Zivilgesellschaft im Völkerrecht


Zivilgesellschaft im Völkerrecht

Wenn die Anklage von »unten« kommt

von Andreas Schüller

Soziale Bewegungen haben sich immer wieder das Recht zu eigen gemacht und dafür genutzt, Veränderungen zu erkämpfen. Zwar spiegelt das Recht allzu häufig vergangene oder bestenfalls bereits erkämpfte gesellschaftliche Verhältnisse wider. Dennoch liegt in der Schaffung neuen Rechts sowie in der Auslegung und Anwendung des bestehenden Rechts auf im Wandel begriffene gesellschaftliche Verhältnisse ein Potential, das gesellschaftliche Akteur*innen für ihre Anliegen nutzbar machen können. Dies gilt auch oder gerade für das Völkerrecht, in dem es an einer alleinigen höchstrichterlichen Instanz mangelt und das durch eine Vielfalt von gerichtlichen Entscheidungen, staatlicher Praxis und wissenschaftlichen Ausführungen stetiger Veränderung unterliegt.

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind sehr vielfältig und verfolgen in ihrer Diversität ihre Ziele mit den unterschiedlichsten Methoden und Herangehensweisen. Dies gilt ebenso für die Art, in der sie Recht mobilisieren. Soziale Bewegungen, die ihre Veränderungskraft vor allem durch die Mobilisierung von Mitstreiter*innen in Protesten im öffentlichen Raum erlangen, nutzen das Recht oftmals, um einzelnen Forderungen durch gerichtliche Entscheidungen Nachdruck zu verleihen (so beispielsweise die Eilentscheidungen zur Rodung des Hambacher Forsts zugunsten der dort aktiven Protestierenden).

Nichtregierungsorganisationen dagegen setzen zum einen auf rechtliche Interventionen, um Denkmuster aufzubrechen und mit voller Wucht Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen (wie etwa die Strafanzeige des ECCHR beim Internationalen Strafgerichtshof gegen mehrere europäische Rüstungskonzerne wegen Kriegsverbrechen im Jemen). Zum anderen führen sie strategische Prozesse, um einzelne Veränderungen in der Rechtsprechung herbeizuführen, die dann wiederum zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen beitragen sollen.

Gesellschaftliche Akteur*innen arbeiten also ebenso mit am Recht und mit dem Recht, sei es durch ihre Kampagnenarbeit, um neue völkerrechtliche Verträge zu schaffen (z.B. die Schaffung des Atomwaffenverbotsvertrages durch ICAN), sei es durch Klagen, Beschwerden und Strafanzeigen. Mit letzteren sollen staatliche und internationale Gerichte, Ausschüsse und Staatsanwaltschaften dazu angehalten werden, sich mit bestimmten Sachverhalten zu befassen, diese aufzuarbeiten und Entscheidungen herbeizuführen. Über diese konkreten juristischen Mittel hinaus dienen zudem Veranstaltungen (wie wissenschaftliche Symposien) dazu, konkrete Rechtsfragen diskutieren und weiterentwickeln zu lassen.

Mobilisierungsmöglichkeiten des Völkerrechts

Das Völkerrecht diente im 16./17. Jahrhundert als Recht zwischen Staaten, um etwa Handelsbeziehungen zu regeln oder um in den Folgejahrhunderten ganze Völker zu Zeiten des Kolonialismus vom Recht auszuschließen und auszubeuten. Nach den zwei Weltkriegen kam dann die Aufgabe hinzu, Frieden und Sicherheit zwischen Staaten zu gewährleisten. In den letzten Jahrzehnten hat das Völkerrecht jedoch Öffnungen erfahren, die gesellschaftliche Akteur*innen gezielt nutzen können. Dazu haben Nichtregierungsorganisationen beigetragen, die durch Kampagnen auf die Schaffung neuer völkerrechtlicher Abkommen hingewirkt haben.

Vor etwa 150 Jahren begann die Rotkreuzbewegung, Staaten dazu zu bewegen, sich Regeln auf dem Schlachtfeld zum Schutz Verwundeter zu geben. Ergebnis dieser Arbeit war die erste Genfer Konvention (1864). Das darin ausgedrückte Bestreben wurde von erfolggekrönten zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Verbot der Folter oder bestimmter Waffen (wie Landminen) fortgesetzt, bis hin zum Einsatz für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in den 1990er Jahren. Zuletzt lässt sich diese Arbeit der gezielten Schaffung internationalen Rechts bei Initiativen zu menschenrechtlichen Verpflichtungen transnationaler Unternehmen sowie Initiativen zur Kriminalisierung des Ökozids beobachten. Es sind also immer wieder gesellschaftliche Akteur*innen, die neue Themen auf die Agenda bringen und im besten Falle Staaten dazu bewegen, neue völkerrechtliche Regeln zu verhandeln und zu schaffen.

Dabei findet sich das Völkerrecht mittlerweile nicht nur in zwischenstaatlichen Abkommen wieder, sondern häufig auch in staatlichen Umsetzungsgesetzen. So ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, durch das nach dem Weltrechts­prinzip Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der deutschen Justiz strafrechtlich verfolgt werden können, ein nationales Gesetz. Die völkerrechtlichen Bezüge, insbesondere zum »Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« sind jedoch unübersehbar. Auch die dem deutschen Grundgesetz immanente Völkerrechtsfreundlichkeit in den Artikeln 25 und 59 GG (vgl. BVerfG 2004, Rn. 93) bindet deutsche Gerichte jeder Instanz an das Völkerrecht und eröffnet Möglichkeiten, Völkerrechtsverletzungen einzuklagen, sofern ein Bezug zu Deutschland besteht.

Es gibt daher eine Vielzahl von Foren, vor die völkerrechtliche Streitigkeiten gebracht werden können. Von nationalen zu internationalen Gerichten, von Verwaltungs- zu Strafgerichten und Staatsanwaltschaften bis hin zu UN-Ausschüssen, Sonderberichterstatter*innen und anderen internationalen Mechanismen.

All dieser völkerrechtlichen Rechtsetzung und nationalen Implementierung bedarf es jedoch auch, um Völkerrecht zivilgesellschaftlich überhaupt nutzbar und gerichtlich durchsetzbar zu machen. Denn nur dann können gesellschaftliche Akteur*innen das Recht für sich beanspruchen und in ihre Arbeit aufnehmen, um gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. In einer globalisierten Welt gibt es kaum mehr Bereiche, in denen es keine internationalen, grenzüberschreitenden Bezüge gibt. Doch das Recht ist nicht immer für die Regelung wirklich transnationaler Sachverhalte gemacht. Lücken, die den transnationalen Zugang zum Recht erschweren, sind oftmals von Staaten in den Vertragsverhandlungsprozessen bewusst offengelassen worden (wie weiter unten zum Römischen Statut näher ausgeführt). Einzelne Zusatzprotokolle, die den Zugang zu Rechtsdurchsetzungsmechanismen vorsehen, ratifizieren Staaten nicht (wie Zusatzprotokolle zum UN-Zivilpakt und zum UN-Sozialpakt) oder sie erklären Vorbehalte gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens zu völkerrechtlichen Verträgen, der die Rechtswirksamkeit einzelner Vorschriften aussetzt.

Dennoch gibt es Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Akteur*innen, über eine internationale Vernetzung und Zusammenarbeit, das Recht transnational nutzbar zu machen. So konnten etwa pakistanische Textilarbeiter*innen Zugang zu Gerichten am Hauptstandort eines Unternehmens in Deutschland bekommen, wie im »KiK-Fall« des ECCHR vor dem Landgericht Dortmund, um dort auf Entschädigung für den Tod ihrer Angehörigen durch den Fabrikbrand an einer der Produktionsstätten zu klagen (vgl. ECCHR Fallbeschreibung 2020).

Fälle von Rechtsmobilisierung von unten

Der KiK-Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie Betroffene in einer globalisierten Welt ihre Stimme erheben und durch eine Klage am Hauptstandort des Unternehmens – oft weit entfernt von den eigentlichen Produktionsstätten – die Geschäftspraktiken sichtbar machen können. Diese Klage im spezifischen hat der Politik zudem drastisch vor Augen geführt, wie schutzlos diejenigen am Anfang der Lieferkette sind und dass die Unternehmensverantwortung rechtlich verbindlich geregelt werden muss, um fairere Bedingungen in der gesamten Lieferkette zu schaffen. Die momentan stattfindende Beratung eines entsprechenden Gesetzes in Deutschland, nach dem Unternehmen rechtlich verbindlich ihre Tätigkeiten und die ihrer Zulieferer auf die Einhaltung von Menschenrechten hin überprüfen müssten, verdeutlicht die teils konträren Positionen von Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Vor allem macht sie den Widerstand sichtbar, den Teile der Wirtschaft und wirtschaftsnahe Verbände gegen rechtlich verbindliche Regelungen zu Haftung und Klagemöglichkeiten hegen.

Ein anderes Beispiel betrifft den globalen Einsatz bewaffneter Drohnen durch die USA, der ohne ein weitgespanntes Netz von Datenströmen, Analysezentren und Drohnenstartplätzen nicht möglich wäre. Von Drohnenangriffen Betroffene wie Familie Bin Ali Jaber aus Hadramaut im Jemen klagten nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland (aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht, vgl. ECCHR 2021), da ohne Fernmeldepräsenzpunkte sowie das Analysezentrum der US-Streitkräfte in Ramstein Drohneneinsätze im Jemen nicht möglich wären (vgl. BVerwG 2020). Dadurch, dass deutsche Behörden über das Grundgesetz an das Völkerrecht gebunden sind, kann gegen völkerrechtswidrige Handlungen vor deutschen Verwaltungsgerichten geklagt werden. Diese Klagemöglichkeit können auch Kläger*innen aus dem Ausland beanspruchen, die primär einer rechtswidrigen Handlung eines dritten Staates, hier der USA, ausgesetzt sind, aber eben unter Mitwirkung deutscher Behörden. Letztere müssen sich vorhalten lassen, völkerrechtswidrige Praktiken Verbündeter mitzutragen und es nicht zu schaffen, innerhalb des Bündnisses für die Respektierung und Stärkung des Völkerrechts wirksam einzutreten. Die USA wiederum schaffen es zwar, solche Fälle aus dem eigenen Rechtssystem herauszuhalten (mit der Begründung, dies gefährde die nationale Sicherheit), sehen sich aber mit Gerichtsentscheidungen aus anderen Ländern konfrontiert, die ihre Handlungen als völkerrechtswidrig einstufen.

Solche Entscheidungen können es Staaten erleichtern, auf zwischenstaatlicher Ebene eine rechtliche Position gegen einen mächtigen Staat zu beziehen, da gerade in den zwischenstaatlichen Beziehungen und den UN-Gremien um die Einhaltung des Völkerrechts gerungen wird. Aus einem strategischen Blickwinkel gesehen geht es in diesen Fällen aber auch um die Klärung, ob und inwiefern Gerichte exekutives Handeln überprüfen müssen. In außenpolitischen Entscheidungen können Gerichte insgesamt nur sehr zurückhaltend prüfen. Wenn es aber um Eingriffe in höchste Rechtsgüter wie Leib und Leben geht, muss eine Überprüfbarkeit gewährleistet sein und der außenpolitische Entscheidungsspielraum der Exekutive entsprechend gerichtlich eingeengt werden.

Ähnliches, wenn auch gänzlich anders gelagert, betrifft die Strafanzeigen nach dem Weltrechtsprinzip, wonach die deutsche Justiz Völkerstraftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit verfolgen kann. Hintergrund für dieses Prinzip ist die Feststellung, dass diese Taten die Weltgemeinschaft als Ganzes betreffen, wie in völkerrechtlichen Abkommen wie dem Römischen Statut festgehalten. Die deutsche Justiz führt hier stellvertretend für eine internationale Justiz die Verfahren. Dies ist nur bei einem sehr eingeschränkten Kreis von Straftaten möglich; nicht jede Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzung kann so vor deutschen Gerichten strafrechtlich verfolgt werden.

Was aber möglich ist, zeigen die Verfahren zu Folter und sexualisierter Gewalt in Syrien, wie etwa das »Al-Khatib Verfahren« vor dem OLG Koblenz (vgl. ibid. 2021). Überlebende von Folter und sexualisierter Gewalt haben Anzeigen erstattet und ihre Zeugenaussagen beim Bundeskriminalamt getätigt sowie später im Prozess ausgesagt. Zusammen mit weiteren Beweismitteln, wie etwa den Fotos eines ehemaligen syrischen Militärfotografen, der unter dem Pseudo­nym »Caesar« bekannt ist, hat dies im Februar 2021 zu einer ersten Verurteilung eines ehemaligen Mitarbeiters des syrischen Regimes geführt. Vor allem aber hat es auch viel Licht auf die Verbrechen des Assad-Regimes geworfen. Weitere Urteile und Verfahren sind zu erwarten, nicht nur in Deutschland, da sich syrische Überlebende zusammen mit syrischen Nichtregierungsorganisationen, Rechtsanwält*innen und europäischen Partnern (wie dem ECCHR) an Strafverfolgungsbehörden in vielen Ländern gewandt haben, um Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip zu initiieren. Diese Strafverfahren sind von höchster Bedeutung für die mittel- und langfristige Zukunft Syriens, da auch jetzt schon staatliche Verbrechen aufgearbeitet werden. Diese Aufarbeitung kann dann in der Zukunft eine wichtige Rolle für die innergesellschaftliche Aushandlung in Syrien spielen, in der Bestimmung von schwerstem Unrecht und dem Umgang damit.

Herausforderungen und Begrenzungen der Völkerrechtsmobilisierung

Gesellschaftliche Akteur*innen handeln in dem rechtlichen Rahmen, der ihnen vorgegeben ist. Wie oben beschrieben, gibt es zwar Möglichkeiten, die Schaffung von völkerrechtlichen Abkommen zu beeinflussen, letztlich verhandeln, verabschieden und ratifizieren jedoch Staaten diese Abkommen. Darin arbeiten Staaten immer wieder Klauseln ein, die es ihnen ermöglichen, sich der Bindung völkerrechtlicher Abkommen zu entziehen – wie im Folgenden anhand des Römischen Statuts ausgeführt werden wird. Hierin zeigt sich der Kompromiss­charakter, der jeder multilateralen Entscheidung zu Grunde liegt und es häufig erschwert, das Recht gegen Staaten zu erkämpfen und durchzusetzen.

Als Beispiel hierfür kann das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs dienen. An mehreren Stellen ist die Handschrift von Staaten sichtbar, die in der Absicht handelten, die Wirkung des Statuts und die Handlungsmöglichkeiten des IStGH einzuschränken. Der Gerichtshof ist in Folge dessen nicht dem Weltrechtsprinzip unterworfen, obwohl gerade für die Straftaten des Statuts (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) die Staatengemeinschaft unabhängig von Tatort und Herkunft der Täter*innen zu Gericht sitzen sollte. Die Zuständigkeit des IStGH beschränkt sich auf das Staatsgebiet der Mitgliedsstaaten sowie deren Staatsangehörige. Dem UN-Sicherheitsrat ist es zudem erlaubt, bestimmte Situationen gesondert zu überweisen. Letzterer steht bekanntlich unter Vetovorbehalt der fünf Ständigen Mitglieder. Art. 16 des Römischen Statuts ermöglicht es dem Sicherheitsrat darüber hinaus, Ermittlungen des Strafgerichtshofs für ein Jahr auszusetzen. Diese Resolution kann beliebig oft erneuert werden.

Als drittes Einfallstor in das Statut dient das sogenannte »Komplementaritätsprinzip«, nach dem der IStGH nur zuständig ist, wenn Staaten nicht in der Lage oder willens sind, die Ermittlungen selbst zu führen. Was es dabei heißt »nicht willens zu sein« hat Ende 2020 eine Entscheidung der Anklagebehörde des IStGH in Bezug auf Kriegsverbrechen britischer Streitkräfte im Irak gezeigt (IStGH 2020). Obwohl es in Großbritannien keine einzige strafrechtliche Verurteilung einer Täter*in oder einer*eines Vorgesetzten gegeben hat, befand die Anklagebehörde des IStGH, dass Großbritannien seine Soldat*innen nicht absichtlich vor internationaler Strafverfolgung schütze und stellte das Vorverfahren ein. An dieser Stelle scheiterte die Zivilgesellschaft, die zwar über Jahre Druck auf britische Behörden und die IStGH-Anklagebehörde aufbauen konnte, letztlich aber diese internationale Behörde nicht dazu bewegen konnte, einen couragierten und rechtlich durchaus möglichen Schritt nach vorne zu machen.

Dieses Beispiel verdeutlicht die Begrenzungen der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung des Völkerrechts. Zum einen ist es von großer Bedeutung, rechtliche Verfahren anzustoßen und Fälle vor Gerichte und Behörden zu bringen, um diese zur Beschäftigung mit den Sachverhalten zu zwingen. Auf der anderen Seite müssen dem aber auch Richter*innen und Staatsanwält*innen gegenüberstehen, die das Völkerrecht entsprechend auszulegen und anzuwenden bereit sind. Da viele solcher transnationalen Verfahren neue Rechtsfragen betreffen, die höchstrichterlich bislang nicht entschieden sind, sind meistens mehrere juristische Argumentationen vertretbar, so dass es durchaus Spielräume gibt, die gesellschaftliche Akteur*innen ausschöpfen können.

Globales Netz

Letztlich spielen der Zeitgeist und gesellschaftliche Veränderungen auch in rechtliche Entscheidungen hinein. Neue Entwicklungen technischer oder gesellschaftlicher Natur können über die Zeit durch rechtliche Spielräume bei der Auslegung einzelner Normen unter bestehendes Recht subsumiert werden. Für eben diese Veränderungen ist die (strategische) Mobilisierung des Rechts durch gesellschaftliche Akteur*innen unabdingbar. Diese sollten das Recht als Vehikel in ihrem Aktivismus mitdenken und nutzen, allerdings nicht als einziges Mittel und nicht losgelöst von anderweitiger Arbeit an Kampagnen, Protest oder Kunst. In einer zu starken Fokussierung auf die Mobilisierung des Rechts liegt auch immer die Gefahr, dass Ressourcen zu einseitig eingesetzt werden. Da juristische Verfahren immer auch Verzögerungen und Rückschläge erfahren können, müssen sie parallel durch andere (Aktions-)Formate begleitet werden. Nur so kann eine Kontextualisierung der dem Rechtsstreit immanenten gesellschaft­lichen und sozialen Probleme gelingen.

Die globale Vernetzung heutiger Gesellschaften kann dazu wirkungsvoll genutzt werden: Gerade das Völkerrecht kann rechtliche Entwicklungen beeinflussen, durch Entscheidungen auf internationaler Ebene oder in einem Drittstaat mit entsprechender rechtlicher Zuständigkeit, die zivil­gesellschaftliche Akteur*innen in ihrem jeweiligen Umfeld oder Land bislang nicht erreichen konnten. Um dieses Potential zu nutzen, ist eine globale Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen enorm wichtig, damit rechtliche Interventionen an einem Ort Wirkungen an einem ganz anderen Ort erzielen und entfalten können. Darin liegt die große Chance der Mobilisierung des (Völker-)Rechts von unten.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (26. Oktober 2004), Beschluss Zweiter Senat, Aktenzeichen 2 BvR 955/00 und 2 BvR 1038/01.

Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) (2020): Urteil zu US-Drohneneinsätzen. Aktenzeichen 6 C 7.19. Pressemitteilung 68/2020.

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) (2020): Fallbeschreibung Fabrikbrand in Pakistan: Billige Textilproduktion, lebensgefährliche Arbeit. ECCHR.eu

ECCHR (2021): Ramstein vor Gericht: Deutschlands Rolle bei US-Drohnenangriffen im Jemen. ECCHR.eu

Oberlandesgericht Koblenz (2021). Verfahren zu syrischer Staatsfolter. Aktenzeichen 1 StE 3/21.

Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) (2020). Abschlussbericht zu Vorermittlungen in der Situation UK/Irak.

Andreas Schüller ist Rechtsanwalt und Programmdirektor für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin.

Unabhängig vor und nach 1989


Unabhängig vor und nach 1989

Entwicklungen der Friedensbewegung in Ostdeutschland

von Alexander Leistner

In den turbulenten Gedenkjahren 2019 und 2020, als sich Friedliche Revolution und Wiedervereinigung zum 30. Mal jährten, spielte die Geschichte und Gegenwart der Friedensbewegung im Osten Deutschlands keine Rolle. Bei solchen Gelegenheiten wird deutlich, dass kollektives Erinnern häufig in Zäsuren denkt und im Fall der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR deren Bedeutung auf den ­Beitrag zum Untergang der SED-Diktatur reduziert wird. Dabei werden deren Anliegen ebenso verdeckt, wie das Fortleben der Bewegung nach 1989.

Die Geschichte der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR vor und nach 1989 ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte einer eigenständigen Bewegung (vgl. Leistner 2016). Eigenständig gegenüber der Friedensbewegung in Westdeutschland, weil ihre angesichts scharfer Repression unwahrscheinliche und riskante (Schatten)-Existenz verschiedene Besonderheiten mit sich brachte. Eigenständig auch innerhalb eines Staates, der sich selbst als »Friedensstaat« verstand, weshalb die Aktiven viel Wert auf die Selbstbezeichnung »unabhängig« legen mussten. Die Besonderheiten der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR werden schon bei einem ersten oberflächlichen Blick sichtbar. Die Erinnerung an die bundesdeutsche Friedensbewegung ist geprägt von den bildträchtigen Massendemonstrationen wie bspw. 1983 im Bonner Hofgarten. In der Erinnerung an die unabhängige Friedensbewegung in der DDR fehlen dem gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis dagegen tief eingeprägte Bilder und Aktionen. Allenfalls Symbole werden in der Erinnerung wachgerufen, wie der Slogan »Schwerter zu Pflugscharen« nebst zugehörigem Aufnäher, oder Orte, wie die Leipziger Nikolaikirche als Raum für die Friedensgebete und Ausgangsort für die großen Proteste auf dem Leipziger Innenstadtring 1989. Das Fehlen öffentlichkeitswirksamer Bilder verweist auch auf das Fehlen einer DDR-weiten Öffentlichkeit. Mit der Ausnahme einiger westlicher Journalist*innen, kirchlicher und subkultureller Kreise sowie anderer an den Rand gedrängter Milieus hatten die Gruppen kaum eine Möglichkeit, die allgemeine Bevölkerung auf die eigene Existenz, geschweige denn die eigenen Inhalte, aufmerksam zu machen.

Entstehung einer Bewegung im Schatten

Die unabhängige Friedensbewegung formierte sich unter dem Dach und im Schutz- und Kommunikationsraum von Teilen der Evangelischen Kirche, die – als einzige von der SED unabhängige Großorganisation in der DDR – in eine (teilweise ungewollte) politische Stellvertreterrolle für kritische Gruppen hineinrutschte. Es hatte aber auch inhaltliche Gründe für diese Entwicklung, da in den ostdeutschen Landeskirchen recht früh nach der Staatsgründung eigenständige friedensethische Positionen entwickelt und in den folgenden Jahren mehr oder minder offensiv vertreten worden waren, sofern sie nicht kirchenpolitischen Rücksichtnahmen zum Opfer fielen. Hinzu kamen organisatorische Gründe, da die ersten Friedensarbeitskreise und Friedensseminare der 1970er Jahre an der kirchlichen Basis gegründet wurden und sich „auf die theologische Arbeit in den Kirchen und die legalen kirchlichen Strukturen“ (Neubert 1997, S. 299) stützen konnten. An vielen Stellen zählten auch Pfarrer*innen und kirchliche Mitarbeitende zu den Hauptakteur*innen. Schließlich rekrutierten sich die Gruppen anfänglich vor allem aus kirchlichen und kirchennahen Kreisen.

Der Protest, der sich ab Anfang der 1970er Jahre in diesem Schutzraum artikulieren konnte, war vergleichsweise still und, gemessen an freien Gesellschaften, unspektakulär. Dafür persönlich umso riskanter. Ein Beispiel soll das veranschaulichen. Am Abend des 13. Februar 1982 – dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – saß die 17jährige Annette »Johanna« Ebischbach (später Johanna Kalex) bei ihren Eltern wie unter Hausarrest.1 Im West-Radio hörte sie, dass sich weit über 5000 Menschen in der Kreuzkirche und an der Ruine der Frauenkirche versammelten. Der Anstoß dazu war von Johanna und Freund*innen aus der Dresdner Hippieszene ausgegangen. Aufwühlende Monate lagen hinter ihr. Sie hatte stundenlange Stasi-Verhöre und Ermittlungen wegen »Herbeiführung einer illegalen Zusammenrottung«, für die bis zu acht Jahre Haft drohten, über sich ergehen lassen müssen. Was war passiert?

Persönliche Risiken: die Gruppe Wolfspelz

Die Erinnerung an die Bombardierung der Stadt war staatlich dominiert und von der Kalten-Kriegs-Propaganda gefärbt: von »angloamerikanischem Bombenterror« war die Rede. Im »Friedensstaat« DDR entstanden unterdessen unabhängige Friedensgruppen und in Dresden trafen sich Jugendliche, die von einem Frieden ohne Soldaten träumten und dafür auch aktiv wurden. Sie formulierten einen Aufruf, sich am Jahrestag der Bombardierung mit Kerzen an der Frauenkirche zu versammeln. Sie vervielfältigten ihn erst mühsam mittels Schreibmaschinendurchschlägen, später illegal im Ausbildungsbetrieb einer Mitstreiterin. Über Berlin, Leipzig und andere Städte verteilte er sich in alle Winkel der Republik – intensiv beobachtet von der Stasi, die erheblichen Druck auf die Jugendlichen ausübte. In ihrer Not wandten sie sich hilfesuchend an die lokale Kirchenleitung, die einen Kompromiss aushandelte. Um verbotene Ansammlungen zu verhindern, wurden die Menschen zu einem kirchlich organisierten Friedensforum in der Kreuzkirche umgeleitet. Die Jugendlichen hatten auf diese Veranstaltung nur noch wenig Einfluss. Die Wirkung des Aufrufs war immens. Tausende kamen, obwohl die Stasi alle Zufahrtswege nach Dresden kontrollierte und Unzählige an der Anreise hinderte (vgl. Neubert 1997, S 395f.) Auf Zettel konnten die Jugendlichen in der Kirche Fragen schreiben, die unter Applaus verlesen wurden – ein unschätzbarer Moment von Öffentlichkeit in der Diktatur (vgl. Büscher et al. 1982, S. 264ff.). Es ging in den Fragen um die Verweigerung des Wehrdiensts, um Forderungen nach einem »Sozialen Friedensdienst« als Alternative zur Wehrpflicht, um die atomaren Bedrohungen des Kalten Krieges. Hunderte zogen anschließend mit Kerzen zur Ruine der Frauenkirche. Die Berichte in den Westmedien über diese unerhört große Veranstaltung machten für die landesweit verstreuten Friedensaktivist*innen sichtbar, dass sie eine Bewegung mit einer wachsenden Mobilisierungsbasis waren. Das Forum markiert aber auch den Beginn einer Distanzierung zwischen den Kirchen und den engagierten Gruppen, die auf diesen Schutz angewiesen waren. Als der sächsische Bischof die junge Hippieschar als „Wölfe im Schafspelz“ bezeichnete, benannte die sich in »anarchistische Gruppe Wolfspelz« um und suchte eigene Wege.

Wurzeln und Strömungen der Bewegung bis 1989

Die Wurzeln der Bewegung reichen weit zurück und sind eng gebunden an die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Die DDR entstand als Kriegsfolgengesellschaft auf den Trümmern des »Dritten Reichs«. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die in großen Teilen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht wenige von ihnen noch als »Volksschädlinge« angesehen hatte. Als Folge des Arbeiteraufstands von 1953 wurde das System der militarisierten, nach innen und außen gerichteten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung weiter gefestigt. Das Militär und die Militarisierung prägten das gesellschaftliche Leben, weshalb in der Forschung von der DDR auch als »militarisierte Organisationsgesellschaft« (vgl. Leistner 2016, S. 162ff.) gesprochen wird.

Zugleich war die Gesellschaft mentalitätsgeschichtlich betrachtet eine der »kleinen Leute« – geprägt von habitueller Konformität, mit nur wenigen Nischen für eine alternative Lebensführung und resistente oder renitente Sozialmilieus. Im Kontrast dazu hatte sich die Friedensbewegung in den 1980er Jahren als heterogenes, konfliktreiches, sich generational überlagerndes und zeitlich versetztes Nebeneinander von vier Strömungen ausdifferenziert, die sich idealtypisch folgendermaßen unterscheiden lassen:

  • Als »Kriegsablehnungsbewegung« der seit den 1970er Jahren entstandenen unabhängigen Friedensbewegung. Diese arbeitete teilweise seit Jahrzehnten, sie regte thematisch sich ausdifferenzierende Gruppengründungen an und hatte mit ihrer Haltung radikaler Gewaltablehnung einen entscheidenden Anteil am friedlichen Verlauf des Revolutionsherbstes. Getragen wurden diese Gruppen anfangs vor allem von Wehrdienstverweigerern und den sogenannten Bausoldaten.2 Anfänglich kreisten die Themen vor allem um Fragen von Wehrdienstverweigerung und zivilen Ersatzdiensten. Das Spektrum erweiterte sich rasch hin zu Ursachen der Eskalationslogik atomarer Bedrohung und, spätestens mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978, um die innere Militarisierung der Gesellschaft. Die Gruppen arbeiteten kontinuierlich und entwickelten Arbeitsmaterialien zur Friedenserziehung und zur einseitigen Abrüstung.
  • Die aus dem real existierenden Sozialismus ausgebürgerten Utopien lebten, genährt von den weltweiten Aufbrüchen der 1960er Jahre und besonders dem Prager Frühling, in großen Teilen der Friedensbewegung als »Reformbewegung« fort, die für einen besseren Sozialismus und 1989 für einen »Dritten Weg« stritten.
  • Gegen die Zukunftslosigkeit, die Konformität und die kleinbürgerliche Enge der Gesellschaft der »kleinen Leute« entwickelte sich eine jugendkulturelle Rebellion. Diese vom Lebenshunger getriebene »Emanzipationsbewegung« suchte Nischen für alternative Lebensformen und Freiräume in einem Land, das sie als Gefängnis erlebten: „Sechs Stunden hoch, vier Stunden breit“.
  • Noch deutlicher wurde die Kluft zu den reformsozialistischen Idealen der älteren Aktivist*innen Ende der 1980er Jahre, als die anschwellende »Protestbewegung« die verschiedenen Gruppen noch stärker politisierte – wie es sich etwa in der Gründung der »Initiative für Frieden und Menschenrechte« ausdrückte. Diese Politisierung markiert eine Wende hin zu mehr Konfrontations- und Risikobereitschaft all jener, die mit der DDR abgeschlossen hatten. Damit war der Weg bereitet für den Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989, der seinen Ausgang in den Friedensgebeten nahm.

Für den Fortgang der Ereignisse ist kaum zu überschätzen, wie stark die seit Jahren aktiven Gruppen seit Mitte der 1980er Jahre eine alternative Öffentlichkeit herstellten und durch riskante Aktionen in die Öffentlichkeit drängten; dadurch prägten sie die Sprache und Kultur der Revolution. Deren Nachdenklichkeit, Klarheit und Friedlichkeit ließen keinen Raum für Gewalt und Racheszenarien an jenen, die über Nacht ihre uneingeschränkte Macht verloren hatten.

Friedensbewegung nach 1989

War der Weg der Friedensbewegung mit der deutschen Einheit zu Ende? Es verblieben friedensbewegte Engagierte und Gruppen, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Auffällig ist zunächst die Marginalisierung der Friedensbewegung nach 1989 überall in der ehemaligen DDR. Zwischen 1989 und 1993 verschwanden in Ostberlin, Dresden, Leipzig und Halle weit mehr als die Hälfte dieser Zusammenschlüsse (vgl. Rucht/Blattert/Rink 1997, S. 75). Als Folgeprojekte, in Konkurrenz oder anlassbezogen, entstanden seit 1989 eine sehr begrenzte Zahl heterogener und unterschiedlich stabiler Projektgruppen innerhalb der nunmehr gesamtdeutschen Friedensbewegung:

  • Aktions- bzw. Protestgruppen, die sich über Netzwerkmobilisierung anlassbezogen bilden – etwa angesichts des zweiten Golfkriegs und aller folgenden protest­auslösenden Kriege;
  • Aktionsgruppen, die regelmäßig ritualisierte Protestaktionen organisieren und durchführen – den jährlichen Ostermarsch, das Friedensgebet zum Anti­kriegs­tag, die herbstliche Friedensdekade in den Kirchengemeinden;
  • Problembezogene Protestgruppen, deren Bezugsproblem dauerhaft »vor der eigenen Haustür« liegt – z.B. die Initiativen gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger-Heide und in der Kyritz-Ruppiner Heide;
  • Schließlich die Professionalisierung hin zur Friedensarbeit, die es erlaubt, das Friedensengagement zum Beruf zu machen – z.B. der 1990 gegründete »Friedenskreis Halle« oder das 1990 aus der Ökumenischen Versammlung heraus entstandene »Ökumenische Informationszentrum« in Dresden.

Sichtbar ist die Rolle von Akteur*innen und Konzepten der DDR-Friedensbewegung bei der Durchsetzung und Etablierung von Instrumenten »Ziviler Konfliktbearbeitung« wie dem »Zivilen Friedensdienst« als konkreter Alternative zu Formen militärischer Intervention. Dessen Etablierung wurde Mitte der 1990er Jahre u.a. von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angestoßen, die ersten Ausbildungskurse von Trainer*innen mit eigener Geschichte in der DDR-Friedensbewegung durchgeführt.

Ebenso ist das Engagement in Protestnetzwerken sichtbar, etwa gegen Bundeswehrstandorte. Gruppen und Akteure der DDR-Friedensbewegung gehörten zum organisatorischen Kern der langjährigen Proteste gegen die Truppenübungsplätze in der Colbitz-Letzlinger Heide und das Tiefflugübungs- und Bombenabwurfgelände in der Kyritz-Ruppiner Heide. Gerade der Protest gegen letztgenanntes »Bombodrom« wurde über Jahre zu einem lokalen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung, in seiner Funktion dem Wendland für die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht unähnlich. Gegründet wurde die Bürger­initiative von lokalen friedensbewegten Pfarrer*innen und Roland Vogt, damals Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg für den Abzug der Sowjetischen Streitkräfte und für Konversion. Zwischen 1992 und dem endgültigen Rückzug der Bundeswehr im Jahr 2010 wurden kontinuierlich Protestaktionen durchgeführt, teils durch die Bürgerinitiativen vor Ort, teils durch antimilitaristische Gruppen, die – nicht ohne Konflikte – stärker auf Aktionen zivilen Ungehorsams drängten (vgl. Hoch/Nehls 2000).

Nicht zuletzt waren und sind Aktive der ehemaligen Friedensbewegung der DDR in inhaltlichen Auseinandersetzungen um friedenspolitische Selbstverständnisse und die Zukunft des politischen Pazifismus engagiert. Die Militärinterventionen Deutschlands in den frühen 2000er Jahren führten zu intensiv ausgetragenen Konflikten in der Bewegung. Paradigmatisch dafür steht die Debatte um einen Artikel des ehemaligen grünen Staatsministers Ludger Volmer von 2002, der der Friedensbewegung in ihrer Ablehnung einer Militärinvasion einen „abstrakt-gesinnungsethischen Pazifismus“ (Volmer 2002) vorwarf, der über einen „Nachkriegspazifismus der fünfziger und sechziger Jahre“ nicht hinausreiche und als Bewertungsmaßstab für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen untauglich sei. Diese Frontstellung zwischen dem Rigorismus eines »gesinnungsethischen« und dem Pragmatismus eines »politischen Pazifismus«, die Volmer in dem Artikel zuspitzte, prägte selbst seit Jahren die friedensethischen Selbstverständigungsdebatten, in denen Vertreter der ehemaligen DDR-Friedensbewegung eine prominente Stellung einnahmen. So betonte der ehemalige Dresdner Superintendent Christof Ziemer, dass beide Haltungen aufeinander angewiesen seien: der »weisheitliche Pazifismus«, der die Zusammenarbeit mit dem Militär nicht ablehnt und die rigorose Gewaltablehnung eines »prophetischen Pazifismus« (vgl. Ziemer 1999).

Kirchliche Friedensarbeit nach 1989

Auch innerhalb der Kirchen blieb das Friedensthema umstritten. Der Kirchenhistoriker Klaus Fitschen sieht denn auch den politischen Protestantismus ostdeutscher Prägung seit 1989 zunehmend in der Defensive (Fitschen 2013). Trotz Kosovo-Krieg und Afghanistan-Einsatz verabschiedete die EKD erst 2007, den friedensethischen Debatten hinterherhinkend, eine Friedensdenkschrift (»Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen«), in der die friedensethischen Positionen des bundesdeutschen Protestantismus konkretisiert wurden. Bis dahin gab es nur die Denkschrift der EKD-West von 1981 und Stellungnahmen des DDR-Kirchenbundes, wobei Letzterer 1983 mit seiner „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ eine überaus deutliche friedenspolitische Position verabschiedet hatte, die 1987 in den wegweisenden Beschluss »Bekennen in der Friedensfrage« mündete. „Die Reaktionen auf die Friedensdenkschrift von 2007 waren sehr unterschiedlich. Friedrich Schorlemmer kritisierte: ‚Friedenspolitische Erkenntnisgewinne durch Christen in der DDR werden in der Denkschrift ignoriert, als habe es sie nicht gegeben’ […]. Damit sprach Schorlemmer das seit der Wiedervereinigung bestehende Unbehagen jener Kreise an, die sich mit ihrer pazifistischen Entschiedenheit an den Rand gedrängt sahen.“ (Fitschen 2013, S. 45)

Differenzierte Bewegung heute

Seit 1989 hat sich die Bewegung von einst stark ausdifferenziert. Es lassen sich wiederum idealtypisch drei Flügel unterscheiden, wenngleich es in den konkreten Gruppen Überschneidungen gibt.

