Der »Konsens für den Frieden«


Der »Konsens für den Frieden«

Friedenspolitische Ansätze der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

von Elsa Benhöfer

Durch die COVID-19-Krise, aber auch die sich ständig verändernden internationalen Allianzen, steht die externe Politik der Europäischen Union vor großen Herausforderungen. Am 1. Juli 2020 übernahm Deutschland für ein halbes Jahr die Präsidentschaft des EU-Rates. „Eine handlungsfähige Europäische Union für eine partnerschaftliche und regelbasierte internationale Ordnung“ – so beschreibt die Bundesregierung im letzten Kapitel ihrer Agenda »Gemeinsam. Europa wieder stark machen« das Ziel des europäischen „Außenhandelns“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 21). Dieser Artikel skizziert die dort vorgestellten friedens­politischen Ansätze und fragt, wo Lücken bestehen bleiben – mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus.

Deutschland verfolgt für die Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft verschiedene Ziele, die die EU-Friedenspolitik betreffen. Zusammengefasst finden sich dazu in der deutschen Agenda folgende Ansätze:

Deutschland möchte die Wirksamkeit der externen EU-Krisenprävention, inklusive die der Mitgliedstaaten, überprüfen und stärken. Darüber hinaus soll die Glaubwürdigkeit der EU als globaler Akteur zur „Stärkung resilienter Systeme zu Krisenprävention“ erhöht und das EU-Engagement in großen internationalen Konflikten intensiviert werden. Des Weiteren soll der »integrierte Ansatz« der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durch die Entwicklung politischer Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung gestärkt werden. Zudem arbeitet die Bundesregierung weiterhin für eine „kohärente europäische Entwicklungsfinanzarchitektur“ sowie für die Umsetzung des 2018 vereinbarten »Pakts für eine zivile GSVP« und die Verabschiedung der Europäischen Friedensfazilität zur militärischen Ertüchtigung von Partnern“ (Council of the European Union 2018a).

Inwiefern es während der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen wird, diese Ansätze umzusetzen, lässt sich anhand derzeit laufender politischer Prozesse und aktueller Diskussionen abschätzen. Dazu zählen unter anderem die Verhandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens, inklusive des »Instruments für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation«, aber auch Diskussionen rund um das deutsche und europäische zivil-militärische Engagement, etwa im Sahel, sowie die Verhandlungen zur Europäischen Friedensfazilität. Zivilgesellschaftliche Forderungen geben Aufschluss darüber, wie Deutschland seine Ratspräsidentschaft nutzen kann, um friedenspolitische Ansätze der EU zu verbessern. Sie reichen von der Schaffung neuer Strukturen innerhalb des EU-Systems über eine Erhöhung der finanziellen Mittel und die Stärkung der Instrumente für Friedensförderung bis hin zu Schutz- und Kontrollmaßnahmen auf Interventionsebene.

Geplante Ressourcen unzureichend

Damit die EU ihre selbstgesteckten Ziele erreichen kann, müsste sie sich sowohl politisch als auch finanziell stärker für die zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen. Mit Blick auf den am 21. Juli 2020 vom Europäischen Rat verabschiedeten Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) darf man skeptisch sein.

Aufgrund der zur Bewältigung der Corona-Krise neu eingeplanten Mittel wurde der übrige Gesamthaushalt gegenüber dem Entwurf vom Februar nochmals gekürzt. Der neue Entwurf enthält nun 98,4 Mrd. Euro (gut 9 % des Gesamthaushalts) für Auswärtiges bereit. Davon sind 70,8 Mrd. Euro für das neu geschaffene Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation (NDICI) vorgesehen (Europäischer Rat 2020). Im NDICI werden ehemals eigenständige Instrumente der Entwicklungs- und Friedensarbeit zusammengeführt. Die EU möchte damit fragmentierte Budgets abbauen und erhofft sich einen geringeren bürokratischen Aufwand und mehr Flexibilität bei der Mittelvergabe.

Diese Umstrukturierung wirft bei der Zivilgesellschaft gravierende Fragen auf: zunächst natürlich die nach der Höhe der für entwicklungspolitische Friedensarbeit zur Verfügung stehenden Mittel, aber auch die, ob die Politikfelder Migration und »Ertüchtigung« gegenüber Frieden und Entwicklung priorisiert werden.

NDICI – (k)ein Segen für die europäische Friedenspolitik?

Seit dem ersten MFR-Vorschlag der EU-Kommission von 2018 haben zivilgesellschaftliche Organisationen die dort eingestellten Mittel für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung (eine Mrd. Euro) als zu niedrig kritisiert und eine deutliche Budgeterhöhung für die Prävention von Gewaltkonflikten, Friedensförderung und Vergangenheitsbewältigung sowie ein politisches Bekenntnis für den Vorrang der zivilen Krisenprävention gefordert. Der nun beschlossene MFR-Entwurf steht dem entgegen: Die Kürzungen in den thematischen NDICI-Programmen, darunter auch Frieden und Sicherheit, sowie in der ohnehin niedrig bemessenen NDICI-Säule zu Krisenreaktionsmaßnahmen sind fatal für die oben genannten Ansprüche und Ziele.

Zudem ist nicht erkennbar, wieviel Prozent dieser Haushaltsrubrik tatsächlich auf die Friedensförderung entfallen soll. Es wird befürchtet, dass die Kohärenz der verschiedenen, nun in NDICI-integrierten Instrumente nicht gewährleistet wird und die in den letzten Jahren geschaffenen, auf Friedensförderung spezialisierten Instrumente durch die Zusammenlegung verlorengehen werden.

In den letzten Monaten musste trotz der Verzögerung der Haushaltsentscheidungen schon mit dem Pre-Programmierungsprozess begonnen werden, denn schließlich handelt es sich um die finanzielle Ausgestaltung von Programmen, die in wenigen Monaten Gültigkeit haben werden. In den Monaten der dt. Ratspräsidentschaft wird dieser Prozess nun mit den veränderten Haushaltsdaten fortgesetzt und präzisiert werden müssen. Für die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa und aus ihren Partnerländern wird es schwierig werden, mit dieser Situation umzugehen und Vorschläge zu unterbreiten, die ihre Arbeit nachhaltig absichern können.

Neben der Kritik an zu geringen finanziellen Mitteln und der großen Frage nach der Operationalisierung des derzeitigen Entwurfs wird von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert, dass der NDICI stark auf Migrationskontrolle und »Ertüchtigung« fokussiert und dieser Budgetanteil in Krisenzeiten noch weiter erhöht werden kann. Zur Ertüchtigung sollen insbesondere die Maßnahmen bzw. Programme für den „Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung“ beitragen (Europäische Kommission 2015), wobei »Sicherheit« in diesem Kontext »Verteidigung« einschließt. Kritisch wird die Verwicklung von Entwicklung und Migration(skontrolle) gesehen, aber auch, dass diese sicherheitsgeleiteten Ansätze mit deutlich mehr finanziellen und strukturellen Ressourcen verfolgt werden als die friedensgeleiteten. Ein Grund hierfür ist das innerhalb der EU sehr unterschiedliche Verständnis von Konfliktprävention, das oftmals einer Gleichsetzung mit Stabilisierung folgt. Dabei wäre das klassische Verständnis von Krisenprävention die Verhinderung und Prävention von struktureller Gewalt, wie Armut und Ausgrenzung/Benachteiligung, wesentlich hilfreicher, um langfristig das Entstehen gewalttätiger Konflikte zu verhindern. Nicht zuletzt die Corona-Krise führt uns diesen Zusammenhang vor Augen. Um genau diese langfristig angelegte Förderung von Frieden zu erreichen, wird gefordert, dass zumindest adäquate Risiko- und Konfliktanalysen vorausgehen müssten.

Die Vision des »Europäischen Konsens für den Frieden«

Die Verhandlungen um das NDICI und die darin abgebildeten Maßnahmen spiegeln das lang bemängelte Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses von Prävention, Friedensförderung und Konfliktbearbeitung innerhalb der EU wider. Eine Antwort darauf wäre, wie es in der deutschen Agenda heißt, „politische Leitlinien für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 23) zu entwickeln, um zwischen Parlament, Kommission und Rat einen Dialog über die Friedensförderung der EU zu ermöglichen. Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für Konfliktprävention und Friedensförderung im Europäischen Rat könnte diesen Dialog zwischen den Mitgliedstaaten eröffnen. Während seiner Ratspräsidentschaft sollte Deutschland versuchen, einen solchen Prozess anzustoßen, der sowohl die unterschiedlichen EU-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten zusammenbringt. Dies könnte unter Umständen auch das politische Interesse der Führungsebene der EU für Konfliktprävention erhöhen und langfristig friedensfördernde gegenüber kurzfristig stabilisierenden Maßnahmen prominenter platziert werden.

Ein gemeinsames Verständnis in Form eines »Europäischen Konsens für den Frieden« würde nicht nur zu mehr Durchsetzungskraft auf institutioneller und mitgliedsstaatlicher Ebene führen, auch die EU-Friedensmissionen könnten an friedensfördernder Wirkung gewinnen.

Weder konfliktpräventiv noch friedensfördernd

Die EU ist mit elf zivilen und sechs militärischen Missionen in europäischen Ländern, in den palästinischen Gebieten, im Irak und in Afrika vertreten. Die EU-»Friedensmissionen« sollen im jeweiligen Land bzw. in der Region zur Stabilisierung beitragen. Die GSVP-Missionen wurden über die letzten Jahre personell verkleinert (5-30 Mitarbeitende) und betreiben fast nur noch Kapazitätsbildung, z.B. in Form von Trainings. Um Wirkung zu erzielen, wären die Missionen auf langfristige Lösungsansätze auszurichten, anstatt auf die kurzfristige Bewältigung von »Sicherheitsbedrohungen«, wie Migration und Flucht, zu setzen. Insbesondere mit Blick auf diverse EU-Missionen oder auf Missionen einzelner EU-Mitgliedstaaten im Sahel, zum Beispiel in Mali, wird deutlich, dass die Missionen hier nicht in der Lage sind, zu einer nachhaltigen Konfliktlösung beizutragen. Auf der Basis eines »Konsens für den Frieden« wäre das EU-Engagement von der Migrations- und Terrorbekämpfungsagenda zu lösen und es wären entwicklungs- und friedenspolitische Perspektiven zu fördern.

Bewaffnete Missionen werden auch keinen Frieden bringen

Wie wichtig ein »Europäischer Konsens für den Frieden« wäre, zeigt sich einmal mehr in der Debatte um die »Europäische Friedensfazilität«, deren Budget außerhalb des MFR aus Beiträgen der EU-Mitgliedsstaaten gespeist werden soll. Aus der Friedensfaszilität sollen zukünftig u.a. die militärischen Missionen der GVSP finanziert werden. Damit soll eine gemeinsame Verteidigungspolitik gestärkt werden, und die militärischen Kapazitäten der Nationalstaaten sollen einbezogen werden können. Mit der Begründung, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gäbe, wird es möglich sein, Munition und Waffen an Sicherheitskräfte der Partnerländer zu liefern, also z.B. auch an Friedensmissionen der Afrikanischen Union, die die EU über die »African Peace Facility« unterstützt. Mangelt es hier an mit Waffen ausgestatteten, repressiven Sicherheitsorganen, oder werden Instabilitäten hier nicht doch eher durch strukturelle Ursachen, wie Marginalisierung, fehlenden politischen Dialog und Armut hervorgerufen? Sollte es zu solchen Waffenlieferungen an Partnerländer kommen, fordert die Zivilgesellschaft zumindest Kontrollmechanismen einzuführen, um nachvollziehen zu können, welche Waffen zu welchem Zweck wohin gehen.

Stärkung der zivilen Missionen

Deutschland hatte sich auf EU-Ebene sehr für den im Mai 2018 verabschiedeten Beschluss des Europäischen Rates zur Stärkung der zivilen Aspekte der GSVP eingesetzt. Hierauf ist die Gründung des »Europäischen Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement« in Berlin zurückzuführen. Als gemeinsames Projekt der Mitgliedstaaten bündelt das Zentrum »best practices« im Bereich des zivilen Krisenmanagements. Die zivilen Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten sollen professionalisiert und eine schnellere Einsatzbereitschaft ziviler Fachkräfte in GSVP-Missionen ermöglicht werden.

Jenseits dieser eher technischen Verbesserung der zivilen GSVP verweisen kritische Stimmen auf weitere notwendige Anpassungen. Zur Stärkung der GSVP-Missionen und des integrierten Ansatzes sollte sich Deutschland im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft für eine deutliche Aufstockung der personellen Kapazitäten der zivilen Missionen einsetzen. Ohne qualifiziertes Personal wird es schwierig sein, die in der deutschen Agenda beschriebene integrierte und umfassende Krisen- und Konfliktbewältigung zu betreiben. Der Schwerpunkt der GSVP-Missionen sollte wieder auf Krisenbewältigung gelegt werden, und Migrationsmanagement und Grenzschutz (sinnvoll oder nicht) sollten anderen EU-Akteuren überlassen werden. Darüber hinaus sollten die personellen Kapazitäten innerhalb der EU für Konfliktanalysen und -prävention sowie Mediation deutlich aufgestockt und professionalisiert werden. Hierbei sollten lokale Akteure in das Design der EU-Missionen mit einbezogen werden. Insbesondere die Stärkung der Aktivitäten lokaler Partner und Organisationen der Konfliktbearbeitung sollten im Fokus der EU-Förderung stehen, um resiliente Gesellschaften zu fördern.

Zu viele Baustellen für sechs Monate

Alle hier genannten Themen werden über die deutsche Ratspräsidentschaft hinaus friedenspolitisch bearbeitet und begleitet werden müssen. Nicht zuletzt die noch lange nicht bewältigte Corona-Pandemie fordert Europa dazu heraus, eine integrierte EU-Entwicklungs- und Friedenspolitik voranzutreiben. Sie untermauert, dass nur resiliente Gesellschaften Krisen etwas entgegen setzten können. Militärische Ansätze fördern keine Resilienz. Globale Agenden und deren Operationspläne, wie die der »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« der Vereinten Nationen sowie der Resolutionen 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, und 2250, »Jugend, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrates, gäben hinreichend Anleitung für eine wirkungsvolle EU-Friedenspolitik. Ein gemeinsames friedenspolitisches Verständnis sowie ausreichend finanzielle Mittel sind hierfür zentral.

Literatur

Auswärtiges Amt (2020): Gemeinsam. Europa wieder stark machen – Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Berlin. Online auf eu2020.de.

Council of the European Union (2018a): Conclusions of the Council and of the Representatives of the Governments of the Member States, meeting within the Council, on the establishment of a Civilian CSDP Compact. Dokument 14305/18 vom 19.11.2018.

Council of the European Union (2018b): Council Conclusions on strengthening civilian CSDP. Dokument 9288/18 vom 28.5.2018.

Europäische Kommission (2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. Dokument JOIN(2015)-17-final vom 28.4.2015.

Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (17., 18., 19., 20. und 21.Juli 2020) – Schlussfolgerungen. Dokument EUCO 10/20 vom 21. Juli 2020.

Elsa Benhöfer ist Referentin für Internationale Prozesse bei der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt).

Frieden in Bewegung

Frieden in Bewegung

von Michael Müller

Die Rüstungsausgaben erreichen heute neue Rekordhöhen, die weit über denen von 1988 liegen, dem letzten Jahr der noch in Ost und West gespaltenen Welt. Ein neuer Nationalismus macht sich breit. Das Kriegsgerassel wird lauter; die NATO führt immer größere Manöver durch; entlang der 1.700 km langen Grenzen zwischen der EU und Weißrussland/Russland vervielfacht sich die Stationierung von Militär; die Militärübungen haben sich in kurzer Zeit verfünffacht. Und jetzt wird es bis Mai 2020 mit »Defender Europe 20« auch noch ein provokantes US-Manöver mit Unterstützung
von NATO und Bundeswehr geben. 75 Jahre nach Kriegsende ist dies ein schauerliches Signal einer geschichtsvergessenen Politik.

Deutschland ist die zentrale Drehscheibe für das Manöver. 37.000 Soldat*innen aus 16 NATO-Staaten sowie Finnland und Georgien, darunter 29.000 GIs mit schwerem Gerät, werden an die russische Grenze transportiert. Operativ zuständig sind das Heereskommando der U.S. Army in Europe in Wiesbaden und das U.S. European Command in Stuttgart. Die Datenkoordinierung erfolgt über die US-Airbase Ramstein. Ziele sind die Zurschaustellung militärischer Überlegenheit und die Erprobung einer schnellen Verlegung großer Kampfverbände Richtung Osten. Diese militärische Kraftmeierei ist das Gegenteil von
Friedenspolitik.

Der Widerspruch zwischen den wachsenden militärischen Gefahren und der immer noch zurückhaltenden öffentlichen Debatte ist eklatant. Schleichend verschiebt sich die öffentliche Meinungsbildung. Die öffentlichen und viele politische Meinungsmacher fordern, dass sich die Bundeswehr noch stärker an weltweiten Militäreinsätzen beteiligt, dies läge in der nationalen Verantwortung.

Was für ein Irrsinn abläuft, zeigt die neue Rüstungsspirale. Auf die ersten zehn der rund 200 Länder der Erde entfallen knapp 75 Prozent der Militär­ausgaben. Weit an der Spitze liegen die USA, gefolgt von China und Saudi-Arabien. Deutschland erreicht Platz acht; in den letzten fünf Jahren erhöhte die Bundesregierung den Rüstungsetat um 34 Prozent. Sollte die angekündigte Erhöhung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts Wirklichkeit werden, so stiege je nach wirtschaftlicher Entwicklung unser Land auf Platz drei oder vier weltweit auf. Die Rüstungslobbyisten würden jubeln, die
öffentlichen Haus­halte ächzen.

Dieser Militarisierung wollen wir entgegentreten: Es ist Zeit für die Stärkung der Friedensbewegung und für eine neue Entspannungspolitik. Können doch die neuen Bedrohungen, insbesondere die Folgen der globalen Erderwärmung, nicht militärisch verhindert werden. Im Gegenteil: Die doppelte Gefahr eines Selbstmordes der Menschheit wird real. Da ist zum einen der schnelle Selbstmord durch die neue Hochrüstung und die aggressive Konfrontation mit Stellvertreterkriegen in vielen Regionen der Welt, zum anderen der langsame Selbstmord durch die globale Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Klimawandel wird schon in wenigen Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahren, kritische Werte überschreiten.

Wir brauchen eine neue Gemeinsamkeit und das ernsthafte Bemühen um Zusammenarbeit, auf staatlicher wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Notwendig sind eine starke Friedensbewegung und neue Initiativen für eine weltweite Friedenskultur. Deshalb veranstalten die Naturfreunde Deutschlands, die in diesem Jahr 125 Jahre alt werden, eine große Friedenswanderung. Schon in den 1950er Jahren hatten die Naturfreunde und die Naturfreundejugend die Anti-Atom-Bewegung unterstützt und später die Ostermärsche mitbegründet.

Auch heute setzen wir uns für eine globale Abrüstung und Rüstungskon­trolle ein, für ein Verbot von Rüstungsexporten, für eine atomwaffenfreie Welt und eine neue Friedens- und Entspannungspolitik. Die Friedenswanderung findet statt von 30. April bis 18. Juli diesen Jahres. Unter dem Motto »Frieden in Bewegung« wandern wir in 80 Etappen für eine friedliche Zukunft durch unser Land, von der dänischen Grenze bis zum Bodensee (siehe ­frieden-in-bewegung.de).

Überall auf den rund 1.750 Kilometern wollen die Naturfreunde zusammen mit Friedens- und Umweltgruppen auf die schrecklichen historischen Folgen von Kriegstreiberei hinweisen, neue Kriegsgefahren aufzeigen und Rüstungsexporte verurteilen. Auch Rüstungsstandorte werden angelaufen.

Wir setzen uns für Frieden in Bewegung, weil das »soziale Wandern« zu unserer Geschichte gehört. Mit der Wanderung sollen das Netzwerk der Natur- und Friedensengagierten und der Wille nach einem weltweiten Frieden gestärkt werden. Und wir sagen »Nein« zu Militärmanövern wie Defender Europe 20.

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

Sanktionen

Sanktionen

Ein friedenspolitisches Instrument?

von Christine Schweitzer und Helmut Lohrer

Sanktionen, also nichtmilitärische Strafmaßnahmen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, immer häufiger aber auch einzelne Staaten oder Staatenbündnisse gegen andere Staaten verhängen, sind auch in der Friedensbewegung wieder stärker in der Diskussion. Unilaterale Sanktionen, etwa das US-Embargo gegen Kuba oder die Sanktionen des Westens gegen Russland nach der Krim-Annexion, werden in der Friedensbewegung einhellig abgelehnt. Keine Zustimmung finden aber auch dem Völkerrecht entsprechende Sanktionen, wie die gegen den Irak Saddam Husseins, unter denen die
Zivilbevölkerung massiv litt. Dennoch bleibt die Frage, ob aus dieser Kritik eine generelle Ablehnung jedweder Form von Sanktionen abgeleitet werden muss oder ob Sanktionen aus friedenspolitischer Sicht unter bestimmten Voraussetzungen doch eine Option sein können.

Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option

von Christine Schweitzer

Internationale Sanktionen sind zwischen zivilen, gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung und militärischen Maßnahmen einzuordnen. Sie sind Zwangsmaßnahmen, die in der Regel mit nichtmilitärischen Mitteln implementiert werden und ohne direkte militärische Gewalt auskommen, wobei es Ausnahmen gibt, bei denen Embargos mit militärischen Mitteln durchgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür war das Waffenembargo gegen Jugoslawien bis zum Abschluss des Abkommen von Dayton 1995, bei dem die Westeuropäische Union (WEU) und die NATO das Mittelmeer bzw. zeitweilig den
Luftraum über Bosnien überwachten.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass Sanktionen nicht grundsätzlich als Instrument der Friedenspolitik ausgeschlossen werden sollten. Insbesondere Waffenembargos, aber auch andere Sanktionen, können sinnvoll sein, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Bei den meisten der heute praktizierten Sanktionen muss allerdings festgestellt werden, dass sie eher konfliktverschärfend denn ein Beitrag zur Konfliktlösung sind.

Sanktionen – negative und positive, mit dem bildlichen Ausdruck »Zuckerbrot und Peitsche« gut beschrieben – sind in der Politik ein gebräuchliches Mittel, um ein anderes Land zu einem gewünschten bzw. zur Unterlassung von nicht-gewünschtem Verhalten zu bewegen. Bei den Vereinten Nationen gelten sie als zulässige Zwangsmaßnahme zur Durchsetzung völkerrechtlich bindender Abmachungen und zur Abwehr von Verstößen gegen das Völkerrecht (UN Charta Kapitel VII, Artikel 41). Zurzeit bestehen Sanktionsregime des UN-Sicherheitsrats gegen 14 Staaten und Entitäten (UNSC o.J.). Aber nicht
nur die Vereinten Nationen greifen zu diesem Mittel, die Europäische Union beispielsweise hat eigene Sanktionen gegen 33 Staaten und Entitäten verhängt (Estonian Presidency o.J.). Die USA praktizieren außerdem einseitige Sanktionen gegen etliche weitere Länder, zum Beispiel gegen den Iran und Kuba. Auch wenn es stimmt, dass zumeist die Weltmächte Sanktionen gegen Länder mit weniger Macht verhängen, so trifft dies nicht in jedem Falle zu. Zum Beispiel verhängte Griechenland wegen des Namensstreits Sanktionen gegen die frühere jugoslawische Republik Mazedonien (heute: Nordmazedonien).

Sanktionen können unterschiedliche Maßnahmen umfassen. Besonders hervorzuheben sind Waffenembargos, Handelseinschränkungen für Im- und Exporte bestimmter oder aller Waren generell, Sperren von Fördermitteln (z.B. Mittel der Entwicklungszusammenarbeit von Deutschland für Brasilien wegen der Urwaldzerstörung), Einschränkungen des Reiseverkehrs (z.B. der USA gegenüber Kuba), Ausschluss von internationalen Veranstaltungen und internationalen politischen Gruppen (z.B. der Ausschluss von Russland aus der G8 wegen seiner Einmischung in der Ukraine), diplomatische Maßnahmen (z.B. Abzug von
Botschaftern) und natürlich auch Strafverfolgung durch internationale Gerichte (Internationaler Strafgerichtshof). Im Rahmen so genannter «smarter Sanktionen« sind desweiteren Reisebeschränkungen und das Sperren von Auslandskonten bestimmter ausgewählter Politiker*innen oder Organisationen zu nennen.

Sanktionen hat es gewiss schon immer gegeben, seit es eine internationale Staatenwelt gibt. In jüngerer Zeit waren sie besonders in den 1990er Jahren ein sehr beliebtes Mittel. Weltweit wurden damals mehr als 50 neue uni- und multilaterale Sanktionen gegen einzelne Länder verhängt. Dies waren umfassende Sanktionen, die auf die gesamte Wirtschaft des Ziellandes zielten. Ihre Effektivität war sehr gering, sie verursachten aber enorme Kosten für die Zielländer und verschlechterten die humanitäre Situation der Bevölkerung gravierend (oft auch in den Nachbarländern). Ein besonders drastisches
Beispiel war der Irak unter Saddam Hussein, der von den Vereinten Nationen in den 1990er Jahren mit umfassenden Sanktionen belegt wurde. Als bekannt wurde, dass nach offiziellen Angaben der Vereinten Nationen in dieser Zeit infolge der ökonomischen Sanktionen mindestens 500.000 Kinder starben (Holmes 2010), veränderte sich die Sanktionspraxis. Die Vereinten Nationen gingen ebenso wie die EU zu »smarten« Sanktionen über. Diese sollen sich direkt gegen die Regierenden des sanktionierten Landes wenden (z.B. Waffenembargos, Reisebeschränkungen, Einfrieren von Konten, Flug- und
Transportbeschränkungen) und die Bevölkerung möglichst von den Folgen aussparen. Letzteres gelingt allerdings nur sehr unvollkommen, wie in diesen Tagen anhand der Auswirkungen der Sanktionen gegen den Iran beobachtet werden kann (Pany 2019). Trotz der Bemühungen, die Zivilbevölkerung von den Folgen zu verschonen, gehen dort z.B. die Medikamente aus.

Es sind aber nicht nur Staaten in diesem Feld aktiv. Auch zivilgesellschaftliche Verbände und Organisationen praktizieren Sanktionen. So kann z.B. das Startverbot für russische Sportler*innen bei den Olympischen Spielen wegen des Dopingskandals, verhängt vom Internationalen Olympischen Komitee, als Sanktion angesehen werden, da es über die Bestrafung konkreter, als Täter*innen überführter Personen hinausging.

Der Friedensbewegung näher sind sicher die bekannten Beispiele des Boykotts von Waren aus Südafrika während des Apartheidregimes (Wellmer 2005), die mit der Forderung nach staatlichen Sanktionen einhergingen, die BDS-Kampagne, die zum Boykott von in den palästinensischen Gebieten von israelischen Firmen produzierten Waren und zu staatlichen Sanktionen gegen Israel aufruft (BDS-Kampagne 2005), und die vielfältigen Forderungen nach einem Stopp von Rüstungsexporten in bestimmte Staaten (Aktion Aufschrei 2019). Gerade Waffenembargos sind aus friedenspolitischer Sicht immer als sinnvoll zu
erachten – allerdings gehören Waffenproduktion und -export eigentlich grundsätzlich verboten. Auch andere Formen internationaler Sanktionen werden immer wieder gefordert, in den letzten Jahren z.B. gegen die Türkei wegen des Kriegs in der Osttürkei.

Auf der anderen Seite haben sich Friedensorganisationen sehr kritisch gegenüber Sanktionsregimes gegen bestimmte Länder verhalten. Heute gibt es vor allem Forderungen in Bezug auf die Lockerung oder Aufhebung von Sanktionen gegen Russland und den Iran und viel generelle Kritik gegen die unilaterale Sanktionspolitik der USA (z.B. gegen Kuba).

Die kritische Sicht auf Sanktionen hat viel mit den allgemeinen Einwänden gegen dieses Instrument zu tun:

  • Wirkungslosigkeit: Ein Vorwurf, der in der Wissenschaft allerdings umstritten ist. Ein Teil der Untersuchungen über Sanktionen billigen ihnen zumindest unter bestimmten Umständen eine gewisse Wirksamkeit zu (Werthes 2019).
  • Effekt des »rally around the flag«: Sanktionen führen zur Stärkung autoritärer Regierungen, da die Demütigung der Regierung als Demütigung des ganzen Volkes empfunden wird (Lohmann 2015).
  • Sanktionen verhindern oftmals den Dialog und erschweren dadurch die Zivile Konfliktbearbeitung; dies ist aufgrund des zuvor genannten Effekts der Fall und wenn eine Sanktion darin besteht, ein Land aus bestimmten Gesprächskontexten auszuschließen (G8, Europarat usw.), auch wenn Politiker*innen behaupten, Sanktionen und Dialog würden sich nicht ausschließen (Fischer und Kluge 2018).
  • Sofern die Staatengemeinschaft uneins ist, werden internationale Spannungen durch Sanktionen eher verschärft. Die derzeitige Krise um den Iran zeigt dies deutlich.
  • Sanktionen können leicht umgangen werden (das gilt besonders für Waffen­embargos).
  • Sanktionen ermutigen überdies den Aufbau von Eigenkapazitäten der betroffenen Länder und laufen dadurch mittelfristig ins Leere (Lohmann 2015).
  • Sanktionen treffen die Zivilbevölkerung, deren Leiden am Beispiels Irak deutlich wurden und auch durch »smarte Sanktionen« nicht völlig vermieden werden (Pany 2019).
  • Auch der Wirtschaft eines sanktions­verhängenden Staates wird Schaden zugefügt. Ein aktuelles Beispiel ist der Streit zwischen den USA und Deutschland um die russische Erdgaspipeline. Da Deutschland die Pipeline braucht und auf dieses Geschäft nicht verzichten will, lehnt die Bundesregierung es ab, sich den US-Strafmaßnahmen anzuschließen (ZEIT ONLINE 2018).
  • Oft fehlen konkrete Analysen und die Definition von Zielen, sondern Sanktionen werden verhängt, um Missbilligung auszudrücken oder der Öffentlichkeit zu zeigen, dass »man etwas tut« (Fehl 2012).
  • Waffenembargos können einer Seite einen kriegsentscheidenden Vorteil verschaffen, falls sie gegen alle Seiten verhängt werden. (Dieser Vorwurf wurde in der Zeit des Bosnienkriegs 1992-1995 erhoben, als Bosnien, das immer noch als Teil Jugoslawiens angesehen wurde, ebenfalls unter das Waffenembargo fiel und deshalb militärisch den serbischen Truppen unterlegen war, die Zugriff auf die Ausrüstung der Volksarmee hatten.)
  • Es scheint viel leichter, Sanktionen zu verhängen, als sie wieder aufzuheben.

Abschließend möchte ich einige Kriterien vorschlagen, die zur Bewertung von Sanktionen als Mittel der Friedenspolitik angewendet werden könnten:

  • Die Vereinten Nationen sollten der einzige Akteur sein, der Sanktionen verhängen darf.
  • Es darf nicht zu »Kollateralschäden« für die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes kommen.
  • Es bedarf der Formulierung einer klaren »Theorie des Wandels«, d.h. einer Analyse, was die Sanktionen bewirken können.
  • Es bedarf zudem einer klar formulierte »exit strategy«, d.h. der Klarheit darüber, wann und wie die Sanktionen auch wieder aufgehoben werden sollen.
  • Es muss für beide Seiten ein gesichtswahrender Ausstieg aus der Krisensituation möglich sein.
  • Es muss vorab geklärt werden, ob positive Sanktionen ebenso zum gewünschten Ergebnis führen würden.
  • Es dürfen keine Maßnahmen ergriffen werden, die ein schleichendes Abrutschen in eine Militärintervention befürchten lassen.
  • Die Maßnahmen dürfen den Dialog nicht verhindern oder erschweren. Der Dialog muss bei Konflikten intensiviert, nicht gestoppt werden. Wichtig ist z.B., die diplomatischen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Über Sanktionen, die im Gegensatz zu der Mehrzahl der derzeit praktizierten diese Kriterien erfüllen, lohnt es sich für die Friedensbewegung nachzudenken. Das gilt besonders für Waffenembargos.

Literatur

Aktion Aufschrei (2019): Deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Stand 18.9.2019; aufschrei-waffenhandel.de.

BDS-Kampagne (2005): Der Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS. 9.7.2005; bds-kampagne.de.

Estonian Presidency of the EU (ohne Datum): EU Sanctions Map; sanctionsmap.eu.

Fehl, C. (2012): Sanctions, Trials and Peace – ­Promises and Pitfalls of Responsibility to Protect Civilian Dimension. In: Fiott, D; Zuber, R.; Koops, J. (eds.): Operationalizing the Responsibility to Protect – A Contribution to the Third Pillar Approach. Brüssel: Madariaga – College of Europe Foundation u.a., S. 95-103.

Fischer, S.; Kluge, J. (2018): Wirtschaftssanktionen wirken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.5.2018, S. 24.

Holmes, M. (2010): Der vergessene Krieg gegen Iraks Zivilbevölkerung. Welt online, 22.9.2010.

Lohmann, S. (2015): Sanktionen? Psychische Hygiene – In westlichen Demokratien sind internationale Sanktionen längst Zweck statt Mittel. JPG Journal, 6.1.2015.

Pany, T. (2019): Iran – Der Effekt der Sanktionen? Telepolis, 25.6.2019; heise.de.

United Nations Security Council/UNSC (o.J.): Sanctions. Nach dortigen Angaben sind aktuell Somalia, ISIS, Irak, Demokratische Republik Kongo, Sudan, Libanon, Nordkorea, Libyen, Taliban, Guinea-Bissau, Zentralafrika, Jemen, Südsudan und Mali mit Sanktionen des UN-­Sicherheitsrates belegt; un.org/securitycouncil/sanctions/information.

Wellmer, B. (2005): Friedensarbeit in Afrika – Die Deutsche Anti-Apartheidbewegung. Friedensforum 7-2005.

Werthes, S. (2019): Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V.

ZEIT ONLINE (2018): USA wollen Pipeline Nord Stream 2 stoppen. 13.11.2018.

Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung e.V.

Kein Instrument der Friedenspolitik

von Helmut Lohrer

Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen kann der Sicherheitsrat feststellen, dass der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit bedroht ist, und – nur unter dieser Voraussetzung – Maßnahmen beschließen, um den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit wieder herzustellen. Zuvor sollen die betreffenden Parteien aufgefordert werden, ihr den Weltfrieden bedrohendes Verhalten einzustellen; dann erst können »Maßnahmen« beschlossen werden, wie die Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen, des Verkehrs und der Kommunikation.

Im Prinzip würde man gerne sagen, dass da eine legitime Autorität am Werk ist, die im Interesse aller Menschen nur und genau dann eingreift, wenn es im allgemeinen und zwingenden Interesse ist, weil eben der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit gefährdet sind. Aber: Neben der UN-Charta gibt es das Völkergewohnheitsrecht, und in der Praxis gibt es vor allem die Gewohnheit.

Sanktionen werden auch im Sicherheitsrat immer dann verhängt, wenn jemand sie einfordert und zumindest unter den fünf Vetomächten ein Konsens besteht. Nach Gewohnheit hält man sich nicht immer an den Buchstaben des Kapitel VII. Genau da besteht das Problem: In der Praxis sind es alleine die Mächtigen, die ihre Interessen mit Macht vertreten. Und zunehmend häufiger als durch den Sicherheitsrat werden Sanktionen inzwischen von Einzelstaaten oder Bündnissen gegen andere Staaten verhängt, um ihre Interessen durchzusetzen und das Verhalten dieser Staaten in ihrem Sinne zu beeinflussen. An
strenge Vorbedingungen, wie sie in der UN-Charta für den Sicherheitsrat formuliert sind, fühlen sie sich dabei nicht gebunden.

Schon 2003 hatte Madeleine Albright, Außenministerin der USA unter Bill Clinton, das in ihrer Autobiographie sehr treffend formuliert, und Angela Merkel wiederholte es im darauffolgenden Jahr auf der so genannten Sicherheitskonferenz in München genau so: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ (Merkel 2004) Mich hat das damals so
beeindruckt, dass ich mir das ausgedruckt und eingerahmt habe; das hängt heute noch in meinem Büro. Zu diesen Instrumenten gehören offenbar auch Sanktionen, aber das ist eine ganz andere Zweckbestimmung als in der UN-Charta vorgesehen.

Von freundlichen Worten bis zu Marsch­flugkörpern“. Es gibt eine Stufenleiter der Einflussnahme – oder besser der Durchsetzung von Interessen. Den Eliten, die das System beherrschen, geht es darum, Märkte zu erschließen, sie offen zu halten, Rohstoffe zu möglichst niedrigen Preisen zu beschaffen, damit die Konjunktur nicht ins Stottern gerät. Und es geht ihnen darum, die bestehenden Machtverhältnisse nicht infrage zu stellen. Wenn jemand ausschert, dann wird er sanktioniert.

Den Bürger*innen wird gesagt, dass es um den Frieden geht, um die Menschenrechte und um Demokratie. Diese Geschichte wird meistens so gut erzählt, dass sie geglaubt wird. Walter Lippmann beschrieb in seinem Werk »Public Opin­ion« (1922/2018; dt. »Die öffentliche Meinung«) vor fast hundert Jahren in den USA sehr genau, wie das geht.

Es wird also mit Sanktionen gedroht, wenn ein Land sich den Interessen der Mächtigen widersetzt. Und nochmal, genau hier liegt eine sehr wichtige Beobachtung: Sanktionen werden immer vom Starken gegen den Schwachen ausgesprochen, ganz im Sinne von Albright und Merkel. Man stelle sich einfach mal vor: Die Regierung von Mexiko ist über den Umgang mit den Menschen, die über die Grenze in die USA wollen, erzürnt und sagt, damit wird die internationale Sicherheit bedroht. Wir verhängen unsererseits nun Sanktionen gegen die USA. Das ist so absurd, dass es schon fast als Witz durchgehen würde.

Sanktionen sind kein symmetrisch angelegtes Instrument, und sie eignen sich sehr gut dazu, die Interessen der Mächtigen durchzusetzen.

Leider geht das noch weiter, und es ist wie beim Krieg: Der durch Sanktionen angerichtete wirtschaftliche und humanitäre Schaden ist häufig kein unerwünschter Kollateralschaden, sondern Teil des Konzepts. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, aber in Naomi Kleins »Die Schock-Strategie« (2007) kann man das wunderbar nachlesen.

Wenn jetzt Joshua Wong von der Hongkonger Partei Demosisto von uns fordert, dass wir keine Wasserwerfer mehr nach Hongkong liefern sollen, ruft er dann nach einer Wirtschaftssanktion? Wasserwerfer aus Deutschland werden nämlich dort gegen die Demonstrant*innen eingesetzt. Die Forderung, keine Wasserwerfer an autoritäre Regierungen zu verkaufen, ist aus meiner Sicht keine Forderung nach einer Sanktion, schon gar nicht im Sinne des Völkerrechts. Hier ist es wie beim Waffenhandel, und Wasserwerfer sind Waffen: Wer Waffen verkauft, macht sich mitverantwortlich für das, was damit angerichtet
wird. Er wird zum Komplizen derjenigen, die sie einsetzen.

Der Jemen wird derzeit kurz und klein bombardiert. Die Bomben stammen teilweise aus der Produktion der Firma Rheinmetall, die von der Fabrik in Sardinien direkt nach Saudi-Arabien und an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert werden (Friedrichs 2016). Auch andere Waffen – Boote, ganze Gewehr- und Mörserfabriken – werden nach Saudi-Arabien geliefert (ebenda). Aber erst als vor fast einem Jahr der saudische Journalist Jamal Khashoggi in Istanbul von saudischen Agenten ermordet wurde, hieß es am 19.11.2018 auf tagesschau.de: „Regierung verhängt Sanktionen gegen
Saudis. Wegen der Tötung des Journalisten Khashoggi
will die Bundesregierung alle Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien stoppen. Das soll auch für genehmigte Ausfuhren gelten. Gegen 18 Saudis wurden Einreisesperren verhängt.“ (tagesschau.de 2018)

Man sieht hier, wie der Einsatz von »Sanktionen« nicht dem Frieden dient. Erst als ein für eine westliche Zeitung arbeitender Journalist ermordet wurde, wurden die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien vorübergehend ausgesetzt – nicht wegen des Krieges.

Waffen sind nach meiner Überzeugung kein legitimes Handelsgut. Diese Auffassung vertrete ich auch im Rahmen der internationalen Kampagne »Global Net – Stop the Arms Trade« (gn-stat.org). Aus dieser Position heraus ist es logisch und legitim, die Einstellung von Waffenlieferungen nicht als Sanktion, also als Strafmaßnahme zu verstehen. Sonst würden wir mit unserer Forderung, den Waffenhandel einzustellen, ja in allen zwischenstaatlichen Verhältnissen für eine grundsätzliche Sanktionierung plädieren. Es geht hier vielmehr um die Beendigung der Komplizenschaft.

