USA aus Syrien?

Rückzug der USA aus Syrien?

von Mechthild Exo und Karin Leukefeld

Der Abzug der westlichen Truppen aus Syrien ist eine Kernforderung der Friedensbewegung und wird häufig aus völkerrechtlichen Gründen angemahnt. Dennoch sorgte die Ankündigung von US-Präsident Trump vom Dezember 2018, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, auch in der deutschen Friedens­bewegung für Aufregung. So gab es viele Stimmen, die vor allem nach der Zukunft der selbstverwalteten Gebiete im Norden und Nordosten Syriens (»Rojava«) fragten. Nicht zuletzt wird befürchtet, die türkische Regierung unter Präsident Erdogan würde einen von ihr als »Machtvakuum« wahrgenom­menen
US-Abzug mit einer erneuten Intervention beantworten, die wie im Fall der Eroberung Afrins in Vertreibung und Besatzung enden könnte.
Auch wenn die Entwicklung inzwischen gezeigt hat, dass Trumps Ankündigung nicht so und nicht so schnell umgesetzt wird, sind diese Fragen weiterhin aktuell. »Wissenschaft und Frieden« bat zwei Kennerinnen der Region darzustellen, wie aus ihrer jeweiligen Sicht ein Abzug der US-Truppen zu bewerten wäre. Mechthild Exo und Karin Leukefeld beleuchten das Thema auf sehr unterschiedliche Weise.

Ein Friedensprozess für Syrien ist möglich

von Mechthild Exo

Ende 2018 signalisierte der eingeleitete US-Truppenabzug der Türkei freie Hand für einen militärischen Überfall auf Nordsyrien. Kurz zuvor hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gedroht, die gesamte Selbstverwaltungsregion im Norden Syriens militärisch zu erobern und zu besetzen, wie bereits seit März 2018 den westlichsten Kanton in Selbstverwaltung, Afrîn.

Die Ankündigung des Abzugs aller US-Soldaten aus Syrien löste daher bei der Kurdischen Bewegung, bei Solidaritätsgruppen und bei zahlreichen Außenpolitiker*innen unmittelbar kritische Reaktionen aus, die auf das übliche machtpolitische Denken zurückgriffen. Doch die Kurdische Bewegung hatte das US-Militär nicht darum gebeten, nach Syrien zu kommen. Die Erfolge der gesellschaftlichen Transformation zu einer basisdemokratischen, geschlechterbefreienden Lebensweise sowie die Zurückdrängung und Niederschlagung des »Islamischen Staates« (IS) haben ihre Wurzeln nicht in der militärischen
Unterstützung von außen. Vielmehr sind die politischen Grundideen entscheidend für die Verteidigung des selbstorganisierten Demokratieprojektes in Nordostsyrien und für eine Friedenspolitik für das gesamte Syrien. Darum soll es nachfolgend gehen.

Schlüsselfaktor Bewusstsein

Das, was viele als gelebte Utopie beeindruckt und durch Mut und Zuversicht im Kampf gegen den IS überraschte – schließlich hatten zuvor staatliche Armeen vor den faschistischen Mörderbanden des IS kapituliert1 –, lässt sich nicht vorrangig mit militärischer Kooperation, Schlagkraft oder anderen Machtfaktoren erklären. Die bewaffneten Handlungen werden von der Kurdischen Bewegung nicht als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele verstanden. Ganz im Gegenteil: Die sozialen und persönlichen Veränderungsprozesse, die Bildung und der
Aufbau von Strukturen der Selbstorganisierung sind der Weg zur Durchsetzung der neuen Gesellschaft. Diese Prozesse stehen im Zentrum. Die bewaffneten Verteidigungsaktivitäten ergänzen diese und dürfen nicht losgelöst gedacht werden, sie sind aber eher so etwas wie die zweite Seite einer Medaille.

„Das Bewusstsein über die Errungenschaften der Rojava-Revolution ist für die Frauen und die Bevölkerung eine wichtige Motivation, sich auf allen Ebenen für ihre Verteidigung einzusetzen. Das ist es, was den Frauen der [kurdischen Frauenverteidigungseinheiten] YPJ von Serê Kaniyê und Kobanê bis hin nach Reqqa und Dêrazor den Mut und die Kraft verlieh, den IS in die Flucht zu schlagen und zu besiegen.“ (Benario 2019, S. 20) Von ziviler Seite wird das z.B. von Suad Ewdilrahman für den von zehn Frauen als Kooperative betriebenen Laden »Schönheit
der Frau« bestätigt: „Wir sind mit unserer Arbeit zufrieden und möchten ein Beispiel für die ganze Welt sein. Mitten in unserer Revolution sind wir Frauen an der Kriegsfront im Einsatz gewesen. Das war genauso wichtig wie unsere Arbeit hier im Innern der Gesellschaft. Das ist auch eine Front. Wir haben beides zugleich geschafft. Wir sind stark und weichen vor unseren Feinden nicht zurück. Wir stehen unsere Frau – gegen alle Anfeindungen.“ (Krieg 2019)

Das solidarische Bewusstsein in der Gesellschaft und der Wille, frei und würdevoll zu leben, ermöglichen erst den Widerstand. Sie verhindern auch, dass der Krieg und erfahrenes Unrecht die Menschen zu Brutalität und Zerstörung verleiten. Dieses Bewusstsein ist zudem die Grundlage für politische Lösungen und für die Demokratisierung von ganz Syrien.

2019 wurde am 21. März das Frühlings- und Neujahrsfest Newroz in Nord- und Ostsyrien besonders überschwänglich gefeiert. Newroz ist ein Fest aufbrechender Lebenskraft, des Neubeginns von Wachstum, und für Kurd*innen ist es zudem schon lange ein Fest des Widerstands. Dieses Jahr konnte die erfolgreiche Niederschlagung des IS bejubelt und tanzend gefeiert werden. Seit 2014 wurde der IS, beginnend mit der selbstverwalteten Stadt Kobanî, zunehmend zurückgedrängt. In den Wochen vor Newroz 2019 hatte sich der IS in den ostsyrischen Ort al-Bagouz an der Grenze zum Irak zurückgezogen und wurde vom
Verteidigungsbündnis »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) eingekesselt. Immer wieder wurden die letzten Gefechte zur Einnahme von al-Bagouz hinausgeschoben. Zehntausende konnten so flüchten und sich ergeben. Zwei Tage vor Newroz wurden die letzten IS-Stellungen durch die SDF-Einheiten, an denen sich kurdische, arabische, assyrisch-aramäische, armenische und internationalistische Kämpfer*innen beteiligten, eingenommen. Viele verloren noch bei den letzten Kämpfen ihr Leben.

52.000 Quadratkilometer wurden in Syrien von der IS-Herrschaft befreit. Das US-Militär unterstützte im Rahmen der Anti-IS-Koalition, die sich aus 74 Staaten, einschließlich Deutschland, sowie der NATO und der EU zusammensetzt, die Kämpfe mit Luftbombardierungen. Im Einsatz zur Zerschlagung des IS fielen 11.000 Kämpfer*innen – 8.500 Kurd*innen, 2.000 Araber*innen, hunderte Suryoye (Assyrer*innen) und hunderte Internationalist*innen aus der ganzen Welt. 22.000 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt (Tev-Dem 21.3.2019)

Für die SDF und ihre Unterstützer*innen war dies nicht nur ein Kampf zur Verteidigung einer einzelnen Region, sondern auch ein Kampf zur Verteidigung der Menschheit sowie zur Verteidigung der Frau im Rahmen der Prinzipien einer Demokratischen Nation” (ANF 28.3.2019).

Neue politische Konzepte: Demokratische Nation und Demokratische Autonomie

Eine Demokratische Nation ist in Nordsyrien seit 2012 im Entstehen, und die Grundlagen dafür werden in den vom IS befreiten Gebieten in Ostsyrien gelegt. »Demokratische Nation« ist ein Konzept, das Nation grundsätzlich anders begreift als der gewohnte Nationenbegriff mit Bezug auf den Staat als Ordnungsinstanz und mit territorialer Umgrenzung. Nation hat hier nichts mit Nationalstaatlichkeit oder Nationalismus zu tun. Die Demokratische Nation ist eine Verbindung sozialer Gruppen und freier Individuen auf der Basis des freien Willens. Die sozialen Gruppen müssen nicht homogen sein oder eine
gemeinsame Geschichte aufweisen, sondern sie können verschiedene ethnische, kulturelle, religiöse und andere Identitäten umfassen.

Im selbstverwalteten Nord- und Ostsyrien leben neben Kurden*innen auch Araber*innen, Suryoye, Turkmen*innen, Ezid*innen und andere Gruppen. In den letzten Jahren kamen zahlreiche Kriegsgeflüchtete aus anderen Teilen Syriens sowie die Ezid*innen aus dem Irak nach Nordsyrien. Mit diesem pluralistischen Verständnis von einer freiheitlich und solidarisch verbundenen Nation ist die Verantwortung für politische Entscheidungen und für die Organisation des Lebens verbunden, die von der Gesellschaft selbst übernommen wird. Diese demokratische Selbstorganisierung, die den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, wie religiösen Minderheiten und der Jugend, eigenständige Strukturen und Rechte zuschreibt, wird als »Demokratische Autonomie« bezeichnet. Nach außen werden diese Strukturen von der kurdisch dominierten Demokratischen Unionspartei (PYD), jedoch vor allem vom Exekutivrat und vom kürzlich gegründeten Frauenrat der Föderation Nord- und Ostsyrien vertreten.

Wo zuvor staatliche Herrschaft die Gesellschaft überging und machtpolitisches sowie marktwirtschaftliches Denken dominierten, werden nun das gesellschaftliche Leben, die sozialen Beziehungen sowie die kommunalen Kommunikations- und Entscheidungsräume ins Zentrum gestellt.

Frauenorganisierung als Grundlage der gesellschaftlichen Befreiung

Die Organisierung der Frauen und die Überwindung der patriarchalen Grundlagen in familiären und anderen sozialen Strukturen gilt als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung.

Nachdem die Stadt Rakka im Oktober 2017 von der IS-Herrschaft befreit worden war, gehörte die Einberufung von Frauenkommunen und Frauenräten zu den ersten Aktivitäten für den Aufbau der Demokratischen Autonomie – wie überall in der Selbstverwaltungsregion. Frauen haben weitere autonome Strukturen, beispielsweise »Junge Frauen« oder von Frauenwirtschaftskooperativen, -akademien und -beratungseinrichtungen, aufgebaut. Zudem gibt es eine Quote von 40 % für Frauen in den übergreifenden Entscheidungsgremien. Alle Leitungspositionen sind mit einer
Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau besetzt. Als Gesamtvertretung gibt es neben dem Exekutivrat auch den Frauenrat der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Die »Jineolojî« (Frauenwissenschaft; »jin« ist das kurdische Wort für »Frau«) bildet die Basis für eine neue Form von Sozialwissenschaft; sie stellt die positivistische, eurozentrische und von Grund auf patriarchale (westliche) Wissenschaft radikal in Frage und praktiziert andere Kriterien und Methoden für die Gewinnung von Erkenntnissen.

Theorie der demokratischen Lösung als Gegenstrategie

Nach der Vertreibung des IS ist die Frage nach der Absicherung des demokratischen Aufbaus nun vor allem mit der destruktiven Rolle der Türkei verknüpft. Die Bedeutung von Friedensverhandlungen trat spätestens seit der Zuspitzung der türkischen Angriffsdrohung Ende 2018 in den Vordergrund. Der angekündigte US-Truppenabzug wurde von vielen Seiten kritisiert, schließlich nicht umgesetzt und in den folgenden Monaten relativiert. Zudem wurde von vielen Seiten, einschließlich den USA, der Schutz der Kurd*innen in Nordsyrien vor Angriffen durch die Türkei gefordert.

Im Gegensatz zu den üblichen staats- und auf Machtansprüchen bezogenen diplomatischen Reaktionen wird vor Ort allerdings eine Friedensstrategie sichtbar, die auf einer Lösung der Probleme der Gesellschaften, auf einer demokratischen Lösung fußt. Der Frieden muss demnach von der Gesellschaft ausgehen und deren Willen verwirklichen.

Diese Herangehensweise zeigt sich darin, dass der basisdemokratische Aufbau trotz Angriffsgefahr gezielt vertieft und ausgeweitet wird. Es werden weitere Kommunen gegründet, Kindergärten, Frauenkooperativen und Jineolojî-Zentren eröffnet. Bei der Eröffnung des Jineolojî-Forschungszentrums in Hesekê am 8.1.2019 wurde erklärt, dies sei „die beste Antwort auf alle Angriffsdrohungen“ (ANF 8.1.2019).

Der langjährige PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, der sich seit 1999 in türkischer Haft befindet, wird auch von vielen Kurd*innen in Syrien als Repräsentant der kurdischen Bewegung gesehen. Seine politische Philosophie prägt das gesellschaftliche Modell der Selbstverwaltungsregion, und seine Ausarbeitungen für eine Theorie der demokratischen Lösung und die Roadmap for Peace (Öcalan 2009, deutsch 2013) erhalten aktuell große Beachtung. Öcalan äußert sich zu den Entwicklungen in Syrien wie folgt: Die SDF könnten „für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und
einen Status erreichen […], der den Prinzipien der
lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert“ (Öcalan et al. 2019, S. 6). Öcalan hält „es für notwendig, auf eine verfassungsrechtliche demokratische Lösung vorbereitet zu sein und Wege zu entwickeln, die auch das syrische Regime überzeugen können. Wenn in Nordsyrien innerhalb der Gesamtheit Syriens Methoden wie Autonomie, Föderation und ähnliches entwickelt werden, ist es seiner Meinung nach wichtig, dass dabei
eine politische
Denkweise berücksichtigt wird, die ganz Syrien umfasst.“ (ANF 21.6.2019)

Um diese Idee einer demokratischen Friedenslösung zu verwirklichen, müssen Friedensverhandlungen gesellschaftlich in einen umfassenden Kommunikationsprozess eingebunden sein und den Willen der Gesellschaft umsetzen, statt über den Kopf der Bevölkerung hinweg festgelegt zu werden. Dieser Friedensprozess muss unter Einbeziehung der PYD, des Exekutivrates sowie des Frauenrates der Föderation Nord- und Ostsyrien den demokratischen, geschlechterbefreienden und ökologischen Aufbau in Rojava absichern. Die Beteiligung der organisierten Frauen ist dabei essentiell.

Frieden und Demokratischer Konföderalismus in Syrien

Die SDF gründeten Ende 2015 das politische Dachbündnis »Demokratischer Rat Syriens« (SDC). Beide setzen sich für ein säkulares, demokratisches und föderal gegliedertes Syrien ein. Ilham Ahmed, 2018 Ko-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens und heute Exekutivratsvorsitzende der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, erklärte: „Das ganze syrische Volk hat in Bezug auf Freiheit und Recht Probleme. Es gibt nicht nur Probleme der Kurdinnen und Kurden, einer Nation oder eines einzelnen Bereiches. Das syrische Volk ist mit einer ganzen Reihe von Themen
unglücklich. Wir wollen Damaskus demokratisieren. Wir
wollen ganz Syrien demokratisieren.“ (Duran und Baslangiç 25.8.2018) Im Sommer 2018 schlug der SDC bei einem Treffen mit der syrischen Regierung das Modell der Demokratischen Autonomie als Lösung für ganz Syrien vor – ohne Erfolg.

Inzwischen wurde der SDC in eine Organisation umgewandelt, die mittels Dialog die Einheit der syrischen Opposition herstellen soll. Dazu wird ein gesamtsyrischer Nationalkongress vorbereitet. Ein Entwurf für eine neue syrische Verfassung sieht die Einheit und Gesamtheit Syriens vor sowie ein politisches System, das den Aufbau eines dezentralisierten und demokratischen Syrien ermöglichen soll. Entsprechend Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates werden eine politische Lösung und ein Waffenstillstand, das Ende der Besatzung und der Abzug des ausländischen Militärs vom syrischen Gebiet
gefordert (ANF 29.3.2019).

Die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Friedenslösung für Syrien. Eine Rückkehr zum Zustand vor 2011 ist für die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava ausgeschlossen. Außerdem muss Afrîn an die vertriebene, mehrheitlich kurdische Bevölkerung zurückgegeben werden.

Im Juni 2019 sprach sich die nord­ost-syrische Tev-Dem (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) für die Wiederbelebung der Genfer Friedensgespräche unter Leitung der Vereinten Nationen und mit Beteiligung der Vertreter*innen der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien aus. Außerdem wurde die Einrichtung eines internationalen Tribunals gefordert, vor das IS-Mitglieder gestellt werden sollen (Azadi/Güler 13.6.2019).

Im »Friedensgutachten 2018« der vier führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde die Empfehlung an die Bundesregierung gegeben, diplomatisch und öffentlich auf einen Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien und dem Irak hinzuwirken. Außerdem solle die Bundesregierung sich „nachdrücklich für eine politische Lösung der Fragen einsetzen, die mit den kurdischen Forderungen nach Selbstbestimmung einhergehen. Dazu sollte sie auf die Einbeziehung der PYD [als Vertretung der Selbstverwaltungsregion, Anm. Autorin] in die Verhandlungen über Syriens Zukunft
bestehen.“
Deutschland solle Waffenexporte in die Region stoppen und eine pro-aktivere Rolle für den Friedensprozess übernehmen (Bonn International Center for Conversion et al. 2018, S. 38).

In den letzten Monaten besuchten zahlreiche Regierungsvertreter*innen die Föderation Nord- und Ostsyrien, u.a. aus Norwegen, Schweden, Frankreich und Australien, und werteten die Föderation damit auf. Deutschland vermeidet weiterhin die diplomatische Kontaktaufnahme mit der Föderation und drückt sich vor der Rückführung deutscher IS-Kämpfer*innen und derer Angehörigen. Immerhin beteiligt sich die Bundesregierung an internationalen Treffen, die die Einrichtung eines internationalen Straftribunals für die Verurteilung der IS-Verbrecher*innen, die u.a. in der Föderation Nord- und Ostsyrien
inhaftiert sind, prüfen.

Auf zivilgesellschaftlicher Ebene werden bereits seit einigen Jahren Kooperationsbeziehungen mit Einrichtungen der selbstorganisierten Gesellschaft in Nordsyrien gepflegt, unter anderem im Gesundheitsbereich, als Hochschulkooperationen, als Schul- und Städtepartnerschaften oder als Partnerschaften zwischen Buchläden und Kindergärten.

Anmerkung

1) Unerfreulicher Weise hatten auch Teile der Friedensbewegung bereits die Macht des IS akzeptiert und Verhandlungen zur politischen Machtbeteiligung gefordert – das ist so falsch und gefährlich wie ähnliche Forderungen für die Beteiligung der Taliban in Afghanistan mittels Friedensverhandlungen.

Literatur

Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur und publiziert in neun Sprachen, darunter Deutsch; anfdeutsch.com.

ANF 8.1.2019: Jineoloji-Forschungszentrum in Hesekê eröffnet.

