist,
  • das heißt, wie die Leitbilder einer
    nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung (sustainable development) politische Realität
    werden können.

Engagement für diese Ziele ist notwendig.

Überschreiten wir die Grenzen unseres
Fachdenkens. Treten wir miteinander und mit den Betroffenen, mit den Gewerkschaften und
Kirchen, mit den sozialen, feministischen, ökologischen und Eine-Welt-Bewegungen ein in
den friedlichen Dialog zur gemeinsamen Suche nach und Erarbeitung von Perspektiven und
Lösungsansätzen für die Probleme unserer Zeit. Sie werden nicht allein von uns gefunden
werden, aber auch keinesfalls ohne uns. Demokratie lebt auch von der Partizipation und der
Einmischung in die gesellschaftliche Diskussion. Wir werden eines Tages gefragt werden von
der kommenden Generation: »Was habt Ihr getan?«

In der veröffentlichten Meinung sind die
neoliberalen Konzepte der gegenwärtigen Politik allgegenwärtig. Sie geben sich als
»Sachzwänge« aus, als Festhalten an Bewährtem, als das Vernünftige schlechthin.
Entkleiden wir sie des irreführenden Scheins. Tragen wir unsere Ideen für eine
geistig-politische Alternative in die Öffentlichkeit. Verstehen wir uns als Initiatoren
einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes
und der übrigen Staaten in einer sich wandelnden Welt. Wir müssen neue Zukünfte
erfinden.

  • Prof. Dr. Ulrike Beisiegel,
    Vorsitzende der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«
  • Reiner Braun,
    Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«
  • Prof. Dr. Hans-Peter Dürr,
    Max Planck Institut für Physik und Astrophysik, München
  • Dr. Jürgen Malley, Wuppertal
    Institut für Klima, Umwelt und Energie
  • Prof. Dr. Jürgen Schneider,
    Institut für Geologie, Göttingen
  • Joachim Spangenberg, Wuppertal
    Institut für Klima, Umwelt und Energie

Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:

Dr. Helmut Aichele, Erlangen; Prof. Dr. Ulrich Albrecht, Berlin; Prof. Dr. Silvia Braslavsky, Mülheim / Ruhr; Prof. Dr. Werner Buckel, Karlsruhe; Prof. Dr. Johannes Esser, Lüneburg; Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Mülheim / Ruhr; Prof. Dr. Franz Fujara, Dortmund; Dr. Martin Grundmann, Kiel; Dr. K. Hinsch, Rastede-Loy; Martin Kalinwski, Darmstadt; Dr. Wolfgang Köhnlein, Münster; Dr. Wolfgang Neef, Berlin; Dr. Joachim Nitsch, Stuttgart; Prof. Dr. Joachim Römer, Klein Emmensleben; Erich Schmidt-Eenboom, Weilheim; Prof. Dr. Hans Dieter Söling, Göttingen; Prof. Dr. Dieter von Ehrenstein, Bremen; Dr. Gerhard Weidringer, Wittelshofen; Prof. Dr. Dieter Wöhrle, Bremen; Christa Wolf und Gerhard Wolf, Berlin; Prof. Dr. Jores Wotte, Dresden

Friedensnobelpreis für die russischen Soldatenmütter?

Friedensnobelpreis für die russischen Soldatenmütter?

von Heide Schütz

Das mutige Engagement des »Komitees der russischen Soldatenmütter« ist seit Beginn des Tschetschenienkriegs vor allem durch die – letztendlich zwar gescheiterte – groß angelegte Reise nach Grosny 1995, später durch den Erfolg einiger Mütter, ihre Söhne vor Ort zu suchen, zu finden und vom Kriegsschauplatz »mit nach Hause zu nehmen«, international bekannt geworden. Seit Monaten halten sich wieder ungefähr 100 Mütter unter schwierigsten Umständen in Tschetschenien auf, um endlich eine Auskunft über das unbekannte Schicksal ihrer Söhne zu bekommen.

In Deutschland wurden sie auch bekannt durch eine maßgeblich von Heiner Müller (Berliner Ensemble) und Käte Reichel (Deutsches Theater, Berlin) sowie den evangelischen und katholischen Frauenverbänden initiierte Unterschriftensammlung und zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen. Nachdem auch die Bundestagspräsidentin, Frau Prof. Dr. Süßmuth, im Verein mit Parlamentarierinnen der CDU, der gesamten SPD-Bundestagsfraktion und allen sozialistischen und sozialdemokratischen Abgeordneten des EU Parlaments sowie dem »International Peace Bureau« und dem »Deutschen Schriftstellerverband« die Russischen Soldatenmütter für die Nominierung des Friedensnobelpreises vorgeschlagen haben, sind diese Frauen noch stärker in das Licht der Öffentlichkeit gerückt.