Was ist nun aber mit der klassischen Form von Sanktionen, wie sie beispielsweise gegen Irak verhängt wurden, gegen Nordkorea, gegen Syrien? Ist es da nicht geboten, vor dem Einsatz von Waffen hier mit wirtschaftlichen Maßnahmen Druck zu machen, um die Menschenrechte und die Demokratie zu verteidigen?

Ganz pragmatisch gesehen sollte längst klar sein, dass das nicht funktioniert. Wer unter den Sanktionen zu leiden hat, ist in aller Regel die Zivilbevölkerung. Es ist in kaum einem Fall gelungen, eine Regierung damit ins Wanken zu bringen oder auch nur dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern (Lohmann 2018). Im Gegenteil, die Repression nimmt unter dem Druck der Sanktion zu. Der Elite schadet die Sanktion am wenigsten, und die Kluft zwischen ihr und der leidenden Bevölkerung vergrößert sich (IPPNW 2018).

So wie im Irak in den 1990er Jahren fehlen heute in Syrien Medikamente. Medizinische Geräte, Busse, Generatoren und Pumpen können nicht repariert werden, weil die Ersatzteile unter das Embargo fallen. Hilfsorganisationen haben größte Mühe, ihre Arbeit zu tun, weil die Gelder für ihre Angestellten nicht überwiesen werden können. Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend, wobei es schwierig ist, die Auswirkungen der Sanktionen von denen der Krise zu trennen. Die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (­IPPNW) haben kürzlich den »UN-­Sonderberichterstatter
zu den negativen Auswirkungen von Sanktionen«, Idriss Jazairy, nach Deutschland eingeladen, der uns sehr eindrücklich davon berichtete (­IPPNW 2018).

Obwohl bekannt ist, dass unter Sanktionen eher die Versorgung der Bevölkerung zusammenbricht als dass das proklamierte Ziel erreicht wird, werden trotzdem Sanktionen verhängt, und zwar mehr denn je: In den letzten zehn Jahren wurden über 150 Mal UN-Sanktionen verhängt. Die USA haben allein in den letzten vier Jahren über 2.000 Maßnahmen verhängt; die EU verhängt Sanktionen gegen derzeit 30 Länder (Goldmann 2019).

Der US-amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas, der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates die Folgen der US-Sanktionen gegen Venezuela untersuchte, sagte: „Eine Sache müssen wir alle verstehen: Heutige Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden sind vergleichbar mit mittelalterlichen Belagerungen von Städten mit der Absicht, sie zur Kapitula­tion zu zwingen.“ (ebenda)

Mit der Regierung Assad in Syrien wurden über viele Jahre gute Geschäfte gemacht. Ihr Verhalten in Bezug auf die Menschenrechtslage war damals nicht besser als heute. Noch 2007 sind Beamte des Bundesnachrichtendienstes (BND) nach Damaskus gereist, um an einem Verhör teilzunehmen, das, wie es in dem Bericht hieß, unter „landesüblichen Umständen“ durchgeführt wurde. Da war das OK. 2005 erregte sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Debatte über die Beteiligung des BND an Folterungen darüber, dass die Forderung aufgestellt würde, die Geheimdienste „dürften nur
mit den
Staaten kooperieren, die denselben Status von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben wie wir“, weil sich dann die geheimdienstliche Zusammenarbeit auf „eine Hand voll“ Länder reduzieren würde (Hofmann 2005).

Bashar al-Assad war damals in unserer Presse noch Präsident und nicht »Machthaber«, und Syrien hatte eine »Regierung« und kein Regime, wie man heute fast ausschließlich liest. Dann befand man, dass Assad kein guter Diktator mehr ist, sondern ein böser. Wie zuvor im Fall anderer Länder wurde beschlossen, dass die gewählte Regierung Assad gestürzt werden soll und ein »Regime Change« zu erfolgen hat. Ich will an dieser Stelle nicht so tun, als sei das nicht eine extrem komplexe Situation. Die IPPNW veröffentlichten im Dezember 2018 einen umfangreichen Beitrag zu dieser Debatte, in dem wir uns
damit auseinandersetzen (Fischer et al. 2018). Aber: Die Sanktionen, die insbesondere die westlichen Staaten gegen Syrien verhängten, und dazu gehört auch die diplomatische Isolation, verfolgen, genauso wie die kriegerischen Maßnahmen, dieses Ziel des »Regime Change«. Die diplomatische Isolation, man könnte es auch Ächtung nennen, fördert die Polarisierung und verhindert jeden friedenspolitischen Dialog. Und ich fürchte, genau das ist auch gewollt.

Sanktionen sind, das wird hier deutlich, ein kriegerischer Akt. Sie sind Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln. Sie dienen nicht der Durchsetzung von Frieden und Menschenrechten, sondern von Interessen der Mächtigen. Krieg ist kein Mittel der Politik, und Sanktionen sind es auch nicht, zumindest nicht einer Friedenspolitik, die den Namen verdient.

Literatur

Fischer, A. et al. (2018): Der Syrienkrieg – Dimensionen, Hintergründe, Perspektiven. IPPNW Akzente, Dezember 2018; ippnw.de.

Friedrichs, H. (2016): Rheinmetall – Boom mit Bomben. ZEIT ONLINE, 27.10.2016.

Goldmann, F. (2019): Sanktionen – Kollektivstrafen gegen die Schwächsten. neues deutschland, 11.9.2019.

Hofmann, G. (2005): Eine Frage der Moral. ZEIT ONLINE, 15.12.2005.

IPPNW (20018): Erklärung von Idriss Jazairy, Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einerseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte. Podiumsdiskussion und Pressekonferenz, 29.5.2018; ippnw.de.

Klein, N. (2007; 6. Auflage 2016): Die Schock-­Strategie. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Lippmann, W. (2018, Erstausgabe 1922): Die öffentliche Meinung – Wie sie entsteht und manipuliert wird. Frankfurt am Main: Westend.

Lohmann, S. (2018): Sanktionen in den internationalen Beziehungen – Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand. Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ Nr. 36-37/2018.

Merkel, A.: (2004): Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 7.2.2004. Dokumentiert unter dem Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr werden zunehmen“ auf der Archiv-Website der AG Friedensforschung; ag-friedensforschung.de.

tagesschau.de (2018): Fall Kashoggi – Regierung verhängt Sanktionen gegen Saudis. 19.11.2018.

Dr. med. Helmut Lohrer ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Villingen-Schwenningen und International Councillor der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).

Zivilklausel in NRW und überall


Zivilklausel in NRW und überall

von Senta Pineau

Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.

Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.

In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.

Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.

Krise heißt Entscheidung: für den Frieden

An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).

Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.

Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).

In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.

Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«

Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)

Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.

Die Zivilklausel wirkt

Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)

Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Politische Offensive aus der Abwehr

Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und

  • durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
  • die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
  • die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
  • die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.

Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.

Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)

Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.

Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller

Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).

Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).

Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.

In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.

Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.

Geschichte wird gemacht

An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.

Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.

Literatur

Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.

Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.

Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.

Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.

HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.

Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.

Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.

RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.

Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der ­Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.

Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.

Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.

Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Vor 50 Jahren starb Friedrich Siegmund-Schultze

von Karlheinz Lipp

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland – über mehrere Jahrzehnte und in äußerst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen – engagierte sich Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sehr intensiv in verschiedenen Organisationen für den Frieden und für soziale Fragen. Wie sah dieses Engagement aus?

Die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 beflügelte einige christliche Gruppen in Deutschland und Großbritannien in ihrem Friedensengagement. Besonders gegenseitige Besuche, beginnend im Frühjahr 1908, sollten Vorurteile ab- und freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Friedrich Siegmund-Schultze erhielt von seinem Patenonkel, dem Hofprediger Ernst von Dryander, direkt nach dem theologischen Examen den Auftrag, diese Reisen zu organisieren – und wirkte bis 1914 als Sekretär des Vereinigten Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zwischen Großbritannien und Deutschland. Bereits in dieser frühen Lebensphase entwickelte er ein großes Interesse an internationalen Fragen und Konzepten der Verständigung. Dies prägte Siegmund-Schultze entscheidend, und er unterschied sich dadurch von vielen deutschnationalen und militaristischen Pfarrern und Theologen.

Im Jahre 1910 heiratete der Bürgerliche die adlige Maria von Maltzahn; beide überwanden dadurch soziale Schranken. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im gleichen Jahr referierte Siegmund-Schultze in der Sektion »Die Religion und der Friede« auf dem Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin.

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost und die Zeitschrift »Die Eiche«

Das Jahr 1911 bedeutete für Siegmund-Schultze eine tiefe Zäsur. Nach nur einem Jahr (1910/11) als Pfarrer an der Potsdamer Friedenskirche verließen seine Frau und er das bürgerliche Ambiente und siedelten um in das proletarische Armutsviertel im Osten Berlins. Dort erfolgte die Gründung der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einer Nachbarschaftssiedlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Studierenden nach dem Vorbild des englischen Settlements Toynbee Hall, welches der Theologe 1908 bei einem Besuch in London kennengelernt hatte. Sukzessive wurde dieses Projekt zur Versöhnung der
Klassen erweitert. So kamen in den nächsten Jahren eine Frauenkolonie, eine Volkshochschule, eine Jugendgerichts­hilfe, Ferienkolonien, ein Kinderheim sowie eine Heilerziehungsstätte für psychisch auffällige Kinder auf dem Ulmenhof (Berlin-Wilhelmshagen) hinzu. Dieses Projekt leitete Siegmund-Schultze bis zur Zerstörung durch den NS-Staat im Jahre 1933.

Das soziale Engagement des Theologen zeigt sich auch in der Gründung des Akademisch-Sozialen Vereins (1912) sowie in seiner Funktion als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission (1912-1914).

Im Januar 1913 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Eiche«, die von Friedrich Siegmund-Schultze herausgegeben wurde. Der US-amerikanische Millionär und pazifistische Mäzen Andrew Carnegie unterstützte das Erscheinen der ersten Jahrgänge finanziell. In den Anfangsjahren führte dieses Organ den aussagekräftigen Untertitel »Vierteljahresschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland«. Bis zum Verbot durch den NS-Staat im Jahre 1933 gehörte »Die Eiche« zu den wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften im Bereich der internationalen und
pazifistischen Ökumene.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 fand in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz statt, die Siegmund-Schultze organisierte. Zweck dieser Tagung sollte die Zusammenführung verschiedener Kirchengemeinschaften und Völker sein, um die Bedeutung des Friedens zu betonen und die Kriegsgefahr zu bannen. Ca. 120 Delegierte aus 30 Ländern nahmen an dieser Konstanzer Veranstaltung teil, die wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges bereits am 2. August beendet werden musste. Gleichwohl bedeutete die Tagung de facto den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.
Siegmund-Schultze blieb dieser Organisation bis 1948 als Schriftführer eng verbunden.

Die Erinnerung der Tochter Elisabeth Hesse zeigt, dass dieses Friedensenga­ge­ment nicht unproblematisch war: „Mein Vater hatte nämlich, getreu seiner Glaubensüberzeugung, einen pazifistischen Quäkeraufsatz 1914 nach Ausbruch des Weltkrieges verbreitet und wurde von einem Mitglied der Kirchenbehörde bei den Militärs denunziert. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat wurde eingeleitet. Ein Schreiben, das den Dank des Kaisers für den Quäkeraufsatz durch seinen Kabinettschef übermittelte, rettete meinen Vater vor der Füsilierung.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 401)

Die Position des Theologen schwankte während des Ersten Weltkrieges zunächst zwischen Patriotismus und christlichem Pazifismus. Bei Beginn dieses Krieges meldeten sich viele männliche Studierende und Helfer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost freiwillig zum Kriegsdienst. Siegmund-Schultze kommentierte dies positiv. Im November 1914 wurde der Theologe Mitglied der Friedensorganisation Bund Neues Vaterland. Ende dieses Jahres zählte Siegmund-Schultze zu den führenden Mitbegründern der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland (Caritas inter arma).
Die Arbeit dieser Organisation erstreckte sich auf die gesamte Dauer des Ersten Weltkrieges.

Im Frühjahr 1915 aber zog Siegmund-Schultze eine ernüchternde Bilanz des ersten Kriegshalbjahres. Die Klassengegensätze seien nicht, wie er noch 1914 gehofft hatte, überwunden – im Gegenteil, sie hätten sich durch den Krieg verschärft. Ferner entlarvte der Theologe die Mythen und Lügen der kaiserlichen Propaganda. Ebenfalls 1915 wurde Siegmund-Schultze Obmann der englischen Gefangenenseelsorge in Deutschland (bis 1919) und Mitarbeiter der Bewegung für Praktisches Christentum (bis 1938).

Im Jahre 1916 kritisierte Siegmund-Schultze die zunehmende, kriegsbedingte Verwahrlosung von (männlichen) Jugendlichen. Sein Konzept, wonach Studierende die Berufs- und Arbeitswelt des Proletariats näher erleben sollten, bedeutete für ihn während des Krieges auch, die Arbeit in der Rüstungsindustrie kennenzulernen. Ebenfalls 1916 trat Siegmund-Schultze jeweils den neuen pazifistischen Organisationen Zentralstelle Völkerrecht und Vereinigung Gleichgesinnter bei.

Sein großes Engagement im Sozialbereich fand während des Krieges seinen Ausdruck in der Berufung zum ersten Direktor des Berliner Jugendamtes (1917/18), zum Vorsitzenden des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen sowie als Präsident des Internationalen Kongresses für Heilpädagogik (1918-1933).

Weimarer Republik und Friedenssonntag

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte sich die internationale und ökumenische Offenheit von Siegmund-Schultze. So arbeitete er von 1919 bis 1932 als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig), von 1920 bis 1937 als Mitglied eines Ausschusses der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, von 1921 bis 1930 als Geschäftsführer des Deutschen Komitees der Internationalen Volkshochschule in Helsingör (Dänemark) sowie von 1921 bis 1939 als internationaler Schriftführer des Kirchenkomitees für die Minoritäten der baltischen und südosteuropäischen Länder.

Im Jahre 1925 organisierte Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930), der Siegmund-Schultze nach Kriegsende kennengelernt und ihn zu Vorträgen nach Schweden eingeladen hatte, in Stockholm eine Weltkirchenkonferenz der nicht-römisch-katholischen Kirchen. Ein geplanter Vortrag von Siegmund-Schultze über »Die Erziehung zu brüderlicher Gesinnung im eigenen Volk und unter den Völkern« konnte nicht gehalten werden, da die deutsche Delegation ein solches Thema ablehnte und entsprechend blockierte. Auch hier zeigte sich das Aufeinandertreffen einer konservativen, nationalistischen
Position und einer weltoffenen Überzeugung. Im gleichen Jahr übernahm Siegmund-Schultze eine Honorar-Professur an der Universität zu Berlin (Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später: Sozialpädagogik und Sozialethik).

Sehr große Sympathien brachte Siegmund-Schultze der Realisierung eines Friedenssonntages entgegen. Ein solcher höchst symbolischer Feiertag fand in Deutschland erstmals 1908 in der Freien Evangelischen Gemeinde Königsberg statt. Am 7. Dezember 1913 folgte erstmals (und bis heute letztmals) die Feier eines Friedenssonntages in einer Landeskirche, nämlich der Landeskirche Elsass-Lothringens.

In der Weimarer Republik versuchten religiös-sozialistische Pfarrer sowie Geistliche des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einen Friedenssonntag in Deutschland zu eta­blieren. Nachdem ein erwartetes positives Echo auf den Aufruf des Weltbundes für einen Friedenssonntag ausblieb, versuchte es Siegmund-Schultze in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig mit einem erneuten Anlauf. In den Jahren 1930 bis 1932 veröffentlichte er in seinem Organ »Die Eiche« Artikel über den Friedenssonntag, sammelte akribisch ­Feiern von Friedenssonntagen im In- und
Ausland und publizierte diese in seiner Zeitschrift. Die intensiven Bemühungen Siegmund-Schultzes brachten nur sehr geringe Erfolge. Im Jahre 1938 scheiterte er im Schweizer Exil nochmals mit dem Versuch, einen Friedenssonntag abzuhalten.

Exil in der Schweiz und die Zeit nach 1945

Im Frühjahr 1933 engagierte sich Siegmund-Schultze für ein Internationales Hilfskomitee für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Kurz vor der geplanten Gründung verhaftete die Gestapo den Theologen und zwang ihn am 23. Juni 1933 zur Flucht in die Schweiz. In seiner neuen Heimat wirkte er als Berater für Studierende der Züricher Hochschule (bis 1937), schloss sich (bis 1939) als Geschäftsführer dem Internationalen Kirchenkomitee für Flüchtlingshilfe an und arbeitete als Gastprofessor in verschiedenen Ländern. Im Jahre 1941 führte er Friedensverhandlungen für den deutschen Widerstand
(Kreis um den Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler) mit den Alliierten.

Die Tochter Elisabeth erinnert sich: „Vor dem Krieg und auch noch während des Krieges traf sich mein Vater bei Konferenzen und zu Hause in Zürich mit führenden Leuten des Widerstandes. Von Goerdeler bekam meine Mutter ein wunderschönes Alpenveilchen geschenkt, das sie jahrelang immer wieder zum Blühen brachte. Der Vater teilte die Ansicht Goerdelers, einen Tyrannenmord nicht verantworten zu können. Er teilte ebenso die Ansicht des Kreisauer Kreises, auch Kommunisten an den Plänen für den Aufbau nach dem verlorenen Krieg zu beteiligen.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 407)

Im Jahre 1946 erfolgte ein Ruf auf eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik an die Berliner Humboldt-Universität, die Siegmund-Schultze jedoch ablehnte mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost. Ein Jahr später nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Münster an und übernahm die Leitung der sozialpädagogischen Abteilung der Forschungsstelle dieser Universität mit Sitz in Dortmund. Ebenfalls in dieser Stadt des Ruhrgebiets gründete Siegmund-Schultze eine Jugend-Wohlfahrtsschule und blieb bis 1954
dortiger Direktor. Generell gilt aber, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialpädagogische Arbeit des Exilanten in Wissenschaft und Praxis kaum rezipiert wurde.

Im Bereich der Friedensarbeit erreichte er allerdings Bedeutung. Schon 1946 veröffentlichte Siegmund-Schultze seine grundlegende Schrift »Die Überwindung des Hasses«. Hier zeigt er anhand von Beispielen aus der griechisch-römischen Welt, der Renaissance und Aufklärung, des Hinduismus, des Judentums und des Christentums Wege zur Überwindung des Hasses auf. Auch ein Denken jenseits von Klassen- und Rassenhass wird thematisiert.

In der praktischen Friedensarbeit blieb Siegmund-Schultze weiterhin aktiv. So beteiligte er sich an den Vorarbeiten zum Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), wurde u.a. Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände sowie Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diese Funktion wurde umso dringlicher, da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung immer mehr zu einem angeblichen Ausnahmerecht degradiert wurde.
Er unterstützte Gustav Heinemanns Notgemeinschaft für den Frieden Europas und kritisierte die Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik durch Kanzler Adenauer.

Siegmund-Schultze baute das umfangreiche Ökumenische Archiv in Soest auf, das inzwischen Teil des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin ist – eine formidable Fundgrube zur Geschichte der (christlichen) Friedensbewegung. Sein Schüler und Mitarbeiter Klaus Rehbein äußerte sich zu dem Ökumenischen Archiv so: „Aus der reichen Erfahrung eines konfliktreichen Lebens hatte Siegmund-Schultze ein tiefes Mißtrauen gegen ausschließlich staatliche oder kirchlich verwaltete Institute und Institutionen. Er wollte bis zuletzt selbst über die Zugangsmöglichkeiten zu seinem
Material bestimmen können. Die Freigabe
für die Verwaltung Dritter sollte erst dann erfolgen, wenn das Material geordnet und dokumentiert war. Und ein zweites kam hinzu. Es gelang Siegmund-Schultze, sein Soester Archiv noch einmal zu einem Zentrum ökumenischer Begegnung zu machen. Alte Freunde und Weggefährten trafen sich mit einer neuen Generation.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 422)

Nach Friedrich Siegmund-Schultze benannte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung einen Preis für gewaltfreies Handeln (ab 2018 Evangelischer Friedenspreis), der seit 1994 verliehen wird.

Quellen und Literatur

Conway, J.S. (1983): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Evangelische Theologie, Nr 43, S. 221-250.

Dam, H. (2001): Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen 1914-1948 – Eine ökumenische Friedensorganisation. Frankfurt am Main: Lembeck.

Epting, K.C. (1985): Die erste internationale Konferenz der Kirchen für Frieden und Freundschaft in Konstanz 1914. Ökumenische Rundschau, S. 7-25.

Gaede; R. (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus während der Weimarer Republik. Bremen: Donat.

Grotefeld, S. (1995): Friedrich Siegmund-Schultze – Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Lipp, K. (2013): Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg – Ein Lesebuch. Freiburg i. Br.: Centaurus.

