Israel /Palästina


Israel /Palästina

Zur Kampagne gegen Friedenskräfte im israelisch-palästinensischen Konflikt

von Wilhelm Kempf

Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg besteht dringender Bedarf an einem offenen Diskurs, der die Rechte von Israelis und Palästinensern anerkennt und um einen Ausgleich zwischen den beiden Gesellschaften bemüht ist. Dieser Diskurs wird jedoch durch den Widerspruch zwischen Werten belastet, die aus guten Gründen für die meisten Juden sehr wichtig sind: dem Wert des Zionismus, d.h. Israel als jüdischer Staat, und den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit und der Demokratie. „Dieser Widerspruch“, sagt der israelische Philosoph Omri Boehm (2015), „bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben.“

Bei einer Belastung durch widersprüchliche Werte kann der resultierende Verlust an Selbstwertgefühl vermieden werden, indem das konkrete Handeln von den moralischen Standards abgekoppelt wird (Bandura 1999). Im Falle der israelischen Occupartheid1 ist es aber nicht nur der drohende Selbstwertverlust, der zur moralischen Ablösung zwingt, sondern auch die Angst vor einer Renaissance des Antisemitismus, der sich gegen Israel als »den Juden unter den Staaten« wendet.

Diese Befürchtung ist nicht unbegründet, zumal laut Ergebnissen des ASCI-Surveys (Kempf 2015) ein Viertel der Deutschen als antisemitische Israelkritiker einzustufen sind, deren (scheinbare) Parteinahme für die Palästinenser*innen letztlich nur als Mittel dient, »das wahre Gesicht der Juden« zu entlarven, und ein weiteres Zehntel jede Positionierung zur israelischen Politik vermeidet, »weil man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt«.

Immerhin vier von zehn Deutschen kritisierten die israelische Politik jedoch deshalb, weil sie für die Universalität der Menschenrechte eintreten, Antisemitismus und Islamophobie gleichermaßen ablehnen und eine Politik verurteilen, die nicht nur den Palästinenser*innen Unrecht antut, sondern auch Israel von innen heraus zu zerstören droht (Keret 2013).

Seit Israel 2001 auf der UN-Konferenz von Durban der Apartheid bezichtigt wurde und mehr noch seit die – auch von vielen Juden unterstützte – »Boycott, Divestment & Sanctions«-Bewegung (BDS) einige Erfolge zu verzeichnen hat, setzen die Befürworter der Occupartheid jedoch alles daran, die Angst vor einem antiisraelischen Antisemitismus noch weiter zu schüren und die Occupartheid-Gegner als Antisemiten abzustempeln.

Antisemitismus bedeutet Feindschaft gegen Juden als Juden. D.h. der entscheidende Grund für die Ablehnung ist die angebliche oder tatsächliche jüdische Herkunft eines Individuums, einer Gruppe oder auch Israels, als jüdischem Staat (Demirel et al. 2011). Bei BDS ist dies nicht der Fall. BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die auf Israel Druck auszuüben versucht, seine Palästinapolitik zu ändern und die Occupartheid zu beenden. Und BDS ist eine Bewegung, die den israelisch-palästinensischen Konflikt verändern könnte „wenn der Diskurs von Begriffen wie Stärke und Widerstandsfähigkeit auf die Ebene von Rechten und Werten wechselt“ (Burg 2014).

Kompetitive Fehlwahrnehmungen und gesellschaftliche Grundüberzeugungen

Die Trennlinie im israelisch-palästinensischen Konflikt verläuft aber nicht mehr zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen all jenen, die in Frieden leben wollen, und jenen, die ideologisch und emotional auf Gewalt setzen (Grossmann 2014). Selbst unter amerikanischen Juden finden sich nur ca. 8 % bedingungslose Unterstützer von Netanjahus Politik (Ben-Ami 2011), und 60 % der Juden in der Diaspora glauben nicht, dass sich Netanjahus Regierung um Frieden mit den Palästinensern bemüht (Goldmann 2015).

Um diesem Zustimmungsverlust entgegenzuwirken, hat der Vorsitzende der Jewish Agency, Natan Sharansky, den so genannten Drei-D-Test erfunden, mittels dessen sich antisemitische Israelkritik identifizieren lassen soll: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral als Alleinstellungsmerkmale für antiisraelischen Antisemitismus.

So plausibel dieser Test auch scheinen mag, kann er jedoch höchstens einen Anfangsverdacht begründen. Wie jeder eskalierte Konflikt geht auch der israelisch-palästinensische mit kompetitiven Fehlwahrnehmungen (Deutsch 2000) einher, die sich in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten. Diese sind u.a. durch den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und an die eigene Opferrolle sowie durch den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke geprägt (Bar-Tal 1998). Dies findet – völlig spiegelbildlich – auf beiden Seiten statt: Woran die eine Seite glaubt, wird von der anderen strikt zurückgewiesen (Kempf 2015) und als Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral empfunden.

Indem Natan Sharansky die drei Ds aber mit dem Label des Antisemitismus versehen hat, tritt zu ihnen ein viertes D hinzu: die Denunziation derer, die für eine Friedenslösung in Israel/Palästina eintreten. Eine Denunziation, die jegliche – auch noch so kleine – Abweichung von den eigenen Glaubenssätzen als antisemitisch brandmarkt, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschränkt und eine kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Palästinapolitik zu verhindern sucht.

Schon seit geraumer Zeit hat diese Denunziationskampagne auch auf Deutschland übergegriffen, wo sie nicht nur in den Medien, sondern zunehmend auch an den Universitäten geführt wird. Welcher Mittel sie sich bedient und wogegen sie sich richtet, soll im Folgenden anhand von fünf Vorfällen während der zweiten Jahreshälfte 2016 untersucht werden:

1. Kündigung des Bankkontos des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« durch die Bank für Sozialwirtschaft;

2. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« an der Universität Marburg;

3. vom »Tagesspiegel« losgetretene Pressekampagne gegen das aus öffentlichen Geldern finanzierte palästinensische Kulturfestival »After the Last Sky« im Berliner Ballhaus Naunynstraße;

4. Verbot einer Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren in Gaza und den besetzen Gebieten im Foyer des Heidelberger Rathauses und

5. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über Ergebnisse des Surveys »Anti-Semitism and the Criticism of Israel« (ASCI) an der Universität Freiburg.

Rufmord, Verleumdung und Unterstellungen

Die Auswahl dieser fünf Vorfälle ist zwar beliebig, jedoch repräsentativ für das Spektrum an Themen, die aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden müssen, wenn Netanjahus Politik nicht weiter an Unterstützung verlieren soll.

Allen fünf Vorfällen ist gemeinsam, dass sie darauf abzielen, den Occupartheid-Gegnern die Handlungsfähigkeit zu entziehen: von der Kündigung des Bankkontos der »Jüdischen Stimme« und dem Verbot der Ausstellung im Heidelberger Rathaus über die Forderung nach Verhinderung des Vortrags an der Uni Marburg und Schließung des »Cafe Palestine« an der Uni Freiburg bis zur Druckausübung auf den Berliner Senat, die Mittelvergabe im Kulturbereich auf den Prüfstand zu stellen. Ebenso gemeinsam ist ihnen die rechtliche Bedenklichkeit der Mittel: von anonymer Hetze über die Verletzung journalistischer Normen und des Presserechts bis zu Vertragsbruch und mutmaßlicher Verletzung des Bankgeheimnisses.

Das Spektrum der Personen und Institutionen, die offen des Antisemitismus bezichtigt werden, ist (fast) flächendeckend und umfasst die »Jüdische Stimme« und die BDS-Bewegung ebenso wie das frühere Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, Rolf Verleger, und das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung«, den Fachbereich Friedens- und Konfliktforschung an der Uni Marburg sowie die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals. Nur das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft kommt bei seiner Intervention gegen die Ausstellung »Kinder in Palästina« ohne Rufmord aus und verweist stattdessen auf die Neutralitätspflicht der Stadt Heidelberg.

Auffallend ist die neue Sprachregelung. Während man jüdische Kritiker*innen der israelischen Palästinapolitik bisher als »self-hating Jews« zu verunglimpfen pflegte, spricht man nun von jüdischem Antisemitismus. Wurden bislang die »self-hating Jews« zwar als von Selbsthass getrieben, aber dennoch in erster Linie als Juden gezeichnet, so scheint die Entwicklung nun dahin zu gehen, die Unterstützung der Occupartheid zum Definitionsmerkmal dafür zu machen, wer sich zu Recht jüdisch nennen darf. Zumindest aber geht sie in die Richtung, den Zionismus in seiner heutigen Form an die oberste Stelle der Wertehierarchie zu rücken. Dafür spricht auch, dass Antizionismus vor allem den jüdischen Occupartheid-Kritiker*innen zum Vorwurf gemacht wird, nicht aber jenen Leuten, von denen es sich – aufgrund ihrer Nähe zu den Palästinensern – am ehesten erwarten ließe.

Dabei sind es aber nicht nur Etiketten wie Antisemitismus oder Antizionismus, mittels derer man Rufmord an den Occupartheit-Kritiker*innen begeht, sondern handfeste Verleumdungen, mittels derer sie mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden und/oder ihnen unterstellt wird, auf die Vernichtung Israels aus zu sein.

Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral

Um Kritik an der israelischen Occupartheid abzuwehren, bedienen sich ihre Unterstützer*innen (fast) des gesamten Spektrums der von Bandura (1999) identifizierten Mechanismen der moralischen Ablösung: Rechtfertigung durch höhere moralische Ziele, wie die Sicherheit Israels als Schutzraum vor dem globalen Antisemitismus; palliative Vergleiche, die auf Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten abheben; euphemistische Begrifflichkeit, die z.B. Neutralitätspflicht als Chiffre für Unterdrückung des Sichtbarwerdens von für Israel ungünstigen Tatsachen verwendet; Leugnung, Ignorieren und Missdeutung der Folgen der Occupartheid, z.B. als Täter-Opfer-Umkehr; Dehumanisierung der Palästinenser*innen durch Unsichtbarmachen der palästinensischen Bevölkerung, Geschichte und Kultur; Schuldzuweisungen, z.B. gegen die Hamas, aber auch gegen die palästinensische Autonomiebehörde, die Kuratorinnen des Kulturfestivals und den Berliner Senat; Abwälzen der Verantwortung für die zivilen Opfer im Gaza-Krieg (2014) auf die Hamas und/oder für die Occupartheid auf den globalen Antisemitismus.

Die Abkoppelung der Occupartheid von moralischen Prinzipien bildet schließlich die Grundlage, auf welcher die drei Ds Plausibilität gewinnen.

Explizit der Doppelmoral bezichtigt werden u.a. der UN-Menschenrechtsrat und die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals, wobei die Themen, die mittels der drei D aus dem Diskurs ausgeschlossen werden sollen, von der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Besatzung bis zu jener nach der Opferrolle (auch) der Palästinenser*innen reicht. Man sieht darin eine Dämonisierung des jüdischen Staates als »illegitimes rassistisches Regime«.

Ob »ethnische Säuberung«, »Siedler-Kolonialismus« oder »Apartheid« angemessene Begriffe sind, um die Realität der Occupartheid zu beschreiben, ließe sich sachlich diskutieren. Indem unterstellt wird, dass sie bewusst verwendet werden, um Israel schlimmstmöglicher Verbrechen zu beschuldigen, werden aber nicht nur diese Begriffe zurückgewiesen, sondern jeglicher Diskurs über die Sachverhalte, die sie (wenn auch unzureichend) zu benennen versuchen.

Der Vorwurf der Delegitimierung Israels richtet sich dabei nicht nur gegen diese Begrifflichkeit als solche, sondern ad personam gegen die Occupartheid-Gegner*innen, und findet ihr Spiegelbild in der Delegitimierung von Menschrechtspositionen schlechthin, wobei Delegitimierung und Dämonisierung Hand in Hand gehen und die Vorwürfe von Verharmlosung palästinensischer Gewalt und des Antisemitismus über Hetze gegen den Judenstaat bis zur Befürwortung der Zerstörung Israels reichen.

Die Doppelmoral, derer sich die Unterstützer*innen der Occupartheit dabei ihrerseits bedienen, tritt in der Gleichzeitigkeit von Dämonisierung und Dämonisierungsvorwurf bzw. Delegitimierung und Delegitimierungsvorwurf deutlich zu Tage. Nur im Zusammenhang mit dem Ausstellungsverbot äußert sie sich in einer gleichsam »eleganteren« Form: in der »Neutralitätspflicht»«, welche die Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren als »hochpolitisch«, verbietet, während eine Ausstellung über den Jewish National Fond und dessen Aktivitäten (u.a. in den besetzten Gebieten) ohne Proteste gezeigt werden konnte.

Schluss

Man kann sich zu BDS so oder so verhalten. Man kann sich der Bewegung anschließen oder sich davon fernhalten. Man kann sich auch dagegen wehren. Wenn z.B. der Verein »Jüdische Stimme« zum Boykott des Jewish National Fond auffordert und dessen Präsidentin daraufhin Druck auf die Bank für Sozialwirtschaft ausübt, ihre geschäftliche Verbindung mit der »Jüdischen Stimme« zu beenden, dann wird damit zunächst nur Gleiches mit Gleichem vergolten.

Aber könnte man den Meinungsstreit über die israelische Palästinapolitik nicht auch mit fairen Mitteln austragen? Noch vor einem Dutzend Jahren konnte man sich sogar in Israel trefflich streiten. Heute ist dies selbst in Deutschland kaum noch möglich, und die hier untersuchten Vorfälle sind noch nicht einmal der Höhepunkt der laufenden Kampagne gegen die Meinungsfreiheit. Anfang 2017 wurden sie mit der Nichtverlängerung des Lehrauftrages von Eleonora Roldán Mendivil am Otto-Suhr-Insti­tut (OSI) der FU Berlin und durch einen Hackerangriff auf die Website des »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« noch einmal getoppt.

Der Vorfall am OSI ist aus mehreren Gründen besonders brisant: Erstens ging es dabei nicht um Inhalte der Lehrveranstaltung, sondern um einen (im Internet inzwischen gelöschten) Blog der Lehrbeauftragten. Zweitens wurde die Nichtverlängerung des Lehrauftrages bereits verfügt, bevor die Vorwürfe überprüft waren und das Gutachten des damit betrauten Antisemitismusforschers Wolfgang Benz vorlag. Und drittens hat das OSI für den Fall vorgesorgt, dass das Gutachten die Lehrbeauftragte entlasten könnte: Künftig soll ein BA für die Vergabe von Lehraufträgen nicht mehr ausreichen, sondern mindestens ein MA gefordert werden, über den Frau Roldán Mendivil (noch) nicht verfügt. Man hätte es auch gleich so formulieren können: Am OSI darf nur lehren, wer sich vorbehaltlos zur Occupartheid bekennt.

Anmerkung

1) Definiert als Diskriminierung zwischen Bevölkerungsgruppen auf Grundlage der ethnischen Herkunft als Ergebnis einer dauerhaften Besatzung (Bar-Tal 2015).

Literatur

Bandura, A. (1999): Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. Personality and Social Psychology Review, Vol. 3, No. 3 (Special Issue on Evil and Violence), S. 193-209.

Bar-Tal, D. (1998): Societal beliefs in times of intractable conflict – The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, Vol. 9, No. 1, S. 22-50.

Bar-Tal, D. (2015): “Love your neighbor as yourself”. Documentation of an open letter by Prof. Daniel Bar-Tal, Tel Aviv University, Israel. conflict & communication online 14/1.

Ben-Ami, J. (2011): A new voice for Israel – Fighting for the survival of the Jewish nation. New York: palgrave macmillan.

Boehm, O. (2015): Jüdischer Ungehorsam. Interview im Deutschlandfunk, gesendet 8.2.2015, 9:30 Uhr.

Burg, A. (2014): Was ist falsch an Boykotten und Sanktionen? Der Standard, 17.2.2014.

Demirel, A.: Farschid, O.; Gryglewski, E.; Heil, J.; Longerich, P.; Pfahl-Traughber, A.; Salm, M.; Schoeps, J. H.; Wahdat-Hagh, W.; Wetzel, J. (2011): Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7700.

Deutsch, M. (2000): Cooperation and competi­tion. In: Deutsch, M. and Coleman, P. T. (eds.): The handbook of conflict resolution – Theory and practice. San Francisco: Jossey-Bass, S. 21-40.

Goldmann, A. (2015): Diaspora unzufrieden mit Israel – Mehrheit der Juden bezweifelt, dass Jerusalem sich ausreichend um Frieden mit Palästinensern bemüht. Jüdische Allgemeine, 3.8.2015.

Grossmann, D. (2014): Erinnern wir uns an die Zukunft. TagesAnzeiger, 4.8.2014.

Kempf, W. (2015): Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee – Eine Spurensuche. Berlin: verlag irena regener.

Keret, E. (2013): Die Besatzung frisst unsere Seele. Frankfurter Rundschau, 16.2.2013.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (cco.regener-online.de).

Wenn Abrüstung genau das Richtige ist


Wenn Abrüstung genau das Richtige ist

Die Friedensverfassung von Costa Rica

von Luis Roberto Zamora Bolaños

Costa Rica gilt als Paradebeispiel für einen friedlichen und friedensliebenden Staat. Klein, ohne Reichtümer, um die es sich zu streiten lohnt, und sogar ohne Militär ist das Land keine Bedrohung für seine Nachbarn und engagiert sich außenpolitisch konstruktiv in der Konfliktlösung und in Abrüstungsgremien. Der Autor schildert seine subjektive Sicht des costa-ricanischen Weges zu einer Friedensverfassung und welche Rolle Völkerrecht (und er selbst) dabei spielte, diese zu erhalten.

In der Mitte des amerikanischen Doppelkontinents gelegen, ungefähr so groß wie Niedersachsen, keine relevanten Rohstoffvorkommen, dünne einheimische Bevölkerung, betörender, dichter Dschungel – das fanden die Spanier vor, als sie an der Küste des heutigen Costa Rica landeten.

Dieses knappe, aber durchaus zutreffende Bild sollte die Zukunft des Landes prägen. Weit entfernt von der Kapitale seiner spanischen Verwaltungseinheit war Costa Rica die entfernteste und verlassenste Provinz des Generalkapitanats Guatemala. Ohne Gold- und Silbervorkommen oder Sklavennachschub, der sich zu Profit machen ließe, gaben die Spanier und die Kreolen keinen Nickel für die kleine Provinz.

So konnte Costa Rica fernab der Machtkonflikte und Finanzfehden, die bald ganz Mittelamerika überzogen, wachsen und gedeihen. Hier gab es keine politische Macht zu gewinnen, die den Kampf lohnte, und in der Wirtschaft dominierten landwirtschaftliche Familienbetriebe. Infolgedessen hatte Costa Rica etwas, was es in der Region sonst nicht gab: eine recht ausgewogene Wohlstandsverteilung. Damit ging auch eine Machtbalance einher, die letztlich zur Grundlage für die costa-ricanische Demokratie wurde. Wenn es eine Machtbalance gibt, kann niemand dominieren. Wenn niemand dominieren kann, muss man verhandeln. Wenn man ohne Machtdruck verhandelt, führt dies zu demokratischen Prozessen.

Fernab der Machtkämpfe, die in der übrigen Region stattfanden, prosperierten im 18. Jahrhundert die costa-ricanischen Familien mit Tabakanbau. Der Tabak wurde überwiegend nach London und Paris exportiert, nicht nach Spanien, wie in den Nachbarländern üblich. Die allmählich wohlhabend gewordenen Familien begannen in einem kritischen Moment der Weltgeschichte, ihre jungen Männer zum Studium nach Paris und London zu schicken: am Ende des 18. Jahrhunderts, als sich zwei der wichtigsten Ereignisse der modernen Politikgeschichte ereigneten, die französische Revolution und die Unabhängigkeit der 13 britischen Kolonien in Amerika.

Als Costa Rica 1821 seine Unabhän­gigkeit erlangte [weil Guatemala die Unabhängigkeit der mittelamerikani­schen Staaten ausrief (W&F Red.)], richtete sich der junge Staat an den Idealen der Revolution aus, an ihrem neuen Geist der Menschlichkeit und der Menschenrechte. Soweit handelt die Geschichte überwiegend von Ereignissen, die außerhalb des Landes und ohne Zutun Costa Ricas passierten.

Absage an den Militarismus

Mit der Unabhängigkeit von der spanischen Krone konnte Costa Rica an die Ausarbeitung einer selbstbestimmten Verfassung gehen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Entscheidungen getroffen, die die Zukunft und den weiteren Weg des Landes entscheidend prägen sollten. Anders als die übrigen lateinamerikanischen Länder wählte Costa Rica keinen Vertreter des Militärs zum Staatsoberhaupt, sondern einen Grundschullehrer. Und gleich in der ersten Verfassung, die 1823 in Kraft trat, wurden die Schulpflicht und ein staatliches Schulwesen eingeführt

Costa Rica unterhielt eine kleine, aber gut ausgerüstete Armee, die sich als schlagkräftig erwies, als die US-amerikanischen Filibuster (Freibeuter) versuchten, Mittelamerika zu erobern, nachdem William Walker die Macht in Nicaragua an sich gerissen hatte. Damals, 1856, war der US-Imperialismus noch nicht so ausgeprägt wie heute, und das Interesse der Freibeuter richtete sich vor allem auf Panama, das damals nicht zu Mittelamerika, sondern zu Kolumbien gehörte. Costa Rica hingegen war unbedeutend und hielt aus historischen und sozialen Gründen Distanz zu Mittelamerika, wovon der mehrmalige Austritt des Landes aus der Mittelamerikanischen Föderation zeugt.

1871 gab es einen Durchbruch, als die politische Betätigung von Militärangehörigen per Verfassung verboten wurde, um eine ausschließlich zivile Regierung zu garantieren. Von wenigen Episoden abgesehen verlief das Leben dieser kleinen Nation dann mehrere Jahrzehnte ziemlich ruhig, fernab von Bürgerkriegen und im Wesentlichen auch fernab der großen internationalen Politik.

Abschaffung des Militärs

1948 kam es nach einem Wahlbetrug zu Costa Ricas drittem und letztem Bürgerkrieg. Als die oppositionellen Kräfte gewannen, beriefen sie sofort eine verfassungsgebende Versammlung ein. Die wichtigste Neuerung bei der Neugründung der Republik war die Abschaffung des stehenden Heeres. Gleichzeitig wurde das Militärbudget auf den Gesundheits- und den Bildungssektor übertragen. Damit sollte verhindert werden, dass ein bewaffneter Arm der Regierung ein Militärregime oder einen Militärputsch unterstützen könnte. Dies war in der frühen Phase des Kalten Krieges in mehreren mittelamerikanischen Ländern der Fall. Mit der neuen Verfassung wurde außerdem neben der Judikative, der Legislative und der Exekutive eine vierte unabhängige Staatsgewalt eingeführt: der Wahlgerichtshof. Er sichert den ordnungsgemäßen und gerechten Verlauf von Wahlen. Nach Annahme der Verfassung 1949 wurden Neuwahlen durchgeführt.

Costa Rica konnte sich von den Tumulten des Kalten Krieges fernhalten, der in Lateinamerika in Form von Bürgerkriegen heftig und heiß verlief, bis die USA 1983 forderten, dass die »Contras« ihr Hauptquartier für den Kampf gegen die Revolutionäre im benachbarten Nicaragua in Costa Rica aufschlagen könnten. Der Druck der CIA auf Präsident Luis Alberto Monge war sehr stark. Er entschied daraufhin, die Neutralität des Landes zu erklären und damit dem Druck auszuweichen. Eine Stationierung fremder Truppen im Land wäre damit nun völkerrechtswidrig. Mit dieser Entscheidung ebnete Costa Rica seinen Weg als Staat, der sich nicht an bewaffneten Konflikten beteiligen würde – mit einer Ausnahme: der Vermittlung in Konflikten, um zu einer friedlichen Lösung beizutragen.

Bedrohungen der Friedensverfassung

Diese politische Linie wurde fortgesetzt, bis Präsident Abel Pacheco am 19. März 2003 entschied, dass Costa Rica die »Koalition der Willigen« unterstützen würde – einen Tag, bevor die Invasion in den Irak begann. Es war eine schockierende Entscheidung: Ein Land ohne eigene Armee unterstützt eine Kriegskoalition. Das klingt absurd, machte aber für die USA und Großbritannien durchaus Sinn. Sie warben intensiv für einen Krieg gegen Irak, vorgeblich um Frieden, Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen. In dieser Situation die Unterstützung Costa Rica vermelden zu können, war für die Koalition ein echter Imagegewinn.

Ich war damals noch Student und beschloss, bei der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs Klage einzureichen. Ich begründete die Klage damit, die Unterstützung des Krieges gegen Irak wäre nichtig, verfassungswidrig, völkerrechtswidrig und würde der UN-Charta, der costa-ricanischen Neutralitätserklärung und dem Recht auf Frieden widersprechen. Und in der Tat erklärte die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs im September 2004 die Unterstützung der Kriegskoalition aus genau diesen Gründen für verfassungswidrig (Urteil 9992-04).

Seither gab es mehrere Versuche, die Friedensverfassung zu untergraben. 2006 beschloss Friedensnobelpreisträger und Präsident Óscar Arias Sánchez, den Abbau von Thorium und Uran, den Bau von Atomreaktoren »für alle Zwecke« [d.h. zur Dual-use-Nutzung (W&F Red.)] und die Herstellung von Reaktorbrennstoff zu genehmigen. Wieder zog ich vor die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, die die Genehmigung widerrief (Urteil 14193-08). Das Gericht begründete sein Urteil damit, das Recht auf Frieden sei ein Verfassungsrecht, und es verbot jegliche Aktivitäten, die auf Krieg gerichtet sind, sowie jegliche Atom- und Rüstungsproduktion.

2008 unternahm Präsident Óscar Arias Sánchez einen Versuch, die costa-ricanischen Polizeikräfte zu militarisieren, wurde dabei aber aufgrund meiner Klage, diesmal beim Verwaltungsgericht, gestoppt. Die Regierung ging in Revision bis zum Obersten Gerichtshof, der 2012 aber entschied, dass Straftaten mit zivilen, nicht mit militärischen Mitteln zu begegnen sei.

Die Friedensverfassung Costa Ricas wurde also bis heute nicht zuletzt mit Hilfe der Gerichte bewahrt.

Bewährung in der Außenpolitik

Die pazifistische und neutrale Ausrichtung Costa Ricas hat sich in der Außenpolitik bewährt und für das Land gelohnt. Costa Rica gilt im Ausland als freundliches, harmloses Land. Unser südlicher Nachbar Panama bewegt sich ebenfalls Richtung Demilitarisierung, seitdem das Land die Souveränität und Kontrolle über den Panamakanal wiedererlangt hat. Nur der nördliche Nachbar Nicaragua bleibt weiterhin militarisiert. Dennoch konnte Costa Rica 2014 auch ohne Militär eine Invasion kontern, als Nicaragua am nordöstlichen Zipfel Costa Ricas ein Stück Land besetzte, um unter Nutzung des San-Juan-Flusses einen Kanal vom Atlantik zum Pazifik zu bauen. Costa Rica rief sofort den Internationalen Strafgerichtshof an, der Nicaragua verwarnte. Selbst dieser Konflikt konnte also mit zivilen, juristischen Mitteln ohne Rückgriff auf Gewalt gelöst werden.

Auch wenn die Wiederaufstellung einer Armee immer wieder ins Gespräch gebracht wird, für den Großteil der Bevölkerung sind Frieden und das Fehlen einer Armee hohe Werte. Frieden und die Friedensverfassung sind echte Glanzlichter in unserer Geschichte und in unserem Dasein: Sie wurden Teil unserer nationalen Identität. Das Völkerrecht hat großen Anteil daran, dass dies möglich ist. Aus Friedensartikeln in Verfassungen ergeben sich völkerrechtliche Verpflichtungen. Frieden und Neutralität sind keine Erklärungen an sich selbst, sondern an die anderen Ländern, an den Rest der Welt.

Es ist wichtig zu erkennen, dass Frieden und Entwicklung Hand in Hand gehen. Nur so lässt sich erklären, dass Costa Rica, ein armes Land, im Human Development Index (Index der menschlichen Entwicklung) auch im Vergleich mit Ländern der Eurozone recht gut dasteht. Costa Rica und seine Bürger*innen konnten beobachten, welche Folgen Kriege und selbst kleine Armeen in den Nachbarländern angerichtet haben: Tod, Armut, Militärputsche, fehlende Mittel zur Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse und der Menschenrechte.

Es ist also weder auf Zufall noch auf Glück zurückzuführen, sondern das Geheimnis des relativen Wohlstand Costa Ricas sind Abrüstung und die Förderung des Friedens.

Luis Roberto Zamora Bolaños studierte Jura und Technische Computertechnik. Er arbeitet als Strafrechtsanwalt und ist Vorstandsmitglied der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). (Über seine Klagen zur Verteidigung der costa-ricanischen Friedensverfassung berichtete die Zeitschrift »Foreign Policy« am 8.5.2014.)
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Kein Frieden mit der EU

Kein Frieden mit der EU

20. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 18.-20. November 2016, Tübingen

von Jürgen Wagner

Im Spätherbst lud die Informationsstelle Militarisierung (IMI) zu ihrem inzwischen zwanzigsten jährlichen Kongress nach Tübingen ein. Insgesamt nahmen über 150 Interessierte an dem Kongress »Kein Frieden mit der Europäischen Union« teil, der sich intensiv mit verschiedensten Aspekten der EU-Außen- und Militärpolitik beschäftigte. Einigkeit bestand dabei vor allem in drei Dingen, die gleichzeitig auch wesentliche Schlussfolgerungen des Kongresses darstellen: Erstens, dass sich der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU in Kombination mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten als Brandbeschleuniger auswirken werden, da beide Ereignisse dazu genutzt werden sollen, um die Militarisierung der Europäischen Union und ihren Aufstieg zu einer »Supermacht« in bislang ungekanntem Ausmaß voranzutreiben. Zweitens, dass eine grundsätzliche EU-Kritik auch nicht davor Halt machen darf, die Organisation selbst in Frage zu stellen. Und schließlich drittens, dass alle wesentlichen linken alternativen Europakonzeptionen daran kranken, auf dem »Militärauge« blind zu sein. Die Aufgabe der Friedens- und Antikriegsbewegung besteht deshalb auch darin, diese Lücke zu schließen und antimilitaristische Fragen aktiv in die linke EU-Debatte hineinzutragen.

Nach einer Auftaktveranstaltung am Freitagabend, die sich satirisch mit der »Ideologie EUropa« beschäftigte, begann der Kongress am Samstag mit dem Panel »Europa und die Neusortierung der Welt«. Hier ging Erhard Crome auf die zu erwartenden sicherheitspolitischen Auswirkungen der Wahl Donald Trumps ein. Während zwar eine Chance auf eine Entspannung im Verhältnis zu Russland bestehe, sei andererseits mit einer Verschärfung der Konflikte mit China und mit einem enormen Aufrüstungsdruck auf die EU-Verbündeten zu rechnen. An dieser Stelle setzte der zweite Beitrag von Jürgen Wagner an, der darstellte, wie der anstehende EU-Austritt Großbritanniens und die Wahl Donald Trumps mit der so genannten »Bratislava-Agenda« genutzt werden sollen, die Militarisierung der Europäischen Union massiv voranzutreiben.

Im zweiten Panel, »Chaos und Krieg im ‚Nachbarschaftsraum’«, beschäftigte sich zunächst Claudia Haydt mit der EU-Politik in Osteuropa, die nicht zuletzt in der Republik Moldau bzw. in der Republik Transnistrien erhebliche Konflikte verursacht habe. Aus dem Protest der Moldawier*innen gegen die von der EU angestoßene Militarisierung und durch das bisher unentschiedene Ringen rivalisierender Kräfte im Land entstehe laut Haydt ein ziviler Raum, von dem sie hoffe, dass er genutzt werde. Anschließend stellte Christoph Marischka die Eskalation in Mali zugespitzt als Folge der sich herausbildenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU dar. In deren Sicherheitsstrategie von 2003 sei global schwache Staatlichkeit als Bedrohung Europas definiert worden, wobei darunter v.a. die mangelnde Kontrolle peripherer Räume und Grenzgebiete verstanden wurde. Um genau diese Kontrolle zu erlangen, würde in der Sahel-Region und nicht zuletzt in Mali vermehrt Militär – auch aus Deutschland – eingesetzt.

Unter dem Titel »Union in Uniform: Strukturen des Krieges« beschrieb Tobias Pflüger die militärpolitischen Passagen des seit 2009 geltenden Vertrags von Lissabon. Wesentlich sei bei alldem, dass weder das EU-Parlament noch der Europäische Gerichtshof realen Einfluss auf die EU-Militärpolitik hätten, was Pflüger zu dem abschließenden Fazit veranlasste: Das alles ist auf den ersten Blick extrem kompliziert gemacht, aber eigentlich dann auch recht einfach: Es wird alles so organisiert, dass die EU-Militärpolitik möglichst parlamentsfern und öffentlichkeitsfern ihren Lauf nehmen kann.“ Im Anschluss daran beschrieb Lühr Henken die wichtigsten Komponenten des EU-Militärapparates. Namentlich seien dies v.a. die Schnelle Eingreiftruppe und die Battlegroups. Anschließend ging er auf die seit 2003 stattfindenden EU-Einsätze ein, von denen es aktuell zehn »zivile« und sechs militärische gäbe.

Das Abendpodium firmierte unter dem Titel »EUropa unter Waffen« und hatte zum Ziel, einige der aktuell wichtigsten EU-Rüstungsprojekte und Rüstungsdynamiken vorzustellen. Konkret behandelt wurden NexT – das Fusionsprodukt aus Nexter und Kraus-Maffei-Wegmann –, auf das Andreas Seifert einging. Weiter wurden der Airbus A400M (Roman Christof), das EU-Drohnenprojekt (Marius Pletsch) sowie die Bestrebungen zur Aufstellung eines EU-Rüstungsforschungs- und eines EU-Beschaffungshaushalts (Jürgen Wagner) vorgestellt.

Am Sonntag wurde der Blick stärker nach innen gerichtet, als zunächst Jacqueline Andres über die »EU-Migrationsbekämpfung« referierte. Diese spiegele sich inzwischen nicht nur in der Abschottung der Außengrenzen wider (Stichwort Frontex), sondern auch in der Vorverlagerung der Grenzen (u.a. durch diverse EU-Grenzschutzmissionen in Afrika), was es immer gefährlicher mache, in die EU zu gelangen. Gleichzeitig nähmen gegen die Migrant*innen, die sich in der EU befänden, die Repressionen immer weiter zu.

Gerade diese »Innenräume der Militarisierung« nahm das nächste Panel intensiv in den Blick. Martin Kirsch ging auf die Militarisierung der EU-Polizeien mit Fokus auf die Entwicklung in Deutschland ein. Danach sprach Thomas Gruber über die Positionierung der Europäischen Union im Cyberraum. Der dritte Beitrag von Christopher Schwitanski behandelte die Haltung und Arbeitsweise der EU zur »Strategischen Kommunikation« (StratCom), die sich wohl passender als »Propaganda« bezeichnen lasse.

Zum Abschluss des Kongresses sprachen Malte Lühmann und Tobias Pflüger unter dem Titel »Reform? Neugründung? Widerstand? Linke Europakonzeptionen und Ansatzpunkte für konkretes Handeln« über die in den letzten Jahren deutlich lebhafter gewordenen linken Debatten zum Thema EU und Europa. Dafür wurden zunächst die derzeit wohl wichtigsten linken europapolitischen Alternativkonzepte vorgestellt (Europa neu begründen, Plan B, DiEM25, Blockupy, Europa der Alltagskämpfe). Unabhängig davon, wie positiv jedes dieser einzelnen Konzepte bewertet würde, sei besonders auffällig, dass bisher alle Entwürfe daran krankten, antimilitaristische Fragen komplett auszublenden, was eine große Schwäche der aktuellen Debatte darstelle.

Jürgen Wagner

Friedensmanifest

Friedensmanifest

Schutz der Menschenrechte durch Prävention

Trägerkreis Internationale Münchner Friedenskonferenz

Das nachfolgende Manifest ist entstanden aus dem Kontext der Internationalen Münchner Friedenskonferenz – seit Jahren ein Ort zur Diskussion friedenspolitischer Perspektiven und Handlungskonzepte. Das Manifest greift politische, zivile und gewaltfreie Konzepte zur Konfliktbearbeitung und zum Schutz der Menschenrechte auf. Es bündelt Vorschläge und Konzepte aus der Friedensbewegung und diversen Organisationen. Das Manifest wurde 2016 bei einem Expertenhearing im Rahmen der Münchner Friedenskonferenz vorgestellt und diskutiert; dort vorgetragene Anregungen und Einwände wurden in der hier abgedruckten Fassung berücksichtigt.
W&F dokumentiert mit dem Abdruck des Manifestes exemplarisch, welche Themen und Handlungsvorschlage in der deutschen Friedensbewegung momentan diskutiert werden.

Menschen und Menschenrechte schützen und Konflikte zivil bearbeiten: Ja! Krieg: Nein!

Wir – die Personen und Gruppen, die das Papier unterstützen – akzeptieren die Verantwortung der Staaten wie der Zivilgesellschaft für den Schutz der Menschen vor Verbrechen wie Völkermord, Vertreibung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Krieg ist jedoch kein Mittel, um Konflikte zu lösen oder Menschenrechte zu schützen.

Die Militärinterventionen der letzten Jahrzehnte sind gescheitert, gemessen an den vorgegebenen Zielen wie Durchsetzung der Menschenrechte, Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie haben die internationalen Beziehungen verschlechtert, Konflikte geschürt und den Extremismus gefördert. Flächenbrände sind dadurch entstanden und stürzen die betroffenen Regionen ins Elend. Millionen von Menschen verlieren Heimat und Existenzgrundlage.

Gebraucht wird ein grundsätzlich neuer Ansatz für die Verhinderung von Kriegen und den Schutz der Menschenrechte, der durch Regierungen, Zivilgesellschaft und internationale Einrichtungen unterstützt wird.

Ein tiefgründiges Umdenken ist notwendig: Weg von »Krieg als Mittel der Politik für eine Minderheit«, hin zum »Frieden als Lebensgrundlage für alle«. Sicherheit und Frieden wird nur erreicht, wenn die Verwirklichung der Menschenrechte und eine nachhaltige Entwicklung für Menschen und Umwelt angestrebt werden.

Die Antwort auf die Spirale der Gewalt ist die Vision der Entmilitarisierung der Politik und der allgemeinen und vollständigen Abrüstung.

Die folgenden Themen benennen relevante Politikbereiche:

Stärkung der UNO und der OSZE

Die Sicherheits- und Militärpolitik Deutschlands und der EU muss die Charta der UN in vollem Umfang respektieren. Das Friedensgebot des deutschen Grundgesetzes muss politische Leitlinie sein.

UNO und OSZE sind grundlegende Foren für zivile Konfliktbearbeitung zwischen den Staaten und sollten als solche umfassend akzeptiert und genutzt werden. Militäraktionen ohne Mandat des Sicherheitsrates stehen dazu im krassen Widerspruch!

Internationale Sicherheit ist im Geiste der UN-Charta nur als gemeinsame Sicherheit denkbar. Der Versuch, durch Aufrüstung eine Machtposition der Überlegenheit zu erreichen, ist das Grund­übel, das die Rüstungsspirale antreibt.

Gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung gehören zusammen. Durch die Aufkündigung des ABM-Vertrages 2001 (Begrenzung der Zahl der Abwehrraketen) durch die USA wurde die Ära der Rüstungskontrolle faktisch beendet. Die Gefahr eines Atomkrieges ist wieder gewachsen. Ein neuer Rüstungswettlauf durch quantitative und qualitative Aufrüstung bei Angriffsraketen und Abwehrsystemen droht.

Die Atommächte müssen ihre im Atomwaffensperrvertrag festgelegte Verpflichtung zur Abrüstung umsetzen und ein Moratorium bei der Aufstellung von ABM Systemen vereinbaren. Global Zero – die Perspektive einer Welt ohne Atomwaffen – gehört in der NATO, in der EU und in der UNO wieder auf die Tagesordnung.

Der KSE-Prozess (konventionelle Stabilität in Europa) hatte das Ziel, zu einer deutlichen Reduzierung der Streitkräfte in Europa zu kommen. Das ist heute wieder hochaktuell.

Es sind verbindliche Normen und Regelwerke zur Verhinderung von Cyberkriegen zu entwerfen.

Instrumente für Prävention, Krisenmanagement und Schutz der Menschenrechte sind in den Strukturen der OSZE angelegt, werden aber nur unzureichend genutzt. Neue Instrumente der Früherkennung und der Bewältigung von Krisen sind zu fördern und auszubauen.

Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen ist ein wichtiges internationales Dokument für kohärentes und präventives Handeln für soziale, ökologische, nachhaltige und friedliche Wege der Entwicklung. Notwendig ist die Umsetzung der Agenda in Regierungshandeln mit verbindlichen und für die Partizipation der Zivilgesellschaft transparenten Strukturen. Für die erforderliche finanzielle Ausstattung und die Koordination muss durch die öffentliche Hand gesorgt werden.

Präventive Politik und Diplomatie

Nur wenn in der Politik der Gedanke der präventiven zivilen Bearbeitung von Konflikten Vorrang erhält vor ökonomischen und machtpolitischen Interessen, wachsen die Chancen für den Schutz der Menschen und ihrer Rechte.

In der deutschen Politik müsste dafür ein friedenspolitisches Denken Platz greifen, das ressortübergreifend in der Krisenprävention ein wichtiges Werkzeug für den Schutz der Menschenrechte sieht.

Konflikte können frühzeitig erkannt und bearbeitet werden. Dafür notwendig ist die Erforschung von Ursachen für Kriege und Konflikte, außerdem Forschung und Fortbildung, um ganzheitliche Konzepte der Frühwarnung zu entwickeln und zu institutionalisieren. So können auch neue Konzepte für präventive Strategien erarbeitet, politisch diskutiert und umgesetzt werden.

Einzelstaatliche Instrumente für die Unterstützung von Verhandlungslösungen gilt es auszubauen, politisch aufzuwerten und finanziell angemessen auszustatten.

Dabei müssen Frauen in Friedensverhandlungen und Planungen für den Wiederaufbau gleichberechtigt beteiligt werden, wie es die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates fordert.

Präventive Wirtschaftspolitik

In der herkömmlichen Politik wird das Konzept der »Schutzverantwortung« meist in Bezug auf »gescheiterte Staaten« diskutiert, die nicht mehr in der Lage seien, ihre Bevölkerung vor Verbrechen zu schützen. Das Scheitern von Staaten ist aber nicht nur durch unbewältigte innere Konflikte bedingt, sondern auch durch die strukturelle Gewalt einer globalisierten Ökonomie. Danach müssen sich die »Entwicklungsländer« den Interessen der transnationalen Konzerne und des reichen Nordens unterordnen.

Exemplarisch sei hier die Politik der EU für die Subventionierung von Agrar­exporten genannt. Billige Agrarexporte nach Afrika und andere Länder des Südens zerstören die Existenzgrundlage der Menschen in der örtlichen Landwirtschaft.

Geschäftspraktiken multinationaler Agrarunternehmen, wie etwa Landkauf und Monopolisierung von Saatgut, gefährden die Ernährungssouveränität der Entwicklungsländer.

Die so genannten Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TISA dienen vor allem den mächtigen Wirtschafts­unternehmen der Industrienationen und werden die Armut in der Welt vertiefen und damit das Risiko für Massenflucht auf ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erhöhen.

Stattdessen sollte die Förderung und Entwicklung regionaler Versorgungssysteme Vorrang haben. Dafür müssen ethisch akzeptable Regelwerke für den Welthandel unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeitet werden. Entsprechend muss die Außenwirtschaftspolitik für mehr Gerechtigkeit in den Wirtschaftsbeziehungen neu konzipiert und in den Zusammenhang mit Kriegsverhütung und Schutz der Menschenrechte gestellt werden.

Deutsche Außenwirtschaftspolitik und Entwicklungszusammenarbeit muss auf die Entwicklung nachhaltiger und eigenständiger industrieller Strukturen der »Entwicklungsländer« abzielen. Das bedeutet die Bewertung der Praktiken der transnationalen Konzerne unter friedenspolitischen Gesichtspunkten und die Begrenzung ihrer Macht durch einzelstaatliche Gesetze und internationale Vereinbarungen.

Statt der Orientierung auf militärisch unterstützten Zugriff auf begrenzte Rohstoffe ist eine Umsteuerung hin zu einer nachhaltigen und fairen Wirtschaftsweise erforderlich.

Der Finanzsektor muss einfache Finanzdienstleistungen für alle bereitstellen, die zur Entwicklung von gerechten und nachhaltigen Gesellschaften beitragen. Finanzdienste sollen grundsätzlich die reale Wirtschaft unterstützen und gemeinwohlorientiert sein. Die Aktivitäten des international tätigen Finanzkapitals müssen durch ein internationales Forum reguliert und beaufsichtigt werden. Ein wichtiger Schritt ist die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

Rüstungsexporte stoppen – Waffenhandel verhindern

Auch deutsche Rüstungsexporte tragen zur Militarisierung von Konflikten bei. Militärisch ausgetragene Territorial-, Verteilungs- und Machtkonflikte zerstören wirtschaftliche, staatliche und soziale Strukturen. Kriege verschlingen ungeheure Mittel, kosten unzähligen Menschen das Leben und führen zu Verarmung und neuen Konflikten. Produktion und Anschaffung von Waffen entzieht den Haushalten Unsummen, die für notwendige Aufgaben fehlen.

Schutzverantwortung durch Prävention bedeutet: Keine weiteren Rüstungsexporte genehmigen, keine Bürgschaften für den Export von Rüstungsgütern bewilligen, ausgemusterte Waffen der Bundeswehr nicht verkaufen, sondern verschrotten. In den Artikel 26, Absatz 2 des Grundgesetzes soll ein grundsätzliches Verbot von Rüstungsexporten aufgenommen werden, das fordert die breit getragene Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel«.

Darüber hinaus sollte Deutschland in der EU und in den internationalen Organisationen Initiativen ergreifen und unterstützen, die auf Eindämmung und Verhinderung des internationalen legalen wie illegalen Handels mit Waffen und Rüstungsgütern zielen, z. B. in der UN-Konferenz zur Begrenzung des Waffenhandels.

Zivile und gewaltfreie Handlungsmöglichkeiten unterstützen und entwickeln

Notwendig ist die Entwicklung und gesellschaftliche Verankerung einer Kultur des Friedens. Dazu bedarf es vor allem der Einübung von individuellem Gewaltverzicht, von Dialog- und Kommunikationsverhalten sowie gewaltfreier Methoden des Zivilen Ungehorsams.

Konzepte für zivile Konfliktbearbeitung im gesellschaftlichen und innerstaatlichen Bereich sind vorhanden, viele Erfahrungen wurden gesammelt. Es ist notwendig, neue und zivile Wege zum Schutz von Zivilbevölkerung und ihrer Menschenrechte zu erproben.

Dazu gehört auch das zivile Peace­keeping, das in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich umgesetzt wurde. Gruppen von ausgebildeten gewaltfreien Friedensfachkräften können in Konflikten unbewaffnet und unabhängig von Regierungsinteressen auftreten, beobachten, vermitteln und Konflikte entschärfen. Sie können sowohl zur Frühwarnung vor Krisen als auch zur Überwachung von Vereinbarungen beitragen. Frühwarnsysteme (»Monitoring«) können z.B. über das Konfliktverhütungszen­trum der OSZE in Wien vernetzt werden.

Ziviles Peacekeeping bietet sich auch als ergänzendes Instrument für die Vereinten Nationen an. Dafür müssen Konzepte erarbeitet und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

Internationale Organisationen, wie die Nonviolent Peace Force oder Peace Brigades International, brauchen mehr Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, so dass sie unabhängig von staatlichen und ökonomischen Interessen agieren können. Sie können auf gesellschaftlicher Ebene eingreifen, wo Staaten und zwischenstaatliche Einrichtungen keine Legitimation (Souveränitätsprinzip), keine Glaubwürdigkeit und keine Instrumente haben.

Der Zivile Friedensdienst (ZFD) fordert von der Bundesregierung eine deutliche Aufstockung der Finanzmittel für den Haushaltstitel »Ziviler Friedensdienst«.

Je mehr Menschen sich für gewaltfreie Konfliktbearbeitung qualifizieren, umso besser können demokratische Prozesse und friedliche Konflikttransformation unterstützt werden.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Einführung eines Zivilsteuergesetzes: Kein Steuer-Zwang zur Mitfinanzierung der Militärausgaben.

Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen

Derzeit kann auch ein umfassendes und politisch umgesetztes Konzept der Schutzverantwortung nicht ausschließen, dass es zu bewaffneten Konflikten kommt, in welchen Völkermord oder gravierende Verbrechen drohen oder stattfinden. Es sind Situationen denkbar, in welchen politische und zivile Mittel versagt haben oder nicht mehr zur Anwendung kommen, staatliche Strukturen nicht vorhanden sind und kriminelle Vereinigungen oder Regierungen Verbrechen gegen die Bevölkerung begehen.

Ein Konzept für neutrale, am Völkerrecht und an Polizeiaufgaben orientierte Sicherheitskräfte unter Kommando der UNO sollte ausgearbeitet werden. Diese Sicherheitskräfte sollen in Fällen von bevorstehendem Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ausschließlich – zum Schutz der unmittelbar betroffenen Menschen eingesetzt werden. Die Konstruktion eines solchen Polizeikonzeptes muss ausschließen, dass nationale Verbände für nationale oder imperiale Ziele sowie für Kriegshandlungen eingesetzt werden: durch ein neutrales Kommando, durch den Einsatz ausschließlich auf Beschluss des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung der UN, durch multinationale Zusammensetzung der Verbände, durch verbindliche Orientierung auf Völker- und Menschenrecht, durch entsprechende Ausbildung, Logistik und Bewaffnung und durch entsprechende Definition von Einsatzkriterien und Richtlinien.

Die Sicherheitskräfte können mit einem konkreten Auftrag in konkreten Krisen- oder Gefährdungslagen eingreifen. Sie haben keine weiteren Polizeiaufgaben zu übernehmen. Sie sind defensiv ausgerichtet, leicht bewaffnet und am Schutz gefährdeter Menschen orientiert und sollen, entsprechend den Polizeiaufgaben, Verbrechen verhindern. Für ihr Handeln gelten allgemeine zivile Rechtsnormen, keine Kriegs- oder Sonderrechte.

Die Erfahrungen von neutralen Staaten wie Österreich oder Schweden mit Blauhelmeinsätzen können hier ausgewertet und einbezogen werden. Eine Umschulung von Bundeswehr-Soldat*innen für diese Aufgaben soll gefördert werden.

Die Erarbeitung eines solchen Polizeikonzeptes ist eine Herausforderung für Zivilgesellschaft und Parteien; auch die Friedensbewegung sollte hier kritisch-konstruktiv mitwirken. Das Konzept soll Einsätzen von NATO und nationalen Armeen die Legitimation zu Interventionen entziehen und die Bedenken vieler Menschen aufgreifen, die in manchen Situationen einen bewaffneten Schutz von Menschenleben für erforderlich halten.

Eine derartige Einrichtung sollte den Status einer sich entwickelnden Übergangslösung haben. Entmilitarisierung und Abrüstung, die Entwicklung der zivilen Instrumente und die Umsetzung der präventiven Maßnahmen sollen den Einsatz dieser (bewaffneten) Sicherheitskräfte überflüssig machen!

Dieser Text spiegelt den Diskussionsstand vom 10. Januar 2017 wider. Es ist geplant, eine Unterstützerliste zusammenzustellen, um sie dem Manifest anzufügen. ­Kontakt über office@friedenskonferenz.info.

Ramstein-Proteste und Whistleblower


Ramstein-Proteste und Whistleblower

Aktionstage der Kampagne »Stopp Ramstein«, Ramstein, 9.-12. Juni 2016

von Reiner Braun

Die US-Airbase Ramstein ist die größte US-Militärbasis auf deutschem Boden. Hier laufen die Informationen über die Interventionskriegseinsätze der US-Armee weltweit zusammen. Hier befindet sich die Einsatzzentrale für in Europa stationierte Atomwaffen. Ramstein ist das größte Munitions- und Logistiklager außerhalb der USA. Das alles ist nicht neu. Doch erst als Whistleblower ihre Informationen an die Öffentlichkeit brachten, wurde bekannt, dass über Ramstein auch Drohnen gesteuert werden, die weltweit gezielt und völkerrechtswidrig »Terroristen«, ­häufig aber auch Zivilisten töten.

Die Rolle von Ramstein als Spionage- und Überwachungszentrum des militärischen US-Geheimdienstes NSA sowie bei Drohneneinsätzen wurde durch die Whistleblower Edgar Snowden und Brandon Bryant aufgedeckt. Nachdem durch Snowdens Enthüllungen Journalisten auf das Drohnenprogramm der USA aufmerksam geworden waren, entschloss sich auch Brandon Bryant, zu reden. Er beschrieb seine Rolle als Drohnen»pilot« bei Einsätzen im Irak und gab den Medien und der Öffentlichkeit damit Einblick in das US-Drohnenprogramm. 1.626 gezielte Tötungen führte seine Einheit insgesamt aus, ist auf seiner Entlassungsurkunde vermerkt. Er offenbarte, dass die Steuerbefehle der Drohnenpiloten aus den USA über ein blitzschnelles Glasfasernetz an die Relaisstation in Ramstein und von dort an die Drohne weitergeleitet werden; umgekehrt werden Bilder der Drohnenkameras in Ramstein ausgewertet, mit weiteren Informationen verknüpft und in die USA gesendet. Vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sagte Brandon Bryant im Oktober 2015 außerdem aus, dass deutsche Geheimdienste die Handynummern mutmaßlicher Terroristen an die USA weitergeben, die diese zur Ortung und zu gezielten Tötungen nutzen.

Das Wissen um die entscheidende Rolle von Ramstein für den weltweiten Drohnenkrieg verdanken wir also den Whistleblowern; von ihnen erfuhren die Öffentlichkeit und die Politik, wie das völkerrechtswidrige Töten von deutschem Boden aus funktioniert. Dafür wurden Edward Snowden (2013) und Brandon Bryant (2015) mit dem Whistleblowerpreis der Vereinigung Demokratischer Wissenschaftler (VDW) und der Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA) ausgezeichnet.1

Für die Friedensbewegung waren diese Enthüllungen Grundlage der Kampagne gegen die Drohnen, und durch die Enthüllungen wurde auch die Kampagne »Stopp Ramstein« inhaltlich mit geprägt. Die bekannt gewordenen Fakten stärken die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz und somit auch die Mobilisierungsfähigkeit, durch die sich die Kampagne »Stopp Ramstein« auszeichnet. Inzwischen gibt es bundesweit schon etwa ein Dutzend regionale »Stopp Ramstein«-Initiativen.

Nach einer ersten Demonstration vor der US-Airbase in Ramstein im September 2015 kam es von 9. bis 12. Juni 2016 rings um Ramstein zu den bislang größten Protestaktionen gegen Drohneneinsätze in Deutschland. Es waren zugleich die größten Aktionen zur Aufklärung und Informationsvermittlung in der Geschichte des jahrzehntelangen Protestes gegen die Militärbasis der USA in Ramstein. Etwa 5.000 Menschen bildeten am Samstag trotz strömenden Regens eine (fast) geschlossene Menschenkette durch die Ortschaften um die Airbase und beteiligten sich an der abschließenden Kundgebung vor dem Tor des Luftwaffenstützpunktes. Erstmals nahmen internationale Gäste aus einer ganzen Reihe von Ländern an den Aktionen teil.

Bereits am Tag vor der Menschenkette waren sämtliche inhaltlichen Veranstaltungen überfüllt; u.a. besuchten mehr als 600 Menschen die öffentliche Abendveranstaltung in der Versöhnungskirche Kaiserslautern mit Willy Wimmer und Albrecht Müller. Zusätzlich beteiligten sich über die gesamten Tage mehr als 500 TeilnehmerInnen an vielfältigen Diskussionen im Friedenscamp. Das Friedenscamp, am Ende trotz anhaltenden Regens völlig überfüllt, war vielleicht der Höhepunkt des gesamten Wochenendes. Die Wiese des Camps stellte ein örtlicher Landwirt kostenfrei zur Verfügung; ebenso wurde Infrastruktur durch Anwohner bereitgestellt. Dies wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen und unterstreicht die Veränderung des Klimas vor Ort. Zusätzlich wurden 10.000 Flugblätter und weiteres Informationsmaterial an die örtliche Bevölkerung verteilt.

Alle Rednerinnen und Redner unterstrichen die zentralen politischen Anliegen der Demonstrierenden: als ersten Schritt die nachrichtendienstliche Relaisstation, längerfristig auch die Airbase insgesamt zu schließen und das Truppenstationierungsabkommen zu kündigen. Die Demonstrierenden bekundeten auch ihre Solidarität mit den Flüchtlingen, die sich aufgrund der Kriege der USA und der NATO zu uns auf den Weg machen müssen.

Das Resümee der vielfältigen Aktivitäten an diesem Wochenende: Durch die Veranstaltungen im Vorfeld und das Aktionswochenende hat sich die Stimmung in der Region zugunsten von Frieden verändert. Die Aktionen waren jung, zugleich beteiligten sich viele langjährige AktivistInnen. Der Mix unterschiedlichster Aktionsformen – von Saalveranstaltungen bis zu der Menschenkette und dem Friedenscamp – wurde gut angenommen und ermöglichte die breite Einbeziehung von Aktiven, Engagierten und regionaler Bevölkerung.

Völlig neu und in dieser positiven Dimension unerwartet war die breite und vielfältige Medienresonanz. Reuters produzierte einen Video-Clip, der auch auf BILD.de und stern online gezeigt wurde. dpa und epd informierten umfassend; berichtet wurde von der Deutschen Welle und mehreren Fernsehsendern bis zur örtlichen Monopolzeitung Rheinpfalz und der US-Zeitung der Region, »stars and stripes«. Undenkbar wären die Veranstaltungen und ihre intensive Vorbereitung ohne die Unterstützung der neuen alternativen Medien gewesen. Diese enge Zusammenarbeit ist ein Unterpfand für künftige erfolgreiche Aktionen der Friedensbewegung; sie sollte ausgebaut und erweitert werden.

Die Aktionen der Kampagne »Stopp Ramstein« wurden in der Vorbereitung kontrovers, manchmal hämisch, einige Male auch verleumderisch diskutiert. Das Wochenende hat aber eindrucksvoll und überzeugend die Friedensbewegung in ihrer ganzen Breite und Vielfalt auf die Beine gebracht.

Eines fällt dabei auf: Die Friedensforschung fehlte in Ramstein und ist bisher kein Bestandteil der Kampagne »Stopp Ramstein«; das ist bedauerlich. Lediglich der von der Kampagne eingerichtete »Runde Tisch Konversion« zeigte erste Berührungspunkte zur Wissenschaft. Anforderungen an die Friedensforschung gäbe es in diesem Bereich genug, Konversion wäre eine.

„Wir werden wiederkommen“, war der einheitliche Tenor der von inhaltlichen Beiträgen und Kultur geprägten Abschlusskundgebung nach der Menschenkette. Um die Rolle Ramsteins bei den Drohneneinsätzen zu beenden, bedarf es einer langen Auseinandersetzung. Hier bieten sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Bewegung und der ­Etablierung von »Bürgerwissenschaft«.

Weitere Informationen sind auf ­ramstein-kampagne.eu zu finden.

Anmerkungen

1) Dieter Deiseroth und Hartmut Graßl (Hrsg.) (2006): Whistleblower-Enthüllungen. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.

Reiner Braun, Geschäftsführer der IALANA

Städte als Friedensbotschafter

Städte als Friedensbotschafter

Die International Association of Peace Messenger Cities

von Alfred Marder

In der Regel wird die Kompetenz und Zuständigkeit für das Thema Krieg und Frieden auf der Ebene der Staaten bzw. Regierungen verortet. Das Leben der Menschen spielt sich aber vor Ort ab, in Dörfern und Städten. Dort erleben sie Gewalt, Krieg und Zerstörung oder aber Sicherheit und Frieden. Außerdem sind die Kommunen für den praktischen Schutz ihrer Bürgerschaft zuständig, haben also ein eigenes Interesse an friedlichen Zuständen, denn schützen können sie die Menschen kaum, wenn die Städte zu Zielen werden. Der Autor berichtet von einem Zusammenschluss von Städten, die sich gemeinsam die Förderung des Friedens und der Vereinten Nationen zum Ziel gesetzt haben.

Im Vorfeld des Internationalen Jahres des Friedens ernannte 1985 die Generalversammlung der Vereinten Nationen 62 Städte aus der ganzen Welt zu »Peace Messenger Cities«, zu Friedensbotschaftern. Die Auswahl erfolgte anhand von Aktivitäten, mit denen die jeweilige Stadtverwaltung ihre Bürgerschaft für den Weltfrieden und die Unterstützung der Vereinten Nationen mobilisierte. Beispielsweise die Stadt in der ich lebe, New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. New Haven beging schon damals jedes Jahr am 24. Oktober den Tag der Vereinten Nationen und organisierte an den Schulen Veranstaltungen zur Förderung des Friedens und der Vereinten Nationen. An diesem Tag gestalteten die Kinder Transparente und Plakate mit ihren eigenen Ideen und marschierten damit um das Stadtzentrum zum Stadtpark. Dort gab es Rede- und Musikbeiträge, und immer war ein Vertreter der Vereinten Nationen dabei.

Der damalige Bürgermeister der französischen Stadt Verdun lud 1988 zusammen mit dem damaligen UN-Generalsekretär Perez de Cuellar alle Friedensbotschafterstädte nach Verdun ein, wo ihnen der Generalsekretär Urkunden und Medaillen überreichte. Außerdem schlug er den Städten vor, sich in einer Organisation zusammenzuschließen, die den speziellen Bedürfnissen von Städten eine Stimme verleihen und Advokatin für den Frieden sein könnte. De Cuellar betonte, dass die Vereinten Nationen nicht nur von den nationalen Regierungen, sondern auch von den Stadtspitzen hören müssten, da diese den Menschen am nächsten seien, ihre Bedürfnisse besser kennen würden und somit ihre Anforderungen und Anliegen am besten transportieren könnten.

Atomwaffen, moderne Kriegsführung und die Städte

Im folgenden Jahr wurden die Städte nach Warschau eingeladen, um in Polen den 45. Jahrestag des Sieges über den Faschismus zu begehen. 1990 richtete dann New Haven eine Generalversammlung der Friedensbotschafterstädte aus, und dabei kamen die Vorbereitungen zur Gründung der International Association of Peace Messenger Cities (IAPMC, Internationale Vereinigung der Friedensbotschafterstädte) zum Abschluss. Die Diskussion kreiste vor allem um die Ziele der neuen Organisation. Ohne große Debatte wurde die vollständige Abschaffung von Atomwaffen als Schlüsselthema festgelegt, das alle Städte verbindet. Die Erfahrungen der Städte Hiroshima und Nagasaki unterstrichen die Relevanz dieser Entscheidung. Die Bedrohung der Städte durch die moderne Kriegsführung landete auf der Agenda ebenfalls ganz oben.

Zu dieser Zeit dominierte das allmähliche Abflauen des Kalten Krieges die globale Politik. Vorher waren die Militärausgaben in die Höhe geschnellt, die Finanzmittel zur Deckung der Grundbedürfnisse der städtischen Bevölkerung hingegen ständig gesunken. Jetzt war die »Friedensdividende« in aller Munde. Bei der Generalversammlung der IAPMC waren sich alle einig, dass die städtischen Spitzen darauf drängen sollten, einen Teil dieser Dividende in die Städte zu lenken. Ein wichtiger Punkt für die Mitgliedstädte war natürlich auch die Unterstützung für die UN-Charta.

Daraus ergaben sich weitere Fragen, die in der IAPMC seither immer wieder neu diskutiert werden: Wie kann man die Ziele der Organisation den Menschen in den Städten näher bringen? Wie macht man den BürgerInnen bewusst, dass die Städte keine Inseln sind, sondern dass sich Krieg und Frieden dort unmittelbar auswirken?

Bei der Generalversammlung 1992 in Genf trat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes an die IAPMC heran und bat um Beteiligung an der weltweiten Landminenkampagne. Das stieß sofort auf Zustimmung, und die IAPMC beteiligte sich am Organisationskomitee der Kampagne, entsandte eine Delegation nach Kambodscha und ermutigte die Mitgliederstädte, ihre Bürgerschaft über diese Aktivitäten zu informieren. Der so genannte Ottawa-Prozess mündete Ende der 1990er Jahre im Vertrag zum Verbot von Antipersonenminen. Auch wenn dem Vertrag noch nicht alle Staaten beigetreten sind, markiert dieses völkerrechtliche Verbot der Herstellung und des Einsatzes von Landminen eine wichtige Etappe mit hoher moralischer Relevanz.

Die Führung der IAPMC nahm außerdem Kontakt zu den Mayors for Peace, den Bürgermeistern für den Frieden, auf. Dieser Städtezusammenschluss, der in den frühen 1980er Jahren von den Bürgermeistern von Hiroshima und Nagasaki initiiert worden war, konzentriert sich thematisch ganz auf die Abschaffung von Atomwaffen. Die IAPMC wurde von den Mayors for Peace nicht nur zu ihren Generalversammlungen eingeladen, sondern auch zu den Vorstandsdiskussionen über ihre globale Kampagne. Auch zu Abolition 2000, einem globalen Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Abschaffung von Atomwaffen, unterhält IAPMC Kontakte und beteiligt sich an Konferenzen und Demonstrationen am Rande von UN-Tagungen und -Sitzungsperioden.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der politischen Strukturen der sozialistischen Länder in Osteuropa in den frühen 1990er Jahren stürzte die IAPMC in eine Krise: Viele Friedensbotschafterstädte kamen aus dieser Region und bezogen sich bei ihren Aktivitäten auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Kampf gegen den Faschismus und seine Folgen. Der radikale Umbruch in diesen Ländern wirkte sich direkt auf die Städte aus. Zusätzlich führten die Jugoslawienkriege innerhalb der IAPMC zu Zerwürfnissen. Dennoch gelang es der polnischen Delegation unter Beteiligung vieler IAPMC-Mitgliedstädte, etliche Kommunen in Jugoslawien mit humanitärer Hilfe zu beliefern. Direkt nach den Bombardements der NATO hielt der Vorstand der IAPMC ein Treffen in Kursevac ab, um den Menschen vor Ort seine Solidarität zu demonstrieren.

Bei der internationalen Friedenskonferenz in Den Haag 1999 organisierte die IAPMC einen Workshop, in dem sie andere internationale Städtevereinigungen zusammenbrachte, darunter zum ersten Mal auch »Local Authorities«, den größten globalen Städteverbund. Dabei einigten sich die anwesenden Vertreter darauf, gemeinsam die Kampagnen zur vollständigen Abschaffung von Atomwaffen sowie zur Senkung der nationalen Militärhaushalte bzw. zur Abschöpfung einer Friedensdividende zu intensivieren.

Innerhalb der Vereinten Nationen wirbt die IAPMC um die Schaffung einer eigenen Kategorie für Städte. Die Zivilgesellschaft ist bei den Vereinten Nationen in Form von Nichtregierungsorganisationen aktiv. Die Städte hingegen werden der Regierungsebene zugerechnet, dabei haben sie ganz andere Bedürfnisse als ihre Staatsführung. Sie sind nahe an den Menschen und können im Kampf für Frieden, nachhaltige Entwicklung, Weltgesundheit und bei den zahllosen weiteren in den Vereinten Nationen abgehandelten Themen eine wichtige organisatorische Rolle spielen. Bei den Vereinten Nationen stieß dieses Ansinnen zunächst auf Wohlwollen, das löste sich auf Betreiben der westlichen Staaten aber bald in Luft auf.

Die ursprünglichen 62 Friedensbotschafterstädte waren von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ausgesucht und benannt worden. Um weitere Städte einbinden zu können, führte die IAPMC Verhandlungen mit den Vereinten Nationen, die einer Ausweitung der Mitgliedschaft zustimmte. Seither hat sich die Zahl der Mitgliedstädte etwa verdoppelt.

Die IAPMC ist auch Mitglied des UN-Komitees für den Internationalen Friedenstag, den 21. September. Die Friedensbotschafterstädte initiierten ein Programm, das per Livestream Schulkinder in Städten der ganzen Welt zusammenbringt. In ihren Aufführungen präsentieren die Kinder ihren Wunsch nach Frieden und tauschen in vielen Sprachen Grüße aus. Diese Art der Zusammenarbeit kostet die Schulen praktisch nichts, da sie ohnehin über die nötige Technik verfügen. Die IAPMC will das Programm ausweiten und lädt weitere Städte zur Teilnahme ein.

Allerdings ist die Organisation auch ständig mit strukturellen Problemen konfrontiert. In den meisten Städten wird die Führungsspitze regelmäßig in Wahlen bestimmt, die je nach Stadt alle zwei, drei oder vier Jahre stattfinden. Nach einem Wechsel der Führungsspitze ändert sich oft die Politik und damit auch die Beteiligung an der IAPMC. Auch ein Wechsel in der Staatsregierung wirkt sich häufig auf die lokale Ebene aus.

Krieg und Frieden ein Thema für Kommunen

Krieg und Frieden, der Militärhaushalt und damit zusammenhängende Fragen betreffen die Städte zwar direkt, das Mandat zur Bearbeitung dieser Themen wird ihnen aber nicht wirklich zugestanden. Dabei können die Stadtspitzen, also die Bürgermeister und Stadtparlamente, wesentlichen Einfluss auf Fragen von Krieg und Frieden nehmen. In manchen Ländern sind die Bürgermeister national einflussreiche Persönlichkeiten.

Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Städte und die Menschen in den Städten sind die Ziele der modernen Kriegsführung mit all ihren Schrecken. Wenn Krieg herrscht, können Städte ihren Dienst an den Bürgern nicht mehr erbringen – und sie können ihre Bürger nicht schützen. Krieg und Frieden sind daher auch Themen für die Kommunen.

Alfred Marder ist Ehrenpräsident der International Association of Peace Messenger Cities und lebt in New Haven, Connecticut/USA. Mehr Informationen zur IAPMC gibt es unter iapmc.org.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.

Zivile Aggression

Zivile Aggression

Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung

von Velten Schäfer

Die deutsche Ukrainepolitik seit 2011 lässt sich in drei Phasen einteilen: die Förderung der Opposition bis zur Legitimierung der Platzbesetzer in der heißen Phase des Umsturzes, dann eine kurze Phase des diplomatischen Versagens, in der die Bundesregierung nichts für einen friedlichen Übergang von der alten zur neuen Regierung tat, und schließlich eine dritte Phase, die bis heute anhält, in der die Bundesregierung versucht, die allzu zerstörerischen Dynamiken des von ihr selbst angefachten Konflikts zu bremsen. Die Friedensbewegung muss sich damit auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert, zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen kann.

Im Verlauf des Jahres 2014 bekam man Angst beim Verfolgen der Nachrichten. Könnte es misslingen, den Ukraine-Konflikt einzuhegen? Erinnerte nicht schon dessen Herd auf der Krim an das »Great Game« des 19. Jahrhunderts? Zugleich traten reihenweise Politiker/innen auf, um »mehr Verantwortung« für Deutschland zu fordern. Ganz neu war dies ebenso wenig wie der entsprechende rhetorische Mix aus geopolitischem Determinismus – ein Land von der Größe, Kraft und Lage Deutschlands könne gar nicht anders, als eine »aktivere Rolle« einzunehmen – und der Anrufung einer »Werte«-Mission. Es fiel aber auf, dass »Verantwortung« von Regierungskreisen, mächtigen Multiplikatoren und selbst Teilen der Opposition immer expliziter auch als kriegerische Gewalt buchstabiert wurde.

So bestand das zurückhaltendste Postulat in Bundespräsident Joachim Gaucks viel zitierter Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 in dem Halbsatz, zum „äußersten Fall“ dürfe „weder aus Prinzip ‚nein' noch reflexhaft ‚ja'“ gesagt werden. Wagner (2015) weist darauf hin, dass diese Rede keine persönliche Meinung darstellte, sondern „bis hin zu wortgleichen Formulierungen“ auf das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt »Neue Macht, neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie des German Marshall Fund zurückgeht, an dem ausgesuchte Mitglieder der politischen, diplomatischen und publizistischen Elite mitgewirkt hatten. Und als etwas später die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung zu einer außenpolitischen Konferenz lud, nannte es deren Vorstand Ralf Fücks eine „Regression“ deutscher Außenpolitik, dass man sich seit dem Kosovokrieg nur noch zögerlich an militärischen Operationen beteilige. Dem offiziellen Tagungsbericht (Arndt 2014) ist zu entnehmen, dass dies allgemein geteilt wurde – wie auch der Aufruf, die Bundesrepublik müsse „ihren gesamten außenpolitischen Werkzeugkasten sehr viel engagierter nutzen“.

Gaucks Vortrag ließ aufhorchen – weit über den Kreis seiner üblichen Gegner/innen hinaus. In der kritischen Politologie ist schon von einem »Gauckismus« die Rede: Pfeifer und Spandler (2014) beschreiben so ein neues „Amalgam aus geopolitischen Prämissen und protestantisch geprägter Moral“; Wagner (2015) sieht in diesem Zusammenhang die Renaissance eines „Militärchauvinismus“ mehr oder minder traditioneller Bauart heraufziehen. Inwiefern aber entspricht dieser neuen Rhetorik wirklich auch eine neue Politik? Was ist eigentlich drin in jenem »außenpolitischen Werkzeugkasten« und wie benutzt Deutschland diese Instrumente? Was kann daraus für eine kritische Öffentlichkeit, für die Friedensbewegung gefolgert werden? Diesen Fragen versucht der folgende Text am Beispiel des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt nachzugehen, das sich im Groben in drei Phasen zu unterteilen lassen scheint.

Öl ins Feuer

Eine erste Phase beginnt Jahre vor dem Winter 2013/2014. Um 2011 leitet Viktor Janukowitsch – 2010 in einer als korrekt eingestuften Wahl Präsident der Ukraine geworden – eine außenpolitische Kursänderung ein. Neben den weiter laufenden Verhandlungen über eine EU-Assoziierung vollzieht der stark von der russischsprachigen Minderheit im Osten des Landes getragene Präsident eine deutliche Annäherung an Moskau; schon kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnet er einen langfristigen Vertrag über die russische Flotte auf der Krim. Was dann geschieht, beschreibt die DAAD-Stipendiatin Iryna Solonenko (2013), die in Frankfurt (Oder) im Umfeld des von der Böll-Stiftung geförderten Promotionskollegs »Externe Demokratieförderung und Zivilgesellschaft im post-sozialistischen Europa« arbeitete, affirmativ-beratend: Die EU setzt auf die (west-) ukrainische Opposition.

Man habe, so Solonenko, um 2011 „eingesehen, dass in Ländern wie der Ukraine für die erfolgreiche Implementierung von Reformen interner Druck und innenpolitische Nachfrage mindestens so wichtig sind wie Anreize und Sanktionen von außen“. In diesem Sinne habe Brüssel ab 2011 im Kontext der „Aufstände in der arabischen Welt“ seine Politik der „Partnerschaft mit der Gesellschaft“ intensiviert und u.a. die „Fazilität für Zivilgesellschaft, die reformorientierte NGOs unterstützen soll“, sowie den »Europäischen Fonds für Demokratie« eingerichtet. Von 2011 bis 2013 habe allein die »Fazilität« 37 Millionen Euro in die »Zivilgesellschaft« der östlichen Nachbarstaaten gepumpt. Ab 2011 hätten „mehr und mehr NGOs ihre Kapazitäten dafür“ eingesetzt, „dass die Ukraine diese wichtige Chance nicht endgültig verpasst“. Es häuften sich die Anzeichen, schreibt Solonenko wenige Monate vor den Maidan-Ereignissen, „dass sich eine Form systematischeren Drucks auf politische Entscheidungsträger entwickelt“.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es greift viel zu kurz, den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme. Dennoch ist die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar, das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen mit einer Bewegung, die sich über Wochen auf einem zentralen Platz verbarrikadierte und schon frühzeitig durch zunehmende Militanz zu der dramatischen Zuspitzung beitrug.

Während diese Politik einer Einbindung der »Zivilgesellschaft« nach dem Lehrbuch jüngerer »Soft Power«-Strategien (Nye 2004, Maaß 2015) ein EU-Projekt war und ist, tat sich Berlin besonders darin hervor, die Platzbesetzer in der heißen Phase zu legitimieren und den Konflikt so weiter anzuheizen. Als sich Anfang Dezember 2013 mit dem damaligen Außenamtschef Guido Westerwelle (FDP) der offizielle außenpolitische Repräsentant jenes Landes dort zeigte, das im Osten Europas als EU-Hauptmacht gilt, war die Entscheidung de facto gefallen. Keine westliche Regierung ging so weit in ihrer Einmischung wie die deutsche. Mehrfach wurde mit dem tatsächlich chancenlosen Ex-Sportstar Vitali Klitschko sogar der kommende Präsident präsentiert. Sollte einmal die Vorgeschichte eines neuen Krimkriegs geschrieben werden müssen, verdient Westerwelle ein Kapital darin.

Diplomatisches Versagen

In der ersten Phase des Konflikts betrieb Berlin also eine ausgesprochen offensive Politik gegen eine korrupte, aber legitime Regierung, die einen unliebsamen außenpolitischen Kurs einschlagen wollte. Die deutsche Politik, die auf einen Regimewechsel zielte, schien aufzugehen und wurde von Westerwelles Amtsnachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) fortgesetzt. Die Ernte sollte im »Kiewer Vertrag« vom Nachmittag des 21. Februar 2014 eingefahren werden.

Das Abkommen zwischen Präsident Viktor Janukowitsch, dem späteren Ministerpräsidenten Arsenij Jazeniuk, der nationalistischen Partei Swoboda sowie Berlins Favoriten Klitschko wurde von Steinmeier, dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski sowie einem hohen Beamten aus Paris gegengezeichnet. Es sah die Außerkraftsetzung der Janukowitsch-Verfassung von 2010, die Wiedereinsetzung der Juschtschenko-Verfassung von 2004, die Erarbeitung einer neuen Verfassung, eine internationale Untersuchung der Todesschüsse auf dem Maidan sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen vor. Doch noch am selben Abend fand der Sturm auf den Präsidentenpalast statt. Steinmeier, Sikorski und der französische Emissär hatten zwar beim so genannten Maidan-Rat für das Abkommen geworben, für seine Umsetzung aber nichts getan. Kaum war Steinmeier in Berlin aus dem Flugzeug gestiegen, standen die Zeichen auf Eskalation.

Damit begann eine zweite Phase des Konflikts, die nur wenige Wochen andauerte und spätestens Mitte März endete, als auf Rathausdächern im Osten der Ukraine russische Fahnen auftauchten und das vom Westen nicht anerkannte Krim-Referendum stattfand. In dieser Zeit, am besten am Morgen nach dem Putsch in Kiew, hätte man Druck auf die neuen Machthaber aufbauen müssen, um eine Übergangsregierung der nationalen Versöhnung zu schaffen und Teile des Abkommens zu retten. Wäre etwas derartiges gelungen, hätte Russland keine Handhabe gehabt, derart massiv in einem Konflikt zu intervenieren.

Bekanntlich kam es anders: Die »westlichen« Staaten, besonders auch Deutschland, behandelten die zunächst kaum rechtmäßige Regierung, an der extreme Nationalisten auf sicherheitsrelevanten Posten beteiligt waren, wie einen normalen Partner. In Berlin wurde sogar gedrängt, man müsse das EU-Assoziierungsabkommen nun schnell abschließen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin wenig später die Angliederung der Krim feierte, war gerade dies sein zentrales und populäres Argument: Der Westen habe so „unprofessionell“ gehandelt, dass man sich in vitalen Sicherheitsfragen nicht auf ihn verlassen könne.

Der Autor weiß nicht, wie in diesen entscheidenden Tagen im Auswärtigen Amt diskutiert wurde. Von deeskalierenden diplomatischen Initiativen allerdings wurde nichts bekannt. Einem Brief Steinmeiers an die SPD-Basis zufolge unterschätzte man die mit Händen zu greifende Dynamik des Konflikts in Berlin geradezu grotesk: „Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt“, heißt es darin im September 2014. Dabei hatte Moskau bereits nach der einseitigen Legitimierung des Kosovo gegen das russische Veto im UN-Sicherheitsrat zu verstehen gegeben, man fühle sich nun gleichfalls nicht mehr an die Unverletzlichkeit von Grenzen gebunden.

Moderation ohne Akzente

Das Handeln Deutschlands in dieser entscheidenden Phase war von diplomatischer Kopflosigkeit geprägt. Dass Berlin das Februarabkommen, das einen friedlichen Übergang hätte bringen können, ohne Weiteres fallen ließ, wurde zum Wendepunkt. Danach spitzte sich der Konflikt mit dem Krim-Referendum, dem Massaker von Odessa sowie den aus Russland (wohl nicht nur regierungsseitig) unterstützten Sezessionsbewegungen zunächst dramatisch zu.

In dieser dritten, andauernden Phase traten die USA offen auf den Plan. Nun wird zunehmend mit dem klassischen Instrumentarium von »Hard Power« – hier Sanktionen, militärische Drohgebärden und teils Waffenlieferungen, dort massive Hilfe für die Sezessionisten – gearbeitet. Und nun (erst) veränderte sich Berlins Haltung spürbar: Die Bundesregierung, die erst forsch auf Eskalation gesetzt und dann eine europäische Lösung verspielt hatte, nimmt jetzt die Rolle einer Bremserin und Moderatorin ein. Im einsetzenden Wirtschaftskrieg trat Berlin eher zögerlich auf; zugleich versuchte man nicht ganz ohne Erfolg, die Falken aus Übersee und der östlichen EU zu bremsen. Das – wenn auch stets prekäre – Einfrieren des Konflikts um die »Volksrepubliken« von Lugansk und Donezk (»Minsker Abkommen« vom September 2014 und Februar 2015) ist durchaus auch ein deutscher Erfolg.

Allerdings setzt Berlin ganz im Gegensatz zur Rhetorik der »Verantwortung« keinerlei Akzente. So wird (zumindest nicht nachvollziehbar) bei ukrainischen Verletzungen der »Minsk-Abkommen« kein Druck auf die Regierung in Kiew ausgeübt, während vermeintlich oder tatsächlich von Moskau ausgehendes Zuwiderhandeln skandalisiert und sanktioniert wird. Obgleich das Völkerrecht kein Dekalog ist und, wie der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel (2014) lesenswert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dargelegt hat, auch anders ausgelegt werden kann, beharrt Berlin darauf, die »völkerrechtswidrige Annexion« der Krim durch den »Aggressor« Russland sowie die Verletzung der »territorialen Unversehrtheit« der Ukraine zu brandmarken. Wenn damit eine »Rückgabe« der Krim gemeint ist, so ist das utopisch, nicht nur gegenüber der Regierung Putin, sondern gegenüber allen Folgeregierungen. Eine Normalisierung der Ukraine scheint ohne eine – wie auch immer konstruierte – Berücksichtigung des Status quo auf der Krim undenkbar. Womöglich könnte eine solche Perspektive Moskau dazu bewegen, auf eine Überführung der »Volksrepubliken« in Autonomieregionen innerhalb der Ukraine hinzuwirken. Allerdings gewinnen auch diese an Eigendynamik. Ob der Kreml, wenn er wollte, die Sezessionsbewegung dort noch einfach zurückpfeifen könnte, scheint offen.

»Smart Power« und der Abschied von Galtung

Inwiefern finden sich nun in diesem Handeln Anzeichen einer »gauckistischen« Wende? Marschiert ein neuer »Militärchauvinismus«? Gibt es, wie Albrecht von Lucke (2014) zur Gauck-Rede anmerkt, einen „Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit' (Josef Joffe)“ und einen „Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen“? Wäre, wie Spandler und Pfeifer (2014) schreiben, dem zunehmend waffenstarrenden Diskurs eine Revitalisierung des „Friedensmachtkonzepts“ entgegenzusetzen? Ich meine, dass sich aus der Analyse des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt für die Friedensbewegung etwas ganz anderes ergibt: nämlich die Folgerung, dass solche Gegenüberstellungen nicht mehr greifen und daher weitreichende, nicht unproblematische Diskussionen anstehen.

Zumindest muss beim »Interesse« differenziert werden. Das Agieren Berlins mag im strategischen Interesse einer Treue zur NATO liegen, die in diesem Konflikt ihr 1990 errungenes Monopol auf das Leben-Machen und Sterben-Lassen von Staaten verteidigt. Deutschlands ökonomisches Interesse wird aber grob verletzt, was sich im defensiven Verhalten der Kapitalverbände manifestiert, das traditionellen Imperialismustheorien geradezu Hohn spricht. Offenbar kann eine Interessen und Kompromisse abwägende Politik dem Frieden dienlicher sein als eine gesinnungsethische, auf »Werten« basierende. Nicht umsonst erwiesen sich gerade gewisse Teile der Grünen als besonders aggressiv. Schon weil Werthaltungen subjektiv sind, ist die Gegenüberstellung von »Werten« und »Interessen« prekär. Zu den erhellenden Passagen jener Gauck-Rede gehört die Feststellung, dass viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.

Der Konflikt zeigt ferner, dass auch eine normative Gegenüberstellung »friedlicher« und »kriegerischer« Mittel erodiert. Auch mit zivilen Mitteln lässt sich ausgesprochen aggressiv auftreten. Um das Argument zuzuspitzen: In zeitgenössischen Konzepten von »Smart Power«, die »harte« und »weiche» Macht flexibel verzahnen, besteht zwischen Künstlerstipendium, NGO-Förderung, Warenboykott und Bombenangriff ein nur gradueller Unterschied. Das wirklich neue, gefährliche, im Ukrainekonflikt offensiv genutzte Instrument im »Werkzeugkasten« stammt nicht aus der militaristischen Rumpelkammer, sondern aus dem Repertoire der »Soft Power«: Es ist die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« in als »Störer« identifizierten Ländern. Diese ist erstens geeignet, unkontrollierbare innere Spannungen zu fördern, die erhebliche innere wie äußere Eskalationsgefahren bergen. Eine solche Politik gezielter Verzahnung von Regierungshandeln und gesellschaftlichem Engagement kann zudem im Sinne ihrer erklärten Ziele kontraproduktiv sein: Sie bringt etwa das Eintreten für Minderheitenrechte in den permanenten Verdacht, Teil einer externen Regimewechselstrategie zu sein. Sie trägt zu einer zusätzlichen Politisierung selbst harmloser Anliegen bei und kann in den Zielländern Repression noch verschärfen. Um in Zukunft Menschenrechts- oder Gewerkschaftsinitiativen zu stützen, müssten neue Rahmen gefunden werden. Als Feature des Regierungshandelns von Staaten oder Staatenbündnissen ist dieses Instrumentarium nachhaltig kontaminiert.

Für die Friedensbewegung ist von Bedeutung, dass dieser zivilgesellschaftliche Interventionismus formal auf Praxen transnationaler Vernetzung sozialer Bewegungen fußt, die nun in internationales Regierungshandeln übersetzt werden. Es ist kein Zufall, dass etwa in Deutschland entsprechende Agenden von Rot-Grün aufgesetzt wurden; 2004 entstand etwa das im Wortsinn absurde Institut eines »Regierungskoordinators« für die »zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft«.

Auf die feindliche Übernahme von Grassroots-Politiken kann die Friedensbewegung auf zwei Arten reagieren: Sie kann, wozu nicht nur Teile der Grünen sondern auch der Linkspartei zu neigen scheinen, die Selektivität dieses Interventionismus skandalisieren: Druck wird nur dort gemacht, wo es passt. Das ist dann nichts anderes als die Forderung nach noch mehr, wenn auch (zunächst) ziviler, Intervention. Die Alternative wäre eine anti-interventionistische Neuaufstellung, die freilich kategorial sein müsste, um zu mobilisieren. Überprüft werden müsste dann die traditionelle Neigung der Linken zu »idealistischen« Auffassungen internationaler Politik. Kommt nicht das Hoffen auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung derselben dem Reiten eines toten Pferdes gleich, seit nicht nur der »Westen« Völkerrecht und Vereinte Nationen nur noch als eine Option betrachtet, sondern auch Russland seinen durch Schwäche begründeten internationalen Legalismus der 1990er und frühen 2000er Jahre aufgibt?

Entwickelt werden müsste ein »kritischer Realismus«, der die Welt als Kräftemessen betrachtet, ohne – wie »Realisten« à la Christian Hacke und neuerdings Herfried Münkler – in den Generalstab einzurücken oder sich nach Art des »Antiimperialismus« mit allen zu verbünden, die die Dominanzmächte ärgern. Nicht zurückschrecken dürfte man in diesem Sinne vor einer Neufassung des »positiven« Friedensbegriffs nach Johan Galtung, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg zwischen den Staaten umfasst, sondern auch soziale Gerechtigkeit in denselben. Diese einst progressive Begrifflichkeit ist heute Basis jener Praktiken des »Demokratieexports«, die binnen 15 Jahren fast den ganzen arabischen Raum in einen Albtraum verwandelt haben. Stark gemacht werden müssten ihr gegenüber einst als konservativ verstandene Prinzipien wie die Nicht-Einmischung in die Politik souveräner Staaten. Die Abwesenheit von Krieg ist angesichts der vergangenen Jahrzehnte vielleicht bereits ein lohnendes Ziel.

Der Nachteil einer solchen Wendung bestünde u.a. darin, dass sich etwa im politologischen Diskurs kaum Anschlussstellen fänden. Zugleich steht allerdings eine Großzahl der Bundesbürger dem Interventionismus kritisch gegenüber. Der vorliegende Text will trotz seiner pointierten Form kein Manifest darstellen. Er will aber aufzeigen, zwischen welchen Polen diskutiert werden könnte, wenn nicht sogar müsste.

Literatur

Torsten Arndt: Deutsche Außenpolitik – Auf dem Weg zu mehr Verantwortung? Tagungsbericht vom 30.6.2014 auf boell.de.

Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede des Bundespräsidenten zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

Albrecht von Lucke: Der nützliche Herr Gauck. Deutsche Blätter für deutsche und internationale Politik 3'14.

Reinhard Merkel: Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4. 2014.

Kurt-Jürgen Maaß (Hrsg.). (2015): Kultur und Außenpolitik – Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos.

Joseph S. Nye (2004): Soft Power – The Means to Success in World Politics. New York: Public Affairs.

Hanna Pfeifer und Kilian Spandler: Komplexität aufbauen statt abbauen – Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Huffington Post, 16.10.2014.

Iryna Solonenko: Eher Partner als Geber – die EU und die ukrainische Zivilgesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, 15.3.2013.

Frank-Walter Steinmeier (2014): [Brief] An die Mitglieder der SPD, 8. September 2014. Der Brief ist dokumentiert als Anhang zu Velten Schäfer: In Steinmeiers Welt – An allem ist nur Russland schuld: Deutschlands Außenminister erklärt seiner Partei den Ukraine-Konflikt. neues deutschland, 12.9.2014, online bei ag-friedensforschung.de.

Jürgen Wagner (2015): Deutschlands (neue) Großmachtambitionen – Von der »Kultur (militärischer) Zurückhaltung« zur »Kultur der Kriegsfähigkeit«. IMI-Studie 02/2015.

Velten Schäfer ist innenpolitischer Redakteur der Tageszeitung »neues deutschland«.

Friedensnobelpreis

Friedensnobelpreis

von Jürgen Nieth

Das norwegische Komitee für den Friedensnobelpreis hat diesen 2015 an das tunesische »Quartett des nationalen Dialogs« verliehen. Das Bündnis aus dem Gewerkschaftsverband UDTT, der Menschenrechtsliga LTGH, der Anwaltskammer ONAT und dem Arbeitgeberverband UTICA war 2013 gebildet worden, als – so das Nobelpreiskomitee – „der Demokratisierungsprozess in Folge politischer Morde und der Ausbreitung sozialer Unruhen vor der Gefahr eines Zusammenbruchs stand.“ Das Quartett habe sich in dieser Situation „mit großer moralischer Autorität als Vermittler und Motor der friedlichen demokratischen Entwicklung in Tunesien“ engagiert (JW 10.10.15).

Eine Auszeichnung, die weitgehend positiv aufgenommen wurde: „Gute Nachricht für ein gebeuteltes Land“ (FAZ 10.10.15, S.2), „Tunesien als Vorbild“ (SZ 10.10.15, S.4), „Leuchtturm des arabischen Frühlings“ (ND 10.10.15, S.7), „Tunesiens Leuchtturm“ (NZZ 10.10.15, S.3), „Hohe Symbolik, hohe Hypothek“ (DIE WELT 10.10.15, S.8), „Ein Licht im arabischen Winter“ (Handelsblatt online 09.10.15).

Eine große Überraschung

In diesem Jahr waren 205 Einzelpersonen und 68 Organisationen für den Friedensnobelpreis nominiert. Die Preisvergabe an das tunesische Quartett wird in den Medien als große Überraschung gewertet, „da die Organisation im Vorfeld […] kaum zu den Favoriten gehört hatte. Am häufigsten war die Rede von Angela Merkel für ihre Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt und ihre Führungsarbeit bei der europäischen Flüchtlingskrise sowie von Papst Franziskus gewesen.“ (NZZ 10.10.15, S.3) Laut der WELT avancierte Merkel sogar „zur Topfavoritin bei den Buchmachern“ (10.10.15, S.8). Sie wurde es nicht, und so blieb uns nicht nur der BILD-Aufmacher »Wir sind Friedensnobelpreisträger« erspart, ein Teil der Medien nutzte die Verleihung der „weltweit wichtigsten politischen Auszeichnung“ (ND 10.10.15, S.7) auch zu einem kritischen Rückblick auf die bisherige Praxis der Preisvergabe.

Nobels Vermächtnis und die Realität

Der 1896 verstorbene schwedische Dynamit-Erfinder und Industrielle beauftragte das norwegische Parlament damit, „jährlich bis zu drei Persönlichkeiten oder Organisationen für ihre Verdienste um die Menschlichkeit zu ehren. Konkret sollte ausgezeichnet werden, wer »am besten für die Verbrüderung der Völker gewirkt hat, für die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und Verbreitung von Friedenskongressen« […] Und es war die Friedenskämpferin Bertha von Suttner, mit der ihn (Nobel) tiefe Freundschaft verband, die ihn ermunterte, einen Teil seines Reichtums auch an Friedensbewegungen zu spenden.“ (ND 10.10.15, S.7)

Silke Bigalke sieht in dem Vermächtnis eine „spärliche Anleitung für eine so große Frage. Kein Wunder also, dass der Friedensnobelpreis der umstrittenste unter den Nobelpreisen ist.“ (SZ 10.10.15, S.2) DIE WELT registriert, dass die „Auszeichnungen von US-Präsident Barack Obama nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt (2008) sowie die Entscheidung, der Europäischen Union vor drei Jahren den Friedensnobelpreis zuzusprechen“ als umstritten gelten (10.10.15, S.8). Für Bigalke (s.o.) war der erste ausgezeichnete US-Präsident Theodore Roosevelt aber noch viel umstrittener als Obama. „Als die Norweger ihn 1906 als ersten Staatsmann überhaupt auszeichneten, beschrieb die New York Times Roosevelt als »kriegerischsten Bürger dieser Vereinigten Staaten«. Schwedische Journalisten vermuteten, dass sich Alfred Nobel im Grabe umdrehen würde.“ Als »Nobel War Prize« bezeichnete die New York Times 1973 gar die Vergabe des Friedensnobelpreises an den Sicherheitsberater des US Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, und den „Nordvietnamesen Le Duc Tho für den Waffenstillstand in Vietnam […] Le Duc Tho lehnte den Preis mit der Begründung ab, in seinem Land herrsche noch kein Frieden. Kissinger dagegen nahm an.“ (Bigalke, s.o.)

Preisvergabe zu spät

„Es ist auch ein Preis für den »arabischen Frühling«, der in Tunesien begann, Diktaturen zu Fall brachte – aber vielerorts in einem Winter aus Terror, Reaktion und Konflikt erstarrt ist. So gesehen kommt die Vergabe zu spät. Und wenn nun oft die Rede davon ist, mit der Ehrung werde ein Zeichen für friedliche Konfliktlösung gesetzt, wird auch die Überfrachtung mit Erwartungen kenntlich.“ (Tom Strohschneider in ND 10.10.15, S.1) Ähnlich sieht das Torsten Riecke: „Nicht zu früh, sondern fast schon zu spät kommt der Preis für das Quartett des nationalen Dialogs in Tunesien. Vom Arabischen Frühling […] ist nicht mehr viel übrig geblieben.“ (Handelsblatt online 09.10.15)

DIE WELT zitiert den Nordafrika-Experten Ilyas Saliba vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, nach dem zu befürchten ist, dass die Regierung „die gerade erkämpften Menschenrechte und freiheitlichen Rechte wieder beschneidet“ (10.10.15, S.8). Für Anna Antonakis, Doktorandin der Stiftung Wissenschaft und Politik, ist es „gefährlich, wenn der Preis nun darüber hinwegtäuscht, dass die Ziele der Proteste noch lange nicht erreicht sind“. Für sie fährt die aktuelle tunesische Regierung einen „Kurs der Stabilität und Sicherheit. Auf den ersten Blick scheint das wünschenswert. Allerdings werden für diese neue Agenda all jene unterdrückt, die sich von der Revolution der Jahre 2010 und 2011 mehr erhofft haben als nur eine Rückkehr zum Status quo […] Deshalb mache ich mir Sorgen, dass der Nobelpreis von den Revolutionären als Hohn empfunden wird. Sie fühlen sich durch die Entscheidung von Oslo wohl nicht repräsentiert.“ (ZEIT ONLINE 09.10.15) Und die FAZ zitiert den Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis, Joachim Paul, dass sich in Tunesien ein »Reformstau« gebildet habe. Die Verfassung sehe Reformen des Sicherheitssektors, der Wirtschaft und der Verwaltung vor, die jedoch gar nicht oder nur schleppend vorangekommen seien. „Viele haben das Gefühl, dass die alten Eliten ihre Pfründe ins neue Regime gerettet haben, während die ländliche Bevölkerung trotz Parlament und Wahlen vom Kuchen nichts abbekam.“ (FAZ 10.10.15, S.2)

Zitierte Presseorgane: DIE WELT, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Handelsblatt online, junge Welt (JW), neues deutschland (ND), Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), ZEIT ONLINE.

Jürgen Nieth

Erfolgreiche Friedensstifter

Erfolgreiche Friedensstifter

Persönlichkeitsmerkmale im Kulturvergleich

von Rebekka Schliep, Klaus Boehnke und Cristina J. Montiel

Für eine erfolgreiche Konfliktlösung ist es unerlässlich, dass die Persönlichkeitsmerkmale der Mediatoren von allen Konfliktparteien akzeptiert werden. Die hier zusammengefasste Studie von Montiel und Boehnke (2000) untersucht, ob in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten Unterschiede in den bevorzugten Attributen von Konfliktschlichtern existieren. Methoden und Ergebnisse einer Konfliktschlichtung werden selbstverständlich von den Kontextfaktoren des jeweiligen Konflikts beeinflusst (Keashly and Newberry 1995). Es wird allerdings häufig übersehen, dass auch personale Aspekte eine Rolle spielen, die während einer Konfliktschlichtung mit den konkreten Bedingungen eines spezifischen Konflikts interagieren (Deutsch 1994).

Während politische Systeme bereits im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert einen transnationalen Charakter hatten, wächst spezifischen sozialen Konflikten und dem Umgang mit ihnen erst neuerdings eine stärkere transnationale Dimension zu. Internationale Mediation bindet oftmals Dritte aus westlichen, wirtschaftlich stärkeren Gesellschaften in Konfliktschlichtungsprozesse in wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften ein.

Die Studie von Montiel und Boehnke prüft, ob sich subjektive Erwartungen an erfolgreiche Konfliktschlichter zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und unterschiedlichen ökonomischen Ressourcen bzw. nach dem Geschlecht unterscheiden.

Kultur

Die kulturvergleichende Psychologie hat eine große Anzahl von Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen identifiziert, die kulturelle Variationen aufweisen (Moghaddan et al. 1993; Smith und Bond 1993). Pionierarbeit leistete Harry Triandis (1972), der das Konzept der »subjektiven Kultur« einführte. Damit beschreibt er die unterschiedliche Art und Weise, in der Menschen in verschiedenen Kulturen ihre soziale Umgebung wahrnehmen: Ist das soziale Umfeld eines Menschen eher etwas, von dem er oder sie sich unterscheiden sollte (Stichworte Individualismus, Distinktion, Independenz), oder ist es etwas, in das man sich einfügen sollte (Stichworte Kollektivismus, »Fit «, Interdependenz). »Subjektive Kultur« erklärt nach Triandis – jenseits objektiver Konfliktbedingungen – die oftmals verzerrte Repräsentation von Realität in Konfliktsituationen.

Individualismus und Kollektivismus stehen, so lässt sich vermuten, mit präferierten Attributen von Konfliktschlichtern in engem Zusammenhang. Eine ausgeprägte Harmonieorientierung und eine hohe Aufmerksamkeit für Aspekte der Gesichtswahrung sind zwei Charakteristika, die in kollektivistischen Kulturen hoch im Kurs stehen. Menschen, die aus solchen Kulturen kommen, werden auch von erfolgreichen Konfliktschlichtern derartige Eigenschaften erwarten. Ausgangshypothese ist also, dass sich die bevorzugten Attribute von Konfliktschlichtern unterscheiden, je nachdem, ob die Menschen in kollektivistischen oder in individualistischen Kulturen leben.

Wirtschaftlicher Entwicklungsstand

Die Studie untersucht zudem, ob sich Konfliktlösungen in Entwicklungsgesellschaften von Konfliktlösungen in Industrieländern unterscheiden. Menschen in Entwicklungsländern erleben gesellschaftliche Konflikte im Kontext einer im internationalen Vergleich geringen Macht ihres Landes, während Menschen in Industrieländern gesellschaftliche Konflikte vor dem Hintergrund größerer Macht erleben. Dieses unterschiedliche Erleben sollte für Erwartungen an Konfliktschlichter insofern von Bedeutung sein, als in jedwedem gesellschaftlichen Konflikt die Machtverhältnisse zwischen Konfliktparteien von zentraler Bedeutung für die Konfliktlösung sind; selten sind sie gleichwertig und symmetrisch, viel öfter ungleich und asymmetrisch.

Die Studie bildet das Machterleben der Befragten über sozioökonomische Attribute ihrer Herkunftsländer ab, nämlich über die ökonomischen Ressourcen, den Zugang zu wichtigen Konsumgütern und die Kontrolle über die Regeln der inländischen wirtschaftspolitischen Bedingungen. Wirtschaftlich entwickelte Länder besitzen in allen drei Bereichen eine hohe Verfügungsmacht. Entwicklungsländer haben eine geringe Verfügungsmacht, da sie über weniger Ressourcen verfügen und im 20. Jahrhundert unter ausländischer – kolonialer – Unterwerfung standen. Da Konflikte mit Machtfragen in Beziehung stehen und sich das Machterleben unter Befragten aus Ländern des Globalen Südens und des Globalen Nordens unterscheidet, wird angenommen, dass sich die bevorzugten Persönlichkeitsattribute von Konfliktschlichtern bei Befragten aus reicheren Gesellschaften und solchen aus ärmeren Gesellschaften unterscheiden.

Geschlecht

Eine mögliche Erklärung für geschlechtsspezifische Unterschiede im Konfliktverhalten sind die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau. In den Zugangsmöglichkeiten zu persönlichen und Organisationsressourcen besteht Geschlechterungleichheit. Frauen haben weniger Zugangsmöglichkeiten zur Macht, während Männer im sozialen System von wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten profitieren. Machtstellungen beeinflussen die Wahl der jeweiligen Konfliktstrategie. Eine Person mit geringer Macht kommt einer einseitigen Vorgehensweise, wie z.B. einer einfachen Bitte oder einer sanften Nötigung, meist schnell nach. Eine Person mit größerer Macht reagiert eher auf Überzeugungskraft oder detaillierte Vorschläge (Ohbuchi und Yamamoto 1990). Die Herangehensweise von Frauen an Konflikte ähnelt der von Personen mit geringer Macht. Beim Versuch, ihr männliches Gegenüber zu beeinflussen, wählen Frauen eher schwächere Strategien, wie z.B. Entgegenkommen, Manipulation und Flehen, als stärkere Strategien, wie z.B. Schikane oder autoritäres Bestimmen (Rosenthal und Hautaluoma 1988). Gilligan (1993) zeigte, dass Frauen zu einer Ethik der Fürsorge tendieren, während Männer auf einer Basis von Gerechtigkeitserwägungen argumentieren. Die Literatur stimmt darin überein, dass Frauen und Männer ein unterschiedliches Konfliktverhalten aufweisen. Daher wird erwartet, dass Frauen und Männer bei Konfliktschlichtern unterschiedliche Attribute bevorzugen.

Methode

  • Stichprobe: An der Studie nahmen 539 Oberstufenschüler und Bachelor-Studierende aus China, Malaysia, den
    Philippinen, Japan, den USA, Australien und Deutschland teil. Anhand einer vorliegenden Kategorisierung
    (Hofstede 2001) wurden Befragte aus China, Malaysia, den Philippinen und Japan dem kollektivistischen
    Kulturkreis zugeordnet. Die Befragten aus den USA, Australien und Deutschland wurden dem individualistischen
    Kulturkreis zugeordnet.
    Befragte aus China, Malaysia und den Philippinen wurden dem Kontext eines geringen
    Machterlebens zugeordnet, da diese Länder nach allen oben genannten Kriterien mit geringer Macht ausgestattet
    sind. Befragte aus Japan, den USA, Australien und Deutschland wurden dem Kontext des stärkeren Machterlebens
    zugeordnet. Entscheidend für die Zuordnung waren zentrale ökonomische Indikatoren, allen voran das
    Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
    Gut die Hälfte der Befragten (52%) war männlich. Das Durchschnittsalter
    betrug 17 Jahre. Tabelle 1 beschreibt die Geschlechts- und Alterscharakteristika der Befragten in den jeweiligen
    Ländern.
  • Befragungsinstrument: Zentrales Befragungsinstrument der Studie war ein so genanntes semantisches Differenzial.
    Dieses Instrument wurde zuerst von Osgood (1952) eingesetzt. An den Polen der Bewertungsskalen finden sich zwei
    semantisch entgegengesetzte Adjektive, deren Bedeutung als Persönlichkeitsattribute eines Konfliktschlichters
    die Befragten einschätzen sollten, indem sie eine Beurteilung auf einer Antwortskala von 1 (linker Pol) über 3
    (Mitte/unentschieden) bis 5 (rechter Pol) abgaben.
Land Geschlecht Alter (Jahre)
Männlich Weiblich
China 39 (43,8%) 50 (56,2%)
Malaysia 57 (82,6%) 12 (17,4%)
Philippinen 35 (42,7%) 47 (57,3%)
Japan 46 (52,3%) 42 (47,7%)
USA 30 (48,4%) 32 (51,6%)
Australien 25 (43,9%) 32 (56,1%)
Deutschland 49 (53,3%) 43 (46,7%)
Gesamtstichprobe 281 (52,1%) 258 (47,9%)

Tabelle 1: Geschlechts- und Alterscharakteristika der Befragten

Ergebnisse

Vor einer Detailauswertung wurden zunächst vorbereitende statistische Analysen (Faktorenanalysen) durchgeführt, auf deren Basis herausgearbeitet werden konnte, welche Adjektivpaare über alle Länder hinweg als zentral für die Attribute eines effektiven Konfliktschlichters angesehen werden. Statistische Details sind der dieser Zusammenfassung zugrunde liegenden Originalpublikation von Montiel und Boehnke (2000) zu entnehmen. Zentral für die Bewertung von Eigenschaften von Konfliktschlichtern erwiesen sich vier Adjektivpaare, nämlich »fürsorglich –grausam«, »bescheiden – stolz«, »warm – kalt« und »sensibel – unsensibel«. Befragte, deren Erwartungen eher dem erstgenannten Adjektiv zuneigen, präferieren einen einfühlsamen Konfliktschlichter; Befragte, deren Erwartungen dem zweitgenannten Adjektiv zuneigen, präferieren einen dominanten Konfliktschlichter.

Um in einem zweiten Schritt die Hypothesen zur Bedeutung von kulturellem Hintergrund, ökonomischer Ressourcenverfügbarkeit und Geschlecht überprüfen zu können, wurden zunächst die Durchschnittswerte für die Adjektivpaare berechnet, die sich als geeignet für einen Kulturvergleich erwiesen hatten: Höhere Durchschnittswerte sprechen für die Präferenz eines dominanten Konfliktschlichters, niedrigere Werte für die Präferenz eines einfühlsamen Konfliktschlichters.

So genannte Varianzanalysen zeigten, dass Unterschiede in der Herkunftskultur die Präferenzen für effektive Konfliktschlichter nur in geringem Maße beeinflussten. Zwar präferierten Befragte aus kollektivistisch geprägten Ländern eher einfühlsame Konfliktschlichter, doch war der Unterschied zu den Präferenzen in individualistisch geprägten Ländern nicht signifikant. Auch der Unterschied in den Präferenzen von Männern und Frauen war – unabhängig von deren Herkunft – eher gering, obgleich hier eine statistische Signifikanz belegt werden konnte: Wie erwartet präferieren Frauen einfühlsame Konfliktschlichter, Männer hingegen dominante.

Wesentlich bedeutsamer waren Unterschiede hinsichtlich der ökonomischen Ressourcenverfügbarkeit. Befragte aus reichen Ländern präferierten dominante Konfliktschlichter deutlich stärker (Durchschnittswert: 2,55) als Befragte aus ärmeren Ländern (2,20) dies tun. Das spannendste und so nicht erwartete Ergebnis der Analysen war der Befund, dass Geschlecht und kultureller Hintergrund wie auch Geschlecht und Ressourcenverfügbarkeit – in statistischer Terminologie – interagieren. Dies bedeutet, dass in kollektivistischen Kulturen Frauen (2,41) stärker als Männer (2,29) dem dominanten Friedensschlichter zuneigen, während in individualistischen Kulturen Männer (2,65) stärker als Frauen (2,22) diesem Friedensschlichtertyp zugetan sind. In armen Ländern präferieren Frauen (2,25) den dominanten Konfliktschlichter mehr als Männer (2,15) dies tun; in reichen Ländern ist es umgekehrt (Frauen: 2,42; Männer: 2,69).

Diskussion

Die Ergebnisse der Studie zeigen generell eine Tendenz aller Befragten, bei effektiven Konfliktschlichtern Persönlichkeitsattribute zu präferieren, die dem Bild eines einfühlsamen Friedensstifters entsprechen. Der dominante Friedensstifter steht nirgends hoch im Kurs. Gilligans (1993) »Ethik der Fürsorge« steht Friedensstiftern besser an als eine rationale »Gerechtigkeitsethik«, besonders wenn diese mit einem machtvollen Durchsetzungsimpetus daherkommt.

Interessant sind die Befragungsergebnisse auch hinsichtlich weiterer Teilergebnisse. Die präferierten Attribute eines Friedensstifters werden vor allem durch die Ressourcenverfügbarkeit, die die Sozialisation junger Menschen geprägt hat, bestimmt. Machterleben ist zentral: Menschen in einem machtstarken Kontext (reich, männlich) »stehen« auf dominante Friedensstifter; Menschen in einem machtarmen Kontext (arm, weiblich) bevorzugen einfühlsame Friedensstifter. Die Positionierung in einem asymmetrischen Machtverhältnis hängt mit dem jeweiligen präferierten Konfliktschlichter zusammen. Die Ergebnisse bestätigen die Erwartung, dass die wirtschaftliche Macht eines Landes und das Geschlecht der Befragten mit den jeweils bevorzugten Eigenschaften von Friedensstiftern zusammenhängen. Je geringer das Machterleben einer Person, desto stärker sind ihre Präferenzen für einen einfühlsamen Friedensstifter.

Auf den ersten Blick paradox erscheint der Befund, dass Frauen zwar allgemein dem einfühlsamen Friedensstifter mehr zuneigen als Männer dies tun, dass je separat betrachtet das Geschlechterverhältnis in kollektivistischen Kulturen und in armen Ländern aber umgekehrt ist. Frauen aus den kollektivistisch geprägten Ländern sprechen sich stärker als Männer aus diesen Ländern für einen dominanten Friedensstifter aus. Das gleiche gilt für Frauen im Vergleich zu Männern in armen Ländern. Es scheint plausibel anzunehmen, dass (junge) Frauen ihre geschlechtsbasierte Machtlosigkeit als so gravierend wahrnehmen, dass sie sich die Schlichtung von Konflikten nur im Sinne einer machtvollen Durchsetzung von Interessen der in einem Konflikt Schwächeren vorstellen können, für die es eines dominanten Friedensstifters bedarf.

Versucht man ein Gesamtresümee, so zeigt die hier zusammengefasste Studie, dass einfühlsamen Friedensstiftern nach den Erwartungen von jungen Menschen aus sieben Ländern (China, Japan, Malaysia, Philippinen, USA, Australien, Deutschland) bessere Chancen zugemessen werden, in gewalttätigen gesellschaftlichen Konflikten zu vermitteln. Dem Friedensdiktator, dem Basta-Politiker, werden kaum Chancen zugebilligt. Genauerer Analysen in weiteren Studien bedarf allerdings die Frage, warum Frauen in tendenziell machtlosen Lebenskontexten einem brachial auftretenden Friedensstifter mit einer gewissen Sympathie begegnen.

Literatur

Morton Deutsch (1994): Constructive Conflict Resolution – Principles, Training, and Research. Journal of Social Issues, 50, S.13-32.

Carol Gilligan (1993): Reply to critics. In Mary J. Larrabee (ed.): An Ethic of Care – Feminist and Interdisciplinary Perspectives. New York; NY. Routledge, Chapman, and Hall; S.207-214).

Geert Hofstede (2001): Culture’s Consequences – Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations across Nations. Thousand Oaks, CA: Sage Publications, 2nd ed.

Loraleigh Keashly and J. Newberry (1995): Preference for and Fairness of Intervention – Influence of Third-Party Control, Third-Party Status, and Conflict Setting. Journal of Social and Personal Relationships, 12, S.277-293.

Fathali M. Moghaddan, Donald M. Taylor and Stephen C. Wright (1993): Social Psychology in Cross-Cultural Perspective. New York, NY: Freeman.

Cristina J. Montiel and Klaus Boehnke (2000): Preferred Attributes of Effective Conflict Resolvers in Seven Societies: Culture, Development Level, and Gender Differences. Journal of Applied Social Psychology, 30(5), S.1071-1094.

Ken-Ichi Ohbuchi and Ikuyo Yamamoto (1990): The Power Strategies of Japanese Children in Interpersonal Conflict – Effects of Age, Gender, and Target. Journal of Genetic Psychology, 151, S.349-360.

Charles E. Osgood (1952): The Nature and Measurement of Meaning. Psychological Bulletin, 49, S.197-237.

Douglas B. Rosenthal and Jacob Hautaluoma (1988): Effects of Importance of Issues, Gender, and Power of Contenders on Conflict Management style. Journal of Social Psychology, 128, S.699-701.

Peter B. Smith and Michael H. Bond (1993): Social Psychology Across Cultures – Analysis and Perspectives. New York, NY: Harvester Wheatsheaf.

Harry C. Triandis (1972): The Analysis of Subjective Culture. New York, NY: John Wiley & Sons.

Rebekka Schliep ist Studentin des BA-Studiengangs »Intercultural Relations and Behavior« an der Jacobs University Bremen.
Prof. Dr. Klaus Boehnke ist Professor für Sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Jacobs University Bremen und Prodekan der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS).
Prof. Dr. Cristina J. Montiel ist Professorin für Psychologie an der Ateneo de Manila Universität auf den Philippinen und dort Mitglied des Forschungsschwerpunkts »Peace, Justice and Democratic Governance«.