ANF 28.3.2019: Siegesfeier der YPJ – Auch Efrîn werden wir befreien.

ANF 29.3.2019: Abschlusserklärung des 3. Syrischen Dialogforums.

ANF 3.5.2019: QSD – Indirekte Verhandlungen mit der Türkei.

ANF 21.6.2019: Den dritten Weg stärken: Nicht abwarten, aufbauen!

Azadi, M.; Güler, A.(2019): Xelîl: Es bedarf neuer Friedensgespräche für Syrien; 3.6.2019, anfdeutsch.com

Benario, A. (2019): Wir geben es nie mehr her! Kurdistan Report Nr. 203.

Bonn International Center for Conversion (BICC); Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK); ­Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH); Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (2018): 2018 / Kriege ohne Ende. Mehr Diplomatie – weniger Rüstungsexporte / friedensgutachten. Berlin: LIT.

Duran, R.; Baslangiç, C. (25.8.2018): Die Türkei ist ein Besatzerstaat, der aus Syrien vertrieben werden wird. Interview mit Ilham Ahmed; ­civaka-azad.org.

Krieg, R. (2019): Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch. Dokumentarfilm Phoenix; youtube.com/watch?v=O3dA1Khn4jo.

Öcalan, A. (2013): Die Roadmap für Verhandlungen. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Öcalan, A.; Yildirim, H.; Konar, Ö.H.; Aktas, V. (2019): 7-Punkte-Erklärung. Informationsdossier von Civaka Azad, 10.6.2019; civaka-azad.org.

Tev-Dem 21.3.2019: Der IS ist besiegt, der Kampf geht weiter; anfdeutsch.com.

Dr. Mechthild Exo ist Lehrkraft für internationale Entwicklung, Transkulturalität, Diversität und Gender an der Hochschule Emden/Leer, Friedens- und Konfliktforscherin sowie Mitglied des ­Jineolojî-Forschungszentrums Brüssel.

Der vorsätzliche Bruch des Völkerrechts in Syrien

von Karin Leukefeld

Die Charta der Vereinten Nationen, die bis heute Geltung hat, beginnt so: Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]“. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet und trat am 24. Oktober des gleichen Jahres in Kraft (Vereinte Nationen 1945).

In Kapitel I, Artikel 1 werden die „Ziele und Grundsätze“ bestimmt, nach denen die UN-Mitgliedsstaaten handeln sollen, um, wie in der Präambel ausgeführt, „als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“ und „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“.

In Artikel 2 verpflichten sich alle Unterzeichnerstaaten auf den „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ (Punkt 1); in Punkt 3 heißt es: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ Punkt 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen
der Vereinten Nationen unvereinbare
Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Mit anderen Worten: Es gilt das Prinzip der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Ausnahmen davon sind streng begrenzt und werden in Kapitel VII der UN-Charta geregelt. Nur wenn die »kollektive Sicherheit« bedroht ist, kann das Prinzip der Nichteinmischung ausgesetzt werden. Einen solchen Sachverhalt hat der UN-Sicherheitsrat festzustellen.

50 Länder gehörten damals den Vereinten Nationen an, unter ihnen auch Syrien, Irak, Libanon und Iran. Syrien, Irak und Libanon waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem französischen bzw. britischen Mandat entlassen worden. Doch schon unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit und nach der Unterzeichnung der UN-Charta sah Syrien sich am 29. März 1949 durch einen von der US-amerikanischen Cen­tral Intelligence Agency (CIA) gesteuerten Putsch in seiner Eigenständigkeit und unabhängigen Entwicklung bedroht. Direkte und indirekte Interventionen in Syrien, Irak, Iran und Libanon halten bis
heute an.

Die Vereinigten Staaten von Amerika gehörten mit der Sowjetunion 1945 zu den treibenden Kräften für die Gründung der Vereinten Nationen. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und noch mehr seit dem 11. September 2001 haben die USA sich von den Vereinten Nationen und vom Völkerrecht immer weiter entfernt.

Der Bruch des Völkerrechts in Syrien

Alle grundlegenden Punkte der UN-Charta wurden und werden in Syrien seit 2011 von den USA und ihren Verbündeten missachtet, gebrochen und verhöhnt. Westliche Diplomaten mischten sich in die innenpolitisch motivierten Proteste im Frühjahr 2011 ein; Nachbarländer und Regionalmächte schickten Waffen, halfen bei der Gründung der »Freien Syrischen Armee« und förderten die Militarisierung. Geholfen wurde bei der Gründung von Medienzentren, mit der Ausbildung von »Bürgerjournalist*innen« und mit der Gründung eines »Syrischen Zivilschutzes«, den so genannten »Weißhelmen«. Allerdings gibt es bereits
seit 1953 einen Zivilschutz in Syrien.

Weder die Türkei noch Jordanien noch die Herkunftsländer verhinderten, dass Tausende Kämpfer illegal über die Grenze nach Syrien gelangten.

Ein Dialog mit der syrischen Regierung wurde verweigert. »Militärische Operationszentren« (englisch: MOC, Military Operation Center) in Amman und in der Türkei unterstützten die bewaffneten Gruppen mit Sold, Waffen, Ausbildung. Dem Aufstieg des »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (ISIS) und Al-Qaida-naher Milizen sah der Westen zu; die Regierung in Damaskus sollte gestürzt werden (junge Welt 2015). Bis heute findet die syrische Armee Waffenlager und -verstecke mit großen Mengen an Munition und Waffen aus westlichen Rüstungsschmieden (PressTV 2019).

Nicht ein Mal griff Syrien seine Nachbarstaaten, Europa oder die USA an.

Die völkerrechtswidrige Einmischung westlicher Staaten und ihrer Partner in Syrien ist vielfach belegt. Die syrische Regierung protestierte mit Hunderten Briefen an den UN-Generalsekretär und den UN-Sicherheitsrat gegen die Angriffe auf das syrische Territorium und die staatliche Souveränität. Ohne Erfolg. Auch der Protest gegen Hunderte nicht provozierte israelische Raketenangriffe auf angebliche iranische Stellungen in Syrien blieb seitens des UN-Sicherheitsrates unbeantwortet.

Die militärische Einmischung bis hin zur US-geführten »Anti-IS-Allianz« in Syrien findet ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und ohne Zustimmung der syrischen Regierung statt. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Neu 2018). Die Präsenz Russlands und Irans dagegen basiert auf einer Vereinbarung mit der rechtmäßigen Regierung in Damaskus, das entspricht dem Völkerrecht.

Die USA haben – völkerrechtswidrig – mehr als zwei Dutzend Militärbasen in Syrien errichtet. Dort werden US-kon­trollierte Kampfverbände ausgerüstet und ausgebildet. Eine US-Basis, Al Tanf, liegt im Dreiländereck Syrien-­Jordanien-Irak. Um die Basis Al Tanf wurde von der US-Armee eine 50 km breite »Sicherheitszone« gezogen. Syrische Soldaten, die das Territorium in Richtung des syrisch-irakisch-jordanischen Grenzgebietes durchqueren wollen, werden mit Luftangriffen und Beschuss daran gehindert. Der UN-Sicherheitsrat hat solche Angriffe nicht legitimiert.

Die anderen US-Militärbasen einschließlich Flughäfen liegen östlich des Euphrat auf dem Gebiet, das von den syrischen Kurden und den von ihnen geführten »Syrischen Demokratischen Kräften« kontrolliert wird. In diesen Gebieten liegen die syrischen Öl- und Gasvorkommen, hier wird Baumwolle angebaut, die Provinz Hasakeh gehört zu den größten Weizenanbaugebieten des Landes. Der Zugang zu den syrischen Ressourcen wird der syrischen Regierung verweigert. In der Provinz Deir Ez-Zor hat die US-geführte Koalition alle Brücken zerstört. Jeder Versuch der syrischen Armee und ihrer Verbündeten, den
Euphrat zu überqueren, wird von der US-Armee und der »Anti-IS-Allianz« militärisch verhindert. Als Begründung für Luft- und Raketenangriffe auf die syrischen Truppen verweist die US-geführte Koalition auf „Selbstverteidigung“ (South Front 2018a). Die Militärbasis Ain Issa, von der aus mindestens 200 US- und 75 französische Soldaten operieren, ist inzwischen regelmäßiger Treffpunkt westlicher Delegationen, die mit den SDF und der kurdischen Zivilverwaltung verhandeln wollen. Die Präsenz der US-Armee und ihrer Verbündeten in Syrien ist illegal. Alle, die sich daran beteiligen, nehmen
den Bruch des Völkerrechts billigend in Kauf.

Die Aufteilung Syriens

Auch wenn US-Präsident Donald Trump dafür gewählt wurde, dass er die US-Truppen aus dem Mittleren Osten abzieht, teilt er im Prinzip das, was seine Außen- und Verteidigungsminister für die Region vorgeben: Syrien soll geteilt und die Regierung in Damaskus ebenso wie ihre Verbündeten Russland und Iran militärisch und wirtschaftlich geschwächt werden.

Im Dezember 2018 kündigte Trump an, die offiziell 2.000 Soldaten aus Syrien abzuziehen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er das ebenfalls angekündigt, war aber im US-Außenministerium und im Pentagon auf Widerstand gestoßen. Weil man dort unbedingt verhindern will, dass die syrische Armee die Kontrolle über ganz Syrien wieder herstellt, hieß es, ein »Vakuum« müsse verhindert werden, weil sich sonst der »Islamische Staat« erneut festsetzen könnte.

Die völkerrechtlich gebotene Entwicklung wäre, dass die syrische Armee die Kontrolle über das eigene Territorium nordöstlich des Euphrat nach einem US-Abzug übernimmt und bei der Bekämpfung der Terrororganisation »Islamischer Staat« unterstützt werden muss. Das ist in Washington nicht vorgesehen. Man sprach sich mit den Verbündeten in einer »Kleinen Syriengruppe« – neben den USA gehören dazu Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien – ab.

Aus einem bekannt gewordenen Protokoll des Treffens der »Kleinen Syriengruppe« im Januar 2018 geht hervor, dass und wie Syrien aufgeteilt werden soll. Die Gebiete östlich des Euphrat sollen zu einem autonomen Gebiet »Ost-Euphrat« werden, die syrische Opposition – einschließlich der Kurden – soll politisch gestärkt werden. Sie sollten „sich flexibel zeigen […] ohne das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren: Syrien zu teilen und Assad zu beseitigen“, wird David Satterfield, stellvertretender Staatssekretär für den Nahen Osten im US-Außenministerium, in
dem Protokoll zitiert (Rubikon 2018). Seit April 2018 gehört auch Deutschland der »Kleinen Syriengruppe« an (dpa 2018 und Co-op News 2018). Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt es für die Gruppe nicht.

Der ursprünglich für Ende April 2019 angekündigte US-Truppenrückzug aus Syrien hat nicht stattgefunden. Prämisse bleibt, dass das Gebiet dauerhaft Damaskus und der syrischen Armee entzogen bleiben soll. Dafür braucht Washington die syrischen Kurden und muss eine militärische Präsenz ohne eigene Soldaten sichern. Drei unterschiedliche Szenarien wurden entwickelt:

  • Plan A: Mithilfe des privaten Sicherheitsunternehmens von Blackwater-Gründer Eric Prince sollte zunächst eine 30.000 Soldaten starke Armee aus Kurden, Stämmen und Söldnern aufgestellt werden. Bezahlen sollten die Golfstaaten. Elitetruppen der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens befinden sich bereits in den Gebieten östlich des Euphrat.
  • Plan B: Ein anderes Szenario sieht das Vorrücken der türkischen Armee in die Gebiete östlich des Euphrat vor, was sowohl von den Kurden als auch von den europäischen und arabischen Verbündeten der USA abgelehnt wird.1
  • Plan C: Ein neuer Vorschlag ist, dass die europäischen Partner der USA – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien, Holland und andere – gemeinsam mit der Türkei und den Golfstaaten eine 30 km breite Pufferzone im Nordosten Syriens militärisch sichern sollen (Gebauer und Schult 2019).

Keines dieser Szenarien bewegt sich auf dem Boden des Völkerrechts. Keines dieser Szenarien wurde im UN-Sicherheitsrat auch nur diskutiert, geschweige denn vereinbart. Die USA und ihre Verbündeten nehmen das Völkerrecht in die eigenen Hände.

Syrische Kurden in der Zwickmühle

Ohne Verbündete vor Ort – die syrischen Kurden – wäre das nicht möglich. Die aber sind in einer Zwickmühle, seit sie die großzügige militärische Unterstützung der US-Armee 2014 annahmen, sie beim Kampf um Kobane/Ain Al Arab gegen den »Islamischen Staat« zu unterstützen. Heute gelten sie als die »Partner« der US-geführten »Anti-IS-Koalition«. Sie erhalten Geld, Waffen und logistische Hilfe, und die USA sorgen dafür, dass das Projekt »Rojava« umgesetzt werden kann. Die syrischen Ressourcen befinden sich unter kurdischer und US-amerikanischer Kontrolle und werden dem Rest des
Landes – das sind immerhin 70 Prozent – entzogen. Die einseitigen EU-Sanktionen, die den Wirtschaftssektor Syriens und selbst humanitäre Hilfe blockieren, treffen die syrischen Kurden nicht. Das von den USA verhängte Ölembargo gegen Syrien gilt nicht für die Gebiete östlich des Euphrat.

Auf die Frage, ob einseitige Sanktionen oder Embargos völkerrechtlich legal seien, sagte der UN-Sonderberichterstatter für die Folgen einseitig verhängter Sanktionen, Idriss Jazairy:

„Die Entscheidung des Sicherheitsrates, Sanktionen zu verhängen, wird von allen als legal, als rechtmäßig anerkannt. Sanktionen, die von einem Staat oder von einer Staatengruppe gegen ein anderes Land verhängt werden und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte haben und damit die Menschenrechte der einfachen Bevölkerung verletzten, sind illegal. […] Westliche Staaten betrachten die [einseitigen] Sanktionen als vertretbar, solange sie ihren eigenen Kriterien genügen. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sieht das nicht so.
Sie sind der Meinung, dass alle Sanktionen, die
ohne eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates verhängt werden, unrechtmäßig, also illegal sind. Es ist, als nehme man das Recht in die eigenen Hände. Wir haben aber zur Friedenserhaltung in der Welt das System der Vereinten Nationen geschaffen. Ja, es hat seine Unzulänglichkeiten, aber es ist die Friedensordnung, die nach dem 2. Weltkrieg in Kraft trat. Wenn man nun einseitige Sanktionen verhängt, dann schafft man ein neues System […]. Das bringt den Frieden in Gefahr. Und zwar den
Weltfrieden, nicht nur den
regionalen Frieden.“ (RT Deutsch 2019)

Das Adana-Abkommen – eine völkerrechtlich zulässige Lösung

Einen völkerrechtlich zulässigen Weg hat derweil Russland vorgeschlagen. Als neue Ordnungsmacht in der Region hat Russland 2015 auf Wunsch von Damaskus militärisch in den Krieg eingegriffen und sich durchgesetzt. Gleichzeitig hat Russland den Dialog zwischen allen Seiten in Syrien gefördert. Das führte nach der Befreiung von Aleppo Ende 2016 zu dem von Russland, Iran und der Türkei geförderten Astana-Prozess, bei dem zwischen der syrischen Regierung und einem Teil der Kampfgruppen verhandelt wird. Auch den Dialog zwischen den syrischen Kurden und der Regierung in Damaskus hat Russland
gefördert.

Für den Fall, dass die US-Armee ihre Truppen aus den Gebieten östlich des Euphrat tatsächlich abziehen sollten, und um ein »Vakuum« zu vermeiden, hat Russland eine Lösung vorgelegt: Die syrische Armee – unterstützt von russischer Militärpolizei – soll die Sicherheit in dem Gebiet zwischen Euphrat und syrisch-türkischer Grenze gewährleisten. Dieser Vorschlag entspricht dem Völkerrecht, denn es handelt sich um syrisches Territorium. Die syrischen Kurden und Damaskus sollen sich auf eine militärische Kooperation einigen – was von den Kurden bereits zugesagt wurde. Damaskus
soll den syrischen Kurden und ihren Parteien zudem kulturelle und politische Rechte einräumen.

Ankara will allerdings nach einem US-Truppenabzug gegen die politischen und militärischen Strukturen der syrischen Kurden in Nordostsyrien militärisch vorgehen, weil es sie als »terroristische Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei« ansieht. Um diese »Sicherheitsbedenken« der Türkei zu zerstreuen, hat Moskau vorgeschlagen, einen Vertrag aus dem Jahr 1998, das Adana-Abkommen, wiederzubeleben (Bilgic 2019). Darin ist die syrische Armee für den Schutz der rund 800 km langen Grenze zur Türkei verantwortlich.

Ein Rückblick

Das Adana-Abkommen war damals zwischen der Türkei und Syrien geschlossen worden und richtete sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die heute das Rückgrat der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ in Syrien bildet. Damals hatte die PKK – wie übrigens auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), beide aus dem Irak – einen »sicheren Hafen« in Syrien. Sie unterhielt in der damals von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene (Libanon) ein Ausbildungslager und konnte, wie KDP und PUK, ungehindert durch Syrien in den Nordirak
reisen.

Im Adana-Abkommen verpflichtete sich Syrien damals, die Ausbildungslager der PKK, ihre politische Mobilisierung und Organisierung der kurdischen Bevölkerung sowie ihre wirtschaftlichen Unternehmungen in Syrien zu stoppen. Inhaftierte PKK-Mitglieder sollten an die Türkei ausgeliefert werden. Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan wurde zur Ausreise aufgefordert. Die PKK zog sich in die Qandil-Berge im irakisch-iranischen Grenzgebiet zurück.

Das Abkommen könnte nun wiederbelebt werden, um die Türkei an einem Vormarsch in den Norden Syriens zu hindern und gleichzeitig Ankara und Damaskus wieder ins Gespräch zu bringen.

Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Türkei hat ihre eigene Art, das Abkommen zu interpretieren; die syrischen Kurden tun sich mit dem Adana-Abkommen verständlicherweise schwer. Die USA und ihre »Kleine Syriengruppe« haben kein Interesse an einer türkisch-syrischen Vereinbarung, mit der der völkerrechtlich legitime Status – die Kontrolle Syriens über sein gesamtes Territorium – wieder hergestellt wird. Der Astana-Prozess läuft den machtpolitischen Interessen der USA entgegen; der Astana-Gruppe müsse „der Stecker rausgezogen werden“, erklärte der US-Beauftragte für
Syrien, Botschafter James Jeffrey, Anfang Dezember 2018 (U.S. Embassy in Syria 2018).