Lipp, K. (2014): Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik – Ein Lesebuch. Nordhausen: Traugott Bautz.

Nowak, K. (1981): Evangelische Kirche und Weimarer Republik – Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Siegmund-Schultze, F. (1990): Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision – Texte 1910-1969. Hrsg. von Wolfgang Grünberg u.a. München: Kaiser Taschbuch.

Tenorth, H.-E. u.a. (Hrsg.) (2007): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) – Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.

USA aus Syrien?

Rückzug der USA aus Syrien?

von Mechthild Exo und Karin Leukefeld

Der Abzug der westlichen Truppen aus Syrien ist eine Kernforderung der Friedensbewegung und wird häufig aus völkerrechtlichen Gründen angemahnt. Dennoch sorgte die Ankündigung von US-Präsident Trump vom Dezember 2018, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, auch in der deutschen Friedens­bewegung für Aufregung. So gab es viele Stimmen, die vor allem nach der Zukunft der selbstverwalteten Gebiete im Norden und Nordosten Syriens (»Rojava«) fragten. Nicht zuletzt wird befürchtet, die türkische Regierung unter Präsident Erdogan würde einen von ihr als »Machtvakuum« wahrgenom­menen
US-Abzug mit einer erneuten Intervention beantworten, die wie im Fall der Eroberung Afrins in Vertreibung und Besatzung enden könnte.
Auch wenn die Entwicklung inzwischen gezeigt hat, dass Trumps Ankündigung nicht so und nicht so schnell umgesetzt wird, sind diese Fragen weiterhin aktuell. »Wissenschaft und Frieden« bat zwei Kennerinnen der Region darzustellen, wie aus ihrer jeweiligen Sicht ein Abzug der US-Truppen zu bewerten wäre. Mechthild Exo und Karin Leukefeld beleuchten das Thema auf sehr unterschiedliche Weise.

Ein Friedensprozess für Syrien ist möglich

von Mechthild Exo

Ende 2018 signalisierte der eingeleitete US-Truppenabzug der Türkei freie Hand für einen militärischen Überfall auf Nordsyrien. Kurz zuvor hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gedroht, die gesamte Selbstverwaltungsregion im Norden Syriens militärisch zu erobern und zu besetzen, wie bereits seit März 2018 den westlichsten Kanton in Selbstverwaltung, Afrîn.

Die Ankündigung des Abzugs aller US-Soldaten aus Syrien löste daher bei der Kurdischen Bewegung, bei Solidaritätsgruppen und bei zahlreichen Außenpolitiker*innen unmittelbar kritische Reaktionen aus, die auf das übliche machtpolitische Denken zurückgriffen. Doch die Kurdische Bewegung hatte das US-Militär nicht darum gebeten, nach Syrien zu kommen. Die Erfolge der gesellschaftlichen Transformation zu einer basisdemokratischen, geschlechterbefreienden Lebensweise sowie die Zurückdrängung und Niederschlagung des »Islamischen Staates« (IS) haben ihre Wurzeln nicht in der militärischen
Unterstützung von außen. Vielmehr sind die politischen Grundideen entscheidend für die Verteidigung des selbstorganisierten Demokratieprojektes in Nordostsyrien und für eine Friedenspolitik für das gesamte Syrien. Darum soll es nachfolgend gehen.

Schlüsselfaktor Bewusstsein

Das, was viele als gelebte Utopie beeindruckt und durch Mut und Zuversicht im Kampf gegen den IS überraschte – schließlich hatten zuvor staatliche Armeen vor den faschistischen Mörderbanden des IS kapituliert1 –, lässt sich nicht vorrangig mit militärischer Kooperation, Schlagkraft oder anderen Machtfaktoren erklären. Die bewaffneten Handlungen werden von der Kurdischen Bewegung nicht als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele verstanden. Ganz im Gegenteil: Die sozialen und persönlichen Veränderungsprozesse, die Bildung und der
Aufbau von Strukturen der Selbstorganisierung sind der Weg zur Durchsetzung der neuen Gesellschaft. Diese Prozesse stehen im Zentrum. Die bewaffneten Verteidigungsaktivitäten ergänzen diese und dürfen nicht losgelöst gedacht werden, sie sind aber eher so etwas wie die zweite Seite einer Medaille.

„Das Bewusstsein über die Errungenschaften der Rojava-Revolution ist für die Frauen und die Bevölkerung eine wichtige Motivation, sich auf allen Ebenen für ihre Verteidigung einzusetzen. Das ist es, was den Frauen der [kurdischen Frauenverteidigungseinheiten] YPJ von Serê Kaniyê und Kobanê bis hin nach Reqqa und Dêrazor den Mut und die Kraft verlieh, den IS in die Flucht zu schlagen und zu besiegen.“ (Benario 2019, S. 20) Von ziviler Seite wird das z.B. von Suad Ewdilrahman für den von zehn Frauen als Kooperative betriebenen Laden »Schönheit
der Frau« bestätigt: „Wir sind mit unserer Arbeit zufrieden und möchten ein Beispiel für die ganze Welt sein. Mitten in unserer Revolution sind wir Frauen an der Kriegsfront im Einsatz gewesen. Das war genauso wichtig wie unsere Arbeit hier im Innern der Gesellschaft. Das ist auch eine Front. Wir haben beides zugleich geschafft. Wir sind stark und weichen vor unseren Feinden nicht zurück. Wir stehen unsere Frau – gegen alle Anfeindungen.“ (Krieg 2019)

Das solidarische Bewusstsein in der Gesellschaft und der Wille, frei und würdevoll zu leben, ermöglichen erst den Widerstand. Sie verhindern auch, dass der Krieg und erfahrenes Unrecht die Menschen zu Brutalität und Zerstörung verleiten. Dieses Bewusstsein ist zudem die Grundlage für politische Lösungen und für die Demokratisierung von ganz Syrien.

2019 wurde am 21. März das Frühlings- und Neujahrsfest Newroz in Nord- und Ostsyrien besonders überschwänglich gefeiert. Newroz ist ein Fest aufbrechender Lebenskraft, des Neubeginns von Wachstum, und für Kurd*innen ist es zudem schon lange ein Fest des Widerstands. Dieses Jahr konnte die erfolgreiche Niederschlagung des IS bejubelt und tanzend gefeiert werden. Seit 2014 wurde der IS, beginnend mit der selbstverwalteten Stadt Kobanî, zunehmend zurückgedrängt. In den Wochen vor Newroz 2019 hatte sich der IS in den ostsyrischen Ort al-Bagouz an der Grenze zum Irak zurückgezogen und wurde vom
Verteidigungsbündnis »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) eingekesselt. Immer wieder wurden die letzten Gefechte zur Einnahme von al-Bagouz hinausgeschoben. Zehntausende konnten so flüchten und sich ergeben. Zwei Tage vor Newroz wurden die letzten IS-Stellungen durch die SDF-Einheiten, an denen sich kurdische, arabische, assyrisch-aramäische, armenische und internationalistische Kämpfer*innen beteiligten, eingenommen. Viele verloren noch bei den letzten Kämpfen ihr Leben.

52.000 Quadratkilometer wurden in Syrien von der IS-Herrschaft befreit. Das US-Militär unterstützte im Rahmen der Anti-IS-Koalition, die sich aus 74 Staaten, einschließlich Deutschland, sowie der NATO und der EU zusammensetzt, die Kämpfe mit Luftbombardierungen. Im Einsatz zur Zerschlagung des IS fielen 11.000 Kämpfer*innen – 8.500 Kurd*innen, 2.000 Araber*innen, hunderte Suryoye (Assyrer*innen) und hunderte Internationalist*innen aus der ganzen Welt. 22.000 Kämpferinnen und Kämpfer wurden verletzt (Tev-Dem 21.3.2019)

Für die SDF und ihre Unterstützer*innen war dies nicht nur ein Kampf zur Verteidigung einer einzelnen Region, sondern auch ein Kampf zur Verteidigung der Menschheit sowie zur Verteidigung der Frau im Rahmen der Prinzipien einer Demokratischen Nation” (ANF 28.3.2019).

Neue politische Konzepte: Demokratische Nation und Demokratische Autonomie

Eine Demokratische Nation ist in Nordsyrien seit 2012 im Entstehen, und die Grundlagen dafür werden in den vom IS befreiten Gebieten in Ostsyrien gelegt. »Demokratische Nation« ist ein Konzept, das Nation grundsätzlich anders begreift als der gewohnte Nationenbegriff mit Bezug auf den Staat als Ordnungsinstanz und mit territorialer Umgrenzung. Nation hat hier nichts mit Nationalstaatlichkeit oder Nationalismus zu tun. Die Demokratische Nation ist eine Verbindung sozialer Gruppen und freier Individuen auf der Basis des freien Willens. Die sozialen Gruppen müssen nicht homogen sein oder eine
gemeinsame Geschichte aufweisen, sondern sie können verschiedene ethnische, kulturelle, religiöse und andere Identitäten umfassen.

Im selbstverwalteten Nord- und Ostsyrien leben neben Kurden*innen auch Araber*innen, Suryoye, Turkmen*innen, Ezid*innen und andere Gruppen. In den letzten Jahren kamen zahlreiche Kriegsgeflüchtete aus anderen Teilen Syriens sowie die Ezid*innen aus dem Irak nach Nordsyrien. Mit diesem pluralistischen Verständnis von einer freiheitlich und solidarisch verbundenen Nation ist die Verantwortung für politische Entscheidungen und für die Organisation des Lebens verbunden, die von der Gesellschaft selbst übernommen wird. Diese demokratische Selbstorganisierung, die den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, wie religiösen Minderheiten und der Jugend, eigenständige Strukturen und Rechte zuschreibt, wird als »Demokratische Autonomie« bezeichnet. Nach außen werden diese Strukturen von der kurdisch dominierten Demokratischen Unionspartei (PYD), jedoch vor allem vom Exekutivrat und vom kürzlich gegründeten Frauenrat der Föderation Nord- und Ostsyrien vertreten.

Wo zuvor staatliche Herrschaft die Gesellschaft überging und machtpolitisches sowie marktwirtschaftliches Denken dominierten, werden nun das gesellschaftliche Leben, die sozialen Beziehungen sowie die kommunalen Kommunikations- und Entscheidungsräume ins Zentrum gestellt.

Frauenorganisierung als Grundlage der gesellschaftlichen Befreiung

Die Organisierung der Frauen und die Überwindung der patriarchalen Grundlagen in familiären und anderen sozialen Strukturen gilt als notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Befreiung.

Nachdem die Stadt Rakka im Oktober 2017 von der IS-Herrschaft befreit worden war, gehörte die Einberufung von Frauenkommunen und Frauenräten zu den ersten Aktivitäten für den Aufbau der Demokratischen Autonomie – wie überall in der Selbstverwaltungsregion. Frauen haben weitere autonome Strukturen, beispielsweise »Junge Frauen« oder von Frauenwirtschaftskooperativen, -akademien und -beratungseinrichtungen, aufgebaut. Zudem gibt es eine Quote von 40 % für Frauen in den übergreifenden Entscheidungsgremien. Alle Leitungspositionen sind mit einer
Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau besetzt. Als Gesamtvertretung gibt es neben dem Exekutivrat auch den Frauenrat der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien. Die »Jineolojî« (Frauenwissenschaft; »jin« ist das kurdische Wort für »Frau«) bildet die Basis für eine neue Form von Sozialwissenschaft; sie stellt die positivistische, eurozentrische und von Grund auf patriarchale (westliche) Wissenschaft radikal in Frage und praktiziert andere Kriterien und Methoden für die Gewinnung von Erkenntnissen.

Theorie der demokratischen Lösung als Gegenstrategie

Nach der Vertreibung des IS ist die Frage nach der Absicherung des demokratischen Aufbaus nun vor allem mit der destruktiven Rolle der Türkei verknüpft. Die Bedeutung von Friedensverhandlungen trat spätestens seit der Zuspitzung der türkischen Angriffsdrohung Ende 2018 in den Vordergrund. Der angekündigte US-Truppenabzug wurde von vielen Seiten kritisiert, schließlich nicht umgesetzt und in den folgenden Monaten relativiert. Zudem wurde von vielen Seiten, einschließlich den USA, der Schutz der Kurd*innen in Nordsyrien vor Angriffen durch die Türkei gefordert.

Im Gegensatz zu den üblichen staats- und auf Machtansprüchen bezogenen diplomatischen Reaktionen wird vor Ort allerdings eine Friedensstrategie sichtbar, die auf einer Lösung der Probleme der Gesellschaften, auf einer demokratischen Lösung fußt. Der Frieden muss demnach von der Gesellschaft ausgehen und deren Willen verwirklichen.

Diese Herangehensweise zeigt sich darin, dass der basisdemokratische Aufbau trotz Angriffsgefahr gezielt vertieft und ausgeweitet wird. Es werden weitere Kommunen gegründet, Kindergärten, Frauenkooperativen und Jineolojî-Zentren eröffnet. Bei der Eröffnung des Jineolojî-Forschungszentrums in Hesekê am 8.1.2019 wurde erklärt, dies sei „die beste Antwort auf alle Angriffsdrohungen“ (ANF 8.1.2019).

Der langjährige PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, der sich seit 1999 in türkischer Haft befindet, wird auch von vielen Kurd*innen in Syrien als Repräsentant der kurdischen Bewegung gesehen. Seine politische Philosophie prägt das gesellschaftliche Modell der Selbstverwaltungsregion, und seine Ausarbeitungen für eine Theorie der demokratischen Lösung und die Roadmap for Peace (Öcalan 2009, deutsch 2013) erhalten aktuell große Beachtung. Öcalan äußert sich zu den Entwicklungen in Syrien wie folgt: Die SDF könnten „für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und
einen Status erreichen […], der den Prinzipien der
lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert“ (Öcalan et al. 2019, S. 6). Öcalan hält „es für notwendig, auf eine verfassungsrechtliche demokratische Lösung vorbereitet zu sein und Wege zu entwickeln, die auch das syrische Regime überzeugen können. Wenn in Nordsyrien innerhalb der Gesamtheit Syriens Methoden wie Autonomie, Föderation und ähnliches entwickelt werden, ist es seiner Meinung nach wichtig, dass dabei
eine politische
Denkweise berücksichtigt wird, die ganz Syrien umfasst.“ (ANF 21.6.2019)

Um diese Idee einer demokratischen Friedenslösung zu verwirklichen, müssen Friedensverhandlungen gesellschaftlich in einen umfassenden Kommunikationsprozess eingebunden sein und den Willen der Gesellschaft umsetzen, statt über den Kopf der Bevölkerung hinweg festgelegt zu werden. Dieser Friedensprozess muss unter Einbeziehung der PYD, des Exekutivrates sowie des Frauenrates der Föderation Nord- und Ostsyrien den demokratischen, geschlechterbefreienden und ökologischen Aufbau in Rojava absichern. Die Beteiligung der organisierten Frauen ist dabei essentiell.

Frieden und Demokratischer Konföderalismus in Syrien

Die SDF gründeten Ende 2015 das politische Dachbündnis »Demokratischer Rat Syriens« (SDC). Beide setzen sich für ein säkulares, demokratisches und föderal gegliedertes Syrien ein. Ilham Ahmed, 2018 Ko-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens und heute Exekutivratsvorsitzende der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien, erklärte: „Das ganze syrische Volk hat in Bezug auf Freiheit und Recht Probleme. Es gibt nicht nur Probleme der Kurdinnen und Kurden, einer Nation oder eines einzelnen Bereiches. Das syrische Volk ist mit einer ganzen Reihe von Themen
unglücklich. Wir wollen Damaskus demokratisieren. Wir
wollen ganz Syrien demokratisieren.“ (Duran und Baslangiç 25.8.2018) Im Sommer 2018 schlug der SDC bei einem Treffen mit der syrischen Regierung das Modell der Demokratischen Autonomie als Lösung für ganz Syrien vor – ohne Erfolg.

Inzwischen wurde der SDC in eine Organisation umgewandelt, die mittels Dialog die Einheit der syrischen Opposition herstellen soll. Dazu wird ein gesamtsyrischer Nationalkongress vorbereitet. Ein Entwurf für eine neue syrische Verfassung sieht die Einheit und Gesamtheit Syriens vor sowie ein politisches System, das den Aufbau eines dezentralisierten und demokratischen Syrien ermöglichen soll. Entsprechend Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates werden eine politische Lösung und ein Waffenstillstand, das Ende der Besatzung und der Abzug des ausländischen Militärs vom syrischen Gebiet
gefordert (ANF 29.3.2019).

Die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ist eine entscheidende Voraussetzung für eine Friedenslösung für Syrien. Eine Rückkehr zum Zustand vor 2011 ist für die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava ausgeschlossen. Außerdem muss Afrîn an die vertriebene, mehrheitlich kurdische Bevölkerung zurückgegeben werden.

Im Juni 2019 sprach sich die nord­ost-syrische Tev-Dem (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) für die Wiederbelebung der Genfer Friedensgespräche unter Leitung der Vereinten Nationen und mit Beteiligung der Vertreter*innen der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien aus. Außerdem wurde die Einrichtung eines internationalen Tribunals gefordert, vor das IS-Mitglieder gestellt werden sollen (Azadi/Güler 13.6.2019).

Im »Friedensgutachten 2018« der vier führenden deutschen Friedensforschungsinstitute wurde die Empfehlung an die Bundesregierung gegeben, diplomatisch und öffentlich auf einen Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien und dem Irak hinzuwirken. Außerdem solle die Bundesregierung sich „nachdrücklich für eine politische Lösung der Fragen einsetzen, die mit den kurdischen Forderungen nach Selbstbestimmung einhergehen. Dazu sollte sie auf die Einbeziehung der PYD [als Vertretung der Selbstverwaltungsregion, Anm. Autorin] in die Verhandlungen über Syriens Zukunft
bestehen.“
Deutschland solle Waffenexporte in die Region stoppen und eine pro-aktivere Rolle für den Friedensprozess übernehmen (Bonn International Center for Conversion et al. 2018, S. 38).

In den letzten Monaten besuchten zahlreiche Regierungsvertreter*innen die Föderation Nord- und Ostsyrien, u.a. aus Norwegen, Schweden, Frankreich und Australien, und werteten die Föderation damit auf. Deutschland vermeidet weiterhin die diplomatische Kontaktaufnahme mit der Föderation und drückt sich vor der Rückführung deutscher IS-Kämpfer*innen und derer Angehörigen. Immerhin beteiligt sich die Bundesregierung an internationalen Treffen, die die Einrichtung eines internationalen Straftribunals für die Verurteilung der IS-Verbrecher*innen, die u.a. in der Föderation Nord- und Ostsyrien
inhaftiert sind, prüfen.

Auf zivilgesellschaftlicher Ebene werden bereits seit einigen Jahren Kooperationsbeziehungen mit Einrichtungen der selbstorganisierten Gesellschaft in Nordsyrien gepflegt, unter anderem im Gesundheitsbereich, als Hochschulkooperationen, als Schul- und Städtepartnerschaften oder als Partnerschaften zwischen Buchläden und Kindergärten.

Anmerkung

1) Unerfreulicher Weise hatten auch Teile der Friedensbewegung bereits die Macht des IS akzeptiert und Verhandlungen zur politischen Machtbeteiligung gefordert – das ist so falsch und gefährlich wie ähnliche Forderungen für die Beteiligung der Taliban in Afghanistan mittels Friedensverhandlungen.

Literatur

Ajansa Nûçeyan a Firatê (ANF) ist eine kurdische Nachrichtenagentur und publiziert in neun Sprachen, darunter Deutsch; anfdeutsch.com.

ANF 8.1.2019: Jineoloji-Forschungszentrum in Hesekê eröffnet.

ANF 28.3.2019: Siegesfeier der YPJ – Auch Efrîn werden wir befreien.

ANF 29.3.2019: Abschlusserklärung des 3. Syrischen Dialogforums.

ANF 3.5.2019: QSD – Indirekte Verhandlungen mit der Türkei.

ANF 21.6.2019: Den dritten Weg stärken: Nicht abwarten, aufbauen!

Azadi, M.; Güler, A.(2019): Xelîl: Es bedarf neuer Friedensgespräche für Syrien; 3.6.2019, anfdeutsch.com

Benario, A. (2019): Wir geben es nie mehr her! Kurdistan Report Nr. 203.

Bonn International Center for Conversion (BICC); Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK); ­Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH); Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) (2018): 2018 / Kriege ohne Ende. Mehr Diplomatie – weniger Rüstungsexporte / friedensgutachten. Berlin: LIT.

Duran, R.; Baslangiç, C. (25.8.2018): Die Türkei ist ein Besatzerstaat, der aus Syrien vertrieben werden wird. Interview mit Ilham Ahmed; ­civaka-azad.org.