Der Gedanke liegt nahe, daß hier möglicherweise bewundernd oder mit schlechtem Gewissen Mütter zur Ehrung vorgeschlagen werden, die sich »für den Frieden« einsetzen. Diese »Mütter« sind jedoch durchaus nicht alle Mütter von Soldaten, und sie sind auch nicht primär als »Frauen für den Frieden« aufgestanden, sondern sie haben unter Ausnutzung der neu gewonnenen Spielräume der politischen Partizipation, aber unter schwierigsten Bedingungen eine Menschenrechtsorganisation aufgebaut, die radikal die Menschenrechte für Soldaten einfordert, und zwar nicht nur in Friedenszeiten, sondern auch – und das ist das eigentlich Neue und Radikale und hier liegt auch die Verbindung zur Friedensbewegung – in Kriegszeiten. Die allgemeine Handhabung der Nationalstaaten, ungeachtet der Genfer Konvention, die Menschenrechte für die eigenen Soldaten bei Kampfhandlungen ad acta zu legen, sowie die Aberkennung der Bürgerrechte der Rekruten durch sehr viele Staaten werden von ihnen unmißverständlich als Menschenrechtsverletzungen am Beispiel der Situation der GUS-Staaten der Welt vorgeführt. (Die Nichterklärung des Kriegszustandes durch die russische Regierung spielt allerdings eine entscheidende Rechtsgrundlage der Anklage.)

Als das »Komitee der Russischen Soldatenmütter« 1989 gegründet wurde, ging es zunächst um die Einberufung von Rekruten und um die Zustände in den Kasernen für diese jungen, 18-19 Jahre alten Männer. Inzwischen, nicht zuletzt durch den Krieg in Tschetschenien, ist die Zahl der regionalen Gruppen auf über 100 in 37 Regionen Rußlands angewachsen, in denen Frauen aller Bevölkerungsschichten zusammenarbeiten.

Bei ihren Besuchen in den Kasernen stellten die Frauen Unterernährung, mangelnde Bekleidung, Unterdrückung jeglicher Bürgerrechte, Gewalt, Willkür und wiederholte Fälle von Lynchjustiz fest. Sie machten diese Vorfälle als eine Verletzung sowohl der nationalen Gesetzgebung wie der internationalen Charta der Menschenrechte öffentlich bekannt.

Wie sieht ihr Alltag heute aus? Es ist der typische Alltag von klugen und engagierten Frauen, die in einer Nichtregierungsorganisation zusätzlich zu der sonst zu leistenden Arbeit ehrenamtlich unter schwierigsten Bedingungen gesellschaftlich überaus notwendige Arbeit leisten. In täglichen Sprechstunden beraten sie in engsten räumlichen Verhältnissen eine ständig wachsende Zahl junger Männer oder deren Eltern in allen Fragen der Rechtsverletzung und der mangelnden Fürsorgepflicht des Staates, sei es ein Krankheitsfall oder der Tod eines Rekruten oder eine Vermißtenmeldung mit der Ungewißheit von Tod oder Gefangenschaft. Politischen Rat oder Informationen holen sich informell aber auch Journalisten, Militärs, Politiker und Diplomaten. Diese Arbeit wird ergänzt durch die Beantwortung schriftlicher Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern, durch Eingaben und Nachforschungen, durch Teilnahme an Untersuchungs- und Gerichtsverfahren von Kriegsdienstleistenden und Dienstverpflichteten, die mit der Einberufung und der Verweigerung verbunden sind. Im Krieg Rußlands gegen Tschetschenien sammeln sie immer wieder unter großen Gefahren Informationen und Beweise am Kriegsschauplatz.

Zur Basisarbeit kommt die Dokumentation und Auswertung der Menschenrechtsverletzungen hinzu, die Analyse von Gesetzen und Gesetzesvorhaben, das Ausarbeiten von Vorschlägen zur Verbesserung von geltenden Gesetzen, die Kontaktpflege zu anderen rechtsschützenden Organisationen und Institutionen, sowie die Aufrechterhaltung der Verbindung der über hundert regionalen Organisationen untereinander. Das alles geschah und geschieht in einem Land, dessen Entfernungen mit den unsrigen nicht vergleichbar sind, und wo ein Faxgerät für NGO's unerschwinglich ist.