Dass es um mehr als um Syrien geht, machte der frühere US-Außenminister Rex Tillerson im Januar 2018 klar. Für die USA sei es „entscheidend“, in der Region (Syrien und Irak) präsent zu bleiben, um gegen terroristische Gruppen und die mögliche Wiederauferstehung des »Islamischen Staates« kämpfen zu können, sagte Tillerson bei einem Vortrag in der Hoover Institution an der Stanford University. Die US-Armee werde „in Syrien militärisch präsent bleiben“, um den „bösartigen Einfluss des Iran in der Region“ zurückzudrängen. Erst wenn „Assad nicht mehr an der Macht
ist,
werden die USA eine Normalisierung zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Beziehungen mit Syrien“ unterstützen. „Das wird dauern, wir sind geduldig“, so Tillerson weiter. In der Zwischenzeit würden die USA in die Stabilisierung“ einiger Gebiete „investieren“ (Shashkevich 2018).

Noch deutlicher wurde Tillerson Mitte Februar 2018 bei einer Konferenz in Kuwait. Im Gespräch mit Journalisten sagte er: „Die USA und die [Anti-IS-] Koalitionsstreitkräfte […] kontrollieren heute 30 Prozent des syrischen Territoriums und – damit verbunden – einen großen Anteil der Bevölkerung sowie der syrischen Ölquellen.“ Das reiche, um auf den politischen Prozess, der in Genf fortgesetzt werden solle, Einfluss zu nehmen (South Front 2018b und Leukefeld 2018).

Je länger die einseitige Entwicklung östlich des Euphrat von den USA und der »Kleinen Syriengruppe« gefördert und die Entwicklung im Rest Syriens mit illegalen einseitigen Sanktionen blockiert wird, desto mehr wird die gesellschaftliche Spaltung des Landes vorangetrieben. Das US-Außenministerium hat rund 2.000 Expert*innen entsandt, um den zivilen Aufbau östlich des Euphrat voranzutreiben. Bezahlt wird von Saudi Arabien, das jüngst eine Ministerdelegation in das Gebiet schickte (AMN 2019 und Syriahr 2019). Die Bundesregierung beteiligt sich mit so genannter Stabilisierungshilfe, die von
privaten und UN-Hilfsorganisationen in dem Gebiet umgesetzt wird. Einen Auftrag des UN-Sicherheitsrates dafür gibt es nicht, das Vorgehen folgt deutschen und westlichen Interessen. Nach dem Prinzip »Teile und herrsche« baut der Westen nördlich und östlich des Euphrat in Syrien einen Vasallenstaat.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Graphik »Turkey’s Planned Safe Area« auf pbs.twimg.com/media/DUOkbb6XUAIHmZp.jpg.

Literatur

AMN (2019): Saudi officials visit eastern Syria to meet with US, SDF delegations. Nachrichtenservic Al-Masdar Al-‘Arab (AMN); 15.6.2019; almasdarnews.com/.

Bilgic, T. (2019): Erdogan Faces Syria Choice as Putin Revives 21-Year-Old Treaty. 25.1.2019; bloomberg. com.

Co-op News (2018): Kleine Syriengruppe – Deutschland mit dabei / DerHintergrund. 0hne Datum; cooptv.wordpress.com.

dpa (2018): Neue diplomatische Initiative – Deutschland in Syrien-Kerngruppe. ZDF Nachrichten, 25.4.2018; zdf.de.

Gebauer, M.; Schult, C. (2019): Deutsche »Tornados« sollen Schutzzone in Nordsyrien absichern. SPIEGEL ONLINE, 30.5.2019; spiegel.de.

junge Welt (2015): Bericht der US Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem Jahr 2012, in Auszügen abgedruckt am 30.5.2015; ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html.

Leukefeld, K. (2018): Kampf um die Levante – Eskaliert der Krieg in Syrien? 17.2.2018; ­rubikon.news.

Neu, A. (2018): Anti-IS-Koalition bewegt sich völkerrechtlich auf extrem dünnem Eis. Pressemitteilung von Alexander S. Neu, Die Linke im Bundestag, 10. Juli 2018; linksfraktion.de.

PressTV (2019): Video – Militant weapons cache with Israeli, US-made munitions uncovered in Syria’s Quneitra; 23.4.2019; presstv.com.

RT Deutsch (2019): UN-Botschafter zu ­Syrien – Sanktionen des Westens sind Teil der Kriegsführung; 12.6.2019; youtube.com/watch?v=MfRbFt3KZ2E. Das ganze Interview von Karin Leukefeld mit Botschafter Idriss Jazairy steht unter dem Titel »Eine Stimme für die Menschen, die nicht gehört werden« auf nachdenkseiten.de (15.6.2019).

Rubikon (2018): „Lasst uns Syrien aufteilen!“ Ein diplomatisches Dokument entlarvt den US-Plan für Syrien. Exklusivabdruck aus der libanesischen Tageszeitung Al Akhbar. 3.3.2018; rubikon.news.

Shashkevich, A. (2018): U.S. wants peace, stability in Syria, Secretary of State Rex Tillerson says in policy speech at Stanford. 18.1.2018; news.stanford.edu.

South Front (2018a): Syrian War Report – US-led Coalition Struck Syrian Army In Deir Ezzor. 8.2.2018; southfront.org.

South Front (2018b): US State Secretary – Control Over Oil Fields Allows Washington To Influence Situation In Syria. 14.2.2018; southfront.org.

Syriahr (2019: About 24 hours after the Ain Issa meeting, a Saudi-American delegation meets SDF leaders, Sheikhs, and tribe elders in al-Omar oilfield. Syrian Observatory for Human Rights, 14.6.2019; syriahr.com.

U.S. Embassy in Syria (2018): Briefing With Special Representative for Syria Engagement Amb[assador] Jeffrey. 3.12.2018; sy.usembassy.gov.

Vereinte Nationen (1945): Charta der Vereinten Nationen, 26.6.1945; unric.org/de/charta.

Karin Leukefeld arbeitet als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für Printmedien, Rundfunk, Fernsehen. Seit 2010 ist sie in Syrien akkreditiert.

Stellungnahme von W&F

Stellungnahme von W&F

von Redaktion und W&F-Vorstand

Zur Vergabe des Göttinger Friedenspreises an die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.« nahm W&F am 22. Februar 2019 wie folgt öffentlich Stellung.

Redaktion und Vorstand der Quartalszeitschrift »Wissenschaft und Frieden« (W&F), ausgezeichnet mit dem Göttinger Friedenspreis 2018, sind bestürzt über den Umgang mit dem designierten Preisträger 2019, dem Verein »Jüdische Stimmte für gerechten Frieden in Nahost e.V.«. Aus unserer Sicht gibt es keine stichhaltigen Belege für die Antisemitismusvorwürfe gegen diese Organisation von Jüdinnen und Juden in Deutschland, wie sie etwa vom Zentralrat der Juden in Deutschland nahe gelegt werden. Um die verdienstvolle Arbeit der »Jüdischen Stimme« zu diskreditieren, wird auf punktuelle
Verbindungen mit der BDS-Bewegung verwiesen, die israelischen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten entgegentritt.

W&F unterstützt die BDS-Bewegung nicht, hält damit verbundene Antisemitismusvorwürfe gegen die »Jüdische Stimme« jedoch für unangebracht. Wir stimmen hier überein mit Stellungnahmen internationaler jüdischer Intellektueller, die die Vorwürfe zurückweisen und sich für die freie Meinungsäußerung gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wenden.

Frieden in Israel und Palästina wird nicht durch Aufrüstung und Besatzung geschaffen, sondern durch Friedensengagement, Verständigung, Versöhnung und den Einsatz für Menschenrechte aller Akteure in der Region. Die »Jüdische Stimme« streitet für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel auf der Basis des internationalen Rechts und ist deshalb eine entschiedene Gegnerin der israelischen Besatzungspolitik. Sie ist sich in dieser Position einig mit den Friedensbewegungen in Israel und Palästina. Und sie hat sich seit ihrer Gründung eindeutig von Antisemitismus abgegrenzt.

Ungerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe führen nicht nur zu Rissen in der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft. Sie schwächen die Bekämpfung rechtsextremer Kräfte, die sich den gezielten Antisemitismus und die Diskriminierung von Minderheiten auf die Fahnen geschrieben haben.

Daher ist es problematisch, für die Preisverleihung an die »Jüdische Stimme« Räumlichkeiten, finanzielle Zuschüsse und sonstige Unterstützung zu entziehen, was praktisch einem Boykott einer jüdischen Organisation durch deutsche Institutionen gleichkommt. W&F bittet die beteiligten Institutionen und Personen, die verfügbaren Fakten über den Verein »Jüdische Stimme« zu rezipieren und ihre Haltung zu den Vorwürfen zu überprüfen. Nur in einer sachlichen und fairen Debatte ist es möglich, die eigenen Positionen frei von Ängsten und Vorurteilen zu überprüfen und ggf. zu revidieren.

Genau dafür setzt sich die »Jüdische Stimme« ein und verdient daher unsere volle Unterstützung.

Im Namen von Redaktion und Vorstand von W&F
Regina Hagen, Redaktion und Anne Bieschke, Vorstand

Die Fakten dominieren


Die Fakten dominieren

Göttinger Friedenspreis 2019 für die »Jüdische Stimme«, 9. März 2019, Göttingen

von Regina Hagen

Im März 2019 wurde von der Stiftung Dr. Roland Röhl zum 21. Mal der Göttinger Friedenspreis verliehen. Preisträgerin ist die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.«. Die Organisation wurde ausgezeichnet für ihr unermüdliches Engagement, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, anstreben und erreichen zu können“ (aus der Jury-Entscheidung). Die Preisvergabe wurde von diversen Seiten allerdings mit dem Vorwurf kritisiert, die »Jüdische Stimme« müsse aufgrund ihrer Nähe zur BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft und die Preisverleihung daher abgesagt werden. Die Universität, die Stadt und die Sparkasse Göttingen zogen daraufhin ihre Unterstützung zurück. Die Preisvergabe fand in einem vollen, kurzfristig von privater Seite zur Verfügung gestellten Raum und in festlichem Rahmen dennoch statt.

Entscheidung und Begründung der Jury (Auszüge)

Die Jury hat entschieden, den Göttinger Friedenspreis 2019 an die Organisation »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.« zu verleihen …

… für ihr unermüdliches Engagement, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, anstreben und erreichen zu können. In Zeiten, in denen für immer weniger Menschen eine solche Friedenslösung überhaupt vorstellbar ist, dominieren die Fakten, die durch die seit über 40 Jahren andauernde völkerrechtswidrige Besatzung und zunehmende Besiedelung palästinensischer Gebiete geschaffen wurden. Menschen und Initiativen jedoch, die sich für eine gerechte Friedenslösung einsetzen, werden in Deutschland zunehmend als antisemitisch bzw. antiisraelisch diffamiert, ihre öffentlichen Auftritte werden verboten und ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit wird verletzt. […]

Die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« möchte darauf hinwirken, dass die Bundesregierung ihr außenpolitisches und ökonomisches Gewicht in der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen sowie in Nahost nachdrücklich und unmissverständlich dafür einsetzt, einen lebensfähigen, souveränen Staat Palästina auf integriertem Hoheitsgebiet und innerhalb sicherer Grenzen zu schaffen und sich damit aktiv an der Verwirklichung eines dauerhaften und für beide Nationen lebensfähigen Friedens zu beteiligen. […]

Laudatio von Nirit Sommerfeld, deutsch-israelische Künstlerin

[…] Menschen erkennt man an ihren Taten, ihren Handlungen, hat Hannah Arendt gesagt. Handeln und sprechen – Tätigkeiten, die im öffentlichen Raum stattfinden – gehören laut Hannah Arendt zusammen, und wenn Menschen sich sprechend und handelnd in die Welt einschalten, sagt sie, dann offenbaren sie, wer sie sind. Lassen Sie uns also gemeinsam sehen und vor allem hören, was die »Jüdische Stimme« öffentlich und in der Welt zu sagen hat.

Im Jahre 2003 wählte eine Gruppe von in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden den schicksalhaften 9. November zum Gründungstag einer neuen Organisation. […] Der 9. November war […] nicht zufällig gewählt. Der 9. November 1938, die Reichspogromnacht, ist für immer in unser Gedächtnis eingebrannt und mahnt uns, die Zeichen von Ausgrenzung, Erniedrigung und Entrechtung von jüdischen Menschen in Deutschland niemals zu vergessen. Am 9. November 1938 wurde aller Welt, zumindest in Deutschland, klar, dass der systematischen und massenhaften Vernichtung von Jüdinnen und Juden Tür und Tor geöffnet wurde, indem sie endgültig ihrer Selbstbestimmung beraubt wurden.

Es darf daher symbolisch verstanden werden, dass die kleine Gruppe von Frauen und Männern der »Jüdischen Stimme« ausgerechnet den 9. November 65 Jahre später wählte, um sich ihr Recht auf Selbstbestimmung als Jüdinnen und Juden hier in Deutschland zurückzuholen. Sie unterschrieben zu zehnt – auch diese Zahl war nicht zufällig gewählt – ein Papier, in dem sie ihr Selbstverständnis als Jüdinnen und Juden ausdrückten, ein Selbstverständnis, das sich aus dem selbst Erlebten in der jüdischen Erfahrungswelt hierzulande und in Israel speist. Die Zahl zehn steht für den Minjan, also die Mindestanzahl an mündigen Menschen, die nach jüdischer Lehre anwesend sein müssen, um einen vollständigen Gottesdienst abhalten zu können. […]

In [ihrem] Manifest distanziert sich die »Jüdische Stimme« eindeutig von jeder Form von Gewalt, von Antisemitismus, Anti-Islamismus und jeder anderen Form von Rassismus. Zum Existenzrecht des Staates Israel schreibt sie, es werde „ […]erst dann zur unangefochtenen und nicht gefährdeten Selbstverständlichkeit werden, wenn seine Regierung versteht, dass dasselbe Existenzrecht und ein Leben in Frieden und Würde auch für den benachbarten palästinensischen Staat und seine Bevölkerung unverzichtbar sind.“

Zuvor gab es keine jüdische Organisation in Deutschland, die vergleichbar gewesen wäre und als Vorbild hätte dienen können. […]

Was also tut die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«?

Nu – sie spricht!

Na gut, erst einmal schreibt sie. Sie verfasst Texte, die sie auf ihrer Website veröffentlicht. Damit trägt sie dazu bei, dass mehr Informationen über die Besatzungsrealität in die deutsche Öffentlichkeit gelangen. […] Neben den Originaltexten, die sie verfasst – und zwar aktiv, also nicht immer nur als Reaktion auf etwas, das gerade passiert ist – organisiert sie öffentliche Aktionen. Bereits 2006 sorgte sie jeden Freitag für Demonstrationen am Hacke’schen Markt in Berlin, parallel zu den Demonstrationen gegen die Trennmauer im palästinensischen Städtchen Bil’in. Dort marschieren seit Jahren Freitag für Freitag Palästinenser*innen an die nahe gelegene Sperrmauer, singen Lieder, skandieren „Schluss mit der Besatzung“ und werden von israelischen Soldaten von jenseits der Mauer mit Tränengas und Gummigeschossen beworfen.

Die »Jüdische Stimme« will, dass man in Deutschland davon erfährt. Darum redet sie Tacheles über das, was zwischen Mittelmeer und Jordan passiert. Und wenn es eine Demonstration gegen Antisemitismus gibt, dann beteiligt sich die Jüdische Stimme« und setzt dezidiert ein Zeichen: gegen jede Form von Antisemitismus, so wie sie es in ihrem Selbstverständnis manifestiert hat – Sie können das auf ihrer Website nachlesen -: „Positionen, hinter denen sich antisemitische Einstellungen verbergen, sind mit dem Anliegen der Jüdischen Stimme unvereinbar.“ […]

Die Jüdische Stimme war ihrer Zeit voraus; sie erkannte die Zeichen der Zeit bereits vor über 16 Jahren, darum rief sie damals schon laut und deutlich: „Nicht in unserem Namen!“. Natürlich vertritt auch sie nicht alle Jüdinnen und Juden! Jüdinnen und Juden – das mag Sie überraschen – sind keine homogene Gemeinschaft, weder religiös noch ethnisch! Weder in Israel noch in Deutschland. […] Es eint sie, dass jede*r von ihnen eine jüdische Mutter hat und dass sie die jüngste Geschichte des Judentums kennen. Vor diesem Hintergrund ist es unbegreiflich und unverantwortlich vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster, der »Jüdischen Stimme« in Zusammenhang mit der Verleihung des Göttinger Friedenspreises Antisemitismus vorzuwerfen – ganz gleich in welcher Form und in welchem Wortlaut er dies getan hat. Er hat nicht darüber zu bestimmen, wer Jude und noch dazu ein guter Jude ist. Das haben schon vor ihm andere getan, aber das werden wir nie wieder zulassen. Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Punkt. Da haben nicht einmal wir Juden selbst eine Wahl.

Die Aussagen des Zentralratspräsidenten haben zur Folge, dass das Ungeheuerliche passiert: Deutsche zeigen mit dem Finger auf Juden und bezichtigen sie des Antisemitismus! Wie absurd, wie anmaßend, im Jahre 2019! Diese Deutschen sind Kinder und Enkel der Täter, und sie sprechen zu Juden, deren Eltern oder Großeltern Naziopfer waren!

Seit es den Göttinger Friedenspreis gibt, findet der Festakt der Verleihung in der Aula der altehrwürdigen Georg-August-­Universität statt, gekrönt von einem anschließenden Empfang der Stadt Göttingen und mitfinanziert von der örtlichen Sparkasse. Bekanntlich haben der Oberbürgermeister, die Universitätspräsidentin und der Vertreter der örtlichen Sparkasse ihre Teilnahme zurückgezogen, um die Neutralität zu wahren“. Die Uni-Präsidentin schrieb mir noch, sie werbe für Verständnis für ihre Entscheidung, schließlich vertrete sie eine große Einrichtung, in der sich Menschen beider Seiten der Kontroverse befänden. „Die Zurverfügungstellung der Aula würde für die Universitätsleitung eine einseitige Parteinahme darstellen.“ Wie unfassbar! Was für eine Schande! sage ich da. […] Die Wahrheit ist: Es gibt keine Neutralität, wenn Menschen – in diesem Fall die Mitglieder der »Jüdische Stimme« – verleumdet und ausgegrenzt werden. […]

Die Verbrechen der Nazis sind unentschuldbar und dürfen nie vergessen werden. Im Gegenteil: Sie müssen uns ermahnen, wachsam zu sein und nie, nie, nie wieder Ausgrenzung, Rassismus, Unterdrückung und all die schrecklichen Folgen davon hinzunehmen. Damit ziehe ich ausdrücklich keinen historischen Vergleich! Er wäre unzulässig und falsch. Dass Jüdinnen und Juden von der »Jüdischen Stimme« sich so vehement für Menschenrechte in Israel und Palästina einsetzen, ist gerade wegen dieser Assoziationen extrem schmerzlich. Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, als Nestbeschmutzer, als selbsthassende Juden, als Verräter beschimpft zu werden? Einige konnten diesem Druck aus ihrem eigenen Umfeld nicht standhalten. Alle anderen ertragen ihn, weil sie jüdischen Werten und Menschenrechten verpflichtet sind. Das hat Konsequenzen, wenn man es ernst meint. Diese Menschen tun ihre Arbeit vielleicht mit Zorn und Wut, aber sie tun sie, weil sie sie qua ihrer Existenz tun müssen. Nicht, weil es so Spaß macht, sich in dieses Spannungsfeld und in die Gefahr der neuerlichen Ausgrenzung zu begeben. […]

Der »Jüdischen Stimme« wünsche ich für ihr weiteres Wirken den Mut, die Kraft und das Widerstandsvermögen, das sie bisher schon ausgezeichnet hat, und dass die Unterstützung anhält, die ihr gerade in den letzten Wochen zuteil wurde. Ihnen und uns allen wünsche ich, dass wir uns anstecken lassen von dem ungebrochenen Friedenswillen, den die »Jüdische Stimme« uns vorlebt, auch wenn wir hin und wieder einen hohen Preis dafür bezahlen müssen. Den Kritikern wünsche ich, dass sie den Worten, Rufen und Warnungen, auch den Erklärungen, Argumenten und Vorschlägen der »Jüdischen Stimme« einfach mal zuhören. Ich bin überzeugt, dass der Klang dieser Töne ihr Herz und ihren Verstand öffnen wird und es Wege zu einem friedlichen Miteinander gibt – hier in Göttingen, in Deutschland und auch in Israel und Palästina. Wenn wir es alle wollen, ist es kein Traum.