Krieg, R. (2019): Experiment Rojava in Syrien – Eine Gesellschaft im Aufbruch. Dokumentarfilm Phoenix; youtube.com/watch?v=O3dA1Khn4jo.

Öcalan, A. (2013): Die Roadmap für Verhandlungen. Bonn: Pahl-Rugenstein.

Öcalan, A.; Yildirim, H.; Konar, Ö.H.; Aktas, V. (2019): 7-Punkte-Erklärung. Informationsdossier von Civaka Azad, 10.6.2019; civaka-azad.org.

Tev-Dem 21.3.2019: Der IS ist besiegt, der Kampf geht weiter; anfdeutsch.com.

Dr. Mechthild Exo ist Lehrkraft für internationale Entwicklung, Transkulturalität, Diversität und Gender an der Hochschule Emden/Leer, Friedens- und Konfliktforscherin sowie Mitglied des ­Jineolojî-Forschungszentrums Brüssel.

Der vorsätzliche Bruch des Völkerrechts in Syrien

von Karin Leukefeld

Die Charta der Vereinten Nationen, die bis heute Geltung hat, beginnt so: Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, […]“. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet und trat am 24. Oktober des gleichen Jahres in Kraft (Vereinte Nationen 1945).

In Kapitel I, Artikel 1 werden die „Ziele und Grundsätze“ bestimmt, nach denen die UN-Mitgliedsstaaten handeln sollen, um, wie in der Präambel ausgeführt, „als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“ und „um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“.

In Artikel 2 verpflichten sich alle Unterzeichnerstaaten auf den „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ (Punkt 1); in Punkt 3 heißt es: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“ Punkt 4: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen
der Vereinten Nationen unvereinbare
Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Mit anderen Worten: Es gilt das Prinzip der Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Ausnahmen davon sind streng begrenzt und werden in Kapitel VII der UN-Charta geregelt. Nur wenn die »kollektive Sicherheit« bedroht ist, kann das Prinzip der Nichteinmischung ausgesetzt werden. Einen solchen Sachverhalt hat der UN-Sicherheitsrat festzustellen.

50 Länder gehörten damals den Vereinten Nationen an, unter ihnen auch Syrien, Irak, Libanon und Iran. Syrien, Irak und Libanon waren zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem französischen bzw. britischen Mandat entlassen worden. Doch schon unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit und nach der Unterzeichnung der UN-Charta sah Syrien sich am 29. März 1949 durch einen von der US-amerikanischen Cen­tral Intelligence Agency (CIA) gesteuerten Putsch in seiner Eigenständigkeit und unabhängigen Entwicklung bedroht. Direkte und indirekte Interventionen in Syrien, Irak, Iran und Libanon halten bis
heute an.

Die Vereinigten Staaten von Amerika gehörten mit der Sowjetunion 1945 zu den treibenden Kräften für die Gründung der Vereinten Nationen. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und noch mehr seit dem 11. September 2001 haben die USA sich von den Vereinten Nationen und vom Völkerrecht immer weiter entfernt.

Der Bruch des Völkerrechts in Syrien

Alle grundlegenden Punkte der UN-Charta wurden und werden in Syrien seit 2011 von den USA und ihren Verbündeten missachtet, gebrochen und verhöhnt. Westliche Diplomaten mischten sich in die innenpolitisch motivierten Proteste im Frühjahr 2011 ein; Nachbarländer und Regionalmächte schickten Waffen, halfen bei der Gründung der »Freien Syrischen Armee« und förderten die Militarisierung. Geholfen wurde bei der Gründung von Medienzentren, mit der Ausbildung von »Bürgerjournalist*innen« und mit der Gründung eines »Syrischen Zivilschutzes«, den so genannten »Weißhelmen«. Allerdings gibt es bereits
seit 1953 einen Zivilschutz in Syrien.

Weder die Türkei noch Jordanien noch die Herkunftsländer verhinderten, dass Tausende Kämpfer illegal über die Grenze nach Syrien gelangten.

Ein Dialog mit der syrischen Regierung wurde verweigert. »Militärische Operationszentren« (englisch: MOC, Military Operation Center) in Amman und in der Türkei unterstützten die bewaffneten Gruppen mit Sold, Waffen, Ausbildung. Dem Aufstieg des »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« (ISIS) und Al-Qaida-naher Milizen sah der Westen zu; die Regierung in Damaskus sollte gestürzt werden (junge Welt 2015). Bis heute findet die syrische Armee Waffenlager und -verstecke mit großen Mengen an Munition und Waffen aus westlichen Rüstungsschmieden (PressTV 2019).

Nicht ein Mal griff Syrien seine Nachbarstaaten, Europa oder die USA an.

Die völkerrechtswidrige Einmischung westlicher Staaten und ihrer Partner in Syrien ist vielfach belegt. Die syrische Regierung protestierte mit Hunderten Briefen an den UN-Generalsekretär und den UN-Sicherheitsrat gegen die Angriffe auf das syrische Territorium und die staatliche Souveränität. Ohne Erfolg. Auch der Protest gegen Hunderte nicht provozierte israelische Raketenangriffe auf angebliche iranische Stellungen in Syrien blieb seitens des UN-Sicherheitsrates unbeantwortet.

Die militärische Einmischung bis hin zur US-geführten »Anti-IS-Allianz« in Syrien findet ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und ohne Zustimmung der syrischen Regierung statt. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Neu 2018). Die Präsenz Russlands und Irans dagegen basiert auf einer Vereinbarung mit der rechtmäßigen Regierung in Damaskus, das entspricht dem Völkerrecht.

Die USA haben – völkerrechtswidrig – mehr als zwei Dutzend Militärbasen in Syrien errichtet. Dort werden US-kon­trollierte Kampfverbände ausgerüstet und ausgebildet. Eine US-Basis, Al Tanf, liegt im Dreiländereck Syrien-­Jordanien-Irak. Um die Basis Al Tanf wurde von der US-Armee eine 50 km breite »Sicherheitszone« gezogen. Syrische Soldaten, die das Territorium in Richtung des syrisch-irakisch-jordanischen Grenzgebietes durchqueren wollen, werden mit Luftangriffen und Beschuss daran gehindert. Der UN-Sicherheitsrat hat solche Angriffe nicht legitimiert.

Die anderen US-Militärbasen einschließlich Flughäfen liegen östlich des Euphrat auf dem Gebiet, das von den syrischen Kurden und den von ihnen geführten »Syrischen Demokratischen Kräften« kontrolliert wird. In diesen Gebieten liegen die syrischen Öl- und Gasvorkommen, hier wird Baumwolle angebaut, die Provinz Hasakeh gehört zu den größten Weizenanbaugebieten des Landes. Der Zugang zu den syrischen Ressourcen wird der syrischen Regierung verweigert. In der Provinz Deir Ez-Zor hat die US-geführte Koalition alle Brücken zerstört. Jeder Versuch der syrischen Armee und ihrer Verbündeten, den
Euphrat zu überqueren, wird von der US-Armee und der »Anti-IS-Allianz« militärisch verhindert. Als Begründung für Luft- und Raketenangriffe auf die syrischen Truppen verweist die US-geführte Koalition auf „Selbstverteidigung“ (South Front 2018a). Die Militärbasis Ain Issa, von der aus mindestens 200 US- und 75 französische Soldaten operieren, ist inzwischen regelmäßiger Treffpunkt westlicher Delegationen, die mit den SDF und der kurdischen Zivilverwaltung verhandeln wollen. Die Präsenz der US-Armee und ihrer Verbündeten in Syrien ist illegal. Alle, die sich daran beteiligen, nehmen
den Bruch des Völkerrechts billigend in Kauf.

Die Aufteilung Syriens

Auch wenn US-Präsident Donald Trump dafür gewählt wurde, dass er die US-Truppen aus dem Mittleren Osten abzieht, teilt er im Prinzip das, was seine Außen- und Verteidigungsminister für die Region vorgeben: Syrien soll geteilt und die Regierung in Damaskus ebenso wie ihre Verbündeten Russland und Iran militärisch und wirtschaftlich geschwächt werden.

Im Dezember 2018 kündigte Trump an, die offiziell 2.000 Soldaten aus Syrien abzuziehen. Bereits ein Jahr zuvor hatte er das ebenfalls angekündigt, war aber im US-Außenministerium und im Pentagon auf Widerstand gestoßen. Weil man dort unbedingt verhindern will, dass die syrische Armee die Kontrolle über ganz Syrien wieder herstellt, hieß es, ein »Vakuum« müsse verhindert werden, weil sich sonst der »Islamische Staat« erneut festsetzen könnte.

Die völkerrechtlich gebotene Entwicklung wäre, dass die syrische Armee die Kontrolle über das eigene Territorium nordöstlich des Euphrat nach einem US-Abzug übernimmt und bei der Bekämpfung der Terrororganisation »Islamischer Staat« unterstützt werden muss. Das ist in Washington nicht vorgesehen. Man sprach sich mit den Verbündeten in einer »Kleinen Syriengruppe« – neben den USA gehören dazu Großbritannien, Frankreich, Saudi-Arabien, Jordanien – ab.

Aus einem bekannt gewordenen Protokoll des Treffens der »Kleinen Syriengruppe« im Januar 2018 geht hervor, dass und wie Syrien aufgeteilt werden soll. Die Gebiete östlich des Euphrat sollen zu einem autonomen Gebiet »Ost-Euphrat« werden, die syrische Opposition – einschließlich der Kurden – soll politisch gestärkt werden. Sie sollten „sich flexibel zeigen […] ohne das endgültige Ziel aus den Augen zu verlieren: Syrien zu teilen und Assad zu beseitigen“, wird David Satterfield, stellvertretender Staatssekretär für den Nahen Osten im US-Außenministerium, in
dem Protokoll zitiert (Rubikon 2018). Seit April 2018 gehört auch Deutschland der »Kleinen Syriengruppe« an (dpa 2018 und Co-op News 2018). Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt es für die Gruppe nicht.

Der ursprünglich für Ende April 2019 angekündigte US-Truppenrückzug aus Syrien hat nicht stattgefunden. Prämisse bleibt, dass das Gebiet dauerhaft Damaskus und der syrischen Armee entzogen bleiben soll. Dafür braucht Washington die syrischen Kurden und muss eine militärische Präsenz ohne eigene Soldaten sichern. Drei unterschiedliche Szenarien wurden entwickelt:

  • Plan A: Mithilfe des privaten Sicherheitsunternehmens von Blackwater-Gründer Eric Prince sollte zunächst eine 30.000 Soldaten starke Armee aus Kurden, Stämmen und Söldnern aufgestellt werden. Bezahlen sollten die Golfstaaten. Elitetruppen der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens befinden sich bereits in den Gebieten östlich des Euphrat.
  • Plan B: Ein anderes Szenario sieht das Vorrücken der türkischen Armee in die Gebiete östlich des Euphrat vor, was sowohl von den Kurden als auch von den europäischen und arabischen Verbündeten der USA abgelehnt wird.1
  • Plan C: Ein neuer Vorschlag ist, dass die europäischen Partner der USA – Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien, Holland und andere – gemeinsam mit der Türkei und den Golfstaaten eine 30 km breite Pufferzone im Nordosten Syriens militärisch sichern sollen (Gebauer und Schult 2019).

Keines dieser Szenarien bewegt sich auf dem Boden des Völkerrechts. Keines dieser Szenarien wurde im UN-Sicherheitsrat auch nur diskutiert, geschweige denn vereinbart. Die USA und ihre Verbündeten nehmen das Völkerrecht in die eigenen Hände.

Syrische Kurden in der Zwickmühle

Ohne Verbündete vor Ort – die syrischen Kurden – wäre das nicht möglich. Die aber sind in einer Zwickmühle, seit sie die großzügige militärische Unterstützung der US-Armee 2014 annahmen, sie beim Kampf um Kobane/Ain Al Arab gegen den »Islamischen Staat« zu unterstützen. Heute gelten sie als die »Partner« der US-geführten »Anti-IS-Koalition«. Sie erhalten Geld, Waffen und logistische Hilfe, und die USA sorgen dafür, dass das Projekt »Rojava« umgesetzt werden kann. Die syrischen Ressourcen befinden sich unter kurdischer und US-amerikanischer Kontrolle und werden dem Rest des
Landes – das sind immerhin 70 Prozent – entzogen. Die einseitigen EU-Sanktionen, die den Wirtschaftssektor Syriens und selbst humanitäre Hilfe blockieren, treffen die syrischen Kurden nicht. Das von den USA verhängte Ölembargo gegen Syrien gilt nicht für die Gebiete östlich des Euphrat.

Auf die Frage, ob einseitige Sanktionen oder Embargos völkerrechtlich legal seien, sagte der UN-Sonderberichterstatter für die Folgen einseitig verhängter Sanktionen, Idriss Jazairy:

„Die Entscheidung des Sicherheitsrates, Sanktionen zu verhängen, wird von allen als legal, als rechtmäßig anerkannt. Sanktionen, die von einem Staat oder von einer Staatengruppe gegen ein anderes Land verhängt werden und die schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte haben und damit die Menschenrechte der einfachen Bevölkerung verletzten, sind illegal. […] Westliche Staaten betrachten die [einseitigen] Sanktionen als vertretbar, solange sie ihren eigenen Kriterien genügen. Die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sieht das nicht so.
Sie sind der Meinung, dass alle Sanktionen, die
ohne eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates verhängt werden, unrechtmäßig, also illegal sind. Es ist, als nehme man das Recht in die eigenen Hände. Wir haben aber zur Friedenserhaltung in der Welt das System der Vereinten Nationen geschaffen. Ja, es hat seine Unzulänglichkeiten, aber es ist die Friedensordnung, die nach dem 2. Weltkrieg in Kraft trat. Wenn man nun einseitige Sanktionen verhängt, dann schafft man ein neues System […]. Das bringt den Frieden in Gefahr. Und zwar den
Weltfrieden, nicht nur den
regionalen Frieden.“ (RT Deutsch 2019)

Das Adana-Abkommen – eine völkerrechtlich zulässige Lösung

Einen völkerrechtlich zulässigen Weg hat derweil Russland vorgeschlagen. Als neue Ordnungsmacht in der Region hat Russland 2015 auf Wunsch von Damaskus militärisch in den Krieg eingegriffen und sich durchgesetzt. Gleichzeitig hat Russland den Dialog zwischen allen Seiten in Syrien gefördert. Das führte nach der Befreiung von Aleppo Ende 2016 zu dem von Russland, Iran und der Türkei geförderten Astana-Prozess, bei dem zwischen der syrischen Regierung und einem Teil der Kampfgruppen verhandelt wird. Auch den Dialog zwischen den syrischen Kurden und der Regierung in Damaskus hat Russland
gefördert.

Für den Fall, dass die US-Armee ihre Truppen aus den Gebieten östlich des Euphrat tatsächlich abziehen sollten, und um ein »Vakuum« zu vermeiden, hat Russland eine Lösung vorgelegt: Die syrische Armee – unterstützt von russischer Militärpolizei – soll die Sicherheit in dem Gebiet zwischen Euphrat und syrisch-türkischer Grenze gewährleisten. Dieser Vorschlag entspricht dem Völkerrecht, denn es handelt sich um syrisches Territorium. Die syrischen Kurden und Damaskus sollen sich auf eine militärische Kooperation einigen – was von den Kurden bereits zugesagt wurde. Damaskus
soll den syrischen Kurden und ihren Parteien zudem kulturelle und politische Rechte einräumen.

Ankara will allerdings nach einem US-Truppenabzug gegen die politischen und militärischen Strukturen der syrischen Kurden in Nordostsyrien militärisch vorgehen, weil es sie als »terroristische Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei« ansieht. Um diese »Sicherheitsbedenken« der Türkei zu zerstreuen, hat Moskau vorgeschlagen, einen Vertrag aus dem Jahr 1998, das Adana-Abkommen, wiederzubeleben (Bilgic 2019). Darin ist die syrische Armee für den Schutz der rund 800 km langen Grenze zur Türkei verantwortlich.

Ein Rückblick

Das Adana-Abkommen war damals zwischen der Türkei und Syrien geschlossen worden und richtete sich gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die heute das Rückgrat der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ in Syrien bildet. Damals hatte die PKK – wie übrigens auch die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), beide aus dem Irak – einen »sicheren Hafen« in Syrien. Sie unterhielt in der damals von Syrien kontrollierten Bekaa-Ebene (Libanon) ein Ausbildungslager und konnte, wie KDP und PUK, ungehindert durch Syrien in den Nordirak
reisen.

Im Adana-Abkommen verpflichtete sich Syrien damals, die Ausbildungslager der PKK, ihre politische Mobilisierung und Organisierung der kurdischen Bevölkerung sowie ihre wirtschaftlichen Unternehmungen in Syrien zu stoppen. Inhaftierte PKK-Mitglieder sollten an die Türkei ausgeliefert werden. Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan wurde zur Ausreise aufgefordert. Die PKK zog sich in die Qandil-Berge im irakisch-iranischen Grenzgebiet zurück.

Das Abkommen könnte nun wiederbelebt werden, um die Türkei an einem Vormarsch in den Norden Syriens zu hindern und gleichzeitig Ankara und Damaskus wieder ins Gespräch zu bringen.

Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Türkei hat ihre eigene Art, das Abkommen zu interpretieren; die syrischen Kurden tun sich mit dem Adana-Abkommen verständlicherweise schwer. Die USA und ihre »Kleine Syriengruppe« haben kein Interesse an einer türkisch-syrischen Vereinbarung, mit der der völkerrechtlich legitime Status – die Kontrolle Syriens über sein gesamtes Territorium – wieder hergestellt wird. Der Astana-Prozess läuft den machtpolitischen Interessen der USA entgegen; der Astana-Gruppe müsse „der Stecker rausgezogen werden“, erklärte der US-Beauftragte für
Syrien, Botschafter James Jeffrey, Anfang Dezember 2018 (U.S. Embassy in Syria 2018).

Dass es um mehr als um Syrien geht, machte der frühere US-Außenminister Rex Tillerson im Januar 2018 klar. Für die USA sei es „entscheidend“, in der Region (Syrien und Irak) präsent zu bleiben, um gegen terroristische Gruppen und die mögliche Wiederauferstehung des »Islamischen Staates« kämpfen zu können, sagte Tillerson bei einem Vortrag in der Hoover Institution an der Stanford University. Die US-Armee werde „in Syrien militärisch präsent bleiben“, um den „bösartigen Einfluss des Iran in der Region“ zurückzudrängen. Erst wenn „Assad nicht mehr an der Macht
ist,
werden die USA eine Normalisierung zwischenstaatlicher wirtschaftlicher Beziehungen mit Syrien“ unterstützen. „Das wird dauern, wir sind geduldig“, so Tillerson weiter. In der Zwischenzeit würden die USA in die Stabilisierung“ einiger Gebiete „investieren“ (Shashkevich 2018).

Noch deutlicher wurde Tillerson Mitte Februar 2018 bei einer Konferenz in Kuwait. Im Gespräch mit Journalisten sagte er: „Die USA und die [Anti-IS-] Koalitionsstreitkräfte […] kontrollieren heute 30 Prozent des syrischen Territoriums und – damit verbunden – einen großen Anteil der Bevölkerung sowie der syrischen Ölquellen.“ Das reiche, um auf den politischen Prozess, der in Genf fortgesetzt werden solle, Einfluss zu nehmen (South Front 2018b und Leukefeld 2018).

Je länger die einseitige Entwicklung östlich des Euphrat von den USA und der »Kleinen Syriengruppe« gefördert und die Entwicklung im Rest Syriens mit illegalen einseitigen Sanktionen blockiert wird, desto mehr wird die gesellschaftliche Spaltung des Landes vorangetrieben. Das US-Außenministerium hat rund 2.000 Expert*innen entsandt, um den zivilen Aufbau östlich des Euphrat voranzutreiben. Bezahlt wird von Saudi Arabien, das jüngst eine Ministerdelegation in das Gebiet schickte (AMN 2019 und Syriahr 2019). Die Bundesregierung beteiligt sich mit so genannter Stabilisierungshilfe, die von
privaten und UN-Hilfsorganisationen in dem Gebiet umgesetzt wird. Einen Auftrag des UN-Sicherheitsrates dafür gibt es nicht, das Vorgehen folgt deutschen und westlichen Interessen. Nach dem Prinzip »Teile und herrsche« baut der Westen nördlich und östlich des Euphrat in Syrien einen Vasallenstaat.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Graphik »Turkey’s Planned Safe Area« auf pbs.twimg.com/media/DUOkbb6XUAIHmZp.jpg.

Literatur

AMN (2019): Saudi officials visit eastern Syria to meet with US, SDF delegations. Nachrichtenservic Al-Masdar Al-‘Arab (AMN); 15.6.2019; almasdarnews.com/.

Bilgic, T. (2019): Erdogan Faces Syria Choice as Putin Revives 21-Year-Old Treaty. 25.1.2019; bloomberg. com.

