Vorwärts in Sachen Frieden?
Vorwärts in Sachen Frieden?
Interviews zur Koalitionsvereinbarung
von Bernhard Nolz
„Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert.„ Hat der Titel der Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen unter einer Friedensperspektive Bestand? Was sollten die Koalitionspolitiker/innen aus der Sicht von Friedenswissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern darüber hinaus bedenken, wenn sie an die Umsetzung der Vereinbarung gehen? Zu einigen Aspekten der Koalitionsvereinbarung sprach der Friedenspädagoge Bernhard Nolz für W&F mit Prof. Dr. Gert Sommer vom Forum Friedenspsychologie – BewußtSein für den Frieden, Oberstleutnant a.D. Lothar Liebsch vom Arbeitskreis Darmstädter Signal, Priv.-Doz. Dr. Johannes M. Becker vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Reiner Braun von der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit« und Prof. Dr. Wolfgang Popp von den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden.
Friedensaspekt Menschenrechtspolitik
W&F: Nur neun Zeilen der Koalitionsvereinbarung sind der Menschenrechtspolitik gewidmet.
Sommer: Das ist wenig, insbesondere in Anbetracht dessen, daß Menschenrechte in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der internationalen Politik geworden sind. Es ist begrüßenswert, daß sich die neue Regierung explizit auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bezieht und diese zu „Leitlinien für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung“ machen will. Entsprechend wird angekündigt, daß Menschenrechtsverletzungen international abgestimmt bekämpft sowie präventiv verhindert werden sollen. Es wird aber zu überprüfen sein, in welchem Ausmaß sich die Regierung an ihren eigenen Richtlinien orientieren wird oder ob sie, wie die Kohl-Regierung, hauptsächlich eine unverbindliche Menschenrechts-Rhetorik betreibt. Mit der gegen das Völkerrecht und gegen die deutsche Verfassung verstoßenden Militärdrohung gegen die Republik Jugoslawien ist bereits ein falscher Weg eingeschlagen worden.
W&F: Das Koalitionspapier läßt offen, von welchem Menschenrechtsverständnis die Regierungspartner ausgehen.
Sommer: Ein bedauerliches Defizit! Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte enthält nämlich zum einen die bürgerlichen Rechte wie das Recht auf Leben, das Verbot von Diskriminierung und Folter, aber eben auch die sozialen Rechte, wie z.B. das Recht auf Arbeit, den Schutz vor Arbeitslosigkeit, das Recht auf Nahrung, Kleidung, Wohnung und ärztliche Versorgung. Diese sog. zweite Generation der Menschenrechte wird von westlichen Regierungen leider allzugern »vergessen« oder – trotz aller UNO-Resolutionen – als zweitrangig abgetan. Für Deutschland und Westeuropa ist es aus der Menschenrechts-Perspektive wesentlich, daß z.B. das Recht auf Arbeit gewährleistet wird. Angesichts des weitreichenden Elends in der Welt wäre insbesondere die internationale Wirtschaft so zu gestalten, daß sie an menschlicher Entwicklung und ökologischer Erhaltung orientiert ist und nicht an kurzfristiger Gewinnmaximierung. Hier gibt es im Rahmen der UNO interessante Ansätze. Das Forum Menschenrechte und viele Menschenrechts-NG0s in Deutschland könnten wichtige Partner für die Bundesregierung bei einer zunehmenden Realisierung der Menschenrechte werden. Die Regierung darf diese Chancen nicht verspielen!
W&F: Die angekündigte Regierungsunterstützung für ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut in Deutschland werden Sie begrüßen.