Rede der Preisträgerin Iris Hefets, Vorsitzende der »Jüdischen Stimme«

[…] Es ist eine große Ehre, einen Friedenspreis zu erhalten, und eine noch größere, in die ehrwürdige Liste der Träger des Göttinger Friedenspreises aufgenommen zu werden.

Nach diesen turbulenten Tagen sage ich dazu auch: Es ist eine große Errungenschaft. Wir sind wahrscheinlich der einzige Preisträger, der sich bei der Benachrichtigung über die Preisverleihung sehr freute, gleichzeitig aber schon wusste, dass er sich warm anziehen muss. Mit den Angriffen und Verleumdungen war zu rechnen. […]

Schon zum Zeitpunkt der Gründung war uns bewusst, dass wir einen Widerspruch aushalten müssen. Einerseits sind wir nicht besonders dafür qualifiziert, etwas zum Thema Frieden in Nahost zu sagen, nur weil wir Juden sind. Jüdisch sein ist ein Identitätsmerkmal und bedeutet keine Qualifikation für politisches Engagement oder spezielles Wissen. Die große und fundierte Unterstützung, die uns in den letzten Tagen nicht zuletzt von Nichtjuden erreichte, ist ein Beleg dafür.

Andererseits nehmen uns die israelischen Regierungen in Geiselhaft, wenn sie behaupten, für alle Juden der Welt zu sprechen. Deshalb sagen wir laut: „Nicht in unserem Namen!“. […]

In Deutschland erleben wir wiederholt einen Ablauf nach folgendem Muster: die Rechte der Palästinenser werden verletzt, es findet ein politischer Protest dagegen statt, die deutsche Presse findet – oder erfindet, wie erst jüngst durch »fake news« geschehen – einen antisemitischen Vorfall und am Ende wird von Antisemitismus geredet und diesbezüglich agiert, womit der ursprüngliche Protest erstickt ist. Trump entscheidet zum Beispiel, völkerrechtswidrig die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, junge Palästinenser protestieren in Berlin, ein Journalist der Berliner Zeitung behauptet, sie hätten „Tod den Juden“ auf Arabisch gerufen und sofort wird über Antisemitismus unter Muslimen gesprochen. Dass nach mühseligen Recherchen der Journalistin Emily Dische-Becker sich herausstellt, dass dieser Journalist kein Arabisch versteht und dass eine Prüfung aller Filme und Aufnahmen seine Behauptung nicht belegen kann – das geht unter. Auch weil es vielen im Lande passt. […]

Durch diese wiederholte schlechte Pressearbeit bleiben die Juden das ewige Opfer und die Palästinenser bzw. »Araber« ihre Täter, während Christen die Juden zu retten versuchen. Dieses Vorgehen wird seit Jahrzehnten von den israelischen Regierungen und ihren Institutionen und Unterstützern in- und außerhalb Israels orchestriert. […]

Die christlich orientierten Verbündeten Israels in Europa, den USA oder jetzt Brasilien verbreiten gemeinsam mit Israel die Idee eines Kampfes gegen den »Islam«. So kann der Staat Israel den Konflikt um Land, Rechte und Selbstbestimmung, den er konkret mit den Palästinensern hat, als Teilaspekt einer globalen Bedrohung verkaufen. Es geht dann nicht mehr um Handlungen von Israel, die Vertreibung der Palästinenser, die Enteignung ihres Besitzes und die Abriegelung von Gaza. Die gewaltsame Expansion Israels auf Kosten der Palästinenser wird als Widerstand gegen den global angreifenden Islam umgedeutet: Israel wird als Opfer stilisiert, während die Palästinenser die Täter sind, die aggressiv gegen Israel agieren, weil sie angeblich Antisemiten sind und nicht weil sie einen Befreiungskampf führen. Nach Lesart der israelischen Regierung geht es um einen religiösen Konflikt, der international ausgetragen werden muss und Allianzen zwischen Israel und radikalen Rechten, wie Orban, Salvini, Trump oder Bolsonaro und deren Parteien, begründet. Und wenn der Konflikt religiös ist und in der »Natur der Muslime« liegt, wie Israel propagiert, dann erübrigt sich eine Einigung mit den Palästinensern, es geht ja um einen existentiellen Kampf gegen »das Böse«. […]

Grund [unserer] politischen Verfolgung ist ein Zensurversuch. Wir, die »Jüdische Stimme«, haben, wie viele jüdische Friedensorganisationen weltweit, den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft unterschrieben. […] Der BDS-Aufruf […] hat das Ziel, mit gewaltfreien Mitteln Druck auf Israel auszuüben, politisch umzukehren und aus der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Sackgasse herauszukommen, in die Israel geraten ist. BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Diese sollen verfolgt werden, bis drei Bedingungen, die sich am Völkerrecht orientieren, erfüllt sind:

1. Beendigung der Besatzung und Kolonialisierung des 1967 besetzten arabischen Landes und Niederreißen der Mauer. Das klingt selbstverständlich, zumal diese Völkerrechtsverstöße schon durch den internationalen Gerichtshof zu solchen erklärt wurden. Israel unternimmt aber viel, um das Wort Besatzung zu löschen. Auch in der deutschen Presse wird mittlerweile von »Besatzung« in Anführungszeichen bzw. »angeblicher Besatzung« gesprochen.

2. Anerkennung des Grundrechts der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf vollständige Gleichberechtigung. Das entspricht einer liberalen republikanischen Forderung, wie sie in vielen Verfassungen formuliert ist. Es bedeutet das Ende der Privilegierung einer ethnischen bzw. religiösen Gruppe. Und die Privilegierten sind angesichts dieser Forderung immer überzeugt, dass Gleichberechtigung für sie eine existentielle Bedrohung bedeutet. […]

3. Achtung, Wahrung und Unterstützung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge, wie in UN-Resolution 194 festgelegt, auf Rückkehr zu ihren Wohnstätten und Schadensersatz bei Verlust oder Beschädigung ihres Eigentums oder auf Entschädigung für den Fall, dass sie nicht zurückkehren wollen. Dieser Punkt rührt an ein Tabu und an eine große Angst der israelischen Juden. Wir unterstützen diese Forderung, weil wir hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 stehen. […]

Wir hoffen nichts mehr, als dass unsere Organisation nicht mehr benötigt wird. Wir alle, die hier heute sein können, und vor allem die Palästinenserinnen und Palästinenser, die jahrelang ohne Anklage im Gefängnis sitzen, darunter über 1.000 Minderjährige, oder die im Gazastreifen eingesperrt ihr Dasein fristen, wir alle haben viel Besseres und Lebendigeres zu tun.

Die Auszüge wurden zusammengestellt von Regina Hagen.
Die Dokumentation sowie Videos der Preisverleihung stehen unter goettinger-­friedenspreis.de online.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

Neidhardt, F.; Rucht, D. (1993): Auf dem Weg in die »Bewegungsgesellschaft«? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. Soziale Welt, Vol. 44, Nr. 3, S. 305-326.

Raschke, J. (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 31-39.

Roth, R.; Rucht, D. (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York: Campus, S. 9-36.

Rucht, D. (2003): Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 17-155.

Rucht, D. (2014): Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen. In: Mittag, J.; Stadtland, H. (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 67-86.

Snow, D.A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation. American Sociological Review, Vol. 51, Nr. 4, S. 464-481.

Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.

Partizipation der Friedensbewegung

Partizipation der Friedensbewegung

Radikal und pragmatisch

von Ulrich Wohland

Die Einflussmöglichkeiten der Friedensbewegung in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts scheinen bisweilen gering. Der Autor plädiert für einen optimistischeren Blick. Mit ihrer radikalen Opposition zum herrschenden Umgang mit Krieg und Waffen hat die Friedensbewegung eine starke Vision. Wenn sie, die Vision einer friedlichen Welt fest im Blick, pragmatisch die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen einfordert, kann sie viel erreichen. Ohne eine solche Teilhabe gibt es keinen Wandel, und ohne radikale Positionen und entsprechende Aktionen gibt es keine
solche Teilhabe. Der Artikel zeigt, wie sich beides verbinden lässt.

Die aktuelle politische Situation ist durch die Akkumulation unterschiedlicher globaler Krisentendenzen gekennzeichnet. Eine konstruktiv-vorausschauende Bearbeitung durch politische Entscheidungsträger*innen ist kaum wahrnehmbar. Reaktives Agieren dominiert. Auch im Bereich von Krieg und Frieden werden die Krisentendenzen eher verschärft: durch verbale Aufrüstung und »neue« Feindbilder, hohe Militärausgaben und neue Rüstungsprojekte.

Die deutsche Zivilgesellschaft ist in den aktuellen Krisenbereichen unterschiedlich präsent und aktiv. Bei allen Fragen von Krieg und Frieden, Aufrüstung und Rüstungsexporten ist der Druck auf die Entscheidungsträger*innen vergleichsweise geringer als beim Thema Klima oder auch Migration. Die Aktiven innerhalb der Friedensbewegung mühen sich mit ihren Themen redlich ab. Sie sind aber kaum in der Lage, öffentliche Debatten wirksam in eine friedensbewegte Richtung zu drängen oder die Entscheidungsträger relevant unter Druck zu setzen.

Wie kann die Friedensbewegung mehr Einfluss auf friedenspolitische Fragen nehmen? Die Hindernisse sind großenteils extern und liegen im Problemfeld selbst. Es gibt aber auch interne, »hausgemachte« Begrenzungen, die wir Aktiven in der Friedensbewegung zu bearbeiten haben.

Der Diskurs über das Militärische

Zu den externen Faktoren zählt sicherlich, dass von staatlicher Seite alles, was militärische Aktivitäten betrifft, möglichst von öffentlichen Debatten und der öffentlichen Beteiligung abgeschirmt werden soll. So tagt, um nur ein Beispiel zu nennen, der Bundessicherheitsrat des Deutschen Bundestages geheim, seine Mitglieder sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, und selbst dem Parlament gegenüber ist seine Arbeit weitgehend intransparent. Militärpolitischen Entscheidungen, wie der Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundewehr, geht im Parlament keine breite Debatte voraus. So
erscheinen die militärischen Aspekte der Außenpolitik gesellschaftlichen Diskursen weitgehend entrückt.

Neben den externen gibt es aber auch intern hemmende Faktoren. Die ausschlaggebende Begrenzung entsteht durch eine Art Selbstfesselung der Friedensbewegung: In großen Teilen nähert sich die Bewegung militär- und sicherheitspolitischen Fragestellungen mit einer Haltung prinzipieller Radikalopposition. Diese lautet z.B. „Mit diesem Staat ist kein Frieden zu machen“ oder „Raus aus der NATO“, „Keine Waffenexporte – egal wohin“, „Stopp aller Rüstungsproduktion“ usw. Vom moralisch-ethischen Standpunkt betrachtet ist an diesen Positionen wenig zu kritisieren. Mit
ihrer Tendenz, staatliches Handeln in diesem Politikfeld als Ganzes abzulehnen, schließt sie jedoch Partizipationsmöglichkeiten, also Möglichkeiten der Mitentscheidung, aus.

Bewegung in der Defensive

Solange eine starke Friedensbewegung als Soziale Bewegung auf der Straße sichtbar ist, kann sie mit einer oppositionellen und radikalen Nein-Haltung zu Themen wie NATO, Atomwaffen, Aufrüstung oder Waffenexporte in der politischen Debatte Druck erzeugen und Veränderung herbeiführen. Aktuell ist eine solche Bewegung jedoch nur rudimentär vorhanden. Statt mit einer breiten Bewegung, haben wir es mit unterschiedlichsten Friedensorganisationen zu tun, die sich vielfältigsten Problemfeldern widmen.1 Es gelingt nur begrenzt, sich auf gemeinsame Themen zu
einigen und breite Bevölkerungsschichten dafür – z.B. in Kampagnen – zu mobilisieren.

Der derzeitige Zustand der Friedensbewegung schränkt darum die Chancen, als Radikalopposition Gehör zu finden, stark ein. Als Soziale Bewegung ist sie aktuell nicht stark genug, Veränderungen zu bewirken, und deshalb in der Defensive. Sobald sich aber mehrere Organisationen zu Projekten und Kampagnen zusammenschließen, könnte aus der Defensive zumindest eine strategische Defensive werden. Das bedeutet 1. mit begrenzten Mitteln begrenzte Ziele anzustreben und 2. die Aktivitäten so zu wählen, dass sie zum (Wieder-) Aufbau einer Sozialen Bewegung beitragen. In dieser Situation ist es durchaus
hilfreich, vorhandene Beteiligungsinstrumente und Partizipationsräume zu nutzen. Solange uns Erfolge als Bewegung verwehrt bleiben, sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die uns Kampagnen bieten, statt zu hoffen und abzuwarten, bis wir wieder die Stärke einer Bewegung erreicht haben, denn Kriege und Kriegsvorbereitung finden jetzt statt.

Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es, und wie lassen sie sich nutzen? Am Beispiel der Kampagnenarbeit soll dies im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.

Partizipation und Mitbestimmung – ein mehrstufiger Prozess

Partizipation lässt sich verstehen als mehrstufige Einbeziehung von Individuen oder Organisationen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse. Auf der nächsthöheren Stufe erhöht sich jeweils der Partizipationsgrad. Die Beteiligungsstufen reichen vom bloßen Informieren über Formen der Mitbestimmung (z.B. Wahlrecht) bis hin zur echten Teilhabe an Entscheidungen, z.B. Bürgerentscheiden. In der repräsentativen Demokratie wird Partizipation zumeist als informieren, Meinung erfragen und wählen gehen begriffen. In einer beteiligungsorientierten Demokratie besteht hingegen die Möglichkeit der
echten Teilhabe an Entscheidungen. Die verschiedenen Stufen lassen sich bildlich als Beteiligungstreppe darstellen (siehe Abb. 1).

Die Geschichte der Demokratie seit der Französischen Revolution ist der beständige Versuch, Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und höhere Stufen gesellschaftlicher Beteiligung zu entwickeln, z.B. das Frauenwahlrecht oder die Möglichkeiten von Bürgerentscheiden, Volksentscheiden usw. Zivilgesellschaftliche Organisationen, z.B. »Mehr Demokratie e.V.«, begreifen deshalb die repräsentative Demokratie als eine vorläufige, „unvollendete Demokratie“ (Scheub 2017) und nicht als deren Endzustand.

Häufig blockieren oder verzögern etablierte Institutionen die Demokratisierung der Demokratie. Soziale Bewegungen können neue Beteiligungsformen einfordern und so die Demokratie beteiligungsorientiert weiterentwickeln. Auf diese Weise kann eine reale gesellschaftliche Veränderung im Sinne der engagierten Bürger*innen erreicht werden. Soziale Bewegungen streben in der Regel jedoch keine direkte Partizipation an den Entscheidungsprozessen an. Soziale Bewegungen sind eher visionär orientiert. Sie formulieren Ziele als gesellschaftliche Utopie und in der Regel in Opposition zu den realen
Verhältnissen. Anders orientieren sich so genannte Druckkampagnen.2 Sie verfolgen das Ziel einer pragmatischen Einflussnahme auf konkrete politische Entscheidungen. Die Durchführung von Kampagnen als Teil einer Sozialen Bewegung ermöglicht es, dass die Bewegung ihrer radikalen Vision und Position treu bleiben und zugleich mittels Kampagnen pragmatische Ziele verfolgen kann.

Um Entscheidungsprozesse wirkungsvoll zu beeinflussen, sollten sich Kampagnen am Kampagnenverständnis von M. Gandhi, M.L. King und C. Chavez orientieren: Mobilisierung und druckvolle Aktionen stehen hier nicht für sich, sondern zielen immer auf die Ermöglichung von Verhandlungen. Aktionen auf der Straße erzwingen das Gespräch am Verhandlungstisch. Stocken die Verhandlungen, muss der Mobilisierungsdruck, z.B. durch Boykotts, Streiks und Zivilen Ungehorsam, erhöht werden. In der aktuellen Praxis der Kampagnen der Friedensbewegung wird häufig nur mobilisiert, bisweilen Druck ausgeübt und
selten verhandelt. Letzteres überlässt man den repräsentativen Organen.

Welche Partizipationsräume können sich Soziale Bewegungen nun über Kampagnen erschließen? Betrachten wir hierfür das Phasenmodell gesellschaftlichen Wandels von Bill Moyer (Moyer 2015) und speziell sein Verständnis der Rollen, die die unterschiedlichen Akteursgruppen darin einnehmen. Besonders interessiert uns die Rolle der »Chance Agents« bzw. der Campaigner*innen: Sie sind die Agenten des Wandels. Sie betreiben gezielt die Transformation entweder eines begrenzten Unrechts oder Missstands oder auch einer gesellschaftlichen Krise hin zu einem demokratischeren, ökologischeren,
emanzipativeren Zustand.3 Entscheidend ist, in welchem Maß diese Agents Partizipationsmöglichkeiten erschließen.

Advocacy, Mobilizing und Organizing

Anhand der Zielsetzung lassen sich drei Modelle der Arbeit von Campaigner*innen unterscheiden: »Advocacy«, »Mobilizing« und »Organizing«. Diese Differenzierung stützt sich auf einen Vorschlag der Organizerin Jane McAlevey (2019, S. 34 ff). Das Advocacy-Modell wird von uns als Stellvertreter-Modus bezeichnet. In diesem Modus werden Campaigner*innen stellvertretend für Betroffene aktiv oder sie organisieren Personen, die stellvertretend aktiv werden, oft Prominente oder Expert*innen. Die Betroffenen selbst sind in diesem Fall eher Konsument*innen des Veränderungsprozesses. Der zweite
Modus ist der Mobilisierungsmodus (Mobilizing). Hier werden Betroffene mobilisiert, um ihr Anliegen in möglichst großen Massen protestierend und demonstrierend vorzubringen. In diesem Modus geht es um die Mobilisierung von (Gegen-) Macht. Die Aktiven sind Protestierende. Der dritte Modus ist der Beteiligungsmodus (Organizing). Hierbei geht es um das Organisieren von Aktivbürger*innen, den »Citoyens«. Ziel ist, die Bürger*innen tatsächlich an den Entscheidungen zu beteiligen.