Co-op News (2018): Kleine Syriengruppe – Deutschland mit dabei / DerHintergrund. 0hne Datum; cooptv.wordpress.com.

dpa (2018): Neue diplomatische Initiative – Deutschland in Syrien-Kerngruppe. ZDF Nachrichten, 25.4.2018; zdf.de.

Gebauer, M.; Schult, C. (2019): Deutsche »Tornados« sollen Schutzzone in Nordsyrien absichern. SPIEGEL ONLINE, 30.5.2019; spiegel.de.

junge Welt (2015): Bericht der US Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem Jahr 2012, in Auszügen abgedruckt am 30.5.2015; ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html.

Leukefeld, K. (2018): Kampf um die Levante – Eskaliert der Krieg in Syrien? 17.2.2018; ­rubikon.news.

Neu, A. (2018): Anti-IS-Koalition bewegt sich völkerrechtlich auf extrem dünnem Eis. Pressemitteilung von Alexander S. Neu, Die Linke im Bundestag, 10. Juli 2018; linksfraktion.de.

PressTV (2019): Video – Militant weapons cache with Israeli, US-made munitions uncovered in Syria’s Quneitra; 23.4.2019; presstv.com.

RT Deutsch (2019): UN-Botschafter zu ­Syrien – Sanktionen des Westens sind Teil der Kriegsführung; 12.6.2019; youtube.com/watch?v=MfRbFt3KZ2E. Das ganze Interview von Karin Leukefeld mit Botschafter Idriss Jazairy steht unter dem Titel »Eine Stimme für die Menschen, die nicht gehört werden« auf nachdenkseiten.de (15.6.2019).

Rubikon (2018): „Lasst uns Syrien aufteilen!“ Ein diplomatisches Dokument entlarvt den US-Plan für Syrien. Exklusivabdruck aus der libanesischen Tageszeitung Al Akhbar. 3.3.2018; rubikon.news.

Shashkevich, A. (2018): U.S. wants peace, stability in Syria, Secretary of State Rex Tillerson says in policy speech at Stanford. 18.1.2018; news.stanford.edu.

South Front (2018a): Syrian War Report – US-led Coalition Struck Syrian Army In Deir Ezzor. 8.2.2018; southfront.org.

South Front (2018b): US State Secretary – Control Over Oil Fields Allows Washington To Influence Situation In Syria. 14.2.2018; southfront.org.

Syriahr (2019: About 24 hours after the Ain Issa meeting, a Saudi-American delegation meets SDF leaders, Sheikhs, and tribe elders in al-Omar oilfield. Syrian Observatory for Human Rights, 14.6.2019; syriahr.com.

U.S. Embassy in Syria (2018): Briefing With Special Representative for Syria Engagement Amb[assador] Jeffrey. 3.12.2018; sy.usembassy.gov.

Vereinte Nationen (1945): Charta der Vereinten Nationen, 26.6.1945; unric.org/de/charta.

Karin Leukefeld arbeitet als freie Korrespondentin im Mittleren Osten für Printmedien, Rundfunk, Fernsehen. Seit 2010 ist sie in Syrien akkreditiert.

Stellungnahme von W&F

Stellungnahme von W&F

von Redaktion und W&F-Vorstand

Zur Vergabe des Göttinger Friedenspreises an die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.« nahm W&F am 22. Februar 2019 wie folgt öffentlich Stellung.

Redaktion und Vorstand der Quartalszeitschrift »Wissenschaft und Frieden« (W&F), ausgezeichnet mit dem Göttinger Friedenspreis 2018, sind bestürzt über den Umgang mit dem designierten Preisträger 2019, dem Verein »Jüdische Stimmte für gerechten Frieden in Nahost e.V.«. Aus unserer Sicht gibt es keine stichhaltigen Belege für die Antisemitismusvorwürfe gegen diese Organisation von Jüdinnen und Juden in Deutschland, wie sie etwa vom Zentralrat der Juden in Deutschland nahe gelegt werden. Um die verdienstvolle Arbeit der »Jüdischen Stimme« zu diskreditieren, wird auf punktuelle
Verbindungen mit der BDS-Bewegung verwiesen, die israelischen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten entgegentritt.

W&F unterstützt die BDS-Bewegung nicht, hält damit verbundene Antisemitismusvorwürfe gegen die »Jüdische Stimme« jedoch für unangebracht. Wir stimmen hier überein mit Stellungnahmen internationaler jüdischer Intellektueller, die die Vorwürfe zurückweisen und sich für die freie Meinungsäußerung gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wenden.

Frieden in Israel und Palästina wird nicht durch Aufrüstung und Besatzung geschaffen, sondern durch Friedensengagement, Verständigung, Versöhnung und den Einsatz für Menschenrechte aller Akteure in der Region. Die »Jüdische Stimme« streitet für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel auf der Basis des internationalen Rechts und ist deshalb eine entschiedene Gegnerin der israelischen Besatzungspolitik. Sie ist sich in dieser Position einig mit den Friedensbewegungen in Israel und Palästina. Und sie hat sich seit ihrer Gründung eindeutig von Antisemitismus abgegrenzt.

Ungerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe führen nicht nur zu Rissen in der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft. Sie schwächen die Bekämpfung rechtsextremer Kräfte, die sich den gezielten Antisemitismus und die Diskriminierung von Minderheiten auf die Fahnen geschrieben haben.

Daher ist es problematisch, für die Preisverleihung an die »Jüdische Stimme« Räumlichkeiten, finanzielle Zuschüsse und sonstige Unterstützung zu entziehen, was praktisch einem Boykott einer jüdischen Organisation durch deutsche Institutionen gleichkommt. W&F bittet die beteiligten Institutionen und Personen, die verfügbaren Fakten über den Verein »Jüdische Stimme« zu rezipieren und ihre Haltung zu den Vorwürfen zu überprüfen. Nur in einer sachlichen und fairen Debatte ist es möglich, die eigenen Positionen frei von Ängsten und Vorurteilen zu überprüfen und ggf. zu revidieren.

Genau dafür setzt sich die »Jüdische Stimme« ein und verdient daher unsere volle Unterstützung.

Im Namen von Redaktion und Vorstand von W&F
Regina Hagen, Redaktion und Anne Bieschke, Vorstand

Die Fakten dominieren


Die Fakten dominieren

Göttinger Friedenspreis 2019 für die »Jüdische Stimme«, 9. März 2019, Göttingen

von Regina Hagen

Im März 2019 wurde von der Stiftung Dr. Roland Röhl zum 21. Mal der Göttinger Friedenspreis verliehen. Preisträgerin ist die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.«. Die Organisation wurde ausgezeichnet für ihr unermüdliches Engagement, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, anstreben und erreichen zu können“ (aus der Jury-Entscheidung). Die Preisvergabe wurde von diversen Seiten allerdings mit dem Vorwurf kritisiert, die »Jüdische Stimme« müsse aufgrund ihrer Nähe zur BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft und die Preisverleihung daher abgesagt werden. Die Universität, die Stadt und die Sparkasse Göttingen zogen daraufhin ihre Unterstützung zurück. Die Preisvergabe fand in einem vollen, kurzfristig von privater Seite zur Verfügung gestellten Raum und in festlichem Rahmen dennoch statt.

Entscheidung und Begründung der Jury (Auszüge)

Die Jury hat entschieden, den Göttinger Friedenspreis 2019 an die Organisation »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.« zu verleihen …

… für ihr unermüdliches Engagement, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, anstreben und erreichen zu können. In Zeiten, in denen für immer weniger Menschen eine solche Friedenslösung überhaupt vorstellbar ist, dominieren die Fakten, die durch die seit über 40 Jahren andauernde völkerrechtswidrige Besatzung und zunehmende Besiedelung palästinensischer Gebiete geschaffen wurden. Menschen und Initiativen jedoch, die sich für eine gerechte Friedenslösung einsetzen, werden in Deutschland zunehmend als antisemitisch bzw. antiisraelisch diffamiert, ihre öffentlichen Auftritte werden verboten und ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit wird verletzt. […]

Die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« möchte darauf hinwirken, dass die Bundesregierung ihr außenpolitisches und ökonomisches Gewicht in der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen sowie in Nahost nachdrücklich und unmissverständlich dafür einsetzt, einen lebensfähigen, souveränen Staat Palästina auf integriertem Hoheitsgebiet und innerhalb sicherer Grenzen zu schaffen und sich damit aktiv an der Verwirklichung eines dauerhaften und für beide Nationen lebensfähigen Friedens zu beteiligen. […]

Laudatio von Nirit Sommerfeld, deutsch-israelische Künstlerin

[…] Menschen erkennt man an ihren Taten, ihren Handlungen, hat Hannah Arendt gesagt. Handeln und sprechen – Tätigkeiten, die im öffentlichen Raum stattfinden – gehören laut Hannah Arendt zusammen, und wenn Menschen sich sprechend und handelnd in die Welt einschalten, sagt sie, dann offenbaren sie, wer sie sind. Lassen Sie uns also gemeinsam sehen und vor allem hören, was die »Jüdische Stimme« öffentlich und in der Welt zu sagen hat.

Im Jahre 2003 wählte eine Gruppe von in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden den schicksalhaften 9. November zum Gründungstag einer neuen Organisation. […] Der 9. November war […] nicht zufällig gewählt. Der 9. November 1938, die Reichspogromnacht, ist für immer in unser Gedächtnis eingebrannt und mahnt uns, die Zeichen von Ausgrenzung, Erniedrigung und Entrechtung von jüdischen Menschen in Deutschland niemals zu vergessen. Am 9. November 1938 wurde aller Welt, zumindest in Deutschland, klar, dass der systematischen und massenhaften Vernichtung von Jüdinnen und Juden Tür und Tor geöffnet wurde, indem sie endgültig ihrer Selbstbestimmung beraubt wurden.

Es darf daher symbolisch verstanden werden, dass die kleine Gruppe von Frauen und Männern der »Jüdischen Stimme« ausgerechnet den 9. November 65 Jahre später wählte, um sich ihr Recht auf Selbstbestimmung als Jüdinnen und Juden hier in Deutschland zurückzuholen. Sie unterschrieben zu zehnt – auch diese Zahl war nicht zufällig gewählt – ein Papier, in dem sie ihr Selbstverständnis als Jüdinnen und Juden ausdrückten, ein Selbstverständnis, das sich aus dem selbst Erlebten in der jüdischen Erfahrungswelt hierzulande und in Israel speist. Die Zahl zehn steht für den Minjan, also die Mindestanzahl an mündigen Menschen, die nach jüdischer Lehre anwesend sein müssen, um einen vollständigen Gottesdienst abhalten zu können. […]

In [ihrem] Manifest distanziert sich die »Jüdische Stimme« eindeutig von jeder Form von Gewalt, von Antisemitismus, Anti-Islamismus und jeder anderen Form von Rassismus. Zum Existenzrecht des Staates Israel schreibt sie, es werde „ […]erst dann zur unangefochtenen und nicht gefährdeten Selbstverständlichkeit werden, wenn seine Regierung versteht, dass dasselbe Existenzrecht und ein Leben in Frieden und Würde auch für den benachbarten palästinensischen Staat und seine Bevölkerung unverzichtbar sind.“

Zuvor gab es keine jüdische Organisation in Deutschland, die vergleichbar gewesen wäre und als Vorbild hätte dienen können. […]

Was also tut die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«?

Nu – sie spricht!

Na gut, erst einmal schreibt sie. Sie verfasst Texte, die sie auf ihrer Website veröffentlicht. Damit trägt sie dazu bei, dass mehr Informationen über die Besatzungsrealität in die deutsche Öffentlichkeit gelangen. […] Neben den Originaltexten, die sie verfasst – und zwar aktiv, also nicht immer nur als Reaktion auf etwas, das gerade passiert ist – organisiert sie öffentliche Aktionen. Bereits 2006 sorgte sie jeden Freitag für Demonstrationen am Hacke’schen Markt in Berlin, parallel zu den Demonstrationen gegen die Trennmauer im palästinensischen Städtchen Bil’in. Dort marschieren seit Jahren Freitag für Freitag Palästinenser*innen an die nahe gelegene Sperrmauer, singen Lieder, skandieren „Schluss mit der Besatzung“ und werden von israelischen Soldaten von jenseits der Mauer mit Tränengas und Gummigeschossen beworfen.

Die »Jüdische Stimme« will, dass man in Deutschland davon erfährt. Darum redet sie Tacheles über das, was zwischen Mittelmeer und Jordan passiert. Und wenn es eine Demonstration gegen Antisemitismus gibt, dann beteiligt sich die Jüdische Stimme« und setzt dezidiert ein Zeichen: gegen jede Form von Antisemitismus, so wie sie es in ihrem Selbstverständnis manifestiert hat – Sie können das auf ihrer Website nachlesen -: „Positionen, hinter denen sich antisemitische Einstellungen verbergen, sind mit dem Anliegen der Jüdischen Stimme unvereinbar.“ […]

Die Jüdische Stimme war ihrer Zeit voraus; sie erkannte die Zeichen der Zeit bereits vor über 16 Jahren, darum rief sie damals schon laut und deutlich: „Nicht in unserem Namen!“. Natürlich vertritt auch sie nicht alle Jüdinnen und Juden! Jüdinnen und Juden – das mag Sie überraschen – sind keine homogene Gemeinschaft, weder religiös noch ethnisch! Weder in Israel noch in Deutschland. […] Es eint sie, dass jede*r von ihnen eine jüdische Mutter hat und dass sie die jüngste Geschichte des Judentums kennen. Vor diesem Hintergrund ist es unbegreiflich und unverantwortlich vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster, der »Jüdischen Stimme« in Zusammenhang mit der Verleihung des Göttinger Friedenspreises Antisemitismus vorzuwerfen – ganz gleich in welcher Form und in welchem Wortlaut er dies getan hat. Er hat nicht darüber zu bestimmen, wer Jude und noch dazu ein guter Jude ist. Das haben schon vor ihm andere getan, aber das werden wir nie wieder zulassen. Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Punkt. Da haben nicht einmal wir Juden selbst eine Wahl.

Die Aussagen des Zentralratspräsidenten haben zur Folge, dass das Ungeheuerliche passiert: Deutsche zeigen mit dem Finger auf Juden und bezichtigen sie des Antisemitismus! Wie absurd, wie anmaßend, im Jahre 2019! Diese Deutschen sind Kinder und Enkel der Täter, und sie sprechen zu Juden, deren Eltern oder Großeltern Naziopfer waren!

Seit es den Göttinger Friedenspreis gibt, findet der Festakt der Verleihung in der Aula der altehrwürdigen Georg-August-­Universität statt, gekrönt von einem anschließenden Empfang der Stadt Göttingen und mitfinanziert von der örtlichen Sparkasse. Bekanntlich haben der Oberbürgermeister, die Universitätspräsidentin und der Vertreter der örtlichen Sparkasse ihre Teilnahme zurückgezogen, um die Neutralität zu wahren“. Die Uni-Präsidentin schrieb mir noch, sie werbe für Verständnis für ihre Entscheidung, schließlich vertrete sie eine große Einrichtung, in der sich Menschen beider Seiten der Kontroverse befänden. „Die Zurverfügungstellung der Aula würde für die Universitätsleitung eine einseitige Parteinahme darstellen.“ Wie unfassbar! Was für eine Schande! sage ich da. […] Die Wahrheit ist: Es gibt keine Neutralität, wenn Menschen – in diesem Fall die Mitglieder der »Jüdische Stimme« – verleumdet und ausgegrenzt werden. […]

Die Verbrechen der Nazis sind unentschuldbar und dürfen nie vergessen werden. Im Gegenteil: Sie müssen uns ermahnen, wachsam zu sein und nie, nie, nie wieder Ausgrenzung, Rassismus, Unterdrückung und all die schrecklichen Folgen davon hinzunehmen. Damit ziehe ich ausdrücklich keinen historischen Vergleich! Er wäre unzulässig und falsch. Dass Jüdinnen und Juden von der »Jüdischen Stimme« sich so vehement für Menschenrechte in Israel und Palästina einsetzen, ist gerade wegen dieser Assoziationen extrem schmerzlich. Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, als Nestbeschmutzer, als selbsthassende Juden, als Verräter beschimpft zu werden? Einige konnten diesem Druck aus ihrem eigenen Umfeld nicht standhalten. Alle anderen ertragen ihn, weil sie jüdischen Werten und Menschenrechten verpflichtet sind. Das hat Konsequenzen, wenn man es ernst meint. Diese Menschen tun ihre Arbeit vielleicht mit Zorn und Wut, aber sie tun sie, weil sie sie qua ihrer Existenz tun müssen. Nicht, weil es so Spaß macht, sich in dieses Spannungsfeld und in die Gefahr der neuerlichen Ausgrenzung zu begeben. […]

Der »Jüdischen Stimme« wünsche ich für ihr weiteres Wirken den Mut, die Kraft und das Widerstandsvermögen, das sie bisher schon ausgezeichnet hat, und dass die Unterstützung anhält, die ihr gerade in den letzten Wochen zuteil wurde. Ihnen und uns allen wünsche ich, dass wir uns anstecken lassen von dem ungebrochenen Friedenswillen, den die »Jüdische Stimme« uns vorlebt, auch wenn wir hin und wieder einen hohen Preis dafür bezahlen müssen. Den Kritikern wünsche ich, dass sie den Worten, Rufen und Warnungen, auch den Erklärungen, Argumenten und Vorschlägen der »Jüdischen Stimme« einfach mal zuhören. Ich bin überzeugt, dass der Klang dieser Töne ihr Herz und ihren Verstand öffnen wird und es Wege zu einem friedlichen Miteinander gibt – hier in Göttingen, in Deutschland und auch in Israel und Palästina. Wenn wir es alle wollen, ist es kein Traum.

Rede der Preisträgerin Iris Hefets, Vorsitzende der »Jüdischen Stimme«

[…] Es ist eine große Ehre, einen Friedenspreis zu erhalten, und eine noch größere, in die ehrwürdige Liste der Träger des Göttinger Friedenspreises aufgenommen zu werden.

Nach diesen turbulenten Tagen sage ich dazu auch: Es ist eine große Errungenschaft. Wir sind wahrscheinlich der einzige Preisträger, der sich bei der Benachrichtigung über die Preisverleihung sehr freute, gleichzeitig aber schon wusste, dass er sich warm anziehen muss. Mit den Angriffen und Verleumdungen war zu rechnen. […]

Schon zum Zeitpunkt der Gründung war uns bewusst, dass wir einen Widerspruch aushalten müssen. Einerseits sind wir nicht besonders dafür qualifiziert, etwas zum Thema Frieden in Nahost zu sagen, nur weil wir Juden sind. Jüdisch sein ist ein Identitätsmerkmal und bedeutet keine Qualifikation für politisches Engagement oder spezielles Wissen. Die große und fundierte Unterstützung, die uns in den letzten Tagen nicht zuletzt von Nichtjuden erreichte, ist ein Beleg dafür.

