Ruth Weiss

Ruth Weiss

Der Zeitzeugin und Friedensstifterin zum 100. Geburtstag

von Rita Schäfer

Der überzeugte Einsatz gegen Unrecht und für Frieden prägt das Leben von Ruth Weiss, die als Ruth Löwenthal am 26. Juli 1924 in Fürth geboren wurde. Deshalb ist ihr 100. Geburtstag ein Anlass, die engagierte Zeitzeugin zu porträtieren. Als Journalistin sowie Autorin von Sachbüchern und Romanen zur jüdischen Geschichte und zum südlichen Afrika erhielt sie internationale Anerkennung. Vor den Nazis musste ihre Familie nach Südafrika fliehen, dort prangerte Ruth Weiss Antisemitismus und Rassismus an und geriet in Konflikt mit dem Apartheidregime. Sie scheute auch nicht Kritik an nachkolonialen Eliten, wenn diese Menschenrechtsverbrechen begingen und Versprechen aus anti-kolonialen Kriegen nicht einhielten.

Die Kindheit von Ruth Weiss endete jäh, als die Nazis an die Macht kamen und der aggressive Antisemitismus im Großraum Nürnberg ihre Familie zur Flucht nach Südafrika zwang. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft in Johannesburg im Jahr 1936 wurde der wachsamen zwölfjährigen Ruth nach eigener Aussage klar, dass dort zusätzlich zu antisemitischen Vorurteilen ein ausgeprägter Rassismus gegen die schwarze Bevölkerung in der weißen Gesellschaft vorherrschte.1 Dies erläuterte sie in Interviews und Gesprächen, u.a. mit der Verfasserin dieses Textes. Weiße Frauen sollten keine Mitmenschlichkeit gegenüber ihren Hausangestellten zeigen, auch nicht gegenüber schwarzen Müttern mit Babys. Das würde die gesellschaftliche Ordnung stören, bekam Ruths Mutter rasch von ihren neuen Nachbarinnen zu hören. Ruth beschrieb die verstörenden Maßregelungen durch weiße, das soziale Umfeld kontrollierende Hausfrauen viele Jahre später anschaulich in ihrer Autobiographie »Wege im harten Gras« (2016). Schwarze Putzhilfen und Kindermädchen wurden schon vor der Einführung der Apartheid 1948 herablassend behandelt, ein Kulturschock für die geflohene jüdische Familie. Ruth thematisierte ihre frühen Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus in ihrem Jugendroman »Meine Schwester Sara« (2004) und in Sachbüchern, wie »Frauen gegen Apartheid« (1986), das sie dem von Apartheidgewalt geprägten Leben schwarzer Frauen im Widerstand widmete.

Rassismus im Alltag

Häufig musste Ruth auf ihrem Schulweg auch beobachten, wie Polizisten schwarze Männer auf dem Weg zur Arbeit schikanierten. Das hinterließ bei der Schülerin einen bleibenden Eindruck und verstärkte ihr Unrechtsbewusstsein. Als junge Frau, die ab 1944 u.a. als Buchhändlerin, Prokuristin und Wirtschaftsjournalistin arbeitete, erkannte Ruth: Das oft aggressive Kontrollieren von Ausweisdokumenten und Arbeitsbescheinigungen war in den Städten sehr verbreitet. Die weiße Minderheitenregierung wollte mit allen Mitteln den Zuzug vieler schwarzer Menschen in die neuen, prosperierenden Industriemetropolen verhindern. Deshalb erhielten nur junge und körperlich sehr belastbare Männer dort eine temporäre Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. In ihren Südafrikabüchern, etwa »Wir sind alle Südafrikaner« (1986), und in zahlreichen fundierten Zeitungsartikeln erläuterte Ruth Weiss historische und politische Hintergründe der ausbeuterischen Strukturen, auf denen das Wirtschaftswachstum in Südafrika basierte. Die Journalistin scheute insbesondere in den 1980er Jahren keine Kritik an deutschen Konzernen in der Bonner Bundesrepublik, die mit dem Apartheidregime und südafrikanischen Firmen gute Geschäfte machten.

Rassismus war eingeprägt in die frühere Siedlerkolonie am Kap der guten Hoffnung, die über mehrere Jahrhunderte von der Sklavenhaltung profitierte: Die ­Sklav*innen waren von der »Vereinigten Ostindischen Kompanie« vor allem aus der Inselwelt des Indischen Ozeans »importiert« worden. Auch die durch jahrelange brutale Grenzkriege unterworfene, ihres Landes beraubte und nahezu rechtlose schwarze Bevölkerung in der Kapkolonie wurde zur Farmarbeit bei Weißen gezwungen, schlecht behandelt und oft misshandelt, obwohl sie deren Besitz und Wohlstand erwirtschaftete. Unmenschliche Behandlung setzte sich mit der Industrialisierung und Urbanisierung ab Ende des 19. Jahrhunderts fort, fortan musste ein Großteil der Männer in oft unzureichend geschützten Gold- und Kohleminen arbeiten.

Ruth Weiss berichtete über die Misere der Arbeiter*innen in der aufstrebenden Industriemacht Südafrika. Wegen ihrer Kritik, die sie als Journalistin für die »Financial Mail« erhob, stufte das repressive Apartheidregime sie 1966 als persona non grata ein. Nach einem kurzen Zwischenstopp in London kam sie nach (Süd-)Rhodesien, wo sie das Büro der »Financial Mail« leitete. Wegen ihrer Kritik auch an der dortigen rassistischen weißen Siedlerregierung und deren Verstößen gegen UN-Sanktionen und Menschenrechte verwies die (süd-)rhodesische Regierung sie 1968 außer Landes. Das repressive Regime im damaligen Salisbury (ab 1980 Harare) führte bereits gegen anti-koloniale Unabhängigkeitsbewegungen Krieg. Wieder wurde London für Ruth Weiss zum Zwischenstopp, bevor sie 1971 für die »Times of Zambia« in Lusaka tätig wurde.

In Simbabwe nach Kriegsende

1982 kehrte sie in die neue Hauptstadt des kurz zuvor politisch unabhängig gewordenen Simbabwe, dem früheren (Süd-)Rhodesien, zurück. Nun arbeitete sie für die Ausbildung von Wirtschaftsjournalisten und den Aufbau von Medien, die ökonomische Themen in der ganzen Region bearbeiteten. Denn in Südafrika herrschte noch das Apartheidregime, das zerstörerische Grenzkriege in Nachbarländern wie Namibia führte und Mosambik destabilisierte. Ruth Weiss teilte also ihr Wissen über ökonomische, politische und historische Zusammenhänge und ihre jahrzehntelangen journalistischen Erfahrungen. Sie trug zum Aufbau eines professionellen Journalismus und zur kompetenten Berichterstattung im Nachkriegsland Simbabwe bei. Beides war bedeutsam für einen Neubeginn nach jahrzehntelangen militärischen Auseinandersetzungen und angesichts des Ausschlusses von schwarzen Menschen aus Bildung und Medien unter dem Siedlerregime sowie dessen Zensur und Propaganda.

In ihren Sachbüchern über das unabhängige Simbabwe widmete sich Ruth Weiss insbesondere dem Leben schwarzer Frauen – viele waren junge Ex-Kombattantinnen, die traditionelle und koloniale Rollenzuschreibungen durchbrachen und deshalb auf dem Land und in den Städten in der weiterhin patriarchalen Gesellschaft massiv kritisiert wurden. In »Die Frauen von Simbabwe« (2. Auflage 1985) schilderten Ex-Kämpferinnen sehr ehrlich ihre widersprüchlichen Kriegserfahrungen: einerseits die eigene Stärke als trainierte Kombattantinnen und andererseits den Mangel an grundlegender Versorgung, etwa keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, sowie die gravierenden Probleme von Schwangeren und jungen Müttern in den militärischen Lagern. Viele wurden nach dem Krieg von den Vätern ihrer Kinder verlassen und als alleinstehende Frauen öffentlich der Prostitution bezichtigt – eine Stigmatisierung, die auch in anderen Nachkriegsgesellschaften anzutreffen ist.

Um so mehr wertschätzte Ruth Weiss das beharrliche Engagement der früheren Unabhängigkeitskämpferinnen für Frauenrechte und Reformen des Familien-, Erb- und Landrechts. Bereits Mitte der 1980er Jahre unterstrich sie in ihrem Buch »Die Frauen von Simbabwe« (1985, S. 8ff.), wie notwendig der Einstellungs- und Verhaltenswandel militarisierter Männer für den Aufbau einer gerechten Nachkriegsgesellschaft sei, zumal die neue Regierung, die aus einer früheren Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen war, mit Versprechen zur Frauenemanzipation junge Mädchen für den Krieg mobilisiert hatte. An der Regierung unter Robert Mugabe übte Ruth Weiss schon früh Kritik, wenn es um schwere Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei sowie Defizite in der Demokratisierung ging, beispielhaft dafür ist das Buch »Zimbabwes Diktator« (2016).

Verhandlungen für ein Ende der Apartheid

Ab Ende der 1980er Jahre organisierte Ruth Weiss zusammen mit Moeletsi Mbeki, dem Bruder des späteren südafri­kanischen Präsidenten Thabo Mbeki, in einem Vorort von Harare zahlreiche geheime, vertrauensbildende Gespräche zwischen Vertretern der Apartheidregierung und Anti-Apartheidaktivisten. Diese Dialoge boten eine Basis für spätere offizielle Verhandlungen in Südafrika im Vorfeld der ersten demokratischen Wahlen, die Ende 1994, also vor 30 Jahren, stattfanden. Darüber schrieb Ruth in ihrer Publikation »Geteiltes Land. Krieg und Frieden im südlichen Afrika« (1997). Ruth Weiss hatte Nelson Mandela bereits 1960 kennengelernt und war mit vielen Widerstandskämpfern in Kontakt, die ins Exil nach Sambia oder London geflohen waren. Vertreter des Apartheidregimes kannte sie aus eigener Erfahrung in Südafrika. Über die großen Schwierigkeiten in Verhandlungen zu einer friedlichen Konfliktbeilegung berichtete sie in »Peace in their time. War and peace in Ireland and Southern Africa« (2000).

Am 28. April 2023 verlieh der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa Ruth Weiss in Pretoria den nationalen Orden »Companions of O.R. Tambo« für ihre Beiträge zur Überwindung der Apartheid. Bereits 2005 wurde sie als eine der 1.000 Friedensfrauen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Einsatz als Zeitzeugin und Ehrungen

In ihren späteren Lebensjahren setzte sie sich auch in Deutschland für ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion ein; zwischen 2002 und 2015 lebte sie in Nordrhein-Westfalen und berichtete als Zeitzeugin in vielen Schulen, kirchlichen Gemeindezentren und jüdischen Einrichtungen über ihr Leben und die Notwendigkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und jegliche Formen von Feindseligkeit aufzustehen. Am 12. Dezember 2014 – kurz nach dem internationalen Menschenrechtstag – erhielt Ruth Weiss das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Damit wurde sie für ihr jahrzehntelanges Engagement gegen Apartheid und Rassismus geehrt. Auch nach dem Umzug zu ihrem Sohn nach Dänemark 2015 wurde Ruth Weiss wiederholt von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen für Gespräche und Vorträge im gesamten Bundesgebiet eingeladen. Immer wieder betonte Ruth bei solchen Anlässen, ihre Aufgabe als Zeitzeugin sei es, daran zu erinnern, dass die Nazis keine anonyme Gruppe böser Männer waren, sondern gewöhnliche Deutsche. Am 27. Januar 2023, dem Holocaust-Gedenktag, sprach sie im Landtag Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.

Als Ehrenpräsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland erhielt sie 2022 den Ovid-Preis für ihre journalistische Arbeit und ihr schriftstellerisches Lebenswerk; dieses umfasste auch zahlreiche historische Romane, u.a. die mehrbändige jüdische Familiensaga »die Löws«, etliche Bände handelten in Deutschland. Der Ovid-Preis wurde Ruth Weiss im Schwurgerichtssaal 600 verliehen, dort hatten die Nürnberger Prozesse gegen führende Kriegsverbrecher des NS-Regimes stattgefunden – eine sinnbildliche Rückkehr an den Ort, aus dem sie vor vielen Jahrzehnten hatte flüchten müssen.

Zusätzliche Informationen zu Ruth Weiss, ihrem Lebenswerk und ihrer Arbeit finden sich unter: ruth-weiss-gesellschaft.de

Anmerkung

1) Zur Verdeutlichung, dass die Zuschreibung schwarz im Apartheidstaat Südafrika ein politisches und rassistisches Konstrukt war, wird das Wort in diesem Text hervorgehoben. Gender-Sternchen werden gesetzt, wenn mehrere Geschlechter gemeint sind. Aufgrund männlicher Dominanzen wird oft nur das Maskulinum verwendet, da es sich dann ausschließlich um Männer handelt.

Literatur

Weiss, R. (1985): Die Frauen von Simbabwe. 2. Auflage, München: Frauenbuchverlag.

Weiss, R. (1986): Frauen gegen Apartheid. 2. Auflage, Reinbek: Rowohlt Verlag.

Weiss, R. (1986): Wir sind alle Südafrikaner. Hamburg: E.B. Verlag Rissen.

Weiss, R. (1997): Geteiltes Land. Krieg und Frieden im südlichen Afrika. Hamburg: E.B. Verlag.

Weiss, R. (2000): Peace in their time. War and peace in Ireland and Southern Africa. London: I.B. Tauris.

Weiss, R. (2004): Meine Schwester Sara, Jugendroman. München: dtv.

Weiss, R. (2016): Zimbabwes Diktator. Lich: Edition AV.

Weiss, R. (2016): Wege im harten Gras. Autobiographie. Lich: Edition AV.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Afrikawissenschaftlerin mit Fokus auf Südafrika. Zu ihren Publikationen zählt das Buch: Migration und Neuanfang in Süd­afrika (2019, Frankfurt a.M.: Brandes und Apsel).

Wiesbadener Erinnerung

Wiesbadener Erinnerung

Eine neue Debatte über Atomwaffen

von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Angelika Claußen, Ulrich Gottstein, Volker Jung und Michael Karg

Vor siebzig Jahren trafen in Wiesbaden Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn und Werner Heisenberg, Martin Niemöller, Otto Dibelius und Helmut Gollwitzer zu einem theologisch-physikalischen Spitzengespräch zusammen. Sie sprachen unter dem Eindruck der Zündung der ersten Wasserstoffbombe und suchten nach Impulsen für Friedensbewegung und Sicherheitspolitik. In Erinnerung an dieses Gespräch und vor dem Hintergrund weitgehend ausgesetzter atomarer Rüstungskontrolle, neuer Atombewaffnungs-Debatten und nuklearer Eskalationsgefahren intervenieren die Autor*innen mit vier Initiativvorschlägen. W&F dokumentiert im Folgenden die »Wiesbadener Erinnerung: Es gibt keine Sicherheit mit nuklearen Massenvernichtungsmitteln«.

Es mehren sich Stimmen, die eine mögliche atomare Bewaffnung Deutschlands oder unter Beteiligung Deutschlands in Betracht ziehen.

Wir erinnern an einen bislang verborgenen Anfang der Atomdebatten, an erzielte Erkenntnisse und an erreichte Erfolge.

Wir benennen, welche Optionen Deutschland hat, seine Sicherheit zu erhöhen.

Wir fragen, braucht Deutschland eine dritte Welle in der Debatte um Atomwaffen?

Der verborgene Beginn – Begegnung Naturwissenschaft und Theologie

Vor 70 Jahren, am 9. Juni 1954, zwölf Wochen nach dem Zünden der größten amerikanischen Wasserstoffbombe im Bikini-Atoll, kommen in Wiesbaden drei Theologen und drei Atomphysiker zu einem vertraulichen Austausch zusammen: EKD-Ratsvorsitzender Otto Dibelius, Theologie-Professor Helmut Gollwitzer, EKHN-Kirchenpräsident Martin Niemöller und Otto Hahn, Chemienobelpreisträger, Werner Heisenberg, Physiknobelpreisträger, sowie der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker.

Eingeladen hatte Martin Niemöller. Als die sechs auseinandergehen, hat Niemöller, der Pastor und ehemalige Offizier, die Erkenntnis gewonnen: Nukleare Waffen sind keine Waffe, sondern ein Massenvernichtungsmittel. Es gibt keinen Zweck, der damit noch erreichbar wäre. Diese Erkenntnis verstärkt sich auch bei den Wissenschaftlern, ihre Begegnung mit den Ethikern von der evangelischen Kirche hat richtungsweisende Folgen.

Gar nicht erst anfangen – »Kampf dem Atomtod« 1957-1959

Anfang April 1957 verlautbart Bundeskanzler Adenauer, die „taktischen Atomwaffen [seien] nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“. Dagegen wenden sich bereits eine Woche später, am 12. April 1957, 18 Atomphysiker mit dem »Göttinger Manifest«. Sie erklären u.a.: Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“

Sie geben den Anstoß für die Kampagne »Kampf dem Atomtod« mit 1,7 Millionen Menschen auf der Straße, mit Streiks in den Betrieben und hunderten Veranstaltungen landauf, landab.