Im Zuge einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Zivilgesellschaft und der Gleichzeitigkeit vieler Sozialer Bewegungen im öffentlichen Raum werden die Modi Advocacy und Mobilizing zunehmend praktiziert. Aktuell findet Beteiligung in Sozialen Bewegungen bzw. Kampagnen vornehmlich über Soziale Medien statt, die stark mobilisierend, aber nicht automatisch organisierend wirken. Für eine Stärkung der Bewegungen hin zu echter Partizipation ist es nötig, mehr im Beteiligungs- bzw. Organizing-Modus aktiv zu werden. Um dies zu erreichen, gilt es, die folgenden drei Schritte zu gehen: 1. der
(Wieder-) Aufbau von vielen und dezentral organisierten Basisgruppen; 2. die Organisation vieler Aktionen, insbesondere Druckaktionen, z.B. Ziviler Ungehorsam, Boykott, Streiks usw., und 3. das wiederholte und permanente Dialogangebot, das in Verhandlungen münden soll, an denen die Aktiven beteiligt sind.

Die Voraussetzungen für den Beteiligungsmodus in Sozialen Bewegungen müssen von zwei Seiten her entwickelt werden: Die erste Voraussetzung ist der Aufbau von Basisgruppen als Fundament für den Aufbau von Beteiligung an der Macht. Hier gehen z.B. die Campaigner*innen in die Regionen, in die Städte und Kommunen, zu den Basisgruppen, und unterstützen diese bei der Entwicklung einer ziel- und druckorientierten Strategie für ihre Arbeit vor Ort. Die zweite Voraussetzung ist der Aufbau von Lobbyarbeit, wobei wir hier zwei Ebenen der Lobbyarbeit unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das
Graswurzel-Lobbying.

Demokratische Partizipation durch Lobbying

Lobbyarbeit ist in Sozialen Bewegungen eher verpönt, wird sie doch mit Geldkoffern und Hinterzimmer-Gesprächen assoziiert. Zudem ist Lobbyarbeit durch Soziale Bewegungen, da sehr zeit- und personalaufwendig, ressourcenbedingt eher begrenzt realisierbar. Trotzdem kann eine wirksame Einflussnahme auf Entscheider*innen durch Lobbygespräche stattfinden, nämlich im Vorfeld direkter Verhandlungs- und Entscheidungssituation, auch wenn das Verhandlungsmandat letztendlich weiterhin bei den Entscheider*innen, z.B. den Parlamentsabgeordneten, verbleibt.

Zwei Formen der Lobbyarbeit sind zu unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das Graswurzel-Lobbying. Das High-Level-Lobbying findet direkt in hoch angesiedelten Gremien, wie Ministerien, Parlamenten, Aktionärsversammlungen, Synoden oder Gewerkschaftskonferenzen etc., statt. Das Graswurzel-Lobbying hingegen geschieht in örtlichen Gliederungen von Parteien, Kirchen und geschäftlichen Strukturen. Es richtet sich beispielsweise an die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, an Gemeindeparlamente oder an Synodale, wenn es um Einflussnahmen in kirchlichen Zusammenhängen geht.

Ein Beispiel für diesen Ansatz: Der in Deutschland gesetzlich geregelte »Parlamentsvorbehalt«, also die jährlich notwendige Bestätigung jedes Auslandseinsatzes der Bundeswehr durch das Parlament, eröffnet Handlungsräume für beide Formen der Lobbyarbeit. Derzeit gibt es fünfzehn Auslandseinsätze der Bundeswehr und damit jährlich fünfzehnmal die reelle Chance, Regierungsentscheidungen über Krieg und Frieden direkt zu beeinflussen. Konkret hieße das, auf die Abgeordneten sowohl über das Instrument des High-Level-Lobbying im Parlament als auch über das Graswurzel-Lobbying vor Ort gezielt
Einfluss auszuüben, um sie zu einer Entscheidung gegen die Verlängerung bestehender oder die Genehmigung neuer Auslandseinsätze zu bewegen. Dieses Instrument wird bisher wenig genutzt.4

Beide Formen des Lobbying sind bisher in den friedenspolitischen Bewegungen und Kampagnen nur schwach entwickelt. Während das High-Level-Lobbying zunehmend mehr Anklang findet (gerade im Advocacy-Modell), aber durch das Fehlen finanzieller und personeller Ressourcen begrenzt ist, ist das Graswurzel-Lobbying wenig im Blickfeld der zivilgesellschaftlichen Basisgruppen vor Ort.

Partizipationsräume pragmatisch nutzen

Die Friedensbewegung kann ihre Wirkmacht relevant vergrößern, wenn sie sich nicht länger primär auf die Radikalopposition konzentriert, sondern stattdessen immer auch proaktiv vorhandene Partizipationsräume pragmatisch nutzt und sich der vorhandenen demokratischen Instrumente zur Partizipation gezielt bedient und diese weiterentwickelt. Druckkampagnen sind der Weg, radikal und pragmatisch zugleich.

Anmerkungen

1) Man muss sich vor Augen halten, dass aktuell die gesamte Mitgliedschaft der unterschiedlichen Friedensorganisationen zusammengezählt kaum mehr als 20.000 Personen umfassen dürfte (Schätzung des Autors). So zählen etwa die »großen« Friedensorganisationen DFG-VK ca. 3.500 Mitglieder, Versöhnungsbund Deutschland 950 Mitglieder und IPPNW ca. 6.000 Mitglieder. Hierbei sind Doppelmitgliedschaften noch gar nicht berücksichtigt. Zum Vergleich: Allein der BUND hat über 584.000 Mitglieder, Spender und Förderer (Stand 2016), Greenpeace
über 590.000 Mitglieder (Stand 2018) und attac immer noch über 29.000 (Stand April 2018). Die begrenzte Anzahl der Mitglieder ist in den meisten Friedensorganisationen jedoch kaum ein Thema. Dies ist vermutlich darin begründet, dass man sich immer noch als Soziale Bewegung fühlt und weniger als eine Vielzahl von Organisationen, die friedenspolitische Themen bearbeiten. Würde hier ein Umdenken einsetzen, könnten sich auch die Aktivitäten verändern, weg von der vermeintlichen Mobilisierung einer Sozialen Bewegung hin zum Aufbau einer Bewegung.

2) Der Autor unterscheidet zwischen Aufklärungskampagnen und Druckkampagnen. Erstere streben nach Verhaltens- und Bewusstseinsveränderung. Letztere zielen auf direkte Entscheidungen von Politik und Wirtschaft und damit auf strukturelle und gesetzliche Änderungen.

3) Die »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion« entwickelte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eine Qualifizierung zur Campaigner*in und Moderator*in für friedenspolitische Kampagnen. Im Rahmen der »CampaPeace«-Ausbildung, wie sie mittlerweile in der vierten Staffel stattfindet, richtet sich das Augenmerk auch auf die Frage, welche Formen von Beteiligung und Partizipation durch Kampagnen und Soziale Bewegungen angestrebt und erzielt werden können. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt bei Druckkampagnen. Aufklärungskampagnen
ermöglichen einen geringeren Grad von Partizipation und zielen vor allem auf Bewusstseinsveränderung und die Veränderung von individuellem Verhalten. Druckkampagnen hingegen wollen Veränderungen auf einer strukturellen Ebene erreichen, etwa über neue Gesetze, eine Veränderung im Abstimmungsverhalten von Abgeordneten oder die Einflussnahme auf Konzernentscheidungen.

4) Eine Ausnahme bildet die Kampagne »Macht Frieden. Zivile Lösungen für Syrien« (macht-frieden.de), die das Instrumentarium des High-Level- und des Graswurzel-Lobbying intensiv nutzt.

Literatur

Arnstein, S. (1969): A Ladder of Citizen Participation. Journal of the American Institutes of Planers, Vol. 25, Nr. 4.

McAlevey, J (2019): Keine halben Sachen – Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA.

Moyer, B. (2005): Doing Democracy – The MAP Model for Organizing Social Movements. Gabriola Island, BC/Canada: New Society Publisher.

Scheub, U. (2017): Demokratie – Die Unvollendete. München: oekom.

Ulrich Wohland ist freier Mitarbeiter der »Werkstatt für gewaltfreie Aktion« und leitet die Ausbildung CampaPeace. Beruflich ist er Campaigner und Organizer für Gewerkschaften wie ver.di und IG Metall.

Der Autor dankt Claudia Funke, Renate Wanie und Ursula Gramm (Mitarbeiterinnen der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion«), die mich bei diesem Artikel in gewohnt professioneller Weise unterstützt haben.

»Shrinking Space«


»Shrinking Space«

Einschränkungen der Arbeit in und an Konflikten

von Christine Meissler

Stellen Sie sich vor, das Konto ihrer Einrichtung wird gesperrt und Sie können Ihren Angestellten keinen Lohn mehr zahlen. Die bisherige Genehmigung für ihren Verein wird Ihnen entzogen oder die jährlich erforderliche Verlängerung verweigert. Sie und ihre Familie werden bedroht, Ihr Büro und die dort Mitarbeitenden werden überfallen und ausgeraubt, Ihre Website gesperrt. Sie werden ohne erkennbaren Grund verhaftet und ohne Anklage monatelang festgehalten. Was für uns wie ein Alptraum klingt, ist für immer mehr Nichtregierungsorganisationen seit Jahren Realität.

Repression und Einschränkungen zivilgesellschaftlichen Handelns werden in immer mehr Ländern sichtbar, eindrücklich belegt im jährlich erscheinenden »Atlas der Zivilgesellschaft« anhand von Daten, die CIVICUS, die World Alliance for Citizen Participation, zusammentrug: Zwei Milliarden Menschen leben derzeit in Staaten, in denen zivilgesellschaftliches bzw. bürgerschaftliches Engagement durch staatliche Gewalt vollständig unterbunden wird. Nur vier Prozent der Menschen weltweit genießen uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und können ihre Anliegen frei äußern, an Demonstrationen teilnehmen oder eine zivilgesellschaftliche Organisation gründen. CIVICUS teilt die Staaten in fünf Gruppen ein: Länder, in denen der Raum für zivilgesellschaftliches Handeln »offen« ist (45 Staaten, vier Prozent der Weltbevölkerung), »beeinträchtigt« (40 Staaten, 14 Prozent der Weltbevölkerung), »beschränkt« (53 Staaten, 36 Prozent der Weltbevölkerung), »unterdrückt« (35 Staaten, 19 Prozent der Weltbevölkerung) oder »geschlossen« (23 Staaten, 27 Prozent der Weltbevölkerung) (Brot für die Welt 2019).

Einschränkungen erfolgen in vielen Ländern sehr systematisch durch die jeweilige Regierung. Repressive Gesetzgebung und Regulierungen beschränken die Mittel, die Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland empfangen dürfen. Partnerorganisationen von »Brot für die Welt« berichten von Bürokratisierung, Überregulierung und willkürlicher oder missbräuchlicher Auslegung von Verordnungen. Registrierungen werden suspendiert, entzogen oder verweigert. Die Finanzierung aus dem Ausland durch Organisationen wie »Brot für die Welt« wird verzögert oder ganz blockiert. Oft werden zusätzliche Steuern erhoben. Antiterrorismus-, Internet-, und Mediengesetze, aber auch das Strafrecht, beschneiden direkt und indirekt die bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Repressive Änderungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechts schränken soziale Bewegungen ein.

Gerade in Konfliktgebieten und fragilen Staaten gehen Repression und Einschüchterung auch von nicht-staatlichen Akteuren oder von para-staatlichen Gruppen, die vom Staat geduldet werden, aus. Gezielte Schmierkampagnen in sozialen Medien werden angefacht und verstärkt. Aber auch Printmedien, Radio und Fernsehen bereiten den Weg für Hetze und Hassreden, zeichnen Feindbilder und senken so mitunter die Schwelle zur tätlichen Gewalt, von der meist benachteiligte Minderheiten und Menschenrechtsverteidiger*innen besonders betroffen sind. Sie werden bedroht, verhaftet und ermordet.

Auch in Europa kommt der Trend zum »Shrinking Space«, zum enger werdenden Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft, immer mehr an. Gerade im letzten Jahr zeigten sich auch in Ländern der Europäischen Union und sogar in Deutschland Parallelen und Bezüge zur Situation unserer Partnerorganisationen, die unter »Shrinking Space« leiden. Vor allem in Ungarn, Österreich und Italien hat sich die Lage der Zivilgesellschaft verschlechtert. Besonders das Engagement für Flüchtlinge wird nun auch in der EU einschränkt, kriminalisiert und stigmatisiert. Beleidigende Rhetorik gegen Frauen, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge und Juden spaltet auch unsere Gesellschaft. Wenn beispielsweise das bürgerschaftliche Engagement für Flüchtlinge von Politiker*innen mit Begriffen wie „Anti-Abschiebe-Industrie“ verunglimpft wird, wenn das Recht auf Asyl angegriffen und die Arbeit der zivilen Seenotretter*innen massiv eingeschränkt wird und wenn Vereine, die sich politisch engagieren, ihre Gemeinnützigkeit verlieren und ihre Existenz damit gefährdet wird, dann erinnert das an beginnende Schmähkampagnen gegen Partnerorganisationen im Globalen Süden.

Was ist Zivilgesellschaft?

Als Zivilgesellschaft wird jedes soziale Handeln verstanden, das jenseits von Staat, Wirtschaft und Privatem liegt. Es ist der öffentliche politische Raum, in dem Vereine, Initiativen und gemeinnützige Organisationen aktiv sind. Sie können eine formelle Struktur haben, wie Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen. Sie können aber auch informell konstituiert sein, wie viele soziale Bewegungen. Die Zivilgesellschaft operiert zwar jenseits des Staates, doch kann sie nur existieren, wenn individuelle und kollektive Freiheiten gewahrt sind.

Zivilgesellschaftliche Organisationen können viele konstruktive Rollen in einer Gesellschaft spielen. Demokratische Staaten sind in Bezug auf eine lebendige Demokratie und den Interessensausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften auf das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure angewiesen. Sie schaffen Räume für Engagement, Zusammenarbeit und Beteiligung, ermöglichen Dialog und Austausch in der Gesellschaft, klären auf und informieren, haben einen Bildungsauftrag, engagieren sich in der Kinder- und Jugendarbeit oder bieten soziale Dienstleistungen an. Zivilgesellschaftliche Akteure setzen häufig soziale, umweltpolitische und menschenrechtliche Agenden in Gang.

Gerade da, wo Staaten ihre Verantwortung für soziale Belange nicht angemessen wahrnehmen und wo systematische Korruption herrscht, kommt der Zivilgesellschaft eine zentrale Kontrollfunktion zu. Zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, klagen Transparenz und Rechenschaftspflichten ein und bringen Reformen voran. Ihre unabhängigen Analysen sind häufig nicht nur an die eigene Regierung gerichtet, sondern auch an Gremien der Vereinten Nationen. »Schattenberichte« helfen z.B. einen authentischeren Eindruck von der Situation eines Landes zu gewinnen und Prozesse voranzubringen. Besonders in Ländern des Globalen Südens stellen zivilgesellschaftliche Akteure für Menschen, die benachteiligt sind – Frauen, Kinder, Indigene, sexuelle oder religiöse Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und Migrant*innen – ein wichtiges Sprachrohr und einen Schutzfaktor dar. Hierzu brauchen sie staatlich garantierte Rahmenbedingungen, wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, aber auch Partizipationsmöglichkeiten, wie die Anhörung in Gesetzesverfahren, die Beteiligung von Bürgerinitiativen an Planungsverfahren oder weitgehende Rechte zur Informationsfreiheit.

Was sind die Gründe für »Shrinking Space«?

Von Repression sind in besonderem Maße die Gruppen betroffen, die sich kritisch gegen ungerechte Strukturen, Korruption, den uneingeschränkten Machtausbau und die Selbstbereicherung der Machtinhaber engagieren. Wo Regierungen den Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht durch Oppositionsbewegungen befürchten, gehen sie besonders hart gegen die Zivilgesellschaft vor.

Proteste und die Einleitung rechtlicher Schritte durch Nichtregierungsorganisationen gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung – zum Beispiel im Zusammenhang mit großflächigem »Landgrabbing« und Projekten im Energiesektor, an denen auch europäische Unternehmen mitverdienen – werden in Zeiten der ökonomischen Aufholjagd von Schwellenländern als Störung wahrgenommen. Der Wettlauf um begehrte Bodenschätze und fossile Energievorräte verschärft die Lage. Der Verletzung der nationalen Gesetze sowie von Umwelt- und Sozialstandards durch Investoren und Unternehmen folgt die Kriminalisierung oder Diffamierung von Aktivist*innen, die sich gegen die Verstöße engagieren.

Auch der politische Machterhalt spielt eine wichtige Rolle. So beobachten zivilgesellschaftliche Gruppen in autokratischen Systemen, vor allem vor und nach Wahlen, eine Zunahme von Repressionen und systematischen Einschränkungen in Form neuer oder geänderter Gesetze. Beispiele hierfür sind die Reaktionen auf den »Arabischen Frühling« oder auf die Großdemonstrationen gegen Wahlbetrug in Äthiopien 2005 und Russland 2011.

Behinderungen der Arbeit in und mit Konflikten

Die Einschränkungen treffen nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Zielgruppen. Sie schaden massiv der sozialen und nachhaltigen Entwicklung in einem Land und somit der gesamten Bevölkerung.

Die Rolle einer Zivilgesellschaft, die sich an Werten wie Menschenwürde, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit orientiert, für Friedensentwicklung ist unumstritten. Sie wirkt deeskalierend, beugt Gewaltausbrüchen vor und initiiert Versöhnungsprozesse. In Transformationsprozessen, zerfallender Staatlichkeit oder Konfliktsituationen kann sie dazu beitragen, gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Wo bewaffnete Akteure das Sagen haben und eine Kultur der Straflosigkeit herrscht, ist es für Aktivist*innen besonders gefährlich, unabhängig zu handeln: 312 Morde in 27 Ländern zählte die Organisation »Frontline Defenders« allein im Jahr 2017. Zwei Drittel der getöteten Aktivist*innen verteidigten die Rechte von Land, Umwelt und indigenen Völkern, fast ausschließlich in Konflikten um Megaprojekte, etwa der Bergbau-, Energie- oder Agrarindustrie. Nur in zwölf Prozent der erfassten Fälle wurden Verdächtige verhaftet (Frontline Defenders 2018).