  • Der protestorientierte Flügel vertritt die Position rigoroser Kriegsablehnung. Vertreter*innen beteiligten sich an riskanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Sie reisten Anfang der 1990er Jahre als lebende Schutzschilde in den Irak oder besetzten und entzäunten gewaltfrei das amerikanische Kommando-Zentrum für Europa (EUCOM) in Stuttgart oder den Atomwaffenstützpunkt in Büchel. Sie sind der Stachel im Fleisch einer kriegsgewöhnten Öffentlichkeit.
  • Für den diskursorientierten Flügel ist das Ringen um eine friedenspolitische Position angesichts der stark veränderten politischen Rahmenbedingungen charakteristisch. Er bemüht sich um eine Vermittlung zwischen Befürworter*innen militärischer Interventionen in Bürgerkriegsregionen und radikalen Gegner*innen militärischer Gewalt und um eine differenzierte Haltung in einer sicherheitspolitisch unübersichtlicheren Gegenwart.
  • Als Drittes unterscheide ich einen präventionsorientierten Flügel, der in gewisser Weise zwischen den beiden Polen steht. In ihm verbindet sich die Einsicht in die veränderte sicherheitspolitische Situation mit dem Drang, ganz praktisch etwas tun zu wollen. Eine entsprechende Konjunktur hatte denn auch das Thema »Zivile Konfliktbearbeitung im In- und Ausland« auch in der ostdeutschen Bewegung.

Wie ist die aktuelle Situation? Mit der Professionalisierung als staatlich finanzierte Entsendedienste ziviler Friedensfachkräfte hatten viele Initiativen zwischenzeitlich ihre friedenspolitische Bissigkeit verloren. Aber immer wieder beteiligten sich Gruppen und Organisationen an Kampagnen gegen Rüstungsexporte, für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder zuletzt für »zivile Alternativen in Syrien«. Die Friedensbewegung hält Themen wach, die – obwohl drängend – häufig von der Bildfläche verschwunden sind. Beachtenswert ist dabei die langjährige Kontinuität des Engagements für zivile Konfliktbearbeitung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens oder das Engagement gegen Rechtsextremismus. Die größte Leistung ist sicher der Beitrag der Friedensbewegung zur Friedlichen Revolution 1989, viel weniger sichtbar sind solche wie die erfolgreichen Proteste gegen das Bombodrom in Brandenburg: ein über Jahre geführter und breit verwurzelter Widerstand der damals noch jungen und nicht eben erfolgsverwöhnten Zivilgesellschaft in den neuen Ländern. Auch daran sollte – selbstbewusst – erinnert werden.

Anmerkungen

1) Eine etwas ausführlichere Biographie von Johanna Kalex und ihrem Wirken findet sich im Personenlexikon des Projektes »Jugendopposition in der DDR« von bpb und Robert Havemann Gesellschaft: www.jugendopposition.de

2) Bausoldaten waren eine Besonderheit des DDR-Rekrutierungssystems. Auf Druck religiöser Gruppen wurde der Dienst in waffenlosen Baueinheiten der NVA 1964 eingeführt. Er war neben Gefängnis die einzige Alternative für Kriegsdienstverweigerer.

Literatur

Büscher, W.; Wensierski, P.; Wolschner, K. (Hrsg.) (1982): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978–1982. Hattingen: edition transit.

Fitschen, K. (2013): Der politische Protestantismus in Ost und West zwanzig Jahre danach: eine missglückte Wiedervereinigung? In: Pickel, G.; Hidalgo, O. (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? Wiesbaden: VS Verlag, S. 39–46.

Hoch, S.; Nehls, H. (2000): Bürgerinitiative FREIe HEIDe. Bombodrom – nein Danke! Berlin: Espresso Verlag.

Leistner, A. (2016): Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Konstanz: UVK.

Neubert, E. (1997): Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.

Rucht, D.; Blattert, B; Rink, D. (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt/M.: Campus.

Volmer, L. (2002): Was bleibt vom Pazifismus. Die alten Feindbilder haben ausgedient. Warum militärische Mittel nicht ganz verzichtbar sind. Frankfurter Rundschau, 7.1.2002.

Ziemer, C. (1999): Ein neues Gefühl von Sicherheit ist gefragt. Publik Forum, Nr. 14, S. 10.

Dr. Alexander Leistner, Soziologe, wohnt in Leipzig und leitet an der Universität Leipzig zwei Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes »Das umstrittene Erbe von 1989« (www.erbe89.de).

Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft


Atomwaffen unter Bidens Präsidentschaft

von Jacqueline Cabasso

Joseph Biden hat seine Präsidentschaft mit einem Ehrfurcht einflößenden Berg an Herausforderungen vor sich angetreten. Ersten Anzeichen nach wird Bidens Regierung im Inland eine dramatische Kehrtwende einleiten: zur rücksichtslosen Missachtung der Pandemie unter der Regierung Trumps; zu ihrer fremdenfeindlichen Politik, die auf Immigrant*innen, People of Color, Muslime*a, Jüd*innen, Frauen, nicht binär-identifizierte Menschen und die Armen abzielte; und zu ihrem Angriff auf das Gesundheitssystem, die Umwelt und die Demokratie an sich.

Außenpolitisch hingegen sind die Absichten der neuen Regierung weniger klar ersichtlich. Bidens Ankündigung an seinem ersten Tag im Amt, dem Pariser Klimaabkommen und der WHO wieder beitreten zu wollen, ist ein willkommenes Signal und er wird ernstzunehmende Anstrengungen unternehmen, belastete Beziehungen zu Verbündeten wieder zu verbessern.

Mit Blick auf Bidens Vergangenheit und seine acht Jahre als Vizepräsident unter Präsident Obama können wir allerdings bezüglich der schwierigen Beziehungen zu Russland, China, Nordkorea und dem Iran, sowie des US-Atomwaffenprogramms wahrscheinlich eine Rückkehr zum Status-Quo erwarten, der vor Donald Trump galt.

Joe Biden ist schon seit 1979 in Rüstungskontrollverhandlungen involviert. Bevor er im Januar 2017 aus dem Amt schied, sprach der damalige Vizepräsident über den Wert von Verträgen: „Gerade weil wir unseren Gegner*innen nicht trauen, sind Verträge, die das menschliche Zerstörungspotential begrenzen, so unerlässlich für die Sicherheit der USA. Rüstungskontrolle ist wesentlich für unsere nationale Verteidigung und – wenn es Atomwaffen betrifft – für unsere Selbsterhaltung.“

Das bietet Anlass zu vorsichtigem Optimismus sowohl für eine erfolgreiche Verlängerung des START-Vertrages mit Russland und eine mögliche Rückkehr in den JCPOA [das Iran-Abkommen, die Red.], als auch für zukünftige bi- und multilaterale Rüstungskontrollverhandlungen.

In seiner Rede im Januar 2017 erklärte Biden: „Ich glaube, dass wir weiter nach dem Frieden und der Sicherheit einer atomwaffenfreien Welt streben müssen.“ Aber weiter: „Nukleare Abschreckung ist der Kern unserer nationalen Verteidigung seit dem Zweiten Weltkrieg. Solange andere Staaten Atomwaffen besitzen, die sie gegen uns einsetzen könnten, werden wir ein sicheres, gut geschütztes und effektives Atomwaffenarsenal unterhalten müssen, um Angriffe gegen uns und unsere Verbündeten abzuschrecken. Darum haben wir zu Beginn unserer Amtszeit die Finanzierung zur Aufrechterhaltung unseres Arsenals und zur Modernisierung unserer atomaren Infra­struktur erhöht.

Als Donald Trump sein Amt antrat, hatten die USA geplant, 1,2 Bio. US$ über die folgenden 30 Jahre in Unterhaltung und Modernisierung ihrer Atombomben, Waffenköpfe, Trägersysteme und Infrastruktur zu stecken, um die atomare Unternehmung auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Zu Bidens Amtsantritt ist diese enorme Summe schon auf 1,7 Bio. US$ angewachsen.

Biden hat in der Vergangenheit bekanntermaßen unterstützt, die Bedingungen dafür zu schaffen, Atomwaffen nur noch zur Abschreckung eines gegnerischen Angriffs zu besitzen und die strategische Bedeutung von Atomwaffen in der nationalen Sicherheitspolitik zu reduzieren. Noch ist es aber zu früh, um vorhersagen zu könne, ob das zur Absage geplanter neuer Waffensysteme oder der Abschaffung landgestützter Interkontinentalraketen führen wird, wie von manchen angeregt. In seiner Senatsanhörung zur Bestätigung versprach der neue US-Verteidigungsminister zwar eine Prüfung des Atomwaffen-Modernisierungsprogramms, erklärte aber seine „persönliche“ Unterstützung für die strategische Triade.

Obwohl der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten ist, wird, durch den etablierten militärisch-industriellen Komplex mit Atomwaffen als seinem Kern, durch eine große und reaktionäre republikanische Minderheit im Kongress sowie das Fehlen einer sichtbaren Anti-Atomwaffen-Bewegung in den USA, auf absehbare Zeit keine grundsätzliche Änderung der US-Atomwaffenpolitik zu erwarten sein.

Die Zivilgesellschaft muss sich daher zusammenschließen wie nie zuvor, um dauerhafte, breite, diverse und mehrere Themen umfassende Koalitionen, Netzwerke und Meta-Netzwerke zu schaffen, die auf unserer geteilten Hingabe zu einer universellen, unteilbaren menschlichen Sicherheit beruhen.

Jacqueline Cabasso ist Direktorin der »Western States Legal Foundation« in Kalifornien. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks »Abolition 2000« zur Abschaffung aller Atomwaffen, Beraterin bei »Mayors for Peace« und aktiv im Koordinationskreis von »United for Peace and Justice«.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing

Es ist geschafft! Gorleben lebt!


Es ist geschafft! Gorleben lebt!

Ein Kommentar zum Zwischenbericht der Bundesgesellschaft für Endlagerung

von Wolfgang Ehmke

Mit dem Zwischenbericht der Endlagerkommission geht ein entscheidendes Kapitel in der bundesdeutschen Atomgeschichte zu Ende: der jahrzehntelange Streit um die Eignung des Salzstocks Gorleben-Rambow für die Endlagerung. Die Bürgerinitiative vor Ort hat diese Auseinandersetzung maßgeblich mitgestaltet, kreative Protestformen ausprobiert und nun schlußendlich Recht bekommen. W&F bot der BI an, einen Kommentar zum gerade erschienenen Zwischenbericht zu veröffentlichen.

Für die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. (BI) ist es keine Überraschung, dass der Salzstock Gorleben-Rambow beim geowissenschaftlichen Ranking der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE 2020a) durch- und als Endlagerstandort herausfiel. Die Fakten, die gegen eine Eignung sprechen, sind lange bekannt. Schon nach Auswertung der Tiefbohrungen in den Jahren 1981-1983 wurden die geologischen Mängel dokumentiert. Die damals federführende Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) hatte diese Mängel ebenfalls in einem Zwischenbericht festgehalten und die Empfehlung ausgesprochen, neben Gorleben weitere Standorte zu untersuchen. Nach Interventionen aus Regierungskreisen wurde diese Empfehlung jedoch kassiert, stattdessen wurde dem Salzstock fälschlich dessen „Eignungshöffigkeit“ attestiert (Deutscher Bundestag 2013, S. 146).

Ein Erfolg nach langen Jahren

Nun sind die Fakten amtlich. Die BGE nahm in ihren Zwischenbericht, den sie am 30. September 2020 in Berlin vorstellte, ein eigenes Kapitel zu Gorleben auf und legte die wissenschaftsbasierten Ausschlussgründe dar (BGE 2020b). Da mag man in Bayern schäumen, aber Gorleben ist raus.

Damit hat die BI erneut Geschichte geschrieben, das darf man mit Fug und Recht behaupten – generationenübergreifend, bunt, unverzagt, frech und mit langem Atem. Vor 43 Jahren sollte im Wendland ein riesiges Atommüllzentrum gebaut werden (Ehmke 2013, S. 15). Das Herzstück, eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA), war der Ausdruck des staatlichen Bestrebens, die zivile Nutzung der Atomkraft mit der militärischen Nutzung zu verknüpfen.1 Der Widerstand gegen die Endlagerung im Land war groß, nicht nur im Wendland.

Der »Gorleben-Treck« von Hunderten protestierenden Landwirten nach Hannover im Jahr 1979 brachte die erste Wende. 100.000 Menschen bejubelten den Treck, der gegen die Pläne eines Atomzentrums im Wendland mit einer Wiederaufbereitungsanlage für Plutonium, hohen Schloten und radioaktiver Verseuchungsgefahr demonstrierte. Die Menschen entlang der Strecke und auf den Traktoren waren nicht minder aufgeschreckt durch die Havarie im Atomkraftwerk »Three Mile Island« (Harrisburg) im selben Jahr. „Technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar“, sagte schließlich genau derjenige, der uns das Atomzentrum im Wendland auf großen Druck der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) eingebrockt hatte: Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) ruderte zurück. Er sah in der Aufgabe der WAA-Pläne die Chance, zumindest das Endlagerprojekt in Gorleben durchzusetzen. In einem Brief an Bundeskanzler Schmidt erläuterte er seine Strategie: Wichtiger als der Bau einer WAA sei, dass die Vorarbeiten zum Bau eines Atommüllendlagers weitergingen, um für den Bau und Betrieb der Atomkraftwerke einen Entsorgungsnachweis liefern zu können (Ehmke 1987, S. 58 f.).

Auch Pläne für eine Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf scheiterten 1989, befeuert durch die bundesweiten Proteste nach dem Super-GAU in Tschernobyl drei Jahre zuvor. Ob in Wyhl, Brokdorf, Grohnde oder anderswo, Menschen gingen gegen die dort vorgesehenen Atomkraftwerke auf die Straße und forderten den Atomausstieg. Der Ausbau des Atomprogramms stotterte, und der außerparlamentarische Protest erwies sich als Korrekturfaktor für eine verfehlte Energiepolitik. Selbst das Bundesverfassungsgericht verwies in seinem Grundsatzurteil zur Versammlungsfreiheit in Brokdorf darauf, die Proteste seien ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie (BVerfG 1985; Der Spiegel 1985).

Bei jedem Castortransport zwischen den Jahren 1995 bis 2011 war das Wendland der zentrale Ort, wo auf Kundgebungen, auf der Straße und der Schiene der Atomausstieg eingefordert wurde, ebenso der Ausbau der regenerativen Energien und das Ende des geologisch höchst problematischen »Endlagerbergwerks« in Gorleben. Der schreckliche, von einem Erdbeben ausgelöste Tsunami in Japan 2011 mit der anschließenden Reaktorkatastrophe von Fukushima wirkte nochmals wie ein Treibsatz. Erneut gingen Abertausende für den Atomausstieg auf die Straße, und die Regierungskoalition von CDU und FDP, die zuvor noch die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke und das Ende des Gorleben-Moratoriums2 beschlossen hatte, stoppte den Irrsinn (Tagesschau.de 2011). Damit wurde deutlich, dass sich der zivile, gewaltfreie Widerstand, die Beharrlichkeit und die Expertise der Arbeit der Bürgerinitiative über mehr als 40 Jahre ausgezahlt haben. Die Nutzung der Atomenergie in Deutschland wird beendet. Nun galt es noch, das geologisch unsinnige unterirdische Endlager für hochradioaktive Abfälle in Gorleben zu verhindern.

Das StandAG und seine Probleme

2013 wurde endlich ein neues Standortauswahlgesetz (StandAG) zur Auswahl möglicher Endlagerstandorte für hochstrahlenden Müll nach wissenschaftlichen Kriterien beschlossen, das 2017 nochmals überarbeitet wurde (StandAG 2017).3 Dass es dazu kam, ging unmittelbar auf die nicht versiegenden Proteste gegen die Castortransporte in den Jahren 2010 und 2011 zurück. Hinzu kamen die Ergebnisse eines drei Jahre tagenden Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu Gorleben, die 2013 vorgelegt wurden.4 Im Untersuchungsbericht wurden die ganzen Tatachenverdrehungen und Manipulationen, die es zu Gorleben gegeben hatte, herausgearbeitet, dennoch kam es nicht zu einem gemeinsamen Votum. Die Unionsparteien und die FDP klammerten sich nach wie vor an Gorleben, doch der Standort war angezählt.

In dem im Oktober 2020 vorgelegten Zwischenbericht identifizierte die BGE 90 Teilgebiete, die den geologischen Mindestanforderungen entsprechen. Diese Teilgebiete decken 54 % der bundesdeutschen Gesamtfläche ab, allerdings mit großen regionalen Unterschieden, denn allein 56 dieser Teilgebiete entfallen auf Niedersachsen. Mit dem havarierten, einst illegal betriebenen Endlager Asse II, dem Schacht Konrad sowie dem geplanten Endlager Gorleben hatte Niedersachsen auch in der Vergangenheit schon die Hauptlast im Atommüll-Desaster zu schultern.

Im Suchverfahren nach dem StandAG werden nun neben Salzstöcken auch flache Salzvorkommen, Ton und Kristallin als mögliches Lagergestein in Betracht gezogen.

Zu kritisieren gibt es am bisherigen Suchverfahren vor allem die fehlenden oder marginalen Mitbestimmungsmöglichkeiten Betroffener (Jahrens 2020). Die Rolle der Zivilgesellschaft, das lehrt uns die Gorleben-Erfolgsgeschichte, ist jedoch von zentraler Bedeutung für die Gestaltung und Akzeptanz einer jeglichen Suche nach einem Endlager (Gorleben Archiv 2019). Die Bundesregierung erschwert ohne einen transparenten und bürgernahen Prozess erneut die Suche nach einem Endlager. Daher sind mit zunehmender Eingrenzung möglicher Endlagerorte auch dort Proteste und Konflikte zu erwarten.

Widerstand übersetzen

Der jetzt vorgelegte Zwischenbericht der BGE ist ein erster Schlusspunkt unter die lange Geschichte des Widerstands gegen die Endlagerung im Wendland und deutet das Ende der Ära der atomaren Energiewirtschaft an. Doch längst ist das wendländische Widerstandssymbol X weitergewandert. Es taucht u.a. in den Dörfern auf, die vom Braunkohleabbau betroffen sind – Gorleben ist jetzt tatsächlich »überall«, denn es geht nicht mehr allein um die Atomkraft, sondern um eine Energiepolitik ohne Kohle und Atom.

Wie ein Sauerteig hat der widerständige Geist der Zivilgesellschaft das ganze Land erfasst. In diesem Sinne: »Gorleben lebt!« – bundesweit. Nach der Veröffentlichung des Zwischenberichtes der BGE bot die BI im Wendland umgehend anderen Initiativen ihre Unterstützung an, auch wenn sich die Erfahrungen und das Protestgeschehen im Wendland nicht einfach auf andere Regionen übertragen lassen. Die BI wird die Umsetzung des Atomausstiegs weiterhin kritisch und in Solidarität mit anderen Initiativen begleiten.

Anmerkungen

1) In einer Wiederaufarbeitungsanlage wird aus abgebrannten Brennelementen das beim Abbrand entstandene Plutonium abgetrennt. Dieses kann für die erneute Nutzung in Atomkraftwerken so genannten MOX-Brennelementen beigemischt oder zur Produktion von Atomwaffen verwendet werden. Im deutschen Plutoniumbunker in Hanau lagerte noch bis 2005 waffenfähiges Plutonium, teilweise seit den 1980er Jahren.