Kirchenpräsident Martin Niemöller ist einer der Erstunterzeichner der Erklärung, die am 10. März 1958 unter dem Titel »Kampf dem Atomtod« veröffentlicht wird. Er erreicht, dass als letzter Satz aufgenommen wird: „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht.“

Die Bewegung, zu der sich neben DGB, SPD, FDP auch Vertreter der EKD und viele weitere bekennen, hat Erfolg: Die Bundesrepublik verzichtet auf eine atomare Bewaffnung. Deutschland ist damit jedoch nicht frei von Atomwaffen, denn hier lagern Atomsprengköpfe der USA. Das Thema bleibt also präsent, deshalb formiert sich eine zweite Friedensbewegung.

Abrüstung ist möglich – »Keine Atomraketen in Europa« 1980-1983

1979 plant die NATO, im Rahmen eines »Doppelbeschlusses« (Verhandeln und Aufrüsten), neue atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Darauf reagiert die Friedensbewegung am 16. November 1980 mit dem »Krefelder Appell«. Die Grundlage dafür legt erneut ein Physiker mit seinem Stab, Carl Friedrich von Weizsäcker. In der Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« äußert er sich auch militärstrategisch und politisch: „Wir haben keine hinreichende Aussicht, einen Krieg auszuhalten, ja nur zu überleben; wir sind darauf angewiesen, ihn zu verhindern […]. In einer solchen Lage hat die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle.“

Wieder ist Martin Niemöller einer der Mitinitiatoren und Erstunterzeichner. Über vier Millionen Menschen unterschreiben den Appell, Hunderttausende gehen auf die Straße und bilden Menschenketten. Die Hofgarten-Kundgebungen in Bonn sind die Höhepunkte. Die neuen Raketen werden dennoch aufgestellt. Die Bundesregierung setzt ihren »Doppelbeschluss« aus Dislozieren und Verhandeln um. Im Ergebnis werden ab 1987 2.692 Atomraketen in Ost und West abgezogen und komplett verschrottet, überwacht durch ca. tausend wechselseitige Vorort-Kontrollen, geregelt im INF-Vertrag zur Abrüstung aller Mittelstreckenraketen in Europa. Mehrere Verträge zur Begrenzung und zum Rückbau von Atomwaffen folgen.

Und heute…?

Der INF-Vertrag ist gekündigt, obwohl er 1987 auf unbeschränkte Dauer geschlossen wurde. Gekündigt sind auch der Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM) und der Vertrag über den Offenen Himmel (»Open Skies«). Der New-START-Vertrag über die strategischen Atom-Potentiale ist außer Kraft gesetzt, der Umfassende Atomteststoppvertrag (CTBT) ist noch nicht in Kraft getreten. Die Rüstungskontrolle ist somit weithin ausgesetzt. Derzeit wachsen die politischen und militärischen Spannungen. Zeitgleich könnte die Verbindung zwischen Europa und den USA brüchiger werden.

Angesichts dieser Entwicklungen plädieren manche wieder für eine deutsch-europäische Atom-Aufrüstung, nun sogar mit Hyperschall-Trägersystemen, die die Vorwarn- und damit auch mögliche Deeskalationszeiträume minimieren. Diejenigen, die dies fordern, sprechen wie Adenauer seinerzeit für eine deutsche Verfügung über Atomwaffen mithilfe neuester Waffentechnologie. Doch es gilt wie damals: Je »kleiner« die Atomwaffen, umso höher ist ihre Einsatz-Wahrscheinlichkeit, umso größer ist die Kriegsgefahr.

70 Jahre nach dem Wiesbadener Atomgespräch stellen wir deshalb fest:

  • Nukleare Massenvernichtungsmittel gefährden das Leben auf dieser Erde.
  • Deutschland braucht eine dritte Aufklärungswelle in der Debatte um Atomwaffen!

Was kann Deutschland konkret tun – statt atomar aufzurüsten?

(1) Deutschland kann die Atomwaffenstaaten nachdrücklich daran erinnern, ihre im gültigen Atomwaffensperrvertrag von 1970 eingegangene „Absicht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Beendigung des nuklearen Wettrüstens herbeizuführen und auf die nukleare Abrüstung gerichtete wirksame Maßnahmen zu ergreifen“ nun auch umzusetzen und die ausgesetzten atomaren Rüstungskontrollverträge in neuen Verhandlungen wieder aufzunehmen.1

(2) Deutschland kann mit den NATO-­Verbündeten einen Fahrplan erarbeiten mit dem Ziel, die nukleare Teilhabe zu beenden.

(3) Deutschland kann dem 2021 in Kraft getretenen Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beitreten. Damit würde Deutschland bestätigen, keine Nuklearwaffen zu besitzen und auf seinem Territorium zuzulassen.

(4) Deutschland kann sich für eine gesamt­europäische atomwaffenfreie Zone einsetzen, die Russland einbindet.2

Wir bitten die Bundesregierung, diese vier Initiativen zu ergreifen. Die Öffentlichkeit, Wissenschaft, Medien, Politik, Zivilgesellschaft bitten wir, diese Initiativ-Möglichkeiten begleitend genau zu prüfen und breit zu erörtern.

Wiesbaden, 29. Mai 2024

Unterzeichnende:

Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Pfarrer; Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Professor für Umweltforschung und Dipl. Physiker; Club of Rome

Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin; Präsidentin der IPPNW Europa (International Physicians for the Prevention of Nuclear War)

Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein, Internist; Ehrenvorstands- und Gründungs-Mitglied der Deutschen Sektion der IPPNW

Michael Karg, Pfarrer; Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung

Weitere Informationen zur Wiesbadener Erklärung: martin-niemoeller-stiftung.de

Anmerkungen

1) Offizielle Atomwaffenstaaten sind die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Inoffiziell gehören Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea dazu.

2) Deutschland hat hierfür bereits eine Vorleistung erbracht: Die neuen Bundesländer einschließlich Berlin sind durch den Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990 bereits eine völkerrechtsverbindliche Atomwaffen-freie Zone.

Das „Patriarchat abbauen“

Das „Patriarchat abbauen“

Eine Reflexion über die »Neue Agenda für den Frieden«

von Liliane Nkunzimana

Anlässlich des 75. Jahrestags der Vereinten Nationen im Jahr 2020 forderten die Mitgliedstaaten vom Generalsekretär einen Bericht an, der aktuelle und künftige Bedürfnisse adressieren sollte. Als Antwort enthielt der Bericht »Our Common Agenda« fast 100 Empfehlungen (und 11 Kurzdossiers), die auf die Anliegen der Mitgliedstaaten eingingen. In einem der elf Kurzdossiers wird eine »Neue Agenda für den Frieden« gefordert, in der der Generalsekretär feststellt: „Wir müssen das Patriarchat und unterdrückende Machtstrukturen abschaffen…“.

Diese Aufforderung des Generalsekretärs stand nun schon im Mittelpunkt einer Reihe von Überlegungen, da das Strategiepapier nicht sehr detailliert darauf eingeht, was mit »Abbau des Patriarchats« gemeint ist. Es hat denjenigen, die mit dem UN-System zu tun haben, die Möglichkeit eröffnet, Analysen anzubieten. Einige Diskussionen der letzten Monate bei den Vereinten Nationen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie wir das Patriarchat definieren und wie wir achtsame und notwendige Diskussionen führen können, die jedes Mitglied der Gesellschaft dazu ermutigen, auszudrücken, wie sich das Patriarchat als unterdrückende Machtstruktur negativ auf Männer und Frauen auswirkt.

Der Aufruf des Generalsekretärs, das Patriarchat zu überwinden, ist eine Anerkennung der gewaltigen Anstrengungen, die notwendig sein werden, um Denk-, Lebens- und Handlungsweisen zu überwinden, die auf Kontrolle und Privilegien beruhen und das Vertrauen untergraben haben – auch in die Fähigkeit des multilateralen Systems, angemessen auf die Bedürfnisse aller Menschen auf der Welt zu reagieren. Keine Gesellschaft kann als Vorbild für die Gleichstellung der Geschlechter gelten; wir leben noch nicht in einer Welt, in der Eingenschaften wie gegenseitiger Respekt, Kooperation, Zusammenarbeit, Fürsorge, Sorge um die Zukunft und Mitgefühl im Zentrum des Diskurses über die Verbesserung der Beziehungen untereinander und mit dem Planeten stehen. Diese Werte werden durch den Ruf des Generalsekretärs nach Vertrauen, Solidarität und Universalität in der »Neuen Agenda für den Frieden« ergänzt.

Obwohl das Wort »Patriarchat« selbst umstritten ist, charakterisieren Normen der Dominanz sowie besitzergreifende und ausgrenzende Formen der Macht, die herkömmlich damit verbunden sind, weiterhin zahlreiche Gesellschaften. Männlichkeit und Männer werden weiterhin als wertvoller angesehen als Weiblichkeit und Frauen, was ersteren Privilegien einräumt, die letzteren verwehrt bleiben. Diese Machtasymmetrie drückt sich häufig im Agenda Setting, bei der Entscheidungsfindung, der Versammlungsleitung und -einberufung und sogar in versteckten Formen von Einflussstrukturen aus, die die Beziehungen zwischen Institutionen und dem Einzelnen regulieren.

Wenn diejenigen Werte in den Mittelpunkt rücken, die in der »Neuen Agenda für den Frieden« verankert sind, trägt dies von sich aus zum Ziel bei, das Patriarchat und Formen der Hierarchie zu überwinden, die einer Minderheit von Völkern, Nationen und Regionen das selbstgegebene Privileg einräumen, folgenreiche Entscheidungen für die Mehrheit treffen zu können. Die Zentrierung solcher Werte könnte eine stärkere Regionalisierung und Lokalisierung von peacebuilding, Friedenssicherung und friedenserzwingenden Maßnahmen ermöglichen und die Bedenken bestimmter Staatenblöcke verringern, was die Finanzierung regionaler Friedensbemühungen angeht. Dies würde den Weg für ein größeres Maß an Vertrauen durch verstärkte Zusammenarbeit ebnen und regionale Blöcke in die Lage versetzen, besser abgestimmte Beiträge zu internationalen Agenda-Setting-Vorhaben zu leisten.

Da der »Zukunftsgipfel« (eine weitere der oben genannten Empfehlungen) nur noch sieben Monate entfernt ist, verhandeln die Mitgliedstaaten derzeit über einen ersten Entwurf des »Pakts für die Zukunft«, dem Ergebnisdokument dieses Gipfels. Es ist anzumerken, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Wahrung der Menschenrechte in dem Dokument gemainstreamed werden und nicht als separate Kapitel behandelt werden.

Aufgrund der globalen Rahmenbedingungen müssen wir heute einen konzeptionellen Rahmen entwickeln, der unsere höchsten Bestrebungen besser widerspiegelt. Wenn wir die obigen Werte bei der Analyse, Planung, Beratung, Politikgestaltung und im Handeln fokussieren, könnten die normativen Fragen im Zusammenhang mit der Verteilung von Macht und finanziellen Ressourcen, den Ursachen von Kriegen und gewaltsamen Konflikten und den Voraussetzungen, die für die Schaffung und Aufrechterhaltung friedlicher Gesellschaften erforderlich sind, sehr wohl neugestaltet werden. Wir können uns dann auf die Verwirklichung des Friedensversprechens zubewegen, das den internationalen Bestrebungen zugrunde liegt. Wir können beginnen ein ganzheitlicheres Friedenskonzept zu formulieren, das nicht nur auf der Ausrottung des Krieges fußt, sondern auf dem Aufbau einer in ihrer Vielfalt geeinten Welt, die in Harmonie mit der Natur lebt und kontinuierliches Lernen fördert, in der die Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen verwirklicht wird – und das Patriarchat abgebaut ist.

Liliane Nkunzimana ist die Vertreterin der Internationalen Gemeinschaft der Baha‘i bei den Vereinten Nationen.

Von 1983 bis heute

Von 1983 bis heute

Impulse aus einem wissenschaftshistorischen Dialog

mit Eva Senghaas-Knobloch und Jürgen Altmann

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum von W&F wurde kein Festvortrag gehalten. Stattdessen unterhielten sich mit Prof. Dr. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) und PD Dr. Jürgen Altmann (Dortmund) zwei profilierte Kenner*innen der Entwicklung der akademischen Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Friedensbewegung auf dem Podium über ihre ganz persönlichen Geschichten von 1983 bis heute. Um die Szene zu setzen, wurde vor dem Gespräch ein kurzer Zusammenschnitt eines Tagesschau-Berichts vom 22. Oktober 1983 gezeigt: Menschenkette über die Schwäbische Alb gegen die Pershing-II-Stationierung, Demonstration im Bonner Hofgarten zum Nachrüstungsbeschluss u.a. Dies ist ein nachbearbeitetes Transkript des Gespräches, das von W&F Vorstandsmitglied Dr. Michaela Zöhrer moderiert wurde.

Michaela Zöhrer (Moderation): Ich würde gerne im Jahr 1983 starten, in dem Jahr also, aus dem wir gerade beeindruckende Bilder von Massenprotesten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden gesehen haben. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was hat euch damals bewegt, was ihr auch den Jüngeren unter uns mit auf den Weg geben wollt?

Jürgen Altmann: Ja, 1983. Bei mir hat Gesellschaftskritik deutlich früher angefangen. Als ich 1970 zum 3. Semester des Physikstudiums nach Hamburg kam, war die Ur-Achtundsechziger-Geschichte schon in vollem Gang, zunächst in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, dann auch in der Physik. Mich hat es in die linke Ecke verschlagen. Mit vielen anderen habe ich bei Studienreformen mitgemacht, z.B. Orientierungseinheiten für Erstsemester mitgegründet, in Fachschaft und Fachbereichsrat mitgearbeitet. Dabei hat die Friedensfrage eher am Rande eine Rolle gespielt. Das hat sich dann später geändert, als nämlich die neue Friedensbewegung bundesweit anfing. Da waren wir in der Naturwissenschaft zunächst Nachzügler*innen. Wir haben das Problem erst eine Weile nicht so richtig verstanden, aber dann ging es los, speziell bei uns in der Physik in Marburg (wo ich seit 1980 war): uns zu fragen, wenn jetzt hier über die sogenannte Nachrüstung diskutiert wird, in Westeuropa nukleare Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen zu stationieren, um ein Gegengewicht zu haben gegen die SS-20 in der Sowjetunion, hat das etwas mit Physik zu tun? Natürlich sind die Atombomben von Leuten aus der Physik erforscht und zum Funktionieren gebracht worden. Aber hatte das auch heute noch eine Bewandtnis? Dazu haben wir 1981 ein Seminar veranstaltet, »Physik und Rüstung«, und daraus auch ein Buch gestaltet im Selbstverlag, das gut 12.000 mal in Deutschland verbreitet wurde. Dabei haben wir gemerkt, dass auch die aktuelle Aufrüstung noch viel mit Physik zu tun hatte. Wir haben uns einerseits mit den Techniken der verschiedenen Waffensysteme beschäftigt und uns andererseits an die allgemeine Friedensbewegung angeschlossen, an Demonstrationen in Bonn teilgenommen usw. Es gab eine große Bewegung in der Naturwissenschaft in Deutschland, mit Dutzenden von Naturwissenschaftler*innen-Friedensgruppen, Ringvorlesungen, überörtlichen Vereinigungen und großen Kongressen. Daran hatten wir – auch durch dieses Buch – einen erheblichen Anteil.

Eva Senghaas-Knobloch: 1983 war auch das Jahr, das das Ende der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) bedeutete, aufgrund einer zunehmenden Gegnerschaft in den Kreisen der CDU/CSU – innenpolitisch gegen die Orientierung auf Konfliktanalyse, außenpolitisch gegen die Entspannungspolitik – ausgehend von Baden-Württemberg und Bayern. Die DGFK war ein innovatives Bund-Länder-Vorhaben der damaligen sozialliberalen Koalition, das meines Erachtens nur noch mit dem »Humanisierung des Arbeitslebens«-Programm vergleichbar war. Es verfolgte die Idee, auch gesellschaftliche Kräfte bei neuen gesellschaftspolitisch relevanten Forschungsfragen einzubeziehen, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Konfessionen, neben den Wissenschaften und Parteien. Während so in einem Kuratorium übergreifende Fragen behandelt wurden, entschied eine kleine Kommission über konkrete Forschungsförderung. Daneben gab es ein Konzil der Friedensforscher und Friedensforscherinnen; wir hatten noch eine Initiative zur Beachtung besonders drängender Fragen initiiert. Das hat aber am Ende nichts genutzt, weil der Austritt wichtiger Länder aus der Bund-Länder-Konstruktion das Aus bedeutete.