Sommer: Natürlich, aber hier wäre besonders wichtig, daß dieses Institut interdisziplinär und zusammen mit Menschenrechtsorganisationen arbeitet und daß es auch Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und (West-)Europa intensiv erforscht. Leider wird bei Menschenrechtsverletzungen nur allzu häufig die Aufmerksamkeit auf die nicht-westlichen Länder gelenkt. Sie werden aber nicht nur dort verletzt! In der einzigen Weltmacht USA z.B. lebten in den letzten Jahren 30 Millionen Menschen zumindest für einige Monate unter der Armutsgrenze und die Menschenrechtsorganisation »Human Rights Watch« wies kürzlich darauf hin, daß der Einsatz von Polizeikräften in den USA von „weitreichender Brutalität“ insbesondere gegenüber ethnischen Minderheiten gekennzeichnet ist. Angesichts solcher Fakten ist der folgende Satz aus der USA-Passage in der Koalitionsvereinbarung mit erheblicher Skepsis zu betrachten: „Die enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen.“ Eine kritischere Distanz erscheint auch im Hinblick auf die Instrumentalisierung der UNO durch die USA notwendig.
Friedensaspekt Sicherheits- und Abrüstungspolitik
W&F: In der Sicherheitspolitik nicht Neues! Die Bundeswehr dient nach dem Willen der neuen Koalitionäre weiterhin „der Stabilität und dem Frieden in Europa„.
Liebsch: Politisches Ziel müßte die konsequente Verringerung aller Streitkräfte auf der Welt, also auch der Bundeswehr, sein, weil der Einsatz militärischer Mittel die denkbar schlechteste, teuerste und gefährlichste Möglichkeit ist, Konflikte zu lösen. Die Sicherheitspolitik muß wie jede Politik dem Wohl der Menschen dienen. Kriege und Kriegsdrohungen können diesem Anspruch nicht gerecht werden.
W&F: Die Bundesregierung will eine Wehrstrukturkommission einsetzen. Welche »Marschrichtung« sollte die einschlagen?
Liebsch: Die Arbeit der Wehrstrukturkommission muß von der Grundeinsicht geprägt sein, daß jeder Soldat auf dieser Welt ein Soldat zuviel ist. Ein erster Schritt wäre die Abschaffung der Wehrpflicht, d.h. die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee und ihre drastische Reduzierung auf ca. ein Drittel der jetzigen Stärke. Die Einführung eines sozialen Pflichtjahres oder andere Zwangsdienste lehnen wir als demokratie-unverträglich ab. Der Wehretat muß kontinuierlich abgesenkt und die vorhandenen Mittel dürfen nicht für Prestigeobjekte wie den Eurofighter verschleudert werden.
Ich erwarte, daß die Verteidigungspolitischen Richtlinien geändert werden. Streitkräfte sind grundsätzlich nur zur Landesverteidigung gerechtfertigt. Sie sollen nicht-angriffsfähig strukturiert sein, mit der Konsequenz, daß sich Kampfeinsätze der Bundeswehr gar nicht verwirklichen lassen.
W&F: Wie schon sein Vorgänger möchte sich auch Verteidigungsminister Scharping mit der Bundeswehr im (Umwelt-)Katastrophenmanagement profilieren.
Liebsch: Für zivile Aufgaben wie Katastrophen- oder Umweltschutz; Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit sind Streitkräfte wenig geeignet. Diese für die Lösung weltweiter Konflikte zweifellos wichtigen Aufgaben müssen von anderen Kräften bewältigt werden. Entsprechende Absichtserklärungen in der Koalitionsvereinbarung begrüße ich sehr.
W&F: Die Vereinbarung bleibt weit hinter dem zurück ,was als eine neue aktive Friedenspolitik bezeichnet werden könnte.
Becker: Als ich las, daß Scharping zur Bedingung seiner Amtsübernahme gemacht hatte, daß der »Wehretat« nicht angekratzt wird, wurde mir die ganze Traurigkeit rotgrüner Sicherheitspolitik rasch deutlich. Da steht nichts in der Koalitionsvereinbarung von einer wirksamen Reduzierung des .Militärhaushaltes. Da lese ich nichts von der Aufkündigung der von Rühe und der konservativen Koalition geplanten Beschaffungsvorhaben. Da finde ich keinen Hinweis auf den entschlossenen Willen, der Sicherheitspolitik durch verstärkte Forschung nach gewaltfreien Mitteln der Konfliktregelung eine neue Logik geben zu wollen – es sind keinerlei Visionen zu entdecken!