Seit Jahren unterstützen die »Frauen für den Frieden« in Düsseldorf sowie die »Frauen für den Frieden Schweiz« und das »International Peace Bureau« das »Komitee der russischen Soldatenmütter« sowohl materiell wie ideell. Eine Ausweitung der Partnerschaften auf die verschiedenen regionalen Frauenorganisationen durch weitere Gruppen wäre wünschenswert.

Drei Initiativen der »Russischen Soldatenmütter« fanden in diesem Jahr international eine besondere Beachtung. Im März organisierten sie den zweiten Kongreß »Der Krieg in Tschetschenien und die Menschenrechte« in Moskau, an dem auch hohe sowjetische Militärs teilnahmen. Zum ersten Mal sprach den Müttern der in den Kampfhandlungen getöteten Soldaten in diesem Rahmen mit General Lebed ein hoher Militär öffentlich das Beileid aus. Unter den internationalen Gästen nahm von deutscher Seite u.a. Helen Golombek vom Vorstand der Helsinki Citizens Assembly, Deutsche Sektion, teil. Im April sammelte eine internationale Delegation Informationen zur Situation im derzeitigen Kriegsgebiet. Barbara Gladysch von »Mütter für den Frieden« war die einzige deutsche Teilnehmerin. Gleichfalls vom April ist eine Vorlage für die Menschenrechtskommission in Genf unter dem Aspekt »Systematische Verletzung der Rechte und der Grundrechte von Bürgern der Russischen Föderation, welche zum Kriegsdienst einberufen sind und im inneren bewaffneten Konflikt eingesetzt werden«.

Darin wird festgestellt, „daß Rußland von den Prinzipien der Deklaration der Menschenrechte abweicht, indem es barbarische Akte gegen die eigene Bevölkerung begangen hat, (…) und zu solchen Taten junge Rekruten gezwungen hat, die (…) gezwungen wurden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen“; und „daß Rußland von den Prinzipien der Internationalen Charta der bürgerlichen und politischen Rechte abweicht, indem es massenhaft Verletzungen der unveräußerlichen Menschenrechte zugelassen hat, (…) die eigenen Bürger dem Tod oder dem Elend überantwortet und gröblich das Ideal der von Angst und Not freien Persönlichkeit verletzt hat“.

An anderer Stelle heißt es: „In der Militärgesetzgebung und im Strafgesetzbuch der RF ist kein effektiver Rechtsschutz von Rekruten vorgesehen, deren Rechte von Amtspersonen verletzt werden, welche zulassen:

  • ihre zwangsweise Kommandierung in das Gebiet eines nicht erklärten Krieges
  • Mißachtung ihres Lebens und Schändung ihrer Leichname und des Andenkens Verstorbener,Mißachtung ihrer Würde und ihres Rechtes, ihren Überzeugungen zu folgen.“

Abschließend wird in dem Dokument drauf hingewiesen, daß in dem unerklärten Krieg in Tschetschenien bisher 1.300 junge Wehrpflichtige getötet und 300 von der tschetschenischen Seite als Geißeln genommen wurden, über das Schicksal von weiteren 700 herrscht völlige Unklarheit. Der Bedeutung dieser Anklageschrift und der grundsätzlichen Ziele dieser Nichtregierungsorganisation wird man nicht gerecht, wenn man lediglich den nationalen Zusammenhang sieht. M.E. geht es nicht nur um katastrophale Mißstände und Mißachtungen der Menschen- und Bürgerrechte für die Soldaten und deren Angehörige in der Russischen Föderation. Die Frauen haben ein Tabu gebrochen, das keineswegs nur Rußland betrifft. Wird dieser Ansatz weitergedacht, so führt er zwangsläufig zu der Auseinandersetzung mit der Forderung, daß das Recht auf Frieden zu den Menschenrechten gezählt wird und Krieg demnach eine Menschenrechtsverletzung ist. Die Konsequenzen wären revolutionär.

Es bleibt zu hoffen, daß durch die Verleihung des Friedensnobelpreises die mutige und bahnbrechende Arbeit dieser Frauen geehrt wird.

Heide Schütz, Frauennetzwerk für Frieden e.V.