Was mich selbst anbetrifft, habe ich mich erinnert an eine APUZ-Beilage der Bundeszentrale für politische Bildung von 1970. Da waren Carl Friedrich von Weizsäcker und ich mit Beiträgen vertreten; er schrieb über die nukleare Abschreckung, vor allem mit Blick auf physikalische Zusammenhänge. Es ging ihm um »Damage Assessment«, also die Abschätzung der Zerstörungen bei einem Einsatz von Nuklearwaffen. Und ich hatte über internationale Organisationen geschrieben. Das waren ziemlich gegensätzliche Blickweisen auf Konflikte in den internationalen Beziehungen. Obwohl er vieles über Schäden und Nichtverteidigungsfähigkeit im Detail ausgeführt hatte; Weizsäcker hat nukleare Abschreckung weiterhin befürwortet: Es ginge nicht anders, wir müssten jetzt noch diese Abschreckung im Sinne der Abhaltung von Angriffen leider weiterhin haben. Ich habe demgegenüber versucht zu betonen: Welche Möglichkeiten bestehen zur Verbindung zwischen den Staaten? Wie kann man Brücken bilden? Und welche Probleme und Konflikte tauchen dabei auf? Das war 1970.

In den 1980er Jahren, beginnend in den 1970er Jahren, war aber das Kapitel Ost-West-Konflikt schon komplementiert durch die Nord-Süd-Konfliktlage. Es gab den Anspruch des Globalen Südens, wie wir heute sagen würden, auf eine »Neue Weltwirtschaftsordnung«. Zugleich gab es real eine neue internationale Arbeitsteilung, die im Grunde genommen eine neokoloniale Arbeitsteilung war: Austausch von Rohstoffen gegen Fertigprodukte und Nutzung billiger Arbeitskräfte für Vorprodukte. Man weiß inzwischen, dass das kein Entwicklungsprojekt ist.

Michaela Zöhrer: Ich hake mal kurz bei dir, Jürgen, nach: Ich habe dich so verstanden, dass bei dir diese Phase Anfang der 1980er Jahre – also das Entstehen oder das Aufkommen der neuen Friedensbewegung – auch entscheidend war für deine Auseinandersetzung mit friedenswissenschaftlichen Fragestellungen als Physiker. Habe ich dich richtig verstanden?

Jürgen Altmann: Ja, friedenswissenschaftlich in dem Sinne, dass man selbst forscht und sich nicht nur zu eigen macht, was im Wesentlichen einige wenige aktive Kollegen – Kolleginnen gab es nicht viele – in den USA herausgefunden und dann auch aufklärend an die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ist zu nennen die Bewegung gegen die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in den USA. Dabei haben Leute wie Richard Garwin und Hans Bethe, die beide am Manhattan-Projekt beteiligt gewesen waren, in den späten 1960 Jahren versucht, die US-Öffentlichkeit aufzuklären, dass Abwehrsysteme zwar defensiv klingen, aber eine Menge Probleme mit sich bringen: Zündung nuklearer Explosionen im eigenen Land, leichte Umgehung durch Aufbau von mehr Raketen. Auch in den 1980er Jahren gab es von einigen US-Kollegen Veröffentlichungen, zum Beispiel dazu, wie ein Marschflugkörper gelenkt wird. Solche Analysen haben wir uns erarbeitet oder nachgearbeitet und in dem Buch veröffentlicht.

1984 ging meine Höchstbefristungsdauer in Marburg zu Ende. Wir hatten die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll sein kann, sich in der Physik mit neuer Rüstungstechnik und ihren Problemen zu beschäftigen und auch mit den Möglichkeiten, sie zu begrenzen. Ich habe mich gefragt: Es kann doch kein Naturgesetz sein, dass solche Rüstungstechnik-kritischen Artikel nur in den USA geschrieben werden. Können wir das nicht auch? Dann kam ein Ein-Jahres-Stipendienprogramm der Volkswagenstiftung zu Fragen der Rüstungskontrolle. Ermuntert wurden auch Personen aus Disziplinen, die traditionell nichts mit Rüstungskontrolle zu tun haben. Dort haben sich zwei Physiker aus Marburg beworben, Jürgen Scheffran und ich, und wurden sofort genommen. Wir haben ein Jahr lang unsere Projekte bearbeitet (meins ging um Laserwaffen im Weltraum) und wurden mehr oder weniger ermuntert, das in anderer Form und systematischer weiterzuführen. Das war der Beginn meiner professionellen Forschung zu Militärtechnikfolgenabschätzung und präventiver Rüstungskontrolle.

Michaela Zöhrer: Eva, du hast erwähnt, dass 1983 nicht nur ein Jahr mit einem Hoch für die Friedensbewegung war, sondern in vielerlei Hinsicht gleichzeitig einen Rückschlag für die damals ja ohnehin nur prekär institutionalisierte Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland darstellte. Wie hast du alle diese Jahre auch für dich persönlich erlebt? Vielleicht magst du dich nochmal ein bisschen zurückerinnern, als eine in dem Moment ja schon zum Frieden forschende Sozialwissenschaftlerin. Waren diese Jahre für dich besonders einschneidend, bewegend auf eine Art und Weise?

Eva Senghaas-Knobloch: Die große Demonstration 1983 war natürlich bewegend. Die Einschätzung, die hinter der Bewegung stand, war aber umstritten in der Friedensforschung – anders als in der Friedensbewegung, die ja zum Teil unmittelbar einen Erstschlag befürchtete. Ich erinnere mich noch an die Stirnbinden: „Angst!“ Das erschien mir persönlich schwierig nachzuvollziehen. Wir hatten selbstverständlich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung alle Einschätzungen und Fragen aufgegriffen und streitbar diskutiert. Ich war sehr beeindruckt davon, dass so viele Menschen sich organisieren. Und gleichzeitig war ich nicht überzeugt davon, was die erklärte Angst angetrieben hat. Ich meine, dass sich dahinter eine ganze Reihe verschieden motivierter Ängste gebündelt hat. Es war ja eine hoch krisenreiche Zeit, die sicherlich dieses starke Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch die sogenannte Nachrüstung mit angefeuert hat: außenpolitisch amerikanische Geiselkrise im Iran, militärische Intervention der UdSSR in Afghanistan. Beruflich hatte ich mit anderen Themen zu tun, war aber viel unterwegs, um Klärungen zu versuchen und nukleare Abrüstung zu thematisieren, denn nukleare Waffensysteme sind nicht Waffen, mit denen man im herkömmlichen Sinn umgehen kann. Und doch gab es schon seit Ende der 1950er/1960er Jahre bei den Nuklearmächten nukleare Kriegsführungsoptionen. Die darauf resultierende Bedrohungslage war immer aktuell.

Jürgen Altmann: Die grundsätzliche Bedrohung war uns klar, zumindest nachdem wir aufmerksamer geworden waren auf das Atomwaffenproblem. Aber es gab auch spezielle Fragen: Kann die Pershing-II Moskau erreichen oder nicht? So dass also mögliche Erstschlagsbefürchtungen auf östlicher Seite vielleicht doch berechtigt wären? Und wie ist das mit der SS-20? Wir haben schon gesehen, dass die Vorwarnzeiten, wenn man über 2.000 Kilometer schießt, vielleicht fünf Minuten sind. Das ist anders als bei den langreichweitigen Raketen, die von den USA über die Arktis in die Sowjetunion fliegen oder umgekehrt. Die brauchen um die 35 Minuten, von U-Booten in vorderen Stationen vielleicht zehn Minuten. Da besteht ein Grundsatzproblem: Wie entscheidet man, wenn ein Angriff gemeldet wird? Ist der echt? Und muss ich meine Raketen schon starten, bevor sie am Boden zerstört werden durch die gerade ankommenden gegnerischen? Das bringt die Gefahr des »Atomkriegs aus Versehen«, wenn ein Fehlalarm nicht als solcher erkannt wird und man den Atomkrieg auslöst, den man eigentlich vermeiden möchte.

Diese generellen Fragen waren uns im Kopf. Ja, aber es gab schon die allgemeine Befürchtung, dass der neue Aufrüstungszyklus das Ganze schlimmer macht. In der professionellen Friedensforschung wird man ein bisschen nüchterner, obwohl es um den Untergang der Zivilisation geht und um das potenzielle Umbringen großer Teile der Weltbevölkerung.

Michaela Zöhrer: Ich mag das Wort zwar nicht, aber es wurde 1983 durchaus postuliert, dass die Friedensbewegung seinerzeit gescheitert ist, an dem Punkt, dass die Stationierung auf westdeutschem Boden nicht verhindert werden konnte.

Wenn wir ein wenig in der Zeit voranschreiten und auf das Ende der 1980er Jahre bis hin zum großen Umbruch 89/90 blicken: Beim heutigen Symposium hat schon jemand drauf hingewiesen, dass 1990 im Raum stand, ob die Frage von Krieg und Frieden überhaupt noch relevant sei. Wie habt ihr diese Jahre des Umbruchs und der Wende erlebt? Was hat das mit der Friedenswissenschaft und mit euch als Wissenschaftler*innen gemacht?

Eva Senghaas-Knobloch: Wenn ich noch einmal kurz zurück darf, ich möchte gern unterstreichen: Am Anfang der nuklearen Militärdoktrinen war es schon sehr wichtig, dass sich die Naturwissenschaftler sehr stark geäußert haben. Wenn man bis in die 1950er Jahre zurückdenkt, als Adenauer sogenannte taktische Nuklearwaffen für eine bessere Artillerie hielt, spielte Carl Friedrich von Weizsäcker eine große Rolle bei den 18 Nuklearphysikern, die sich in der »Göttinger Erklärung« scharf dagegen verwahrt hatten. Später, mit Wurzeln in den 1970er Jahren, bzw. noch weiter zurück, haben sich im Westen vielfältige emanzipative, oft antikapitalistische Bewegungen gebildet, so auch die vielstimmige Frauen- und Frauenfriedensbewegung. Und in den osteuropäischen und zentraleuropäischen Ländern entstanden – unter sehr repressiven Bedingungen – dissidentische Bewegungen, Bürgerrechtsbewegungen, um sich zu befreien von der Umarmung durch eine Sowjetunion, die die Luft zu mehr Eigenständigkeit, Freiheit, Demokratie geraubt hatte. Dazu gehörten z.B. in Polen die breite Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, in der UdSSR unter anderem der Nuklearphysiker (1955 befasst mit der Wasserstoffbombe) Andrej Sacharow und Jelena Bonner. Nicht nur in der DDR waren unter den kritischen Schriftsteller*innen und Dissident*innen die Themen Frieden und Umwelt von großer Bedeutung. Und in der Tschechoslowakei nannte sich die Prager Dissidentenbewegung »Charta 77«; der Name bezog sich auf die Schlussakte des blockübergreifenden Konferenzprozesses in Helsinki zum Thema »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« im Jahr 1975. In der Schlussakte war die Verstetigung zu den folgenden Themen vorgesehen: 1. Vertrauensbildende Maßnahmen, Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, 2. Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Umwelt, 3. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. In Kapitel VII der Schlussakte ging es um „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“, genau das war für die Dissidenten und Dissidentinnen im politischen Osten zentral. In den westlichen Friedensbewegungen bemühten sich aber nur wenige, besonders der überkonfessionelle Rat der Kirchen in den Niederlanden, darum, gleichermaßen für nukleare Abrüstung und die Beachtung der Bürgerrechtsbewegungen in zentral- und osteuropäischen Ländern öffentlich einzustehen.

Ich habe Anfang der 1980er Jahre in Berlin miterlebt, wie wichtig für Prager Dissidenten das Thema Vertreibung der Deutschen war, für dessen Aufarbeitung sie plädierten. Das war für mich zu diesem Zeitpunkt politisch irritierend und berührend; 1965 war in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift erschienen, die damals die Entspannungspolitik mitinitiiert oder befördert hatte. Diese »Ost-Denkschrift« hatte den Titel: »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Es wurde dafür plädiert, politisch nicht weiter auf einer Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 zu beharren. Das war ein politisch sehr umstrittener Schritt, der jedoch zur Entspannung beigetragen hatte. (Der scharfe innenpolitische Streit darüber war übrigens der Hintergrund, wie ich zur Friedens- und Konfliktforschung kam; die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD suchte jemanden, die ihr die Fragestellungen und Argumente dieses neuen Forschungszweigs zugänglich machte).

Jürgen Altmann: Die Entspannungspolitik und die Verträge von Warschau und Moskau (1970) sowie der 2+4-Vertrag von 1990 waren wichtige Voraussetzungen, hier in Mitteleuropa die drängenden Bedrohungen zu reduzieren. Die Freiheitsbewegungen in Mitteleuropa haben in der deutschen Friedensbewegung keine Rolle gespielt und wurden fast eher als Störfaktoren empfunden, weil man meinte, dass zur Entspannung gehört, dass man die Zustände ‚da drüben‘ akzeptiert.

Ich möchte den Blick auf die Mitte der 1980er lenken. 1985 wurde ein neuer Generalsekretär der KPdSU gewählt, Michail Gorbatschow. Nach zwei Jahren gab es plötzlich einen echten Durchbruch. Vorhin hattest du gesagt, Michaela: Die Friedensbewegung ist gescheitert oder hatte verloren. In der Tat, hier wurde stationiert. Aber dann plötzlich wurde abgerüstet mit Reagan und Gorbatschow, und zwar alle diese Mittelstreckenwaffen. Das war der Mittelstrecken- oder INF-Vertrag, durch den zum ersten Mal eine gesamte Nuklearwaffenkategorie auf Null heruntergefahren wurde. Es war ein gewisses »Wunder«, dass Gorbatschow kam und die Abrüstung so auf den Weg brachte. Wir bräuchten mehr Wunder von der Sorte. In unserer Friedensforschung untersuchen wir Verifikationsmethoden für einen zukünftigen, vielleicht einmal kommenden Nuklearwaffen-Abschaffungsvertrag. Das ist Vorratsforschung und liegt jetzt in Aktenschränken, auf Festplatten und wartet auf das nächste Wunder. Es könnte ja auch einmal eines im Westen sein. Das ist natürlich in den jetzigen Zuständen sehr schwierig.

Eva Senghaas-Knobloch: Das Interessante war 1987, dass tatsächlich ein Vertrag zustande kam zwischen zwei gegensätzlicher kaum vorstellbaren Partnern, nämlich zwischen Gorbatschow auf einen Seite und auf der anderen Seite Reagan, der die UdSSR als »Reich des Bösen« bezeichnet hatte. Und trotzdem kamen Gespräche und ein Abrüstungsvertrag über Mittelstreckenraketen zustande. Und das hängt – glaube ich – auch mit der westdeutschen Friedensbewegung zusammen, die sich als Friedensbewegung titulierte und sicher auch so verstand, aber in erster Linie eine Anti-Pershing-Bewegung war.

Es war in der UdSSR jemand an die politische Spitze gekommen, der überzeugt war, dass es eigentlich um ganz andere Fragen geht, mit denen wir uns global beschäftigen müssen. Und diese waren für Gorbatschow das, was er allgemeine »Menschheitsfragen« genannt hat, vor allem auch ökologische Fragen. Diese gemeinsam zu lösenden Aufgaben stellte er in den Mittelpunkt. Zudem hatte er wohl durch die großen Demonstrationen gegen die Pershing-II den Eindruck, dass offenbar von den Gesellschaften des Westens keine Gefahr für die Sowjetunion ausgeht. Insofern konnte er Abrüstung befördern, abgesehen davon, dass er auch sah, wie es sozio-ökonomisch und sozial um die Sowjetunion stand. Ich war 1988 in Moskau und bei Gesprächen stellte sich heraus, dass es im Land einen Rückgang der Lebenserwartung gab. Und in vielen Bereichen, von denen nicht wenige Menschen hier gedacht hatten, auch ich, da müsste die Sowjetunion eigentlich ganz gut dastehen, gab es offenbar große Probleme, über die aber noch nicht offen gesprochen wurde. Gorbatschow wollte das verändern.

Jürgen Altmann: Ja, die Friedensbewegung hatte bei Gorbatschow ein Echo. Es gab zwar eine gewisse Tradition mit den vorherigen Begrenzungsabkommen; aber dieses Echo hat die weitergehende Lösung mit auf den Weg gebracht. Von daher kann man vielleicht doch sagen, dass in gewisser Weise die Friedensbewegung hinten herum, mithilfe von Reagan und Gorbatschow, doch gesiegt hat!

Michaela Zöhrer: Ich würde gerne jetzt den Fokus hin zur Friedenswissenschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lenken. Wie habt ihr das erlebt in den 90er Jahren? Erinnert ihr euch an Ereignisse, bei denen ihr sagt, das war eine Zäsur, da kann man viel für heute mitnehmen, oder genau im Gegenteil?