Auch von den so genannten Antiterrormaßnahmen sind zivilgesellschaftliche Akteure betroffen, die in Konfliktgebieten arbeiten. Dazu trägt ein US-amerikanisches Gesetz bei: Unabhängig von ihrer Nationalität droht Personen in den USA bis zu 15 Jahren Haftstrafe, wenn sie einer Organisation, die als »ausländische Terrororganisation« gelistet ist, »materielle Unterstützung« gewähren. Dieses Gesetz beeinflusste weltweit die nationalen Gesetzgebungen und führte auf der ganzen Welt zu Beschränkungen der humanitären, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen. Zu den strafbaren Handlungen zählen explizit nicht nur das Bereitstellen von finanziellen Mitteln oder Eigentum, sondern auch Beratung und Schulungen sowie die Möglichkeit, Treffen zu organisieren oder als Mediator zu fungieren. Damit werden Schwerpunkte der Zivilen Konfliktbearbeitung vor Ort kriminalisiert.

Auch humanitäre Hilfsorganisationen stellen derartige Kontaktverbote vor enorme Herausforderungen. Um Zugang zu einer im Konfliktgebiet notleidenden Bevölkerung zu erhalten, müssen sie mit den unterschiedlichen am Konflikt beteiligten Akteuren verhandeln. Außerdem ist es meist unmöglich zu garantieren, dass prinzipiell kein noch so kleiner Anteil der Hilfe Extremisten erreicht. Den Preis dafür zahlen unzählige Menschen in Not mit ihrem Leben. Es wird z.B. angenommen, dass die Beschränkung durch Antiterrorismusgesetze in den USA und Großbritannien dazu beigetragen hat, dass Menschen während der großen Hungersnot in von der islamistischen Miliz al-Shabaab kontrollierten Regionen in Somalia 2011 nicht versorgt werden konnten. Die Hungersnot führte damals zum Tod von 250.000 Menschen (Burke 2017).

Geber fördern immer weniger Projekte in Gebieten, die von Gruppen kontrolliert werden, die als Terroristen gelistet sind. Organisationen, die in solchen Regionen arbeiten, haben damit immer weniger Zugang zu finanzieller Förderung. Hinzu kommt die Verweigerung von Finanzdienstleistungen für zivilgesellschaftliche Organisationen im Zuge des so genannten »Derisking«: Wegen möglicher hoher Strafen wenden Banken die Regel, ihre Kunden auf Verbindungen zu Terrorismus zu untersuchen, sehr rigide an, lehnen die Bearbeitung »verdächtiger« grenzüberschreitender Überweisungen ab oder weisen einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen als Kunden ganz ab. Dieser Mangel an Finanzierungsmöglichkeiten wirkt sich vor allem auf die Nachhaltigkeit zivilgesellschaftlicher Friedensförderung aus (Duke Law und WPP 2017, S. 46 f). Frauenbasisorganisationen sind davon besonders oft betroffen. In einer Umfrage unter Frauenorganisationen, die in Konflikt- oder Postkonfliktgebieten arbeiten, gaben 90 Prozent an, dass Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung negative Auswirkungen auf ihre Friedensarbeit, die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter im Allgemeinen haben (Duke Law und WPP 2017, S. 15).

»Do no harm«-Prüfung als erster Schritt

Diese wohl nicht intendierten Auswirkungen haben eine tragische Ironie: Eine Beteiligung an Friedens-, Wiederaufbau- oder Versöhnungsprozessen, die zur Verhinderung von Extremismus und Gewalteskalation beitragen kann, wird nahezu unmöglich gemacht.

Es bedarf einer Überprüfung, wie sich Antiterrorgesetze, die Reduktion von finanzieller Förderung und die Verweigerung von Finanzdienstleistungen auf zivilgesellschaftliches Engagement auswirken und was die Folgen für Frieden und Entwicklung sind. Erforderlich sind sorgfältige Risikoanalysen und Prüfverfahren und eine klare Orientierung am »Do no harm«-Prinzip. Darüber hinaus müssen Geber dafür sorgen, dass ihre eigenen Verfahren zur Rechenschaftslegung so ausgestaltet werden, dass sie Partner nicht in Gefahr bringen. Und sie müssen alle erdenklichen Spielräume in ihren Regelwerken ausnutzen, um sicherzustellen, dass zivilgesellschaftliche Initiativen die dringend benötigten Finanzmittel auch erhalten.

Literatur

Brot für die Welt (2019): Atlas der Zivilgesellschaft 2019 – Report zur weltweiten Lage. Berlin.

Brot für die Welt (2017): The impact of inter­national counter-terrorism on civil society organizations – Understanding the role of the Financial Action Task Force. Berlin.

CIVICUS (2018): People Power under Attack – A Global Analysis of Threats to Fundamental Freedoms. Johannesburg, South Africa.

Duke Law International Human Rights Clinic; Women Peacemakers Program (2017): Tight­ening the Purse Strings – What Countering Terrorism Financing Costs Gender Equality and Security. Durham, North Carolina/USA.

Frontline Defenders (2018): Annual Report on Human Rights Defenders at Risk in 2017. Blackrock, Ireland.

Burke, J. (2017): Anti-terrorism laws have ‘chilling effect’ on vital aid deliveries to Somalia. Guard­ian, 26. April 2017.

Müller, K.; Schwarz, C. (2018): Fanning the Flames of Hate – Social Media and Hate Crime. Veröffentlicht am 30. November 2018; ssrn.com/abstract=3082972.

Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (ZZE) (2011): Dimensionen von Zivilgesellschaft, 2011, zze-freiburg.de/themen/­zivilgesellschaft.

Christine Meissler ist seit 2013 als Referentin für den Schutz der Zivilgesellschaft bei »Brot für die Welt«. Zuvor beschäftigte sie sich von 2007 bis 2013 als Referentin und Projektleiterin bei FriEnt und InWEnt vor allem mit Friedensentwicklung. Als Mitarbeiterin und Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz war sie von 2003 bis 2006 in Genf, Manila und Addis Abeba tätig. Sie ist Diplom-Politologin und hat einen Master in International Human Rights Law.

Wir haben die Wahl

Wir haben die Wahl

von Martina Fischer

Ende Mai werden die EU-Bürger*innen ein neues Parlament wählen. Sie sollten die Kandidat*innen sorgfältig auswählen. Nicht nur für den inneren Zusammenhalt, sondern auch für die Friedenspolitik steht viel auf dem Spiel. Werden zukünftig die zivilen Stärken der EU als Brückenbauerin, als wirtschaftliche und entwicklungspolitische Kooperationspartnerin ausgebaut, oder wird stattdessen außenpolitisch vermehrt auf militärische Stärke gesetzt und die Rüstungsindustrie subventioniert? Die Europäische Union war in den vergangenen Jahrzehnten ein wichtiger
Referenzrahmen für Menschen, die sich im Globalen Süden für Entwicklung, Frieden und Menschenrechte engagieren, nicht zuletzt, weil sie sich jenseits nationaler Interessen entwicklungspolitisch engagierte und Instrumente für die Förderung von Zivilgesellschaft bereitstellte. Dieses Image darf nicht zur leeren Worthülse werden.

In den vergangenen Jahren verlagerte die EU den Schwerpunkt deutlich hin zur militärischen Kooperationen. Im Haushalt 2021-27 sollen 13 Mrd. € für einen »Verteidigungsfonds« (zur Subventionierung der Rüstungsindustrie) und 6,5 Mrd. € für »Militärische Mobilität« (zur Entlastung der NATO) aus dem Gemeinschaftshaushalt investiert werden. Zugleich verpflichten sich die Mitgliedstaaten in der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« zur kontinuierlichen Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben. Im Bereich der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung ist eine ähnliche Dynamik nicht erkennbar,
vielmehr drohen die Mittel dafür sogar gekürzt zu werden, wenn es nach einem Vorschlag der EU-Kommission für den neuen »Finanzrahmen« geht. Es fehlt weiterhin an einem verlässlichen Expert*innenpool für zivile EU-Missionen. Die wenngleich definierte, aber stark vernachlässigte zivile Dimension der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss ausgebaut und dringlich mehr Personal für den Aufbau von Institutionen und Rechtsstaatlichkeit in Nachkriegsregionen bereitgestellt werden. Stattdessen ist geplant, die EU-Finanzarchitektur so zu »flexibilisieren«, dass zivile und
entwicklungspolitische Mittel zunehmend für die Grenz- und Migrationskontrolle genutzt werden können. Mit der »Versicherheitlichung« dieser Politikbereiche und mit der Militärhilfe für Diktaturen, die der EU bei der Vorverlagerung ihrer Grenzen helfen, riskiert die EU, ihre Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft für Menschenrechte, Demokratie und Frieden zu verlieren. Ihre Stärken – Demokratisierung zu fördern, Brücken zu bauen, Friedensprozesse mit Mediation, Diplomatie, Dialog und Kooperation sowie entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Anreizen zu flankieren und
Zivilgesellschaft zu unterstützen – setzt sie mit der neuen Schwerpunktsetzung aufs Spiel.

Auch mit Blick auf die Nachbarn im Osten sollte sich die EU auf ihre Stärken besinnen, statt auf die militärische Karte zu setzen. Sicherheit muss partnerschaftlich gedacht werden, und Frieden lässt sich nur mit einer über die EU hinausweisenden, gesamteuropäischen und globalen Perspektive gestalten. Für die Lösung des Ukraine-Konflikts bietet allein die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein bewährtes »System kollektiver Sicherheit«, das auf Vertrauensbildung setzt sowie Schiedsgerichtsverfahren und diplomatische Instrumente zur Krisenverhütung,
Konfliktbearbeitung und Rüstungskontrolle vorhält. Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte bildet Staatsbeamt*innen und Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtschutz aus, ein Hochkommissariat überwacht die Minderheitenrechte. Wo bleibt die eindeutige strategische und finanzkräftige Unterstützung der EU hierfür?

Nicht Investition in bestehende oder neue Militärbündnisse, sondern den Vereinten Nationen und der OSZE bei ihren Friedensbemühungen tatkräftig zur Seite zu stehen ist das Gebot der Stunde. Durch konsequente Abrüstung, Konversion der hochsubventionierten Rüstungsindustrie und Einhegung der Verteidigungsausgaben könnten viele Mittel freigesetzt werden, um Friedenspolitik auf globaler Ebene aktiv mitzugestalten.

Mehr als 90 Nichtregierungsorganisationen aus EU-Ländern unterzeichneten im Vorfeld der EU-Wahl einen Aufruf mit friedenspolitischen Forderungen an das EU-Parlament (rettetdasfriedensprojekt.eu). Der Aufruf, das Friedensprojekt Europa zu retten, zeigt, dass die Zivilgesellschaft sich der Friedensverantwortung Europas bewusst ist. Ob das zukünftige Parlament diese Verantwortung ausfüllt, hängt nicht allein, aber auch von unserer Wahl ab.

Dr. Martina Fischer, Politikwissenschaftlerin, war als Friedensforscherin in verschiedenen Einrichtungen der Friedens- und Konfliktforschung tätig, darunter knapp 20 Jahre lang an der Berghof Foundation in Berlin. Seit 2016 arbeitet sie bei »Brot für die Welt« als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung. Weitere Informationen zur EU-Politik finden sich in ihren Blogbeiträgen unter info.brot-fuer-die-welt.de/blog/dr-martina-fischer.

An allen Fronten – Auf allen Ebenen!


An allen Fronten – Auf allen Ebenen!

22. IMI-Kongress, Tübingen, 7.-9. Dezember 2018

von Jürgen Wagner

Der 22. Kongress der Informationsstelle Militarisierung fand, dieses Jahr etwas später als gewohnt, von 7. bis 9. Dezember 2018, wie immer in Tübingen, statt. Thema war – die Debatte um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aufgreifend – »Deutschlands Aufrüstung: An allen Fronten – Auf allen Ebenen!«. Zwischen 70 und 140 Personen waren jeweils bei den Vorträgen präsent, insgesamt dürften über 200 Menschen Teile des Kongresses besucht haben. Viele Besucher*innen aus entfernteren Gegenden reisten bereits zur Auftaktveranstaltung am Freitagabend an, die in der Hausbar des Wohnprojekts Schellingstraße – einer ehemaligen Kaserne – stattfand. Dort wurde in einem kurzen Vortrag zu Beispielen der Konversion – also der zivilen Nutzung vormals militärischer Flächen – in die Thematik eingeführt. Anschließend gab es noch eine Art Kneipen-Quiz zu Ritualen bei der Bundeswehr, bei dem v.a. viel gelacht und eines klar wurde: Es gibt Weniges, was die Anwesenden sich vorstellen konnten und gelangweilte Soldat*innen nicht schon durchgeführt und ritualisiert hätten.

Der erste Veranstaltungsblock am Samstag beschäftigte sich mit dem Thema »Deutschland im Rüstungsfieber«. Dabei spielten der steigende Verteidigungshaushalt und die Großprojekte ebenso eine Rolle wie die planerischen Grundlagen der jüngsten Rüstungsbemühungen – »Konzeption« und »Fähigkeitsprofil« der Bundeswehr (siehe dazu Jürgen Wagner, Verschwimmende Grenze, auf S. 30 in dieser W&F-Ausgabe). Anschließend wurde auch auf die Veränderungen in der deutschen Rüstungslandschaft eingegangen. Ausführlich wurden in weiteren Panels die aktuellen Rüstungsvorhaben in den Bereichen Polizei, Informationstechnologie und Atomwaffen behandelt. Die Abendveranstaltung zur »EU auf dem Weg zur Rüstungsunion« wurde kurzfristig in einen von Aktivist*innen und Studierenden angeeigneten Hörsaal verlegt. Der Hörsaal war eine Woche zuvor im Anschluss an eine Demonstration gegen den Forschungscampus »Cyber Valley«, an dem auch die Rüstungsindustrie beteiligt ist, besetzt worden. Zu den Forderungen der Besetzenden gehörte u.a. eine Zivilklausel für die gesamte Stadt.

Der Sonntag stand zunächst ganz im Zeichen der »Gegenkonversion«, also der (Re-) Militarisierung von Flächen. Das Thema wurde zu Beginn anhand der »Militärischen Mobilität« und des geplanten NATO-Logistikkommandos in Ulm behandelt, und es wurde erläutert, wie auf dieser Basis künftig vermehrt Gelder nach militärischen Nützlichkeitserwägungen in Infrastrukturprojekte zur schnellen Verlegefähigkeit, insbesondere nach Osteuropa, gelenkt werden sollen. Im Anschluss ging es konkret um »Die militärische (Rück-) Eroberung der Fläche: (Re-) Aktivierung alter und neuer Liegenschaften«, die aktuell drei verschiedene Formen annimmt: erstens die Inbesitznahme ziviler Flächen durch das Militär, teilweise, um den Verlust von (anderen) Flächen, die einer zivilen Nutzung zugeführt werden sollen, auszugleichen; zweitens die Reaktivierung aufgegebener Flächen, Liegenschaften und Ressourcen; und drittens der Abbruch oder die Verzögerung eines Konversionsprozesses.

Das Abschlusspodium des diesjährigen Kongress fokussierte sich auf aktuellen Widerstand gegen Aufrüstung. Mit dabei waren Aktivist*innen aus Ulm gegen das geplante NATO-Logistikkommando sowie vom bundesweiten Jugendnetzwerk für politische Aktion (JunepA), vom Tübinger Bündnis gegen das »Cyber Valley« und vom Kassler antimilitaristischen Aktionsbündnis »Block War«. Abgesehen von der Darstellung der jeweiligen politischen Auseinandersetzungen und auch Erfolge, ging es darum, zu erörtern, wie die anti-militaristischen Bewegungen gestärkt werden können. Ein Fazit war, dass die Vernetzung mit Bewegungen aus anderen Spektren, wie den Wohnraumbündnissen und Naturschutzverbänden, intensiviert werden könnte.

Jürgen Wagner

Ist die NATO alternativlos?

Ist die NATO alternativlos?

von Alexander Neu und Katja Keul

Die North Atlantic Treaty Organization besteht seit 70 Jahren. Dem eigenen Anspruch zufolge schafft bzw. fördert die NATO Sicherheit und Stabilität, und zwar weltweit. Die praktischen Auswirkungen ihrer Aktivitäten, ihre zahlreichen politischen und militärischen Verwicklungen außerhalb des stetig ausgeweiteten Bündnisgebietes und der Anspruch einer deutlichen Aufrüstung der Mitglieds­taaten bezeugen allerdings eine Realität, die von den postulierten Ansprüchen weit abweicht. Ist die Forderung nach Auflösung der NATO die richtige Konsequenz? Sind Alternativen zum transatlantischen Bündnis denkbar?
W&F bat mit Alexander Neu (DIE LINKE) und Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen) zwei Bundestags­mitglieder aus Oppositionsparteien um ihre Einschätzungen zu diesen Fragen.

Über Alternativen nachdenken

von Alexander Neu

Nahezu dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges herrscht in Europa erneut ein Kalter Krieg – so oder so ähnlich lauten die Äußerungen aus Politik, Medien und Wissenschaft. Dabei reicht das Einschätzungsspektrum von „(noch) kein Kalter Krieg“1 bis hin zu „Kaltem Krieg“.2

Ich habe den Eindruck, der Kalte Krieg hat nie wirklich aufgehört, sondern in den 1990er Jahren nur an Wahrnehmbarkeit verloren. Unverändert existierte aber der Grundwiderspruch zwischen den Großmächten fort: Es ging um die Machtfrage, um Einflussräume jenseits der ideologischen Systemfrage und um ökonomische Interessen. Schon der Kalte Krieg war also nie nur ein Systemkonflikt gewesen.

Mit der »Niederlage« der Sowjetunion und ihrem anschließenden staatlichen Zerfall war die Machtfrage zunächst zugunsten der USA und derer Verbündeten geklärt. Russland als Rechtsnachfolgestaat der Sowjetunion spielte in der Weltpolitik der 1990er Jahre keine Rolle mehr. Ehemalige Verbündete wechselten in das westliche Lager. Die von US-Präsident Bush sen. ausgerufene „Neue Weltordnung“3 war nichts anderes als eine US-Weltordnung. Und zwar eine Weltordnung mit einem einzigen Machtpol: dem so genannten Westen, bestehend aus den USA und ihren Verbündeten oder auch „Vasallen“, wie Zbigniew Brzezinski sie in seinem bekannten Werk »Die einzige Weltmacht«4 bezeichnete. Ob der Westen tatsächlich der sowjetischen Führung seinerzeit versprochen hatte, die NATO nicht über die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands hinaus zu erweitern,5 oder ob dies dem Wunschdenken Moskaus entspringt,6 ist nach wie vor umstritten. Tatsache ist, dass der Westen die Gunst der Stunde zur Expansion seiner Einflussräume nutzte, statt auf Ausgleich und gemeinsame Sicherheit im KSZE/OSZE-Raum zu setzen. Inzwischen befinden sich selbst frühere sowjetische Unionsrepubliken im Einflussbereich der USA bzw. der NATO und der EU oder streben dorthin.