Ja, wenn die DASA, bleiben wir bei dem konkreten Projekt Eurofighter, mit astronomischen Regreßforderungen droht, dann soll die neue Regierung den Herren in Ottobrunn doch zumindest eindeutig klarmachen, daß der Eurofighter das letzte Waffensystem war, was sie verkauft haben an die Bundesregierung!
W&F: Die Grünen-Forderungen nach „Raus aus der NATO“ und „Auflösung der Militärblöcke“ scheinen genauso vergessen wie die noch nicht sehr alten SPD-Forderungen nach einer jährlichen Kürzung des Wehretats um zehn Prozent.
Becker: Das gesamte Ausmaß des Dilemmas wird besonders deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Forderung nach Bundeswehreinsätzen out of Area noch Anfang der 90-er Jahre in der christdemokratischen Fraktion eine Minderheitsposition war, heute aber von der neuen rotgrünen Regierung getragen wird.
W&F: Wenn bei SPD und Bündnis 90/Grünen jegliche Ansätze eines neuen Denkens in der Frieden und Sicherheitspolitik fehlen, hoffen Sie auf die PDS?
Becker: Man kann wirklich nur hoffen, daß zumindest die PDS ihre Parteitagsbeschlüsse nicht so rasch vergißt und der Regierung zusammen mit der Friedensbewegung und der Friedensforschung Druck von links macht.
Friedensaspekt Forschungspolitik
W&F: Wie beurteilen Sie die Aussage der Süddeutsche Zeitung, die über die geplante Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik von einem „langsamen Umsteuern des Wissenschaftstankers“ spricht?
Braun: Ich würde die Chancen für eine neue Politik höher einschätzen. Erstmals ist in einer Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene das Konzept Zukunftsfähigkeit die Grundlage politisches Handelns. Besonders deutlich wird diese Orientierung im Bereich Bildung-, Forschungs- und Wissenschaftspolitik: „Dazu gehört die Ausrichtung von Forschung und Innovation auf nachhaltige Entwicklung und Zukunftsfähigkeit … Leitprojekte auf interdisziplinärer Basis sollen gefördert werden, ein forschungspolitischer Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und weiteren gesellschaftlichen Akteuren eingeleitet werden„. Damit wären Nicht-Regierungsorganisationen erstmals mit im Boot! Wenn das, was auf dem Papier steht, Realität würde, hätten wir deutliche Veränderungen, es wäre mehr als ein Einstieg in eine zukunftsfähige Wissenschaft.
W&F: Es fällt auf, daß Aussagen zur Friedensforschung im Abschnitt Innovation und Bildung völlig fehlen, (sie sind allerdings unter OSZE erwähnt).
Braun: Notwendig scheint mir, daß die Friedensforschung – besonders auch die naturwissenschaftliche – angesichts der existierenden Probleme und Konflikte auf der Welt wieder den Stellenwert bekommt, den sie einmal unter Gustav Heinemann gehabt hat.
W&F: Die NaturwissenschaftlerInnen-Initiative hat in der Vergangenheit immer wieder die Dual-use-Thematik problematisiert.
Braun: Darüber steht im Regierungsprogramm kein Wort. Offensichtlich wird aber in großen Forschungsinstitutionen zunehmend Dual-use-Forschung betrieben. Aus meiner Sicht muß eine Militarisierung von Forschung und Entwicklung unbedingt verhindert werden. Das Ministerium müßte Initiativen entwickeln, daß die Zivilisierung von Forschung fortgesetzt und festgeschrieben werden kann.