Jürgen Altmann: Mit 1990 oder schon ab 1987 nach dem INF-Vertrag gab es bei den naturwissenschaftlichen Friedensforscher*innen einen großen Optimismus: „Jetzt wird wirklich abgerüstet, und wir forschen an den Details, wie man das am besten umsetzt, wie man überprüfen kann, dass die Verträge auch eingehalten werden usw.“ Die Geophysik zum Beispiel hat jahrzehntelang daran gearbeitet festzustellen, ob Erdbebenwellen, die irgendwo ankommen, von einer unterirdischen Explosion, sprich einem Kernwaffentest, herkommen oder von einem Erdbeben. Das Problem war eigentlich Mitte der 1980er Jahre gelöst. Aber dann hat es noch bis 1996 gedauert, als der vollständige Teststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen werden konnte. Der baut ein sehr ausführliches Verifikationssystem auf mit einem weltweiten Sensornetz. Wir dachten, dass viele unserer Vorschläge umgesetzt werden. Wichtig ist hier auch die internationale Pugwash-Bewegung, wo Kernphysiker – auch wiederum meistens Männer – aus den USA und der Sowjetunion zusammenarbeiteten und die ersten Begrenzungsverträge konzipierten.

Wir haben damals und bis heute weiter geforscht und weitergemacht. Wenn ich »wir« sage, dann ist das ein kleines Grüppchen. Von den etwa 55.000 Mitgliedern der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sind 20 oder 30 in der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung«, von denen nur ganz wenige professionell in der Forschung arbeiten.

Eva Senghaas-Knobloch: Ja, ich möchte die Bedeutung der Pugwash-Bewegung unterstreichen. Eine unglaublich wichtige Bewegung, weil sie über die politisch-ideologischen Grenzen hinweg versucht hat, sich über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge auszutauschen. Sie hat bis heute mit ihrem »Bulletin of the Atomic Scientists«, finde ich, eine bedeutende Rolle. Und das Bulletin ist ja auch ein Beispiel für eine damals blockübergreifende Kommunikation, dank einer in Wissenschaft verankerten Basis. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive von Friedensforschung ist das sehr wichtig, die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

Aber was ich noch gern sagen wollte, Jürgen, ist: Das Sprechen von einem Sieg der Friedensbewegung, das kann man so sehen, aber ich denke, wir sollten diesen Gegensatz Sieg/Niederlage besser weglassen. Diese Sprache hat uns geschadet in den 1990er Jahren, sie wurde auch hierzulande verwendet, kam besonders aus den USA: „Jetzt haben wir, der Westen, gesiegt“, „das Ende der Geschichte“. Das waren alles Beiträge zu dem Antagonismus, den wir heute erleben. Es gab und gibt – wie wir sozialpsychologisch wissen können – tief gehende emotionale Erfahrungen, die sich innerhalb und zwischen Ländern aufbauen, über Generationen hinweg wirksam werden und eine hoch brenzlige Konfliktsituation schaffen können.

Jürgen Altmann: Ja, akzeptiert.

Eva Senghaas-Knobloch: Ich empfand 1990 als unglaubliche Befreiung der Kommunikation hin zur neuen Möglichkeit aufrichtigen Sprechens. Zuvor war die Situation so, dass – wie in allen zugespitzten Konflikten, jedoch in der Ost-West-Konfliktkonstellation meist asymmetrisch – wenn man sich kritisch auf die Hintergrundsituation im eigenen Land oder Zusammenhang bezog, dies als »Unterstützung der Gegenseite« angesehen wurde. Das schien mir 1990 vorbei zu sein. Dass sich das Fenster für freien Streit und aufrichtige Kommunikation dann wieder schloss, ist ein Unglück. Dieses Reden von Sieg und Niederlage trug dazu bei. Ich glaube, das sind Kategorien, die man besser nicht verwendet, weil es stattdessen um gemeinsame Aufgaben gehen muss. Damit kommen wir zu den Fragen einer gemeinsamen Sicherheitspolitik – alles im Helsinki- und im UN-Kontext vorgedacht in den 1970er und 1980er Jahren: Wir hatten Olaf Palme, wir hatten zuvor Willy Brandt in der Nord-Süd-Kommission, wir hatten Mitte der 1980er Jahre Gro Brundtland zum Konzept nachhaltiger Entwicklung, in der die soziale, ökonomische und ökologische Dimension als zusammenhängend begriffen werden sollten; 2015 kamen die UN-Nachhaltigkeitsziele dazu, mit Ziel 16 für eine friedensförderliche Entwicklung.

Michaela Zöhrer: Ich versuche jetzt eine Überleitung in die Gegenwart. Als ich dir gerade zugehört habe, Eva, da fand ich es bemerkenswert als du sagtest: Das war auch eine Befreiung des Denkens oder Sprechens. Wir haben in der Friedens- und Konfliktforschung in den letzten zwei Jahren immer wieder eine weitere Verengung der Diskursräume erlebt, also dass genau diese Freiheit zu sprechen, zu denken, ohne dass man gleich in irgendwelche ideologischen Schubladen gesteckt wird, eingeschränkt war. Es gibt daneben verschiedene weitere Anknüpfungspunkte zu den Themen von eben, die uns auch in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft immer noch bewegen. Was treibt euch gerade um? Wenn wir das sowohl friedenspolitisch als auch friedenswissenschaftlich betrachten: Was möchtet ihr uns an Impulsen noch mitgeben?

Jürgen Altmann: Das sind zwei verschiedene Dinge. Zu unserer Wissenschaft: Der Wissenschaftsrat hat in seiner Beurteilung der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland von 2019 gesagt, dass sie gut aufgestellt ist. Aber bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedensforschung ist die Lage prekär. Daraufhin hat das BMBF, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, ein spezielles Förderprogramm aufgelegt, wo sich auch naturwissenschaftliche Personen beteiligen konnten und auch zum Teil Projekte bekommen haben. Das läuft ganz gut. Das »Peace Research Institute Frankfurt« hat ein neues Programm zur natur- und technikwissenschaftlichen Rüstungskontrollforschung gegründet; eine Physikprofessur wurde gerade an der TU Darmstadt ausgeschrieben. Also da tut sich etwas. Das sind dann vielleicht nicht mehr 20 Leute, sondern vielleicht 30 oder 40, wenn man die Doktorand*innen mitzählt. Das ist ein großer Fortschritt.

Was die fachlichen Fragen angeht, die viel größer sind: Die Rüstungsforschung und die Technikentwicklung im Militärbereich haben auch 1990 nicht aufgehört. Es gab in den US-Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung ein kleines Plateau – aber dann ging es schnell wieder hoch. Da wird sehr viel Geld ausgegeben: Zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung werden von den USA geleistet. Die wollen militärtechnisch so überlegen sein, dass – jetzt ein wörtliches Zitat des US-Verteidigungsministeriums – sie „jeden möglichen Gegner auf jedem möglichen Schlachtfeld besiegen“ können. Das ist zwar eine Illusion, insbesondere wenn man an nukleare Schlachtfelder denkt. Aber es wird sehr viel Geld ausgegeben und kontinuierlich an neuen Waffen- und anderen Militärtechniken gearbeitet. Ich habe mich fachlich unter anderem um besatzungslose Waffensysteme gekümmert, auch etwas geschrieben über die Gefahren von autonomem Schießen. Ich habe große Angst davor, dass damit nicht nur das Kriegsvölkerrecht nicht eingehalten wird, weil da kein Mensch mehr entscheiden würde, ob mögliche Ziele jetzt Kombattant*innen sind oder nicht, sondern dass es dahin gehen kann, dass sich zwischen zwei mit autonomen Waffensystemen ausgerüsteten Armeen instabile Situationen ergeben können, wenn sich bei kurzem Abstand die Reaktionszeiten von zehn bis 30 Minuten zwischen Nuklearmächten auf Sekunden verkürzen. Da besteht dann eine viel höhere Gefahr für Fehlwahrnehmungen und Eskalation – vielleicht nicht gleich nuklear, aber in der Folge dann vielleicht doch.

Es gibt noch viele andere Bereiche. Neue biologisch-chemische Agenzien könnten spezifischer wirken. Das ist gut, wenn es gegen Krebs ist oder gegen seltene Krankheiten. Aber wenn man das dann bewusst für neue Kampfstoffe einsetzen würde, wäre das hoch gefährlich. Es gibt einen Verbotsvertrag für Chemiewaffen, der auch überprüft wird; für biologische Waffen haben wir die Verifikation aber leider nicht, es gibt keine Überprüfungsregeln und keine internationale Organisation. Weiterhin gibt es die »traditionellen« Gefahren, mit denen ich wissenschaftlich groß geworden bin, nämlich mit Weltraumwaffen, Raketenabwehr und jetzt Hyperschallraketen. Da tut sich Einiges. Wenn man weiter in die Zukunft denkt, sprechen wir über Modifikationen am menschlichen Körper, um Soldaten und Soldatinnen effektiver kämpfen zu lassen. Da sind eine Menge Dinge in der Pipeline, die die Situation in der Welt erheblich schlimmer machen können, als sie heute schon ist. In der Situation des jetzigen russischen Kriegs gegen die Ukraine ist es natürlich ganz schwierig, zu irgendwelchen Begrenzungen zu kommen. Aber die gemeinsame Beurteilung, dass da Gefahren drohen und dass man sie gemeinsam auch international in den Griff kriegen muss, muss gefördert werden.

Eva Senghaas-Knobloch: Das kann ich nur bestätigen und auf weitere Gefährdungen ausdehnen: Damals hat Gro Brundtland deutlich gemacht, wie bedeutsam die Beachtung des mehrdimensionalen Zusammenhangs nachhaltiger Entwicklung ist. Aber ich möchte auch an Präsident Eisenhower erinnern, der sich sehr früh schon kritisch auf den militärisch-industriellen Komplex bezogen hat. Heute würden wir vielleicht vom militärisch-industriell-wissenschaftlichen usw. Komplex sprechen. Die Interessen spalten sich immer weiter auf und wirken dann zusammen umso mächtiger. Das macht notwendige Veränderungen so schwierig. Die Aufrüstungsdynamik war nur zu Teilen im Ost-West-Konflikt begründet, sie hatte jeweils auch innenpolitische ­Ursachen. Im Westen und Osten wurde jeweils überlegt: Wenn wir dieses neue Waffensystem jetzt haben, dann müssen wir uns auch mit dem vermutlich dagegen gerichteten System der Gegenseite befassen usw. So kommt man in eine stark »selbstbezügliche« Dynamik, die Dieter Senghaas für die Abschreckungslogik beschrieben hat und in der wir weiterhin gefangen sind.

Das Thema »Gemeinsame Sicherheit« ist schon angesprochen worden. Ich sehe eigentlich keinen anderen Weg, als dass wir uns über Wege zu gemeinsamer Sicherheit aus diesem Teufelskreis von Gewaltkonflikten und Waffenverbreitung heraus bewegen. Wenn das Thema gemeinsame Sicherheit vor desaströsen Klimakatastrophen, die so gut wie alle Menschen betreffen, zentrale Priorität gewinnen würde, könnte es gelingen, von festgezurrten Feindseligkeiten und den das Klima aufheizenden Aufrüstungsschüben wegzukommen. Dazu brauchen wir das Spektrum aller Disziplinen der Friedensforschung.

Michaela Zöhrer: Wir haben ganz viele Themen nicht ansprechen können, aber konnten gleichzeitig viele anschneiden und einige auch vertiefen. Ich finde, die Themenvielfalt, mit der sich die Forschung heute auseinandersetzen muss und kann, illustrieren auch unsere W&F-Themenschwerpunkte im Heft ganz gut. Ich möchte mich ganz herzlich bei euch beiden bedanken für eure Eindrücke und sehr bedenkenswerten Impulse.

Eva Senghaas-Knobloch ist Sozialwissenschaftlerin, Prof. i.R. am FZ Nachhaltigkeit der Uni Bremen, vielfältiges Engagement in der Friedens- und Konfliktforschung; erstes Buch 1969: Frieden durch Integration und Assoziation. Stuttgart: Klett.
Jürgen Altmann ist Physiker und Friedensforscher (im Ruhestand); er lehrt weiter an der TU Dortmund. Er ist Vorsitzender des Forschungsverbunds Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Vielfalt mit Ziel: Wissenschaft für den Frieden

Die Debatten der letzten beiden Jahre zum Krieg Russlands gegen die Ukraine und der jüngsten Gewalteskalation im Nahen Osten nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg gegen Gaza haben deutlich gemacht: Die Friedens- und Konflikt­forschung hat zuletzt wieder eine bemerkenswerte Relevanz bekommen, die in einer wachsenden Wahrnehmung durch Politik und Medien sichtbar wird. Zugleich zeigt sich eine Spannung zwischen akademischer Forschung sowie der Erkenntnis auf der einen und politischer Beratung auf der anderen Seite. In der Öffentlichkeit sind gesellschafts- oder politikkritische Beiträge eher randständig. Gemäßigt politiknahe oder klar unterstützende Impulse, die oft akademisch erstaunlich blass bleiben, sind hingegen gefragt wie selten zuvor. In der akademischen Sphäre gibt es durch die starke Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Forschungsfeldes eine nahezu unüberblickbare Vielfalt an Fachdiskursen, Journals, Forschungsbereichen sowie epistemologische, methodologische, theoretische und praktische Ansätze zu allen Phasen eines Konfliktverlaufs. Hier sticht eine Vielzahl der Ergebnisse in der Tendenz eher durch ihre Skepsis, Vorsicht, Kritik oder offener Gegner*innenschaft zu etablierten Mechanismen der Friedenserzwingung hervor.

In dieser Vielstimmigkeit ein Angebot mit klarem Kompass zu schaffen, das ist der Anspruch von W&F. Mehr noch als bei der Gründung der Zeitschrift in Marburg vor 40 Jahren, als mit Fragen der Raketenstationierung, Weltraumrüstung und der Friedensbewegung die Themen des Blattes klarer schienen, geht es heute viel stärker um die Herausforderung der Auswahl von friedenspolitisch relevanten Beiträgen, um diese anschließend möglichst auch allgemeinverständlich zu präsentieren. Entsprechend haben sich die Schwerpunkte und der Zuschnitt von W&F verändert. Doch die Aufgabe, Orien­tierung zu bieten und Kompass für die Leser*innen zu sein, ist geblieben.

Damit dieser Vielfalt der Perspektiven genüge getan wird und der interdiszi­plinäre und intergenerationelle Charak­ter von W&F auch zum Anlass von 40 Jahren deutlich hervortreten kann, hatten wir zum Jubiläumssymposium in Bonn absichtlich »breit« aufgerufen – die Ergebnisbreite und -tiefe war beeindruckend, das Symposium aus unserer Warte ein voller Erfolg.

Dieses Heft ist ein Potpourri, das eben diese Vielfalt an Perspektiven und Zu­gängen zeigen wird. Der Schwerpunkt gliedert sich in zwei Abschnitte: die ersten Beiträge üben Kritik am Status quo, die darauf folgenden Beiträge versuchen sich an neuen Impulsen.

Herbert Wulf kritisiert wie schon in Heft 1/1983 (!) die Logik von Sozialabbau und gleichzeitiger Aufrüstung, Lutz Unterseher wirft einen kritischen Blick auf die jüngere Geschichte der Bundeswehr und entwirft Optimierungsoptionen, Christiane Lammers blickt aus aktuellem Anlass auf die vergangenen 25 Jahre des israelisch-palästinensischen Konfliktes aus der Warte des W&F-Archivs; Benno Fladvad weist die Schwierigkeiten mit der Rede von den Erneuerbaren Energien als »Friedensenergien« am Beispiel Kolumbiens nach, Christian Heck blickt auf unseren kriegerischen Umgang mit der technologischen Vorsortierung unserer Welt durch Sprachmodelle von KI und Susanne Schmelter analysiert die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft im UN-System.

Ulrich Wagner entwirft dann im zweiten Teil des Heftes in fünf grundlegenden Impulsen notwendige Veränderungen für eine Friedenspsychologie der Zukunft; Irem Akı zeigt das Potential eines Queering von Peacebuilding anhand des kolumbianischen Friedensprozesses auf und Korassi Téwéché skizziert den Entwurf einer Friedensphilosophie im Anschluss an Fanon und in Abkehr von einem von ihm als historizistisch kritisierten postkolonialen Diskurs; Rebecca Froese, Melanie Hussak, Dani*el*a Pastoors und Jürgen Scheffran umreißen eine transformative Konfliktarbeit für die Aufgabe der Großen Transformation, während Bahar Oghalai und Maria Hartmann die demokratiepolitischen Chancen in einer postmigrantischen Gesellschaft erkunden.

Seit 40 Jahren ringt auch W&F um die Frage, was Wissenschaft für den Frieden bedeutet – und die unterschiedlichsten Antworten wurden darauf im Heft gegeben. Ein stolzes Archiv von über 2.500 Beiträgen hat sich angesammelt; ein Erbe, das sich sehen lassen kann, das aber auch einer (selbst-)kritischen Betrachtung unterzogen werden muss. Was gilt (noch) von dem, was in W&F versucht, angedacht, vorausgedacht wurde? Seien Sie unsere schärfsten Kritiker*innen, unsere stärksten Fürsprecher*innen zugleich – und empfehlen Sie uns weiter, damit der mühsame Weg eines wissenschaftlich fundierten Diskurses auf einer breiten Basis gemeinsam leichter zu gehen ist.