Erst mit dem Wiedererstarken Russlands und dem Machtzuwachs Chinas kommt der Grundwiderspruch um Einflussräume wieder zum Vorschein. In gewissem Maße sind in der nun neuen, zwar noch nicht final ausgeformten, aber in Ansätzen erkennbaren multipolaren Weltordnung Ähnlichkeiten zum Vorabend des Ersten Weltkrieges zu entdecken. Seinerzeit war die Welt zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt. Deutschland als Nachzügler wollte seinen Anteil, der aber zu Lasten der übrigen Kolonialmächte gegangen wäre. Dieser geo-politische und geo-ökonomische Konflikt war der Grund für den Ersten Weltkrieg, nicht die Schüsse von Sarajewo.

Multipolare Weltordnung

Das Wesen einer multipolaren Weltordnung besteht darin, die nahezu uneingeschränkte Handlungs- bzw. Gestaltungsfreiheit eines Akteurs oder einer Akteursgruppe durch andere, wachsende Kraftzentren zunehmend zu begrenzen, zurückzudrängen und Einfluss- und Gestaltungsräume neu aufzuteilen. In einem derartigen Epochenbruch befindet sich die Weltpolitik momentan. Dafür stehen Aussagen wie jene, die Welt sei »aus den Fugen«. Das Alte ist vergangen, das Neue aber noch nicht etabliert, allenfalls in Konturen sichtbar.

Solche Übergangsphasen sind besonders konfliktgeladen, da der herausgeforderte Akteur seinen Machteinfluss nicht räumen will und der oder die herausfordernden Akteure den Status quo nicht weiter akzeptieren wollen. Waren die Zerschlagung Jugoslawiens und die Westintegration einiger post-jugoslawischer Republiken für den Westen nach dem Ende der Blockkonfrontation in den 1990er Jahren noch ein risikoarmes geo-politisches Unterfangen, so stoßen weitergehende raumgreifende Ambitionen des Westens zunehmend auf (auch) militärischen Widerstand Russlands.

Der Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahre 2008 war der erste Abwehrkrieg gegen die Ausdehnung der westlichen Einflusssphären im post-sowjetischen Raum. Der Putsch in der Ukraine 2014 (vom Westen befördert, um das Land in den euro-atlantischen Einflussraum zu integrieren), die darauf folgende Sezession der Krim und ihre völkerrechtswidrige Integration in die Russische Föderation, der Krieg in der Ostukraine sowie der Syrienkrieg sind reale Ausdrucksformen dieses geo-politischen und geo-ökonomischen Machtkampfes.

Hier befindet sich Russland noch in der Defensivposition, d.h. es verteidigt seine noch verbliebenen Einflussregionen auch mit militärischen Mitteln, wo es möglich ist. Im post-jugoslawischen Raum hingegen ist die Machtfrage weitgehend geklärt: Die politischen Verhältnisse wurden bereits in den 1990er Jahren so verändert, dass der Beitritt fast aller post-jugoslawischer Republiken in die »euro-atlantischen Strukturen« nur noch eine formale Frage ist. Montenegro wurde 2017 NATO-Mitglied, und der Beitritt Nord-Makedoniens wird nun vollzogen werden, da der Namensstreit um »Makedonien« zwischen diesem Staat und Griechenland – nicht ohne massive Einflussnahme aus Washington und Brüssel – gelöst zu sein scheint. Selbst auf Serbien, einen traditionellen Verbündeten Russlands, übt der Westen erheblichen Druck aus, der NATO beizutreten.

Diese expansive Raumpolitik des Westens ist mit der politikwissenschaftlichen Theorie des »Neorealismus« nicht zu erklären: Erstens gibt es mit den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zwischenstaatliche Organisationen, deren Aufgabe es ist bzw. sein sollte, Staaten Sicherheit zu gewährleisten (wobei der Westen genau diese Institutionen durch seine rechtswidrigen Interventionskriege und andere rechtsnihilistische Maßnahmen torpediert). Zweitens ist die Sicherheit des Westens mitnichten bedroht – auch nicht durch Russland. Russland verfügt weder quantitativ noch qualitativ über konventionell-militärische Fähigkeiten oder finanzielle und ökonomische Ressourcen, die mit denen des Westens auch nur annähernd vergleichbar sind.7 Überdies, und das räumte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ein, liegen „ keine Erkenntnisse vor“, dass Russland die Absicht hätte, die NATO bzw. die östlichen NATO-Staaten anzugreifen.8 Das westliche Expansionsstreben ist also entweder mit der Denkschule des »Realismus« zu erklären – als Machtakkumulation, die sich durch geo-politisches Raumgreifen artikuliert – oder mit der umfassenderen Imperialismustheorie Lenins, die die innenpolitischen Aspekte, vor allem aber die ökonomischen Interessen als Triebkraft außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen betrachtet.9 Auf dieser Grundlage kann auch das geo-ökonomische Expansionsinteresse von NATO und EU erklärt werden.

Sicherheitspolitische Alternativen denkbar und realistisch?

Das »Gemeinsame Haus Europa« war nicht unrealistisch und ist es auch heute nicht, wenngleich die Bedingungen dafür derzeit sehr viel schwieriger sind. Die mit dem Ende des Kalten Krieges einhergehende Aufbruchsstimmung für eine neue friedliche und gerechte Weltordnung fiel in der westlichen Politik nicht auf fruchtbaren Boden. In der jetzigen Phase des Epochenwandels sind einerseits die Fronten derart verhärtet, dass ein Paradigmenwechsel der außen- und sicherheitspolitischernVorstellungen wenig realistisch ist. Andererseits scheint der Westen als ein mehr oder minder homogener Block auseinanderzubrechen. Es ist derzeit nicht klar, ob es in der multipolaren Welt weiterhin den einen westlichen Pol geben wird – oder mindestens zwei Pole im Westen: die USA und die EU. Letzteres könnte neue Chancen für ein Umdenkens eröffnen, allerdings nur, wenn die führenden EU-Staaten bereit wären, ein neues Konzept von »Europa« zu entwickeln – unter Einbindung Russlands. In diesem Falle böte die OSZE den sinnvollen Rahmen.

Die OSZE ist die einzige Organisation, die gemäß ihrer Gründungsidee gemeinsame Sicherheit für alle Mitglieder anstrebt und nicht Sicherheit auf Kosten anderer erlangen will. Sie stellt eine friedenspolitische Alternative zur NATO dar, die zur Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz auf das Vorhandensein äußerer Gegner angewiesen ist.

In der OSZE existieren politische Verhaltensprinzipien für die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Es gilt das Prinzip der Gleichberechtigung und des Konsenses unter den Mitgliedern.10 Gegenseitige und kollektive Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit sind friedensdienliche Maßnahmen, Konfrontationsdenken, Hochrüstung sowie Großmanöver hingegen erzeugen Unsicherheit und zerstören Vertrauen. Es ist höchste Zeit, über reale Alternativen zur NATO nachzudenken.

Austritt aus der NATO?

Ein Austritt aus den militärischen – d.h. nicht zugleich aus den politischen – Strukturen der NATO ist für die perspektivische Auflösung der NATO der aussichtsreichere Weg als ein Komplettaustritt. Der Austritt Deutschlands als ein maßgeblicher europäischer und NATO-Akteur hätte deutliche Auswirkungen auf den Zusammenhalt und den Fortbestand des Militärbündnisses. Auch andere Staaten, wie Frankreich und Spanien, gehörten in der Vergangenheit zeitweilig nicht den militärischen Bündnisstrukturen an, ohne dass sich die NATO als Ganzes aufgelöst hätte. Damals herrschte indes der Kalte Krieg, der auf die übrigen NATO-Mitglieder »disziplinierend« wirkte. In der aktuellen Übergangsphase von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung ist die »Selbstdisziplin« dagegen schwächer ausgeprägt. Die NATO-Mitgliedsstaaten formulieren ihre nationalen Interessen selbstbewusster. 2003 verweigerten sich Deutschland und Frankreich nicht nur einer aktiven Teilnahme am Krieg der USA gegen den Irak, sondern Frankreich hatte auch ein Veto in der NATO angedroht. Dies sollte der Ansatz für einen neuen Modus sein: Austritt aus den militärischen, aber Verbleib in den politischen Strukturen der NATO.

Der Verbleib in den politischen Strukturen der NATO kann dann dafür genutzt werden, die Militärallianz bis zu ihrer endgültigen Auflösung durch den Einsatz von Vetos handlungsunfähig zu machen. Die zentrale politische Entscheidungsinstanz ist der NATO-Rat. Seine Entscheidungen müssen im Konsens getroffen werden. Wenn ein Mitglied dort sein Veto einlegt, kommt keine Entscheidung zustande.

So ließen sich zum Beispiel verhindern:

  • die Verabschiedung neuer Strategischer Konzepte (Ausdehnung des Aufgabenspektrums),
  • Beschlüsse für Militärinterventionen und Kriege sowie
  • Beschlüsse für die Aufnahme von neuen Mitgliedern.

Aus den militärischen Strukturen der NATO auszutreten und gleichzeitig ihre politischen Strukturen zu nutzen, um militärische Aufrüstung und Militärinterventionen zu verhindern, würde den Frieden in der Welt stärken und die Durchsetzung einer zivilen Sicherheitsstrategie erleichtern. Es gäbe bessere Chancen, die vorhandenen zivilen Sicherheitsstrukturen der OSZE auszubauen und zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit weiter zu entwickeln. Die NATO könnte auf diese Weise von innen erodieren. Dieser Prozess sollte komplementär verlaufen, d.h. parallel zum faktischen Abbau der NATO muss der Auf- und Ausbau der OSZE erfolgen, um den Eintritt eines Sicherheitsvakuums in Europa zu verhindern.11

Anmerkungen

1) „Das ist kein neuer Kalter Krieg“ – Fünf Fragen an den französischen Außenminister a.D. Hubert Védrine. Internationale Politik und Gesellschaft, 21.3.2014; jpg-journal.de.

2) Medwedew kritisiert NATO und EU – „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg“. tagesschau.de, 13.2.2016.

3) Czempiel, E.-O. (2002): Die amerikanische Weltordnung. Aus Politik und Zeitgeschichte/APUZ, Nr. B 48/2002.

4) Brzezinski, Z. (2001, 4. Aufl): Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt a.M.: S. Fischer, beispielsweise S. 41.

5) Video »Abmachung 1990: „Keine Osterweiterung der NATO“ – ­Außenminister Genscher & Baker«; youtube.com/watch?v=JXcWVTpQF3k.

6) Video »Genscher widerspricht Behauptung vom Versprechen an Russland, die NATO nicht nach Osten zu erweitern«; youtube.com/watch?v=aG_EU5XWJn4.

7) Siehe dazu Lühr Henken, Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, auf S. 27 dieser W&F-Aus­gabe.

8) International Institute for Strategic Studies (2018): The Military Balance 2018; iiss.org.
Deutscher Bundestag (2018): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. André Hahn, Dr. Alexander S. Neu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Perspektiven eines künftigen gesamteuropäischen Raums von Lissabon bis Wladiwostok. BT-Drucksache 19/4758 vom 5.10.2018.

9) Lenin, W.I. (1917/2016): Der Imperialismus als höchstes Stadium der Kapitalismus – Gemeinverständlicher Abriss. Kritische Neuausgabe, Berlin: Verlag 8. Mai.

10) Deutscher Bundestag (1996): Antrag der Abgeordneten Andrea Gysi […] und der Gruppe der PDS – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Europäische Friedensordnung. BT-Drucksache 13/5800 vom 15.10.1996.

11) Bundestagsfraktion DIE LINKE (2015): Sicherheit statt Konfrontation – OSZE stärken, NATO auflösen. Berlin.

Dr. Alexander S. Neu, Mitglied des Bundestages, ist Obmann im Verteidigungsausschuss der Fraktion DIE LINKE und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

Über eine andere NATO nachdenken

von Katja Keul

Die Frage nach Alternativen zur NATO drängt sich immer wieder auf, so zuletzt, als Präsident Trump sie als „obsolet“ bezeichnet hatte. Man muss aber nicht Trump sein, um sich zu fragen, ob diese Institution nach 70 Jahren noch den aktuellen Bedürfnissen entspricht, denn die Weltlage hat sich seither in vielerlei Hinsicht verändert.

Bevor man aber die NATO in Frage stellt oder nach Alternativen sucht, gilt es sich zunächst einmal klar zu machen, was die NATO eigentlich ist und was sie nicht ist. Dabei wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie überhöht – weder im Guten noch zum Schlechten.

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis

Am 4. April 1949 vereinbarten zwölf Staaten, dass ein militärischer Angriff auf einen von ihnen als Angriff gegen alle zu werten sei, und verpflichteten sich dazu, sich in diesem Fall gegenseitig zu verteidigen.

Die NATO ist damit ein Verteidigungsbündnis: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Als solches hat sie eine Funktion, die sie in ihrer 70-jährigen Geschichte auch erfolgreich erfüllte. Immer wenn sie versucht hat, andere Aufgaben zu übernehmen, beispielsweise Demokratieförderung oder ähnliches, ist sie kläglich gescheitert.

Ein Verteidigungsbündnis ist keine Wertegemeinschaft

Heute hat die NATO zwar 28 Mitglieder, aber an ihrer Natur als Verteidigungsbündnis hat sich nichts geändert. Auch Versuche, ihr eine neue Deutung als »Wertegemeinschaft« zu geben, sind wenig überzeugend. Ein militärisches Verteidigungsbündnis ist weder dazu gedacht noch dazu geeignet, Werte zu vertreten oder Demokratie zu fördern. Freundinnen und Freunde der NATO, die ihr eine solche neue Aufgabe zusprechen wollen, tun ihr am Ende auch keinen Gefallen. Der Mythos der Wertegemeinschaft untergräbt allenfalls die Glaubwürdigkeit dieses Bündnisses. Um dies zu illustrieren, reicht es, den Zustand der Demokratie des NATO-Mitglieds Türkei aktuell zu betrachten.

Der Mythos der Wertgemeinschaft ist meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass man in den 1990er Jahren durch den vermeintlichen Verlust des gemeinsamen Gegners verunsichert war und glaubte, eine neue Aufgabe finden zu müssen. Ein militärisches Bündnis lässt sich aber nicht einfach umdefinieren. Es ist und bleibt ein militärisches Bündnis und hat als solches – aber eben auch nur als solches – weiterhin eine Existenzberechtigung.

Ein Verteidigungsbündnis ist auch kein System kollektiver Sicherheit

Nun wird die NATO an vielen Stellen, auch in dem AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994, als System kollektiver Sicherheit bezeichnet, was zu einer andauernden Verwirrung der Begrifflichkeiten führte.

Zweifelsohne ist die NATO ein System kollektiver Verteidigung. Damit ist sie dem Sinn und Zweck, aber auch ihrer Struktur nach, gegen einen Angriff von außen – also von einem Dritten – gerichtet. Ein System kollektiver Sicherheit hingegen richtet sich vorrangig gegen rechtswidrige Gewalt­anwendung innerhalb des Systems. So sind die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) klassische Systeme kollektiver Sicherheit, indem sie primär die Gewaltanwendung untereinander verbieten und auf die Durchsetzung dieses Gewaltverbots gerichtet sind. Dies sah das Verfassungsgericht auch nicht wesentlich anders. Es stellte darauf ab, dass die Verflechtung der Streitkräfte und der Kommandostrukturen innerhalb der NATO auch dazu führt, dass die Sicherheit unter den Mitgliedern selbst erhöht wird. So betrachtet kann ein System kollektiver Verteidigung, wie die NATO, auch ein System kollektiver Sicherheit in Bezug auf die eigenen Mitglieder sein. Von daher will ich dem Verfassungsgericht auch nicht widersprechen.

Die NATO ist deswegen aber noch lange kein System kollektiver Sicherheit im Sinne des Artikel 24 GG, wenn es darum geht, militärische Gewaltanwendung außerhalb des Territoriums ihrer Mitglieder verfassungsrechtlich zu legitimieren. Eine solche Gewaltanwendung können jenseits der Bündnisverteidigung allein die Vereinten Nationen legitimieren, deren Mitglieder sich der Satzung und damit auch dem Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates unterworfen haben.

Die Aufgabe eines Verteidigungsbündnisses ist Bündnisverteidigung

Bündnisverteidigung und Selbstverteidigung sind auch klare Begriffe, die nicht einfach willkürlich umdefiniert werden können. Verteidigung ist die Abwehr eines gegenwärtigen Angriffs auf das eigene Territorium. Die inzwischen gerne vertretene Auffassung, man befinde sich nach einem Terroranschlag geographisch und zeitlich unbegrenzt überall und immer in Selbstverteidigung, ist nicht etwa eine zulässige Auslegung, sondern schlicht der Bruch von Völkerrecht.

Es ist also müßig zu debattieren, ob hinsichtlich einer Beteiligung am Luftkrieg über Syrien die Europäische Union oder die NATO irgendwelche Beschlüsse gefasst oder nicht gefasst haben. So grausam die Terroranschläge 2015 in Paris waren: Sie führten nicht dazu, dass sich Deutschland und Frankreich in Syrien in Selbstverteidigung befinden. Solange zu diesem Thema keine politische Einigkeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hergestellt werden kann, findet der Bundeswehreinsatz dort außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit statt.

Das gilt im Übrigen auch für den neuen Bundeswehreinsatz im Irak, für den zwar eine völkerrechtliche Grundlage durch die Einladung der irakischen Regierung vorliegen mag – eine verfassungsrechtliche Grundlage nach Artikel 24 GG ist dafür dennoch nicht gegeben, weil die Bundewehr ohne UN-Mandat und damit außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit agiert. Dabei kommt es dann auch nicht darauf an, ob dieser Einsatz im Rahmen der NATO stattfindet oder nicht. Die NATO kann das fehlende System kollektiver Sicherheit in diesem Fall nicht ersetzen, weil der Irak eben kein Mitglied dieses Bündnisses ist.

EU und OSZE sind keine Alternative zur NATO

Auch die EU ist keine Alternative zur NATO, weil sie zwar im Hinblick auf die EU-Staaten untereinander auch als System kollektiver Sicherheit betrachtet werden kann, aber weder vom Gründungsakt noch von ihrer Struktur ein militärisches Verteidigungsbündnis darstellt. Auch eine verstärkte Zusammenarbeit der Streitkräfte oder eine Konsolidierung des europäischen Rüstungsmarktes ändern daran prinzipiell nichts. Anders wäre es erst, wenn auch die Kommandostrukturen auf europäischer Ebene diejenigen der NATO ersetzen würden. Dafür müssten aber zunächst die Verträge selbst geändert werden, weil das die EU in ihrem Wesen grundlegend verändern würde. Unabhängig davon, dass dies politisch derzeit jede Vorstellungskraft übersteigt, wäre das sicherlich keine wünschenswerte Alternative zur NATO. Es wäre letztlich ein um die USA verkleinertes Verteidigungsbündnis und könnte als solches keinesfalls besser Frieden und Sicherheit gewähren.

Auch die OSZE kann die NATO nicht ersetzen, da sie zwar den Vorteil eines klassischen Systems kollektiver Sicherheit hat und daher bei der Konfliktlösung mit Russland eine entscheidende Rolle spielen muss, aber dafür eben nicht die Verflechtung der Streitkräfte aufbieten kann wie ein Verteidigungsbündnis.