W&F: Aus friedenswissenschaftlicher Perspektive machen doch einige aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft aktives politisches Handeln erforderlich.
Braun: Z.B. in der Biomedizin und in der Gentechnik, u.a. durch Klonen und Embrionen-Manipulation werden ethische Grenzen bedroht. Es scheint uns notwendig, hier auch juristische Barrieren zu ziehen, möglicherweise durch ein Moratorium. Besorgt sind wir auch über die unzureichenden Aussagen zum Forschungsreaktor in Garching FRM2. Notwendig ist aus unserer Sicht eine klare Absage an einen mit waffenfähigem Uran ausgerüsteten Reaktor.
Friedensaspekt Interkulturalität
W&F: Mit der kurzen Anmerkung „Dialog der Kulturen“ im Koalitionspapier soll wohl der in Europa und Nordamerika weit verbreiteten Theorie vom „Kampf der Kulturen“ eine Absage erteilt werden?
Popp: Diese Absicht kann man vermutlich den Verfassern unterstellen. Was aber dabei herausgekommen ist, ist die rotgrüne Variante eines diffusen deutschen Kultur-Imperialismus, der „Feindbilder zurückdrängen“ will. Notwendig wäre dagegen eine Kulturpolitik, durch die die Fähigkeit entwickelt wird, die eigene Lebensweise nicht zum Maßstab für andere zu machen und andere kulturelle Werte und Normen als gleichberechtigt gelten zu lassen.
Es ist fraglich, ob durch die Präsentation deutscher Kultur im Ausland und durch Programme deutscher Auslandssender der »Dialog der Kulturen« gefördert werden kann. Ins Reich der Träume gehört die Vorstellung, durch die „Förderung wirtschaftlicher Beziehungen“ die Mechanismen der Markwirtschaft, die sich z.B. in weltweiten rücksichtslosen Konkurrenzkämpfe um Märkte und Ressourcen äußern, zivilisieren zu können.
Interkulturelle Dialoge müssen eingebettet werden in die Entwicklung einer Kultur des Friedens. Dann können sie dazu beitragen, Diskriminierungen abzubauen, Solidarität zu entwickeln, Gleichheit zu verwirklichen und Partizipation zu ermöglichen.
W&F: Statt zusammenfassender Worte Auszüge aus einem Brief, den der Literaturnobelpreisträger Jose Saramago den Wahl-Siegern geschrieben hat.
„Freue Dich Linke, morgen schon wirst du weinen. Gründe fehlen Dir wahrlich nicht. Wegen der erdrückenden Flut von Neoliberalismen bewegst Du Dich rastlos umher, in die Mitte drängend und Deine Fahnen verbergend, orientierungslos und mit verwelkten Überzeugungen, ohne eine einzige zwingende Idee darüber, wie Du Dich verhalten solltest angesichts der Gewißheit, daß der Mandarin-Motor des geliebten Europa seit nunmehr 16 Jahren von konservativen, deutschen Köpfen geschmiert und regiert wurde, Dich darauf beschränkend, von Zeit zu Zeit abzuzeichnen an den Stellen, die man Dir dazu anwies.
Jetzt darfst Du schließlich Deine Hände gen Himmel recken und dem Heiligen Antonius der Vergeßlichen Dank sagen, denn diese Zeit ist nun vorbei. […]
Denkt die Linke schließlich, daß ihre Ideen – wenn es denn immer noch die gleichen sind – über Sozialismus und Sozialdemokratie vereinbar sind mit der vollkommenen Bewegungsfreiheit der Multis und der Finanzmärkte, die dem Staat lediglich Aufgaben in der aktuellen Verwaltung zugestehen und die Bürger zu bloßen Kunden und Konsumenten degradieren, deren Bedeutung sich daran bemißt, wieviel sie konsumieren und wie brav sie sich verhalten?„ (Freitag 46 v. 06.11.98)