Bald schon werden Sie auf der Homepage von W&F eine Dokumentation des Symposiums finden können – mit dem Programm, einigen Bildern sowie einer Vielzahl von Beiträgen, die auf dem Symposium vorgetragen wurden, in verschriftlichter Form.

Wir wünschen Ihnen nun eine anregende Lektüre unseres »Jubiläumshefts«,

Ihre Regine, Klaus, David, Hans-Jörg, ­Jürgen und Paul • Organisationsteam des Jubiläumssymposiums • »40 Jahre W&F: Wissenschaft für den Frieden«

Strategische Gewaltfreiheit

Strategische Gewaltfreiheit

Skizze für den Widerstand gegen multinationale Konzerne

von Dalilah Shemia-Goeke

Während strategische gewaltfreie Bewegungen in der Auseinandersetzung mit politischen Akteuren, wie gewählten oder autoritären Regierungen, mittlerweile immer besser erforscht sind, gibt es bislang nur wenige Studien zur Anwendung der Konzepte der strategischen Gewaltfreiheit auf nicht-staatliche, aber nicht minder mächtige Akteure, wie etwa multinationale Unternehmen (eine der wenigen Ausnahmen ist die quantitative Studie von Chenoweth und Olsen (2016)). Wie kann die Macht von Konzernen mithilfe des zivilen Widerstandes eingedämmt und wirksam zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten lassen sich dazu von der allgemeinen strategischen Logik zivilen Widerstandes ableiten?

Andauernde Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen durch Produktionsprozesse im Allgemeinen zeigen ebenso wie die Übergewinne von Energie- und Waffenkonzernen im Krieg, dass Staaten oft nicht in der Lage oder willens sind, wirksam gegen die zerstörerische Macht globaler Konzerne vorzugehen. Solche Firmen sind nicht zuletzt wegen ihrer gewaltigen Vermögen oft politisch sehr einflussreich und aufgrund dieses Einflusses in vielerlei Hinsicht schwer zu regulieren. Martin Luther King Jr. sagte einst, dass die politische Machtstruktur auf die wirtschaftliche Machtstruktur hört (Garrow 1986, S. 226). Wäre es möglich, die Hegemonen unserer Zeit durch kollektive systematische und strategische Aktionen so unter Druck zu setzen, dass sie ihr Verhalten ändern müssen?

Wenn Menschen sich zusammentun, systematisch koordinieren und strategisch vorgehen, ist es möglich, durch gewaltfreie Mittel gemeinsame Ziele zu erreichen, auch gegen Interessen anderer Akteure, die mehr Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung haben oder stellen können. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts ebneten strategische gewaltfreie Bewegungen den Weg für große Veränderungen, etwa die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, die Ausweitung der Bürger*innenrechte in den Vereinigten Staaten oder die Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Ebenso führten sie zum Sturz vieler Militärdiktaturen und autoritärer Regime, wie etwa in den Philippinen (1986), in Indonesien (1998), in Serbien (2000) oder die Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetstaaten. Erfolgreiche Mittel kollektiven Handelns in solchen Bewegungen sind etwa Boykotte, Streiks, ziviler Ungehorsam, friedliche Besetzungen oder Sitzblockaden.

Die strategische Machttheorie zivilen Widerstandes

Auch wenn medial gelegentlich der Eindruck entsteht, bei zivilem Widerstand ginge es nur darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, beruht die Kraft gewaltfreier Aktionen doch auf einer strategischen Logik, die über die bloße öffentliche Sichtbarkeit hinausgeht. Die von Gandhi geplanten und durchgeführten Massenaktionen zivilen Ungehorsams für die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien etwa basierten auf der Grundidee, dass jede Ausbeutung auf der (freiwilligen oder erzwungenen) Kooperation der Ausgebeuteten beruht (Gandhi 1960, S. 92). Diese Einsicht entwickelte Gene Sharp, ein US-amerikanischer Gesellschaftswissenschaftler, weiter und schlussfolgerte, dass Macht auf Unterstützung und auf der Zusammenarbeit vieler Menschen beruht (Sharp 1973, S. 7ff.). Er typologisierte Methoden gewaltfreier Aktionen in drei Kategorien: (1) den symbolischen Protest und die Öffentlichkeitsarbeit, wie Kundgebungen, Aufklärungsarbeit oder heutzutage (soziale) Medienkampagnen; (2) Nichtkooperation (Streiks und Boykotte) und (3) gewaltfreie Interventionen, wie etwa Straßenblockaden, gewaltfreie Besetzungen etc.

Erica Chenoweth, die aktuell wahrscheinlich weltweit bekannteste Wissenschaftlerin, die diese Methoden und Mittel in ihrer Wirkung systematisch empirisch beforscht hat, hält grundsätzlich fest, dass gewaltfreier Widerstand funktioniert, wenn er in der Lage ist, die Unterstützung für den angeprangerten Status Quo und für den Adressaten des Protestes zu schwächen (Chenoweth 2021, S. 251). Ganz allgemein drückt sich somit Macht also darin aus, ob ein Akteur es schafft, viele Menschen für seine eigenen Ziele zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, sei es gewollt oder ungewollt, zu kooperieren. Mit den enormen Anreizen und Androhungen, die (v.a. multinationale) Konzerne auf politischer Ebene wie im Arbeitsmarkt zu ihren Zwecken nutzen, ist es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen sie tagtäglich durch ihre Arbeit und ihren Konsum aktiv unterstützen, auch wenn sie sie persönlich eigentlich verwerflich finden.

Laut der Logik gesellschaftlichen Wandels, auf der gewaltfreie Bewegungen basieren, kann die Macht eines Regimes jedoch bröckeln und in sich zusammenfallen, wenn Menschen kollektiv und koordiniert ihre verschiedenen Formen der Unterstützung entziehen. Denn was passiert, wenn Soldat*innen massenweise den Befehlen nicht mehr Folge leisten, wenn Staatsbeamt*innen die Verwaltung des Systems stören oder wenn Arbeitende die Wirtschaft lahmlegen? Die genannten sozialen Gruppen sind nur einige Beispiele der Säulen, auf denen ein Regime basiert. Auf dieser Logik beruhte die Herangehensweise verschiedener sozialer Bewegungen, zum Beispiel die Jugendbewegung Otpor in Serbien. In Bezug auf Konzerne wurde diese Logik bisher meist eher von Gewerkschaften in Form von Streiks als Strategie genutzt und weniger von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Daher ist diese Denkweise bekannt aus der Gewerkschaftsforschung und der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.

Die kollektive Arbeitsverweigerung, also der Streik, kann die oftmals nur latente Macht der Arbeitenden zum Vorschein bringen. Zwar sind Arbeitende abhängig von Arbeitgebenden für ihr Beschäftigungsverhältnis und Gehalt; doch auch ein Unternehmen benötigt Menschen, die die anfallende Arbeit ausführen, damit der Konzern Profite einfahren und wachsen kann. Das Machtverhältnis ist folglich interdependent, also auf einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis fußend. Wenn Arbeitnehmer*innen nun kollektiv das zurückhalten, was das Unternehmen benötigt, kann das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Arbeitenden wieder zeitweise etwas ins Lot gebracht werden.

Diese Logik kann in Auseinandersetzungen mit Konzernen jedoch von weitaus mehr Gruppen genutzt werden als nur von Angestellten. Denn Unternehmen brauchen Menschen nicht nur, um die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Sie benötigen auch Konsument*innen, Investor*innen, Kreditgeber*innen, wohlgesonnene Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Geschäftspartner*innen, Zulieferbetriebe etc. In all diesen Bereichen besteht viel Störpotenzial durch Nichtkooperation und Interventionen. Beispiele für nicht-gewerkschaftliche kollektive Verweigerungen sind etwa der erste internationale Nestlé-Boykott (1977-1984), der zu einem weltweiten Regulierungskodex auf der Ebene der Weltgesundheitsorganisation führte, oder der Divestment-Arm der Klimabewegung (etwa »Fossil Free«), der öffentliche Institutionen (wie etwa Universitäten, Stadtverwaltungen, Pensionsfonds) dazu bewegt, ihr Vermögen nicht mehr wie bisher in fossile Brennstoffe zu investieren, sondern in nachhaltigere Anleihen. Beides sind Beispiele wirtschaftlicher Nichtkooperation: Während im Boykott individuelle oder institutionelle Konsument*innen ihre Kaufkraft verweigern, verweigern im Divestment Anteilseigner*innen ihre finanziellen Ressourcen. Leider wird das Potenzial trotz der historischen Beispiele, in denen ein solcher Ansatz erfolgreich umgesetzt wurde, in den meisten klassischen Kampagnen-Ansätzen gegen Unternehmen nicht ausgeschöpft. Die internationale Kampagne mit Sanktionen, Divestment und Boykott von Unternehmen in Südafrika etwa trug maßgeblich zum Ende der Apartheid bei. Was wäre heute möglich, wenn eine auf diese Weise koordinierte Kampagne Unternehmen fossiler Brennstoffe oder die Waffenindustrie in ihren Fokus nehmen würde?

Skizzen für die Strategieentwicklung

Eine Schwäche klassischer Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen ist, dass der erzeugte Druck oft rein symbolisch bleibt, ohne spezifische, glaubhafte nächste Schritte wie etwa die Ankündigung finanzieller oder materieller Sanktionen, falls Forderungen nicht erfüllt werden. Zudem zielen viele Öffentlichkeitskampagnen lediglich auf das Image der Firma ab. Ein Beispiel ist hier etwa die Kampagne »Play Fair at the Olympics«, mit der fast ein Jahrzehnt (2003-2012) versucht wurde, bei den Olympischen Spielen auf die Arbeitsbedingungen in den Zulieferketten der Sportbekleidungsmarken hinzuweisen. Bis auf vereinzelte, lokal begrenzte Pilotprojekte konnte sie jedoch keine nennenswerten Ergebnisse auf internationaler Ebene vorweisen.

Wenn der Profit einer Firma nicht von ihrem guten Ruf abhängt, wie es etwa bei weniger bekannten Bekleidungsfirmen, unbekannten Zulieferern oder auch bei der Waffenindustrie der Fall ist, dann ist ein Image-Schaden keine Achillesferse, weshalb die Unternehmensführung es sich leisten kann, relativ gleichgültig zu reagieren. Aber auch wenn nicht bei allen Konzernen das Geschäftsmodell gleichermaßen auf ihrer Reputation basiert, braucht jede Firma dennoch stets verschiedene Formen der Unterstützung durch Menschen und sei es nur in Form praktischer Zusammenarbeit. Dies ist symptomatisch für den Großteil der Ansätze von Nichtregierungsorganisationen: Es geht viel um symbolischen Druck und Aufmerksamkeit, jedoch wird die Unterstützungsbasis der kritisierten Konzerne nicht untergraben und auch sonst stellen sie nur eine minimale Herausforderung dar.

Die Theorie des Wandels des zivilen Widerstandes mit ihrer Machtlogik kann für die Strategieplanung helfen zu verstehen, warum das so ist, und ein erweitertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Neben den symbolischen Protestformen klassischer NGO-Kampagnen und den gewaltfreien Interventionen, wie Blockaden und Besetzungen, die oft mit zivilem Widerstand assoziiert werden, gibt es eben noch Methoden der kollektiven Verweigerung. Diese Sammelkategorie zielt von den drei genannten am direktesten auf eine Verschiebung des zugrundeliegenden Machtverhältnisses ab. Die Unterstützungbasis, auf der sie fußt, soll durch die Nicht-Kooperation ausgehöhlt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, kreativ zu werden und das Repertoire der kollektiven Verweigerung zu erweitern. Zu welcher Form der Nichtkooperation wären heutzutage möglichst viele Menschen bereit, um Energiekonzernen und Waffenindustrie Einhalt zu gebieten?

Literatur

Chenoweth, E. (2021). Civil resistance: What everyone needs to know. Oxford: Oxford University Press.

Chenoweth, E.; Olsen, T. D. (2016): Civil resistance and corporate behavior. Research and Innovation Grants Working Papers Series, August 2016. Denver: Institute for International Education.

Gandhi, M. K. (1960): Selections from Gandhi: Encyclopedia of Gandhi’s thoughts. Ahmedabad Navajivan Mudranalaya.

Garrow, D. J. (1986): Bearing the cross: Martin Luther King, Jr., and the Southern Christian Leadership Conference. New York: Vintage.

Sharp, G. (1973): The politics of nonviolent action. Boston: Porter Sargent.

Dr. Dalilah Shemia-Goeke hat kürzlich erfolgreich ihre Promotion zum Thema des Artikels bei Prof. Dr. Brian Martin abgeschlossen (University of Wollongong) und wohnt im Wendland.

Rot, gelb oder grün für Frieden?


Rot, gelb oder grün für Frieden?

von Ginger Schmitz

Als Mitte Oktober die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP begannen, waren die Erwartungen hoch. Nach Jahren gefühlter friedenspolitischer Stagnation erhofften sich viele, dass Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung nun endlich wieder aus ihrem Nischendasein herausgeholt werden würden. Besonders die am Aufbau der heutigen friedenspolitischen Infrastruktur beteiligten Parteien der rot-grünen Bundesregierung von 1998 standen dabei unter Beobachtung, bezeichnen sie sich doch selbst, im Fall der SPD, als Friedenspartei oder haben, im Fall der Grünen, das friedenspolitisch weitreichendste Programm vorgelegt. In beiden Wahlkampfprogrammen finden sich mit der Entwicklung Ziviler Planziele für die Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« und mit der Einführung einer »Friedensverträglichkeitsprüfung« Vorschläge, die grundlegendere friedenspolitische Veränderungen ermöglichen könnten.

Gleichzeitig konnte man nach Veröffentlichung des Sondierungspapiers eine gewisse Ernüchterung feststellen. Zivile Konfliktbearbeitung, Krisenprävention, Frieden, werden allesamt kaum berücksichtigt. Es bestätigte sich wieder einmal der Eindruck, dass friedenspolitische Themen im öffentlichen Diskurs wie auch in den Sondierungen keine Rolle spielten. Das verwundert zwar nicht, ernüchtert aber nichtsdestotrotz.

Wir sind nicht alleine auf der Welt. Der Klimawandel, Fragen der globalen Gesundheit und Digitalisierung betreffen uns alle. Das hat sich in diesem Wahlkampf wieder mit voller, disruptiver Wucht gezeigt. Die zukünftige Bundesregierung muss Antworten darauf finden, wie sich dadurch ausgelöste Transformationsprozesse konstruktiv, ausgleichend und im Sinne eines friedlichen Miteinanders gestalten lassen können. Und das nicht aus ministerialer Zuständigkeitslogik heraus, sondern kohärent. Das vorhandene Instrumentarium der Zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung muss zu diesem Zweck zukunfts­orientiert ausgebaut und gefördert, aber auch die Rahmenbedingungen verbessert und Grundlagen geschaffen werden.

Deutsche Außenpolitik im Verständnis von nach außen gerichteter und nach außen wirksamer Politik wird sich unter einer rot-grün-gelben Regierung verändern. Die Frage ist nur, wie sie dann aussehen wird. An welchen Werten richtet sich Außenpolitik zukünftig aus? Welchen Stellenwert werden zivile Konfliktbearbeitung und Frieden einnehmen? Frieden muss in dieser bestenfalls zukunftsorientierten und lernenden Außenpolitik ein Fixpunkt sein.

Die 2017 verabschiedeten Leitlinien bilden hierfür eigentlich die strategische Grundlage. In den Wahlprogrammen der Koalitionär*innen werden sie aber nur partiell erwähnt. In der letzten Legislaturperiode des Bundestages haben sie über den engagierten, aber kleinen Unterausschuss Zivile Krisenprävention hinaus keine wahrnehmbare Rolle gespielt. Der im Frühjahr 2021 veröffentlichte Umsetzungsbericht zu den Leitlinien wurde im Parlament noch nicht einmal debattiert. Das muss sich ändern! Friedenspolitik muss von der künftigen Bundesregierung aber auch vom Parlament breit getragen werden. Das Parlament muss seiner Verantwortung gerecht werden.

Diese Verantwortung kann sich nicht darauf beschränken, lediglich über Mandatsverlängerungen zu debattieren. Wir brauchen vielmehr jährliche frie­dens­politi­sche Grundsatzdebatten über die Gestaltung der »Verantwortung Deutschlands« in der Welt.

Im Sondierungspapier wurde ein neues Grundlagendokument angekündigt: eine »Nationale Sicherheitsstrategie«. Bevor neue Strukturen und neue Strategien geschaffen werden, sollten aber zunächst die Leitlinien konsequent umgesetzt werden. Ein Umsetzungsplan mit konkreten Planzielen sowie die Einführung einer Friedensverträglichkeitsprüfung könnte die Leitlinien aus ihrer Wahrnehmungs­lücke herausführen. Statt mehr Papier und mehr Strategiedokumenten braucht es eine neue Form außenpolitischer Zusammenarbeit, die Etablierung einer konstruktiven Fehlerkultur, offenen Dialog und gemeinsames Lernen.