2) Das »Gorleben-Moratorium« wurde im Jahr 2000 von der Regierungskoalition von SPD und Bündnis90/Die Grünen mit den Energieversorgungsunternehmen vereinbart. Es sah die Einstellung der Erkundung des Bergwerks Gorleben bis 2010 vor, um bis dahin allgemeine sicherheitstechnische Fragen der Endlagerung zu klären.

3) Das Suchverfahren für schwach- und mittelstrahlenden Atommüll ist im Zwischenbericht ausgeklammert. Die Unklarheit über die Endlagersuche für diese schwächer strahlenden Müllsorten zementiert die »Quasi«-Lagerung in Schacht Konrad in Salzgitter.

4) Der Untersuchungsausschuss kam zustande, nachdem der Autor beim Bundesamt für Strahlenschutz Akteneinsicht in die Unterlagen zu den Tiefenbohrungen der Jahre 1981-83 im Salzstock Gorleben-Rambow genommen und festgestellt hatte, dass die damaligen Empfehlungen nicht den Ergebnissen der Erkundung entsprachen.

Literatur:

BVerfG (1985): Beschluss des Ersten Senats vom 14. Mai 1985, Aktenzeichen 1 BvR 233, 341/81. BVerfGE 69, S. 315.

Bundesgesellschaft für Endlagerung (2020a): Zwischenbericht Teilgebiete gemäß §13 StandAG. SG01101/16-1/2-2019#3. Peine: BGE.

Bundesgesellschaft für Endlagerung (2020b): §36 Salzstock Gorleben – Zusammenfassung existierender Studien und Ergebnisse gemäß §§22 bis 24 StandAG im Rahmen der Ermittlung von Teilgebieten gemäß §13 StandAG. SG01101/16-1/2-2020#25. Peine: BGE.

Deutscher Bundestag (2013): Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes [Gorleben-Untersuchungsausschuss]. Drucksache 17/13700.

Der Spiegel (1985): Hohe Schwelle. Nr. 31/1985, S. 36-37.

Ehmke, W. (1987): Zwischenschritte – Die Anti-Atom-Kraft-Bewegung zwischen Gorleben und Wackersdorf. Köln: Kölner Volksblatt.

Ehmke, W. (2013): Der Widerstand gegen die Atomkraft im Wendland. In: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv IV – Gorleben und der Castor-Widerstand. Bibliothek des Widerstands, Bd. 24. Hamburg: Laika, S. 13-37.

Gorleben Archiv e.V. (Hrsg.) (2019): „Mein lieber Herr Albrecht …!“ Wie der Gorleben-Konflikt eine Region veränderte – 34 Gespräche mit Zeitzeugen. Lüchow: jeetzelbuch.

Jahrens, L. (2020): Partizipation oder Particitainment? Gorleben Rundschau, Heft V-VII/2020, S. 18-20.

Standortauswahlgesetz (StandAG) vom 5. Mai 2017 (Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle). BGBl. I, S. 1074.

Tagesschau.de (2011): Der Einstieg in den stufenweisen Ausstieg – Kabinett billigt Atomausstieg bis 2022. Tagesschau.de, 6.6.2011.

Wolfgang Ehmke ist langjähriger Sprecher der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V., Publizist und Autor des Widerstandsromans »Der Kastor kommt! Eine Beziehungsgeschichte« (2019, Lüchow: Köhring). Er arbeitet als Dozent in Sprachkursen für Geflüchtete.

Umwelt und Frieden


Umwelt und Frieden

Eine unauflösliche Beziehung

von Alexander Lurz

Nur im Frieden ist der Schutz der Lebensgrundlagen garantiert, und nur intakte Lebensgrundlagen garantieren den Frieden. Frieden bedeutet, miteinander in Freiheit, Sicherheit und Vielfalt in einer gesunden Umwelt leben zu können. Im Krieg wird die Umwelt geschädigt oder zerstört, und eine geschädigte oder zerstörte Umwelt belastet oder beendet einen Friedenszustand. Diese Einsicht bestimmte schon in der Gründungsphase die Arbeit von Greenpeace – und nicht nur den Organisationsnamen. Bis heute gehören »green« und »peace« zusammen.

Im September 1971 stach ein Fischkutter in See. Sein Ziel war Amchitka, eine Insel vor der Küste Alaskas und damals Atomtestgelände der USA. Die Insel erreichten die Aktivist*innen der Umwelt- und Friedensbewegung aufgrund des schlechten Wetters und der US-Küstenwache zwar nie. Ihr Ziel jedoch erreichten sie: den geplanten Atomtest zu verhindern. Ihre Protestfahrt bewirkte eine derartige öffentliche Reaktion, dass die US-Regierung einknickte und den Test absagte. Die Aktivist*innen an Bord waren die ersten Greenpeacer*innen. Schon in dieser ersten Greenpeace-Aktion kam beides zusammen: der Schutz der Umwelt und der Einsatz für den Frieden.

Zerstörung von Lebensgrundlagen

Auf mindestens drei Ebenen spielt sich die Zerstörung von Lebensgrundlagen durch oder in der Folge von kriegerischen Handlungen für die Bevölkerung vor Ort ab: Erstens unmittelbar durch die Zerstörung notwendiger Lebensressourcen, zweitens mittelbar durch die weitere Verschärfung eines Konflikts aufgrund eines sich daraus ergebenden Ressourcenmangels und drittens durch einen ressourcenbelastenden Wiederaufbau der im Krieg zerstörten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur.

Beispiel Kuwait/Irak-Krieg

Als die internationale Koalition unter Führung der USA 1991 die Besetzung Kuwaits durch Irak beendete, sprengten die irakischen Truppen auf ihrem Rückzug die kuwaitischen Erdölanlagen und setzten so insgesamt 732 Ölquellen in Brand. Zwischen 300.000 und 700.000 Tonnen Öl verbrannten täglich. Die Rauchentwicklung hatte einen Temperaturabfall in der Region um zehn Grad Celsius zur Folge. Die geringere Sonneneinstrahlung führte zu einem verminderten Pflanzenwachstum an Land und im Wasser in der Region. Der Qualm selbst enthielt mehrere tausend Tonnen Schwefeldioxid, Stickstoffoxide, Kohlenmonoxid und Schwermetalle, wie Cadmium, Blei, Vanadium und Chrom, die teils krebserregend oder erbgutschädigend sind. »Schwarzer Regen« ging u.a. in der Türkei, im Iran, im Kaukasus und im Oman nieder. Im Niederschlag fanden sich auch Kohlenwasserstoffe, Salpetersäure, Schwermetalle und Dioxine. In Kuwait bedeckte der Ruß eine Fläche von rund 935 km2 (Arkin et al. 1991. S. 62-72).

Beispiel Syrienkrieg

Während das Beispiel Kuwait exempla­risch für einen einzelnen drastischen Akt der Umweltzerstörung steht, wird an Beispielen aus dem Syrienkrieg deutlich, wie verschiedenartig Krieg Lebensgrundlagen in Mitleidenschaft zieht bzw. zerstört. Der Zusammenbruch öffentlicher Versorgungsleistungen in einem Krieg wird gemeinhin nicht unmittelbar unter dem Stichwort Umweltschäden betrachtet: In Syrien kollabierte in Städten wie Homs, Aleppo oder Hama das Abfall­entsorgungssystem. In der Folge wurde der Müll in den Deponien nicht mehr abgedeckt, sondern teils einfach verbrannt, und Gefahrstoffe wurden nicht mehr gesondert und sicher entsorgt. Dass dieses Folgen für die Umwelt wie für die Bewohner*innen in den betroffenen Gebieten hat, ist zwar unter Kriegsbedingungen schwerlich abschätzbar, ist aber evident.

Eine direkte Umweltgefahr geht auch vom Schutt aus, der bei der kriegsbedingten Zerstörung oder Beschädigung von Gebäuden entsteht. Die bei Explosionen pulverisierten Baumaterialien enthalten giftige Stoffe, wie Asbest oder polychlorierte Biphenyle (Pax 2015, S. 39). Um eine Vorstellung von der Dimension dieses Problems zu bekommen: Die Weltbank schätzte in ihrer 2017 erschienen Studie »The Toll of War – The Economic and Social Consequences of the Conflict in Syria«, dass bereits zu diesem Zeitpunkt sieben Prozent des Wohnungsbestands in dem Bürgerkriegsland zerstört und weitere 20 Prozent beschädigt waren. Millionen Tonnen in Teilen giftigen Schutts finden sich also in dem Land.

Kontaminationen von Boden und Wasser ergeben sich im Krieg auch durch Angriffe auf Industrieanlagen, die zu den ersten strategisch relevanten Zielen zählen. Giftstoffe können bei Beschädigung und Zerstörung der Produktionsanlagen unterschiedlichster Industriezweige entstehen. Neben naheliegenden, wie der Chemieindustrie, betrifft dies beispielsweise die Textilindustrie und selbst solche wie die Lebensmittelindustrie. Industrieanlagen zählten auch im syrischen Bürgerkrieg zu den Angriffszielen. Die al-Sheikh-Najjar-Industriezone bei Aleppo, die ehemals größte im gesamten Nahen und Mittleren Osten, wurde massiv umkämpft. Wie die niederländische Organisation Pax dokumentiert, waren bei Kriegsausbruch über 1.250 Industrie­anlagen in Betrieb (Zwijnenburg und te Pas 2015, S. 27). Berichte von vor Ort und Satellitenaufnahmen dokumentierten großflächige Zerstörungen; nach Angaben der syrischen Staatsmedien waren Ende 2014, rund ein halbes Jahr nach der Rückeroberung, gerade einmal 300 Anlagen wieder im Betrieb (ebenda, S. 26-28).

Auch die Ölfelder, Transportsysteme sowie Raffinerien waren und sind Ziele im syrischen Bürgerkrieg. So flog die Anti-IS-Koalition allein von Juni bis August 2017 über 1.300 Angriffe auf Ölanlagen im Herrschaftsbereich des Islamischen Staats in Syrien (Zwijnenburg 2018) und verursachte damit das Auslaufen von Rohöl sowie die Freisetzung von giftigen Bestandteilen des Öls durch Explosionen und Brand. Welches Ausmaß Angriffe und Zerstörungen haben, zeigt das Recherche-Kollektiv Bellingcat auf seiner Homepage (ebenda).

Beispiel Öltanker vor der Küste Jemens

Ein dritter, bislang nur potenziell verheerender Fall als letztes Beispiel: Vor der Hafenstadt Hodeidah an der Westküste Jemens liegt der Öltanker »FSO Safer«. In seinen Tanks befinden sich 1,15 Millionen Barrel Erdöl. Aufgrund fehlender Wartungsarbeiten an dem Tanker infolge des jemenitischen Bürgerkriegs droht die Freisetzung des Erdöls durch eine Explosion, ein Feuer oder ein Leck und damit eine Ölkatastrophe enormen Ausmaßes im Roten Meer. Die Rohölmenge an Bord der »FSO Safer« übertrifft, dies zur Veranschaulichung, die bei der Exxon-Valdez-Katastrophe im März 1989 an der Küste Alaskas ausgelaufene Menge um das Vierfache. Die Vereinten Nationen warnen, das Ökosystem des Roten Meeres, auf das rund 30 Millionen Menschen angewiesen sind, würde bei einem Unglück mit der »FSO Safer« verheerend geschädigt werden. Zudem würde in einem solchen Szenario mit hoher Wahrscheinlichkeit der Hafen von Hodeidah blockiert sein, der zur Versorgung eines großen Teils der Bevölkerung Jemens strategisch wichtig ist (United Nations 2020a und 2020b; Greenpeace 2020).

Das » Übereinkommen über das Verbot der militärischen oder einer sonstigen feindseligen Nutzung umweltverändernder Techniken« der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1977 untersagt verändernde Eingriffe in die Natur zu militärischen Zwecken. Insbesondere das Beispiel Syrien unterstreicht, dass dieses Verbot nicht ausreicht. Ein Reformprozess auf UN-Ebene hat begonnen, ist jedoch nicht abgeschlossen.

Ohne intakte Umwelt kein Frieden

Während die Umwelt zum Opfer des Krieges werden kann, kann umgekehrt ein Friedenszustand durch Umweltzerstörung gefährdet oder gar beendet werden. Als Beispiel soll hier allein die womöglich größte Herausforderung in der Geschichte der internationalen Staatengemeinschaft genannt werden: die Klimakrise.

Mittlerweile hat sich unter Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und darüber hinaus ein Konsens herausgebildet, wonach die Erderhitzung als »Bedrohungsmultiplikator« zu betrachten ist (vgl. z.B. IISS 2019, S. 37-46). Von einem »Bedrohungsmultiplikator« spricht auch das Auswärtige Amt (2020). Die Auswirkungen des Klimawandels können ohnehin instabile Regionen weiter erschüttern und noch scheinbar stabile Regionen destabilisieren. Der Zugang zu knapper werdenden Ressourcen, wie fruchtbarem Land oder Wasser, wird häufig zum Treiber von Konflikten. Ebenso kann durch die Klimakrise erzwungene Migration destabilisierende Effekte auf Staaten wie Regionen haben.

Das Bewusstsein für die vorhandene Bedrohung des Friedens infolge der Klimakrise wächst. Sichtbarer Ausdruck dafür ist, dass die Bundesregierung dieses Thema offensiv vorantreiben will. So veranstaltete das Auswärtige Amt 2020 die »Climate and Security Conference« in Berlin, und die Bundesregierung setzte Klima und Sicherheit für ihre Zeit als nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates auf die Agenda der Weltorganisation.

Die Antwort auf die epochale Bedrohung für Frieden und Stabilität weltweit kann nur eine doppelte sein: Es müssen seitens der internationalen Staatengemeinschaft alle Anstrengungen unternommen werden, die Erderhitzung zu begrenzen. Zudem ist es zwingend notwendig, neue Mittel und Wege zu finden, sich abzeichnende (Klima-) Konflikte zu verhindern. Dabei reicht es eben nicht aus, Mehr vom Gleichen zu tun, also beispielsweise die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit für besonders betroffene Entwicklungsländer zu erhöhen. Es bedarf einer wirksamen Stützung durch gerechte und faire Handelsbeziehungen, die es solchen Staaten erlauben, sich mit größeren Mitteln und eigenständig vorzubereiten. Es bedarf ebenso einer präventiven Mäßigung seitens der Staaten, deren Interessen rund um den Globus reichen und die durch Waffenlieferungen und Militärinterventionen Instabilität ­schaffen.

Was tut Greenpeace?

Umwelt und Frieden lassen sich nicht getrennt denken. Greenpeace Deutschland – Kolleg*innen in anderen Länderbüros arbeiteten teils kontinuierlich daran weiter – hat sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts punktuell zum Thema Frieden medienwirksam geäußert. Seit dem vergangenen Jahr gibt es nun auch eine stetige Friedensarbeit in Deutschland – getragen vom Wunsch der Ehrenamtlichen, der Förder*innen und den Hauptamtlichen bei Greenpeace Deutschland, hier wieder mit aller Kraft aktiv zu werden. Das Kampagnenteam arbeitet derzeit zu deutschen Waffenexporten, Atomwaffen und Klima und Konflikt. Studien, wie zur geplanten Beschaffung von F-18-Kampflugzeugen als neuem Atomwaffenträgersystem der Bundeswehr oder zur (verheerenden) Bilanz der deutschen Waffenexportpolitik der vergangenen 30 Jahre, sowie Artikel zur UN-Resolution 1325 »Frauen, Frieden und Sicherheit« und über bisherige Greenpeace-Aktionen bei Rheinmetall, vor dem Wirtschafts- und dem Verteidigungsministerium finden sich online unter greenpeace.de/frieden.

Literatur

Arkin, W.M.; Durrant, D.; Chreni, M. (1991): : On Impact – Modern Warfare and the Environment. Greenpeace.

Auswärtiges Amt (2020): Climate change as a secur­ity risk – Berlin Climate and Security Conference 2020; berlin-climate-security-conference.de.

Averting an oil spill from the FSO SAFER tanker in Yemen. Offener Brief von Jennifer Morgan, Geschäftsführerin Greenpeace International, an UN-Generalsekretär António Guterres, 11.8.2020.

International Institute for Strategic Studies/IISS (2019): Armed Conflict Survey 2019 – The Security Implications of Climate Change.

United Nations (2020a): Without Access to Stricken Oil Tanker off Yemen, Under-Secretary-General, Briefing Security Council, Warns of Environmental, Economic, Humanitarian Catastrophe. Press release SC/14254, 15.7.20.

United Nations (2020b): Guterres ‘deeply concerned’ over environmental threat posed by stricken oil tanker off Yemen coast. UN News, 14.8.2020.

Zwijnenburg, W. (2018): Nefarious Negligence – Post-Conflict Oil Pollution in Eastern Syria. Bellingcat, 9.4.2018.

Zwijnenburg, W.; te Pas, K. (2015): Amidst the debris … – A desktop study on the environmental and public health impact of Syria’s conflict. Utrecht: Pax.

Alexander Lurz ist Greenpeace-Campaigner Peace and Disarmament.
An diesem Text arbeiteten Tabea Schüssler und Antje Rudolph mit.

Der »Konsens für den Frieden«


Der »Konsens für den Frieden«

Friedenspolitische Ansätze der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

von Elsa Benhöfer

Durch die COVID-19-Krise, aber auch die sich ständig verändernden internationalen Allianzen, steht die externe Politik der Europäischen Union vor großen Herausforderungen. Am 1. Juli 2020 übernahm Deutschland für ein halbes Jahr die Präsidentschaft des EU-Rates. „Eine handlungsfähige Europäische Union für eine partnerschaftliche und regelbasierte internationale Ordnung“ – so beschreibt die Bundesregierung im letzten Kapitel ihrer Agenda »Gemeinsam. Europa wieder stark machen« das Ziel des europäischen „Außenhandelns“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 21). Dieser Artikel skizziert die dort vorgestellten friedens­politischen Ansätze und fragt, wo Lücken bestehen bleiben – mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus.

Deutschland verfolgt für die Zeit seiner EU-Ratspräsidentschaft verschiedene Ziele, die die EU-Friedenspolitik betreffen. Zusammengefasst finden sich dazu in der deutschen Agenda folgende Ansätze:

Deutschland möchte die Wirksamkeit der externen EU-Krisenprävention, inklusive die der Mitgliedstaaten, überprüfen und stärken. Darüber hinaus soll die Glaubwürdigkeit der EU als globaler Akteur zur „Stärkung resilienter Systeme zu Krisenprävention“ erhöht und das EU-Engagement in großen internationalen Konflikten intensiviert werden. Des Weiteren soll der »integrierte Ansatz« der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durch die Entwicklung politischer Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung gestärkt werden. Zudem arbeitet die Bundesregierung weiterhin für eine „kohärente europäische Entwicklungsfinanzarchitektur“ sowie für die Umsetzung des 2018 vereinbarten »Pakts für eine zivile GSVP« und die Verabschiedung der Europäischen Friedensfazilität zur militärischen Ertüchtigung von Partnern“ (Council of the European Union 2018a).

