Männlichkeit im Militär


Männlichkeit im Militär

Historische Zugänge und Ansatzpunkte für die Friedensarbeit

von Ralf Buchterkirchen

Anhand der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit im Militär wird in diesem Beitrag untersucht, wie Geschlecht als Kategorie genutzt wird, um widerständiges Verhalten zu sanktionieren und zu verhindern. Ausgangspunkt ist dabei der Umgang der NS-Militärjustiz mit Deserteuren und so genannten Wehrkraftzersetzern. Aus diesem Blickwinkel wird herausgearbeitet, welche Folgen sich aus diesen Erkenntnissen für die Friedensarbeit ziehen lassen.

Der Militärstand und seine Manifestation nach außen – die Uniform – stehen für eine Institution, in der Gewalt, die über den zivilen Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus geht, Akzeptanz findet. Die zivile Sphäre und das Militär sind sich so wesensfremd, dass Überschneidungen tunlichst vermieden werden. Das führt zu gegenseitiger Abgrenzung und verhindert zivilgesellschaftliche Interventionen in den Militärstand. Dies traf insbesondere vor Einführung der ­Wehrpflicht zu. Damals trugen Söldner – zum Kriegshandwerk ausgebildete und flexibel verfügbare Einheiten – die militärischen Konflikte aus. Sie agierten komplett getrennt von der zivilen Gesellschaft und mit einem eigenen Strafsystem und Selbstverständnis – und wurden in der zivilen Gesellschaft verachtet.

Dies änderte sich mit der Einführung der Wehrpflicht ab Ende des 18. Jahrhunderts. Sie führte zu weitreichenden Verschränkungen zwischen dem zivilen und dem militärischen Bereich, die von der Einführung eines bürgerlichen Reserveoffizierkorps bis hin zur Abschaffung von Körperstrafen reichten. Im Kern blieben sich der zivile und der militärische Bereich dennoch fremd, insbesondere weil die »Kernkompetenz« des Soldaten – die Ausübung von Gewalt – im Zivilen nicht geschätzt wird.

Im Militär hingegen wird die physische Gewalt gezielt ein- und ausgeübt; es geht darum, die Tötungshemmung gegenüber Menschen zu überwinden, auf Befehl (und nicht aufgrund eigener Entscheidung) zu töten und dabei die Angst vor dem eigenen Tod zu überwinden. Dies wird über gruppendynamische Prozesse, wie Kameradschaft, über die Kasernierung und eine Disziplinarordnung, die bis zur Todesandrohung bei »Feigheit vor dem Feind« reichen konnte, bewerkstelligt. Disziplinierung und Sanktionen sind entsprechend wichtige Grundpfeiler der militärischen Sozialisation. Dabei geht es nicht nur darum, »Gehorsam zu lernen«, sondern den eigenen Charakter komplett umzubauen, bis hin zur Selbstverleugnung. (Siehe dazu Steube, S.: Militär und Männlichkeit, S. 10, in dieser Ausgabe.)

Entwicklung von Männlichkeit im Militär

Erste Wehrpflichtentwürfe des preußischen Staates sahen vor, dass neben Gefängnis auch der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte drohte, wenn sich ein Staatsbürger der Wehrpflicht entzog. Und in der Tat war die Begeisterung für den Zwangsdienst selbst im ökonomisch schlecht gestellten Proletariat gering.1 Warum sollten sich junge Männer zu einem Dienst verpflichten lassen, der ihnen nur Lebenszeit, vielleicht sogar das Leben selbst raubte? Neben Druck kam daher auch die Propagandamaschine zum Einsatz: Einerseits wurde an die Männlichkeit appelliert,2 andererseits wurde Krieg immer weniger als »Krieg der Regierungen« denn als »Krieg der Nationen« dargestellt.

Damit verfolgten die Herrschenden zwei Ziele: Zum einen wurde Krieg zur »Volkssache«, und es erfolgte eine Überhöhung des Kämpferischen: Es galt, »seinen Mann zu stehen«. Zum anderen konnte über die Abgrenzung zum Nichtmann/Nichtmilitär auch ein sozialer Status erlangt werden, der im zivilen Leben verwehrt blieb. Der Wehrdienst verknüpfte das »Positivbild« des Soldaten (stark, tapfer, männlich) mit dem Nationalen, mit »Patriotismus«. Da von der Wehrpflicht weite Teile der Bevölkerung betroffen waren, verschwand bald das Negativimage des Militärs, und es setzte ein Gefühl von größerer Gleichheit unabhängig vom eigentlichen sozialen Stand ein. Von größter Bedeutung war dabei: Männer gehörten der Institution Militär an, weil sie Männer waren. Das führte zur Selbstvergewisserung der eigenen Männlichkeit und zur Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit. Die Wehrpflicht wurde so zur Institution, die den Jüngling zum Manne bildet. Die Einführung der Wehrpflicht formte die Körper und das Denken ganzer Generationen. Der soldatische Habitus wurde auch zum zivilen Vorbild für Männlichkeit (Fritsche 2015, S. 61 ff.).

Wir haben es also mit Einführung der Wehrpflicht mit einem völlig neuen Rollen- und Selbstverständnis zu tun – übrigens in Bezug auf beide sozial vorgesehenen Geschlechter. Neben der militärischen männlichen Sicht entstand die weibliche, die – zumindest für die bürgerlich Privilegierten – auf Kinder und Familie ausgerichtet war. Männer standen in den Familien den Frauen vor, beherrschten sie. Erzieherinnen und Mütter hatten die Aufgabe, diese »Werte« an die Kinder weiterzuvermitteln. Das mit der Wehrpflicht gefestigte Geschlechterbild wurde immer weniger in Frage gestellt, ja, geradezu ahistorisch als schon immer dagewesen gesetzt.

Wie stabil dieses geprägte Bild von Männlichkeit war, zeigt die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg. Schuld an der Niederlage – so die weitverbreitete und kaum hinterfragte Ansicht – waren nicht die »starken Männer«, die »ehrenhaften Soldaten«. Schuld waren die »Schwächlinge«, »Vaterlandsverräter« – also die Kriegsmüden, Sozialdemokraten, Kommunisten, die »Heimatfront«. Die Mär von der im Felde unbesiegten Armee ging um. Diese »Dolchstoßlegende« erlaubte es den Soldaten (und vor allem den Offizieren), ihre Männlichkeit und »Ehre« zu erhalten. Der Historiker Wolfram Wette beschreibt das Gefühl der Soldaten wie folgt:

„Freikorpskämpfer und Freikorpsautor Friedrich Wilhelm Heinz notierte: ‚Man redet uns vor, dass der Krieg nun zu Ende sei. Wir lachten darüber. Denn der Krieg, das waren wir selbst. Seine Flamme brannte in uns fort und umzog unser ganzes Tun mit dem glühenden und unheimlichen Bannkreis der Zerstörung.‘ Aus dieser Perspektive betrachtet, traf der verlorene Krieg das Männlichkeitsgefühl mehrerer deutscher Männergenerationen an der empfindlichsten Stelle, nämlich in der Überzeugung zu Kriegern und Siegern geboren zu sein. Daher weigerten sich die soldatischen Männer, die Realität der Niederlage Deutschlands und des Kriegsendes zur Kenntnis zu nehmen. Sie spürten, dass sie nicht mehr für das zivile Leben taugten und dass sie mit dem Frieden nichts anzufangen wussten. Er erschien ihnen als Bedrohung, als eine Neuauflage der trostlosen Zeit vor 1914. Daher fühlten sie sich unter einem inneren Zwang weiterkämpfen zu müssen, egal wo und egal gegen wen. Sie glaubten, sie hätten einen Anspruch auf ein Leben in der Gewalt.“ (Wette 2011, S. 145 f.)

Die aus dem Krieg wiederkehrenden Soldaten fanden nur schwer oder gar nicht in die zivile Welt zurück. Viele verdingten sich in Freikorps und anderen männerbündischen Vereinen. Dies wiederum bewirkte eine starke Militarisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit, insbesondere aufseiten der Antidemokraten. In Kombination mit dem Bild des »Schanddiktates von Versailles« und der Dolchstoßlegende war dies eine der Grundlagen für die kommende NS-Diktatur.

Deserteure und »Wehrkraft­zersetzer« als Antipoden zum soldatischen Leitbild

Die Gleichsetzung von Männlichkeit und Soldat war ein zentrales Element der sich herausbildenden militärischen Ordnung. Nun wurde aber nicht der »Soldatenberuf« bzw. die Wehrdienstzeit an sich militärisch und in wachsendem Maße auch gesellschaftlich als förderlich angesehen, vielmehr wurde der dem Drill, der Disziplin und vor allem der Unterwerfung in einer hierarchischen Ordnung innewohnende Erziehungseffekt zunehmend positiv bewertet. Hinzu kam als strukturierendes Element die Kameradschaft, die mithelfen sollte, eigene Netzwerke bzw. Wohlfühlstationen zu haben und sich gegen die Nichtkameraden abzugrenzen; ihre Bedeutung wurde noch durch die heldische Überhöhung der »eigenen Kameradschaft« und die Abwertung des Gegners verschärft.

Das heroische Männlichkeitsbild als soldatisches Leitbild wurde zudem rassistisch aufgeladen; dies verstärkte sich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Kameradschaft galt als Vorbild für die »Volksgemeinschaft« und war Ausgangspunkt für das soldatische Freund/Feind-Denken: In der NS-Zeit – wie bereits in der Endphase der Weimarer Republik – wurde in der Gesellschaft die Idee einer »arischen Herrenrasse« und die Vernichtung des Judentums propagiert; insbesondere jüdische Männer wurden als vermeintliche »Schwächlinge« diskreditiert. Das Bild der »überlegenen Herrenrasse« sorgte für einen gewaltigen Konformitätsdruck unter den Soldaten und hilft, das Dogma vom »Kämpfen bis zum Untergang« zu verstehen.

Schon vorher genutzt, kam durch die NS-Ideologie verstärkt einem weiteren Begriff große Bedeutung zu: der »Manneszucht«. »Manneszucht« umschrieb den bedingungslosen militärischen Gehorsam und stand für alle Eigenschaften, die ein Wehrmachtssoldat zu zeigen hatte: Tapferkeit, Opferbereitschaft, Kollektivismus, Treue, Mut, Kameradschaft, Loyalität. Dem entgegen standen unsoldatische, ergo unmännliche, Tugenden, wie Individualismus, Aufmüpfigkeit, eigenes Denken und Handeln oder »Feigheit vor dem Feind«. »Manneszucht« war eine Zusammenfassung dessen, was das Militär von funktionierenden Soldaten erwartete. Die »Aufrechterhaltung der Manneszucht« war ein grundlegendes Merkmal der einschlägigen Militärjustiz der NS-Zeit. In der Fassung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 18.3.1943 hieß es etwa: „Personen, die dem Kriegsverfahren unterliegen, sind wegen strafbarer Handlungen gegen die Manneszucht oder das Gebot soldatischen Mutes unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren, mit lebenslangem Zuchthaus oder mit dem Tode zu bestrafen, wenn es die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherheit der Truppe erfordert.“

Dieser Straftatbestand entzog sich einer objektiven Bewertung – und er wurde im Nationalsozialismus exzessiv herangezogen. Die Begriffe »gesundes Volksempfinden« und »Manneszucht« waren rasch bei der Hand. So äußerte beispielsweise der Soldat Otto Rischbieter im Kreise seiner Mitsoldaten 1941, mit dem Angriff auf die Sowjetunion sei der Krieg verloren. Er wurde denunziert, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Robert Gauweiler, ein hannoverscher Kommunist, wurde 1944 wegen der Äußerung „Diesen Krieg verlieren wir“ von anderen Soldaten angezeigt, von einem Militärgericht verurteilt und hingerichtet. Die Urteilsbegründung – Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Manneszucht – zeigt, wie massiv die Angst vor der Missachtung gesetzter Geschlechterbilder und der mit diesen verknüpften militärischen Ordnung den Umgang der Nationalsozialisten mit Gehorsamsverweigerung bestimmte. (Alle Beispiele aus Buchterkirchen 2011.) Während des Zweiten Weltkrieges wurden ca. 30.000 Todesurteile wegen Gehorsamsverweigerung gefällt, davon ca. 20.000 wegen Desertion und ca. 5.000 bis 6.000 wegen des Vorwurfs der Wehrkraftzersetzung. Etwa 21.000 dieser Urteile wurden vollstreckt.3

Die Rolle von Männlichkeit in der Wehrmacht lässt sich am besten am Beispiel derer aufzeigen, denen die Männlichkeit abgesprochen wurde: »Drückeberger«, »Vaterlandsverräter«, »Schwächlinge«, »Feiglinge«, »Volksschädlinge« sind die Begriffe, die in der NS-Zeit für sie genutzt wurden. Gemeint sind Deserteure, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr mitmachen wollten oder konnten. Die Wortwahl zeigt, dass die Haltung der Deserteure im Nationalsozialismus als »entmannend« abgewertet wurde. Zudem wurden den Deserteuren als Teil des Urteils die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, ebenso die »Wehrwürdigkeit«. (Als »wehrunwürdig« wurden Personen bezeichnet, die zivil oder militärgesetzlich zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren oder als »Staatsfeinde« galten.) Die Verurteilten wurden also aus der Männergemeinschaft ausgestoßen, bevor sie hingerichtet wurden. Mit der Abwertung der »Wehrkraftzersetzer«, die der Kriegsdienstverweigerung, der Selbstverstümmelung oder einer »zersetzenden« Äußerung beschuldigt wurden, und der Deserteure wurde symbolisch die soldatische Ehre der Truppe wiederhergestellt und der Druck auf potentielle Abweichler erhöht. Geschlechternormen dienten hier als Handlungsinstrument. Mit dem bis zum Ende kämpfenden, »ehrenvollen«, »manneszüchtigen«‚ »sauberen«, »mannhaften« Soldaten lässt sich u.a. die Legende der »sauberen Wehrmacht« erklären.

In der gesellschaftlichen Pyramide standen Deserteure weit unten. Selbst »arische« Frauen, in der Hierarchiepyramide weit hinter den »arischen« Männern, galten als ehrenhafter. Der im Nationalsozialismus in Bezug auf nicht ausreichend vorzufindenden Gehorsam abfällig verwendete Begriff der »Weiblichkeit« war eine Metapher für das Andere, Nicht-Militärische. Über diese Abgrenzung des Anderen wurde des Weiteren die männlich-heterosexuelle Norm abgesichert.

Diese Norm fand ihren Ausdruck ebenfalls in der Justiz. Viele Kriegsgerichtsurteile suchten eine »Gemeinschädlichkeit« zu konstruieren und nachzuweisen. Menschenverachtende Bewertungen der Verurteilten mit Begriffen wie »Psychopath«, »asozial«, »minderwertig« und »Wehrmachtsschädling«‚ »Volksfeind«, »Zersetzer« finden sich häufig in Kriegsgerichtsakten.4 Maria Fritsche verweist darauf, dass Desertion u.a. durch den Wehrmachtsrichter und späteren (in der Bundesrepublik) Rektor der Universität Marburg, Erich Schwinge, außerdem pathologisiert und ein direkter Zusammenhang zwischen Schwachsinn, psychischer Labilität und Desertion hergestellt wurde. Desertion sei also nicht als Akt der Auflehnung, sondern als krankhafte unmännliche Reaktion bewertet worden (Fritsche 2015, S. 69).

Die Flucht aus der Armee erfolgte vielfach aus dem Heimaturlaub. Dort war Zeit für Reflexion, man war dem Irrsinn des Krieges für eine kurze Zeit entflohen, man bewegte sich nicht in den gewohnten Männer- und Kameradschaftsstrukturen.

Gesellschaftliche Reaktion

Die gesellschaftlichen Reaktionen während des Krieges ließen diese tief verinnerlichte Männlichkeitskonstruktion dauernd zum Vorschein kommen. In Gnadengesuchen und den wenigen vorhandenen Briefen ist viel von »Scham« die Rede. Auch heute noch kommt es bei Recherchen zu Deserteuren vor, dass man auf eine Mauer des Schweigens stößt oder darüber berichtet wird, dass nie über die betroffenen Angehörigen gesprochen wurde, sie tabu waren. Auch in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wurde das gesellschaftliche Tabu erst in den 1990er Jahren aufgebrochen, und es konnte eine Rehabilitierung der wegen Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht Hingerichteten erfolgen.