Zu Beginn der Sondierungen war viel die Rede davon, dass die beteiligten Parteien nicht das Trennende sondern das Verbindende in den Mittelpunkt der Gespräche stellen und in den Sondierungen eine gemeinsame Erzählung entwickeln wollten.

Diese Erzählung, dieses gemeinsame Narrativ sollte Frieden sein. Und eine friedenspolitisch kohärent gestaltete Zukunftspolitik könnte letztlich das verbindende Element sein. Für Wirtschaft, Klima, soziale Gerechtigkeit. Für alle Farben der Ampel – und für grünes Licht für Frieden.

Ginger Schmitz ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Mitglied des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung.

Totgeglaubte leben länger

Totgeglaubte leben länger

Die Wiederbelebung der Friedensbildung in Deutschland

von Bernd Rieche

Trotz der Erfolge der Friedensbewegung in den 1990er Jahren, war Friedensbildung um die Jahrtausendwende in Deutschland kaum noch sichtbar. Es bedurfte der stärkeren Präsenz der Bundeswehr in den Schulen und der kritischen Auseinandersetzung damit, dass Friedensbewegte wieder verstärkt Friedensbildung als ihre Aufgabe wahrnahmen. In der Folge wurden neue Strukturen geschaffen, aber auch die verfügbaren Materialien und Methoden vielfältiger und das Selbst- und Rollenverständnis geschärft.

Die Friedensbewegung feierte Ende der 90er Jahre große Erfolge: die Mediation hatte sich in Deutschland etabliert, die Zivile Konfliktbearbeitung wurde staatlicherseits anerkannt und dafür Strukturen geschaffen – wie der Zivile Friedensdienst oder das Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF). Nicht zuletzt wurden die Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) und später neue Studiengänge der Friedens- und Konfliktforschung aufgebaut. Vermutlich war es noch nie so vielfältig und einfach möglich, mit unmittelbarer Friedensarbeit – als Mediator*in, Konfliktbearbeiter*in oder als Friedensfachkraft sein tägliches Brot zu verdienen. Selbst in den Schulen gab es große Erfolge. Unter anderem wurden Streitschlichtungsprogramme eingeführt und sind heute fast flächendeckend etabliert.

Allerdings wurden alle diese Programme nicht als Friedensbildung (oder Friedenspädagogik, bzw. -erziehung) markiert. Dies beginnt bei der Bezeichnung und reicht bis hin zu den angebotenen Inhalten. Dieser Eindruck bestätigt sich auch mit einem Blick in das Archiv dieser Zeitschrift. Der letzte Artikel, der Friedensbildung/-erziehung/-pädagogik explizit erwähnte, erschien 1995 (vgl. Nolz 1995). Anschließend herrschte für zehn Jahre Stille zu diesem Thema. Gleichermaßen gab es kaum aktuelles Material für die Schule, das militärisches Handeln in aktuellen internationalen Konflikten kritisch behandelt hätte. Fast alle militärkritischen Unterrichtsmaterialien waren aus Zeiten der Ost-West-Konfrontation vor 1990 oder thematisierten Fragen der Kriegsdienstverweigerung. Lediglich im Bereich der Zivilen Konfliktbearbeitung waren, analog zu den Erfolgen und der Etablierung der zivilen Konfliktbearbeitung, einige Materialien entstanden.

Externe Impulse um die Jahrtausendwende

Es brauchte offenbar erst den Anstoß der erneuerten Werbungsanstrengungen des Militärs, um einer Vielzahl an Akteuren die Notwendigkeit von Friedensbildung wieder deutlich zu machen. Eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Schule begann im Jahr 2008. Das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen und das zuständige Wehrbereichskommando II der Bundeswehr unterschrieben eine Kooperationsvereinbarung, wonach Jugendoffizier*e im schulischen Kontext über die „zur Friedenssicherung möglichen und/oder notwendigen Instrumente der Politik“ informieren sollten und dabei
„Informationen zur globalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung genauso wie Informationen zu nationalen Interessen einzubeziehen“ seien (NRW und Bundeswehr 2008, S. 1). Jugendoffizier*e sollten darüber hinaus in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften eingebunden werden, das Besuchen von Einrichtungen der Bundeswehr wurde ausdrücklich vorgesehen und die Bildungsangebote der Bundeswehr wurden durch das Ministerium verbreitet. In den Jahren 2008 bis 2011 folgten in der Grundausrichtung ähnliche Kooperationsvereinbarungen zwischen der Bundeswehr und den Kultusministerien in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen. Obwohl es seit den 1950er Jahren übliche Praxis ist, dass Lehrkräfte Jugendoffizier*e als externe Referent*innen in ihren Unterricht einladen, gingen diese Kooperationsvereinbarungen darüber weit hinaus. Auch wenn die Jugend­offizier*e nicht für Tätigkeiten innerhalb der Bundeswehr werben – denn so ist es zumindest in den Kooperationsvereinbarungen festgelegt – sind doch in der Praxis Information und Werbung oft schwer voneinander zu trennen. Jugendoffizier*e vermitteln eine Sicht auf die politischen und militärischen Handlungsspielräume und Notwendigkeiten, die in der Friedensarbeit in ihrem Grund­ansatz kritisch gesehen werden.

Diese zunehmende Präsenz der Bundeswehr an Schulen war Anlass, dass sich in zahlreichen Bundesländern Akteure der Friedensbewegung zu Bündnissen wie »Schulfrei für die Bundeswehr« zusammenschlossen. Durch kreative Aktionen und politische Arbeit soll die Präsenz der Bundeswehr an Schulen verhindert werden. Die Kooperationsvereinbarungen der Bundeswehr waren jedoch eher Anlass, nicht Grund, sich intensiver mit Friedensbildung an Schulen zu beschäftigen. Denn Friedensbildung ist unabhängig von Bundeswehr und Militär notwendig.

Entstehung neuer Netzwerke

Um Friedensbildung bundesweit zu fördern, schlossen sich in der Folge die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK), die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), die in Schulen aktive Gewerkschaft GEW, die katholische Friedensbewegung pax christi und die Konferenz für Friedensarbeit im Raum der EKD zusammen, um ab 2009 das Projekt
„Friedensbildung, Bundeswehr und Schule“ zu planen. Ab 2012 konnte das Projekt für drei Jahre in der Praxis erprobt werde, es wurde vorhandenes pädagogisches Material gesichtet und für den Einsatz im Unterricht gemäß der Bildungspläne eingeordnet, weiteres eigenständiges Material erarbeitet und durch die Webseite friedensbildung-schule.de zugänglich gemacht. Die bundesweite Vernetzung von Friedenspädagog*innen wurde durch den sich regelmäßig treffenden Fachrat des Projektes vorangetrieben. Aus diesem entstand nach Ende des Projektes das »Bundesweite Netzwerk Friedensbildung«, unter dem sich auch die inzwischen gegründeten Netzwerke in den einzelnen Bundesländern und Regionen vernetzten. Solche regionalen Netzwerke existieren mittlerweile in NRW, Hessen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Norddeutschland, Mitteldeutschland, im Saarland und seit jüngstem in Niedersachsen.

Neben der Bereitstellung von Material war es auch erklärtes Ziel, einen Pool an Referent*innen für den Bildungseinsatz in Schulen aufzubauen. Dabei wurde nach 2012 schnell deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, eine zentrale Vermittlung aufzubauen, da es hierfür regionale Strukturen braucht – die sinnvollerweise bei den regionalen Netzwerken liegen sollten. Einige Qualifizierungsfortbildungen für Friedensbildner*innen haben seitdem stattgefunden. Beispielhaft können das Kursangebot der evangelischen Kirchen in NRW (vgl. PI-Villigst o.J.) und die Fortbildung des niedersächsischen Netzwerkes mit Förderung des Landes Niedersachsen (Friedensbildung Niedersachsen o.J.) angeführt werden. So stehen mittlerweile einige Friedenspädagog*innen für den expliziten Unterrichtseinsatz zur Verfügung.

Einige der neu gegründeten Netzwerke richten zudem Fachtagungen aus und fördern so die regionale Vernetzung und Fortbildung von pädagogisch Arbeitenden zu Friedensthemen (u.a. das norddeutsche und das mitteldeutsche Netzwerk).

Gemeinsame Definition von Friedensbildung?

In den Netzwerken wurde immer wieder versucht, den Begriff der Friedensbildung umfassend zu definieren. Ein Ergebnis dieser Diskussionen ist die Definition des »Bundesweiten Netzwerks Friedensbildung«.

Die Netzwerke beziehen sich darin auf ein Bildungsverständnis, das zur Mündigkeit befähigen will und sowohl auf die individuelle als auch gesellschaftliche Ebenen abzielt. In der Tradition der Friedensbildungswerke, die in den 1980er Jahren gegründet wurden, fasst das bundesweite Netzwerk die Friedensbildung als „Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit [als] eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Frieden wird dabei verstanden als ein zielgerichteter, dynamischer Prozess kontinuierlicher Konfliktbearbeitung mit gewaltfreien Mitteln – zur Realisierung der Menschenrechte, zur Etablierung von Gerechtigkeit sowie zur Überwindung von Gewalt und Unfreiheit. In diesem Verständnis ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg und mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen.“ (BNF o.J.). Dabei ist dem Netzwerk „die Entwicklung von Kompetenzen zu einem konstruktiven und zivilen, an der Philosophie der Gewaltfreiheit orientierten Umgang in innergesellschaftlichen und internationalen Konflikten“ (ibid.) besonders wichtig. Dazu zählen die Vermittlung von Kompetenzen für die Analyse von Konflikten sowie für die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten. Nur so kann sich in den Augen des Netzwerkes eine
„Kultur des Friedens“ (ibid.) entwickeln, in der die Lernenden auch zu selbstständig Agierenden werden können und das wahre Potential von Konflikten als „Chancen für eine positive Veränderung“ (ibid.) zur Geltung kommen kann.

Neutralität der Friedensbildung?

Friedensbildung wird dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie politisch oder normativ sie sein soll und darf. Für den schulischen Bereich gibt der »Beutelsbacher Konsens« den Rahmen vor. In diesem wurden 1976 drei Grundprinzipien des Politikunterrichts festgelegt: das Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot), das Gebot der Kontroversität (auch: Gegensätzlichkeit) und das Prinzip der Schülerorientierung, d.h. Schüler sollen zu eigenem politischen Verständnis und Handeln befähigt werden.

Das Kontroversitätsgebot bietet dabei auch erst einmal ein Argument dafür, dass auch friedensbewegte Referent*innen eingebunden werden müssten, wenn andererseits die Bundeswehr privilegierten Zugang zu Schulen erhält.1

Erste eigenständige Kooperationsverträge der Friedensbildungsnetzwerke mit den jeweiligen Kultusministerien, u.a. in Rheinland-Pfalz, riefen allerdings heftige Debatten innerhalb der Friedensbewegung hervor. Einerseits bot sich die Chance für die Verankerung von Friedensbildung, anderseits sahen Kritiker*innen aber die drohende Funktion als Feigenblatt für die Legitimierung sowohl des zivilen als auch des militärischen Ansatzes, die als Legitimierung für die Präsenz der Bundeswehr in Schulen missbraucht wurden. Nach einiger Zeit der Klärung des Konfliktes einigten sich die meisten Akteure darauf, beide Forderungen parallel zu vertreten und dabei auf je unterschiedliche Bündnisse zu setzen:
„Bundeswehr raus“ steht also gleichzeitig neben „Friedensbildung rein“.

Die Begründung von Friedensbildung an Schulen ist jedoch keine Frage des Ausgleichs zur Bundeswehr, sondern ergibt sich grundlegend aus dem in den Verfassungen festgeschriebenen Auftrag zur Förderung des Friedens (vgl. für Baden-Württemberg: Meisch, Jäger und Nielebock 2018).

Zum Zweiten müssen Aktive der Friedensarbeit auch für sich ganz direkt reflektieren, wie sie sich in Bezug auf den Beutelsbacher Konsens verhalten. Zwei mögliche Rollen deuten sich an: die Verantwortung verbleibt bei den Lehrer*innen, wenn Friedensbildner­*innen als Zeitzeug*innen oder Fachleute in die Schule eingeladen werden. Wenn sie jedoch Friedensbildung in Form von Projekten oder selbstverantwortetem Unterricht durchführen, müssen sie den Beutelsbacher Konsens einhalten, wobei allerdings zentrale normative Bezugspunkte der Friedensbildung (u.a. Menschenrechte oder die allgemeine Friedensliebe) Verfassungsrang haben und nicht kontrovers sind.

Nicht zuletzt gilt Drittens der Beutelsbacher Konsens auch für die Bewertung friedenspädagogischer Materialien. Diese sollten nicht allein aufgrund der primären Rolle eines Auftraggebers (wie der Bundeswehr) ausgeschlossen werden. Für die Webseite friedensbildung-schule.de wurden daher passende Qualitätskriterien entwickelt. Diese sind:

  • allgemeine pädagogische Kategorien wie die methodisch-didaktische Eignung und die Nutzungsfreundlichkeit,
  • inhaltlich-konzeptionelle Kriterien, wie die Mehrdimensionalität des dargestellten Themas und
  • friedenspädagogische Kriterien. D.h. „friedensfördernde Werte wie Gewaltlosigkeit und Menschenrechte. Militäreinsätze werden kritisch reflektiert, Möglichkeiten und Beispiele ziviler Konfliktbearbeitung betont.“

Positionen zur Stärkung der Friedensbildung in der schulischen und außerschulischen Bildung

(Bundesweites Netzwerk Friedensbildung, gekürzter Auszug, Juni 2021)

Friedensbildung soll dazu beitragen, auf gesellschaftlicher und individueller Ebene Friedensprozesse zu ermöglichen und zu unterstützen.

Sie ist Teil einer umfassenden politischen Bildung und damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. […]

Damit die Friedensbildung ihren Auftrag und ihre Funktion erfüllen kann, muss sie ausgebaut, abgesichert sowie strukturell und politisch verankert werden.

Hierzu fordern wir folgende Maßnahmen:

  • Personelle und finanziellen Ressourcen
    Die schulische und außerschulische Friedensbildung wird bisher vielfach auf Projektbasis geleistet und ist abhängig von Förderkonjunkturen. Zur strukturellen Verankerung von Friedensbildung und zur konkreten Umsetzung in Bildungsprozessen gehören institutionelle Unterstützungsstrukturen. Dies können Koordinations- und Servicestellen auf Landes-, regionaler und kommunaler Ebene leisten, die Qualifizierungs-, Beratungs-, Vernetzungs-, Veranstaltungs- und Materialangebote entwickeln.
    Das ist zum Beispiel zu schaffen durch (a) Servicestellen Friedensbildung bei den Landeszentrale für politische Bildung (Beispiel Baden-Württemberg), (b) den Ausbau von Lehre, Beratung und Weiterbildung an Hochschulen (Beispiel Rheinland-Pfalz), die Schaffung von Stellen an Landesinstituten für die Lehrer*innenfortbildung und -beratung (Beispiel Saarland) bzw. für die landesweite Koordinierung der Friedensbildung (Beispiel Niedersachsen), oder (c) die finanzielle Förderung von Friedensbildung örtlicher, regionaler, landes- oder bundesweit tätiger NGOs, Vereine und Jugendverbände durch Kommunen, Länder und Bund.
  • Curriculare Verankerung
    Friedensbildung muss systematischer und verlässlicher in den Angeboten von Trägern der Jugendarbeit und Jugendbildung sowie in den Bildungs-, Lehr- und Rahmenlehrplänen der Schulen verankert werden.
    Dasselbe gilt für Angebote und Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals, z. B. an Hoch- und Fachschulen, Studienseminaren, Landesinstituten und anderen öffentlichen und freien Weiterbildungsträgern. Schulische Friedensbildung hat ihren Ort zumeist in den sozialwissenschaftlichen Fächern, Politik, Ethik, Religion oder auch im Rahmen der Projektarbeit. Sie muss aber auch als fächerverbindende und fächerübergreifende Aufgabe implementiert werden.
    Friedensbildung ist nicht in Konkurrenz zu anderen gesellschaftspolitisch relevanten Bildungszielen zu sehen – wie etwa Demokratiebildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, die Umsetzung und Vermittlung der Weltnachhaltigkeitsziele (SDGs) oder die rassismuskritische Bildungsarbeit. Vielmehr müssen diese verschiedenen Bildungsaufgaben und ihre »Verwandtschaften« sinnvoll aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden, ohne dass die Friedensbildung ihre eigenen Spezifika und ihr Profil einbüßt.
  • Institutioneller Rahmen
    Die Friedensbildung ist nicht nur als »Bildungsinhalt«, sondern auch als Philosophie bzw. Kultur der Bildungseinrichtungen selbst zu verstehen, zu der alle Fächer sowie die Bildungseinrichtungen selbst ihren Beitrag leisten (»whole institution approach«). Friedensbildung lässt sich nur erfolgreich vermitteln, wenn die Träger, die Bildungseinrichtungen, das Personal und die Rahmenbedingungen ein friedliches und auf Respekt und gemeinsame Werte gegründetes Lernen und Leben ermöglichen.
  • Medien
    Von besonderer Bedeutung sind die Förderung und Entwicklung von Bildungsmaterialien sowie die Aufnahme von Themen und Perspektiven der Friedensbildung in Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern.
  • Verankerung an Hochschulen
    Um die Friedensbildung wie auch die notwendige Qualifizierung und Professionalisierung zu verstetigen und wissenschaftsorientiert zu gestalten, müssen entsprechende Professuren und Institute an Hochschulen eingerichtet und deutlich ausgebaut sowie Forschungsprogramme zur Friedensbildung entwickelt werden.