Inwiefern es während der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen wird, diese Ansätze umzusetzen, lässt sich anhand derzeit laufender politischer Prozesse und aktueller Diskussionen abschätzen. Dazu zählen unter anderem die Verhandlung des Mehrjährigen Finanzrahmens, inklusive des »Instruments für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation«, aber auch Diskussionen rund um das deutsche und europäische zivil-militärische Engagement, etwa im Sahel, sowie die Verhandlungen zur Europäischen Friedensfazilität. Zivilgesellschaftliche Forderungen geben Aufschluss darüber, wie Deutschland seine Ratspräsidentschaft nutzen kann, um friedenspolitische Ansätze der EU zu verbessern. Sie reichen von der Schaffung neuer Strukturen innerhalb des EU-Systems über eine Erhöhung der finanziellen Mittel und die Stärkung der Instrumente für Friedensförderung bis hin zu Schutz- und Kontrollmaßnahmen auf Interventionsebene.

Geplante Ressourcen unzureichend

Damit die EU ihre selbstgesteckten Ziele erreichen kann, müsste sie sich sowohl politisch als auch finanziell stärker für die zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen. Mit Blick auf den am 21. Juli 2020 vom Europäischen Rat verabschiedeten Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) darf man skeptisch sein.

Aufgrund der zur Bewältigung der Corona-Krise neu eingeplanten Mittel wurde der übrige Gesamthaushalt gegenüber dem Entwurf vom Februar nochmals gekürzt. Der neue Entwurf enthält nun 98,4 Mrd. Euro (gut 9 % des Gesamthaushalts) für Auswärtiges bereit. Davon sind 70,8 Mrd. Euro für das neu geschaffene Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation (NDICI) vorgesehen (Europäischer Rat 2020). Im NDICI werden ehemals eigenständige Instrumente der Entwicklungs- und Friedensarbeit zusammengeführt. Die EU möchte damit fragmentierte Budgets abbauen und erhofft sich einen geringeren bürokratischen Aufwand und mehr Flexibilität bei der Mittelvergabe.

Diese Umstrukturierung wirft bei der Zivilgesellschaft gravierende Fragen auf: zunächst natürlich die nach der Höhe der für entwicklungspolitische Friedensarbeit zur Verfügung stehenden Mittel, aber auch die, ob die Politikfelder Migration und »Ertüchtigung« gegenüber Frieden und Entwicklung priorisiert werden.

NDICI – (k)ein Segen für die europäische Friedenspolitik?

Seit dem ersten MFR-Vorschlag der EU-Kommission von 2018 haben zivilgesellschaftliche Organisationen die dort eingestellten Mittel für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung (eine Mrd. Euro) als zu niedrig kritisiert und eine deutliche Budgeterhöhung für die Prävention von Gewaltkonflikten, Friedensförderung und Vergangenheitsbewältigung sowie ein politisches Bekenntnis für den Vorrang der zivilen Krisenprävention gefordert. Der nun beschlossene MFR-Entwurf steht dem entgegen: Die Kürzungen in den thematischen NDICI-Programmen, darunter auch Frieden und Sicherheit, sowie in der ohnehin niedrig bemessenen NDICI-Säule zu Krisenreaktionsmaßnahmen sind fatal für die oben genannten Ansprüche und Ziele.

Zudem ist nicht erkennbar, wieviel Prozent dieser Haushaltsrubrik tatsächlich auf die Friedensförderung entfallen soll. Es wird befürchtet, dass die Kohärenz der verschiedenen, nun in NDICI-integrierten Instrumente nicht gewährleistet wird und die in den letzten Jahren geschaffenen, auf Friedensförderung spezialisierten Instrumente durch die Zusammenlegung verlorengehen werden.

In den letzten Monaten musste trotz der Verzögerung der Haushaltsentscheidungen schon mit dem Pre-Programmierungsprozess begonnen werden, denn schließlich handelt es sich um die finanzielle Ausgestaltung von Programmen, die in wenigen Monaten Gültigkeit haben werden. In den Monaten der dt. Ratspräsidentschaft wird dieser Prozess nun mit den veränderten Haushaltsdaten fortgesetzt und präzisiert werden müssen. Für die zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Europa und aus ihren Partnerländern wird es schwierig werden, mit dieser Situation umzugehen und Vorschläge zu unterbreiten, die ihre Arbeit nachhaltig absichern können.

Neben der Kritik an zu geringen finanziellen Mitteln und der großen Frage nach der Operationalisierung des derzeitigen Entwurfs wird von Seiten der Zivilgesellschaft kritisiert, dass der NDICI stark auf Migrationskontrolle und »Ertüchtigung« fokussiert und dieser Budgetanteil in Krisenzeiten noch weiter erhöht werden kann. Zur Ertüchtigung sollen insbesondere die Maßnahmen bzw. Programme für den „Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung“ beitragen (Europäische Kommission 2015), wobei »Sicherheit« in diesem Kontext »Verteidigung« einschließt. Kritisch wird die Verwicklung von Entwicklung und Migration(skontrolle) gesehen, aber auch, dass diese sicherheitsgeleiteten Ansätze mit deutlich mehr finanziellen und strukturellen Ressourcen verfolgt werden als die friedensgeleiteten. Ein Grund hierfür ist das innerhalb der EU sehr unterschiedliche Verständnis von Konfliktprävention, das oftmals einer Gleichsetzung mit Stabilisierung folgt. Dabei wäre das klassische Verständnis von Krisenprävention die Verhinderung und Prävention von struktureller Gewalt, wie Armut und Ausgrenzung/Benachteiligung, wesentlich hilfreicher, um langfristig das Entstehen gewalttätiger Konflikte zu verhindern. Nicht zuletzt die Corona-Krise führt uns diesen Zusammenhang vor Augen. Um genau diese langfristig angelegte Förderung von Frieden zu erreichen, wird gefordert, dass zumindest adäquate Risiko- und Konfliktanalysen vorausgehen müssten.

Die Vision des »Europäischen Konsens für den Frieden«

Die Verhandlungen um das NDICI und die darin abgebildeten Maßnahmen spiegeln das lang bemängelte Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses von Prävention, Friedensförderung und Konfliktbearbeitung innerhalb der EU wider. Eine Antwort darauf wäre, wie es in der deutschen Agenda heißt, „politische Leitlinien für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“ (Auswärtiges Amt 2020, S. 23) zu entwickeln, um zwischen Parlament, Kommission und Rat einen Dialog über die Friedensförderung der EU zu ermöglichen. Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für Konfliktprävention und Friedensförderung im Europäischen Rat könnte diesen Dialog zwischen den Mitgliedstaaten eröffnen. Während seiner Ratspräsidentschaft sollte Deutschland versuchen, einen solchen Prozess anzustoßen, der sowohl die unterschiedlichen EU-Institutionen als auch die Mitgliedsstaaten zusammenbringt. Dies könnte unter Umständen auch das politische Interesse der Führungsebene der EU für Konfliktprävention erhöhen und langfristig friedensfördernde gegenüber kurzfristig stabilisierenden Maßnahmen prominenter platziert werden.

Ein gemeinsames Verständnis in Form eines »Europäischen Konsens für den Frieden« würde nicht nur zu mehr Durchsetzungskraft auf institutioneller und mitgliedsstaatlicher Ebene führen, auch die EU-Friedensmissionen könnten an friedensfördernder Wirkung gewinnen.

Weder konfliktpräventiv noch friedensfördernd

Die EU ist mit elf zivilen und sechs militärischen Missionen in europäischen Ländern, in den palästinischen Gebieten, im Irak und in Afrika vertreten. Die EU-»Friedensmissionen« sollen im jeweiligen Land bzw. in der Region zur Stabilisierung beitragen. Die GSVP-Missionen wurden über die letzten Jahre personell verkleinert (5-30 Mitarbeitende) und betreiben fast nur noch Kapazitätsbildung, z.B. in Form von Trainings. Um Wirkung zu erzielen, wären die Missionen auf langfristige Lösungsansätze auszurichten, anstatt auf die kurzfristige Bewältigung von »Sicherheitsbedrohungen«, wie Migration und Flucht, zu setzen. Insbesondere mit Blick auf diverse EU-Missionen oder auf Missionen einzelner EU-Mitgliedstaaten im Sahel, zum Beispiel in Mali, wird deutlich, dass die Missionen hier nicht in der Lage sind, zu einer nachhaltigen Konfliktlösung beizutragen. Auf der Basis eines »Konsens für den Frieden« wäre das EU-Engagement von der Migrations- und Terrorbekämpfungsagenda zu lösen und es wären entwicklungs- und friedenspolitische Perspektiven zu fördern.

Bewaffnete Missionen werden auch keinen Frieden bringen

Wie wichtig ein »Europäischer Konsens für den Frieden« wäre, zeigt sich einmal mehr in der Debatte um die »Europäische Friedensfazilität«, deren Budget außerhalb des MFR aus Beiträgen der EU-Mitgliedsstaaten gespeist werden soll. Aus der Friedensfaszilität sollen zukünftig u.a. die militärischen Missionen der GVSP finanziert werden. Damit soll eine gemeinsame Verteidigungspolitik gestärkt werden, und die militärischen Kapazitäten der Nationalstaaten sollen einbezogen werden können. Mit der Begründung, dass es ohne Sicherheit keine Entwicklung gäbe, wird es möglich sein, Munition und Waffen an Sicherheitskräfte der Partnerländer zu liefern, also z.B. auch an Friedensmissionen der Afrikanischen Union, die die EU über die »African Peace Facility« unterstützt. Mangelt es hier an mit Waffen ausgestatteten, repressiven Sicherheitsorganen, oder werden Instabilitäten hier nicht doch eher durch strukturelle Ursachen, wie Marginalisierung, fehlenden politischen Dialog und Armut hervorgerufen? Sollte es zu solchen Waffenlieferungen an Partnerländer kommen, fordert die Zivilgesellschaft zumindest Kontrollmechanismen einzuführen, um nachvollziehen zu können, welche Waffen zu welchem Zweck wohin gehen.

Stärkung der zivilen Missionen

Deutschland hatte sich auf EU-Ebene sehr für den im Mai 2018 verabschiedeten Beschluss des Europäischen Rates zur Stärkung der zivilen Aspekte der GSVP eingesetzt. Hierauf ist die Gründung des »Europäischen Kompetenzzentrum Ziviles Krisenmanagement« in Berlin zurückzuführen. Als gemeinsames Projekt der Mitgliedstaaten bündelt das Zentrum »best practices« im Bereich des zivilen Krisenmanagements. Die zivilen Kompetenzen der EU-Mitgliedstaaten sollen professionalisiert und eine schnellere Einsatzbereitschaft ziviler Fachkräfte in GSVP-Missionen ermöglicht werden.

Jenseits dieser eher technischen Verbesserung der zivilen GSVP verweisen kritische Stimmen auf weitere notwendige Anpassungen. Zur Stärkung der GSVP-Missionen und des integrierten Ansatzes sollte sich Deutschland im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft für eine deutliche Aufstockung der personellen Kapazitäten der zivilen Missionen einsetzen. Ohne qualifiziertes Personal wird es schwierig sein, die in der deutschen Agenda beschriebene integrierte und umfassende Krisen- und Konfliktbewältigung zu betreiben. Der Schwerpunkt der GSVP-Missionen sollte wieder auf Krisenbewältigung gelegt werden, und Migrationsmanagement und Grenzschutz (sinnvoll oder nicht) sollten anderen EU-Akteuren überlassen werden. Darüber hinaus sollten die personellen Kapazitäten innerhalb der EU für Konfliktanalysen und -prävention sowie Mediation deutlich aufgestockt und professionalisiert werden. Hierbei sollten lokale Akteure in das Design der EU-Missionen mit einbezogen werden. Insbesondere die Stärkung der Aktivitäten lokaler Partner und Organisationen der Konfliktbearbeitung sollten im Fokus der EU-Förderung stehen, um resiliente Gesellschaften zu fördern.

Zu viele Baustellen für sechs Monate

Alle hier genannten Themen werden über die deutsche Ratspräsidentschaft hinaus friedenspolitisch bearbeitet und begleitet werden müssen. Nicht zuletzt die noch lange nicht bewältigte Corona-Pandemie fordert Europa dazu heraus, eine integrierte EU-Entwicklungs- und Friedenspolitik voranzutreiben. Sie untermauert, dass nur resiliente Gesellschaften Krisen etwas entgegen setzten können. Militärische Ansätze fördern keine Resilienz. Globale Agenden und deren Operationspläne, wie die der »Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« der Vereinten Nationen sowie der Resolutionen 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, und 2250, »Jugend, Frieden und Sicherheit«, des UN-Sicherheitsrates, gäben hinreichend Anleitung für eine wirkungsvolle EU-Friedenspolitik. Ein gemeinsames friedenspolitisches Verständnis sowie ausreichend finanzielle Mittel sind hierfür zentral.

Literatur

Auswärtiges Amt (2020): Gemeinsam. Europa wieder stark machen – Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Berlin. Online auf eu2020.de.

Council of the European Union (2018a): Conclusions of the Council and of the Representatives of the Governments of the Member States, meeting within the Council, on the establishment of a Civilian CSDP Compact. Dokument 14305/18 vom 19.11.2018.

Council of the European Union (2018b): Council Conclusions on strengthening civilian CSDP. Dokument 9288/18 vom 28.5.2018.

Europäische Kommission (2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Kapazitätsaufbau zur Förderung von Sicherheit und Entwicklung – Befähigung unserer Partner zur Krisenprävention und -bewältigung. Dokument JOIN(2015)-17-final vom 28.4.2015.

Europäischer Rat (2020): Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates (17., 18., 19., 20. und 21.Juli 2020) – Schlussfolgerungen. Dokument EUCO 10/20 vom 21. Juli 2020.

Elsa Benhöfer ist Referentin für Internationale Prozesse bei der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (FriEnt).

Frieden in Bewegung

Frieden in Bewegung

von Michael Müller

Die Rüstungsausgaben erreichen heute neue Rekordhöhen, die weit über denen von 1988 liegen, dem letzten Jahr der noch in Ost und West gespaltenen Welt. Ein neuer Nationalismus macht sich breit. Das Kriegsgerassel wird lauter; die NATO führt immer größere Manöver durch; entlang der 1.700 km langen Grenzen zwischen der EU und Weißrussland/Russland vervielfacht sich die Stationierung von Militär; die Militärübungen haben sich in kurzer Zeit verfünffacht. Und jetzt wird es bis Mai 2020 mit »Defender Europe 20« auch noch ein provokantes US-Manöver mit Unterstützung
von NATO und Bundeswehr geben. 75 Jahre nach Kriegsende ist dies ein schauerliches Signal einer geschichtsvergessenen Politik.

Deutschland ist die zentrale Drehscheibe für das Manöver. 37.000 Soldat*innen aus 16 NATO-Staaten sowie Finnland und Georgien, darunter 29.000 GIs mit schwerem Gerät, werden an die russische Grenze transportiert. Operativ zuständig sind das Heereskommando der U.S. Army in Europe in Wiesbaden und das U.S. European Command in Stuttgart. Die Datenkoordinierung erfolgt über die US-Airbase Ramstein. Ziele sind die Zurschaustellung militärischer Überlegenheit und die Erprobung einer schnellen Verlegung großer Kampfverbände Richtung Osten. Diese militärische Kraftmeierei ist das Gegenteil von
Friedenspolitik.

Der Widerspruch zwischen den wachsenden militärischen Gefahren und der immer noch zurückhaltenden öffentlichen Debatte ist eklatant. Schleichend verschiebt sich die öffentliche Meinungsbildung. Die öffentlichen und viele politische Meinungsmacher fordern, dass sich die Bundeswehr noch stärker an weltweiten Militäreinsätzen beteiligt, dies läge in der nationalen Verantwortung.

Was für ein Irrsinn abläuft, zeigt die neue Rüstungsspirale. Auf die ersten zehn der rund 200 Länder der Erde entfallen knapp 75 Prozent der Militär­ausgaben. Weit an der Spitze liegen die USA, gefolgt von China und Saudi-Arabien. Deutschland erreicht Platz acht; in den letzten fünf Jahren erhöhte die Bundesregierung den Rüstungsetat um 34 Prozent. Sollte die angekündigte Erhöhung auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts Wirklichkeit werden, so stiege je nach wirtschaftlicher Entwicklung unser Land auf Platz drei oder vier weltweit auf. Die Rüstungslobbyisten würden jubeln, die
öffentlichen Haus­halte ächzen.

Dieser Militarisierung wollen wir entgegentreten: Es ist Zeit für die Stärkung der Friedensbewegung und für eine neue Entspannungspolitik. Können doch die neuen Bedrohungen, insbesondere die Folgen der globalen Erderwärmung, nicht militärisch verhindert werden. Im Gegenteil: Die doppelte Gefahr eines Selbstmordes der Menschheit wird real. Da ist zum einen der schnelle Selbstmord durch die neue Hochrüstung und die aggressive Konfrontation mit Stellvertreterkriegen in vielen Regionen der Welt, zum anderen der langsame Selbstmord durch die globale Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Klimawandel wird schon in wenigen Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahren, kritische Werte überschreiten.

Wir brauchen eine neue Gemeinsamkeit und das ernsthafte Bemühen um Zusammenarbeit, auf staatlicher wie auf bürgerschaftlicher Ebene. Notwendig sind eine starke Friedensbewegung und neue Initiativen für eine weltweite Friedenskultur. Deshalb veranstalten die Naturfreunde Deutschlands, die in diesem Jahr 125 Jahre alt werden, eine große Friedenswanderung. Schon in den 1950er Jahren hatten die Naturfreunde und die Naturfreundejugend die Anti-Atom-Bewegung unterstützt und später die Ostermärsche mitbegründet.

Auch heute setzen wir uns für eine globale Abrüstung und Rüstungskon­trolle ein, für ein Verbot von Rüstungsexporten, für eine atomwaffenfreie Welt und eine neue Friedens- und Entspannungspolitik. Die Friedenswanderung findet statt von 30. April bis 18. Juli diesen Jahres. Unter dem Motto »Frieden in Bewegung« wandern wir in 80 Etappen für eine friedliche Zukunft durch unser Land, von der dänischen Grenze bis zum Bodensee (siehe ­frieden-in-bewegung.de).

Überall auf den rund 1.750 Kilometern wollen die Naturfreunde zusammen mit Friedens- und Umweltgruppen auf die schrecklichen historischen Folgen von Kriegstreiberei hinweisen, neue Kriegsgefahren aufzeigen und Rüstungsexporte verurteilen. Auch Rüstungsstandorte werden angelaufen.

Wir setzen uns für Frieden in Bewegung, weil das »soziale Wandern« zu unserer Geschichte gehört. Mit der Wanderung sollen das Netzwerk der Natur- und Friedensengagierten und der Wille nach einem weltweiten Frieden gestärkt werden. Und wir sagen »Nein« zu Militärmanövern wie Defender Europe 20.

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

Sanktionen

Sanktionen

Ein friedenspolitisches Instrument?

von Christine Schweitzer und Helmut Lohrer

Sanktionen, also nichtmilitärische Strafmaßnahmen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, immer häufiger aber auch einzelne Staaten oder Staatenbündnisse gegen andere Staaten verhängen, sind auch in der Friedensbewegung wieder stärker in der Diskussion. Unilaterale Sanktionen, etwa das US-Embargo gegen Kuba oder die Sanktionen des Westens gegen Russland nach der Krim-Annexion, werden in der Friedensbewegung einhellig abgelehnt. Keine Zustimmung finden aber auch dem Völkerrecht entsprechende Sanktionen, wie die gegen den Irak Saddam Husseins, unter denen die
Zivilbevölkerung massiv litt. Dennoch bleibt die Frage, ob aus dieser Kritik eine generelle Ablehnung jedweder Form von Sanktionen abgeleitet werden muss oder ob Sanktionen aus friedenspolitischer Sicht unter bestimmten Voraussetzungen doch eine Option sein können.

Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option

von Christine Schweitzer

Internationale Sanktionen sind zwischen zivilen, gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung und militärischen Maßnahmen einzuordnen. Sie sind Zwangsmaßnahmen, die in der Regel mit nichtmilitärischen Mitteln implementiert werden und ohne direkte militärische Gewalt auskommen, wobei es Ausnahmen gibt, bei denen Embargos mit militärischen Mitteln durchgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür war das Waffenembargo gegen Jugoslawien bis zum Abschluss des Abkommen von Dayton 1995, bei dem die Westeuropäische Union (WEU) und die NATO das Mittelmeer bzw. zeitweilig den
Luftraum über Bosnien überwachten.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass Sanktionen nicht grundsätzlich als Instrument der Friedenspolitik ausgeschlossen werden sollten. Insbesondere Waffenembargos, aber auch andere Sanktionen, können sinnvoll sein, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Bei den meisten der heute praktizierten Sanktionen muss allerdings festgestellt werden, dass sie eher konfliktverschärfend denn ein Beitrag zur Konfliktlösung sind.

Sanktionen – negative und positive, mit dem bildlichen Ausdruck »Zuckerbrot und Peitsche« gut beschrieben – sind in der Politik ein gebräuchliches Mittel, um ein anderes Land zu einem gewünschten bzw. zur Unterlassung von nicht-gewünschtem Verhalten zu bewegen. Bei den Vereinten Nationen gelten sie als zulässige Zwangsmaßnahme zur Durchsetzung völkerrechtlich bindender Abmachungen und zur Abwehr von Verstößen gegen das Völkerrecht (UN Charta Kapitel VII, Artikel 41). Zurzeit bestehen Sanktionsregime des UN-Sicherheitsrats gegen 14 Staaten und Entitäten (UNSC o.J.). Aber nicht
nur die Vereinten Nationen greifen zu diesem Mittel, die Europäische Union beispielsweise hat eigene Sanktionen gegen 33 Staaten und Entitäten verhängt (Estonian Presidency o.J.). Die USA praktizieren außerdem einseitige Sanktionen gegen etliche weitere Länder, zum Beispiel gegen den Iran und Kuba. Auch wenn es stimmt, dass zumeist die Weltmächte Sanktionen gegen Länder mit weniger Macht verhängen, so trifft dies nicht in jedem Falle zu. Zum Beispiel verhängte Griechenland wegen des Namensstreits Sanktionen gegen die frühere jugoslawische Republik Mazedonien (heute: Nordmazedonien).

Sanktionen können unterschiedliche Maßnahmen umfassen. Besonders hervorzuheben sind Waffenembargos, Handelseinschränkungen für Im- und Exporte bestimmter oder aller Waren generell, Sperren von Fördermitteln (z.B. Mittel der Entwicklungszusammenarbeit von Deutschland für Brasilien wegen der Urwaldzerstörung), Einschränkungen des Reiseverkehrs (z.B. der USA gegenüber Kuba), Ausschluss von internationalen Veranstaltungen und internationalen politischen Gruppen (z.B. der Ausschluss von Russland aus der G8 wegen seiner Einmischung in der Ukraine), diplomatische Maßnahmen (z.B. Abzug von
Botschaftern) und natürlich auch Strafverfolgung durch internationale Gerichte (Internationaler Strafgerichtshof). Im Rahmen so genannter «smarter Sanktionen« sind desweiteren Reisebeschränkungen und das Sperren von Auslandskonten bestimmter ausgewählter Politiker*innen oder Organisationen zu nennen.

Sanktionen hat es gewiss schon immer gegeben, seit es eine internationale Staatenwelt gibt. In jüngerer Zeit waren sie besonders in den 1990er Jahren ein sehr beliebtes Mittel. Weltweit wurden damals mehr als 50 neue uni- und multilaterale Sanktionen gegen einzelne Länder verhängt. Dies waren umfassende Sanktionen, die auf die gesamte Wirtschaft des Ziellandes zielten. Ihre Effektivität war sehr gering, sie verursachten aber enorme Kosten für die Zielländer und verschlechterten die humanitäre Situation der Bevölkerung gravierend (oft auch in den Nachbarländern). Ein besonders drastisches
Beispiel war der Irak unter Saddam Hussein, der von den Vereinten Nationen in den 1990er Jahren mit umfassenden Sanktionen belegt wurde. Als bekannt wurde, dass nach offiziellen Angaben der Vereinten Nationen in dieser Zeit infolge der ökonomischen Sanktionen mindestens 500.000 Kinder starben (Holmes 2010), veränderte sich die Sanktionspraxis. Die Vereinten Nationen gingen ebenso wie die EU zu »smarten« Sanktionen über. Diese sollen sich direkt gegen die Regierenden des sanktionierten Landes wenden (z.B. Waffenembargos, Reisebeschränkungen, Einfrieren von Konten, Flug- und
Transportbeschränkungen) und die Bevölkerung möglichst von den Folgen aussparen. Letzteres gelingt allerdings nur sehr unvollkommen, wie in diesen Tagen anhand der Auswirkungen der Sanktionen gegen den Iran beobachtet werden kann (Pany 2019). Trotz der Bemühungen, die Zivilbevölkerung von den Folgen zu verschonen, gehen dort z.B. die Medikamente aus.

Es sind aber nicht nur Staaten in diesem Feld aktiv. Auch zivilgesellschaftliche Verbände und Organisationen praktizieren Sanktionen. So kann z.B. das Startverbot für russische Sportler*innen bei den Olympischen Spielen wegen des Dopingskandals, verhängt vom Internationalen Olympischen Komitee, als Sanktion angesehen werden, da es über die Bestrafung konkreter, als Täter*innen überführter Personen hinausging.

Der Friedensbewegung näher sind sicher die bekannten Beispiele des Boykotts von Waren aus Südafrika während des Apartheidregimes (Wellmer 2005), die mit der Forderung nach staatlichen Sanktionen einhergingen, die BDS-Kampagne, die zum Boykott von in den palästinensischen Gebieten von israelischen Firmen produzierten Waren und zu staatlichen Sanktionen gegen Israel aufruft (BDS-Kampagne 2005), und die vielfältigen Forderungen nach einem Stopp von Rüstungsexporten in bestimmte Staaten (Aktion Aufschrei 2019). Gerade Waffenembargos sind aus friedenspolitischer Sicht immer als sinnvoll zu
erachten – allerdings gehören Waffenproduktion und -export eigentlich grundsätzlich verboten. Auch andere Formen internationaler Sanktionen werden immer wieder gefordert, in den letzten Jahren z.B. gegen die Türkei wegen des Kriegs in der Osttürkei.

Auf der anderen Seite haben sich Friedensorganisationen sehr kritisch gegenüber Sanktionsregimes gegen bestimmte Länder verhalten. Heute gibt es vor allem Forderungen in Bezug auf die Lockerung oder Aufhebung von Sanktionen gegen Russland und den Iran und viel generelle Kritik gegen die unilaterale Sanktionspolitik der USA (z.B. gegen Kuba).

Die kritische Sicht auf Sanktionen hat viel mit den allgemeinen Einwänden gegen dieses Instrument zu tun:

  • Wirkungslosigkeit: Ein Vorwurf, der in der Wissenschaft allerdings umstritten ist. Ein Teil der Untersuchungen über Sanktionen billigen ihnen zumindest unter bestimmten Umständen eine gewisse Wirksamkeit zu (Werthes 2019).
  • Effekt des »rally around the flag«: Sanktionen führen zur Stärkung autoritärer Regierungen, da die Demütigung der Regierung als Demütigung des ganzen Volkes empfunden wird (Lohmann 2015).
  • Sanktionen verhindern oftmals den Dialog und erschweren dadurch die Zivile Konfliktbearbeitung; dies ist aufgrund des zuvor genannten Effekts der Fall und wenn eine Sanktion darin besteht, ein Land aus bestimmten Gesprächskontexten auszuschließen (G8, Europarat usw.), auch wenn Politiker*innen behaupten, Sanktionen und Dialog würden sich nicht ausschließen (Fischer und Kluge 2018).
  • Sofern die Staatengemeinschaft uneins ist, werden internationale Spannungen durch Sanktionen eher verschärft. Die derzeitige Krise um den Iran zeigt dies deutlich.
  • Sanktionen können leicht umgangen werden (das gilt besonders für Waffen­embargos).
  • Sanktionen ermutigen überdies den Aufbau von Eigenkapazitäten der betroffenen Länder und laufen dadurch mittelfristig ins Leere (Lohmann 2015).
  • Sanktionen treffen die Zivilbevölkerung, deren Leiden am Beispiels Irak deutlich wurden und auch durch »smarte Sanktionen« nicht völlig vermieden werden (Pany 2019).
  • Auch der Wirtschaft eines sanktions­verhängenden Staates wird Schaden zugefügt. Ein aktuelles Beispiel ist der Streit zwischen den USA und Deutschland um die russische Erdgaspipeline. Da Deutschland die Pipeline braucht und auf dieses Geschäft nicht verzichten will, lehnt die Bundesregierung es ab, sich den US-Strafmaßnahmen anzuschließen (ZEIT ONLINE 2018).
  • Oft fehlen konkrete Analysen und die Definition von Zielen, sondern Sanktionen werden verhängt, um Missbilligung auszudrücken oder der Öffentlichkeit zu zeigen, dass »man etwas tut« (Fehl 2012).
  • Waffenembargos können einer Seite einen kriegsentscheidenden Vorteil verschaffen, falls sie gegen alle Seiten verhängt werden. (Dieser Vorwurf wurde in der Zeit des Bosnienkriegs 1992-1995 erhoben, als Bosnien, das immer noch als Teil Jugoslawiens angesehen wurde, ebenfalls unter das Waffenembargo fiel und deshalb militärisch den serbischen Truppen unterlegen war, die Zugriff auf die Ausrüstung der Volksarmee hatten.)
  • Es scheint viel leichter, Sanktionen zu verhängen, als sie wieder aufzuheben.

Abschließend möchte ich einige Kriterien vorschlagen, die zur Bewertung von Sanktionen als Mittel der Friedenspolitik angewendet werden könnten:

  • Die Vereinten Nationen sollten der einzige Akteur sein, der Sanktionen verhängen darf.
  • Es darf nicht zu »Kollateralschäden« für die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes kommen.
  • Es bedarf der Formulierung einer klaren »Theorie des Wandels«, d.h. einer Analyse, was die Sanktionen bewirken können.
  • Es bedarf zudem einer klar formulierte »exit strategy«, d.h. der Klarheit darüber, wann und wie die Sanktionen auch wieder aufgehoben werden sollen.
  • Es muss für beide Seiten ein gesichtswahrender Ausstieg aus der Krisensituation möglich sein.
  • Es muss vorab geklärt werden, ob positive Sanktionen ebenso zum gewünschten Ergebnis führen würden.
  • Es dürfen keine Maßnahmen ergriffen werden, die ein schleichendes Abrutschen in eine Militärintervention befürchten lassen.
  • Die Maßnahmen dürfen den Dialog nicht verhindern oder erschweren. Der Dialog muss bei Konflikten intensiviert, nicht gestoppt werden. Wichtig ist z.B., die diplomatischen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Über Sanktionen, die im Gegensatz zu der Mehrzahl der derzeit praktizierten diese Kriterien erfüllen, lohnt es sich für die Friedensbewegung nachzudenken. Das gilt besonders für Waffenembargos.

Literatur

Aktion Aufschrei (2019): Deutsche Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Stand 18.9.2019; aufschrei-waffenhandel.de.

BDS-Kampagne (2005): Der Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS. 9.7.2005; bds-kampagne.de.

Estonian Presidency of the EU (ohne Datum): EU Sanctions Map; sanctionsmap.eu.

Fehl, C. (2012): Sanctions, Trials and Peace – ­Promises and Pitfalls of Responsibility to Protect Civilian Dimension. In: Fiott, D; Zuber, R.; Koops, J. (eds.): Operationalizing the Responsibility to Protect – A Contribution to the Third Pillar Approach. Brüssel: Madariaga – College of Europe Foundation u.a., S. 95-103.

Fischer, S.; Kluge, J. (2018): Wirtschaftssanktionen wirken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 6.5.2018, S. 24.

Holmes, M. (2010): Der vergessene Krieg gegen Iraks Zivilbevölkerung. Welt online, 22.9.2010.

Lohmann, S. (2015): Sanktionen? Psychische Hygiene – In westlichen Demokratien sind internationale Sanktionen längst Zweck statt Mittel. JPG Journal, 6.1.2015.

Pany, T. (2019): Iran – Der Effekt der Sanktionen? Telepolis, 25.6.2019; heise.de.

United Nations Security Council/UNSC (o.J.): Sanctions. Nach dortigen Angaben sind aktuell Somalia, ISIS, Irak, Demokratische Republik Kongo, Sudan, Libanon, Nordkorea, Libyen, Taliban, Guinea-Bissau, Zentralafrika, Jemen, Südsudan und Mali mit Sanktionen des UN-­Sicherheitsrates belegt; un.org/securitycouncil/sanctions/information.

Wellmer, B. (2005): Friedensarbeit in Afrika – Die Deutsche Anti-Apartheidbewegung. Friedensforum 7-2005.

Werthes, S. (2019): Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V.

ZEIT ONLINE (2018): USA wollen Pipeline Nord Stream 2 stoppen. 13.11.2018.

Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung e.V.

Kein Instrument der Friedenspolitik

von Helmut Lohrer

Nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen kann der Sicherheitsrat feststellen, dass der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit bedroht ist, und – nur unter dieser Voraussetzung – Maßnahmen beschließen, um den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit wieder herzustellen. Zuvor sollen die betreffenden Parteien aufgefordert werden, ihr den Weltfrieden bedrohendes Verhalten einzustellen; dann erst können »Maßnahmen« beschlossen werden, wie die Unterbrechung von Wirtschaftsbeziehungen, des Verkehrs und der Kommunikation.

Im Prinzip würde man gerne sagen, dass da eine legitime Autorität am Werk ist, die im Interesse aller Menschen nur und genau dann eingreift, wenn es im allgemeinen und zwingenden Interesse ist, weil eben der Weltfrieden oder die internationale Sicherheit gefährdet sind. Aber: Neben der UN-Charta gibt es das Völkergewohnheitsrecht, und in der Praxis gibt es vor allem die Gewohnheit.

Sanktionen werden auch im Sicherheitsrat immer dann verhängt, wenn jemand sie einfordert und zumindest unter den fünf Vetomächten ein Konsens besteht. Nach Gewohnheit hält man sich nicht immer an den Buchstaben des Kapitel VII. Genau da besteht das Problem: In der Praxis sind es alleine die Mächtigen, die ihre Interessen mit Macht vertreten. Und zunehmend häufiger als durch den Sicherheitsrat werden Sanktionen inzwischen von Einzelstaaten oder Bündnissen gegen andere Staaten verhängt, um ihre Interessen durchzusetzen und das Verhalten dieser Staaten in ihrem Sinne zu beeinflussen. An
strenge Vorbedingungen, wie sie in der UN-Charta für den Sicherheitsrat formuliert sind, fühlen sie sich dabei nicht gebunden.

Schon 2003 hatte Madeleine Albright, Außenministerin der USA unter Bill Clinton, das in ihrer Autobiographie sehr treffend formuliert, und Angela Merkel wiederholte es im darauffolgenden Jahr auf der so genannten Sicherheitskonferenz in München genau so: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ (Merkel 2004) Mich hat das damals so
beeindruckt, dass ich mir das ausgedruckt und eingerahmt habe; das hängt heute noch in meinem Büro. Zu diesen Instrumenten gehören offenbar auch Sanktionen, aber das ist eine ganz andere Zweckbestimmung als in der UN-Charta vorgesehen.

Von freundlichen Worten bis zu Marsch­flugkörpern“. Es gibt eine Stufenleiter der Einflussnahme – oder besser der Durchsetzung von Interessen. Den Eliten, die das System beherrschen, geht es darum, Märkte zu erschließen, sie offen zu halten, Rohstoffe zu möglichst niedrigen Preisen zu beschaffen, damit die Konjunktur nicht ins Stottern gerät. Und es geht ihnen darum, die bestehenden Machtverhältnisse nicht infrage zu stellen. Wenn jemand ausschert, dann wird er sanktioniert.

Den Bürger*innen wird gesagt, dass es um den Frieden geht, um die Menschenrechte und um Demokratie. Diese Geschichte wird meistens so gut erzählt, dass sie geglaubt wird. Walter Lippmann beschrieb in seinem Werk »Public Opin­ion« (1922/2018; dt. »Die öffentliche Meinung«) vor fast hundert Jahren in den USA sehr genau, wie das geht.

Es wird also mit Sanktionen gedroht, wenn ein Land sich den Interessen der Mächtigen widersetzt. Und nochmal, genau hier liegt eine sehr wichtige Beobachtung: Sanktionen werden immer vom Starken gegen den Schwachen ausgesprochen, ganz im Sinne von Albright und Merkel. Man stelle sich einfach mal vor: Die Regierung von Mexiko ist über den Umgang mit den Menschen, die über die Grenze in die USA wollen, erzürnt und sagt, damit wird die internationale Sicherheit bedroht. Wir verhängen unsererseits nun Sanktionen gegen die USA. Das ist so absurd, dass es schon fast als Witz durchgehen würde.

Sanktionen sind kein symmetrisch angelegtes Instrument, und sie eignen sich sehr gut dazu, die Interessen der Mächtigen durchzusetzen.

Leider geht das noch weiter, und es ist wie beim Krieg: Der durch Sanktionen angerichtete wirtschaftliche und humanitäre Schaden ist häufig kein unerwünschter Kollateralschaden, sondern Teil des Konzepts. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, aber in Naomi Kleins »Die Schock-Strategie« (2007) kann man das wunderbar nachlesen.

Wenn jetzt Joshua Wong von der Hongkonger Partei Demosisto von uns fordert, dass wir keine Wasserwerfer mehr nach Hongkong liefern sollen, ruft er dann nach einer Wirtschaftssanktion? Wasserwerfer aus Deutschland werden nämlich dort gegen die Demonstrant*innen eingesetzt. Die Forderung, keine Wasserwerfer an autoritäre Regierungen zu verkaufen, ist aus meiner Sicht keine Forderung nach einer Sanktion, schon gar nicht im Sinne des Völkerrechts. Hier ist es wie beim Waffenhandel, und Wasserwerfer sind Waffen: Wer Waffen verkauft, macht sich mitverantwortlich für das, was damit angerichtet
wird. Er wird zum Komplizen derjenigen, die sie einsetzen.