Andererseits nehmen uns die israelischen Regierungen in Geiselhaft, wenn sie behaupten, für alle Juden der Welt zu sprechen. Deshalb sagen wir laut: „Nicht in unserem Namen!“. […]

In Deutschland erleben wir wiederholt einen Ablauf nach folgendem Muster: die Rechte der Palästinenser werden verletzt, es findet ein politischer Protest dagegen statt, die deutsche Presse findet – oder erfindet, wie erst jüngst durch »fake news« geschehen – einen antisemitischen Vorfall und am Ende wird von Antisemitismus geredet und diesbezüglich agiert, womit der ursprüngliche Protest erstickt ist. Trump entscheidet zum Beispiel, völkerrechtswidrig die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, junge Palästinenser protestieren in Berlin, ein Journalist der Berliner Zeitung behauptet, sie hätten „Tod den Juden“ auf Arabisch gerufen und sofort wird über Antisemitismus unter Muslimen gesprochen. Dass nach mühseligen Recherchen der Journalistin Emily Dische-Becker sich herausstellt, dass dieser Journalist kein Arabisch versteht und dass eine Prüfung aller Filme und Aufnahmen seine Behauptung nicht belegen kann – das geht unter. Auch weil es vielen im Lande passt. […]

Durch diese wiederholte schlechte Pressearbeit bleiben die Juden das ewige Opfer und die Palästinenser bzw. »Araber« ihre Täter, während Christen die Juden zu retten versuchen. Dieses Vorgehen wird seit Jahrzehnten von den israelischen Regierungen und ihren Institutionen und Unterstützern in- und außerhalb Israels orchestriert. […]

Die christlich orientierten Verbündeten Israels in Europa, den USA oder jetzt Brasilien verbreiten gemeinsam mit Israel die Idee eines Kampfes gegen den »Islam«. So kann der Staat Israel den Konflikt um Land, Rechte und Selbstbestimmung, den er konkret mit den Palästinensern hat, als Teilaspekt einer globalen Bedrohung verkaufen. Es geht dann nicht mehr um Handlungen von Israel, die Vertreibung der Palästinenser, die Enteignung ihres Besitzes und die Abriegelung von Gaza. Die gewaltsame Expansion Israels auf Kosten der Palästinenser wird als Widerstand gegen den global angreifenden Islam umgedeutet: Israel wird als Opfer stilisiert, während die Palästinenser die Täter sind, die aggressiv gegen Israel agieren, weil sie angeblich Antisemiten sind und nicht weil sie einen Befreiungskampf führen. Nach Lesart der israelischen Regierung geht es um einen religiösen Konflikt, der international ausgetragen werden muss und Allianzen zwischen Israel und radikalen Rechten, wie Orban, Salvini, Trump oder Bolsonaro und deren Parteien, begründet. Und wenn der Konflikt religiös ist und in der »Natur der Muslime« liegt, wie Israel propagiert, dann erübrigt sich eine Einigung mit den Palästinensern, es geht ja um einen existentiellen Kampf gegen »das Böse«. […]

Grund [unserer] politischen Verfolgung ist ein Zensurversuch. Wir, die »Jüdische Stimme«, haben, wie viele jüdische Friedensorganisationen weltweit, den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft unterschrieben. […] Der BDS-Aufruf […] hat das Ziel, mit gewaltfreien Mitteln Druck auf Israel auszuüben, politisch umzukehren und aus der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Sackgasse herauszukommen, in die Israel geraten ist. BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Diese sollen verfolgt werden, bis drei Bedingungen, die sich am Völkerrecht orientieren, erfüllt sind:

1. Beendigung der Besatzung und Kolonialisierung des 1967 besetzten arabischen Landes und Niederreißen der Mauer. Das klingt selbstverständlich, zumal diese Völkerrechtsverstöße schon durch den internationalen Gerichtshof zu solchen erklärt wurden. Israel unternimmt aber viel, um das Wort Besatzung zu löschen. Auch in der deutschen Presse wird mittlerweile von »Besatzung« in Anführungszeichen bzw. »angeblicher Besatzung« gesprochen.

2. Anerkennung des Grundrechts der arabisch-palästinensischen BürgerInnen Israels auf vollständige Gleichberechtigung. Das entspricht einer liberalen republikanischen Forderung, wie sie in vielen Verfassungen formuliert ist. Es bedeutet das Ende der Privilegierung einer ethnischen bzw. religiösen Gruppe. Und die Privilegierten sind angesichts dieser Forderung immer überzeugt, dass Gleichberechtigung für sie eine existentielle Bedrohung bedeutet. […]

3. Achtung, Wahrung und Unterstützung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge, wie in UN-Resolution 194 festgelegt, auf Rückkehr zu ihren Wohnstätten und Schadensersatz bei Verlust oder Beschädigung ihres Eigentums oder auf Entschädigung für den Fall, dass sie nicht zurückkehren wollen. Dieser Punkt rührt an ein Tabu und an eine große Angst der israelischen Juden. Wir unterstützen diese Forderung, weil wir hinter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 stehen. […]

Wir hoffen nichts mehr, als dass unsere Organisation nicht mehr benötigt wird. Wir alle, die hier heute sein können, und vor allem die Palästinenserinnen und Palästinenser, die jahrelang ohne Anklage im Gefängnis sitzen, darunter über 1.000 Minderjährige, oder die im Gazastreifen eingesperrt ihr Dasein fristen, wir alle haben viel Besseres und Lebendigeres zu tun.

Die Auszüge wurden zusammengestellt von Regina Hagen.
Die Dokumentation sowie Videos der Preisverleihung stehen unter goettinger-­friedenspreis.de online.

Bewegte Forschung


Bewegte Forschung

Protest zwischen Wissenschaft und Politik

von Janina Rott und Max Schulte

Vom Protest der französischen Gelbwesten über die Besetzung zentraler Plätze im Arabischen Frühling oder bei Occupy bis zum Protest gegen Windkraftanlagen, von Demonstrationen gegen AfD-Veranstaltungen bis zu PEGIDA und dem Protest gegen Flüchtlingsunterkünfte – überall zeigt sich Protest. Die Autor*innen untersuchen Phänomene des Protests und der Protestakteure aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Dabei skizzieren sie zugleich, welches gesellschaftsverändernde, progressive Potential sowohl die Protestbewegungen wie die Bewegungsforschung in sich bergen.

Die Anerkennung von Protest als politisches Handlungsinstrument ist Teil eines längeren Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses (Neidhardt und Rucht 1993). So war es Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Protest als irrationales Massenphänomen zu charakterisieren (exemplarisch Le Bon 1982): Die Masse sei verführbar und der*die Einzelne verliere in der Masse das Urteilsvermögen. Noch in den 1970er Jahren zählte man Protest zu den unkonventionellen Formen politischer Partizipation (Hoecker 2006, S. 10), zum Teil verbunden mit der Behauptung, es handele sich dabei um weniger legitime Handlungsformen. Am Ende dieses Normalisierungsprozesses wird die Legitimität nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.

Interessant ist, dass der Begriff des Protests unscharf und wenig konzeptualisiert erscheint. Oft begnügt man sich – wie in der Einleitung zu diesem Artikel – mit Aufzählungen von Protestereignissen und -formen. Die große Bandbreite von Protestformen, -akteuren und -inhalten macht eine gemeinsame Einordnung schwierig, sowohl deskriptiv (welche Phänomene gehören dazu?) als auch normativ (welche Proteste sind legitim?). So treten derartige Fragen beispielsweise bei Protestereignissen, wie dem G20-Gipfel in Hamburg, deutlich zu Tage. Gründe genug, sich dem Phänomen des Protests und der ihn tragenden Akteure eingehender zu widmen. Wir tun dies mit dem Ziel vor Augen, am Ende nicht nur die wissenschaftliche Perspektive auf Protest deutlich gemacht zu haben, sondern das Ineinandergreifen von Wissenschaft und emanzipativem Potential zu skizzieren.

Protest und soziale Bewegungen

Eine grundlegende Definition von Protest verweist auf „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“ (Rucht 2003, S. 23). Zwei Fragen stellen sich im Anschluss: Was unterscheidet Protest mit dieser Definition und mit Blick auf die Phänomene, die wir oben benannt haben, von anderen Formen politischer Partizipation? Und wer sind die nicht-staatlichen Träger?

Wenn wir die Dimensionen politischer Partizipation betrachten (z.B. bei Hoecker 2006, S. 11), dann deckt Protest ein weites Spektrum unverfasster Partizipation ab. Gerade die große Bandbreite unterschiedlicher Aktions- und Organisationsformen zeichnet Protest aus. Die Aktionsformen können auf einem Kontinuum zwischen legal und illegal, zwischen gewaltlos und gewaltsam angesiedelt sein. Der individuelle Einstieg in den Protest ist niedrigschwellig, gleichzeitig aber oft mit hohem – auch körperlichem – Einsatz verbunden. Somit ist Protest in sehr unterschiedlicher Intensität möglich, von der genehmigten Mahnwache bis hin zur Blockade eines Castor-Transports.

Zu den maßgeblichen gesellschaftlichen Protestakteuren gehören die sozialen Bewegungen. Nicht weil sie die einzigen sind, die protestieren, sondern weil für sie Protest die „prägende Bewegungspraxis“ (Roth und Rucht 2008, S. 13) ist. Als »soziale Bewegung« verstehen wir das kollektive soziale Handeln für das gemeinsames Ziel, relevante Strukturen der Gesellschaft bzw. des Staates zu verändern oder zu verteidigen. Dabei muss eine Bewegung keineswegs auf einen Umbruch des gesamten Systems hinarbeiten, stattdessen können auch nur einzelne Elemente betroffen sein.

Um diese Ziele zu erreichen, weisen soziale Bewegungen eine gewisse Dauerhaftigkeit und Kontinuität auf. Sie sind daher permanent darum bemüht, weitere Menschen für die Bewegung zu mobilisieren und auch die bisherigen Mitglieder immer wieder zum aktiven Handeln zu motivieren. Sie müssen, wie es der Begriff schon sagt, ständig »in Bewegung bleiben«. Typisch dafür ist auch das Erzeugen eines starken Wir-Gefühls mittels (politischer) Symbolik, Mode, Umgangsformen, Sprache, Habitus etc. Aber wer engagiert sich in sozialen Bewegungen? Es sind nicht immer die, denen es am schlechtesten geht, die von außen gesehen am meisten Anlass zum Protest haben. Gerade wenn es um Proteste geht, die sich jenseits der sozialen Frage auf postmaterialistische Werte gründen, dann ist Protest oft ein Mittelschichtphänomen (Hellmann 1995, S. 144 ff.).

Des Weiteren zeichnen sich soziale Bewegungen durch eine geringe Rollenspezifikation aus, d.h. es gibt kaum festgeschriebene Rollen und somit auch keine feste Organisation. Auch wenn die verschiedenen Bewegungen durchaus einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist dieser im Gegensatz zu formellen Organisationen (z.B. Vereine, Parteien) weitaus instabiler und unverbindlicher. Stattdessen gibt es in sozialen Bewegungen eine Vielfalt an Tendenzen, Organisationen und Aktionsansätzen (vgl. Beyer und Schnabel 2017, S. 13 ff.; Raschke 1991, S. 31 ff.).

Zusammenfassend lassen sich soziale Bewegungen somit als „Phänomene sozialen Handelns [definieren], bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen“ (Beyer und Schnabel 2017, S. 16).

Diese wissenschaftliche Definition grenzt sich sowohl von einem negativen Begriff von sozialen Bewegungen als irrationaler Masse (siehe Le Bon) als auch von einem emphatischen Bewegungsbegriff, der soziale Bewegungen als historische Akteure konzeptioniert, ab. Das öffnet den Blick auch für solche soziale Bewegungen, die nicht den klassischen Beispielen der Neuen Sozialen Bewegungen entsprechen, sondern z.B. einen autoritären Impetus haben.

Mit diesem Bild der Protestakteure und der großen Bedeutung, die der Mobilisierung zugeschrieben wird, stellt sich anschließend die Frage, wie diese Mobilisierung erklärt werden kann.

Antworten der Bewegungsforschung

Wenn wir von schlichten Ansätzen der Massenpsychologie oder der direkten Verbindung von Unzufriedenheit und Protest absehen, haben sich in der Bewegungsforschung in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungen für die Mobilisierungskraft sozialer Bewegungen herausgebildet.1

Eine ökonomisch geprägte Antwort auf die Frage der Mobilisierung ist – in starker Abgrenzung zur Massenpsychologie – der Ressourcenmobilisierungsansatz (McCarthy und Zald 1977). Hier wird, einfach formuliert, ein Bedingungsverhältnis zwischen den Ressourcen von Bewegungsorganisationen und ihrem Mobilisierungserfolg formuliert. Kurz gesagt: Mehr Ressourcen führen zu größerem Erfolg von Bewegungen. Erst der Zugang zu Ressourcen ermöglicht die Umwandlung von Unzufriedenheit in Mobilisierung. Die deutlichen Anleihen bei ökonomischen Begriffen und der Fokus auf Organisationen haben Kritik am Ressourcenmobilisierungsansatz hervorgerufen, weil wichtige Aspekte, wie die Umwelt der Bewegungen, die konkreten protestierenden Individuen und weniger strukturierte Protestphänomene, nur verkürzt einbezogen werden (Beyer und Schnabel 2017, S. 73 f). Trotz aller Kritik öffnet dieser Ansatz aber den Blick für die Rolle von Organisationen und für soziale Bewegungen als rational handelnde, strategische Akteure.

Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde von unterschiedlichen Wissenschaftler*innen der »Political Opportunity Structures«-Ansatz (della Porta 2013) geprägt, der im Gegensatz zur Theorie der Ressourcenmobilisierung die Rolle der Strukturen betont. Die Vertreter*innen des Ansatzes gehen davon aus, dass die Konfiguration des politischen Systems Protest entweder erschwert oder begünstigt. Dabei ist interessant, dass nicht nur die repressive Haltung eines Staates hemmend auf Protest wirken kann, sondern auch eine große Offenheit der politischen Institutionen. Warum protestieren, wenn die Interessen bereits durch etablierte politische Akteure aufgegriffen werden? Der Effekt struktureller Bedingungen darf dabei aber nicht als determinierend verstanden werden, sondern eben als Gelegenheitsbedingungen, die von sozialen Bewegungen wahrgenommen und genutzt werden müssen. Kritisiert wird an diesem Ansatz, dass hier tendenziell ein kausaler Zusammenhang zwischen Bedingungen und Protest formuliert wird, der sich empirisch nicht zeigen lässt.

Eine dritte Antwort ist Ergebnis eines »cultural turn«, der auch die Bewegungsforschung beeinflusst hat. Hier werden weniger Strukturen oder Ressourcen als vielmehr die kulturelle Bedeutungsarbeit sozialer Bewegungen in den Blick genommen. Mit Rückgriff auf Goffman (1977) formulieren als erste Snow et al. (1986) die Idee, dass der Erfolg sozialer Bewegungen maßgeblich von der strategischen Prägung von Themen und Begriffen (Framing) abhängig ist. Über dieses Framing gelingt es Bewegungen – oder auch nicht –, die Öffentlichkeit und andere Akteure zu mobilisieren. Die Perspektive des Framing öffnet damit den Blick für die besondere Bedeutung medialer Vermittlungsprozesse für soziale Bewegungen. Problematisch ist, dass sich der Framing-Ansatz stark auf Bewegungseliten, denen das strategische Framing zugeschrieben wird, konzentriert und weniger strategisch handelnde Akteure ausblendet (Beyer und Schnabel 2017, S. 186 ff.).

Wie so oft kann keiner der skizzierten Ansätze die Mobilisierung sozialer Bewegungen ganz erklären. Diese Feststellung hat in den letzten Jahrzehnten zu Weiterentwicklungen und Synthesen geführt.

Spannungsfelder der Bewegungsforschung

Neben die theoretischen Erklärungsversuche für das Handeln sozialer Bewegungen tritt eine umfangreiche empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld. Dabei steht die Praxis der Protestforschung angesichts ihres Gegenstands vor methodischen und normativen Spannungsfeldern. Wir gehen davon aus, dass diese von Forschenden der Friedensforschung wiedererkannt werden.

Forschungshindernisse

Aus der Praxis sozialer Bewegungen ergeben sich oft Hindernisse für konkrete Forschungen. Manches Protesthandeln findet versteckt statt, manche Bewegung möchte nicht (kritisch bzw. wissenschaftlich) beobachtet werden, z.T. schlägt Forscher*innen Feindseligkeit entgegen (z.B. PEGIDA). Auch die Auftraggeber*innen können zur Skepsis gegenüber Protestforschung beitragen, wenn z.B. der Verfassungsschutz antifaschistische Bewegungen oder ein Innenministerium Fußball-Ultras untersuchen lässt (vgl. Teune und Ullrich 2018).

„Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“

Die Protestforschung ist, wie im Zitat (Bratanovic 2017) angedeutet, durch eine häufig anzutreffende Affinität der Forscher*innen mit dem Gegenstand geprägt. Viele Forscher*innen verstehen sich selber als Teil von Bewegungen oder grenzen sich – im Fall rechtsextremer Bewegungen – explizit von diesen ab. Dies geht oft über die auch in anderen Disziplinen übliche normative Positionierung der Forschenden hinaus. Die Klärung der Positionierung zwischen Nähe und Distanz zum Gegenstand bedarf daher einer erhöhten Reflexion (Rucht 2014, S. 87 f.), wenn dieses Spannungsfeld produktiv ausgehalten und genutzt werden soll. Die Auseinandersetzungen mit Bewegungen wie PEGIDA oder G20 sind Beispiele dafür, dass Protestforschung immer auch Teil einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, in der sich die Forscher*innen positionieren müssen.

Grenzen des legitimen Protests

Aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage nach Grenzen des Protests. Wann wird Protest nicht mehr als legitim erachtet und als Konsequenz daraus mit öffentlicher Ächtung und staatlicher Repression konfrontiert? Ist ziviler Ungehorsam eine legitime Form des Protests? Es ist wichtig festzuhalten, dass es auf diese Frage keine objektive Antwort gibt, sondern die Frage der Legitimität gesellschaftlich und wissenschaftlich umkämpft ist.

Wozu Protestforschung?

Die Bewegungsforschung zieht ihre Legitimation einerseits aus der wissenschaftlichen Praxis der Ergebnisproduktion. Andererseits versuchen Forschende aber als Konsequenz der eigenen Positionierung auch, bewegungsrelevantes Wissen zu produzieren. Das kann zu einem Konflikt mit dem eigenen Wissenschaftsverständnis führen. Stelle ich meine Nähe zur Bewegung über die Standards wissenschaftlicher Arbeit? Kann ich beide Interessen miteinander in Einklang bringen?

Emanzipatorisches Potential

Für uns steht am Ende dieses kurzen Streifzugs durch Protest und Protestforschung die Frage nach dem gesellschaftsverändernden, progressiven Potential von Bewegungen, aber auch der Bewegungsforschung. Wir sind als Forscher*innen und als Protestierende nicht nur an der Wissensproduktion interessiert, sondern verfolgen auch politische und gesellschaftliche Ziele. Wir gehen davon aus, dass gerade aus den Spannungsfeldern, in denen soziale Bewegungen und Protestforschung stecken, ein emanzipatorisches Potential erwächst, das wir hier andeuten.

Forschung

Die Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest hat das Potential, sowohl für die einzelnen Forscher*innen als auch für Bewegungen gewinnbringend zu sein. Die intensive Auseinandersetzung mit Protestierenden, ihren Lebenswelten und politischen Forderungen ermöglicht Forscher*innen neue Zugänge zur eigenen politischen Partizipation und verweist darauf, das Forscher*innen keine objektiven Beobachter*innen sind. Gleichzeitig kann die Forschung zu Protest auch für soziale Bewegungen hilfreich sein. Das Wissen, das über Bewegungen generiert wird, kann für diese einen praktischen Mehrwert haben. So können erforschte Probleme in Zukunft von Bewegungen verbessert und Strategien entwickelt werden. Eine partizipative und aktionsorientierte Forschung ermöglicht die im besten Fall gemeinsame Theorieentwicklung von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen.

Bewegungen

Ohne soziale Bewegungen als historischen Fortschrittsakteur zu verklären, sind sie und ihr Protest doch zentral für die Forderung nach einer besseren Welt. Protest hat einen Mehrwert, der in demokratischen ebenso wie in autokratischen politischen Systemen von großer Relevanz ist. So unterscheidet sich Protest, wie sich gezeigt hat, in seiner Form wesentlich von anderen Formen der Partizipation. Protest ermöglicht es, in Form von spontanem und nicht-institutionellem Handeln gesellschaftlich relevante Themenschwerpunkte zu setzen und den Diskurs zu verändern. Gleichzeitig wird dabei öffentlicher Druck ausgeübt, der die Legitimation staatlichen Handelns in Frage und somit auch auf den Prüfstand stellt, was wesentlich für die Legitimierung demokratischer Systeme ist. Gleichzeitig darf das damit einhergehende Risiko nicht übersehen werden. Protestakteure, die für autoritäre politische Forderungen eintreten, hat es immer gegeben und gibt es auch heute. Wir gehen daher davon aus, dass nicht alle sozialen Bewegungen ein emanzipatorisches Potential haben, es aber ohne soziale Bewegungen keine Emanzipation geben wird.

Anmerkungen

1) Unser Ziel ist hier vor allem eine Darstellung der grundlegenden Ideen und weniger eine Abbildung der Komplexität von Protestforschung. Ein Überblick findet sich z.B. bei Beyer und Schnabel 2017; Buechler 2011.

Literatur

Beyer, H.; Schnabel, A. (2017): Theorien sozialer Bewegungen – eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus.

Bratanovic, D. (2017): „Der Protestforscher ist eher links bis linksliberal“ – Gespräch mit Peter Ullrich. Über die Widrigkeiten im Wissenschaftsbetrieb und die Gefahren der Vereinnahmung der eigenen Forschungen durch den Staat. junge Welt, 5.8.2017.

Buechler, S. M. (2011): Understanding social movements – theories from the classical era to the present. Boulder: Paradigm.

della Porta, D.(2013): Political opportunity/pol­itical opportunity structure. In: Snow, D.A. et al. (ed.): The Wiley-Blackwell encyclopedia of social and political movements. Wiley-Blackwell encyclopedias in social science, MA: Wiley, S. 956-961.

Goffmann, E. (1977): Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hellmann, K. (1995): Systemtheorie und neue soziale Bewegungen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Hoecker, B. (2006): Politische Partizipation – systematische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest – eine studienorientierte Einführung. Opladen: Barbara Budrich, S. 3-20.

Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner.

McCarthy, J.D.; Zald, M.N. (1977): Resource mobilization and social movements – A partial theory. American Journal of Sociology, Vol. 82, Nr. 6, S. 1212-1241.

Neidhardt, F.; Rucht, D. (1993): Auf dem Weg in die »Bewegungsgesellschaft«? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. Soziale Welt, Vol. 44, Nr. 3, S. 305-326.

Raschke, J. (1991): Zum Begriff der sozialen Bewegung. In: Roth, R.; Rucht, D. (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 31-39.

Roth, R.; Rucht, D. (2008): Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 – Ein Handbuch. Frankfurt/New York: Campus, S. 9-36.

Rucht, D. (2003): Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 17-155.

Rucht, D. (2014): Zum Stand der Forschung zu sozialen Bewegungen. In: Mittag, J.; Stadtland, H. (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen: Klartext, S. 67-86.

Snow, D.A. et al. (1986): Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation. American Sociological Review, Vol. 51, Nr. 4, S. 464-481.

Teune, S.; Ullrich, P. (2018): Protestforschung mit politischem Auftrag? Forschungsjournal soziale Bewegungen. Vol. 31, Nr. 1-2, S. 418-424.

Janina Rott und Max Schulte arbeiten an der Universität Münster und beschäftigen sich u.a. mit sozialen Bewegungen.

Partizipation der Friedensbewegung

Partizipation der Friedensbewegung

Radikal und pragmatisch

von Ulrich Wohland

Die Einflussmöglichkeiten der Friedensbewegung in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts scheinen bisweilen gering. Der Autor plädiert für einen optimistischeren Blick. Mit ihrer radikalen Opposition zum herrschenden Umgang mit Krieg und Waffen hat die Friedensbewegung eine starke Vision. Wenn sie, die Vision einer friedlichen Welt fest im Blick, pragmatisch die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen einfordert, kann sie viel erreichen. Ohne eine solche Teilhabe gibt es keinen Wandel, und ohne radikale Positionen und entsprechende Aktionen gibt es keine
solche Teilhabe. Der Artikel zeigt, wie sich beides verbinden lässt.

Die aktuelle politische Situation ist durch die Akkumulation unterschiedlicher globaler Krisentendenzen gekennzeichnet. Eine konstruktiv-vorausschauende Bearbeitung durch politische Entscheidungsträger*innen ist kaum wahrnehmbar. Reaktives Agieren dominiert. Auch im Bereich von Krieg und Frieden werden die Krisentendenzen eher verschärft: durch verbale Aufrüstung und »neue« Feindbilder, hohe Militärausgaben und neue Rüstungsprojekte.

Die deutsche Zivilgesellschaft ist in den aktuellen Krisenbereichen unterschiedlich präsent und aktiv. Bei allen Fragen von Krieg und Frieden, Aufrüstung und Rüstungsexporten ist der Druck auf die Entscheidungsträger*innen vergleichsweise geringer als beim Thema Klima oder auch Migration. Die Aktiven innerhalb der Friedensbewegung mühen sich mit ihren Themen redlich ab. Sie sind aber kaum in der Lage, öffentliche Debatten wirksam in eine friedensbewegte Richtung zu drängen oder die Entscheidungsträger relevant unter Druck zu setzen.

Wie kann die Friedensbewegung mehr Einfluss auf friedenspolitische Fragen nehmen? Die Hindernisse sind großenteils extern und liegen im Problemfeld selbst. Es gibt aber auch interne, »hausgemachte« Begrenzungen, die wir Aktiven in der Friedensbewegung zu bearbeiten haben.

Der Diskurs über das Militärische

Zu den externen Faktoren zählt sicherlich, dass von staatlicher Seite alles, was militärische Aktivitäten betrifft, möglichst von öffentlichen Debatten und der öffentlichen Beteiligung abgeschirmt werden soll. So tagt, um nur ein Beispiel zu nennen, der Bundessicherheitsrat des Deutschen Bundestages geheim, seine Mitglieder sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, und selbst dem Parlament gegenüber ist seine Arbeit weitgehend intransparent. Militärpolitischen Entscheidungen, wie der Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundewehr, geht im Parlament keine breite Debatte voraus. So
erscheinen die militärischen Aspekte der Außenpolitik gesellschaftlichen Diskursen weitgehend entrückt.

Neben den externen gibt es aber auch intern hemmende Faktoren. Die ausschlaggebende Begrenzung entsteht durch eine Art Selbstfesselung der Friedensbewegung: In großen Teilen nähert sich die Bewegung militär- und sicherheitspolitischen Fragestellungen mit einer Haltung prinzipieller Radikalopposition. Diese lautet z.B. „Mit diesem Staat ist kein Frieden zu machen“ oder „Raus aus der NATO“, „Keine Waffenexporte – egal wohin“, „Stopp aller Rüstungsproduktion“ usw. Vom moralisch-ethischen Standpunkt betrachtet ist an diesen Positionen wenig zu kritisieren. Mit
ihrer Tendenz, staatliches Handeln in diesem Politikfeld als Ganzes abzulehnen, schließt sie jedoch Partizipationsmöglichkeiten, also Möglichkeiten der Mitentscheidung, aus.

Bewegung in der Defensive

Solange eine starke Friedensbewegung als Soziale Bewegung auf der Straße sichtbar ist, kann sie mit einer oppositionellen und radikalen Nein-Haltung zu Themen wie NATO, Atomwaffen, Aufrüstung oder Waffenexporte in der politischen Debatte Druck erzeugen und Veränderung herbeiführen. Aktuell ist eine solche Bewegung jedoch nur rudimentär vorhanden. Statt mit einer breiten Bewegung, haben wir es mit unterschiedlichsten Friedensorganisationen zu tun, die sich vielfältigsten Problemfeldern widmen.1 Es gelingt nur begrenzt, sich auf gemeinsame Themen zu
einigen und breite Bevölkerungsschichten dafür – z.B. in Kampagnen – zu mobilisieren.

Der derzeitige Zustand der Friedensbewegung schränkt darum die Chancen, als Radikalopposition Gehör zu finden, stark ein. Als Soziale Bewegung ist sie aktuell nicht stark genug, Veränderungen zu bewirken, und deshalb in der Defensive. Sobald sich aber mehrere Organisationen zu Projekten und Kampagnen zusammenschließen, könnte aus der Defensive zumindest eine strategische Defensive werden. Das bedeutet 1. mit begrenzten Mitteln begrenzte Ziele anzustreben und 2. die Aktivitäten so zu wählen, dass sie zum (Wieder-) Aufbau einer Sozialen Bewegung beitragen. In dieser Situation ist es durchaus
hilfreich, vorhandene Beteiligungsinstrumente und Partizipationsräume zu nutzen. Solange uns Erfolge als Bewegung verwehrt bleiben, sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die uns Kampagnen bieten, statt zu hoffen und abzuwarten, bis wir wieder die Stärke einer Bewegung erreicht haben, denn Kriege und Kriegsvorbereitung finden jetzt statt.

Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es, und wie lassen sie sich nutzen? Am Beispiel der Kampagnenarbeit soll dies im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.

Partizipation und Mitbestimmung – ein mehrstufiger Prozess

Partizipation lässt sich verstehen als mehrstufige Einbeziehung von Individuen oder Organisationen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse. Auf der nächsthöheren Stufe erhöht sich jeweils der Partizipationsgrad. Die Beteiligungsstufen reichen vom bloßen Informieren über Formen der Mitbestimmung (z.B. Wahlrecht) bis hin zur echten Teilhabe an Entscheidungen, z.B. Bürgerentscheiden. In der repräsentativen Demokratie wird Partizipation zumeist als informieren, Meinung erfragen und wählen gehen begriffen. In einer beteiligungsorientierten Demokratie besteht hingegen die Möglichkeit der
echten Teilhabe an Entscheidungen. Die verschiedenen Stufen lassen sich bildlich als Beteiligungstreppe darstellen (siehe Abb. 1).

Die Geschichte der Demokratie seit der Französischen Revolution ist der beständige Versuch, Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und höhere Stufen gesellschaftlicher Beteiligung zu entwickeln, z.B. das Frauenwahlrecht oder die Möglichkeiten von Bürgerentscheiden, Volksentscheiden usw. Zivilgesellschaftliche Organisationen, z.B. »Mehr Demokratie e.V.«, begreifen deshalb die repräsentative Demokratie als eine vorläufige, „unvollendete Demokratie“ (Scheub 2017) und nicht als deren Endzustand.

Häufig blockieren oder verzögern etablierte Institutionen die Demokratisierung der Demokratie. Soziale Bewegungen können neue Beteiligungsformen einfordern und so die Demokratie beteiligungsorientiert weiterentwickeln. Auf diese Weise kann eine reale gesellschaftliche Veränderung im Sinne der engagierten Bürger*innen erreicht werden. Soziale Bewegungen streben in der Regel jedoch keine direkte Partizipation an den Entscheidungsprozessen an. Soziale Bewegungen sind eher visionär orientiert. Sie formulieren Ziele als gesellschaftliche Utopie und in der Regel in Opposition zu den realen
Verhältnissen. Anders orientieren sich so genannte Druckkampagnen.2 Sie verfolgen das Ziel einer pragmatischen Einflussnahme auf konkrete politische Entscheidungen. Die Durchführung von Kampagnen als Teil einer Sozialen Bewegung ermöglicht es, dass die Bewegung ihrer radikalen Vision und Position treu bleiben und zugleich mittels Kampagnen pragmatische Ziele verfolgen kann.

Um Entscheidungsprozesse wirkungsvoll zu beeinflussen, sollten sich Kampagnen am Kampagnenverständnis von M. Gandhi, M.L. King und C. Chavez orientieren: Mobilisierung und druckvolle Aktionen stehen hier nicht für sich, sondern zielen immer auf die Ermöglichung von Verhandlungen. Aktionen auf der Straße erzwingen das Gespräch am Verhandlungstisch. Stocken die Verhandlungen, muss der Mobilisierungsdruck, z.B. durch Boykotts, Streiks und Zivilen Ungehorsam, erhöht werden. In der aktuellen Praxis der Kampagnen der Friedensbewegung wird häufig nur mobilisiert, bisweilen Druck ausgeübt und
selten verhandelt. Letzteres überlässt man den repräsentativen Organen.

Welche Partizipationsräume können sich Soziale Bewegungen nun über Kampagnen erschließen? Betrachten wir hierfür das Phasenmodell gesellschaftlichen Wandels von Bill Moyer (Moyer 2015) und speziell sein Verständnis der Rollen, die die unterschiedlichen Akteursgruppen darin einnehmen. Besonders interessiert uns die Rolle der »Chance Agents« bzw. der Campaigner*innen: Sie sind die Agenten des Wandels. Sie betreiben gezielt die Transformation entweder eines begrenzten Unrechts oder Missstands oder auch einer gesellschaftlichen Krise hin zu einem demokratischeren, ökologischeren,
emanzipativeren Zustand.3 Entscheidend ist, in welchem Maß diese Agents Partizipationsmöglichkeiten erschließen.

Advocacy, Mobilizing und Organizing

Anhand der Zielsetzung lassen sich drei Modelle der Arbeit von Campaigner*innen unterscheiden: »Advocacy«, »Mobilizing« und »Organizing«. Diese Differenzierung stützt sich auf einen Vorschlag der Organizerin Jane McAlevey (2019, S. 34 ff). Das Advocacy-Modell wird von uns als Stellvertreter-Modus bezeichnet. In diesem Modus werden Campaigner*innen stellvertretend für Betroffene aktiv oder sie organisieren Personen, die stellvertretend aktiv werden, oft Prominente oder Expert*innen. Die Betroffenen selbst sind in diesem Fall eher Konsument*innen des Veränderungsprozesses. Der zweite
Modus ist der Mobilisierungsmodus (Mobilizing). Hier werden Betroffene mobilisiert, um ihr Anliegen in möglichst großen Massen protestierend und demonstrierend vorzubringen. In diesem Modus geht es um die Mobilisierung von (Gegen-) Macht. Die Aktiven sind Protestierende. Der dritte Modus ist der Beteiligungsmodus (Organizing). Hierbei geht es um das Organisieren von Aktivbürger*innen, den »Citoyens«. Ziel ist, die Bürger*innen tatsächlich an den Entscheidungen zu beteiligen.

Im Zuge einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Zivilgesellschaft und der Gleichzeitigkeit vieler Sozialer Bewegungen im öffentlichen Raum werden die Modi Advocacy und Mobilizing zunehmend praktiziert. Aktuell findet Beteiligung in Sozialen Bewegungen bzw. Kampagnen vornehmlich über Soziale Medien statt, die stark mobilisierend, aber nicht automatisch organisierend wirken. Für eine Stärkung der Bewegungen hin zu echter Partizipation ist es nötig, mehr im Beteiligungs- bzw. Organizing-Modus aktiv zu werden. Um dies zu erreichen, gilt es, die folgenden drei Schritte zu gehen: 1. der
(Wieder-) Aufbau von vielen und dezentral organisierten Basisgruppen; 2. die Organisation vieler Aktionen, insbesondere Druckaktionen, z.B. Ziviler Ungehorsam, Boykott, Streiks usw., und 3. das wiederholte und permanente Dialogangebot, das in Verhandlungen münden soll, an denen die Aktiven beteiligt sind.

Die Voraussetzungen für den Beteiligungsmodus in Sozialen Bewegungen müssen von zwei Seiten her entwickelt werden: Die erste Voraussetzung ist der Aufbau von Basisgruppen als Fundament für den Aufbau von Beteiligung an der Macht. Hier gehen z.B. die Campaigner*innen in die Regionen, in die Städte und Kommunen, zu den Basisgruppen, und unterstützen diese bei der Entwicklung einer ziel- und druckorientierten Strategie für ihre Arbeit vor Ort. Die zweite Voraussetzung ist der Aufbau von Lobbyarbeit, wobei wir hier zwei Ebenen der Lobbyarbeit unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das
Graswurzel-Lobbying.

Demokratische Partizipation durch Lobbying

Lobbyarbeit ist in Sozialen Bewegungen eher verpönt, wird sie doch mit Geldkoffern und Hinterzimmer-Gesprächen assoziiert. Zudem ist Lobbyarbeit durch Soziale Bewegungen, da sehr zeit- und personalaufwendig, ressourcenbedingt eher begrenzt realisierbar. Trotzdem kann eine wirksame Einflussnahme auf Entscheider*innen durch Lobbygespräche stattfinden, nämlich im Vorfeld direkter Verhandlungs- und Entscheidungssituation, auch wenn das Verhandlungsmandat letztendlich weiterhin bei den Entscheider*innen, z.B. den Parlamentsabgeordneten, verbleibt.

Zwei Formen der Lobbyarbeit sind zu unterscheiden: das High-Level-Lobbying und das Graswurzel-Lobbying. Das High-Level-Lobbying findet direkt in hoch angesiedelten Gremien, wie Ministerien, Parlamenten, Aktionärsversammlungen, Synoden oder Gewerkschaftskonferenzen etc., statt. Das Graswurzel-Lobbying hingegen geschieht in örtlichen Gliederungen von Parteien, Kirchen und geschäftlichen Strukturen. Es richtet sich beispielsweise an die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, an Gemeindeparlamente oder an Synodale, wenn es um Einflussnahmen in kirchlichen Zusammenhängen geht.

Ein Beispiel für diesen Ansatz: Der in Deutschland gesetzlich geregelte »Parlamentsvorbehalt«, also die jährlich notwendige Bestätigung jedes Auslandseinsatzes der Bundeswehr durch das Parlament, eröffnet Handlungsräume für beide Formen der Lobbyarbeit. Derzeit gibt es fünfzehn Auslandseinsätze der Bundeswehr und damit jährlich fünfzehnmal die reelle Chance, Regierungsentscheidungen über Krieg und Frieden direkt zu beeinflussen. Konkret hieße das, auf die Abgeordneten sowohl über das Instrument des High-Level-Lobbying im Parlament als auch über das Graswurzel-Lobbying vor Ort gezielt
Einfluss auszuüben, um sie zu einer Entscheidung gegen die Verlängerung bestehender oder die Genehmigung neuer Auslandseinsätze zu bewegen. Dieses Instrument wird bisher wenig genutzt.4

Beide Formen des Lobbying sind bisher in den friedenspolitischen Bewegungen und Kampagnen nur schwach entwickelt. Während das High-Level-Lobbying zunehmend mehr Anklang findet (gerade im Advocacy-Modell), aber durch das Fehlen finanzieller und personeller Ressourcen begrenzt ist, ist das Graswurzel-Lobbying wenig im Blickfeld der zivilgesellschaftlichen Basisgruppen vor Ort.

Partizipationsräume pragmatisch nutzen

Die Friedensbewegung kann ihre Wirkmacht relevant vergrößern, wenn sie sich nicht länger primär auf die Radikalopposition konzentriert, sondern stattdessen immer auch proaktiv vorhandene Partizipationsräume pragmatisch nutzt und sich der vorhandenen demokratischen Instrumente zur Partizipation gezielt bedient und diese weiterentwickelt. Druckkampagnen sind der Weg, radikal und pragmatisch zugleich.

Anmerkungen

1) Man muss sich vor Augen halten, dass aktuell die gesamte Mitgliedschaft der unterschiedlichen Friedensorganisationen zusammengezählt kaum mehr als 20.000 Personen umfassen dürfte (Schätzung des Autors). So zählen etwa die »großen« Friedensorganisationen DFG-VK ca. 3.500 Mitglieder, Versöhnungsbund Deutschland 950 Mitglieder und IPPNW ca. 6.000 Mitglieder. Hierbei sind Doppelmitgliedschaften noch gar nicht berücksichtigt. Zum Vergleich: Allein der BUND hat über 584.000 Mitglieder, Spender und Förderer (Stand 2016), Greenpeace
über 590.000 Mitglieder (Stand 2018) und attac immer noch über 29.000 (Stand April 2018). Die begrenzte Anzahl der Mitglieder ist in den meisten Friedensorganisationen jedoch kaum ein Thema. Dies ist vermutlich darin begründet, dass man sich immer noch als Soziale Bewegung fühlt und weniger als eine Vielzahl von Organisationen, die friedenspolitische Themen bearbeiten. Würde hier ein Umdenken einsetzen, könnten sich auch die Aktivitäten verändern, weg von der vermeintlichen Mobilisierung einer Sozialen Bewegung hin zum Aufbau einer Bewegung.

2) Der Autor unterscheidet zwischen Aufklärungskampagnen und Druckkampagnen. Erstere streben nach Verhaltens- und Bewusstseinsveränderung. Letztere zielen auf direkte Entscheidungen von Politik und Wirtschaft und damit auf strukturelle und gesetzliche Änderungen.

3) Die »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion« entwickelte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eine Qualifizierung zur Campaigner*in und Moderator*in für friedenspolitische Kampagnen. Im Rahmen der »CampaPeace«-Ausbildung, wie sie mittlerweile in der vierten Staffel stattfindet, richtet sich das Augenmerk auch auf die Frage, welche Formen von Beteiligung und Partizipation durch Kampagnen und Soziale Bewegungen angestrebt und erzielt werden können. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt bei Druckkampagnen. Aufklärungskampagnen
ermöglichen einen geringeren Grad von Partizipation und zielen vor allem auf Bewusstseinsveränderung und die Veränderung von individuellem Verhalten. Druckkampagnen hingegen wollen Veränderungen auf einer strukturellen Ebene erreichen, etwa über neue Gesetze, eine Veränderung im Abstimmungsverhalten von Abgeordneten oder die Einflussnahme auf Konzernentscheidungen.

4) Eine Ausnahme bildet die Kampagne »Macht Frieden. Zivile Lösungen für Syrien« (macht-frieden.de), die das Instrumentarium des High-Level- und des Graswurzel-Lobbying intensiv nutzt.

Literatur

Arnstein, S. (1969): A Ladder of Citizen Participation. Journal of the American Institutes of Planers, Vol. 25, Nr. 4.

McAlevey, J (2019): Keine halben Sachen – Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA.

Moyer, B. (2005): Doing Democracy – The MAP Model for Organizing Social Movements. Gabriola Island, BC/Canada: New Society Publisher.

Scheub, U. (2017): Demokratie – Die Unvollendete. München: oekom.

Ulrich Wohland ist freier Mitarbeiter der »Werkstatt für gewaltfreie Aktion« und leitet die Ausbildung CampaPeace. Beruflich ist er Campaigner und Organizer für Gewerkschaften wie ver.di und IG Metall.

Der Autor dankt Claudia Funke, Renate Wanie und Ursula Gramm (Mitarbeiterinnen der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion«), die mich bei diesem Artikel in gewohnt professioneller Weise unterstützt haben.