Zivilgesellschaftlicher Impuls, staatliche Förderung?

Inzwischen konnten auch staatlich getragene Strukturen der Friedensbildung etabliert werden. In Baden-Württemberg startete 2015 eine staatlich finanzierte »Servicestelle Friedensbildung«, angesiedelt bei der Landeszentrale für politische Bildung in gemeinsamer Trägerschaft von Kultusministerium, Berghof Founda­tion und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen. In jüngster Zeit hat das Land Niedersachsen eine Stelle für die Koordination der Friedensbildung ausgeschrieben und auch die 2014 gegründete Friedensakademie an der Universität Landau in Rheinland-Pfalz hat u.a. einen friedenspädagogischen Auftrag. Diese Initiativen werden von den Akteuren der Friedensbildung aktiv vorangetrieben und unterstützt, auch wenn es im Konkreten dabei Konflikte mit staatlichen Stellen beispielsweise um die Rolle der Bundeswehr in Schule gibt.

Generell ist jedoch die Friedensbildung strukturell immer noch schwach aufgestellt und die Arbeit in den Netzwerken wird durch die mehr oder weniger ehrenamtliche Arbeit der Beteiligten getragen. Unter diesen Bedingungen ist der bundesdeutsche Bildungsföderalismus eine große Herausforderung, da Lobbyarbeit für Friedensbildung auch Ressourcen vor Ort benötigt. Im Gegensatz zu anderen Bildungsansätzen, wie Globalem Lernen oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei denen sich einzelne Bundesministerien für zuständig erklären, gibt es auch kein entsprechendes Gegenüber für Friedensbildung auf Bundesebene.

So versucht sich Friedensbildung derzeit über Fördertöpfe des Globalen Lernens, der politischen Bildung oder der Bildung für Nachhaltigkeit zu finanzieren, unterliegt in dieser Einschränkung aber immer einer klaren Begrenzung ihres Themenspektrums. Eine umfassende Friedensbildung, wie vom bundesdeutschen Netzwerk postuliert, ist so nur schwer zu gestalten.

Doch »Totgesagte leben länger« und die ermutigenden Entwicklungen der regionalen und bundesweiten Netzwerke für Friedensbildung lassen für die Zukunft hoffen. So ist die Friedensbildung inzwischen wieder lebendig, entwickelt viele kreative Bildungsangebote und kämpft für angemessene Ausstattung und Strukturen.

Angebote zur Friedensbildung

netzwerk-friedensbildung.de
Seite des Bundesweiten Netzwerkes mit Links zu den regionalen Netzwerken, die Referent*innen der Friedensbildung vermitteln

friedensbildung-schule.de
Sammlung von Materialien für den Unterricht

ziviler-friedensdienst.org
Ausstellung »Wir scheuen keine Konflikte« mit umfangreichem Material für Unterricht und Projektarbeit

friedensbildung.de
»Frieden geht anders!« – Ausstellung plus Unterrichtsmaterial

peace-counts.de
Ausstellung, Reportage und Material für Bildungsarbeit über Friedensmacher*innen aus aller Welt

friedenskreis-halle.de/projekt/weltentausch.html
»ene mene muh – und raus bist DU!«- Interaktives Lernspiel zu Flucht und Asyl in Deutschland

civilpowker.de
ein systemisches Lernspiel zum zivilem Engagement in internationalen Konflikten

integrationsmatrix.de
Ein Spiel und Workshops zum Verbindenden und Trennenden

Anmerkung

1) Nach entsprechendem Druck aus der Friedensbewegung verlieh die von der rot-grünen Landesregierung überarbeitete Kooperationsvereinbarung für NRW von 2012 dem Ansinnen Ausdruck, dass „unterschiedliche Institutionen und Organisationen gleichberechtigt und gleichgewichtig einbezogen und berücksichtigt werden“ sollen (NRW und Bundeswehr 2012, S. 2). Andere Bundesländer folgten mit ähnlichen geänderten Kooperationsverträgen.

Literatur

Bundesweites Netzwerk Friedensbildung (o.J.): Unser Gründungspapier. URL: netzwerk-friedensbildung.de

Friedensbildung Niedersachsen (o.J.): Vermittlung von Expert*innen in ziviler Konfliktbearbeitung als Referent*innen für sicherheitspolitische Fragen in den schulischen Unterricht. URL: friedensbildung-niedersachsen.de

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nolz, B. (1995): Atomare Frage und Individualisierung. Handlungsmöglichkeiten im Kontext von Unterricht und Erziehung. In: Wissenschaft und Frieden 1/1995.

NRW und Bundeswehr (2008): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 29.10.2008.

NRW und Bundeswehr (2012): Kooperationsvereinbarung zwischen dem Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Wehrbereichskommando II der Bundeswehr. 30.08.2012.

PI-Villigst (o.J.): Ausbildung zur Friedensbildungsreferentin/zum Friedensbildungsreferenten an Schulen, Modularisierte Ausbildung. URL: pi-villigst.de

Bernd Rieche ist Referent für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensbildung bei der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF). Er koordiniert u.a. das Bundesweite Netzwerk Friedensbildung mit.

Lernschritte Richtung Frieden

Lernschritte Richtung Frieden

Zur Entwicklung der Friedenspädagogik in der BRD

von Uli Jäger

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten sich den an einer Friedenspädagogik interessierten Pädagog*innen Fragen nach der Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und Möglichkeiten der Versöhnung. Seitdem hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen der letzten 70 Jahre nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Im Einführungstext zum Themenschwerpunkt »Friedenspädagogik« der Zeitschrift »Psychosozial« aus dem Jahr 1985 steht:
„Wir wissen, daß unsere Zukunft davon abhängt, daß die Erziehung zum Frieden gelingt“ (Ebd., S. 5). Man muss es nicht so dramatisch sehen, aber die unterstützende Rolle der Friedenspädagogik auf dem Weg in eine friedlichere Zukunft ist unbestritten. Schließlich geht es um die Aneignung von Werten und Wissen und um die Entwicklung von Einstellungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, damit Gewalt reduziert, Konfliktpotenzial konstruktiv bearbeitet und Frieden gefördert werden kann (vgl. Jäger 2019). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich schrittweise in Theorie und Praxis eine vielfältige Landschaft zeitgemäßer pädagogischer Ansätze entwickelt, die mit den Begriffen Friedenserziehung, Friedenspädagogik, Friedensbildung und Friedenslehre umschrieben werden. Der folgende Beitrag zeichnet Etappen und Erfahrungen nach und macht Linien in die heutige Zeit sichtbar.

Re-education und Orientierungsphase

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellten sich den an einer Friedenserziehung interessierten Pädagog*innen an erster Stelle Fragen nach einer Aufarbeitung der Verantwortung für Krieg und Holocaust und den Möglichkeiten der Versöhnung. Hinzu kam, dass sich das geteilte Deutschland rasch im Brennpunkt der Weltpolitik als Schauplatz des Kalten Krieges und der (atomaren) Aufrüstung befand. Schließlich trafen in Deutschland Feindbilder zwischen Ost und West besonders heftig aufeinander. Nicht nur die Entwicklung der von Theodor Adorno geforderten
„Erziehung zur Mündigkeit“ hatte es schwer, sondern auch die Friedenserziehung. Eine Phase der »Re-education« im Sinne einer systematisch konzipierten, die gewaltsame Vergangenheit aufarbeitenden Erziehung zum Frieden und zur internationalen Völkerverständigung hat es denn auch nicht gegeben. Der Pädagoge Hermann Röhrs wies später als Begründung auf den beginnenden Kalten Krieg hin, weil
„mit der wachsenden Skepsis der Alliierten gegenüber den Russen auch die Vorbehalte hinsichtlich der Friedenserziehung und internationalen Verständigung zunahmen“ (Röhrs 1983, S. 53).

Gleichzeitig wurde angesichts mangelnder Konzeptionen aber auch Geduld angemahnt. Für in der Bildung tätige Menschen, die sich um die schwere Aufgabe der ‚Friedenspädagogik‘“ bemühen wollen, sei
„es notwendig zu sagen, daß es im Augenblick vielleicht nur darum gehen kann, vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, um Zeit und Raum für den eigentlichen Aufbau einer ‚Erziehung zum Frieden‘ zu gewinnen“ (Roth 1967, S. 95). Dieser Aufbau vollzog sich als Orientierungsphase schritt- und facettenreich in Theorie und Praxis. Die Bandbreite der anstehenden Themen wurde schon in den ersten beiden Publikationen des 1976 gegründeten »Vereins für Friedenspädagogik« (Tübingen) deutlich. Heft 1 der 1978 erschienen »Materialien für die schulische und außerschulische politische Bildung« widmete sich der Auseinandersetzung mit der sicherheitspolitisch relevanten Problematik der Neutronenwaffen, Heft 2 der innergesellschaftlichen Suche nach einem am Leitwert Frieden orientierten Gedenken an »40 Jahre ‘Reichskristallnacht’«.

Friedensforschung und Kritische Friedenserziehung

Ab Mitte der 1970er Jahre lässt sich eine Intensivierung der friedenspädagogisch orientierten Theoriediskussionen feststellen, beginnend mit dem Band »Kritische Friedenserziehung« (vgl. Wulf 1973). Wesentliche Impulse kamen aus der neuen Disziplin der Friedensforschung, wobei die Relevanz von Johan Galtungs Friedens- und Gewaltdefinitionen für Friedenspädagogik (wissenschaftlich konzeptionell orientiert) und Friedenserziehung (praxeologisch orientiert) ausführlich diskutiert wurden. In einer beachtlichen Anzahl von Publikationen wurde in den 1980er und -90er Jahren das Spektrum der Friedenspädagogik entfaltet und konstruktiv diskutiert (vgl. die Sammelbände Calließ und Lob 1988; Buddrus und Schnaitmann 1991) und dabei auch nicht mit Kritik an einer zu individualistisch orientierten Ausrichtung gespart (vgl. Bernhard 1988). Hans Nicklas und Änne Ostermann, die an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung forschten, schrieben dazu:
„Friedens­er­ziehung, die den einzelnen Menschen Friedlichkeit, weltbürgerliche Gesinnung und rationales Konfliktverhalten anempfiehlt, ist sicher gut gemeint, aber naiv. […] Friedenserziehung kann also nicht heißen: Erziehung zur Friedlichkeit, sondern zu der Fähigkeit, Frieden durch kollektives Handeln herzustellen und zu erhalten“ (Nicklas und Ostermann 1988, S. 148).

Friedensbewegung und Massenlernprozesse

Dafür war die Friedensbewegung der 1980er Jahre ein geeignetes ­Handlungs- und Lernfeld (vgl. van Dick 1984). Abgesehen vom persönlichen Engagement in der Bewegung ging es um die professionelle Unterstützung der Auseinandersetzung mit inhaltlichen und methodischen Themenstellungen. Als Ergebnisse erschienen auf publizistischer Ebene zahlreiche didaktische Materia­lien, die den Anspruch vertraten, sicherheits- und friedenspolitisch relevante Themen (z. B. Herrschende Sicherheitspolitik und Rolle der Bundeswehr, alternative Sicherheitskonzepte und Soziale Verteidigung) so aufzubereiten, dass neben der angemessenen Reduktion von Komplexität auch die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen in allen denkbaren Erziehungs- und Bildungsfeldern, aber auch innerhalb der Friedensbewegung berücksichtigt wurden.

Zu diesem Zusammenspiel von Friedensforschung und Friedenspädagogik gehörte auch die von Mitte der 1970er Jahre bis in die 1990er Jahre veröffentlichte Publikationsreihe »Friedensanalysen«, als deren Zielsetzung die
Vermittlung von Friedensforschung und Friedenspolitik bzw. -erziehung“ genannt wurde, und das von 1989 bis 1998 jährlich im Verlag C.H. Beck erschienene »Jahrbuch Frieden«. Durch die Einbeziehung des formalen wie non-formalen Bildungsbereiches – und einem daraus resultierenden Multiplikator*inneneffekt – leistete die Friedenspädagogik einen Beitrag zu einer breiten »Alphabetisierung« der Öffentlichkeit in Sachen Sicherheits- und Friedenspolitik.

Die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Gewaltfreiheit als Handlungs- und Lebensprinzip entwickelte sich in diesen Jahren zu einem noch heute aktuellen Kernthema der Friedenspädagogik (vgl. Frieters-Reermann und Lang-Wojtasik 2015). Es wurde gelernt, eigene Gestaltungsspielräume zwischen Friedensforschung und Friedensbewegung – genauso wie zwischen basisbezogenen Lernansätzen und etablierter politischer Bildung – zu eröffnen und zu behaupten. Ein wichtiger Erfahrungsschatz, der bis heute wirkt.

Friedensbildung in der Schule

Eignet sich die Schule als Lernort für Frieden? Diese grundsätzliche Frage beschäftigt die Friedenspädagogik immer wieder aufs Neue (vgl. exemplarisch Duncker 1988; Meisch, Jäger und Nielebock 2018). Dabei ist die (kritische) Auseinandersetzung mit internationalen Entwicklungen im Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik nur ein Aspekt. Aber wie pädagogisch (und politisch) kontrovers in der Bundesrepublik der Umgang mit sicherheitspolitischen Themen in der Schule diskutiert wurde, zeigt das Scheitern des Unternehmens »Friedenserziehung bundesweit«. Zu Beginn der achtziger Jahre starteten Beratungen in der Kultusministerkonferenz zu der Frage, wie »Friedenserziehung und Friedenssicherung« in der Lehrer*innenbildung und im Unterricht verankert werden sollten. Es kam es zu keiner Einigung und am Ende lagen zwei unterschiedliche Dokumente vor: eines für die sozialdemokratisch und eines für die christdemokratisch regierten Bundesländer. Hintergrund dieser Beratungen war ein Versuch aus dem Bundesverteidigungsministerium, angesichts steigender Bereitschaft zur Kriegsdienstverweigerung über die Kultusministerien Einfluss auf die Behandlung des Themas »Friedenssicherung« an den Schulen zu nehmen (vgl. Lutz 1984; Jäger 2014). Die Thematik und der Umgang mit der Präsenz von Jugendoffizier*innen in der Schule beschäftigt die Friedenspädagogik auch noch im Jahr 2021. Gleichwohl ist das schulische Angebot der Friedensbildung viel umfassender geworden und deckt ein breites Spektrum von Themen und Methoden ab, die sich an den Grundsätzen der politischen Bildung und den Bildungsplänen der Länder orientieren (siehe Articus et al., S. 20 in diesem Heft).

Meilenstein 2000: Recht auf gewaltfreie Erziehung

Die Förderung gewaltfreier Erziehung gehört zu den Grundkonstanten der Friedenspädagogik. Die Wurzeln reichen weit zurück in die Vergangenheit. So wies schon die Reformpädagogik von Maria Montessori darauf hin, dass es gezielter Erziehung bedürfe, um in einem jungen Menschen die Fähigkeit zum Frieden zu entwickeln. Montessori lies aber auch keinen Zweifel daran, dass das Ende von Gewalt und Krieg und die Etablierung eines Friedens neben erzieherischen Maßnahmen auch der politischen Anstrengungen und der Verrechtlichung bedürfen.

Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 2000, wurde mit der Verankerung des Rechts der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland ein wirklicher Meilenstein für die Legitimation einer gewaltfreien Erziehung erreicht. Gewalt gegen Kinder – vor allem im familiären Kontext – ist jedoch leider auch heute noch Bestandteil unserer Gesellschaft und es bedarf anhaltender Anstrengungen für deren Reduzierung oder gar Überwindung.

Internationale Dekaden und globales Lernen

Drei sogenannte inhaltliche »Dekaden« (alle in einem Jahrzehnt) stellen weitere wegweisende Etappen in der Entwicklung der Friedenspädagogik dar: Am 10. November 1998 rief die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Jahre 2001–2010 zur »Internationalen Dekade für eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens für die Kinder der Welt« aus. Ein wesentliches Ziel darin: die Förderung und Vertiefung der Friedenskultur durch Erziehung und Ausbildung. Bei der Umsetzung der Dekade konnten sich die nationalen UNESCO-Kommissionen auf friedenspädagogische Erfahrungen und Strukturen stützen – und die friedenspädagogischen Diskurse wurden im Gegenzug theoretisch wie praktisch bereichert, vor allem mit Blick auf die inhaltliche Füllung des Leitmotivs einer »Kultur des Friedens« (Wintersteiner 2011).

Zeitgleich rief der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) für den Zeitraum von 2001 bis 2010 die »Dekade zur Überwindung von Gewalt« aus. Die Vernetzung von in der Friedenserziehung engagierten Personen und Einrichtungen mit theologischen Institutionen wurde zu einem Merkmal der Dekade und die Überschneidungen der Friedenspädagogik mit Ansätzen der interreligiösen Erziehung sichtbar (vgl. Nipkow 2007).

Schließlich rundete die UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (2005-2014) das Jahrzehnt der Dekaden ab. Alle drei Dekaden stärkten die Vernetzung und internationale Ausrichtung der Friedenspädagogik. Friedenspädagogische Ansätze sind weltweit zu finden und sie eint in aller Unterschiedlichkeit, dass sie einen Beitrag zur Etablierung einer globalen und nachhaltigen Kultur des Friedens leisten wollen.

Infrastruktur und Masterstudiengänge

Zwei wesentliche Institutionalisierungen der letzten Jahre haben der Verankerung der Friedensbildung geholfen: Zum einen fand mit dem Georg-Zundel-Haus der Berghof Foundation in Tübingen ein Teil der Friedenspädagogik in Deutschland im Jahr 2000 einen attraktiven Ort, an dem im Rahmen der begrenzten Ressourcen das systematische Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis und die stetige Verknüpfung von lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene praktiziert wird. Glücklicherweise bestehen weitere, seit vielen Jahrzehnten friedenspädagogisch ausgerichtete Einrichtungen (z. B. die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik München / Institut für Gewaltprävention und demokratische Bildung) und die Infrastruktur wird immer wieder durch sich etablierende neue Netzwerke oder Arbeitsbereiche bereichert. Als Beispiele lassen sich das Norddeutsche Netzwerk Friedenspädagogik oder die Friedensakademie Rheinland-Pfalz nennen. Mit der Einrichtung der Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg (siehe Articus et al., S. 20 und Rieche, S. 24 in diesem Heft) ist eine Institutionalisierung für den schulischen Kontext gelungen und in Niedersachsen werden Grundlagen für vergleichbare Entwicklungen gelegt. Der Arbeitskreis Friedenspädagogik der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) gibt Raum für Vernetzung, Erfahrungsaustausch und aktuelle Diskurse.

Eine neue, innovative und nachhaltige Dimension der wissenschaftlichen Infrastruktur wurde mit der Einführung von Masterstudiengängen zur Friedensforschung eröffnet. Zu dieser Form von Friedenslehre werden allein sieben über ganz Deutschland verteilte Angebote gezählt, darunter ein Studiengang mit explizit friedenspädagogischer Komponente (Tübingen).
Die große Nachfrage nach den verfu¨gbaren Studienplätzen zeugt von der Attraktivität dieser Masterstudiengänge“, so der Wissenschaftsrat (Wissenschaftsrat 2019, S. 42). Und eine aktuelle, gute Nachricht kommt aus dem Friedensinstitut Freiburg: Dort soll im Sommersemester 2022 erstmals in der Geschichte Deutschlands ein dreisemestriger Vollzeit-Masterstudiengang »Friedenspädagogik / Peace Education« starten (derzeit in Akkreditierung).

Lernschritte mit Perspektive

Trotz großer Lernschritte und Entwicklungen beim »Frieden lernen« bleibt die
„unzureichende theoretische Fundierung“ (Frieters-Reermann 2017, S. 96) eine Herausforderung. So gibt es noch immer keinen Lehrstuhl für Friedenspädagogik und die Fördermöglichkeiten sind mehr als begrenzt. Gleichzeitig steigen die Erwartungen: So heißt es im Nachhaltigkeitsziel 4 der UNO (SDG 4), dass eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit geschaffen werden soll. Diese soll helfen, dass bis 2030 alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben können. Deutschland könnte mit der gezielten Förderung von Friedenspädagogik einen starken Beitrag zur Umsetzung des Zieles leisten. In Zeiten der Covid-19-Pandemie, anhaltender Gewalt und Klimakrise, zunehmender Digitalisierung und Globalisierung sowie den friedenspädagogisch wichtigen gesellschaftlichen Debatten über Rassismus oder Dekolonialisierung muss die zukünftige Ausrichtung von Bildung neu ausgelotet werden. Dabei besteht
kein Zweifel darüber, dass Frieden, Umgang mit kultureller Diversität und Nachhaltigkeit zu den Bedingungen zukunftsfähiger Bildung in der globalen Moderne gehören“ (Wulf 2020, S. 204). Dazu muss auch der systematische Austausch zwischen den „Überlebenspädagogiken“ (Lang-Woj­tasik 2019, S. 10) dringend verstärkt werden.

Literatur

Bernhard, A. (1988): Mythos Friedenserziehung. Zur Kritik der Friedenspädagogik in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Gießen: Focus.

Buddrus, V.; Schnaitmann, G. W. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik im Paradigmenwechsel. Allgemeinbildung im Atomzeitalter: Empirie und Praxis. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Calließ, J.; Lob, R. E. (Hrsg.) (1988): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 3: Friedenserziehung. Düsseldorf: Schwann.

Duncker, L. (Hrsg.) (1988): Frieden lehren? Beiträge zu einer undogmatischen Friedenserziehung in Schule und Unterricht. Langenau-Ulm: Armin Vaas Verlag.

Frieters-Reermann, N. (2017): Friedenspädagogik. In: Lang-Wojtasik, G.; Klemm, U. (Hrsg.): Handlexikon Globales Lernen. Ulm: Klemm+Oelschläger, S. 94-98.

Frieters-Reermann, N.; Lang-Wojtasik, G. (Hrsg.) (2015): Friedenspädagogik und Gewaltfreiheit. Denkanstöße für eine differenzsensible Kommunikations- und Konfliktkultur. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich.

Jäger, U. (2019): Friedenspädagogik. In: Gießmann, H. J.; Rinke, B. (Hrsg.): Handbuch Frieden. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden: SpringerVS, S. 133-145.

Jäger, U. (2014): Friedenspädagogik in Zeiten des Kalten Krieges (1945-1989): Herausforderungen, Etappen, Erfahrungen. In: Kössler, T.; Schwitanski, A. J. (Hrsg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, Essen: Klartext, S. 39-55.

Lang-Wojtasik, G. (2019): Große Transformation als große Verantwortung – Globales Lernen als Bildungsauftrag. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): SDGs: Globale Ziele, unterschiedliche Perspektiven?! Friedensbildung – Globales Lernen – Bildung für nachhaltige Entwicklung. Stuttgart, S. 10.

Lutz, D. S. (Hrsg.) (1984): Weder Wehrkunde noch Friedenserziehung? Der Streit in der Kultusministerkonferenz 1980-1983 – Arbeitsmaterialien zum Thema Frieden in Unterricht und politischer Bildung. Baden-Baden: Nomos.

Meisch, S.; Jäger, U.; Nielebock, Th. (Hrsg.) (2018): Erziehung zur Friedensliebe. Annäherungen an ein Ziel aus der Landesverfassung Baden-Württemberg. Baden-Baden: Nomos.

Nicklas, H.; Ostermann, Ä. (1988): Kann man zum Frieden erziehen? Neue Überlegungen zu einem alten Thema. In: Antimilitarismus Information 12/1988, S. 148-152.

Nipkow, K.-E. (2007): Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Psychosozial (1985): Friedenspädagogik. Ausgabe 26, Reinbek bei Hamburg.

Röhrs, H. (1983): Frieden – eine pädagogische Aufgabe. Idee und Realität der Friedenspädagogik. Braunschweig: Agentur Pedersen.

Roth, K. F. (1967): Warum Friedenserziehung? Zit. nach: Heck, G.; Schurig, M. (Hrsg.) (1991): Friedenspädagogik. Theorien, Ansätze und bildungspolitische Vorgaben einer Erziehung zum Frieden (1945-1985). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft., S. 95.

van Dick, L. (Hrsg.) (1984): Lernen in der Friedensbewegung. Verantwortung von Pädagogen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Wintersteiner, W. (2011): Von der „internationalen Verständigung“ zur „Erziehung für eine Kultur des Friedens“. Etappen und Diskurse der Friedenspädagogik seit 1945. In: Schlotter, P.; Wisotzki, S. (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 345-381.

Wissenschaftsrat (2019): „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“.

Wulf, C. (2020): Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. Weinheim / Basel: Beltz.

Wulf, C. (Hrsg.) (1973): Kritische Friedenserziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Uli Jäger leitet bei der Berghof Foundation die Abteilung „Global Learning for Conflict Transformation“. Von 1986 bis 2012 war er Ko-Direktor des Instituts für Friedenspädagogik, Tübingen e.V.. 2017 erhielt Uli Jäger von der Universität Tübingen eine Honorarprofessur für Friedenspädagogik und Globales Lernen.

Gelingende Friedenslehre – Costa Rica

Ein Studium an der Friedensuniversität

Jedes Jahr zieht es ca. 200 internationale Studierende nach Costa Rica, um gemeinsam über Frieden und Konflikt in der Welt zu diskutieren, Theorien zu erlernen und praktische Erfahrungen auszutauschen – mittlerweile haben mehr als 1.600 Alumni die Ausbildung durchlaufen. Die Friedensuniversität bietet Masterstudiengänge und ein Doktorand*innenprogramm sowie zusätzliche Bildungsangebote an. Die Masterstudiengänge sind in drei Fachbereiche aufgegliedert: Friedens- und Konfliktforschung, Umwelt und Entwicklung sowie Internationales Recht. Das Programm gestaltet sich interaktiv, Exkursionen sind zentraler Bestandteil des Studiums.

In der Amtszeit des Präsidenten Rodrigo Carazo (1978-1982) wurde der Prozess zur Gründung der Friedensuniversität angestoßen. Am 5. Dezember 1980 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Resolution 35/55 zur Gründung der »Universität für den Frieden« (UPEACE). 41 Staaten wurden in der Folge Unterzeichnerstaaten der UPEACE-Charta.

Der Auftrag der Universität ist es, „der Menschheit mit einer internationalen Bildungseinrichtung für den Frieden zur Seite zu stehen mit dem Ziel, unter allen Menschen den Geist des Verständnisses, der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens zu fördern, die Zusammenarbeit zwischen den Völkern anzuregen und dazu beizutragen, Hindernisse und Bedrohungen für den Weltfrieden und den Fortschritt abzubauen, im Einklang mit den edlen Bestrebungen, die in der Charta der Vereinten Nationen verkündet wurden“.

Die Universität, am Rande eines Naturschutzgebietes in der Nähe der Hauptstadt San Jose gelegen, steht für gelebte Diversität und zeichnet sich durch die internationale Lernatmosphäre aus. Seit einigen Jahren werden die Programme auch online angeboten. Für Masterstudierende weltweit besteht die Möglichkeit, ein Auslandssemester an der Universität zu verbringen.

Für weiterführende Informationen: upeace.org

Farbe bekennen – Rassismus und ZKB


Farbe bekennen – Rassismus und ZKB

Jahrestagung der Plattform ZKB, online, 16.-17. April 2021

von Martin Quack

„It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.“ (Audre Lorde)

Rassismus und Konfliktbearbeitung sind eng miteinander verwoben: In einer Gesellschaft mit strukturellem Rassismus müssen Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit selbst explizit rassismuskritisch werden. Diese klare Botschaft und der damit einhergehende Handlungsanspruch standen im Mittelpunkt der diesjährigen außergewöhnlichen Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, die in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Villigst am 16. und 17. April 2021 erstmalig als Online-Tagung stattfand. Beide Themenfelder können sich aber auch gegenseitig mit ihren Methoden, Ansätzen und Erfahrungen befruchten. Die Vorträge und Diskussionen bestätigten diese Perspektiven auf das Doppelthema der Tagung »Farbe bekennen«, die den Titel der ersten umfassenden Veröffentlichung zu Schwarzer deutscher Geschichte aufgriff: »Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte«, herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz (1986).

Bis zu 100 Personen nahmen aktiv über die Dauer der zweitägigen Konferenz an der Veranstaltung teil, ließen sich auf das Online-Format ein und beteiligten sich an den Diskussionen, im Chat und in Arbeitsgruppen. Zusätzlich konnten Teile der Tagung in einem Video-Stream verfolgt werden. Das Spektrum der Teilnehmer*innen war breit: Von Mitgliedern der Plattform ZKB über neue Kolleg*innen aus den Mitgliedsorganisationen bis hin zu Aktiven aus rassismuskritischen Initiativen. Von Menschen, die seit Jahrzehnten intensiv zu Rassismuskritik arbeiten – etwa in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) – bis zu denen, die dies zum ersten Mal in dieser Intensität taten. Klar war: Menschen, die selbst von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, können sich im Gegensatz zu anderen, die als Weiße gelesen werden, nicht aussuchen, ob sie sich mit dem Thema befassen wollen oder nicht. Die meisten Menschen nahmen aus Deutschland teil, einzelne aus anderen Ländern wie den Niederlanden, die Organisation Sadaka Reut aus Israel und Tiaji Sio (Diplomats of Color) aus Vietnam.

Engagiert und kontrovers wurden grundlegende Definitionen von Rassismus diskutiert, konkrete Ausprägungen von strukturellem Rassismus in Gesellschaft und Institutionen beleuchtet sowie eigene Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt.

Thematisch reichte der Bogen der Tagung von rassismuskritischen Prozessen der Organisationsentwicklung über Diversität in den Sicherheitskräften oder das Konzept der Friedenslogik, das beide Themen verbinden kann, bis zu den politischen Rahmenbedingungen und zur Bundestagswahl. Sheila Mysorekar (Neue deutsche MedienmacherInnen) und Marianne Pötter-Jantzen (MISEREOR) machten deutlich, wie kolonialistische Narrative bis heute reproduziert werden und welche Bedeutung dies etwa für Hilfsorganisationen hat. Paulino Miguel (Forum der Kulturen) betonte, wie sehr auch die Entwicklungszusammenarbeit von strukturellem Rassismus geprägt ist. In kleineren Gruppen wurden die vielfältigen eigenen Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Sheena Anderson zeigte Wege zur rassismussensiblen Konfliktarbeit auf. Mauricio Salazar stellt in seiner Tagungsbeobachtung fest, dass die Vielfalt der deutschen Gesellschaft in vielen Organisationen noch nicht sichtbar wird.

Eine erste Bewertung der Tagung ist auf verschiedenen Ebenen möglich:

  • Reaktion: Das Engagement und das breite Interesse waren bereits im Vorfeld spürbar. In den Diskussionen, im Chat, auf der Tagungsplattform sowie im Anschluss per E-Mail äußerten sich viele Teilnehmer*innen sehr positiv zu Inhalten und Ablauf der Tagung.
  • Lernen: Die sehr verschiedenen Menschen, die auf der Tagung anwesend waren, konnten in unterschiedlichem Umfang ihr Wissen erweitern, etwa zum Ausmaß des strukturellen Rassismus, der als strukturelle Gewalt begriffen werden kann. Haltungen konnten reflektiert und konkrete Fähigkeiten unter den erschwerten Bedingungen einer Online-Konferenz erprobt werden: Welche Äußerungen und Begriffe sind angemessen und wertschätzend? Welche Definitionen hilfreich? Deutlich wurde bei vielen Teilnehmenden eine hohe Motivation zur Übersetzung und Umsetzung des Themas in die eigene Arbeit.
  • Verhalten: Die Organisation EIRENE stellte dar, wie sie ihr eigenes Verhalten bereits verändert und weiter verändern will. Auch andere Organisationen aus der Friedensarbeit führen bereits rassismuskritische oder machtkritische Prozesse durch oder stehen kurz davor. Handlungsmöglichkeiten, die identifiziert wurden, reichen vom individuellen Verhalten über Strukturen und Prozesse in Organisationen bis hin zu politischen Gremien wie dem Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung.
  • Resultate: Der Open Space zum Ende der Tagung konkretisierte, wie die Prozesse weitergehen sollen. Für eine Bewertung der Resultate ist es allerdings noch zu früh. Die Ideen für Vorhaben reichen von konkreten Einladungen zu weiteren Veranstaltungen (bspw. ein Workshopangebot des BSV) bis hin zu Konsequenzen für eine zivile Außen- und Innenpolitik – etwa die Idee eines Ministeriums für Integration, die von MdB Aydan Özoguz eingeführt und im Chat weiterdiskutiert wurde. Das Thema und das Format der Tagung waren außergewöhnlich für die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Auf dem Weg zu rassismuskritischer Konfliktbearbeitung hat sie zusammen mit der Evangelischen Akademie Villigst einen großen Schritt gemacht, auf den viele weitere folgen sollen, um Köpfe zu dekolonisieren, die Differenz zu feiern und Politik friedenslogisch zu gestalten.

Martin Quack