Die derzeit stattfindende Veränderung des Soldatenbildes in der Bundeswehr ist hingegen zwiegespalten. Die Öffnung der Armee für Frauen hat keine wesentlichen Veränderungen männlicher Normen gebracht, vielmehr wurden die Frauen in der Bundeswehr in die männlichen Strukturen integriert, sie wurden im sozialen Sinne »vermännlicht«. Gegenwärtig scheint es einige Veränderungen zu geben, die jedoch eher werbenden Ursprung haben: Hochqualifizierte IT-Expert*innen lassen sich eben nicht mit martialischer Kameradschaft gewinnen. Die Bundeswehr lässt sich nicht mit der Wehrmacht vergleichen, Strukturen von hegemonialer Männlichkeit, Sozialisation auf Basis von Befehl und Gehorsam und die daraus folgenden Männlichkeitsideale sind aber bis heute Kern des Selbstverständnisses. Nicht nur die in letzter Zeit regelmäßig auftauchenden Skandale um Initiationsriten u.ä. sind dafür Indikatoren.

Erkenntnisse für die Friedensarbeit

Eine grundlegende Erkenntnis aus dem bislang Gesagten ist die untrennbare Verwobenheit von Militär und Männlichkeit. Das Konstrukt »Männlichkeit« ist konstituierend für das Militär. Daraus folgt, dass es bei der Friedensarbeit (auch) darum gehen muss, die Männlichkeitsentwürfe der Gesellschaft zu ändern. »Geschlecht« muss pluraler und individueller definiert werden, und vorgefertigte Rollen und Verhaltensmuster sind in Frage zu stellen. Dirck Linck schreibt in Bezug auf den Vietnam-Krieg:

„Der heldenhafte Körper geriet nicht zufällig in den Blick; er war den Jugendlichen extrem präsent als massenmedial zirkulierender Körper, der in Vietnam tötete und aus Vietnam als fetischisierter Leichnam zurückkehrte. Als vollkommener Ehemann. Er war Teil der inneren Codierungen der Jugendlichen, deren Widersprüchlichkeit neue Identifikationen hervortrieb. Wer jetzt noch auf der Suche nach Identität war, orientierte sich an »Weiblichkeit« und verweigerte den Kriegsdienst.“ (Linck 2016, S. 79).

Der starke Fokus auf der soldatischen Männlichkeit ist eine Achillesferse des Militärischen. Mit ihrer Hinterfragung, Lächerlichmachung und dem Aufzeigen der Absurdität dieser soldatischen Männlichkeitskonstrukte lässt sich militärisches Denken und Handeln in Frage stellen. Nicht ohne Grund wurden die vielen Skandale über entwürdigende Rituale jahrelang nicht aufgedeckt – sie gehörten scheinbar dazu. Erst die Infragestellung dieser Männlichkeitsnormen aus der Zivilgesellschaft heraus führte zur Aufklärung der ritualisierten Vorkommnisse.

Aus diesem Widerspruch zwischen dem eigenen Empfinden und der geforderten Unterordnung unter konservative Rollenbilder lassen sich Ansätze emanzipatorischer Friedensarbeit ableiten. Dazu gehört es für Männer, ein eigenes Verständnis von Männlichkeit und Geschlecht zu entwickeln. Hier könnte die Auseinandersetzung mit dem Deserteursthema weiterhelfen. Positive Bezugspunkte zu Menschen, die sich dem Töten verweigern, schaffen, ohne sie zu Helden zu überhöhen, alternative Vorbilder. Der Deserteur Willi Rehse war beispielsweise ein typischer Jugendlicher, der gerne Grenzen auslotete (Verspätungen beim Zapfenstreich, Besuch der Freundin in der Kaserne …), was zu einer Eskalation der Strafen führte, an deren Ende seine Hinrichtung stand.5 Seine Geschichte enthält für heutige Heranwachsende viele Berührungspunkte zur eigenen Biographie. Rehse taugt nicht als Held im klassischen Sinne, zeigt aber plastisch die Absurdität des Militärs auf. Hier kann Erinnerungsarbeit einen wichtigen Baustein zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis leisten. Durch die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht lassen sich Erinnerungsarbeit und Lernorte neu aufstellen und besetzen und damit auch Gegenstrategien im Sinne eines »Nie wieder!« entwickeln. Ebenfalls zu überlegen wäre, wie mit diesem Fokus auch das öffentliche Gedenken anders gestaltet werden könnte.

Anmerkungen

1) Für die bürgerlichen Privilegierten kamen zunehmend Möglichkeiten auf, ihre Kinder vom Wehrdienst freizukaufen. Die Führungspositionen im preußischen Militär waren hingegen eine Domäne des Adels (in Frankreich des privilegierten Bürgertums). Vgl. ausführlich Hartmann 2011.

2) Ausführlich zur Konstruktion von Männlichkeit im Militär siehe Frevert 2001.

3) Dazu kommen noch 4.000-8.000 Hinrichtungen durch Standgerichte während der letzten Kriegstage.

4) Plastisches Beispiel dafür ist der Kanonier Oppermann in Buchterkirchen 2011, S. 90 ff.

5) Die Geschichte Willi Rehses ist noch nicht aufgeschrieben. Das wird 2019 in einer schulpädagogischen Arbeit erfolgen.

Literatur

Buchterkirchen, R.: (2011): „… und wenn sie mich an die Wand stellen“ – Desertion, Wehrkraftzersetzung und »Kriegsverrat« von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945. Neustadt: Edition Region und Geschichte.

Frevert, U. (2001): Die kasernierte Nation. München: C.H. Beck.

Fritsche, M. (2004): Entziehungen – Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht. Wien: bohlau.

Fritsche, M. (2015): Männlichkeit als Forschungskategorie. In: Bade, C.; Skowronski, L.; Viebig, M.: NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Dresden: VR unipress, S. 61-77.

Hartmann, H. (2011): Der Volkskörper bei der Musterung – Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein Verlag.

Linck, D. (2016): Creatures – Aufsätze zu Homosexualität und Literatur. Hamburg: männerschwarm.

Wette, W. (2011): Militarismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Ralf Buchterkirchen, Wirtschaftsinformatiker aus Hannover, ist Bundessprecher*in der DFG-VK und forscht ehrenamtlich zu Deserteuren, Wehrkraftzersetzern und wegen Kriegsverrat verurteilten Soldaten. Er betreibt das Blog verqueert.de, auf dem er zu queeren und antimilitaristischen Themen schreibt.

Weg zur Kirche des Gerechten Friedens

Weg zur Kirche des Gerechten Friedens

Eine badische Initiative

von Theodor Ziegler

Die Badische Landeskirche startete im Frühjahr 2012 einen Diskussionsprozess zu einer Neuorientierung der Friedensethik. Ausgangspunkt war eine Eingabe des Kirchenbezirks Breisgau-Hochschwarzwald im Jahr 2011, der eine Neuorientierung der Friedensethik beantragt hatte. Die Mitglieder des »Arbeitskreises Frieden« forderten darin die Abkehr von der militärischen Konfliktregelung und ein Bekenntnis zur Gewaltfreiheit als einziger Option in der Landeskirche. Der Autor beschreibt die Hintergründe dieser Initiative und wie sich sie inzwischen über Baden hinaus entwickelt hat.

Für die frühe Christenheit waren der Gewaltverzicht und damit die Ablehnung militärischer Gewalt weitgehend eine Selbstverständlichkeit. Doch im Gefolge der konstantinischen Wende (ab dem Jahr 312), in der das Christentum zur römischen Staatsreligion wurde, entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen Kirche und Militär. Das ist in Deutschland bis heute auf jedem Panzer, jedem Bomber und jeder Rakete der Bundeswehr in Form des »Tatzenkreuzes« (dem Hoheitszeichen des deutschen Militärs) oder an militärischen Verdienstkreuzen sichtbar sowie durch die kirchlich verantwortete und staatlich bezahlte Militärseelsorge institutionalisiert. Die großen Volkskirchen trugen unzählige Kriege ihrer jeweiligen Staaten gegeneinander mit; auch die protestantischen Kirchen protestierten in ihrer 500-jährigen Geschichte gegen keinen einzigen Krieg. Die nationale Bindung war wesentlich bedeutsamer als die religiöse.

Diejenigen Christ*innen, die zu Zeiten der Reformation in der Nachfolge Jesu auf militärische Gewalt und Todesstrafe verzichten wollten, wurden von den Reformatoren in Artikel 16 des Augsburger Bekenntnisses (Confessio Augustana)1 von 1530 verdammt, was Verfolgung, Folter und Hinrichtung nach sich zog. Bis heute stehen diese unsäglichen, evangeliumswidrigen Auffassungen unwiderrufen und kaum kritisch kommentiert im Anhang der evangelischen Kirchengesangbücher und bilden die für alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen gültige Bekenntnisgrundlage. Als eine Radler*innengruppe des Internationalen Versöhnungsbundes im vergangenen September den Artikel 16 des Confessio Augustana in einem Postpaket mit der Angabe »Annahme verweigert« von Augsburg nach Wittenberg überbrachte, wurde dies sowohl von der Reformationsbotschafterin Margot Käsmann wie auch von der mitteldeutschen Landesbischöfin Ilse Junkermann nur mit Schweigen quittiert – obwohl beide frühzeitig angefragt waren und für eine eher kritische Haltung bekannt sind. Ein Lichtblick ist es daher, dass der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Bremer leitende Geistliche Pastor Renke Brahms, inzwischen dringenden Handlungsbedarf signalisierte.2

In ihrer letzten Friedensdenkschrift von 20073 stellte die EKD fest, dass es keine gerechten Kriege geben könne, und bekannte sich zum gerechten Frieden und zur vorrangigen Option der Gewaltfreiheit, was jedoch der militärischen, wenn auch nachrangigen, Option weiterhin die Existenzberechtigung und kirchliche Billigung verlieh und an der engen Kooperation zwischen Kirche und Militär nicht das Geringste änderte. Ein im Afghanistan-Einsatz befindlicher Militärpfarrer bezeichnete die Bundeswehrsoldaten gar als „Krieger des Lichts und seinen dortigen militärseelsorgerlichen Versammlungsraum als „Gottesburg“.4 Und der vormalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider zelebrierte im Mai 2011 in der Abflughalle des Flughafens Köln-Wahn vor einer Maschine der Bundesluftwaffe einen ZDF-Fernsehgottesdienst.5

Eingabe

Diese Widersprüchlichkeiten, aber auch die damalige Jahreslosung „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Römerbrief des Paulus, Kap. 12, Vers 21), veranlassten im Jahr 2011 den Friedenarbeitskreis im Kirchenbezirk Breisgau-Hochschwarzwald, mit einer Eingabe6 an die badische Landessynode eine am Vorbild und Evangelium Jesu Christi orientierte Neuausrichtung kirchlicher Friedensethik anzuregen: So wirke Gewaltfreiheit nur dann, wenn sie die einzige Option sei, ohne eine militärische Keule in der Hinterhand. Auch sei die Vorrangigkeit der gewaltfreien Option kaum gegeben, wenn die Bundesregierung für den Zivilen Friedensdienst gerade ein Promille der finanziellen Mittel ausgebe, die für die eigentlich nachrangige Option militärischer Gewalt fraglos zur Verfügung stünden. Die EKD verkenne die Eigendynamik des – an seiner Unersetzlichkeit arbeitenden – militärisch-industriellen Komplexes und schweige zu der sich daraus ergebenden führenden Rolle Deutschlands als Rüstungsexporteur. Hingegen wäre das Eintreten gegen wie auch immer begründete Auslandseinsätze der Bundeswehr und deren Ablösung durch die Entwicklung nichtmilitärischer Konfliktregelungsmechanismen im internationalen Bereich unmittelbarer Ausdruck der Nachfolge des die Gewaltlosen und die Friedensstifter seligpreisenden Jesus Christus und damit eine Form politischer Diakonie. Weil Gewaltfreiheit jedoch nicht erzwungen werden könne, sondern von der Überzeugung und Bereitschaft der sie praktizierenden Menschen abhänge, sei eine breite Diskussion in Gemeinden und Kirchenbezirken erforderlich. Nicht zuletzt müsse sich auch die EKD als Gesprächspartnerin der Bundesregierung auf diese Diskussion einlassen.

Friedensethische Diskussion in Baden

Die badische Landessynode beauftragte den Evangelischen Oberkirchenrat mit dem »Entwurf eines Diskussionspapiers zur Friedensethik«. Darin wurde die Eingabe auf eine noch breitere argumentative Basis gestellt. Die Militärseelsorge war bewusst nicht beteiligt, jedoch als Erste um eine Stellungnahme7 gebeten worden, die anschließend mit dem Diskussionspapier den Kirchenbezirken zuging. Diese konnten nun Stellung beziehen, was 23 von 25 Bezirkssynoden auch taten. Aufgrund dieser Befassungen und nach einem friedensethischen Studientag traf die Landessynode nach einem zweijährigen Konsultationsprozess am 24. Oktober 2013 einen bemerkenswerten Beschluss: Ausgehend von der Selbstkritik, dem Friedensthema bislang zu wenig Beachtung geschenkt zu haben, sowie der Erkenntnis des Zusammenhangs unseres Konsumverhaltens mit dem weltweiten Unfrieden, wolle man den Weg zur »Kirche des Gerechten Friedens« einschlagen. Für die erste Etappe wurden zwölf Punkte benannt, darunter friedensethische Gespräche mit Politiker*innen, ein Forschungsauftrag zur Frage einer internationalen Polizei anstelle von Militär, das Eintreten für sofortigen Rüstungsexportstopp in Krisengebiete und mittelfristig deren gänzliche Einstellung sowie der Einsatz für mehr soziale und Klimagerechtigkeit. Auch wenn unter den Synodalen eine pazifistische Position, wie die der Friedenskirchen, vermutlich noch nicht mehrheitsfähig gewesen sein dürfte, so wurde doch die Erarbeitung eines Entwurfs für ein Ausstiegsszenario aus der militärischen Friedenssicherung, gleich dem schon vom Bundestag beschlossenen Ausstieg aus der atomaren Energiegewinnung, in Auftrag gegeben.

Damit parallel dazu auch auf der EKD-Ebene die friedensethische Position weiterentwickelt wird, bat das badische Forum Friedensethik Mitchrist*innen aller EKD-Gliedkirchen um Unterstützung des »Karlsruher Aufrufs 2015/16 an die EKD«. Die beiden Kernsätze lauteten: „Die EKD braucht ein klares friedensethisches Leitbild zur Überwindung des Krieges.“ Sie „möge sich für einen friedenspolitischen Wandel von der gegenwärtigen, auf militärischer Stärke und Einsatzbereitschaft basierenden Sicherheitslogik hin zu einer friedenslogischen Politik, die auf gewaltfreie Konfliktbearbeitung und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung setzt, engagieren. Dieser von rund 3.000 Personen unterstützte Antrag war ein wichtiger Impuls für die Entscheidung des EKD-Synodalpräsidiums, nach einer dieses Jahr stattfindenden vorbereitenden Konsultation die Synodaltagung 2019 dem Themenschwerpunkt Frieden zu widmen.

Projektgruppe Militärausstiegsszenario

Die thematisch weitestgehende Aufgabenstellung des badischen Synodalbeschlusses war der Entwurf eines Militärausstiegsszenarios. Eine interdisziplinäre, Landeskirchen und Konfessionen übergreifende Arbeitsgruppe wurde damit betraut. Wie in der Szenarienforschung üblich, wurde zunächst ein Trendszenario als Fortschreibung der gegenwärtigen militärischen Sicherheitspolitik formuliert. Daneben gestellt wurde ein Negativszenario, das die mögliche Eskalation regionaler Konflikte zu großen Kriegen bis hin zu Atomkriegen oder einem Atomkrieg aus Versehen beinhaltet. Das Positivszenario hingegen zeigt die Entwicklung auf, die in Folge einer friedenslogisch orientierten Außen- und Sicherheitspolitik bis 2030/2040 möglich werden könnte.

In einer ersten Reflexionsrunde wurde das Szenario mit Expert*innen aus Friedensbewegung und -forschung, Militär, Kirche und Politikwissenschaft diskutiert, die einen solchen Zukunftsentwurf als bislang einzigartig und notwendig erachteten. Ihre Anregungen wurden in die Überarbeitung des Szenarios einbezogen, welches am 28. April 2018 auf einem friedensethischen Studientag in Karlsruhe den Synodalen und der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden soll. Entscheidend wird dabei sein, die Weiterarbeit professionell zu institutionalisieren, um den Ansatz friedenslogischer Politik nachhaltig in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einzubringen. Dabei könnte eine Kooperation mit Organisationen wie Brot für die Welt und Misereor, die schon lange an den Wurzeln des Unfriedens arbeiten und zusammen mit verschiedenen Friedensorganisationen, wie dem Forum Ziviler Friedensdienst, im Mai 2017 das wichtige Hintergrundpapier »Deutschlands Verantwortung in der Welt? Friedensförderung!« erstellten,8 von großer Bedeutung sein.

War das friedensethische Diskussionspapier von 2011 nur bis zu den Bezirkssynoden gereicht worden, so soll das Militärausstiegsszenario unter dem Titel »Sicherheit neu denken – Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik. Ein Szenario bis zum Jahr 2040« auch in den Kirchengemeinden vorgestellt und diskutiert werden.

Pilgerfahrt nach Büchel

Das Bemühen um konstruktive Alternativen entbindet jedoch nicht davon, zu den akuten Gefahren der militärischen Friedenssicherung kritisch Stellung zu beziehen, wie umgekehrt die Militärkritik der Glaubwürdigkeit wegen immer mit dem Aufzeigen von Alternativen verbunden sein sollte. Deshalb initiierte das badische Forum Friedensethik schon mehrfach Fahrten zu Aktionstagen am Atombombenstandort Büchel in der Eifel. Auch für den ersten Jahrestag der Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrages durch 122 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen9 lädt das badische Forum Friedensethik, dieses Mal zusammen mit Friedensinitiativen aus sieben Landeskirchen, für den 7. Juli 2018 zu einer Pilgerfahrt möglichst vieler Gemeindegruppen und kirchenleitenden Persönlichkeiten nach Büchel ein. Mit einem Gottesdienst am Zaun des Fliegerhorstes, Ansprachen und einem Kulturprogramm soll das »Nein« zur Friedenssicherung mit Massenvernichtungswaffen bekundet und zu einer zivilen Friedenspolitik ermutigt werden (nähere Informationen beim Autor).

Anmerkungen

1) Text siehe unter Ökum. Initiative zur Abschaffung/Reform der Militärseelsorge: Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana), Artikel 16; militaerseelsorge-abschaffen.de.

2) epd (2017): Friedensbeauftragter – »Augsburger Bekenntnis« kritisch diskutieren. Chrismon, 23.6.2017.

3) EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für den gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

4) Vgl. ARD-Dokumentation von Tilman Jens: Töten für den Frieden. 1.12.2010.

5) Freiheit am Hindukusch verteidigt? Mit dem Ratsvorsitzenden der EKD, Präses Niklaus Schneider. zdf.de – Gesellschaft – Gottesdienste, 15.5.2011.

6) Evangelische Landeskirche in Baden: Der friedensethische Prozess in Baden ab 2011; ekiba.de. Hier stehen sämtliche im Artikel erwähnte Dokumente des friedensethischen Diskussionsprozesses zum Download bereit.

7) Das zuständige Militärdekanat München begrüßte die mit dem Diskussionspapier verbundene Initiative, insbesondere die friedenspädagogischen Aspekte. Mit Rückgriff auf die These von der „noch nicht erlöste Welt“ (5. These der Barmer Theologischen Erklärung) wird jedoch militärische Gewalt als ultima ratio für notwendig erachtet.

8) Brot für die Welt u.a. (2017): Deutschlands Verantwortung in der Welt? Friedensförderung! Hintergrundpapier vom Mai 2017; ziviler-friedensdienst.org.

9) Zu dem Vertrag siehe Bernd Hahnfeld (2018): Völkerrecht versus Atomwaffen – Der Atomwaffenverbotsvertrag. S. 47 dieser W&F-Ausgabe.

Theodor Ziegler, Religionspädagoge M.A., ist Leitungskreismitglied im Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden; zieglertheodor@wanadoo.fr.

Friedenslogik weiter gedacht

Friedenslogik weiter gedacht

von Christiane Lammers

Im W&F-Dossier 75, »Friedenslogik kontra Sicherheitslogik«, erschienen als Beilage zu Heft 2-2014, veröffentlichte W&F den Beitrag »Friedenslogik und friedenslogische Politik« von Hanne-Margret Birckenbach. Das Dossier resultierte im Wesentlichen aus Vorträgen, die bei der Jahrestagung 2012 der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung gehalten worden waren. In einem Projekt der Plattform wird nun weiter über diese Friedenslogik nachgedacht.

Schon seit 2010 liegt der Begriff »Friedenslogik« im Kontext der Friedensarbeit in der Luft. Menschen und Organisationen, die in der entwicklungspolitischen und in der Menschenrechtsarbeit, in der Friedensbewegung oder in der konkreten Friedensarbeit in Konfliktgebieten aktiv sind, wurden damit konfrontiert, dass ihre Arbeit von staatlichen Entscheidungsträger*innen zunehmend mit sicherheitspolitischen Zielen und Interessen verbunden wurde. In der Politik spricht man inzwischen wie selbstverständlich von der »vernetzten Sicherheit«.

Friedenslogik:
Wie der Begriff entstand

Bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickelte sich darüber Unmut, weil klar ist, dass hier eine Vereinnahmung stattfindet, die sie aus guten Gründen nicht mitvollziehen wollen, denn Friedensarbeit und -politik gehen nicht von beliebigen Prämissen aus. Da stand plötzlich die »Friedenslogik« im Raum. Und wie es mit einer Wortgenese manchmal so ist: Eine Urheberschaft lässt sich für diesen Kunstbegriff nicht mehr festmachen, aber er wird zunehmend genutzt. Insofern zeichnen sich drei wichtige Funktionen des Begriffs »Friedenslogik« ab: Er stiftet Identität unter denjenigen, die ihre Arbeit explizit als Friedensarbeit verstehen; er bestimmt – Politik miteinbeziehend –, welchen Prinzipien ein gewaltpräventives Handeln folgt; damit kann er auch eine dritte Funktion erfüllen, nämlich aus Indifferenz herausführen und zur analytischen Durchdringung von Entscheidungen und Handeln im Sinne des »do no harm«-Ansatzes beitragen.

Handlungsdimensionen und Handlungsprinzipien

Den Kern der Friedenslogik bilden fünf Prinzipien, die mit fünf Handlungsdimensionen korrespondieren, zu denen sich jedwede politische Friedensarbeit verhält. Diese fünf Prinzipien wurzeln in Friedens- und Konflikttheorien ebenso wie in aus der Praxis gewonnenen Erkenntnissen. Die Handlungsdimensionen, um die es geht, lassen sich gut mit fünf Fragen beschreiben:

1. Was ist das Problem?

2. Wie ist das Problem entstanden?

3. Wie wird das Problem bearbeitet?

4. Wodurch wird eigenes Handeln gerechtfertigt?

5. Wie wird auf Scheitern und Misserfolg reagiert?

Bei Beantwortung dieser Fragen auf einer grundsätzlichen Ebene ergeben sich aus Perspektive der Friedenslogik folgende Handlungsprinzipien:

1. Gewalt soll verhindert bzw. gemindert werden.

2. Die für die Gewalt ursächlichen komplexen Konflikte werden mit einem besonderen Blick auf die eigene Rolle in dem Konflikt analysiert.

3. Dialog- und prozessorientiert wird eine kooperative Problemlösung angestrebt.

4. Legitim ist das Handeln durch den Rückbezug auf global gültige Normen.

5. Eine offene Reflexion über Erfolg und Misserfolg berücksichtigt auch mögliche gewaltfreie Alternativen.

Sicherheitslogik vs. Friedenslogik

Der friedenslogische Ansatz wird deutlicher in einer Gegenüberstellung mit den Mechanismen, die das auf Sicherheit fokussierte Handeln bestimmen, insbesondere das auf militärischem Instrumentarium fußende. In einer sicherheitspolitischen Betrachtung ist das Problem nicht die Gewalt, die Menschen erleiden, sondern das Problem sind Bedrohungen des eigenen abgegrenzten »Wir«, die durch »Andere« erzeugt werden. Statt einer Konfliktanalyse werden Schuld-Zuschreibungen vorgenommen, die die eigene Verantwortung für das ursächliche Aufkommen der Unsicherheit außen vor lassen. Die Bearbeitung des Problems erfolgt einseitig im Sinne des Selbstschutzes. Das Handlungsin­strumentarium zielt auf Abschreckung, Drohung und nötigenfalls auch Gewalt nutzende Elimination. Die Legitimation für dieses Handeln wird nicht aus den global gültigen Menschenrechten gezogen, sondern aus den entsprechend hoch eingestuften eigenen Interessen. Bei Misserfolg erwachsen aus der Reflexion über die Wirkung des eigenen Handelns keine Selbstkritik und keine Suche nach echten Alternativen, sondern es wird eher eine Verstärkung des Mitteleinsatzes, d.h. eine Eskalation, ins Auge gefasst. Alternativ führt das eigene Scheitern zu einer Abkehr von jedwedem Engagement in dem Konflikt.

Ein Blick in das »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« von 2016 lässt erkennen, dass die deutsche Sicherheitspolitik genau diesen Prämissen folgt. Ein Blick auf den Umgang mit derzeitigen Herausforderungen, z.B. den Umgang mit der Türkei, mit Nordkorea, mit Israel-Palästina und nicht zuletzt mit den flüchtenden Menschen, zeigt auch, wie bestimmend die Sicherheitslogik für die so genannte Realpolitik ist.

Frieden – Grundprinzip der Agenda für nachhaltige Entwicklung

In der »Agenda 2030«, am 25. September 2015 beim UN-Nachhaltigkeitsgipfel der Staats- und Regierungschefs einstimmig verabschiedet und von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen als ein zukunftsweisendes Grundlagendokument anerkannt, ist Frieden weder ein Zustand noch der Gegenbegriff zu Krieg. Vielmehr wird Frieden neben den Handlungsfeldern Mensch, Planet, Wohlstand und Partnerschaft ausdrücklich als handlungsleitendes Prinzip für nachhaltige Entwicklung anerkannt. Mit dieser Verankerung als Prinzip soll Frieden tragende Bedeutung für alle Entscheidungen und Vorgehensweisen gewinnen: lokal, national, international, bis hin zu global. Die »Agenda 2030« folgt, wenn man so will, einem friedenslogischen Ansatz: Friedensarbeit und -politik ist nicht reduzierbar auf zwischenstaatliche, territoriale Konflikte und ist damit auch nicht allein Sache der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern Frieden betrifft alle Politikfelder. Gesellschaftliche Akteure sind ebenso gefragt wie politische Akteure, ohne jedoch den jeweiligen Handlungsradius und die Verantwortlichkeiten außer Acht zu lassen.

Rohstoffressourcen –
ein Beispiel

Am Beispiel Rohstoffressourcen kann dies, hier in aller Kürze, veranschaulicht werden. In sicherheitspolitischen Dokumenten, z.B. dem »Weißbuch«, wird das Stichwort »Rohstoffe« ausschließlich im Kontext der Sicherung der Ressourcen zugunsten der eigenen wirtschaftlichen Interessen genannt. Das »Weißbuch« spricht davon, dass „angesichts der Vielzahl potenzieller Ursachen und Angriffsziele […] Deutschland mit seinen Verbündeten und Partnern flexibel Elemente seines außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums einsetzen [muss], um Störungen oder Blockaden vorzubeugen oder diese zu beseitigen“ (S. 41). Hierzu gehört beispielsweise die Operation Atalanta mit bis zu 600 deutschen Soldaten am Horn von Afrika. Als neues »Element« hervorgehoben werden die so genannten Ertüchtigungsinitiativen, die auf Beratung, Ausbildung und Ausrüstung (einhergehend mit Rüstungsexport) der staatlichen Sicherheitsorgane abheben.

Friedenslogisch betrachtet stellt sich das Beispiel Rohstoffressourcen vollkommen anders dar: Mit der Ausbeutung und Verwertung von Rohstoffen ist vielfache Gewalt verbunden. In rohstoffreichen Ländern gibt es häufig gewaltförmige Konflikte über den Besitz und die Kontrolle von Bergwerken, Infrastruktur und Handelswegen. Die Arbeiter*innen werden menschenunwürdig behandelt, ihre Rechte werden missachtet. Zudem sind Staaten, deren Einnahmen zu einem großen Teil aus dem Verkauf von Rohstoffen stammen, oft autoritär regiert, und Machthaber speisen ihren Machterhalt mit den Rohstoffgewinnen. Die Umweltzerstörung durch die rücksichtslose Ausbeutung von Rohstoffen zerstört die Lebensgrundlagen vieler Menschen und nährt damit auch zukünftige gewaltsame Konflikte.

Wir sind auf vielfältige Weise an diesen Gewaltkonflikten beteiligt: Unsere Exportwirtschaft hat eine hohe Nachfrage nach Rohstoffen; unsere Banken finanzieren auch den Rohstoffmarkt; als mächtiger Staat gestalten wir die Rahmenbedingungen der globalen Wirtschaft mit; auch als Verbraucher*innen profitieren wir von den Zuständen. Deshalb können wir und unsere Politik zur Verminderung von Gewalt beitragen: wenn unsere Unternehmen und Banken stärker auf die Einhaltung der Menschenrechte bei ihren Zulieferern bzw. Kreditnehmern achten und dafür auf einen Teil der möglichen Rendite verzichten; wenn unser Staat Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, die Lieferketten menschenrechtskonform auszurichten; oder wenn die massiven Umweltkosten nicht auf die Produktionsländer und deren Gesellschaften abgewälzt werden, sondern die Unternehmen diese tragen müssen, letztlich also auch wir als Verbraucher*innen. Die Umsetzung einer menschenfreundlichen und umweltschonenden Wirtschaftsweise bei uns würde auch gewaltsamen Konflikten woanders vorbeugen.

Im Sinne der Friedenslogik wäre zu überprüfen, ob diese beispielhaft angeführten kleinen Schritte gewaltmindernd wirken. Sicherlich gibt es noch weitere Prozesse, die von uns angestoßen bzw. die mit unserem eigenen Handeln, sei es als Bürger*in oder als Staat, beeinflusst werden können. Für ein kohärentes »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« – so der Titel der im Juni 2017 von der Bundesregierung verabschiedeten Leitlinien – bedürfte es sowohl einer Art Friedensverträglichkeitsprüfung als auch eines Umsetzungsplans für klar definierte strategische Ziele, z.B. in Bezug auf das obige Beispiel Rohstoffe.

»Friedenslogik weiterdenken – Dialoge zur Friedensarbeit und Politik«

Innerhalb des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts »Friedenslogik weiterdenken« der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung wurde im noch laufenden Projektjahr politisches und gesellschaftliches Handeln darauf hin befragt, wie sich die Prinzipien der Friedenslogik umsetzen lassen bzw. bereits umsetzen ließen. Veranstaltungen und Workshops widmeten sich Themen wie den zivilen Lösungsmöglichkeiten für Syrien‚ dem Umgang mit Extremist*innen bzw. Gewaltbejahenden, den Ansprüchen an eine Friedensethik der Kirchen, der Kompatibilität mit der Menschenrechtsarbeit, der Übertragbarkeit auf andere Kulturräume und der Anwendbarkeit auf soziale Konflikte. Im Herbst finden weitere Veranstaltungen statt, u.a. zur Friedenskultur, zum Leben ohne Rüstung und zur Friedensbildung.

Im nächsten Jahr soll das Projekt fortgesetzt werden, um die Einzelergebnisse zu bündeln und als Wissensressource zu nutzen, um politische Prozesse – wie die Umsetzung der »Agenda 2030« und der Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« – kritisch zu begleiten, um das Projekt in den Theorie-Praxis-Diskurs der Friedens- und Konfliktforschung einzubringen und auch, um eine Multiplikator*innenschulung zu entwickeln, damit die Friedenslogik nach Ende des Projekts weiter ein Thema bleibt. Die Projektbeteiligten hoffen, dass das Auswärtige Amt der weiteren Projektförderung zustimmt.

Christiane Lammers ist Geschäftsführerin der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Projektleiterin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin der FernUniversität in Hagen. Kontakt und weitere Informationen: konfliktbearbeitung.net/friedenslogik.

Zivilgesellschaft und Konfliktlösung

Zivilgesellschaft und Konfliktlösung

Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie

von Cécile Druey

Bewaffnete Konflikte, vor allem diejenigen, die sich über eine lange Zeitperiode erstrecken, werden nicht selten mit dem dramatisch klingenden englischen Beinamen »protracted« oder »verschleppt« beschrieben. Ihnen beizukommen ist besonders schwierig. So wurde in der Friedensarbeit der vergangenen Jahrzehnte ein breites Spektrum an Instrumenten entwickelt, die nachhaltige Rahmenbedingungen dafür schaffen wollen, dass die Gewalt nicht wieder aufflammt. Innerhalb des riesigen Feldes der Friedensförderung konzentriert dieser Beitrag sich auf Mediations- und Dialogprozesse und auf die Rolle der Zivilgesellschaft in diesen – was natürlich nicht heißt, dass dies die einzigen Werkzeuge sind, die zum Aufbau des Friedens benötigt werden.

Eine nützliche Verständnishilfe für den Beitrag von Dialog und Mediation zum Frieden ist das Track- oder Schienen-Modell. Dieses wurde Anfang der 1980er Jahre vom US-Diplomaten Joseph Montville entwickelt und unterscheidet zunächst zwei verschiedene Ebenen oder »Tracks« von Friedensinterventionen: Offizielle bzw. staatlich getriebene Friedensbemühungen finden auf Track 1 statt; die inoffiziellen, nicht-staatlichen bewegen sich auf Track 2 (Montville and Davidson 1981). In den folgenden Jahrzehnten wurde Montvilles Modell um weitere Ebenen der Friedensförderung ergänzt, insbesondere um Track 3, der öfters auch als »Volksdiplomatie« bezeichnet wird.

Ziele, Akteure und methodische Ansätze der verschiedenen Tracks in Mediations- und Dialoginitiativen unterscheiden sich stark. Dennoch sollten sie nicht als Gegensätze zueinander gesehen werden, sondern als einander ergänzend.

Interventionen auf Track 1 sind ein Werkzeug der klassischen Friedensvermittlung, eine „Technik des staatlichen Handelns, [die] im Wesentlichen ein Prozess ist, bei dem die Kommunikation von einer Regierung direkt an den Entscheidungsapparat eines anderen gerichtet ist“ (Said and Lerche 1995, S. 69). Auf dieser Ebene ist die Zivilgesellschaft meist nicht vertreten. Vielmehr werden hier offizielle Vertreter*innen der Konfliktparteien an einen Tisch gebracht, wobei die Treffen in der Regel von externen Mediator*innen einberufen werden, die selber wiederum offiziell handeln, d.h. als Repräsentant*innen eines Staates oder einer multilateralen Organisation. Ziel dieser offiziellen Prozesse ist es, Gewalt zu stoppen und eine Einigung zu spezifischen, für die Konfliktparteien wichtigen Themen zu erzielen, beispielsweise zu Territorialfragen. Idealerweise mündet eine solche Vermittlung in einer offiziellen, für die Parteien rechtlich verbindlichen Vereinbarung.

Offizielle Friedensgespräche, besonders wenn sie ins Stocken geraten, werden nicht selten ergänzt durch informelle, vertrauliche Verhandlungen zwischen einflussreichen Vertreter*innen der Konfliktparteien, die jedoch nicht zwingend selber an offiziellen Gesprächen teilnehmen. Hier kann auch die Zivilgesellschaft vertreten sein. Das Ziel solcher Track-1,5-Aktivitäten ist es, Vertrauen aufzubauen, Antworten auf knifflige Fragen zu finden und Möglichkeiten für Kompromisse auszuloten. Die Verhandlungen sind jedoch weder offiziell noch rechtlich bindend, weshalb die Teilnehmenden auch weniger unter Druck geraten.

Vermittlungsinitiativen auf Track 2 finden parallel zu Regierungsgesprächen statt und wurden von den Vordenkern des Konzepts als inoffizielle, informelle Interaktion zwischen Mitgliedern von Gegnergruppen oder Nationen“ definiert, die beabsichtigen, „Strategien zu entwickeln, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und menschliche und materielle Ressourcen in einer Weise zu organisieren, die einer Beilegung des Konflikts förderlich ist“ (Montville 1990, S. 162). Initiativen auf Track 2 bringen zivilgesellschaftliche Führungspersönlichkeiten aus den Konfliktparteien zusammen, wie ehemalige Politiker*innen, religiöse Führungspersönlichkeiten, Künstler*innen, Gelehrte etc. (Herbert Kelman, zitiert in Chigas 2003, S. 5). Vermittlungsprozesse auf Track 2, wie auch auf Track 3, ersetzen die formelleren Kontakte auf Track 1 nicht, sondern ergänzen diese.

Das Konzept der Track 3- oder Volksdiplomatie ist nach und nach als analytisches Konzept entstanden, nachdem die Zivilgesellschaft allmählich als wichtiges, eigenständiges Element der Friedens­förderung in der Forschung Beachtung fand (Paffenholz 2010). Diana Chigas (2003) beschreibt Volks- oder Bürgerdiplomatie als „inoffizielle Bemühungen von Drittparteien und Leuten aus allen Lebensbereichen und -sektoren, um nach Wegen zu suchen, wie Frieden in gewaltsamen Konflikten gefördert werden kann“. Track 3-Aktivitäten werden nicht immer von solchen auf Track 2 unterschieden. Jedoch ist dies in verschiedener Hinsicht sinnvoll.

Erstens unterscheiden sie sich aufgrund ihrer politischen Autorenschaft und der Machtverhältnisse. Track 3-Initiativen sind »von unten« (bottom-up) organisiert, wohingegen Dialoge unter Eliten (Track 2) oft regierungsnah und »von oben« verordnet sind (top-down). Nicht zuletzt aufgrund dieser »bottom-up«-Ausrichtung und ihrer kritischen Haltung der Regierung gegenüber befinden sich Vertreter*innen der Volksdiplomatie vor allem in autoritären und gewaltsamen Konflikt-Kontexten oft in der Opposition zu ihrer eigenen politischen Führung und sind deren Repressionen ausgesetzt. Das heißt, »Volksdiplomat*innen« identifizieren sich oft weniger mit einer bestimmten Konfliktpartei, als vielmehr mit einer grenzübergreifenden Idee oder eine Sache.

Zweitens unterscheidet sich die Volksdiplomatie vom Track 2 in ihren Akteuren. »Grassroots«-Diplomat*innen vertreten nicht die Eliten, sondern »normale« Nichtregierungsorganisationen, religiöse Gruppen, Berufsgattungen etc., die direkt vom Konflikt betroffen sind. Dialoginitiativen auf Track 3 können sehr spezifisch sein, d.h. spezifischen Konfliktfolgen oder Akteuren gewidmet sein. Der Schweizer Diplomat Jean-Nicolas Bitter nennt solche Initiativen der praxisbezogenen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit »Diapraxis«, wobei er gleichzeitig die Wichtigkeit des kontext-spezifischen Handelns herausstreicht: Worte allein reichen nicht aus, um individuelle Beziehungen zu schaffen oder zu transformieren, noch um Brücken zu bauen und zwischengesellschaftliche Konflikte zu transformieren. [] Diapraxis – Dialog durch Praxis – muss man unterschiedlich definieren und anwenden, je nach Konflikt-Kontext, in dem sie angewendet wird.“ (Bitter 2011, S. 65)

Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen der einzelnen Tracks

Initiativen auf Track 3 und Track 2 streben in der Regel kein Produkt (z. B. ein Waffenstillstandsabkommen) an, wie dies auf Track 1 der Fall ist. Vielmehr wollen sie auf den Prozess einwirken, der langfristig zum Frieden führen soll. Dies wird in der Fachliteratur auch als »peace constituencies« oder »Friedenskreise« bezeichnet und meint jene den Frieden unterstützenden Haltungen oder Tendenzen in der Gesellschaft, die für eine nachhaltige Stabilisierung und Versöhnung wichtig sind (Kriesberg 2001; Chigas 2003).

Initiativen der Friedensarbeit kommen je nach Track in unterschiedlichen Stadien eines Friedensprozesses zum Einsatz und haben verschiedene Aufgaben. Auf Track 2 und 3 werden beispielsweise Problemlösungs- und Dialog-Workshops durchgeführt, an denen einzelne Vertreter*innen der Konfliktparteien teilnehmen. Diese dienen dem Austausch von Daten, informieren die Parteien über die Ansichten der anderen Seite und helfen, über die Lösung gemeinsamer Probleme nachzudenken, die als Folge des Konflikts entstanden sind (zerstörte Infrastruktur, zerrissene Beziehungsnetze, usw.) (Kelman 1977). Des Weiteren wird in der eigenen Gesellschaft an der öffentlichen Meinung gearbeitet, wobei breitere Teile dazu gebracht werden sollen, „das Gefühl der Opferrolle unter den einzelnen Parteien abzubauen“ und „das Bild vom Feind mit neuer Menschlichkeit zu füllen“ (Montville 1990, S. 163). Schließlich können auf zivilgesellschaftlicher Ebene auch konfliktlinienübergreifende Projekte der praktischen Zusammenarbeit vorangetrieben werden – beispielsweise im Bereich Staatsaufbau oder humanitäre Hilfe.

Offizielle wie auch inoffizielle Vermittlungsbemühungen haben ihren eigenen Wert und können einander nicht ersetzen. Vielmehr sollten die verschiedenen Arten und Tracks als komplementär zueinander angesehen werden: Der Frieden muss aus einer »top-down«-, gleichzeitig aber auch aus einer »bottom-up«-Perspektive aufgebaut werden. Genau das ist aber leider oft nicht gegeben. Akteure der einzelnen Tracks sehen sich als Konkurrent*innen, behindern sich in ihrer Arbeit und/oder spielen sich gegeneinander aus. So besteht beispielsweise für auf Track 3 engagierte Gruppen das Risiko, dass sie aufgrund von Repressionen durch die Regierung, aber auch infolge ihres eigenen Oppositionsdenkens isoliert und in ihrer friedenspolitischen Wirkung marginalisiert werden. Die zivilgesellschaftliche Friedensarbeit braucht Unterstützung aus den höherliegenden Tracks, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Gleichzeitig reichen auf Track 1 verhandelte Abkommen nicht aus, einen dauernden Frieden zu schaffen, weil sie sich oft auf technische und militärische Aspekte konzentrieren und den Konflikt in seiner emotionalen und gesellschaftspolitischen Dimension nicht erfassen. Das heißt, ein auf Regierungsebene vereinbarter »juristischer Frieden« braucht die zivilgesellschaftlichen Tracks, um in die Bevölkerung hineingetragen, mit der Gesellschaft verhandelt und schlussendlich von dieser umgesetzt zu werden. Umso wichtiger ist es, dass die einzelnen Tracks um ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen wissen und die Zusammenarbeit suchen.

Fallstudie post-sowjetischer Raum

Im Süden der ehemaligen Sowjetunion ist die Dichte an »verschleppten« Konflikten besonders groß, wobei sie sich hier noch einen weiteren Beinamen erworben haben, nämlich den der »frozen« oder »eingefrorenen Konflikte«. Neil MacFarlane definiert diese als „Konfliktsituationen, in denen keine aktiven, breiteren Konflikthandlungen stattfinden (obwohl es zu kleiner Gewaltanwendung kommen kann) und es eine dauerhafte, gemeinsam vereinbarte Waffenruhe gibt, aber wo Bemühungen um politische Einigung und Frieden scheitern“ (MacFarlane 2009, S. 23).

Bei den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums ist auf Track 1 zwar ein Friedensabkommen zustande gekommen, das jedoch vor allem die militärische Sicherheit im Auge hat und nicht oder nur ungenügend auf einen Wiederaufbau politischer, sozio-kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Konfliktparteien ausgerichtet ist. Im georgisch-abchasischen Konflikt beispielsweise sorgten die Abkommen von Sotschi (1993) und Moskau (1994) zwar für militärische Befriedung und richteten friedenssichernde Missionen ein. Jedoch wurde die Beilegung des Konflikts auf anderen Ebenen ausgeklammert – insbesondere die heikle Frage des politischen Status Abchasiens und die psycho-soziale Aufarbeitung der auf beiden Seiten begangenen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung.1 Unter anderem weil den Friedensbemühungen an der zivilgesellschaftlichen Basis zu wenig Raum gegeben wird und die verfeindeten Bevölkerungsgruppen absichtlich immer stärker voneinander isoliert werden, köchelt der Konflikt zwischen Abchas*innen und Georgier*innen seit den 1990er Jahren weiter, je nachdem auf kleinerer oder größerer Flamme (Zemskov-Züge 2016).

Ein anderes Merkmal der »eingefrorenen Konflikte« im post-sowjetischen Raum ist ihre starke Abhängigkeit von den geo-strategischen Interessen der russischen Regierung. Diese Abhängigkeit wird als Druckmittel gegen andere sowjetische Nachfolgestaaten benutzt, um deren wirtschaftliches, ideologisches und sozio-kulturelles Abdriften Richtung Westen zu verhindern. Sehr gut ist dies am jüngsten Beispiel des Donbass-Konflikts zu beobachten, der u.a. deshalb lanciert wurde, damit die pro-europäischen Kräfte, die während des Maidan-Aufstandes die Oberhand hatten, in der Ukraine nicht das letzte Wort haben. Als Resultat dieser Entwicklung macht sich in breiten Teilen des Landes wieder autoritäres Gedankengut breit; ob dieses nun von pro-russischen oder pro-ukrainischen Kräften verbreitet wird, ist zweitrangig.

Die Zivilgesellschaft ist doppelt betroffen von der »Eingefrorenheit« der Konflikte, in denen sie lebt. Einerseits haben diese tiefe sozio-kulturelle Gräben geöffnet und zu einer Radikalisierung der Gesellschaften auf allen Seiten beigetragen; vor diesem Hintergrund sind volksdiplomatische Bemühungen besonders gefordert, weil andere Formen der Friedensbemühungen dieser Art von Konflikt gar nicht beikommen können (Brunova-Kalisetskaya 2015). Andererseits stehen gerade die zivilgesellschaftlichen Akteure aufgrund politischer Radikalisierung, geopolitischer Interessen und zunehmend autoritärer Regierungsformen im post-sowjetischen Raum immer mehr unter Druck; dies führt nicht selten zu einem Angriff der Führungseliten auf inner- und zwischen-gesellschaftliche Formen der Volksdiplomatie als »unpatriotisch« oder sogar »die eigenen Nationalinteressen verratend«, und dient als willkommener Anlass, unerwünschte zivilgesellschaftliche Akteure mundtot zu machen.

Das heißt, in den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums bewegen sich die nach Frieden suchenden Teile der Zivilgesellschaft in einem Teufelskreis. Wohl sind sie dringend gefordert, weil nur sie eine Versöhnung und nachhaltige Stabilisierung der Situation herbeiführen können. Gleichzeitig sind sie aber stark geschwächt und stehen unter Beschuss von innen (nationalistische Radikalisierung) und außen (staatliche Repression), was sie an der Ausübung eben dieser friedensstiftenden Rolle hindert. Ob und wie es der Zivilgesellschaft gelingt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, werden die kommenden Jahre zeigen.

Anmerkung

1) Siehe dazu Wolleh, O. (2017): Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung – Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien, auf S. 21.

Literatur

Bitter, J.N. (2011): Diapraxis in Different Contexts – A Brief Discussion with Rasmussen. Politorbis, Vol. 52, No. 2, S. 65-69.

Brunova-Kalisetskaya, I. (2015): Dialog Ne S Vragom, a S Chelovekom (Dialogue Not with the Enemy, but with Human Beings). Histor!ians, 12.9.2015; historians.in.ua.

Chigas, D. (2003): Track II (Citizen) Diplomacy. Beyond Intractability, August 2003; beyondintractability.org.

Kelman, H. (1977): The Problem-Solving Workshop in Conflict Resolution. In: Berman, M.; Johnson, J.E. (eds.): Unofficial Diplomats. New York: Columbia University Press.

Kriesberg, L. (2001): Mediation and the Transformation of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal of Peace Research, Vol 38, No. 3, S. 373-92.

MacFarlane, S. (2009): Frozen Conflicts in the Former Soviet Union – The Case of Georgia/South Ossetia. In: Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg/IFSH (eds.): OSCE Yearbook 2008. Baden-Baden: Nomos, S. 23-34.

Montville, J. (1990): The Arrow and the Olive Branch – A Case for Track Two Diplomacy. In: Volkan, V.; Julius, D.; Montville, J. (eds.): The Psychodynamics of International Relationships. Lexington, Mass: Lexington Books, S. 161-175.

Montville, J.; Davidson, W. (1981): Foreign Policy according to Freud. Foreign Policy, No. 45, S. 145-157.

Paffenholz, T. (ed.) (2010): Civil Society & Peacebuilding – A Critical Assessment. Boulder: Lynne Rienner Publishers.

Said, A.; Lerche, C. (1995): Concepts of International Politics in Global Perspective. New Jersey: Prentice Hall.

Zemskov-Züge, A. (2016): Contrary Memories – Bases, Chances and Constraints of Dealing with the Past in Georgian-Abkhaz Dialogue. Prague: European Consortium for Political Research (ECPR) General Conference, Charles University, Prag, 7-10 September 2016; ecpr.eu.

Cécile Druey lebt als freischaffende Historikerin in Bern (Schweiz) und arbeitet im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, unter anderem für die schweizerische Friedensstiftung swisspeace und die Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung OWEN in Berlin.

Sozialer Frieden


Sozialer Frieden

Tagung von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Brot für die Welt, 31.3.-2.4.2017, Ev. Akademie Villigst, Schwerte

von Martin Quack

»Sozialer Frieden Eine nationale und globale Verpflichtung aus der Agenda 2030« – den Titel der Tagung füllten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vom 31. März bis 2. April 2017 in der Evangelischen Akademie Villigst mit Leben. Der Begriff »Sozialer Frieden« war Inspiration und Ansporn für konstruktive Diskussionen auf unterschiedlichen Ebenen und zu unterschiedlichen Themen auf der gemeinsam mit der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung und Brot für die Welt veranstalteten Tagung.

Deutschland ist ein Entwicklungsland

Deutschland ist nicht überall Weltmeister, sondern in vielen Politikbereichen auch Entwicklungsland. Der große politische Handlungsbedarf im Inland wurde vor allem in Bezug auf das Ziel, materielle Ungleichheiten zu verringern, deutlich. Prof. Eva Senghaas-Knobloch (Bremen) wies etwa auf die Zunahme von Niedriglohn und atypische Beschäftigungen in der Arbeitswelt hin. Hagen Berndt vom Projekt Kommunale Konfliktberatung des Forum Ziviler Friedensdienst und Eckart Riechmann aus der Stadtverwaltung Bautzen stellten anschaulich die Herausforderungen durch Konflikte auf kommunaler Ebene dar.

Die Friedensdimension ist neu

Einige der Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) fanden sich bereits in den Milleniumentwicklungszielen (MDGs). Neu enthalten ist jedoch in der Agenda 2030 die Friedensdimension und die konkreten Formulierungen in Ziel 16 und anderen Zielen – nicht zuletzt, weil die Länder mit massiver Gewalt kein einziges der MDGs erreichen konnten. Für die Ausarbeitung und Umsetzung der Friedensdimension stand etwa Marc Baxmann von der Gruppe Frieden und Entwicklung (FriEnt). Auch das Ziel, nicht nur Armut zu überwinden, sondern auch Ungleichheiten zu verringern, ist neu in den SDGs enthalten.

Globales Lernen erleben

Nicht der reiche globale Norden hilft dem Süden wie noch in den Milleniumsentwicklungszielen, sondern alle stehen in der Verantwortung und lernen voneinander. Die Agenda 2030 hat dieses Prinzip erstmals auf der globalen Regierungsebene verankert. Die Beteiligung von Ramesh Sharma von der indischen Bewegung Ekta Parishad, Stan Henkeman vom südafrikanischen Institute for Justice and Reconciliation (IJR) sowie Azzam Moustafa von der libanesischen Organisation Basmeh & Zeitooneh (Lachen und Olive) ermöglichte sowohl Süd-Nord-Lernen als auch neue Vernetzungen. Die Verbindung zwischen Friedensarbeit und der Überwindung von materieller Ungleichheit und Ungerechtigkeit wird in Deutschland verstärkt diskutiert – in anderen Ländern ist dieser Zusammenhang schon lange selbstverständlich. Konkret lädt Ekta Parishad zur Beteiligung an der Aktion Jai Jagat 2020 ein: ein Marsch von Delhi nach Genf.

Sozialpolitik und Friedenspolitik

Die Tagung verfolgte das Ziel, unter dem Titel »Sozialer Frieden« den Dialog zwischen friedenspolitischen und sozialpolitischen Perspektiven zu intensivieren. Aufgrund weniger Anmeldungen aus dem sozialpolitischen Umfeld und kurzfristiger Absagen von Referent*innen aus Diakonie und Gewerkschaft wurde dieses Ziel nicht erreicht. Diese Erfahrung bestärkte die Erkenntnis, dass die Verbindung verschiedener Politikbereiche, die oft in ihren Silos bleiben, eine große Herausforderung darstellt. Nicht umsonst strebt die Agenda 2030 in Ziel 17 Multiakteurspartnerschaften an. In Deutschland ist die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung deshalb in einem Netzwerk mit Verbänden aus Sozialpolitik, Entwicklungspolitik und Umweltpolitik sowie Gewerkschaften engagiert.

Die Agenda 2030 ist der Rahmen

Trotz dieser Schwierigkeit ist deutlich geworden, dass die Agenda 2030 genau der richtige konzeptionelle – und vielleicht der einzige wirksame – Rahmen ist, um die globalen Probleme gemeinsam zu überwinden. Die Konferenz benannte auch Schwachstellen der Agenda 2030, so stellt diese das neoliberale Paradigma nicht explizit in Frage. Die Nachhaltigen Entwicklungsziele wurden von allen Regierungen – aus Nord und Süd, Ost und West – und mit intensiver Beteiligung und Kritik der Zivilgesellschaft entwickelt. Sie umfassen wesentliche Politikbereiche und die unterschiedlichen politischen Ebenen. Damit haben sie ein immenses politisches Potenzial, das in Gesellschaft und Politik stärker genutzt werden sollte. Diese Überzeugung wächst mit der intensiven Diskussion, das wurde auch im Abschlusspodium mit Sabine Lösing (Europäisches Parlament), Michael Vietz (Bundestag) und Christa Frenzel (Stadt Salzgitter) deutlich.

Eine positive Vision

Die Agenda 2030 ist nicht nur eine Vereinbarung, sondern stellt zugleich den massiven globalen Problemen, die in diesen Tagen wieder sehr deutlich werden, eine positive Vision einer Welt entgegen, in der Menschen nicht vor Krieg und Not ihre Heimat verlassen müssen. Die Agenda 2030 beschreibt eine Welt, in der das Recht jedes Menschen auf Beteiligung verwirklicht wird. Eine Welt die sich nach der inklusiven »Friedenslogik« für alle richtet, nicht nach einer exklusiven »Sicherheitslogik« für wenige. Dies gilt nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch bei der Inneren Sicherheit, wie Prof. Christoph Weller (Augsburg) und Hagen Berndt deutlich machten. Wie zivilgesellschaftliche Organisationen weltweit auf die Umsetzung dieser Vision drängen, machte Daniel Jüttner von Brot für die Welt deutlich. Die Formulierung »keinen zurücklassen« (to leave no one behind) wurde allerdings als paternalistisch und nicht rechtebasiert kritisiert, sie entspreche »der Logik der Fürsten« und nicht der Demokratie und der Menschenrechte, so Prof. Hanne Birckenbach.

Konkrete Schritte

Die Verwirklichung dieser positiven Vision soll in 13 Jahren geschehen – eine ziemlich kurze Zeit. Umso wichtiger ist es, noch mehr gesellschaftlichen Rückhalt für die Agenda 2030 und für die gemeinsame zivilgesellschaftliche Arbeit zur Agenda 2030 – etwa in Form des jährlichen Schattenberichts – zu entwickeln. Dies gilt insbesondere angesichts der ernüchternden Darstellungen aus der Politik, wie gering der Stellenwert der Agenda 2030 bisher auf allen staatlichen Ebenen ist. Immerhin gibt es klare Zusagen für die Beteiligung an einer gemeinsamen jährlichen Überprüfung der Umsetzung.

Die Konferenz hat die Motivation verschiedener Organisationen und Initiativen verstärkt, sich noch stärker für die Umsetzung der Agenda 2030 einzusetzen. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung wird in der nächsten Zeit auch die Ausarbeitung und Umsetzung einer friedenslogischen Politik vorantreiben.

Martin Quack

Israel /Palästina


Israel /Palästina

Zur Kampagne gegen Friedenskräfte im israelisch-palästinensischen Konflikt

von Wilhelm Kempf

Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg besteht dringender Bedarf an einem offenen Diskurs, der die Rechte von Israelis und Palästinensern anerkennt und um einen Ausgleich zwischen den beiden Gesellschaften bemüht ist. Dieser Diskurs wird jedoch durch den Widerspruch zwischen Werten belastet, die aus guten Gründen für die meisten Juden sehr wichtig sind: dem Wert des Zionismus, d.h. Israel als jüdischer Staat, und den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit und der Demokratie. „Dieser Widerspruch“, sagt der israelische Philosoph Omri Boehm (2015), „bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben.“

Bei einer Belastung durch widersprüchliche Werte kann der resultierende Verlust an Selbstwertgefühl vermieden werden, indem das konkrete Handeln von den moralischen Standards abgekoppelt wird (Bandura 1999). Im Falle der israelischen Occupartheid1 ist es aber nicht nur der drohende Selbstwertverlust, der zur moralischen Ablösung zwingt, sondern auch die Angst vor einer Renaissance des Antisemitismus, der sich gegen Israel als »den Juden unter den Staaten« wendet.

Diese Befürchtung ist nicht unbegründet, zumal laut Ergebnissen des ASCI-Surveys (Kempf 2015) ein Viertel der Deutschen als antisemitische Israelkritiker einzustufen sind, deren (scheinbare) Parteinahme für die Palästinenser*innen letztlich nur als Mittel dient, »das wahre Gesicht der Juden« zu entlarven, und ein weiteres Zehntel jede Positionierung zur israelischen Politik vermeidet, »weil man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt«.

Immerhin vier von zehn Deutschen kritisierten die israelische Politik jedoch deshalb, weil sie für die Universalität der Menschenrechte eintreten, Antisemitismus und Islamophobie gleichermaßen ablehnen und eine Politik verurteilen, die nicht nur den Palästinenser*innen Unrecht antut, sondern auch Israel von innen heraus zu zerstören droht (Keret 2013).

Seit Israel 2001 auf der UN-Konferenz von Durban der Apartheid bezichtigt wurde und mehr noch seit die – auch von vielen Juden unterstützte – »Boycott, Divestment & Sanctions«-Bewegung (BDS) einige Erfolge zu verzeichnen hat, setzen die Befürworter der Occupartheid jedoch alles daran, die Angst vor einem antiisraelischen Antisemitismus noch weiter zu schüren und die Occupartheid-Gegner als Antisemiten abzustempeln.

Antisemitismus bedeutet Feindschaft gegen Juden als Juden. D.h. der entscheidende Grund für die Ablehnung ist die angebliche oder tatsächliche jüdische Herkunft eines Individuums, einer Gruppe oder auch Israels, als jüdischem Staat (Demirel et al. 2011). Bei BDS ist dies nicht der Fall. BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die auf Israel Druck auszuüben versucht, seine Palästinapolitik zu ändern und die Occupartheid zu beenden. Und BDS ist eine Bewegung, die den israelisch-palästinensischen Konflikt verändern könnte „wenn der Diskurs von Begriffen wie Stärke und Widerstandsfähigkeit auf die Ebene von Rechten und Werten wechselt“ (Burg 2014).

Kompetitive Fehlwahrnehmungen und gesellschaftliche Grundüberzeugungen

Die Trennlinie im israelisch-palästinensischen Konflikt verläuft aber nicht mehr zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen all jenen, die in Frieden leben wollen, und jenen, die ideologisch und emotional auf Gewalt setzen (Grossmann 2014). Selbst unter amerikanischen Juden finden sich nur ca. 8 % bedingungslose Unterstützer von Netanjahus Politik (Ben-Ami 2011), und 60 % der Juden in der Diaspora glauben nicht, dass sich Netanjahus Regierung um Frieden mit den Palästinensern bemüht (Goldmann 2015).

Um diesem Zustimmungsverlust entgegenzuwirken, hat der Vorsitzende der Jewish Agency, Natan Sharansky, den so genannten Drei-D-Test erfunden, mittels dessen sich antisemitische Israelkritik identifizieren lassen soll: Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral als Alleinstellungsmerkmale für antiisraelischen Antisemitismus.

So plausibel dieser Test auch scheinen mag, kann er jedoch höchstens einen Anfangsverdacht begründen. Wie jeder eskalierte Konflikt geht auch der israelisch-palästinensische mit kompetitiven Fehlwahrnehmungen (Deutsch 2000) einher, die sich in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten. Diese sind u.a. durch den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und an die eigene Opferrolle sowie durch den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke geprägt (Bar-Tal 1998). Dies findet – völlig spiegelbildlich – auf beiden Seiten statt: Woran die eine Seite glaubt, wird von der anderen strikt zurückgewiesen (Kempf 2015) und als Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral empfunden.

Indem Natan Sharansky die drei Ds aber mit dem Label des Antisemitismus versehen hat, tritt zu ihnen ein viertes D hinzu: die Denunziation derer, die für eine Friedenslösung in Israel/Palästina eintreten. Eine Denunziation, die jegliche – auch noch so kleine – Abweichung von den eigenen Glaubenssätzen als antisemitisch brandmarkt, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit einschränkt und eine kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Palästinapolitik zu verhindern sucht.

Schon seit geraumer Zeit hat diese Denunziationskampagne auch auf Deutschland übergegriffen, wo sie nicht nur in den Medien, sondern zunehmend auch an den Universitäten geführt wird. Welcher Mittel sie sich bedient und wogegen sie sich richtet, soll im Folgenden anhand von fünf Vorfällen während der zweiten Jahreshälfte 2016 untersucht werden:

1. Kündigung des Bankkontos des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« durch die Bank für Sozialwirtschaft;

2. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« an der Universität Marburg;

3. vom »Tagesspiegel« losgetretene Pressekampagne gegen das aus öffentlichen Geldern finanzierte palästinensische Kulturfestival »After the Last Sky« im Berliner Ballhaus Naunynstraße;

4. Verbot einer Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren in Gaza und den besetzen Gebieten im Foyer des Heidelberger Rathauses und

5. studentische Aktivitäten gegen einen Vortrag von Rolf Verleger über Ergebnisse des Surveys »Anti-Semitism and the Criticism of Israel« (ASCI) an der Universität Freiburg.

Rufmord, Verleumdung und Unterstellungen

Die Auswahl dieser fünf Vorfälle ist zwar beliebig, jedoch repräsentativ für das Spektrum an Themen, die aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden müssen, wenn Netanjahus Politik nicht weiter an Unterstützung verlieren soll.

Allen fünf Vorfällen ist gemeinsam, dass sie darauf abzielen, den Occupartheid-Gegnern die Handlungsfähigkeit zu entziehen: von der Kündigung des Bankkontos der »Jüdischen Stimme« und dem Verbot der Ausstellung im Heidelberger Rathaus über die Forderung nach Verhinderung des Vortrags an der Uni Marburg und Schließung des »Cafe Palestine« an der Uni Freiburg bis zur Druckausübung auf den Berliner Senat, die Mittelvergabe im Kulturbereich auf den Prüfstand zu stellen. Ebenso gemeinsam ist ihnen die rechtliche Bedenklichkeit der Mittel: von anonymer Hetze über die Verletzung journalistischer Normen und des Presserechts bis zu Vertragsbruch und mutmaßlicher Verletzung des Bankgeheimnisses.

Das Spektrum der Personen und Institutionen, die offen des Antisemitismus bezichtigt werden, ist (fast) flächendeckend und umfasst die »Jüdische Stimme« und die BDS-Bewegung ebenso wie das frühere Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, Rolf Verleger, und das von ihm mitbegründete »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung«, den Fachbereich Friedens- und Konfliktforschung an der Uni Marburg sowie die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals. Nur das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft kommt bei seiner Intervention gegen die Ausstellung »Kinder in Palästina« ohne Rufmord aus und verweist stattdessen auf die Neutralitätspflicht der Stadt Heidelberg.

Auffallend ist die neue Sprachregelung. Während man jüdische Kritiker*innen der israelischen Palästinapolitik bisher als »self-hating Jews« zu verunglimpfen pflegte, spricht man nun von jüdischem Antisemitismus. Wurden bislang die »self-hating Jews« zwar als von Selbsthass getrieben, aber dennoch in erster Linie als Juden gezeichnet, so scheint die Entwicklung nun dahin zu gehen, die Unterstützung der Occupartheid zum Definitionsmerkmal dafür zu machen, wer sich zu Recht jüdisch nennen darf. Zumindest aber geht sie in die Richtung, den Zionismus in seiner heutigen Form an die oberste Stelle der Wertehierarchie zu rücken. Dafür spricht auch, dass Antizionismus vor allem den jüdischen Occupartheid-Kritiker*innen zum Vorwurf gemacht wird, nicht aber jenen Leuten, von denen es sich – aufgrund ihrer Nähe zu den Palästinensern – am ehesten erwarten ließe.

Dabei sind es aber nicht nur Etiketten wie Antisemitismus oder Antizionismus, mittels derer man Rufmord an den Occupartheit-Kritiker*innen begeht, sondern handfeste Verleumdungen, mittels derer sie mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden und/oder ihnen unterstellt wird, auf die Vernichtung Israels aus zu sein.

Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelmoral

Um Kritik an der israelischen Occupartheid abzuwehren, bedienen sich ihre Unterstützer*innen (fast) des gesamten Spektrums der von Bandura (1999) identifizierten Mechanismen der moralischen Ablösung: Rechtfertigung durch höhere moralische Ziele, wie die Sicherheit Israels als Schutzraum vor dem globalen Antisemitismus; palliative Vergleiche, die auf Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten abheben; euphemistische Begrifflichkeit, die z.B. Neutralitätspflicht als Chiffre für Unterdrückung des Sichtbarwerdens von für Israel ungünstigen Tatsachen verwendet; Leugnung, Ignorieren und Missdeutung der Folgen der Occupartheid, z.B. als Täter-Opfer-Umkehr; Dehumanisierung der Palästinenser*innen durch Unsichtbarmachen der palästinensischen Bevölkerung, Geschichte und Kultur; Schuldzuweisungen, z.B. gegen die Hamas, aber auch gegen die palästinensische Autonomiebehörde, die Kuratorinnen des Kulturfestivals und den Berliner Senat; Abwälzen der Verantwortung für die zivilen Opfer im Gaza-Krieg (2014) auf die Hamas und/oder für die Occupartheid auf den globalen Antisemitismus.

Die Abkoppelung der Occupartheid von moralischen Prinzipien bildet schließlich die Grundlage, auf welcher die drei Ds Plausibilität gewinnen.

Explizit der Doppelmoral bezichtigt werden u.a. der UN-Menschenrechtsrat und die Kuratorinnen des palästinensischen Kulturfestivals, wobei die Themen, die mittels der drei D aus dem Diskurs ausgeschlossen werden sollen, von der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Besatzung bis zu jener nach der Opferrolle (auch) der Palästinenser*innen reicht. Man sieht darin eine Dämonisierung des jüdischen Staates als »illegitimes rassistisches Regime«.

Ob »ethnische Säuberung«, »Siedler-Kolonialismus« oder »Apartheid« angemessene Begriffe sind, um die Realität der Occupartheid zu beschreiben, ließe sich sachlich diskutieren. Indem unterstellt wird, dass sie bewusst verwendet werden, um Israel schlimmstmöglicher Verbrechen zu beschuldigen, werden aber nicht nur diese Begriffe zurückgewiesen, sondern jeglicher Diskurs über die Sachverhalte, die sie (wenn auch unzureichend) zu benennen versuchen.

Der Vorwurf der Delegitimierung Israels richtet sich dabei nicht nur gegen diese Begrifflichkeit als solche, sondern ad personam gegen die Occupartheid-Gegner*innen, und findet ihr Spiegelbild in der Delegitimierung von Menschrechtspositionen schlechthin, wobei Delegitimierung und Dämonisierung Hand in Hand gehen und die Vorwürfe von Verharmlosung palästinensischer Gewalt und des Antisemitismus über Hetze gegen den Judenstaat bis zur Befürwortung der Zerstörung Israels reichen.

Die Doppelmoral, derer sich die Unterstützer*innen der Occupartheit dabei ihrerseits bedienen, tritt in der Gleichzeitigkeit von Dämonisierung und Dämonisierungsvorwurf bzw. Delegitimierung und Delegitimierungsvorwurf deutlich zu Tage. Nur im Zusammenhang mit dem Ausstellungsverbot äußert sie sich in einer gleichsam »eleganteren« Form: in der »Neutralitätspflicht»«, welche die Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Trauma-Rehabilitationszentren als »hochpolitisch«, verbietet, während eine Ausstellung über den Jewish National Fond und dessen Aktivitäten (u.a. in den besetzten Gebieten) ohne Proteste gezeigt werden konnte.

Schluss

Man kann sich zu BDS so oder so verhalten. Man kann sich der Bewegung anschließen oder sich davon fernhalten. Man kann sich auch dagegen wehren. Wenn z.B. der Verein »Jüdische Stimme« zum Boykott des Jewish National Fond auffordert und dessen Präsidentin daraufhin Druck auf die Bank für Sozialwirtschaft ausübt, ihre geschäftliche Verbindung mit der »Jüdischen Stimme« zu beenden, dann wird damit zunächst nur Gleiches mit Gleichem vergolten.

Aber könnte man den Meinungsstreit über die israelische Palästinapolitik nicht auch mit fairen Mitteln austragen? Noch vor einem Dutzend Jahren konnte man sich sogar in Israel trefflich streiten. Heute ist dies selbst in Deutschland kaum noch möglich, und die hier untersuchten Vorfälle sind noch nicht einmal der Höhepunkt der laufenden Kampagne gegen die Meinungsfreiheit. Anfang 2017 wurden sie mit der Nichtverlängerung des Lehrauftrages von Eleonora Roldán Mendivil am Otto-Suhr-Insti­tut (OSI) der FU Berlin und durch einen Hackerangriff auf die Website des »Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung« noch einmal getoppt.

Der Vorfall am OSI ist aus mehreren Gründen besonders brisant: Erstens ging es dabei nicht um Inhalte der Lehrveranstaltung, sondern um einen (im Internet inzwischen gelöschten) Blog der Lehrbeauftragten. Zweitens wurde die Nichtverlängerung des Lehrauftrages bereits verfügt, bevor die Vorwürfe überprüft waren und das Gutachten des damit betrauten Antisemitismusforschers Wolfgang Benz vorlag. Und drittens hat das OSI für den Fall vorgesorgt, dass das Gutachten die Lehrbeauftragte entlasten könnte: Künftig soll ein BA für die Vergabe von Lehraufträgen nicht mehr ausreichen, sondern mindestens ein MA gefordert werden, über den Frau Roldán Mendivil (noch) nicht verfügt. Man hätte es auch gleich so formulieren können: Am OSI darf nur lehren, wer sich vorbehaltlos zur Occupartheid bekennt.

Anmerkung

1) Definiert als Diskriminierung zwischen Bevölkerungsgruppen auf Grundlage der ethnischen Herkunft als Ergebnis einer dauerhaften Besatzung (Bar-Tal 2015).

Literatur

Bandura, A. (1999): Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. Personality and Social Psychology Review, Vol. 3, No. 3 (Special Issue on Evil and Violence), S. 193-209.

Bar-Tal, D. (1998): Societal beliefs in times of intractable conflict – The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, Vol. 9, No. 1, S. 22-50.

Bar-Tal, D. (2015): “Love your neighbor as yourself”. Documentation of an open letter by Prof. Daniel Bar-Tal, Tel Aviv University, Israel. conflict & communication online 14/1.

Ben-Ami, J. (2011): A new voice for Israel – Fighting for the survival of the Jewish nation. New York: palgrave macmillan.

Boehm, O. (2015): Jüdischer Ungehorsam. Interview im Deutschlandfunk, gesendet 8.2.2015, 9:30 Uhr.

Burg, A. (2014): Was ist falsch an Boykotten und Sanktionen? Der Standard, 17.2.2014.

Demirel, A.: Farschid, O.; Gryglewski, E.; Heil, J.; Longerich, P.; Pfahl-Traughber, A.; Salm, M.; Schoeps, J. H.; Wahdat-Hagh, W.; Wetzel, J. (2011): Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7700.

Deutsch, M. (2000): Cooperation and competi­tion. In: Deutsch, M. and Coleman, P. T. (eds.): The handbook of conflict resolution – Theory and practice. San Francisco: Jossey-Bass, S. 21-40.

Goldmann, A. (2015): Diaspora unzufrieden mit Israel – Mehrheit der Juden bezweifelt, dass Jerusalem sich ausreichend um Frieden mit Palästinensern bemüht. Jüdische Allgemeine, 3.8.2015.

Grossmann, D. (2014): Erinnern wir uns an die Zukunft. TagesAnzeiger, 4.8.2014.

Kempf, W. (2015): Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee – Eine Spurensuche. Berlin: verlag irena regener.

Keret, E. (2013): Die Besatzung frisst unsere Seele. Frankfurter Rundschau, 16.2.2013.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (cco.regener-online.de).

Wenn Abrüstung genau das Richtige ist


Wenn Abrüstung genau das Richtige ist

Die Friedensverfassung von Costa Rica

von Luis Roberto Zamora Bolaños

Costa Rica gilt als Paradebeispiel für einen friedlichen und friedensliebenden Staat. Klein, ohne Reichtümer, um die es sich zu streiten lohnt, und sogar ohne Militär ist das Land keine Bedrohung für seine Nachbarn und engagiert sich außenpolitisch konstruktiv in der Konfliktlösung und in Abrüstungsgremien. Der Autor schildert seine subjektive Sicht des costa-ricanischen Weges zu einer Friedensverfassung und welche Rolle Völkerrecht (und er selbst) dabei spielte, diese zu erhalten.

In der Mitte des amerikanischen Doppelkontinents gelegen, ungefähr so groß wie Niedersachsen, keine relevanten Rohstoffvorkommen, dünne einheimische Bevölkerung, betörender, dichter Dschungel – das fanden die Spanier vor, als sie an der Küste des heutigen Costa Rica landeten.

Dieses knappe, aber durchaus zutreffende Bild sollte die Zukunft des Landes prägen. Weit entfernt von der Kapitale seiner spanischen Verwaltungseinheit war Costa Rica die entfernteste und verlassenste Provinz des Generalkapitanats Guatemala. Ohne Gold- und Silbervorkommen oder Sklavennachschub, der sich zu Profit machen ließe, gaben die Spanier und die Kreolen keinen Nickel für die kleine Provinz.

So konnte Costa Rica fernab der Machtkonflikte und Finanzfehden, die bald ganz Mittelamerika überzogen, wachsen und gedeihen. Hier gab es keine politische Macht zu gewinnen, die den Kampf lohnte, und in der Wirtschaft dominierten landwirtschaftliche Familienbetriebe. Infolgedessen hatte Costa Rica etwas, was es in der Region sonst nicht gab: eine recht ausgewogene Wohlstandsverteilung. Damit ging auch eine Machtbalance einher, die letztlich zur Grundlage für die costa-ricanische Demokratie wurde. Wenn es eine Machtbalance gibt, kann niemand dominieren. Wenn niemand dominieren kann, muss man verhandeln. Wenn man ohne Machtdruck verhandelt, führt dies zu demokratischen Prozessen.

Fernab der Machtkämpfe, die in der übrigen Region stattfanden, prosperierten im 18. Jahrhundert die costa-ricanischen Familien mit Tabakanbau. Der Tabak wurde überwiegend nach London und Paris exportiert, nicht nach Spanien, wie in den Nachbarländern üblich. Die allmählich wohlhabend gewordenen Familien begannen in einem kritischen Moment der Weltgeschichte, ihre jungen Männer zum Studium nach Paris und London zu schicken: am Ende des 18. Jahrhunderts, als sich zwei der wichtigsten Ereignisse der modernen Politikgeschichte ereigneten, die französische Revolution und die Unabhängigkeit der 13 britischen Kolonien in Amerika.

Als Costa Rica 1821 seine Unabhän­gigkeit erlangte [weil Guatemala die Unabhängigkeit der mittelamerikani­schen Staaten ausrief (W&F Red.)], richtete sich der junge Staat an den Idealen der Revolution aus, an ihrem neuen Geist der Menschlichkeit und der Menschenrechte. Soweit handelt die Geschichte überwiegend von Ereignissen, die außerhalb des Landes und ohne Zutun Costa Ricas passierten.

Absage an den Militarismus

Mit der Unabhängigkeit von der spanischen Krone konnte Costa Rica an die Ausarbeitung einer selbstbestimmten Verfassung gehen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Entscheidungen getroffen, die die Zukunft und den weiteren Weg des Landes entscheidend prägen sollten. Anders als die übrigen lateinamerikanischen Länder wählte Costa Rica keinen Vertreter des Militärs zum Staatsoberhaupt, sondern einen Grundschullehrer. Und gleich in der ersten Verfassung, die 1823 in Kraft trat, wurden die Schulpflicht und ein staatliches Schulwesen eingeführt

Costa Rica unterhielt eine kleine, aber gut ausgerüstete Armee, die sich als schlagkräftig erwies, als die US-amerikanischen Filibuster (Freibeuter) versuchten, Mittelamerika zu erobern, nachdem William Walker die Macht in Nicaragua an sich gerissen hatte. Damals, 1856, war der US-Imperialismus noch nicht so ausgeprägt wie heute, und das Interesse der Freibeuter richtete sich vor allem auf Panama, das damals nicht zu Mittelamerika, sondern zu Kolumbien gehörte. Costa Rica hingegen war unbedeutend und hielt aus historischen und sozialen Gründen Distanz zu Mittelamerika, wovon der mehrmalige Austritt des Landes aus der Mittelamerikanischen Föderation zeugt.

1871 gab es einen Durchbruch, als die politische Betätigung von Militärangehörigen per Verfassung verboten wurde, um eine ausschließlich zivile Regierung zu garantieren. Von wenigen Episoden abgesehen verlief das Leben dieser kleinen Nation dann mehrere Jahrzehnte ziemlich ruhig, fernab von Bürgerkriegen und im Wesentlichen auch fernab der großen internationalen Politik.

Abschaffung des Militärs

1948 kam es nach einem Wahlbetrug zu Costa Ricas drittem und letztem Bürgerkrieg. Als die oppositionellen Kräfte gewannen, beriefen sie sofort eine verfassungsgebende Versammlung ein. Die wichtigste Neuerung bei der Neugründung der Republik war die Abschaffung des stehenden Heeres. Gleichzeitig wurde das Militärbudget auf den Gesundheits- und den Bildungssektor übertragen. Damit sollte verhindert werden, dass ein bewaffneter Arm der Regierung ein Militärregime oder einen Militärputsch unterstützen könnte. Dies war in der frühen Phase des Kalten Krieges in mehreren mittelamerikanischen Ländern der Fall. Mit der neuen Verfassung wurde außerdem neben der Judikative, der Legislative und der Exekutive eine vierte unabhängige Staatsgewalt eingeführt: der Wahlgerichtshof. Er sichert den ordnungsgemäßen und gerechten Verlauf von Wahlen. Nach Annahme der Verfassung 1949 wurden Neuwahlen durchgeführt.

Costa Rica konnte sich von den Tumulten des Kalten Krieges fernhalten, der in Lateinamerika in Form von Bürgerkriegen heftig und heiß verlief, bis die USA 1983 forderten, dass die »Contras« ihr Hauptquartier für den Kampf gegen die Revolutionäre im benachbarten Nicaragua in Costa Rica aufschlagen könnten. Der Druck der CIA auf Präsident Luis Alberto Monge war sehr stark. Er entschied daraufhin, die Neutralität des Landes zu erklären und damit dem Druck auszuweichen. Eine Stationierung fremder Truppen im Land wäre damit nun völkerrechtswidrig. Mit dieser Entscheidung ebnete Costa Rica seinen Weg als Staat, der sich nicht an bewaffneten Konflikten beteiligen würde – mit einer Ausnahme: der Vermittlung in Konflikten, um zu einer friedlichen Lösung beizutragen.

Bedrohungen der Friedensverfassung

Diese politische Linie wurde fortgesetzt, bis Präsident Abel Pacheco am 19. März 2003 entschied, dass Costa Rica die »Koalition der Willigen« unterstützen würde – einen Tag, bevor die Invasion in den Irak begann. Es war eine schockierende Entscheidung: Ein Land ohne eigene Armee unterstützt eine Kriegskoalition. Das klingt absurd, machte aber für die USA und Großbritannien durchaus Sinn. Sie warben intensiv für einen Krieg gegen Irak, vorgeblich um Frieden, Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen. In dieser Situation die Unterstützung Costa Rica vermelden zu können, war für die Koalition ein echter Imagegewinn.

Ich war damals noch Student und beschloss, bei der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs Klage einzureichen. Ich begründete die Klage damit, die Unterstützung des Krieges gegen Irak wäre nichtig, verfassungswidrig, völkerrechtswidrig und würde der UN-Charta, der costa-ricanischen Neutralitätserklärung und dem Recht auf Frieden widersprechen. Und in der Tat erklärte die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs im September 2004 die Unterstützung der Kriegskoalition aus genau diesen Gründen für verfassungswidrig (Urteil 9992-04).

Seither gab es mehrere Versuche, die Friedensverfassung zu untergraben. 2006 beschloss Friedensnobelpreisträger und Präsident Óscar Arias Sánchez, den Abbau von Thorium und Uran, den Bau von Atomreaktoren »für alle Zwecke« [d.h. zur Dual-use-Nutzung (W&F Red.)] und die Herstellung von Reaktorbrennstoff zu genehmigen. Wieder zog ich vor die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, die die Genehmigung widerrief (Urteil 14193-08). Das Gericht begründete sein Urteil damit, das Recht auf Frieden sei ein Verfassungsrecht, und es verbot jegliche Aktivitäten, die auf Krieg gerichtet sind, sowie jegliche Atom- und Rüstungsproduktion.

2008 unternahm Präsident Óscar Arias Sánchez einen Versuch, die costa-ricanischen Polizeikräfte zu militarisieren, wurde dabei aber aufgrund meiner Klage, diesmal beim Verwaltungsgericht, gestoppt. Die Regierung ging in Revision bis zum Obersten Gerichtshof, der 2012 aber entschied, dass Straftaten mit zivilen, nicht mit militärischen Mitteln zu begegnen sei.

Die Friedensverfassung Costa Ricas wurde also bis heute nicht zuletzt mit Hilfe der Gerichte bewahrt.

Bewährung in der Außenpolitik

Die pazifistische und neutrale Ausrichtung Costa Ricas hat sich in der Außenpolitik bewährt und für das Land gelohnt. Costa Rica gilt im Ausland als freundliches, harmloses Land. Unser südlicher Nachbar Panama bewegt sich ebenfalls Richtung Demilitarisierung, seitdem das Land die Souveränität und Kontrolle über den Panamakanal wiedererlangt hat. Nur der nördliche Nachbar Nicaragua bleibt weiterhin militarisiert. Dennoch konnte Costa Rica 2014 auch ohne Militär eine Invasion kontern, als Nicaragua am nordöstlichen Zipfel Costa Ricas ein Stück Land besetzte, um unter Nutzung des San-Juan-Flusses einen Kanal vom Atlantik zum Pazifik zu bauen. Costa Rica rief sofort den Internationalen Strafgerichtshof an, der Nicaragua verwarnte. Selbst dieser Konflikt konnte also mit zivilen, juristischen Mitteln ohne Rückgriff auf Gewalt gelöst werden.

Auch wenn die Wiederaufstellung einer Armee immer wieder ins Gespräch gebracht wird, für den Großteil der Bevölkerung sind Frieden und das Fehlen einer Armee hohe Werte. Frieden und die Friedensverfassung sind echte Glanzlichter in unserer Geschichte und in unserem Dasein: Sie wurden Teil unserer nationalen Identität. Das Völkerrecht hat großen Anteil daran, dass dies möglich ist. Aus Friedensartikeln in Verfassungen ergeben sich völkerrechtliche Verpflichtungen. Frieden und Neutralität sind keine Erklärungen an sich selbst, sondern an die anderen Ländern, an den Rest der Welt.

Es ist wichtig zu erkennen, dass Frieden und Entwicklung Hand in Hand gehen. Nur so lässt sich erklären, dass Costa Rica, ein armes Land, im Human Development Index (Index der menschlichen Entwicklung) auch im Vergleich mit Ländern der Eurozone recht gut dasteht. Costa Rica und seine Bürger*innen konnten beobachten, welche Folgen Kriege und selbst kleine Armeen in den Nachbarländern angerichtet haben: Tod, Armut, Militärputsche, fehlende Mittel zur Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse und der Menschenrechte.

Es ist also weder auf Zufall noch auf Glück zurückzuführen, sondern das Geheimnis des relativen Wohlstand Costa Ricas sind Abrüstung und die Förderung des Friedens.

Luis Roberto Zamora Bolaños studierte Jura und Technische Computertechnik. Er arbeitet als Strafrechtsanwalt und ist Vorstandsmitglied der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). (Über seine Klagen zur Verteidigung der costa-ricanischen Friedensverfassung berichtete die Zeitschrift »Foreign Policy« am 8.5.2014.)
Aus dem Englischen übersetzt von ­Regina Hagen.

Kein Frieden mit der EU

Kein Frieden mit der EU

20. Kongress der Informationsstelle Militarisierung, 18.-20. November 2016, Tübingen

von Jürgen Wagner

Im Spätherbst lud die Informationsstelle Militarisierung (IMI) zu ihrem inzwischen zwanzigsten jährlichen Kongress nach Tübingen ein. Insgesamt nahmen über 150 Interessierte an dem Kongress »Kein Frieden mit der Europäischen Union« teil, der sich intensiv mit verschiedensten Aspekten der EU-Außen- und Militärpolitik beschäftigte. Einigkeit bestand dabei vor allem in drei Dingen, die gleichzeitig auch wesentliche Schlussfolgerungen des Kongresses darstellen: Erstens, dass sich der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU in Kombination mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten als Brandbeschleuniger auswirken werden, da beide Ereignisse dazu genutzt werden sollen, um die Militarisierung der Europäischen Union und ihren Aufstieg zu einer »Supermacht« in bislang ungekanntem Ausmaß voranzutreiben. Zweitens, dass eine grundsätzliche EU-Kritik auch nicht davor Halt machen darf, die Organisation selbst in Frage zu stellen. Und schließlich drittens, dass alle wesentlichen linken alternativen Europakonzeptionen daran kranken, auf dem »Militärauge« blind zu sein. Die Aufgabe der Friedens- und Antikriegsbewegung besteht deshalb auch darin, diese Lücke zu schließen und antimilitaristische Fragen aktiv in die linke EU-Debatte hineinzutragen.

Nach einer Auftaktveranstaltung am Freitagabend, die sich satirisch mit der »Ideologie EUropa« beschäftigte, begann der Kongress am Samstag mit dem Panel »Europa und die Neusortierung der Welt«. Hier ging Erhard Crome auf die zu erwartenden sicherheitspolitischen Auswirkungen der Wahl Donald Trumps ein. Während zwar eine Chance auf eine Entspannung im Verhältnis zu Russland bestehe, sei andererseits mit einer Verschärfung der Konflikte mit China und mit einem enormen Aufrüstungsdruck auf die EU-Verbündeten zu rechnen. An dieser Stelle setzte der zweite Beitrag von Jürgen Wagner an, der darstellte, wie der anstehende EU-Austritt Großbritanniens und die Wahl Donald Trumps mit der so genannten »Bratislava-Agenda« genutzt werden sollen, die Militarisierung der Europäischen Union massiv voranzutreiben.

Im zweiten Panel, »Chaos und Krieg im ‚Nachbarschaftsraum’«, beschäftigte sich zunächst Claudia Haydt mit der EU-Politik in Osteuropa, die nicht zuletzt in der Republik Moldau bzw. in der Republik Transnistrien erhebliche Konflikte verursacht habe. Aus dem Protest der Moldawier*innen gegen die von der EU angestoßene Militarisierung und durch das bisher unentschiedene Ringen rivalisierender Kräfte im Land entstehe laut Haydt ein ziviler Raum, von dem sie hoffe, dass er genutzt werde. Anschließend stellte Christoph Marischka die Eskalation in Mali zugespitzt als Folge der sich herausbildenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU dar. In deren Sicherheitsstrategie von 2003 sei global schwache Staatlichkeit als Bedrohung Europas definiert worden, wobei darunter v.a. die mangelnde Kontrolle peripherer Räume und Grenzgebiete verstanden wurde. Um genau diese Kontrolle zu erlangen, würde in der Sahel-Region und nicht zuletzt in Mali vermehrt Militär – auch aus Deutschland – eingesetzt.

Unter dem Titel »Union in Uniform: Strukturen des Krieges« beschrieb Tobias Pflüger die militärpolitischen Passagen des seit 2009 geltenden Vertrags von Lissabon. Wesentlich sei bei alldem, dass weder das EU-Parlament noch der Europäische Gerichtshof realen Einfluss auf die EU-Militärpolitik hätten, was Pflüger zu dem abschließenden Fazit veranlasste: Das alles ist auf den ersten Blick extrem kompliziert gemacht, aber eigentlich dann auch recht einfach: Es wird alles so organisiert, dass die EU-Militärpolitik möglichst parlamentsfern und öffentlichkeitsfern ihren Lauf nehmen kann.“ Im Anschluss daran beschrieb Lühr Henken die wichtigsten Komponenten des EU-Militärapparates. Namentlich seien dies v.a. die Schnelle Eingreiftruppe und die Battlegroups. Anschließend ging er auf die seit 2003 stattfindenden EU-Einsätze ein, von denen es aktuell zehn »zivile« und sechs militärische gäbe.

Das Abendpodium firmierte unter dem Titel »EUropa unter Waffen« und hatte zum Ziel, einige der aktuell wichtigsten EU-Rüstungsprojekte und Rüstungsdynamiken vorzustellen. Konkret behandelt wurden NexT – das Fusionsprodukt aus Nexter und Kraus-Maffei-Wegmann –, auf das Andreas Seifert einging. Weiter wurden der Airbus A400M (Roman Christof), das EU-Drohnenprojekt (Marius Pletsch) sowie die Bestrebungen zur Aufstellung eines EU-Rüstungsforschungs- und eines EU-Beschaffungshaushalts (Jürgen Wagner) vorgestellt.

Am Sonntag wurde der Blick stärker nach innen gerichtet, als zunächst Jacqueline Andres über die »EU-Migrationsbekämpfung« referierte. Diese spiegele sich inzwischen nicht nur in der Abschottung der Außengrenzen wider (Stichwort Frontex), sondern auch in der Vorverlagerung der Grenzen (u.a. durch diverse EU-Grenzschutzmissionen in Afrika), was es immer gefährlicher mache, in die EU zu gelangen. Gleichzeitig nähmen gegen die Migrant*innen, die sich in der EU befänden, die Repressionen immer weiter zu.

Gerade diese »Innenräume der Militarisierung« nahm das nächste Panel intensiv in den Blick. Martin Kirsch ging auf die Militarisierung der EU-Polizeien mit Fokus auf die Entwicklung in Deutschland ein. Danach sprach Thomas Gruber über die Positionierung der Europäischen Union im Cyberraum. Der dritte Beitrag von Christopher Schwitanski behandelte die Haltung und Arbeitsweise der EU zur »Strategischen Kommunikation« (StratCom), die sich wohl passender als »Propaganda« bezeichnen lasse.

Zum Abschluss des Kongresses sprachen Malte Lühmann und Tobias Pflüger unter dem Titel »Reform? Neugründung? Widerstand? Linke Europakonzeptionen und Ansatzpunkte für konkretes Handeln« über die in den letzten Jahren deutlich lebhafter gewordenen linken Debatten zum Thema EU und Europa. Dafür wurden zunächst die derzeit wohl wichtigsten linken europapolitischen Alternativkonzepte vorgestellt (Europa neu begründen, Plan B, DiEM25, Blockupy, Europa der Alltagskämpfe). Unabhängig davon, wie positiv jedes dieser einzelnen Konzepte bewertet würde, sei besonders auffällig, dass bisher alle Entwürfe daran krankten, antimilitaristische Fragen komplett auszublenden, was eine große Schwäche der aktuellen Debatte darstelle.

Jürgen Wagner

Friedensmanifest

Friedensmanifest

Schutz der Menschenrechte durch Prävention

Trägerkreis Internationale Münchner Friedenskonferenz

Das nachfolgende Manifest ist entstanden aus dem Kontext der Internationalen Münchner Friedenskonferenz – seit Jahren ein Ort zur Diskussion friedenspolitischer Perspektiven und Handlungskonzepte. Das Manifest greift politische, zivile und gewaltfreie Konzepte zur Konfliktbearbeitung und zum Schutz der Menschenrechte auf. Es bündelt Vorschläge und Konzepte aus der Friedensbewegung und diversen Organisationen. Das Manifest wurde 2016 bei einem Expertenhearing im Rahmen der Münchner Friedenskonferenz vorgestellt und diskutiert; dort vorgetragene Anregungen und Einwände wurden in der hier abgedruckten Fassung berücksichtigt.
W&F dokumentiert mit dem Abdruck des Manifestes exemplarisch, welche Themen und Handlungsvorschlage in der deutschen Friedensbewegung momentan diskutiert werden.

Menschen und Menschenrechte schützen und Konflikte zivil bearbeiten: Ja! Krieg: Nein!

Wir – die Personen und Gruppen, die das Papier unterstützen – akzeptieren die Verantwortung der Staaten wie der Zivilgesellschaft für den Schutz der Menschen vor Verbrechen wie Völkermord, Vertreibung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Krieg ist jedoch kein Mittel, um Konflikte zu lösen oder Menschenrechte zu schützen.

Die Militärinterventionen der letzten Jahrzehnte sind gescheitert, gemessen an den vorgegebenen Zielen wie Durchsetzung der Menschenrechte, Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie haben die internationalen Beziehungen verschlechtert, Konflikte geschürt und den Extremismus gefördert. Flächenbrände sind dadurch entstanden und stürzen die betroffenen Regionen ins Elend. Millionen von Menschen verlieren Heimat und Existenzgrundlage.

Gebraucht wird ein grundsätzlich neuer Ansatz für die Verhinderung von Kriegen und den Schutz der Menschenrechte, der durch Regierungen, Zivilgesellschaft und internationale Einrichtungen unterstützt wird.

Ein tiefgründiges Umdenken ist notwendig: Weg von »Krieg als Mittel der Politik für eine Minderheit«, hin zum »Frieden als Lebensgrundlage für alle«. Sicherheit und Frieden wird nur erreicht, wenn die Verwirklichung der Menschenrechte und eine nachhaltige Entwicklung für Menschen und Umwelt angestrebt werden.

Die Antwort auf die Spirale der Gewalt ist die Vision der Entmilitarisierung der Politik und der allgemeinen und vollständigen Abrüstung.

Die folgenden Themen benennen relevante Politikbereiche:

Stärkung der UNO und der OSZE

Die Sicherheits- und Militärpolitik Deutschlands und der EU muss die Charta der UN in vollem Umfang respektieren. Das Friedensgebot des deutschen Grundgesetzes muss politische Leitlinie sein.

UNO und OSZE sind grundlegende Foren für zivile Konfliktbearbeitung zwischen den Staaten und sollten als solche umfassend akzeptiert und genutzt werden. Militäraktionen ohne Mandat des Sicherheitsrates stehen dazu im krassen Widerspruch!

Internationale Sicherheit ist im Geiste der UN-Charta nur als gemeinsame Sicherheit denkbar. Der Versuch, durch Aufrüstung eine Machtposition der Überlegenheit zu erreichen, ist das Grund­übel, das die Rüstungsspirale antreibt.

Gemeinsame Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung gehören zusammen. Durch die Aufkündigung des ABM-Vertrages 2001 (Begrenzung der Zahl der Abwehrraketen) durch die USA wurde die Ära der Rüstungskontrolle faktisch beendet. Die Gefahr eines Atomkrieges ist wieder gewachsen. Ein neuer Rüstungswettlauf durch quantitative und qualitative Aufrüstung bei Angriffsraketen und Abwehrsystemen droht.

Die Atommächte müssen ihre im Atomwaffensperrvertrag festgelegte Verpflichtung zur Abrüstung umsetzen und ein Moratorium bei der Aufstellung von ABM Systemen vereinbaren. Global Zero – die Perspektive einer Welt ohne Atomwaffen – gehört in der NATO, in der EU und in der UNO wieder auf die Tagesordnung.

Der KSE-Prozess (konventionelle Stabilität in Europa) hatte das Ziel, zu einer deutlichen Reduzierung der Streitkräfte in Europa zu kommen. Das ist heute wieder hochaktuell.

Es sind verbindliche Normen und Regelwerke zur Verhinderung von Cyberkriegen zu entwerfen.

Instrumente für Prävention, Krisenmanagement und Schutz der Menschenrechte sind in den Strukturen der OSZE angelegt, werden aber nur unzureichend genutzt. Neue Instrumente der Früherkennung und der Bewältigung von Krisen sind zu fördern und auszubauen.

Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen ist ein wichtiges internationales Dokument für kohärentes und präventives Handeln für soziale, ökologische, nachhaltige und friedliche Wege der Entwicklung. Notwendig ist die Umsetzung der Agenda in Regierungshandeln mit verbindlichen und für die Partizipation der Zivilgesellschaft transparenten Strukturen. Für die erforderliche finanzielle Ausstattung und die Koordination muss durch die öffentliche Hand gesorgt werden.

Präventive Politik und Diplomatie

Nur wenn in der Politik der Gedanke der präventiven zivilen Bearbeitung von Konflikten Vorrang erhält vor ökonomischen und machtpolitischen Interessen, wachsen die Chancen für den Schutz der Menschen und ihrer Rechte.

In der deutschen Politik müsste dafür ein friedenspolitisches Denken Platz greifen, das ressortübergreifend in der Krisenprävention ein wichtiges Werkzeug für den Schutz der Menschenrechte sieht.

Konflikte können frühzeitig erkannt und bearbeitet werden. Dafür notwendig ist die Erforschung von Ursachen für Kriege und Konflikte, außerdem Forschung und Fortbildung, um ganzheitliche Konzepte der Frühwarnung zu entwickeln und zu institutionalisieren. So können auch neue Konzepte für präventive Strategien erarbeitet, politisch diskutiert und umgesetzt werden.

Einzelstaatliche Instrumente für die Unterstützung von Verhandlungslösungen gilt es auszubauen, politisch aufzuwerten und finanziell angemessen auszustatten.

Dabei müssen Frauen in Friedensverhandlungen und Planungen für den Wiederaufbau gleichberechtigt beteiligt werden, wie es die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrates fordert.

Präventive Wirtschaftspolitik

In der herkömmlichen Politik wird das Konzept der »Schutzverantwortung« meist in Bezug auf »gescheiterte Staaten« diskutiert, die nicht mehr in der Lage seien, ihre Bevölkerung vor Verbrechen zu schützen. Das Scheitern von Staaten ist aber nicht nur durch unbewältigte innere Konflikte bedingt, sondern auch durch die strukturelle Gewalt einer globalisierten Ökonomie. Danach müssen sich die »Entwicklungsländer« den Interessen der transnationalen Konzerne und des reichen Nordens unterordnen.

Exemplarisch sei hier die Politik der EU für die Subventionierung von Agrar­exporten genannt. Billige Agrarexporte nach Afrika und andere Länder des Südens zerstören die Existenzgrundlage der Menschen in der örtlichen Landwirtschaft.

Geschäftspraktiken multinationaler Agrarunternehmen, wie etwa Landkauf und Monopolisierung von Saatgut, gefährden die Ernährungssouveränität der Entwicklungsländer.

Die so genannten Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TISA dienen vor allem den mächtigen Wirtschafts­unternehmen der Industrienationen und werden die Armut in der Welt vertiefen und damit das Risiko für Massenflucht auf ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erhöhen.

Stattdessen sollte die Förderung und Entwicklung regionaler Versorgungssysteme Vorrang haben. Dafür müssen ethisch akzeptable Regelwerke für den Welthandel unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeitet werden. Entsprechend muss die Außenwirtschaftspolitik für mehr Gerechtigkeit in den Wirtschaftsbeziehungen neu konzipiert und in den Zusammenhang mit Kriegsverhütung und Schutz der Menschenrechte gestellt werden.

Deutsche Außenwirtschaftspolitik und Entwicklungszusammenarbeit muss auf die Entwicklung nachhaltiger und eigenständiger industrieller Strukturen der »Entwicklungsländer« abzielen. Das bedeutet die Bewertung der Praktiken der transnationalen Konzerne unter friedenspolitischen Gesichtspunkten und die Begrenzung ihrer Macht durch einzelstaatliche Gesetze und internationale Vereinbarungen.

Statt der Orientierung auf militärisch unterstützten Zugriff auf begrenzte Rohstoffe ist eine Umsteuerung hin zu einer nachhaltigen und fairen Wirtschaftsweise erforderlich.

Der Finanzsektor muss einfache Finanzdienstleistungen für alle bereitstellen, die zur Entwicklung von gerechten und nachhaltigen Gesellschaften beitragen. Finanzdienste sollen grundsätzlich die reale Wirtschaft unterstützen und gemeinwohlorientiert sein. Die Aktivitäten des international tätigen Finanzkapitals müssen durch ein internationales Forum reguliert und beaufsichtigt werden. Ein wichtiger Schritt ist die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

Rüstungsexporte stoppen – Waffenhandel verhindern

Auch deutsche Rüstungsexporte tragen zur Militarisierung von Konflikten bei. Militärisch ausgetragene Territorial-, Verteilungs- und Machtkonflikte zerstören wirtschaftliche, staatliche und soziale Strukturen. Kriege verschlingen ungeheure Mittel, kosten unzähligen Menschen das Leben und führen zu Verarmung und neuen Konflikten. Produktion und Anschaffung von Waffen entzieht den Haushalten Unsummen, die für notwendige Aufgaben fehlen.

Schutzverantwortung durch Prävention bedeutet: Keine weiteren Rüstungsexporte genehmigen, keine Bürgschaften für den Export von Rüstungsgütern bewilligen, ausgemusterte Waffen der Bundeswehr nicht verkaufen, sondern verschrotten. In den Artikel 26, Absatz 2 des Grundgesetzes soll ein grundsätzliches Verbot von Rüstungsexporten aufgenommen werden, das fordert die breit getragene Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel«.

Darüber hinaus sollte Deutschland in der EU und in den internationalen Organisationen Initiativen ergreifen und unterstützen, die auf Eindämmung und Verhinderung des internationalen legalen wie illegalen Handels mit Waffen und Rüstungsgütern zielen, z. B. in der UN-Konferenz zur Begrenzung des Waffenhandels.

Zivile und gewaltfreie Handlungsmöglichkeiten unterstützen und entwickeln

Notwendig ist die Entwicklung und gesellschaftliche Verankerung einer Kultur des Friedens. Dazu bedarf es vor allem der Einübung von individuellem Gewaltverzicht, von Dialog- und Kommunikationsverhalten sowie gewaltfreier Methoden des Zivilen Ungehorsams.

Konzepte für zivile Konfliktbearbeitung im gesellschaftlichen und innerstaatlichen Bereich sind vorhanden, viele Erfahrungen wurden gesammelt. Es ist notwendig, neue und zivile Wege zum Schutz von Zivilbevölkerung und ihrer Menschenrechte zu erproben.

Dazu gehört auch das zivile Peace­keeping, das in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich umgesetzt wurde. Gruppen von ausgebildeten gewaltfreien Friedensfachkräften können in Konflikten unbewaffnet und unabhängig von Regierungsinteressen auftreten, beobachten, vermitteln und Konflikte entschärfen. Sie können sowohl zur Frühwarnung vor Krisen als auch zur Überwachung von Vereinbarungen beitragen. Frühwarnsysteme (»Monitoring«) können z.B. über das Konfliktverhütungszen­trum der OSZE in Wien vernetzt werden.

Ziviles Peacekeeping bietet sich auch als ergänzendes Instrument für die Vereinten Nationen an. Dafür müssen Konzepte erarbeitet und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

Internationale Organisationen, wie die Nonviolent Peace Force oder Peace Brigades International, brauchen mehr Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, so dass sie unabhängig von staatlichen und ökonomischen Interessen agieren können. Sie können auf gesellschaftlicher Ebene eingreifen, wo Staaten und zwischenstaatliche Einrichtungen keine Legitimation (Souveränitätsprinzip), keine Glaubwürdigkeit und keine Instrumente haben.

Der Zivile Friedensdienst (ZFD) fordert von der Bundesregierung eine deutliche Aufstockung der Finanzmittel für den Haushaltstitel »Ziviler Friedensdienst«.

Je mehr Menschen sich für gewaltfreie Konfliktbearbeitung qualifizieren, umso besser können demokratische Prozesse und friedliche Konflikttransformation unterstützt werden.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Einführung eines Zivilsteuergesetzes: Kein Steuer-Zwang zur Mitfinanzierung der Militärausgaben.

Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen

Derzeit kann auch ein umfassendes und politisch umgesetztes Konzept der Schutzverantwortung nicht ausschließen, dass es zu bewaffneten Konflikten kommt, in welchen Völkermord oder gravierende Verbrechen drohen oder stattfinden. Es sind Situationen denkbar, in welchen politische und zivile Mittel versagt haben oder nicht mehr zur Anwendung kommen, staatliche Strukturen nicht vorhanden sind und kriminelle Vereinigungen oder Regierungen Verbrechen gegen die Bevölkerung begehen.

Ein Konzept für neutrale, am Völkerrecht und an Polizeiaufgaben orientierte Sicherheitskräfte unter Kommando der UNO sollte ausgearbeitet werden. Diese Sicherheitskräfte sollen in Fällen von bevorstehendem Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ausschließlich – zum Schutz der unmittelbar betroffenen Menschen eingesetzt werden. Die Konstruktion eines solchen Polizeikonzeptes muss ausschließen, dass nationale Verbände für nationale oder imperiale Ziele sowie für Kriegshandlungen eingesetzt werden: durch ein neutrales Kommando, durch den Einsatz ausschließlich auf Beschluss des Sicherheitsrates oder der Generalversammlung der UN, durch multinationale Zusammensetzung der Verbände, durch verbindliche Orientierung auf Völker- und Menschenrecht, durch entsprechende Ausbildung, Logistik und Bewaffnung und durch entsprechende Definition von Einsatzkriterien und Richtlinien.

Die Sicherheitskräfte können mit einem konkreten Auftrag in konkreten Krisen- oder Gefährdungslagen eingreifen. Sie haben keine weiteren Polizeiaufgaben zu übernehmen. Sie sind defensiv ausgerichtet, leicht bewaffnet und am Schutz gefährdeter Menschen orientiert und sollen, entsprechend den Polizeiaufgaben, Verbrechen verhindern. Für ihr Handeln gelten allgemeine zivile Rechtsnormen, keine Kriegs- oder Sonderrechte.

Die Erfahrungen von neutralen Staaten wie Österreich oder Schweden mit Blauhelmeinsätzen können hier ausgewertet und einbezogen werden. Eine Umschulung von Bundeswehr-Soldat*innen für diese Aufgaben soll gefördert werden.

Die Erarbeitung eines solchen Polizeikonzeptes ist eine Herausforderung für Zivilgesellschaft und Parteien; auch die Friedensbewegung sollte hier kritisch-konstruktiv mitwirken. Das Konzept soll Einsätzen von NATO und nationalen Armeen die Legitimation zu Interventionen entziehen und die Bedenken vieler Menschen aufgreifen, die in manchen Situationen einen bewaffneten Schutz von Menschenleben für erforderlich halten.

Eine derartige Einrichtung sollte den Status einer sich entwickelnden Übergangslösung haben. Entmilitarisierung und Abrüstung, die Entwicklung der zivilen Instrumente und die Umsetzung der präventiven Maßnahmen sollen den Einsatz dieser (bewaffneten) Sicherheitskräfte überflüssig machen!

Dieser Text spiegelt den Diskussionsstand vom 10. Januar 2017 wider. Es ist geplant, eine Unterstützerliste zusammenzustellen, um sie dem Manifest anzufügen. ­Kontakt über office@friedenskonferenz.info.

Ramstein-Proteste und Whistleblower


Ramstein-Proteste und Whistleblower

Aktionstage der Kampagne »Stopp Ramstein«, Ramstein, 9.-12. Juni 2016

von Reiner Braun

Die US-Airbase Ramstein ist die größte US-Militärbasis auf deutschem Boden. Hier laufen die Informationen über die Interventionskriegseinsätze der US-Armee weltweit zusammen. Hier befindet sich die Einsatzzentrale für in Europa stationierte Atomwaffen. Ramstein ist das größte Munitions- und Logistiklager außerhalb der USA. Das alles ist nicht neu. Doch erst als Whistleblower ihre Informationen an die Öffentlichkeit brachten, wurde bekannt, dass über Ramstein auch Drohnen gesteuert werden, die weltweit gezielt und völkerrechtswidrig »Terroristen«, ­häufig aber auch Zivilisten töten.

Die Rolle von Ramstein als Spionage- und Überwachungszentrum des militärischen US-Geheimdienstes NSA sowie bei Drohneneinsätzen wurde durch die Whistleblower Edgar Snowden und Brandon Bryant aufgedeckt. Nachdem durch Snowdens Enthüllungen Journalisten auf das Drohnenprogramm der USA aufmerksam geworden waren, entschloss sich auch Brandon Bryant, zu reden. Er beschrieb seine Rolle als Drohnen»pilot« bei Einsätzen im Irak und gab den Medien und der Öffentlichkeit damit Einblick in das US-Drohnenprogramm. 1.626 gezielte Tötungen führte seine Einheit insgesamt aus, ist auf seiner Entlassungsurkunde vermerkt. Er offenbarte, dass die Steuerbefehle der Drohnenpiloten aus den USA über ein blitzschnelles Glasfasernetz an die Relaisstation in Ramstein und von dort an die Drohne weitergeleitet werden; umgekehrt werden Bilder der Drohnenkameras in Ramstein ausgewertet, mit weiteren Informationen verknüpft und in die USA gesendet. Vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sagte Brandon Bryant im Oktober 2015 außerdem aus, dass deutsche Geheimdienste die Handynummern mutmaßlicher Terroristen an die USA weitergeben, die diese zur Ortung und zu gezielten Tötungen nutzen.

Das Wissen um die entscheidende Rolle von Ramstein für den weltweiten Drohnenkrieg verdanken wir also den Whistleblowern; von ihnen erfuhren die Öffentlichkeit und die Politik, wie das völkerrechtswidrige Töten von deutschem Boden aus funktioniert. Dafür wurden Edward Snowden (2013) und Brandon Bryant (2015) mit dem Whistleblowerpreis der Vereinigung Demokratischer Wissenschaftler (VDW) und der Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA) ausgezeichnet.1

Für die Friedensbewegung waren diese Enthüllungen Grundlage der Kampagne gegen die Drohnen, und durch die Enthüllungen wurde auch die Kampagne »Stopp Ramstein« inhaltlich mit geprägt. Die bekannt gewordenen Fakten stärken die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz und somit auch die Mobilisierungsfähigkeit, durch die sich die Kampagne »Stopp Ramstein« auszeichnet. Inzwischen gibt es bundesweit schon etwa ein Dutzend regionale »Stopp Ramstein«-Initiativen.

Nach einer ersten Demonstration vor der US-Airbase in Ramstein im September 2015 kam es von 9. bis 12. Juni 2016 rings um Ramstein zu den bislang größten Protestaktionen gegen Drohneneinsätze in Deutschland. Es waren zugleich die größten Aktionen zur Aufklärung und Informationsvermittlung in der Geschichte des jahrzehntelangen Protestes gegen die Militärbasis der USA in Ramstein. Etwa 5.000 Menschen bildeten am Samstag trotz strömenden Regens eine (fast) geschlossene Menschenkette durch die Ortschaften um die Airbase und beteiligten sich an der abschließenden Kundgebung vor dem Tor des Luftwaffenstützpunktes. Erstmals nahmen internationale Gäste aus einer ganzen Reihe von Ländern an den Aktionen teil.

Bereits am Tag vor der Menschenkette waren sämtliche inhaltlichen Veranstaltungen überfüllt; u.a. besuchten mehr als 600 Menschen die öffentliche Abendveranstaltung in der Versöhnungskirche Kaiserslautern mit Willy Wimmer und Albrecht Müller. Zusätzlich beteiligten sich über die gesamten Tage mehr als 500 TeilnehmerInnen an vielfältigen Diskussionen im Friedenscamp. Das Friedenscamp, am Ende trotz anhaltenden Regens völlig überfüllt, war vielleicht der Höhepunkt des gesamten Wochenendes. Die Wiese des Camps stellte ein örtlicher Landwirt kostenfrei zur Verfügung; ebenso wurde Infrastruktur durch Anwohner bereitgestellt. Dies wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen und unterstreicht die Veränderung des Klimas vor Ort. Zusätzlich wurden 10.000 Flugblätter und weiteres Informationsmaterial an die örtliche Bevölkerung verteilt.

Alle Rednerinnen und Redner unterstrichen die zentralen politischen Anliegen der Demonstrierenden: als ersten Schritt die nachrichtendienstliche Relaisstation, längerfristig auch die Airbase insgesamt zu schließen und das Truppenstationierungsabkommen zu kündigen. Die Demonstrierenden bekundeten auch ihre Solidarität mit den Flüchtlingen, die sich aufgrund der Kriege der USA und der NATO zu uns auf den Weg machen müssen.

Das Resümee der vielfältigen Aktivitäten an diesem Wochenende: Durch die Veranstaltungen im Vorfeld und das Aktionswochenende hat sich die Stimmung in der Region zugunsten von Frieden verändert. Die Aktionen waren jung, zugleich beteiligten sich viele langjährige AktivistInnen. Der Mix unterschiedlichster Aktionsformen – von Saalveranstaltungen bis zu der Menschenkette und dem Friedenscamp – wurde gut angenommen und ermöglichte die breite Einbeziehung von Aktiven, Engagierten und regionaler Bevölkerung.

Völlig neu und in dieser positiven Dimension unerwartet war die breite und vielfältige Medienresonanz. Reuters produzierte einen Video-Clip, der auch auf BILD.de und stern online gezeigt wurde. dpa und epd informierten umfassend; berichtet wurde von der Deutschen Welle und mehreren Fernsehsendern bis zur örtlichen Monopolzeitung Rheinpfalz und der US-Zeitung der Region, »stars and stripes«. Undenkbar wären die Veranstaltungen und ihre intensive Vorbereitung ohne die Unterstützung der neuen alternativen Medien gewesen. Diese enge Zusammenarbeit ist ein Unterpfand für künftige erfolgreiche Aktionen der Friedensbewegung; sie sollte ausgebaut und erweitert werden.

Die Aktionen der Kampagne »Stopp Ramstein« wurden in der Vorbereitung kontrovers, manchmal hämisch, einige Male auch verleumderisch diskutiert. Das Wochenende hat aber eindrucksvoll und überzeugend die Friedensbewegung in ihrer ganzen Breite und Vielfalt auf die Beine gebracht.

Eines fällt dabei auf: Die Friedensforschung fehlte in Ramstein und ist bisher kein Bestandteil der Kampagne »Stopp Ramstein«; das ist bedauerlich. Lediglich der von der Kampagne eingerichtete »Runde Tisch Konversion« zeigte erste Berührungspunkte zur Wissenschaft. Anforderungen an die Friedensforschung gäbe es in diesem Bereich genug, Konversion wäre eine.

„Wir werden wiederkommen“, war der einheitliche Tenor der von inhaltlichen Beiträgen und Kultur geprägten Abschlusskundgebung nach der Menschenkette. Um die Rolle Ramsteins bei den Drohneneinsätzen zu beenden, bedarf es einer langen Auseinandersetzung. Hier bieten sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Bewegung und der ­Etablierung von »Bürgerwissenschaft«.

Weitere Informationen sind auf ­ramstein-kampagne.eu zu finden.

Anmerkungen

1) Dieter Deiseroth und Hartmut Graßl (Hrsg.) (2006): Whistleblower-Enthüllungen. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.

Reiner Braun, Geschäftsführer der IALANA