Der Jemen wird derzeit kurz und klein bombardiert. Die Bomben stammen teilweise aus der Produktion der Firma Rheinmetall, die von der Fabrik in Sardinien direkt nach Saudi-Arabien und an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert werden (Friedrichs 2016). Auch andere Waffen – Boote, ganze Gewehr- und Mörserfabriken – werden nach Saudi-Arabien geliefert (ebenda). Aber erst als vor fast einem Jahr der saudische Journalist Jamal Khashoggi in Istanbul von saudischen Agenten ermordet wurde, hieß es am 19.11.2018 auf tagesschau.de: „Regierung verhängt Sanktionen gegen
Saudis. Wegen der Tötung des Journalisten Khashoggi
will die Bundesregierung alle Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien stoppen. Das soll auch für genehmigte Ausfuhren gelten. Gegen 18 Saudis wurden Einreisesperren verhängt.“ (tagesschau.de 2018)

Man sieht hier, wie der Einsatz von »Sanktionen« nicht dem Frieden dient. Erst als ein für eine westliche Zeitung arbeitender Journalist ermordet wurde, wurden die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien vorübergehend ausgesetzt – nicht wegen des Krieges.

Waffen sind nach meiner Überzeugung kein legitimes Handelsgut. Diese Auffassung vertrete ich auch im Rahmen der internationalen Kampagne »Global Net – Stop the Arms Trade« (gn-stat.org). Aus dieser Position heraus ist es logisch und legitim, die Einstellung von Waffenlieferungen nicht als Sanktion, also als Strafmaßnahme zu verstehen. Sonst würden wir mit unserer Forderung, den Waffenhandel einzustellen, ja in allen zwischenstaatlichen Verhältnissen für eine grundsätzliche Sanktionierung plädieren. Es geht hier vielmehr um die Beendigung der Komplizenschaft.

Was ist nun aber mit der klassischen Form von Sanktionen, wie sie beispielsweise gegen Irak verhängt wurden, gegen Nordkorea, gegen Syrien? Ist es da nicht geboten, vor dem Einsatz von Waffen hier mit wirtschaftlichen Maßnahmen Druck zu machen, um die Menschenrechte und die Demokratie zu verteidigen?

Ganz pragmatisch gesehen sollte längst klar sein, dass das nicht funktioniert. Wer unter den Sanktionen zu leiden hat, ist in aller Regel die Zivilbevölkerung. Es ist in kaum einem Fall gelungen, eine Regierung damit ins Wanken zu bringen oder auch nur dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern (Lohmann 2018). Im Gegenteil, die Repression nimmt unter dem Druck der Sanktion zu. Der Elite schadet die Sanktion am wenigsten, und die Kluft zwischen ihr und der leidenden Bevölkerung vergrößert sich (IPPNW 2018).

So wie im Irak in den 1990er Jahren fehlen heute in Syrien Medikamente. Medizinische Geräte, Busse, Generatoren und Pumpen können nicht repariert werden, weil die Ersatzteile unter das Embargo fallen. Hilfsorganisationen haben größte Mühe, ihre Arbeit zu tun, weil die Gelder für ihre Angestellten nicht überwiesen werden können. Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend, wobei es schwierig ist, die Auswirkungen der Sanktionen von denen der Krise zu trennen. Die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (­IPPNW) haben kürzlich den »UN-­Sonderberichterstatter
zu den negativen Auswirkungen von Sanktionen«, Idriss Jazairy, nach Deutschland eingeladen, der uns sehr eindrücklich davon berichtete (­IPPNW 2018).

Obwohl bekannt ist, dass unter Sanktionen eher die Versorgung der Bevölkerung zusammenbricht als dass das proklamierte Ziel erreicht wird, werden trotzdem Sanktionen verhängt, und zwar mehr denn je: In den letzten zehn Jahren wurden über 150 Mal UN-Sanktionen verhängt. Die USA haben allein in den letzten vier Jahren über 2.000 Maßnahmen verhängt; die EU verhängt Sanktionen gegen derzeit 30 Länder (Goldmann 2019).

Der US-amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas, der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates die Folgen der US-Sanktionen gegen Venezuela untersuchte, sagte: „Eine Sache müssen wir alle verstehen: Heutige Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden sind vergleichbar mit mittelalterlichen Belagerungen von Städten mit der Absicht, sie zur Kapitula­tion zu zwingen.“ (ebenda)

Mit der Regierung Assad in Syrien wurden über viele Jahre gute Geschäfte gemacht. Ihr Verhalten in Bezug auf die Menschenrechtslage war damals nicht besser als heute. Noch 2007 sind Beamte des Bundesnachrichtendienstes (BND) nach Damaskus gereist, um an einem Verhör teilzunehmen, das, wie es in dem Bericht hieß, unter „landesüblichen Umständen“ durchgeführt wurde. Da war das OK. 2005 erregte sich der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Debatte über die Beteiligung des BND an Folterungen darüber, dass die Forderung aufgestellt würde, die Geheimdienste „dürften nur
mit den
Staaten kooperieren, die denselben Status von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben wie wir“, weil sich dann die geheimdienstliche Zusammenarbeit auf „eine Hand voll“ Länder reduzieren würde (Hofmann 2005).

Bashar al-Assad war damals in unserer Presse noch Präsident und nicht »Machthaber«, und Syrien hatte eine »Regierung« und kein Regime, wie man heute fast ausschließlich liest. Dann befand man, dass Assad kein guter Diktator mehr ist, sondern ein böser. Wie zuvor im Fall anderer Länder wurde beschlossen, dass die gewählte Regierung Assad gestürzt werden soll und ein »Regime Change« zu erfolgen hat. Ich will an dieser Stelle nicht so tun, als sei das nicht eine extrem komplexe Situation. Die IPPNW veröffentlichten im Dezember 2018 einen umfangreichen Beitrag zu dieser Debatte, in dem wir uns
damit auseinandersetzen (Fischer et al. 2018). Aber: Die Sanktionen, die insbesondere die westlichen Staaten gegen Syrien verhängten, und dazu gehört auch die diplomatische Isolation, verfolgen, genauso wie die kriegerischen Maßnahmen, dieses Ziel des »Regime Change«. Die diplomatische Isolation, man könnte es auch Ächtung nennen, fördert die Polarisierung und verhindert jeden friedenspolitischen Dialog. Und ich fürchte, genau das ist auch gewollt.

Sanktionen sind, das wird hier deutlich, ein kriegerischer Akt. Sie sind Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln. Sie dienen nicht der Durchsetzung von Frieden und Menschenrechten, sondern von Interessen der Mächtigen. Krieg ist kein Mittel der Politik, und Sanktionen sind es auch nicht, zumindest nicht einer Friedenspolitik, die den Namen verdient.

Literatur

Fischer, A. et al. (2018): Der Syrienkrieg – Dimensionen, Hintergründe, Perspektiven. IPPNW Akzente, Dezember 2018; ippnw.de.

Friedrichs, H. (2016): Rheinmetall – Boom mit Bomben. ZEIT ONLINE, 27.10.2016.

Goldmann, F. (2019): Sanktionen – Kollektivstrafen gegen die Schwächsten. neues deutschland, 11.9.2019.

Hofmann, G. (2005): Eine Frage der Moral. ZEIT ONLINE, 15.12.2005.

IPPNW (20018): Erklärung von Idriss Jazairy, Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einerseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte. Podiumsdiskussion und Pressekonferenz, 29.5.2018; ippnw.de.

Klein, N. (2007; 6. Auflage 2016): Die Schock-­Strategie. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Lippmann, W. (2018, Erstausgabe 1922): Die öffentliche Meinung – Wie sie entsteht und manipuliert wird. Frankfurt am Main: Westend.

Lohmann, S. (2018): Sanktionen in den internationalen Beziehungen – Werdegang, Wirkung, Wirksamkeit und Wissensstand. Aus Politik und Zeitgeschichte/APuZ Nr. 36-37/2018.

Merkel, A.: (2004): Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 7.2.2004. Dokumentiert unter dem Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr werden zunehmen“ auf der Archiv-Website der AG Friedensforschung; ag-friedensforschung.de.

tagesschau.de (2018): Fall Kashoggi – Regierung verhängt Sanktionen gegen Saudis. 19.11.2018.

Dr. med. Helmut Lohrer ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Villingen-Schwenningen und International Councillor der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).

Zivilklausel in NRW und überall


Zivilklausel in NRW und überall

von Senta Pineau

Die kürzliche Streichung der Zivilklausel aus dem Hochschulgesetz in Nordrhein-Westfalen und die Kampagne für deren Erhalt fallen zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum der Entstehung der so genannten Zivilklauselbewegung. Zeit für eine politische Bestandsaufnahme.

Wir schreiben das Jahr 2008. Milliarden Euro werden aus dem Stegreif zur Rettung von Banken verpulvert, während zuvor massiv Sozialabbau betrieben wurde. Die Unveränderbarkeit einer unerfreulichen Gesellschaft steht massiv in Frage.

In dieser Zeit kommt auf Einladung des Verteidigungsministeriums und der Commerzbank der »Celler Trialog« zusammen; es trifft sich die Crème de la Crème aus Wirtschaft, Bundeswehr und Politik. Die Teilnehmer*innen eint unter anderem das Ziel, „das Verständnis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr verbreitern zu können“, die „Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit“ voranzutreiben sowie gemeinsam darauf hinzuwirken, „dass der sicherheitspolitische Dialog auch in Forschung und Lehre, insbesondere an unseren Hochschulen, gestärkt wird“ (Celler Trialog 2008). Kurzum: In Celle soll der in der Bevölkerung verbreiteten Ablehnung militärischer Einsätze entgegengewirkt werden.

Auch die neoliberale Hochschulpolitik stößt zu dieser Zeit an Grenzen. Die Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft und das menschen- und wissenschaftsfeindliche Leitbild der »unternehmerischen Hochschule« geben 2009 Anlass für den bundesweiten Bildungsstreik. Der steigende Druck auf die Hochschulen und ihre Mitglieder, verwertungskonform zu studieren und zu forschen – im Zweifel für den Krieg –, führt zu einer Renaissance der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung und Wissenschaft. In Karlsruhe kommt es zu einer studentischen Abstimmung für die Ausweitung der Zivilklausel des ehemaligen Kernforschungszentrums auf die gesamte Uni. Es folgen weitere Abstimmungen, u.a. in Köln und Frankfurt. Dies ist der Beginn der »Zivilklauselbewegung«.

Krise heißt Entscheidung: für den Frieden

An der Uni Köln konstituierte sich 2010 der »Arbeitskreis Zivilklausel«. Es war gerade gelungen, in NRW die Gebührenfreiheit des Studiums zurückzuerkämpfen. Die Auseinandersetzung der Aktiven mit dem Sozialpakt der Vereinten Nationen, der die Gebührenfreiheit des Studiums politisch begründet, hatte dafür große Bedeutung. Darin heißt es, „dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss“ und „dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss“ (UN-Sozialpakt 1966, Artikel 13).

Der Anspruch, Wissenschaft und Bildung sollten dazu beitragen, als mündige Persönlichkeit Bedeutung zu erlangen für die Schaffung einer menschlichen, friedlichen Welt, war persönlich und politisch überzeugend und in Köln Grundlage für nachhaltiges Engagement.

Die Zivilklauselbewegung hing über die Jahre an der Arbeit eines kleinen Kreises von Aktiven. Umso bemerkenswerter ist, wie gut es ihr gelungen ist, politische Maßstäbe zu setzen. Hatten sich im Jahr 2009 zwölf Hochschulen einer friedlichen Wissenschaft verpflichtet, sind es mittlerweile über 60 (zivilklausel.de 2019).

In NRW wurde 2014 die Festschreibung der friedlichen Ausrichtung der Wissenschaft im Hochschulgesetz erkämpft: „Die Hochschulen entwickeln ihren Beitrag zu einer nachhaltigen, friedlichen und demokratischen Welt. Sie sind friedlichen Zielen verpflichtet und kommen ihrer besonderen Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung nach innen und außen nach. Das Nähere zur Umsetzung dieses Auftrags regelt die Grundordnung.“ (HZG NRW 2014) Alle staatlichen Hochschulen in NRW verpflichteten sich im Zuge dessen zu diesen Entwicklungsaufgaben.

Militärisch-industrieller Komplex ist »not amused«

Winter 2014: Gerhard Elsbacher vom Konzern MBDA Missile Systems beklagt auf einer Konferenz zur »Angewandte[n] Forschung für Verteidigung und Sicherheit«, die Geschäftsbedingungen hätten sich durch die Ausgrenzung militärischer Forschung an manchen Hochschulen aufgrund der Erfolge der Zivilklauselbewegung verschlechtert (Borchers 2014). Im Jahr 2016 beschließt das Bundeskabinett das »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland«. Darin steht: „Die Bundesregierung wird daher insbesondere mit den Ländern, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen sowie Hochschulen in einen ergebnisoffenen Dialog über die Verwendung von sog. Zivilklauseln treten.“ (Bundesregierung 2016)

Frühjahr 2017: Vor dem Hintergrund wachsender Kritik an den Aufrüstungsplänen der NATO sowie sich zuspitzender Konflikte um den Ausstieg aus der Braunkohle am Hambacher Forst kündigt die frisch gewählte CDU/FDP-Landesregierung von NRW an, sie wolle die Friedensklausel aus dem NRW-Hochschulgesetz streichen.

Die Zivilklausel wirkt

Auf eine Große Anfrage der Grünen im NRW-Landtag im Jahr 2018 wurden vier rüstungsrelevante Projekte gemeldet, die an Hochschulen in NRW nicht durchgeführt oder abgebrochen wurden (Landtag NRW 2018), weil Hochschulmitglieder durch die Zivilklausel ermutigt wurden, »Nein!« zu sagen. Darunter war eine Machbarkeitsstudie an der RWTH Aachen zum Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, unter Beteiligung des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die RWTH äußerte sich wie folgt zu dem Projekt: „Rückblickend war es ein Fehler seitens des Auftragnehmers, überhaupt ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Die RWTH fühlt sich nicht nur im Sinne der Gesetzgebung der friedlichen Forschung verpflichtet und betreibt keine Rüstungsforschung. Das betont die Hochschule mit aller Deutlichkeit. Entsprechend wurde der Auftrag auch vor Abschluss beendet.“ (RWTH Aachen 2017)

Daran wird deutlich: Zivilklauseln sind eine Ermutigung für Hochschulmitglieder, ihre Arbeit am Allgemeinwohl auszurichten und dafür politische Konfliktfähigkeit zu entwickeln.

Politische Offensive aus der Abwehr

Der abwegige Versuch von CDU/FDP, wachsende Ansprüche an eine demokratische, friedliche und nachhaltige Gestaltung der Welt technokratisch zu »streichen«, haben die Kölner Aktiven als Chance bewertet, den Spieß politisch umzudrehen und

  • durch Aufklärung neue öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen für die Aktualität und Notwendigkeit einer Wissenschaft, die zur Verwirklichung einer friedlichen, nachhaltigen und demokratischen Welt beiträgt,
  • die erkämpfte und viel zu wenig bekannte Zivilklausel im Hochschulgesetz und an allen Hochschulen in NRW hochschulintern und öffentlich bekannter zu machen,
  • die interessengeleitete Politik von Schwarz-Gelb zu entlarven und
  • die politischen Ambitionen und das Selbstbewusstsein der gesellschaftlichen Gegenkräfte zu stärken.

Der erste Schritt dahin war die Veranstaltungsreihe »Die Hochschule zwischen Aufklärung und Profitinteressen – Verantworung der Wissenschaft für Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit« an der Uni Köln im Wintersemester 2018, mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Gewerkschaft, der Friedensbewegung und der Umweltbewegung. Ihr folgte die Broschüre »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der Zivilklausel in NRW« (Uni-Aktionsbündnis Köln et al. 2019), die mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren große Verbreitung fand. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Volker Pispers, Dogan Akhanli, Vertreter*innen der DFG-VK, der GEW, der türkischen Akademiker für den Frieden, von Ende Gelände sowie der evangelischen Kirche kommen darin zu Wort und begründen, warum sie die Beibehaltung der Zivilklausel für gesellschaftlich erforderlich halten.

Mit der darauf folgenden Unterschriftenkampagne »Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Die Zivilklausel in NRW erhalten!« konnten die Aufklärungs- und Protestaktivitäten weiter entfaltet werden. Mehr als 90 Persönlichkeiten und Organisationen der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, aus Gewerkschaft und Kultur sowie 60 Wissenschaftler*innen aus NRW forderten als Erstunterzeichner*innen die Beibehaltung der Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. Innerhalb von zwei Monaten schlossen sich ihnen 11.000 Menschen an und stellten sich gemeinsam den politischen Herausforderungen der Zeit: „Wie gelingt es, dass kein Mensch mehr an Hunger sterben muss und Solidarität und demokratische Teilhabe gesellschaftlich umfassend verwirklicht werden? Was sind Ursachen für Krieg und Gewalt und was Voraussetzungen für ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben? Wie kann die globale Aufrüstung gestoppt, wie zivile Konfliktlösung und das Völkerrecht gestärkt werden? Welche ökonomischen Interessen stehen einer nachhaltigen Entwicklung entgegen, wie können natürliche Ressourcen geschont und produktiv gemacht statt verschwendet werden? Die gesellschaftliche Beantwortung dieser Fragen duldet keinen Aufschub, die Wissenschaft spielt hierfür eine zentrale Rolle.“ (Zivilklausel erhalten 2019)

Am 11. Juli 2019 beschloss die schwarz-gelbe Landesregierung das neue Hochschulgesetz. Darin enthalten: die Option für die Hochschulen in NRW, die Zivilklauseln aus ihren Grundordnungen zu streichen. In den Zentralen von CDU, FDP und Rheinmetall in Düsseldorf werden allerdings nicht die Korken geknallt haben, denn dieser Beschluss ist nicht mehr als ein Pyrrhussieg.

Eine zivile Entwicklung ist Angelegenheit aller

Mit der Kampagne für die Beibehaltung der Zivilklausel ist es gelungen, die Kritik an Rüstungsforschung sowie das Engagement für allgemeinwohlorientierte Hochschulen und friedensstiftende Wissenschaften politisch erheblich zu dynamisieren. Das Bündnis aus studentischer Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Gewerkschaften und kritischen Wissenschaftler*innen konnte ausgebaut werden, weil das Anliegen einer prinzipiellen gesellschaftlichen Veränderung leitend und somit verbindend war. So wurde der Angriff der Landesregierung auf kritische Wissenschaften und damit auf eine progressive Entwicklung der Welt mit erweiterten Ambitionen auf gesellschaftliche Veränderung und Solidarität auch über die Hochschulgrenzen hinaus beantwortet. Überdies wurde durch die Kampagne eine breite überregionale Berichterstattung zur NRW-Zivilklausel angestoßen. Die neuen Enthüllungen von SPIEGEL ONLINE machen am Beispiel der Forschung an deutschen Hochschulen für das US-Verteidigungsministerium die Tragweite der Versuche deutlich, die Wissenschaft für das weltweite Wettrüsten zu vereinnahmen (Himmelrath und Dambeck 2019).

Wie gegenwärtig das Erfordernis von Friedens- statt Kriegsforschung ist, wird auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftsrates deutlich, der sich diesen Sommer nachdrücklich für eine Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ausgesprochen hat (Wissenschaftsrat 2019).

Die Hegemonieverschiebung in den Hochschulen selbst ist auch beachtlich. Zum Beispiel hat der Senat der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften die NRW-Unterschriftenkampagne unterstützt und alle Hochschulmitglieder angeschrieben, damit sie es ihm gleich tun. Dadurch bekommen die Kämpfe für eine Zivilklausel für den Hamburger Hafen und im dortigen Landeshochschulgesetz ebenfalls Aufwind. In Berlin und Sachsen-Anhalt werden aktuell die Hochschulgesetze novelliert, die Einführung einer Zivilklausel nach NRW-Vorbild steht dort auf der Tagesordnung.