Eine alternative NATO unter Einschluss Russlands

Die einzige Alternative zur bisherigen NATO, die ich langfristig sehe, wäre ihre Weiterentwicklung zu einem echten System kollektiver Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok. Die aktuelle Lage bietet dahingehend leider keinen Anlass für Optimismus. Aber Zeiten können sich auch wieder ändern, wie die letzten 70 Jahre gezeigt haben. Und schon einmal gab es ein Zeitfenster mit Chancen, die leider nicht genutzt worden sind.

Unter Einschluss Russlands bräuchte die NATO sich keine Sorgen mehr um ihre Existenzberechtigung als Verteidigungsbündnis durch Verlust des potentiellen Gegners machen. Ihr neuer Aufgabenschwerpunkt wäre es dann, Frieden und Sicherheit zwischen ihren Mitgliedern zu gewährleisten.

Sie wäre nicht mehr die alte NATO, die sie bei ihrer Gründung war, aber sie wäre dann weit mehr in der Lage das zu tun, was ihr seit den 1990er Jahren so oft misslungen ist: für Frieden und Stabilität zu sorgen.

Eine andere Alternative ist derzeit nicht greifbar, und wir müssen froh sein, wenn die NATO hält und nicht auseinanderbricht. Denn es gilt nach wie vor: Staaten, deren Streitkräfte miteinander verflochten sind, können schlecht Krieg gegeneinander führen.

Keine NATO ist deswegen auch keine Alternative.

Die NATO muss sich aber wieder auf das besinnen, was sie ist: ein militärisches Verteidigungsbündnis. Sie muss aufhören mit der Anmaßung, für Demokratie, Recht und Freiheit weltweit zuständig zu sein.

Wenn sie dann noch Abschied nimmt von der verfehlten nuklearen Abschreckungsstrategie und sich für internationale Rüstungskontrolle statt für die Aufkündigung derselben einsetzt, könnte sie immer noch eine stabilisierende Funktion haben.

Und wer weiß – irgendwann kommt vielleicht noch einmal die Chance, sich zu einem echten System kollektiver Sicherheit zu entwickeln. Dann wird es darauf ankommen, diese Chance nicht noch einmal zu verpassen.

Katja Keul, Mitglied des Bundestages, ist Obfrau im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Parlamentarischen Versammmlung der OSZE.

Historisches Vorbild


Historisches Vorbild

Bertha von Suttner und die Frauen für Frieden

von Anne Bieschke

Wichtiger Bestandteil der Bewegungsarbeit der Friedensfrauen war immer auch die Erarbeitung und Bewusstmachung der eigenen Geschichte. Sie stellen sich in die Tradition früherer Aktivistinnen und Bewegungen und knüpfen an sie an. So werden die historischen Vorläuferinnen zu wichtigen Bestandteilen der eigenen Identität. Selbst ohne personelle oder strukturelle Kontinuitäten gelingt dies vor allem anhand der Themen und Argumente, durch ähnliche Aktionsformen, die Übernahme von Ritualen oder Feiertagen und das Gedenken an berühmte Frauen, die sich um den Frieden verdient gemacht hatten. Bertha von Suttner ist hierbei wohl die hervorragendste Persönlichkeit.

Die Frauenfriedensbewegung kann inzwischen auf eine etwa 150-jährige Geschichte zurückblicken, die teils von Kriegen unterbrochen wurde, teils Zeiten der Latenz erfuhr, ohne jedoch ganz abzubrechen. Auch für sie gilt die Erkenntnis: „Kaum ein Thema gegenwärtiger sozialer Bewegungen ist wirklich neu. […] Rückblickend ist festzustellen, dass soziale Bewegungen ihre Geschichte und Vorgeschichte immer wieder aufs Neue entdecken und in gewisser Weise »erfinden«.“ (Roth 2008, S. 21) Das Geschlecht ist für die Frauenfriedensbewegung dabei das wichtigste verbindende Element und ausschlaggebend für das Gefühl einer Zusammengehörigkeit über Generationen hinweg. Daneben fungieren »Vorfahrinnen« der Frauenfriedensbewegung bis heute als wichtige Vorbilder und als Quellen des Empowerment auf emotionaler Ebene. Es ist möglich, aus der Geschichte Mut zu schöpfen, die eigene Argumentation zu prüfen und von den früheren Theoretikerinnen zu lernen oder gegebenenfalls deren Fehler und Misserfolge zu reflektieren.1

Die Erarbeitung der eigenen Geschichte durch die Frauenfriedensbewegung wirkt jedoch nicht nur nach innen. Nach außen sind Aktionen, die Bezug auf die Geschichte und auf in der breiten Öffentlichkeit bekannte Personen nehmen, ein Mittel, die Sichtbarkeit und die Wirksamkeit der eigenen Aktionen zu erhöhen. Der Geschichtswissenschaft geben genau diese Aneignungen der eigenen Geschichte Auskunft über die innere Verfasstheit und das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung.

Wohl am häufigsten wurde und wird, wenn es um weibliches Friedensengagement geht, Bezug genommen auf Leben und Werk Bertha von Suttners. Bertha von Suttner, österreichische Pazifistin, geboren 1843, erarbeitete in ihren Schriften nicht nur Grundlagen des (weiblichen) Friedensengagements, sondern war auch Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde (1891) und der Deutschen Friedensgesellschaft (1892). Vor allem durch ihren Roman »Die Waffen nieder!« ist Bertha von Suttner vielen ein Begriff. Der Roman, den sie im Jahr 1889 zunächst in kleiner Auflage veröffentlichte, wurde eines der erfolgreichsten Antikriegsbücher seiner Zeit. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis – eine Auszeichnung, zu der sie selbst einige Jahre zuvor Alfred Nobel angeregt hatte. Für viele Friedensfrauen ist sie ein Vorbild, weil sie sich dezidiert als Frau für den Frieden einsetzte und dies in einer Zeit, in der die Handlungsspielräume von Frauen im »öffentlichen Raum« sehr begrenzt waren (Hausen 1976).

Die »Westdeutsche Frauenfriedensbewegung«

In den 1950er Jahren wurde Bertha von Suttner zum ersten Mal dezidiert als historisches Vorbild rezipiert, und zwar durch die 1951 gegründete Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). Zeit ihres Bestehens zeigte die WFFB sich geschichtsbewusst und stellte sich ausdrücklich in die Tradition Bertha von Suttners (Notz 2015) und der alten Frauenbewegung, wie die beiden Mitbegründerinnen Ingeborg Küster und Elly Steinmann betonten: „Durch die Westdeutsche Frauenbewegung ist die deutsche Frauenbewegung fortgeführt worden, die Tradition jener Frauen, die zu ihrer Zeit bereit gewesen sind, unter schwierigen Bedingungen das Notwendige zu tun.“ (Küster/Steinmann 1990, S. 233)

Die Frauen gaben sich das Motto „Wir sind Hüterinnen, Wachen ist unser Auftrag, unser Amt ist der Friede“ (Faßbinder 1956, S. 3), das den besonderen Bezug des weiblichen Geschlechtes zum Frieden, aber auch zur Wahrung von Traditionen hervorhob.

Ihre Hauptziele waren die Verhinderung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbindung in ein westliches Militär- oder Verteidigungsbündnis. Daneben setzten sich die Frauen auch für eine Verbesserung der Beziehungen zur DDR ein. 1952 protestierten etwa 1.600 Frauen in Bonn gegen den Deutschlandvertrag, 1954 demonstrierten sie gegen die allgemeine Wehrpflicht, 1955 gegen die Pariser Verträge und 1964 gegen eine multilaterale Atomstreitmacht – hierzu beteiligten sich ca. 700 Frauen der WFFB an einer Demonstration in Den Haag, einer der Wirkungsstätten von Bertha von Suttner. Ab Mitte der 1960er Jahre engagierte die WFFB sich vornehmlich gegen den Vietnamkrieg. Das Ende der WFFB wurde von der Aufgabe ihrer Frauenzeitschrift »Frau und Frieden« eingeläutet, die bis 1974 erschien (Küster/Steinmann 1990). Zu diesem Zeitpunkt ließen auch die übrigen Tätigkeiten der WFFB immer weiter nach und versiegten schließlich ganz.

Die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre

Während die WFFB sich dezidiert in der Tradition der Vorgängerbewegung sah, war die Frauenfriedensbewegung der 1980er Jahre ein Kind der Neuen Frauenbewegung. Als Teil dieser sowie der Friedensbewegung verstand sie sich durchaus auch als eigenständige Bewegung, die gegen Aufrüstung (NATO-Doppelbeschluss) protestierte und sich für einen Frieden stark machte, der die Gleichberechtigung der Geschlechter einschließt.

Eine erste Welle des Protests und die Bildung neuer Frauengruppen lösten Ende der 1970er Jahre die u.a. von Verteidigungsminister Apel in den Raum gestellte Frage aus, ob Frauen auch zum Wehrdienst verpflichtet werden sollten. Die Diskussion blieb nicht auf die Frauen- und Frauenfriedensbewegung beschränkt, sondern wurde durchaus ein gesamtgesellschaftliches Thema. Zu Beginn der Debatte waren es vor allem Aktivistinnen der Initiative »Frauen in die Bundeswehr? Wir sagen Nein!«, gegründet im Mai 1979, die mit Demonstrationen und so genannten »Verweigerungsaktionen« an die Öffentlichkeit traten. Die Frauen wurden aufgerufen, vorsorglich bei der zuständigen Behörde schriftlich jede Form des Kriegseinsatzes, von einem möglichen Wehrdienst bis hin zu medizinischen Hilfeleistungen, zu verweigern und gegen eine mögliche Frauenwehrpflicht zu protestieren.

Eine Internationalisierung der Frauenfriedensbewegung wurde mit dem im Februar 1980 in Dänemark initiierten Aufruf »Frauen für den Frieden« (zit. in Quistorp 1982, S. 20) ab Anfang der 1980er Jahre erreicht, in dem unter anderem Abrüstung und der Stopp des Wettrüstens zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion gefordert wurden. Auch die westdeutschen Frauen beteiligten sich an der internationalen Unterschriftenaktion und begleitenden Aktionen.2

Einen Bezug zu ihren historischen Vorfahrinnen mussten sich die Aktivistinnen der 1980er Jahre oft erst erarbeiten, dann jedoch nutzten sie ihn umso expliziter für die Herstellung der eigenen Identität als Bewegung und für die Darstellung nach außen. Wie wichtig diese Traditionslinien auch für die »neue« Frauenfriedensbewegung waren, zeigt das Vorwort von Eva Quistorp zum Band »Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Frauenfriedensbewegung«:

„Viele Probleme, die heute aufgegriffen werden, waren bereits Themen früherer Frauenfriedensbewegungen. Ideen und Energien jener Bewegungen setzen sich bis heute fort – wenn auch oft unbewußt. […] »Frauen für Frieden« knüpfen an eine […] Tradition an – die Tradition einer Widerstand leistenden Minderheit von Pazifistinnen wie Bertha von Suttner, Lydia [sic!]Gustava Heymann und Virginia Woolf, von Kommunistinnen wie Clara Zetkin, libertären Anarchistinnen wie Emma Goldmann, Sozialistinnen wie Rosa Luxemburg, Christinnen wie Dorothy Day und Luise Rinser. Ohne diese Geschichte wäre die Stärke und Vielfalt der neuen Frauenfriedensbewegung kaum denkbar.“ (Quistorp 1982, S. 9)

Auch hier waren es oft Bertha von Suttner und ihr Werk, an die bei zahlreichen Aktionen erinnert wurde: Im März 1981 benannten Friedensfrauen in Berlin in einer ihrer Aktionen die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Bertha-von-Suttner-Gedächtniskirche um. Sie fanden Nachahmerinnen an vielen weiteren Orten, wobei die Frauen nicht nur Kirchen, sondern – wie zum Beispiel in Düsseldorf – auch Platz- oder Straßennamen veränderten (Balistier 1996). Die Berufung auf ein historisches Vorbild unterstrich die Legitimität der eigenen Ziele. Die Friedensfrauen zeigten sich selbst und der Öffentlichkeit, dass ihre Forderungen auch schon Jahrzehnte früher aktuell waren. Dabei war auch der Verweis auf vergangenes Scheitern Bestandteil der Aktion und diente als Warnung an sich selbst und an die Öffentlichkeit. Die Gewalterfahrungen und Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts seien schließlich auch eine Folge der Nichtbeachtung weiblichen Friedensengagements gewesen. Darum sei es nun an der neuen Generation Frauenfriedensbewegung, dafür zu sorgen, dass ihre Anliegen ernst genommen würden.

Frauen für den Frieden heute

Mit der Thematisierung von Krieg und Frieden bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) und ihren nationalen Vorbereitungs- und Nachfolgekonferenzen hat sich das Engagement der Frauenfriedensorganisationen wieder stärker auf eine institutionalisierte Ebene verlagert. Getragen wird dies zum Beispiel von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), gegründet 1915, die beratenden Status bei verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen hat.3

Spätestens seit dem Jahr 2001 und der vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, ist die besondere Betroffenheit von Frauen von Krieg und seinen Folgen, wie Flucht, Vertreibung und (sexuelle) Gewalt an Zivilist*innen, international anerkannt.4 Anerkannt ist ebenfalls, dass Frauen aufgrund dieser Betroffenheit auch an Friedensprozessen beteiligt sein müssen. Die Umsetzung der Resolution geht jedoch nur schleppend voran. Hier sind nun wieder Frauen gefragt, die sich engagieren, Gruppen gründen und aktiv werden, um auf nationaler und internationaler Ebene die Umsetzung der Resolution zu überwachen und einzufordern.

Ein weiteres Beispiel ist das Frauennetzwerk für Frieden e.V., das seit 1996 besteht und als zentralen Wert eine Friedenskultur anstrebt, die „die Realisierung von Gerechtigkeit, die insbesondere auch das Ende der Gewalt gegen Frauen und die Implementierung der Geschlechtergerechtigkeit für Frauen, Männer und Transgeschlechtlichkeiten einschließt“ (Frauennetzwerk für Frieden o.J.). Die Netzwerkorganisation FriedensFrauen Weltweit wiederum, die aus der Initiative »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis« im Jahr 2003 hervorgegangen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Vernetzung zwischen Friedensstifterinnen zu stärken, ihre Arbeit mit praktischen Tools zu unterstützen und ihr Engagement sichtbar zu machen.“ (FriedensFrauen Weltweit o.J.)

Eines der wichtigsten solcher »Tools« ist der Hinweis auf die eigene Geschichtlichkeit. Die IFFF verweist auf ihrer Webseite dezidiert auf Bertha von Suttner und würdigt ihr Leben und Werk als einen wichtigen Beitrag weiblichen Friedensengagements. Ganz ähnlich wie die Frauenfriedensbewegung in den 1980er Jahren arbeitet das Frauennetzwerk für Frieden e.V. ganz praktisch mit der historischen Person Bertha von Suttner. Das Frauennetzwerk hatte jahrelang darauf hingewirkt, dass für Bertha von Suttner in Bonn ein Denkmal errichtet würde. Nach jahrelanger Öffentlichkeitsarbeit, Spendensammlungen und Überzeugungsarbeit gegenüber der Stadt Bonn ziert nun seit 2013 eine Stele der finnischen Künstlerin Sirpa Masalin den Bertha-von-Suttner-Platz in Bonn. 2016 gründete sich innerhalb des Frauennetzwerkes zusätzlich eine eigene »Bertha-AG«, die sich dem Andenken an von Suttner verschrieben hat und „den Geist Bertha von Suttners in Bonn präsent“ halten möchte (Frauennetzwerk für den Frieden o.J.).

Die Beispiele zeigen, wie wichtig die eigene Geschichte für das Selbstverständnis der Frauenfriedensbewegung und ganz allgemein für soziale Bewegungen ist. Die aktive Aneignung dieser Geschichte ist dabei ebenso wichtig wie ihre Verwendung als Vehikel für die eigenen Botschaften. Dabei muss bedacht werden, dass die Geschichtsarbeit sozialer Bewegungen stets selektiv ist und eben dazu dient, ein bestimmtes Bild von der eigenen Bewegung zu zeichnen. Die „Erfindung von Tradition“ kann die „Legitimation und das politische Gewicht der eigenen Mobilisierung verstärken“ (Roth/Rucht 2008, S. 21).

Anmerkungen

1) Vgl. zum Nutzen der Reflexion und Bewahrung der eigenen Geschichte für Neue Soziale Bewegungen, respektive der (neuen) Frauenbewegung, Wenzel 2013, S. 183.

2) Zur Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre ausführlich Bieschke 2018 (im Erscheinen).

3) Women’s International League for Peace and Freedom, WILPF; wilpf.org.

4) Zur Wirkung der Resolution 1325 vgl. Weiß (2016). Zur Resolution 1325 siehe außerdem die Artikel von Ruth Seifert und Heidi Meinzolt in diesem Heft.

Literatur

Balistier, T. (1996): Straßenprotest – Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Bieschke, A. (2018): Die unerhörte Friedensbewegung – Frauen, Krieg und Frieden in der Nuklearkrise (1979-1983). Essen: Klartext (im Erscheinen).

Faßbinder, K.M. (1956): Fünf Jahre Velbert. Frau und Frieden Nr. 10, S. 3.

Frauennetzwerk für Frieden e.V. (o.J.); ­frauennetzwerk-fuer-frieden.de.

FriedensFrauen Weltweit (o.J.); 1000peacewomen.org.

Hausen, K. (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, W. (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas – Neue Forschungen. Stuttgart: Klett, S. 363-393.

Küster, I.; Steinmann, E. (1990): Die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Hervé, F. (Hrsg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Köln: PapyRossa, 4. Auflage, S. 224-234.

Notz, G. (2015): Klara Marie Faßbinder (1890-1974) und die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB). In: Dunkel, F.; Schneider, C. (Hrsg.): Frauen und Frieden? Zuschreibungen – Kämpfe – Verhinderungen. Leverkusen-Opladen: Budrich academic, S. 87-102.

Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.) (2008): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York, campus, S. 21.

Quistorp, E. (Hrsg.) (1982): Frauen für den Frieden – Analysen, Dokumente und Aktionen aus der Friedensbewegung, Bensheim: Päd-­extra-Buchverlag.

Weiß, N. (2016): Frauen, Frieden und Sicherheit – was hat Resolution 1325 gebracht? Potsdam: Universitätsverlag Potsdam.

Wenzel, C. (2013): Springen, Schreiten, Tanzen – Die Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung. In: Bacia, J.; Wenzel, C. (Hrsg.): Bewegung bewahren – Freie Archive und die Geschichte von unten. Berlin: Hirnkost, S. 179-196.

Dr. Anne Bieschke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim und Historikerin. In ihrer Dissertation untersuchte sie die Geschichte der Frauenfriedensbewegung in der Bundesrepublik in der Nuklearkrise (1979-1983).