In NRW haben sich mittlerweile alle Universitäten zu den Zivilklauseln in ihren jeweiligen Grundordnungen bekannt. An vielen Orten ist die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft neu aufgelebt. So gibt es an der TH Köln inzwischen eine Initiative für die Einführung einer umfassenderen Zivilklausel. In Bochum und Wuppertal wird beraten, die Zivilklausel mit einer Ethikkommission zu flankieren.

Die Zivilklausel ist zwar aus dem NRW-Hochschulgesetz gestrichen, Schwarz-Gelb hat damit den Kampf für demokratische, zivile und nachhaltige Forschung und Lehre aber lediglich in die einzelnen Hochschulen verlegt und trägt so ungewollt zu einer weiteren Politisierung bei. Dies ist angesichts der zusätzlichen Milliarden für Rüstungsforschung, die durch die anhaltende Militarisierung der Europäischen Union und das NATO-Aufrüstungsziel von 2 % locken, auch dringend erforderlich.

Geschichte wird gemacht

An jeder Stelle der Aufrüstungs- und Kriegskette kann diese gebrochen werden. Bei Google protestierten letztes Jahr mehrere tausend Mitarbeiter*innen dagegen, dem US-Militär zuzuarbeiten. In den letzten Monaten stellten sich Hafenarbeiter*innen in Italien, Spanien und Frankreich gegen den Transport von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien. In Hamburg ist ein Volksentscheid für die Einführung einer Zivilklausel für den Hafen in Planung.

Das Engagement für die Zivilisierung menschlicher Arbeit trifft ein gesellschaftliches Erfordernis, das sich immer mehr Menschen zu eigen machen. Und tatsächlich brauchen wir Zivilklauseln nicht nur für Hochschulen, sondern ebenso für Häfen, Banken und Betriebe. Das restaurative Gebot der Zeit nach 1989, man solle »der Politik« das Politikmachen überlassen und das Leben auf den eigenen privaten Nahraum reduzieren, verliert zunehmend an einschüchternder Kraft. Hier zeigt sich ein gesellschaftlicher Umbruch, den jeder befeuern kann.

Literatur

Borchers, D. (2014): IT-Wehrforschung in Deutschland – Den Standort erhalten. heise online, 6. Februar 2014.

Die Bundesregierung (2016): Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie in Deutschland. Verabschiedet am 21.12.2016.

Celler Trialog (2008): Celler Appell. Abrufbar auf bundeswehr.de.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (1966): Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt). Verabschiedet am 16. Dezember 1966.

Himmelrath, A.; Dambeck, H. (2019): Millionen vom Pentagon für deutsche Unis. SPIEGEL ONLINE, 22.6.2019.

HZG NRW 2014 – Hochschulzukunftsgesetz Nordrhein-Westfalen. Vom Landtag beschlossen am 16.9.2014.

Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel (2019): Liste aktueller Zivilklauseln. zivilklausel.de.

Landtag Nordrhein-Westfalen (2018): Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 5 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Drucksache 17/2612 vom 13.9.2018.

RWTH Aachen University (2017): Statement der RWTH Aachen zur Machbarkeitsstudie für ein Werk in Karasu, Türkei. Pressemitteilung vom 4.9.2017.

Uni-Aktionsbündnis Köln, Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, GEW Studis NRW (2019): Wissenschaft für Nachhaltigkeit, Frieden und Demokratie – Stimmen für den Erhalt der ­Zivilklausel im NRW-Hochschulgesetz. März 2019; uni-aktionsbuendnis.uni-koeln.de.

Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung. Drs. 7827-19 vom 12.7.2019.

Zivilklausel erhalten (2019): Die Zivilklausel in NRW erhalten! weact.campact.de, 15.5.2019.

Senta Pineau ist aktiv im Uni-Aktionsbündnis Köln, Mitgründerin des dortigen Arbeitskreises Zivilklausel und war von 2016 bis 2019 studentische Vertreterin im Senat der Universität. Sie ist Mitglied bei ver.di und in der SPD.

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Ein Wegbereiter der Friedensbewegung

Vor 50 Jahren starb Friedrich Siegmund-Schultze

von Karlheinz Lipp

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland – über mehrere Jahrzehnte und in äußerst unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen – engagierte sich Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) sehr intensiv in verschiedenen Organisationen für den Frieden und für soziale Fragen. Wie sah dieses Engagement aus?

Die Zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 beflügelte einige christliche Gruppen in Deutschland und Großbritannien in ihrem Friedensengagement. Besonders gegenseitige Besuche, beginnend im Frühjahr 1908, sollten Vorurteile ab- und freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Friedrich Siegmund-Schultze erhielt von seinem Patenonkel, dem Hofprediger Ernst von Dryander, direkt nach dem theologischen Examen den Auftrag, diese Reisen zu organisieren – und wirkte bis 1914 als Sekretär des Vereinigten Kirchlichen Komitees zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen
zwischen Großbritannien und Deutschland. Bereits in dieser frühen Lebensphase entwickelte er ein großes Interesse an internationalen Fragen und Konzepten der Verständigung. Dies prägte Siegmund-Schultze entscheidend, und er unterschied sich dadurch von vielen deutschnationalen und militaristischen Pfarrern und Theologen.

Im Jahre 1910 heiratete der Bürgerliche die adlige Maria von Maltzahn; beide überwanden dadurch soziale Schranken. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Im gleichen Jahr referierte Siegmund-Schultze in der Sektion »Die Religion und der Friede« auf dem Fünften Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin.

Die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost und die Zeitschrift »Die Eiche«

Das Jahr 1911 bedeutete für Siegmund-Schultze eine tiefe Zäsur. Nach nur einem Jahr (1910/11) als Pfarrer an der Potsdamer Friedenskirche verließen seine Frau und er das bürgerliche Ambiente und siedelten um in das proletarische Armutsviertel im Osten Berlins. Dort erfolgte die Gründung der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost«, einer Nachbarschaftssiedlung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Studierenden nach dem Vorbild des englischen Settlements Toynbee Hall, welches der Theologe 1908 bei einem Besuch in London kennengelernt hatte. Sukzessive wurde dieses Projekt zur Versöhnung der
Klassen erweitert. So kamen in den nächsten Jahren eine Frauenkolonie, eine Volkshochschule, eine Jugendgerichts­hilfe, Ferienkolonien, ein Kinderheim sowie eine Heilerziehungsstätte für psychisch auffällige Kinder auf dem Ulmenhof (Berlin-Wilhelmshagen) hinzu. Dieses Projekt leitete Siegmund-Schultze bis zur Zerstörung durch den NS-Staat im Jahre 1933.

Das soziale Engagement des Theologen zeigt sich auch in der Gründung des Akademisch-Sozialen Vereins (1912) sowie in seiner Funktion als Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes für Sozialarbeit und Ausländermission (1912-1914).

Im Januar 1913 erschien erstmals die Zeitschrift »Die Eiche«, die von Friedrich Siegmund-Schultze herausgegeben wurde. Der US-amerikanische Millionär und pazifistische Mäzen Andrew Carnegie unterstützte das Erscheinen der ersten Jahrgänge finanziell. In den Anfangsjahren führte dieses Organ den aussagekräftigen Untertitel »Vierteljahresschrift zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Grossbritannien und Deutschland«. Bis zum Verbot durch den NS-Staat im Jahre 1933 gehörte »Die Eiche« zu den wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften im Bereich der internationalen und
pazifistischen Ökumene.

Erster Weltkrieg

Anfang August 1914 fand in Konstanz eine internationale kirchliche Friedenskonferenz statt, die Siegmund-Schultze organisierte. Zweck dieser Tagung sollte die Zusammenführung verschiedener Kirchengemeinschaften und Völker sein, um die Bedeutung des Friedens zu betonen und die Kriegsgefahr zu bannen. Ca. 120 Delegierte aus 30 Ländern nahmen an dieser Konstanzer Veranstaltung teil, die wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges bereits am 2. August beendet werden musste. Gleichwohl bedeutete die Tagung de facto den Beginn der Arbeit des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen.
Siegmund-Schultze blieb dieser Organisation bis 1948 als Schriftführer eng verbunden.

Die Erinnerung der Tochter Elisabeth Hesse zeigt, dass dieses Friedensenga­ge­ment nicht unproblematisch war: „Mein Vater hatte nämlich, getreu seiner Glaubensüberzeugung, einen pazifistischen Quäkeraufsatz 1914 nach Ausbruch des Weltkrieges verbreitet und wurde von einem Mitglied der Kirchenbehörde bei den Militärs denunziert. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrat wurde eingeleitet. Ein Schreiben, das den Dank des Kaisers für den Quäkeraufsatz durch seinen Kabinettschef übermittelte, rettete meinen Vater vor der Füsilierung.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 401)

Die Position des Theologen schwankte während des Ersten Weltkrieges zunächst zwischen Patriotismus und christlichem Pazifismus. Bei Beginn dieses Krieges meldeten sich viele männliche Studierende und Helfer der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost freiwillig zum Kriegsdienst. Siegmund-Schultze kommentierte dies positiv. Im November 1914 wurde der Theologe Mitglied der Friedensorganisation Bund Neues Vaterland. Ende dieses Jahres zählte Siegmund-Schultze zu den führenden Mitbegründern der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland (Caritas inter arma).
Die Arbeit dieser Organisation erstreckte sich auf die gesamte Dauer des Ersten Weltkrieges.

Im Frühjahr 1915 aber zog Siegmund-Schultze eine ernüchternde Bilanz des ersten Kriegshalbjahres. Die Klassengegensätze seien nicht, wie er noch 1914 gehofft hatte, überwunden – im Gegenteil, sie hätten sich durch den Krieg verschärft. Ferner entlarvte der Theologe die Mythen und Lügen der kaiserlichen Propaganda. Ebenfalls 1915 wurde Siegmund-Schultze Obmann der englischen Gefangenenseelsorge in Deutschland (bis 1919) und Mitarbeiter der Bewegung für Praktisches Christentum (bis 1938).

Im Jahre 1916 kritisierte Siegmund-Schultze die zunehmende, kriegsbedingte Verwahrlosung von (männlichen) Jugendlichen. Sein Konzept, wonach Studierende die Berufs- und Arbeitswelt des Proletariats näher erleben sollten, bedeutete für ihn während des Krieges auch, die Arbeit in der Rüstungsindustrie kennenzulernen. Ebenfalls 1916 trat Siegmund-Schultze jeweils den neuen pazifistischen Organisationen Zentralstelle Völkerrecht und Vereinigung Gleichgesinnter bei.

Sein großes Engagement im Sozialbereich fand während des Krieges seinen Ausdruck in der Berufung zum ersten Direktor des Berliner Jugendamtes (1917/18), zum Vorsitzenden des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen sowie als Präsident des Internationalen Kongresses für Heilpädagogik (1918-1933).

Weimarer Republik und Friedenssonntag

Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zeigte sich die internationale und ökumenische Offenheit von Siegmund-Schultze. So arbeitete er von 1919 bis 1932 als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig), von 1920 bis 1937 als Mitglied eines Ausschusses der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, von 1921 bis 1930 als Geschäftsführer des Deutschen Komitees der Internationalen Volkshochschule in Helsingör (Dänemark) sowie von 1921 bis 1939 als internationaler Schriftführer des Kirchenkomitees für die Minoritäten der baltischen und südosteuropäischen Länder.

Im Jahre 1925 organisierte Erzbischof Nathan Söderblom (Friedensnobelpreis 1930), der Siegmund-Schultze nach Kriegsende kennengelernt und ihn zu Vorträgen nach Schweden eingeladen hatte, in Stockholm eine Weltkirchenkonferenz der nicht-römisch-katholischen Kirchen. Ein geplanter Vortrag von Siegmund-Schultze über »Die Erziehung zu brüderlicher Gesinnung im eigenen Volk und unter den Völkern« konnte nicht gehalten werden, da die deutsche Delegation ein solches Thema ablehnte und entsprechend blockierte. Auch hier zeigte sich das Aufeinandertreffen einer konservativen, nationalistischen
Position und einer weltoffenen Überzeugung. Im gleichen Jahr übernahm Siegmund-Schultze eine Honorar-Professur an der Universität zu Berlin (Jugendkunde und Jugendwohlfahrt, später: Sozialpädagogik und Sozialethik).

Sehr große Sympathien brachte Siegmund-Schultze der Realisierung eines Friedenssonntages entgegen. Ein solcher höchst symbolischer Feiertag fand in Deutschland erstmals 1908 in der Freien Evangelischen Gemeinde Königsberg statt. Am 7. Dezember 1913 folgte erstmals (und bis heute letztmals) die Feier eines Friedenssonntages in einer Landeskirche, nämlich der Landeskirche Elsass-Lothringens.

In der Weimarer Republik versuchten religiös-sozialistische Pfarrer sowie Geistliche des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen einen Friedenssonntag in Deutschland zu eta­blieren. Nachdem ein erwartetes positives Echo auf den Aufruf des Weltbundes für einen Friedenssonntag ausblieb, versuchte es Siegmund-Schultze in der Endphase der Weimarer Republik eigenständig mit einem erneuten Anlauf. In den Jahren 1930 bis 1932 veröffentlichte er in seinem Organ »Die Eiche« Artikel über den Friedenssonntag, sammelte akribisch ­Feiern von Friedenssonntagen im In- und
Ausland und publizierte diese in seiner Zeitschrift. Die intensiven Bemühungen Siegmund-Schultzes brachten nur sehr geringe Erfolge. Im Jahre 1938 scheiterte er im Schweizer Exil nochmals mit dem Versuch, einen Friedenssonntag abzuhalten.

Exil in der Schweiz und die Zeit nach 1945

Im Frühjahr 1933 engagierte sich Siegmund-Schultze für ein Internationales Hilfskomitee für deutsche Auswanderer jüdischer Abstammung. Kurz vor der geplanten Gründung verhaftete die Gestapo den Theologen und zwang ihn am 23. Juni 1933 zur Flucht in die Schweiz. In seiner neuen Heimat wirkte er als Berater für Studierende der Züricher Hochschule (bis 1937), schloss sich (bis 1939) als Geschäftsführer dem Internationalen Kirchenkomitee für Flüchtlingshilfe an und arbeitete als Gastprofessor in verschiedenen Ländern. Im Jahre 1941 führte er Friedensverhandlungen für den deutschen Widerstand
(Kreis um den Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler) mit den Alliierten.

Die Tochter Elisabeth erinnert sich: „Vor dem Krieg und auch noch während des Krieges traf sich mein Vater bei Konferenzen und zu Hause in Zürich mit führenden Leuten des Widerstandes. Von Goerdeler bekam meine Mutter ein wunderschönes Alpenveilchen geschenkt, das sie jahrelang immer wieder zum Blühen brachte. Der Vater teilte die Ansicht Goerdelers, einen Tyrannenmord nicht verantworten zu können. Er teilte ebenso die Ansicht des Kreisauer Kreises, auch Kommunisten an den Plänen für den Aufbau nach dem verlorenen Krieg zu beteiligen.“
(Siegmund-Schultze 1990, S. 407)

Im Jahre 1946 erfolgte ein Ruf auf eine Professur für Sozialethik und Sozialpädagogik an die Berliner Humboldt-Universität, die Siegmund-Schultze jedoch ablehnte mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der Arbeit der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin-Ost. Ein Jahr später nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Münster an und übernahm die Leitung der sozialpädagogischen Abteilung der Forschungsstelle dieser Universität mit Sitz in Dortmund. Ebenfalls in dieser Stadt des Ruhrgebiets gründete Siegmund-Schultze eine Jugend-Wohlfahrtsschule und blieb bis 1954
dortiger Direktor. Generell gilt aber, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialpädagogische Arbeit des Exilanten in Wissenschaft und Praxis kaum rezipiert wurde.

Im Bereich der Friedensarbeit erreichte er allerdings Bedeutung. Schon 1946 veröffentlichte Siegmund-Schultze seine grundlegende Schrift »Die Überwindung des Hasses«. Hier zeigt er anhand von Beispielen aus der griechisch-römischen Welt, der Renaissance und Aufklärung, des Hinduismus, des Judentums und des Christentums Wege zur Überwindung des Hasses auf. Auch ein Denken jenseits von Klassen- und Rassenhass wird thematisiert.

In der praktischen Friedensarbeit blieb Siegmund-Schultze weiterhin aktiv. So beteiligte er sich an den Vorarbeiten zum Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“), wurde u.a. Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände sowie Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Diese Funktion wurde umso dringlicher, da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung immer mehr zu einem angeblichen Ausnahmerecht degradiert wurde.
Er unterstützte Gustav Heinemanns Notgemeinschaft für den Frieden Europas und kritisierte die Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik durch Kanzler Adenauer.

Siegmund-Schultze baute das umfangreiche Ökumenische Archiv in Soest auf, das inzwischen Teil des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin ist – eine formidable Fundgrube zur Geschichte der (christlichen) Friedensbewegung. Sein Schüler und Mitarbeiter Klaus Rehbein äußerte sich zu dem Ökumenischen Archiv so: „Aus der reichen Erfahrung eines konfliktreichen Lebens hatte Siegmund-Schultze ein tiefes Mißtrauen gegen ausschließlich staatliche oder kirchlich verwaltete Institute und Institutionen. Er wollte bis zuletzt selbst über die Zugangsmöglichkeiten zu seinem
Material bestimmen können. Die Freigabe
für die Verwaltung Dritter sollte erst dann erfolgen, wenn das Material geordnet und dokumentiert war. Und ein zweites kam hinzu. Es gelang Siegmund-Schultze, sein Soester Archiv noch einmal zu einem Zentrum ökumenischer Begegnung zu machen. Alte Freunde und Weggefährten trafen sich mit einer neuen Generation.“ (Siegmund-Schultze 1990, S. 422)

Nach Friedrich Siegmund-Schultze benannte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung einen Preis für gewaltfreies Handeln (ab 2018 Evangelischer Friedenspreis), der seit 1994 verliehen wird.

Quellen und Literatur

Conway, J.S. (1983): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Evangelische Theologie, Nr 43, S. 221-250.

Dam, H. (2001): Der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen 1914-1948 – Eine ökumenische Friedensorganisation. Frankfurt am Main: Lembeck.

Epting, K.C. (1985): Die erste internationale Konferenz der Kirchen für Frieden und Freundschaft in Konstanz 1914. Ökumenische Rundschau, S. 7-25.

Gaede; R. (2018): Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus während der Weimarer Republik. Bremen: Donat.

Grotefeld, S. (1995): Friedrich Siegmund-Schultze – Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Lipp, K. (2013): Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg – Ein Lesebuch. Freiburg i. Br.: Centaurus.

Lipp, K. (2014): Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik – Ein Lesebuch. Nordhausen: Traugott Bautz.

Nowak, K. (1981): Evangelische Kirche und Weimarer Republik – Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Siegmund-Schultze, F. (1990): Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision – Texte 1910-1969. Hrsg. von Wolfgang Grünberg u.a. München: Kaiser Taschbuch.

Tenorth, H.-E. u.a. (Hrsg.) (2007): Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) – Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker und Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedensforschung.