Städte als Friedensbotschafter

Städte als Friedensbotschafter

Die International Association of Peace Messenger Cities

von Alfred Marder

In der Regel wird die Kompetenz und Zuständigkeit für das Thema Krieg und Frieden auf der Ebene der Staaten bzw. Regierungen verortet. Das Leben der Menschen spielt sich aber vor Ort ab, in Dörfern und Städten. Dort erleben sie Gewalt, Krieg und Zerstörung oder aber Sicherheit und Frieden. Außerdem sind die Kommunen für den praktischen Schutz ihrer Bürgerschaft zuständig, haben also ein eigenes Interesse an friedlichen Zuständen, denn schützen können sie die Menschen kaum, wenn die Städte zu Zielen werden. Der Autor berichtet von einem Zusammenschluss von Städten, die sich gemeinsam die Förderung des Friedens und der Vereinten Nationen zum Ziel gesetzt haben.

Im Vorfeld des Internationalen Jahres des Friedens ernannte 1985 die Generalversammlung der Vereinten Nationen 62 Städte aus der ganzen Welt zu »Peace Messenger Cities«, zu Friedensbotschaftern. Die Auswahl erfolgte anhand von Aktivitäten, mit denen die jeweilige Stadtverwaltung ihre Bürgerschaft für den Weltfrieden und die Unterstützung der Vereinten Nationen mobilisierte. Beispielsweise die Stadt in der ich lebe, New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. New Haven beging schon damals jedes Jahr am 24. Oktober den Tag der Vereinten Nationen und organisierte an den Schulen Veranstaltungen zur Förderung des Friedens und der Vereinten Nationen. An diesem Tag gestalteten die Kinder Transparente und Plakate mit ihren eigenen Ideen und marschierten damit um das Stadtzentrum zum Stadtpark. Dort gab es Rede- und Musikbeiträge, und immer war ein Vertreter der Vereinten Nationen dabei.

Der damalige Bürgermeister der französischen Stadt Verdun lud 1988 zusammen mit dem damaligen UN-Generalsekretär Perez de Cuellar alle Friedensbotschafterstädte nach Verdun ein, wo ihnen der Generalsekretär Urkunden und Medaillen überreichte. Außerdem schlug er den Städten vor, sich in einer Organisation zusammenzuschließen, die den speziellen Bedürfnissen von Städten eine Stimme verleihen und Advokatin für den Frieden sein könnte. De Cuellar betonte, dass die Vereinten Nationen nicht nur von den nationalen Regierungen, sondern auch von den Stadtspitzen hören müssten, da diese den Menschen am nächsten seien, ihre Bedürfnisse besser kennen würden und somit ihre Anforderungen und Anliegen am besten transportieren könnten.

Atomwaffen, moderne Kriegsführung und die Städte

Im folgenden Jahr wurden die Städte nach Warschau eingeladen, um in Polen den 45. Jahrestag des Sieges über den Faschismus zu begehen. 1990 richtete dann New Haven eine Generalversammlung der Friedensbotschafterstädte aus, und dabei kamen die Vorbereitungen zur Gründung der International Association of Peace Messenger Cities (IAPMC, Internationale Vereinigung der Friedensbotschafterstädte) zum Abschluss. Die Diskussion kreiste vor allem um die Ziele der neuen Organisation. Ohne große Debatte wurde die vollständige Abschaffung von Atomwaffen als Schlüsselthema festgelegt, das alle Städte verbindet. Die Erfahrungen der Städte Hiroshima und Nagasaki unterstrichen die Relevanz dieser Entscheidung. Die Bedrohung der Städte durch die moderne Kriegsführung landete auf der Agenda ebenfalls ganz oben.

Zu dieser Zeit dominierte das allmähliche Abflauen des Kalten Krieges die globale Politik. Vorher waren die Militärausgaben in die Höhe geschnellt, die Finanzmittel zur Deckung der Grundbedürfnisse der städtischen Bevölkerung hingegen ständig gesunken. Jetzt war die »Friedensdividende« in aller Munde. Bei der Generalversammlung der IAPMC waren sich alle einig, dass die städtischen Spitzen darauf drängen sollten, einen Teil dieser Dividende in die Städte zu lenken. Ein wichtiger Punkt für die Mitgliedstädte war natürlich auch die Unterstützung für die UN-Charta.

Daraus ergaben sich weitere Fragen, die in der IAPMC seither immer wieder neu diskutiert werden: Wie kann man die Ziele der Organisation den Menschen in den Städten näher bringen? Wie macht man den BürgerInnen bewusst, dass die Städte keine Inseln sind, sondern dass sich Krieg und Frieden dort unmittelbar auswirken?

Bei der Generalversammlung 1992 in Genf trat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes an die IAPMC heran und bat um Beteiligung an der weltweiten Landminenkampagne. Das stieß sofort auf Zustimmung, und die IAPMC beteiligte sich am Organisationskomitee der Kampagne, entsandte eine Delegation nach Kambodscha und ermutigte die Mitgliederstädte, ihre Bürgerschaft über diese Aktivitäten zu informieren. Der so genannte Ottawa-Prozess mündete Ende der 1990er Jahre im Vertrag zum Verbot von Antipersonenminen. Auch wenn dem Vertrag noch nicht alle Staaten beigetreten sind, markiert dieses völkerrechtliche Verbot der Herstellung und des Einsatzes von Landminen eine wichtige Etappe mit hoher moralischer Relevanz.

Die Führung der IAPMC nahm außerdem Kontakt zu den Mayors for Peace, den Bürgermeistern für den Frieden, auf. Dieser Städtezusammenschluss, der in den frühen 1980er Jahren von den Bürgermeistern von Hiroshima und Nagasaki initiiert worden war, konzentriert sich thematisch ganz auf die Abschaffung von Atomwaffen. Die IAPMC wurde von den Mayors for Peace nicht nur zu ihren Generalversammlungen eingeladen, sondern auch zu den Vorstandsdiskussionen über ihre globale Kampagne. Auch zu Abolition 2000, einem globalen Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Abschaffung von Atomwaffen, unterhält IAPMC Kontakte und beteiligt sich an Konferenzen und Demonstrationen am Rande von UN-Tagungen und -Sitzungsperioden.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der politischen Strukturen der sozialistischen Länder in Osteuropa in den frühen 1990er Jahren stürzte die IAPMC in eine Krise: Viele Friedensbotschafterstädte kamen aus dieser Region und bezogen sich bei ihren Aktivitäten auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Kampf gegen den Faschismus und seine Folgen. Der radikale Umbruch in diesen Ländern wirkte sich direkt auf die Städte aus. Zusätzlich führten die Jugoslawienkriege innerhalb der IAPMC zu Zerwürfnissen. Dennoch gelang es der polnischen Delegation unter Beteiligung vieler IAPMC-Mitgliedstädte, etliche Kommunen in Jugoslawien mit humanitärer Hilfe zu beliefern. Direkt nach den Bombardements der NATO hielt der Vorstand der IAPMC ein Treffen in Kursevac ab, um den Menschen vor Ort seine Solidarität zu demonstrieren.

Bei der internationalen Friedenskonferenz in Den Haag 1999 organisierte die IAPMC einen Workshop, in dem sie andere internationale Städtevereinigungen zusammenbrachte, darunter zum ersten Mal auch »Local Authorities«, den größten globalen Städteverbund. Dabei einigten sich die anwesenden Vertreter darauf, gemeinsam die Kampagnen zur vollständigen Abschaffung von Atomwaffen sowie zur Senkung der nationalen Militärhaushalte bzw. zur Abschöpfung einer Friedensdividende zu intensivieren.

Innerhalb der Vereinten Nationen wirbt die IAPMC um die Schaffung einer eigenen Kategorie für Städte. Die Zivilgesellschaft ist bei den Vereinten Nationen in Form von Nichtregierungsorganisationen aktiv. Die Städte hingegen werden der Regierungsebene zugerechnet, dabei haben sie ganz andere Bedürfnisse als ihre Staatsführung. Sie sind nahe an den Menschen und können im Kampf für Frieden, nachhaltige Entwicklung, Weltgesundheit und bei den zahllosen weiteren in den Vereinten Nationen abgehandelten Themen eine wichtige organisatorische Rolle spielen. Bei den Vereinten Nationen stieß dieses Ansinnen zunächst auf Wohlwollen, das löste sich auf Betreiben der westlichen Staaten aber bald in Luft auf.

Die ursprünglichen 62 Friedensbotschafterstädte waren von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ausgesucht und benannt worden. Um weitere Städte einbinden zu können, führte die IAPMC Verhandlungen mit den Vereinten Nationen, die einer Ausweitung der Mitgliedschaft zustimmte. Seither hat sich die Zahl der Mitgliedstädte etwa verdoppelt.

Die IAPMC ist auch Mitglied des UN-Komitees für den Internationalen Friedenstag, den 21. September. Die Friedensbotschafterstädte initiierten ein Programm, das per Livestream Schulkinder in Städten der ganzen Welt zusammenbringt. In ihren Aufführungen präsentieren die Kinder ihren Wunsch nach Frieden und tauschen in vielen Sprachen Grüße aus. Diese Art der Zusammenarbeit kostet die Schulen praktisch nichts, da sie ohnehin über die nötige Technik verfügen. Die IAPMC will das Programm ausweiten und lädt weitere Städte zur Teilnahme ein.

Allerdings ist die Organisation auch ständig mit strukturellen Problemen konfrontiert. In den meisten Städten wird die Führungsspitze regelmäßig in Wahlen bestimmt, die je nach Stadt alle zwei, drei oder vier Jahre stattfinden. Nach einem Wechsel der Führungsspitze ändert sich oft die Politik und damit auch die Beteiligung an der IAPMC. Auch ein Wechsel in der Staatsregierung wirkt sich häufig auf die lokale Ebene aus.

Krieg und Frieden ein Thema für Kommunen

Krieg und Frieden, der Militärhaushalt und damit zusammenhängende Fragen betreffen die Städte zwar direkt, das Mandat zur Bearbeitung dieser Themen wird ihnen aber nicht wirklich zugestanden. Dabei können die Stadtspitzen, also die Bürgermeister und Stadtparlamente, wesentlichen Einfluss auf Fragen von Krieg und Frieden nehmen. In manchen Ländern sind die Bürgermeister national einflussreiche Persönlichkeiten.

Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Städte und die Menschen in den Städten sind die Ziele der modernen Kriegsführung mit all ihren Schrecken. Wenn Krieg herrscht, können Städte ihren Dienst an den Bürgern nicht mehr erbringen – und sie können ihre Bürger nicht schützen. Krieg und Frieden sind daher auch Themen für die Kommunen.

Alfred Marder ist Ehrenpräsident der International Association of Peace Messenger Cities und lebt in New Haven, Connecticut/USA. Mehr Informationen zur IAPMC gibt es unter iapmc.org.
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Hagen.

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.

Zivile Aggression

Zivile Aggression

Die Ukraine, die deutsche Außenpolitik und die Friedensbewegung

von Velten Schäfer

Die deutsche Ukrainepolitik seit 2011 lässt sich in drei Phasen einteilen: die Förderung der Opposition bis zur Legitimierung der Platzbesetzer in der heißen Phase des Umsturzes, dann eine kurze Phase des diplomatischen Versagens, in der die Bundesregierung nichts für einen friedlichen Übergang von der alten zur neuen Regierung tat, und schließlich eine dritte Phase, die bis heute anhält, in der die Bundesregierung versucht, die allzu zerstörerischen Dynamiken des von ihr selbst angefachten Konflikts zu bremsen. Die Friedensbewegung muss sich damit auseinandersetzen, dass zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, zum Instrument aggressiven außenpolitischen Handelns uminterpretiert, zu einer gewalttätigen Eskalation von Konflikten beitragen kann.

Im Verlauf des Jahres 2014 bekam man Angst beim Verfolgen der Nachrichten. Könnte es misslingen, den Ukraine-Konflikt einzuhegen? Erinnerte nicht schon dessen Herd auf der Krim an das »Great Game« des 19. Jahrhunderts? Zugleich traten reihenweise Politiker/innen auf, um »mehr Verantwortung« für Deutschland zu fordern. Ganz neu war dies ebenso wenig wie der entsprechende rhetorische Mix aus geopolitischem Determinismus – ein Land von der Größe, Kraft und Lage Deutschlands könne gar nicht anders, als eine »aktivere Rolle« einzunehmen – und der Anrufung einer »Werte«-Mission. Es fiel aber auf, dass »Verantwortung« von Regierungskreisen, mächtigen Multiplikatoren und selbst Teilen der Opposition immer expliziter auch als kriegerische Gewalt buchstabiert wurde.

So bestand das zurückhaltendste Postulat in Bundespräsident Joachim Gaucks viel zitierter Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2014 in dem Halbsatz, zum „äußersten Fall“ dürfe „weder aus Prinzip ‚nein' noch reflexhaft ‚ja'“ gesagt werden. Wagner (2015) weist darauf hin, dass diese Rede keine persönliche Meinung darstellte, sondern „bis hin zu wortgleichen Formulierungen“ auf das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt »Neue Macht, neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie des German Marshall Fund zurückgeht, an dem ausgesuchte Mitglieder der politischen, diplomatischen und publizistischen Elite mitgewirkt hatten. Und als etwas später die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung zu einer außenpolitischen Konferenz lud, nannte es deren Vorstand Ralf Fücks eine „Regression“ deutscher Außenpolitik, dass man sich seit dem Kosovokrieg nur noch zögerlich an militärischen Operationen beteilige. Dem offiziellen Tagungsbericht (Arndt 2014) ist zu entnehmen, dass dies allgemein geteilt wurde – wie auch der Aufruf, die Bundesrepublik müsse „ihren gesamten außenpolitischen Werkzeugkasten sehr viel engagierter nutzen“.

Gaucks Vortrag ließ aufhorchen – weit über den Kreis seiner üblichen Gegner/innen hinaus. In der kritischen Politologie ist schon von einem »Gauckismus« die Rede: Pfeifer und Spandler (2014) beschreiben so ein neues „Amalgam aus geopolitischen Prämissen und protestantisch geprägter Moral“; Wagner (2015) sieht in diesem Zusammenhang die Renaissance eines „Militärchauvinismus“ mehr oder minder traditioneller Bauart heraufziehen. Inwiefern aber entspricht dieser neuen Rhetorik wirklich auch eine neue Politik? Was ist eigentlich drin in jenem »außenpolitischen Werkzeugkasten« und wie benutzt Deutschland diese Instrumente? Was kann daraus für eine kritische Öffentlichkeit, für die Friedensbewegung gefolgert werden? Diesen Fragen versucht der folgende Text am Beispiel des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt nachzugehen, das sich im Groben in drei Phasen zu unterteilen lassen scheint.

Öl ins Feuer

Eine erste Phase beginnt Jahre vor dem Winter 2013/2014. Um 2011 leitet Viktor Janukowitsch – 2010 in einer als korrekt eingestuften Wahl Präsident der Ukraine geworden – eine außenpolitische Kursänderung ein. Neben den weiter laufenden Verhandlungen über eine EU-Assoziierung vollzieht der stark von der russischsprachigen Minderheit im Osten des Landes getragene Präsident eine deutliche Annäherung an Moskau; schon kurz nach seinem Amtsantritt unterzeichnet er einen langfristigen Vertrag über die russische Flotte auf der Krim. Was dann geschieht, beschreibt die DAAD-Stipendiatin Iryna Solonenko (2013), die in Frankfurt (Oder) im Umfeld des von der Böll-Stiftung geförderten Promotionskollegs »Externe Demokratieförderung und Zivilgesellschaft im post-sozialistischen Europa« arbeitete, affirmativ-beratend: Die EU setzt auf die (west-) ukrainische Opposition.

Man habe, so Solonenko, um 2011 „eingesehen, dass in Ländern wie der Ukraine für die erfolgreiche Implementierung von Reformen interner Druck und innenpolitische Nachfrage mindestens so wichtig sind wie Anreize und Sanktionen von außen“. In diesem Sinne habe Brüssel ab 2011 im Kontext der „Aufstände in der arabischen Welt“ seine Politik der „Partnerschaft mit der Gesellschaft“ intensiviert und u.a. die „Fazilität für Zivilgesellschaft, die reformorientierte NGOs unterstützen soll“, sowie den »Europäischen Fonds für Demokratie« eingerichtet. Von 2011 bis 2013 habe allein die »Fazilität« 37 Millionen Euro in die »Zivilgesellschaft« der östlichen Nachbarstaaten gepumpt. Ab 2011 hätten „mehr und mehr NGOs ihre Kapazitäten dafür“ eingesetzt, „dass die Ukraine diese wichtige Chance nicht endgültig verpasst“. Es häuften sich die Anzeichen, schreibt Solonenko wenige Monate vor den Maidan-Ereignissen, „dass sich eine Form systematischeren Drucks auf politische Entscheidungsträger entwickelt“.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es greift viel zu kurz, den »Maidan« nur auf diese Politik der »pro-westlichen Landschaftspflege« zurückzuführen und ihn pauschal als extern finanzierten Staatsstreich einzustufen. Solche Bewegungen lassen sich weder einfach von außen »aufbauen« noch sind sie punktgenau zu steuern. Sie haben erhebliche Eigendynamiken, »der Westen« ist für viele Akteure aus verschiedenen Gründen politisch und ökonomisch attraktiv. Die unterstützten Organisationen und Strömungen sind weder einfach Einflussagenten noch steht bei ihnen die Außenpolitik notwendigerweise an erster Stelle; oft kümmern sie sich um reale soziale Probleme. Dennoch ist die »Maidan«-Bewegung bereits in der Entstehung nicht ohne das Kräftefeld denkbar, das von außen aufgebaut wurde, und schon gar nicht ihr »Sieg« ohne den dann demonstrativen Schulterschluss westlicher Regierungen mit einer Bewegung, die sich über Wochen auf einem zentralen Platz verbarrikadierte und schon frühzeitig durch zunehmende Militanz zu der dramatischen Zuspitzung beitrug.

Während diese Politik einer Einbindung der »Zivilgesellschaft« nach dem Lehrbuch jüngerer »Soft Power«-Strategien (Nye 2004, Maaß 2015) ein EU-Projekt war und ist, tat sich Berlin besonders darin hervor, die Platzbesetzer in der heißen Phase zu legitimieren und den Konflikt so weiter anzuheizen. Als sich Anfang Dezember 2013 mit dem damaligen Außenamtschef Guido Westerwelle (FDP) der offizielle außenpolitische Repräsentant jenes Landes dort zeigte, das im Osten Europas als EU-Hauptmacht gilt, war die Entscheidung de facto gefallen. Keine westliche Regierung ging so weit in ihrer Einmischung wie die deutsche. Mehrfach wurde mit dem tatsächlich chancenlosen Ex-Sportstar Vitali Klitschko sogar der kommende Präsident präsentiert. Sollte einmal die Vorgeschichte eines neuen Krimkriegs geschrieben werden müssen, verdient Westerwelle ein Kapital darin.

Diplomatisches Versagen

In der ersten Phase des Konflikts betrieb Berlin also eine ausgesprochen offensive Politik gegen eine korrupte, aber legitime Regierung, die einen unliebsamen außenpolitischen Kurs einschlagen wollte. Die deutsche Politik, die auf einen Regimewechsel zielte, schien aufzugehen und wurde von Westerwelles Amtsnachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) fortgesetzt. Die Ernte sollte im »Kiewer Vertrag« vom Nachmittag des 21. Februar 2014 eingefahren werden.

Das Abkommen zwischen Präsident Viktor Janukowitsch, dem späteren Ministerpräsidenten Arsenij Jazeniuk, der nationalistischen Partei Swoboda sowie Berlins Favoriten Klitschko wurde von Steinmeier, dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski sowie einem hohen Beamten aus Paris gegengezeichnet. Es sah die Außerkraftsetzung der Janukowitsch-Verfassung von 2010, die Wiedereinsetzung der Juschtschenko-Verfassung von 2004, die Erarbeitung einer neuen Verfassung, eine internationale Untersuchung der Todesschüsse auf dem Maidan sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen vor. Doch noch am selben Abend fand der Sturm auf den Präsidentenpalast statt. Steinmeier, Sikorski und der französische Emissär hatten zwar beim so genannten Maidan-Rat für das Abkommen geworben, für seine Umsetzung aber nichts getan. Kaum war Steinmeier in Berlin aus dem Flugzeug gestiegen, standen die Zeichen auf Eskalation.

Damit begann eine zweite Phase des Konflikts, die nur wenige Wochen andauerte und spätestens Mitte März endete, als auf Rathausdächern im Osten der Ukraine russische Fahnen auftauchten und das vom Westen nicht anerkannte Krim-Referendum stattfand. In dieser Zeit, am besten am Morgen nach dem Putsch in Kiew, hätte man Druck auf die neuen Machthaber aufbauen müssen, um eine Übergangsregierung der nationalen Versöhnung zu schaffen und Teile des Abkommens zu retten. Wäre etwas derartiges gelungen, hätte Russland keine Handhabe gehabt, derart massiv in einem Konflikt zu intervenieren.

Bekanntlich kam es anders: Die »westlichen« Staaten, besonders auch Deutschland, behandelten die zunächst kaum rechtmäßige Regierung, an der extreme Nationalisten auf sicherheitsrelevanten Posten beteiligt waren, wie einen normalen Partner. In Berlin wurde sogar gedrängt, man müsse das EU-Assoziierungsabkommen nun schnell abschließen. Als Russlands Präsident Wladimir Putin wenig später die Angliederung der Krim feierte, war gerade dies sein zentrales und populäres Argument: Der Westen habe so „unprofessionell“ gehandelt, dass man sich in vitalen Sicherheitsfragen nicht auf ihn verlassen könne.

Der Autor weiß nicht, wie in diesen entscheidenden Tagen im Auswärtigen Amt diskutiert wurde. Von deeskalierenden diplomatischen Initiativen allerdings wurde nichts bekannt. Einem Brief Steinmeiers an die SPD-Basis zufolge unterschätzte man die mit Händen zu greifende Dynamik des Konflikts in Berlin geradezu grotesk: „Die Welt ist aus den Fugen. Niemand hätte im vergangenen Jahr die Krisendynamik erahnen können, die unsere Außenpolitik heute auf eine harte Probe stellt“, heißt es darin im September 2014. Dabei hatte Moskau bereits nach der einseitigen Legitimierung des Kosovo gegen das russische Veto im UN-Sicherheitsrat zu verstehen gegeben, man fühle sich nun gleichfalls nicht mehr an die Unverletzlichkeit von Grenzen gebunden.

Moderation ohne Akzente

Das Handeln Deutschlands in dieser entscheidenden Phase war von diplomatischer Kopflosigkeit geprägt. Dass Berlin das Februarabkommen, das einen friedlichen Übergang hätte bringen können, ohne Weiteres fallen ließ, wurde zum Wendepunkt. Danach spitzte sich der Konflikt mit dem Krim-Referendum, dem Massaker von Odessa sowie den aus Russland (wohl nicht nur regierungsseitig) unterstützten Sezessionsbewegungen zunächst dramatisch zu.

In dieser dritten, andauernden Phase traten die USA offen auf den Plan. Nun wird zunehmend mit dem klassischen Instrumentarium von »Hard Power« – hier Sanktionen, militärische Drohgebärden und teils Waffenlieferungen, dort massive Hilfe für die Sezessionisten – gearbeitet. Und nun (erst) veränderte sich Berlins Haltung spürbar: Die Bundesregierung, die erst forsch auf Eskalation gesetzt und dann eine europäische Lösung verspielt hatte, nimmt jetzt die Rolle einer Bremserin und Moderatorin ein. Im einsetzenden Wirtschaftskrieg trat Berlin eher zögerlich auf; zugleich versuchte man nicht ganz ohne Erfolg, die Falken aus Übersee und der östlichen EU zu bremsen. Das – wenn auch stets prekäre – Einfrieren des Konflikts um die »Volksrepubliken« von Lugansk und Donezk (»Minsker Abkommen« vom September 2014 und Februar 2015) ist durchaus auch ein deutscher Erfolg.

Allerdings setzt Berlin ganz im Gegensatz zur Rhetorik der »Verantwortung« keinerlei Akzente. So wird (zumindest nicht nachvollziehbar) bei ukrainischen Verletzungen der »Minsk-Abkommen« kein Druck auf die Regierung in Kiew ausgeübt, während vermeintlich oder tatsächlich von Moskau ausgehendes Zuwiderhandeln skandalisiert und sanktioniert wird. Obgleich das Völkerrecht kein Dekalog ist und, wie der Hamburger Rechtsprofessor Reinhard Merkel (2014) lesenswert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dargelegt hat, auch anders ausgelegt werden kann, beharrt Berlin darauf, die »völkerrechtswidrige Annexion« der Krim durch den »Aggressor« Russland sowie die Verletzung der »territorialen Unversehrtheit« der Ukraine zu brandmarken. Wenn damit eine »Rückgabe« der Krim gemeint ist, so ist das utopisch, nicht nur gegenüber der Regierung Putin, sondern gegenüber allen Folgeregierungen. Eine Normalisierung der Ukraine scheint ohne eine – wie auch immer konstruierte – Berücksichtigung des Status quo auf der Krim undenkbar. Womöglich könnte eine solche Perspektive Moskau dazu bewegen, auf eine Überführung der »Volksrepubliken« in Autonomieregionen innerhalb der Ukraine hinzuwirken. Allerdings gewinnen auch diese an Eigendynamik. Ob der Kreml, wenn er wollte, die Sezessionsbewegung dort noch einfach zurückpfeifen könnte, scheint offen.

»Smart Power« und der Abschied von Galtung

Inwiefern finden sich nun in diesem Handeln Anzeichen einer »gauckistischen« Wende? Marschiert ein neuer »Militärchauvinismus«? Gibt es, wie Albrecht von Lucke (2014) zur Gauck-Rede anmerkt, einen „Wechsel von einer Kultur der Zurückhaltung zu einer ‚Kultur der Kriegsfähigkeit' (Josef Joffe)“ und einen „Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der Interessen“? Wäre, wie Spandler und Pfeifer (2014) schreiben, dem zunehmend waffenstarrenden Diskurs eine Revitalisierung des „Friedensmachtkonzepts“ entgegenzusetzen? Ich meine, dass sich aus der Analyse des deutschen Agierens im Ukrainekonflikt für die Friedensbewegung etwas ganz anderes ergibt: nämlich die Folgerung, dass solche Gegenüberstellungen nicht mehr greifen und daher weitreichende, nicht unproblematische Diskussionen anstehen.

Zumindest muss beim »Interesse« differenziert werden. Das Agieren Berlins mag im strategischen Interesse einer Treue zur NATO liegen, die in diesem Konflikt ihr 1990 errungenes Monopol auf das Leben-Machen und Sterben-Lassen von Staaten verteidigt. Deutschlands ökonomisches Interesse wird aber grob verletzt, was sich im defensiven Verhalten der Kapitalverbände manifestiert, das traditionellen Imperialismustheorien geradezu Hohn spricht. Offenbar kann eine Interessen und Kompromisse abwägende Politik dem Frieden dienlicher sein als eine gesinnungsethische, auf »Werten« basierende. Nicht umsonst erwiesen sich gerade gewisse Teile der Grünen als besonders aggressiv. Schon weil Werthaltungen subjektiv sind, ist die Gegenüberstellung von »Werten« und »Interessen« prekär. Zu den erhellenden Passagen jener Gauck-Rede gehört die Feststellung, dass viele zwischen »Werten« und geostrategischen Interessen des »Westens« keinen Widerspruch sehen. »Wir« sind nun mal die Guten.

Der Konflikt zeigt ferner, dass auch eine normative Gegenüberstellung »friedlicher« und »kriegerischer« Mittel erodiert. Auch mit zivilen Mitteln lässt sich ausgesprochen aggressiv auftreten. Um das Argument zuzuspitzen: In zeitgenössischen Konzepten von »Smart Power«, die »harte« und »weiche» Macht flexibel verzahnen, besteht zwischen Künstlerstipendium, NGO-Förderung, Warenboykott und Bombenangriff ein nur gradueller Unterschied. Das wirklich neue, gefährliche, im Ukrainekonflikt offensiv genutzte Instrument im »Werkzeugkasten« stammt nicht aus der militaristischen Rumpelkammer, sondern aus dem Repertoire der »Soft Power«: Es ist die »Partnerschaft mit der Zivilgesellschaft« in als »Störer« identifizierten Ländern. Diese ist erstens geeignet, unkontrollierbare innere Spannungen zu fördern, die erhebliche innere wie äußere Eskalationsgefahren bergen. Eine solche Politik gezielter Verzahnung von Regierungshandeln und gesellschaftlichem Engagement kann zudem im Sinne ihrer erklärten Ziele kontraproduktiv sein: Sie bringt etwa das Eintreten für Minderheitenrechte in den permanenten Verdacht, Teil einer externen Regimewechselstrategie zu sein. Sie trägt zu einer zusätzlichen Politisierung selbst harmloser Anliegen bei und kann in den Zielländern Repression noch verschärfen. Um in Zukunft Menschenrechts- oder Gewerkschaftsinitiativen zu stützen, müssten neue Rahmen gefunden werden. Als Feature des Regierungshandelns von Staaten oder Staatenbündnissen ist dieses Instrumentarium nachhaltig kontaminiert.

Für die Friedensbewegung ist von Bedeutung, dass dieser zivilgesellschaftliche Interventionismus formal auf Praxen transnationaler Vernetzung sozialer Bewegungen fußt, die nun in internationales Regierungshandeln übersetzt werden. Es ist kein Zufall, dass etwa in Deutschland entsprechende Agenden von Rot-Grün aufgesetzt wurden; 2004 entstand etwa das im Wortsinn absurde Institut eines »Regierungskoordinators« für die »zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft«.

Auf die feindliche Übernahme von Grassroots-Politiken kann die Friedensbewegung auf zwei Arten reagieren: Sie kann, wozu nicht nur Teile der Grünen sondern auch der Linkspartei zu neigen scheinen, die Selektivität dieses Interventionismus skandalisieren: Druck wird nur dort gemacht, wo es passt. Das ist dann nichts anderes als die Forderung nach noch mehr, wenn auch (zunächst) ziviler, Intervention. Die Alternative wäre eine anti-interventionistische Neuaufstellung, die freilich kategorial sein müsste, um zu mobilisieren. Überprüft werden müsste dann die traditionelle Neigung der Linken zu »idealistischen« Auffassungen internationaler Politik. Kommt nicht das Hoffen auf die Verrechtlichung und Institutionalisierung derselben dem Reiten eines toten Pferdes gleich, seit nicht nur der »Westen« Völkerrecht und Vereinte Nationen nur noch als eine Option betrachtet, sondern auch Russland seinen durch Schwäche begründeten internationalen Legalismus der 1990er und frühen 2000er Jahre aufgibt?

Entwickelt werden müsste ein »kritischer Realismus«, der die Welt als Kräftemessen betrachtet, ohne – wie »Realisten« à la Christian Hacke und neuerdings Herfried Münkler – in den Generalstab einzurücken oder sich nach Art des »Antiimperialismus« mit allen zu verbünden, die die Dominanzmächte ärgern. Nicht zurückschrecken dürfte man in diesem Sinne vor einer Neufassung des »positiven« Friedensbegriffs nach Johan Galtung, der nicht nur die Abwesenheit von Krieg zwischen den Staaten umfasst, sondern auch soziale Gerechtigkeit in denselben. Diese einst progressive Begrifflichkeit ist heute Basis jener Praktiken des »Demokratieexports«, die binnen 15 Jahren fast den ganzen arabischen Raum in einen Albtraum verwandelt haben. Stark gemacht werden müssten ihr gegenüber einst als konservativ verstandene Prinzipien wie die Nicht-Einmischung in die Politik souveräner Staaten. Die Abwesenheit von Krieg ist angesichts der vergangenen Jahrzehnte vielleicht bereits ein lohnendes Ziel.

Der Nachteil einer solchen Wendung bestünde u.a. darin, dass sich etwa im politologischen Diskurs kaum Anschlussstellen fänden. Zugleich steht allerdings eine Großzahl der Bundesbürger dem Interventionismus kritisch gegenüber. Der vorliegende Text will trotz seiner pointierten Form kein Manifest darstellen. Er will aber aufzeigen, zwischen welchen Polen diskutiert werden könnte, wenn nicht sogar müsste.

Literatur

Torsten Arndt: Deutsche Außenpolitik – Auf dem Weg zu mehr Verantwortung? Tagungsbericht vom 30.6.2014 auf boell.de.

Joachim Gauck: Deutschlands Rolle in der Welt – Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen. Rede des Bundespräsidenten zur Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz vom 31. Januar 2014.

Albrecht von Lucke: Der nützliche Herr Gauck. Deutsche Blätter für deutsche und internationale Politik 3'14.

Reinhard Merkel: Die Krim und das Völkerrecht – Kühle Ironie der Geschichte. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4. 2014.

Kurt-Jürgen Maaß (Hrsg.). (2015): Kultur und Außenpolitik – Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos.

Joseph S. Nye (2004): Soft Power – The Means to Success in World Politics. New York: Public Affairs.

Hanna Pfeifer und Kilian Spandler: Komplexität aufbauen statt abbauen – Wider eine Politik der neuen deutschen Verantwortung. Huffington Post, 16.10.2014.

Iryna Solonenko: Eher Partner als Geber – die EU und die ukrainische Zivilgesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, 15.3.2013.

Frank-Walter Steinmeier (2014): [Brief] An die Mitglieder der SPD, 8. September 2014. Der Brief ist dokumentiert als Anhang zu Velten Schäfer: In Steinmeiers Welt – An allem ist nur Russland schuld: Deutschlands Außenminister erklärt seiner Partei den Ukraine-Konflikt. neues deutschland, 12.9.2014, online bei ag-friedensforschung.de.

Jürgen Wagner (2015): Deutschlands (neue) Großmachtambitionen – Von der »Kultur (militärischer) Zurückhaltung« zur »Kultur der Kriegsfähigkeit«. IMI-Studie 02/2015.

Velten Schäfer ist innenpolitischer Redakteur der Tageszeitung »neues deutschland«.

Friedensnobelpreis

Friedensnobelpreis

von Jürgen Nieth

Das norwegische Komitee für den Friedensnobelpreis hat diesen 2015 an das tunesische »Quartett des nationalen Dialogs« verliehen. Das Bündnis aus dem Gewerkschaftsverband UDTT, der Menschenrechtsliga LTGH, der Anwaltskammer ONAT und dem Arbeitgeberverband UTICA war 2013 gebildet worden, als – so das Nobelpreiskomitee – „der Demokratisierungsprozess in Folge politischer Morde und der Ausbreitung sozialer Unruhen vor der Gefahr eines Zusammenbruchs stand.“ Das Quartett habe sich in dieser Situation „mit großer moralischer Autorität als Vermittler und Motor der friedlichen demokratischen Entwicklung in Tunesien“ engagiert (JW 10.10.15).

Eine Auszeichnung, die weitgehend positiv aufgenommen wurde: „Gute Nachricht für ein gebeuteltes Land“ (FAZ 10.10.15, S.2), „Tunesien als Vorbild“ (SZ 10.10.15, S.4), „Leuchtturm des arabischen Frühlings“ (ND 10.10.15, S.7), „Tunesiens Leuchtturm“ (NZZ 10.10.15, S.3), „Hohe Symbolik, hohe Hypothek“ (DIE WELT 10.10.15, S.8), „Ein Licht im arabischen Winter“ (Handelsblatt online 09.10.15).

Eine große Überraschung

In diesem Jahr waren 205 Einzelpersonen und 68 Organisationen für den Friedensnobelpreis nominiert. Die Preisvergabe an das tunesische Quartett wird in den Medien als große Überraschung gewertet, „da die Organisation im Vorfeld […] kaum zu den Favoriten gehört hatte. Am häufigsten war die Rede von Angela Merkel für ihre Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt und ihre Führungsarbeit bei der europäischen Flüchtlingskrise sowie von Papst Franziskus gewesen.“ (NZZ 10.10.15, S.3) Laut der WELT avancierte Merkel sogar „zur Topfavoritin bei den Buchmachern“ (10.10.15, S.8). Sie wurde es nicht, und so blieb uns nicht nur der BILD-Aufmacher »Wir sind Friedensnobelpreisträger« erspart, ein Teil der Medien nutzte die Verleihung der „weltweit wichtigsten politischen Auszeichnung“ (ND 10.10.15, S.7) auch zu einem kritischen Rückblick auf die bisherige Praxis der Preisvergabe.

Nobels Vermächtnis und die Realität

Der 1896 verstorbene schwedische Dynamit-Erfinder und Industrielle beauftragte das norwegische Parlament damit, „jährlich bis zu drei Persönlichkeiten oder Organisationen für ihre Verdienste um die Menschlichkeit zu ehren. Konkret sollte ausgezeichnet werden, wer »am besten für die Verbrüderung der Völker gewirkt hat, für die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und Verbreitung von Friedenskongressen« […] Und es war die Friedenskämpferin Bertha von Suttner, mit der ihn (Nobel) tiefe Freundschaft verband, die ihn ermunterte, einen Teil seines Reichtums auch an Friedensbewegungen zu spenden.“ (ND 10.10.15, S.7)

Silke Bigalke sieht in dem Vermächtnis eine „spärliche Anleitung für eine so große Frage. Kein Wunder also, dass der Friedensnobelpreis der umstrittenste unter den Nobelpreisen ist.“ (SZ 10.10.15, S.2) DIE WELT registriert, dass die „Auszeichnungen von US-Präsident Barack Obama nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt (2008) sowie die Entscheidung, der Europäischen Union vor drei Jahren den Friedensnobelpreis zuzusprechen“ als umstritten gelten (10.10.15, S.8). Für Bigalke (s.o.) war der erste ausgezeichnete US-Präsident Theodore Roosevelt aber noch viel umstrittener als Obama. „Als die Norweger ihn 1906 als ersten Staatsmann überhaupt auszeichneten, beschrieb die New York Times Roosevelt als »kriegerischsten Bürger dieser Vereinigten Staaten«. Schwedische Journalisten vermuteten, dass sich Alfred Nobel im Grabe umdrehen würde.“ Als »Nobel War Prize« bezeichnete die New York Times 1973 gar die Vergabe des Friedensnobelpreises an den Sicherheitsberater des US Präsidenten Nixon, Henry Kissinger, und den „Nordvietnamesen Le Duc Tho für den Waffenstillstand in Vietnam […] Le Duc Tho lehnte den Preis mit der Begründung ab, in seinem Land herrsche noch kein Frieden. Kissinger dagegen nahm an.“ (Bigalke, s.o.)

Preisvergabe zu spät

„Es ist auch ein Preis für den »arabischen Frühling«, der in Tunesien begann, Diktaturen zu Fall brachte – aber vielerorts in einem Winter aus Terror, Reaktion und Konflikt erstarrt ist. So gesehen kommt die Vergabe zu spät. Und wenn nun oft die Rede davon ist, mit der Ehrung werde ein Zeichen für friedliche Konfliktlösung gesetzt, wird auch die Überfrachtung mit Erwartungen kenntlich.“ (Tom Strohschneider in ND 10.10.15, S.1) Ähnlich sieht das Torsten Riecke: „Nicht zu früh, sondern fast schon zu spät kommt der Preis für das Quartett des nationalen Dialogs in Tunesien. Vom Arabischen Frühling […] ist nicht mehr viel übrig geblieben.“ (Handelsblatt online 09.10.15)

DIE WELT zitiert den Nordafrika-Experten Ilyas Saliba vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, nach dem zu befürchten ist, dass die Regierung „die gerade erkämpften Menschenrechte und freiheitlichen Rechte wieder beschneidet“ (10.10.15, S.8). Für Anna Antonakis, Doktorandin der Stiftung Wissenschaft und Politik, ist es „gefährlich, wenn der Preis nun darüber hinwegtäuscht, dass die Ziele der Proteste noch lange nicht erreicht sind“. Für sie fährt die aktuelle tunesische Regierung einen „Kurs der Stabilität und Sicherheit. Auf den ersten Blick scheint das wünschenswert. Allerdings werden für diese neue Agenda all jene unterdrückt, die sich von der Revolution der Jahre 2010 und 2011 mehr erhofft haben als nur eine Rückkehr zum Status quo […] Deshalb mache ich mir Sorgen, dass der Nobelpreis von den Revolutionären als Hohn empfunden wird. Sie fühlen sich durch die Entscheidung von Oslo wohl nicht repräsentiert.“ (ZEIT ONLINE 09.10.15) Und die FAZ zitiert den Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis, Joachim Paul, dass sich in Tunesien ein »Reformstau« gebildet habe. Die Verfassung sehe Reformen des Sicherheitssektors, der Wirtschaft und der Verwaltung vor, die jedoch gar nicht oder nur schleppend vorangekommen seien. „Viele haben das Gefühl, dass die alten Eliten ihre Pfründe ins neue Regime gerettet haben, während die ländliche Bevölkerung trotz Parlament und Wahlen vom Kuchen nichts abbekam.“ (FAZ 10.10.15, S.2)

Zitierte Presseorgane: DIE WELT, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Handelsblatt online, junge Welt (JW), neues deutschland (ND), Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), ZEIT ONLINE.

Jürgen Nieth

Erfolgreiche Friedensstifter

Erfolgreiche Friedensstifter

Persönlichkeitsmerkmale im Kulturvergleich

von Rebekka Schliep, Klaus Boehnke und Cristina J. Montiel

Für eine erfolgreiche Konfliktlösung ist es unerlässlich, dass die Persönlichkeitsmerkmale der Mediatoren von allen Konfliktparteien akzeptiert werden. Die hier zusammengefasste Studie von Montiel und Boehnke (2000) untersucht, ob in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten Unterschiede in den bevorzugten Attributen von Konfliktschlichtern existieren. Methoden und Ergebnisse einer Konfliktschlichtung werden selbstverständlich von den Kontextfaktoren des jeweiligen Konflikts beeinflusst (Keashly and Newberry 1995). Es wird allerdings häufig übersehen, dass auch personale Aspekte eine Rolle spielen, die während einer Konfliktschlichtung mit den konkreten Bedingungen eines spezifischen Konflikts interagieren (Deutsch 1994).

Während politische Systeme bereits im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert einen transnationalen Charakter hatten, wächst spezifischen sozialen Konflikten und dem Umgang mit ihnen erst neuerdings eine stärkere transnationale Dimension zu. Internationale Mediation bindet oftmals Dritte aus westlichen, wirtschaftlich stärkeren Gesellschaften in Konfliktschlichtungsprozesse in wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften ein.

Die Studie von Montiel und Boehnke prüft, ob sich subjektive Erwartungen an erfolgreiche Konfliktschlichter zwischen Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und unterschiedlichen ökonomischen Ressourcen bzw. nach dem Geschlecht unterscheiden.

Kultur

Die kulturvergleichende Psychologie hat eine große Anzahl von Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen identifiziert, die kulturelle Variationen aufweisen (Moghaddan et al. 1993; Smith und Bond 1993). Pionierarbeit leistete Harry Triandis (1972), der das Konzept der »subjektiven Kultur« einführte. Damit beschreibt er die unterschiedliche Art und Weise, in der Menschen in verschiedenen Kulturen ihre soziale Umgebung wahrnehmen: Ist das soziale Umfeld eines Menschen eher etwas, von dem er oder sie sich unterscheiden sollte (Stichworte Individualismus, Distinktion, Independenz), oder ist es etwas, in das man sich einfügen sollte (Stichworte Kollektivismus, »Fit «, Interdependenz). »Subjektive Kultur« erklärt nach Triandis – jenseits objektiver Konfliktbedingungen – die oftmals verzerrte Repräsentation von Realität in Konfliktsituationen.

Individualismus und Kollektivismus stehen, so lässt sich vermuten, mit präferierten Attributen von Konfliktschlichtern in engem Zusammenhang. Eine ausgeprägte Harmonieorientierung und eine hohe Aufmerksamkeit für Aspekte der Gesichtswahrung sind zwei Charakteristika, die in kollektivistischen Kulturen hoch im Kurs stehen. Menschen, die aus solchen Kulturen kommen, werden auch von erfolgreichen Konfliktschlichtern derartige Eigenschaften erwarten. Ausgangshypothese ist also, dass sich die bevorzugten Attribute von Konfliktschlichtern unterscheiden, je nachdem, ob die Menschen in kollektivistischen oder in individualistischen Kulturen leben.

Wirtschaftlicher Entwicklungsstand

Die Studie untersucht zudem, ob sich Konfliktlösungen in Entwicklungsgesellschaften von Konfliktlösungen in Industrieländern unterscheiden. Menschen in Entwicklungsländern erleben gesellschaftliche Konflikte im Kontext einer im internationalen Vergleich geringen Macht ihres Landes, während Menschen in Industrieländern gesellschaftliche Konflikte vor dem Hintergrund größerer Macht erleben. Dieses unterschiedliche Erleben sollte für Erwartungen an Konfliktschlichter insofern von Bedeutung sein, als in jedwedem gesellschaftlichen Konflikt die Machtverhältnisse zwischen Konfliktparteien von zentraler Bedeutung für die Konfliktlösung sind; selten sind sie gleichwertig und symmetrisch, viel öfter ungleich und asymmetrisch.

Die Studie bildet das Machterleben der Befragten über sozioökonomische Attribute ihrer Herkunftsländer ab, nämlich über die ökonomischen Ressourcen, den Zugang zu wichtigen Konsumgütern und die Kontrolle über die Regeln der inländischen wirtschaftspolitischen Bedingungen. Wirtschaftlich entwickelte Länder besitzen in allen drei Bereichen eine hohe Verfügungsmacht. Entwicklungsländer haben eine geringe Verfügungsmacht, da sie über weniger Ressourcen verfügen und im 20. Jahrhundert unter ausländischer – kolonialer – Unterwerfung standen. Da Konflikte mit Machtfragen in Beziehung stehen und sich das Machterleben unter Befragten aus Ländern des Globalen Südens und des Globalen Nordens unterscheidet, wird angenommen, dass sich die bevorzugten Persönlichkeitsattribute von Konfliktschlichtern bei Befragten aus reicheren Gesellschaften und solchen aus ärmeren Gesellschaften unterscheiden.

Geschlecht

Eine mögliche Erklärung für geschlechtsspezifische Unterschiede im Konfliktverhalten sind die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau. In den Zugangsmöglichkeiten zu persönlichen und Organisationsressourcen besteht Geschlechterungleichheit. Frauen haben weniger Zugangsmöglichkeiten zur Macht, während Männer im sozialen System von wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten profitieren. Machtstellungen beeinflussen die Wahl der jeweiligen Konfliktstrategie. Eine Person mit geringer Macht kommt einer einseitigen Vorgehensweise, wie z.B. einer einfachen Bitte oder einer sanften Nötigung, meist schnell nach. Eine Person mit größerer Macht reagiert eher auf Überzeugungskraft oder detaillierte Vorschläge (Ohbuchi und Yamamoto 1990). Die Herangehensweise von Frauen an Konflikte ähnelt der von Personen mit geringer Macht. Beim Versuch, ihr männliches Gegenüber zu beeinflussen, wählen Frauen eher schwächere Strategien, wie z.B. Entgegenkommen, Manipulation und Flehen, als stärkere Strategien, wie z.B. Schikane oder autoritäres Bestimmen (Rosenthal und Hautaluoma 1988). Gilligan (1993) zeigte, dass Frauen zu einer Ethik der Fürsorge tendieren, während Männer auf einer Basis von Gerechtigkeitserwägungen argumentieren. Die Literatur stimmt darin überein, dass Frauen und Männer ein unterschiedliches Konfliktverhalten aufweisen. Daher wird erwartet, dass Frauen und Männer bei Konfliktschlichtern unterschiedliche Attribute bevorzugen.

Methode

  • Stichprobe: An der Studie nahmen 539 Oberstufenschüler und Bachelor-Studierende aus China, Malaysia, den
    Philippinen, Japan, den USA, Australien und Deutschland teil. Anhand einer vorliegenden Kategorisierung
    (Hofstede 2001) wurden Befragte aus China, Malaysia, den Philippinen und Japan dem kollektivistischen
    Kulturkreis zugeordnet. Die Befragten aus den USA, Australien und Deutschland wurden dem individualistischen
    Kulturkreis zugeordnet.
    Befragte aus China, Malaysia und den Philippinen wurden dem Kontext eines geringen
    Machterlebens zugeordnet, da diese Länder nach allen oben genannten Kriterien mit geringer Macht ausgestattet
    sind. Befragte aus Japan, den USA, Australien und Deutschland wurden dem Kontext des stärkeren Machterlebens
    zugeordnet. Entscheidend für die Zuordnung waren zentrale ökonomische Indikatoren, allen voran das
    Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.
    Gut die Hälfte der Befragten (52%) war männlich. Das Durchschnittsalter
    betrug 17 Jahre. Tabelle 1 beschreibt die Geschlechts- und Alterscharakteristika der Befragten in den jeweiligen
    Ländern.
  • Befragungsinstrument: Zentrales Befragungsinstrument der Studie war ein so genanntes semantisches Differenzial.
    Dieses Instrument wurde zuerst von Osgood (1952) eingesetzt. An den Polen der Bewertungsskalen finden sich zwei
    semantisch entgegengesetzte Adjektive, deren Bedeutung als Persönlichkeitsattribute eines Konfliktschlichters
    die Befragten einschätzen sollten, indem sie eine Beurteilung auf einer Antwortskala von 1 (linker Pol) über 3
    (Mitte/unentschieden) bis 5 (rechter Pol) abgaben.
Land Geschlecht Alter (Jahre)
Männlich Weiblich
China 39 (43,8%) 50 (56,2%)
Malaysia 57 (82,6%) 12 (17,4%)
Philippinen 35 (42,7%) 47 (57,3%)
Japan 46 (52,3%) 42 (47,7%)
USA 30 (48,4%) 32 (51,6%)
Australien 25 (43,9%) 32 (56,1%)
Deutschland 49 (53,3%) 43 (46,7%)
Gesamtstichprobe 281 (52,1%) 258 (47,9%)

Tabelle 1: Geschlechts- und Alterscharakteristika der Befragten

Ergebnisse

Vor einer Detailauswertung wurden zunächst vorbereitende statistische Analysen (Faktorenanalysen) durchgeführt, auf deren Basis herausgearbeitet werden konnte, welche Adjektivpaare über alle Länder hinweg als zentral für die Attribute eines effektiven Konfliktschlichters angesehen werden. Statistische Details sind der dieser Zusammenfassung zugrunde liegenden Originalpublikation von Montiel und Boehnke (2000) zu entnehmen. Zentral für die Bewertung von Eigenschaften von Konfliktschlichtern erwiesen sich vier Adjektivpaare, nämlich »fürsorglich –grausam«, »bescheiden – stolz«, »warm – kalt« und »sensibel – unsensibel«. Befragte, deren Erwartungen eher dem erstgenannten Adjektiv zuneigen, präferieren einen einfühlsamen Konfliktschlichter; Befragte, deren Erwartungen dem zweitgenannten Adjektiv zuneigen, präferieren einen dominanten Konfliktschlichter.

Um in einem zweiten Schritt die Hypothesen zur Bedeutung von kulturellem Hintergrund, ökonomischer Ressourcenverfügbarkeit und Geschlecht überprüfen zu können, wurden zunächst die Durchschnittswerte für die Adjektivpaare berechnet, die sich als geeignet für einen Kulturvergleich erwiesen hatten: Höhere Durchschnittswerte sprechen für die Präferenz eines dominanten Konfliktschlichters, niedrigere Werte für die Präferenz eines einfühlsamen Konfliktschlichters.

So genannte Varianzanalysen zeigten, dass Unterschiede in der Herkunftskultur die Präferenzen für effektive Konfliktschlichter nur in geringem Maße beeinflussten. Zwar präferierten Befragte aus kollektivistisch geprägten Ländern eher einfühlsame Konfliktschlichter, doch war der Unterschied zu den Präferenzen in individualistisch geprägten Ländern nicht signifikant. Auch der Unterschied in den Präferenzen von Männern und Frauen war – unabhängig von deren Herkunft – eher gering, obgleich hier eine statistische Signifikanz belegt werden konnte: Wie erwartet präferieren Frauen einfühlsame Konfliktschlichter, Männer hingegen dominante.

Wesentlich bedeutsamer waren Unterschiede hinsichtlich der ökonomischen Ressourcenverfügbarkeit. Befragte aus reichen Ländern präferierten dominante Konfliktschlichter deutlich stärker (Durchschnittswert: 2,55) als Befragte aus ärmeren Ländern (2,20) dies tun. Das spannendste und so nicht erwartete Ergebnis der Analysen war der Befund, dass Geschlecht und kultureller Hintergrund wie auch Geschlecht und Ressourcenverfügbarkeit – in statistischer Terminologie – interagieren. Dies bedeutet, dass in kollektivistischen Kulturen Frauen (2,41) stärker als Männer (2,29) dem dominanten Friedensschlichter zuneigen, während in individualistischen Kulturen Männer (2,65) stärker als Frauen (2,22) diesem Friedensschlichtertyp zugetan sind. In armen Ländern präferieren Frauen (2,25) den dominanten Konfliktschlichter mehr als Männer (2,15) dies tun; in reichen Ländern ist es umgekehrt (Frauen: 2,42; Männer: 2,69).

Diskussion

Die Ergebnisse der Studie zeigen generell eine Tendenz aller Befragten, bei effektiven Konfliktschlichtern Persönlichkeitsattribute zu präferieren, die dem Bild eines einfühlsamen Friedensstifters entsprechen. Der dominante Friedensstifter steht nirgends hoch im Kurs. Gilligans (1993) »Ethik der Fürsorge« steht Friedensstiftern besser an als eine rationale »Gerechtigkeitsethik«, besonders wenn diese mit einem machtvollen Durchsetzungsimpetus daherkommt.

Interessant sind die Befragungsergebnisse auch hinsichtlich weiterer Teilergebnisse. Die präferierten Attribute eines Friedensstifters werden vor allem durch die Ressourcenverfügbarkeit, die die Sozialisation junger Menschen geprägt hat, bestimmt. Machterleben ist zentral: Menschen in einem machtstarken Kontext (reich, männlich) »stehen« auf dominante Friedensstifter; Menschen in einem machtarmen Kontext (arm, weiblich) bevorzugen einfühlsame Friedensstifter. Die Positionierung in einem asymmetrischen Machtverhältnis hängt mit dem jeweiligen präferierten Konfliktschlichter zusammen. Die Ergebnisse bestätigen die Erwartung, dass die wirtschaftliche Macht eines Landes und das Geschlecht der Befragten mit den jeweils bevorzugten Eigenschaften von Friedensstiftern zusammenhängen. Je geringer das Machterleben einer Person, desto stärker sind ihre Präferenzen für einen einfühlsamen Friedensstifter.

Auf den ersten Blick paradox erscheint der Befund, dass Frauen zwar allgemein dem einfühlsamen Friedensstifter mehr zuneigen als Männer dies tun, dass je separat betrachtet das Geschlechterverhältnis in kollektivistischen Kulturen und in armen Ländern aber umgekehrt ist. Frauen aus den kollektivistisch geprägten Ländern sprechen sich stärker als Männer aus diesen Ländern für einen dominanten Friedensstifter aus. Das gleiche gilt für Frauen im Vergleich zu Männern in armen Ländern. Es scheint plausibel anzunehmen, dass (junge) Frauen ihre geschlechtsbasierte Machtlosigkeit als so gravierend wahrnehmen, dass sie sich die Schlichtung von Konflikten nur im Sinne einer machtvollen Durchsetzung von Interessen der in einem Konflikt Schwächeren vorstellen können, für die es eines dominanten Friedensstifters bedarf.

Versucht man ein Gesamtresümee, so zeigt die hier zusammengefasste Studie, dass einfühlsamen Friedensstiftern nach den Erwartungen von jungen Menschen aus sieben Ländern (China, Japan, Malaysia, Philippinen, USA, Australien, Deutschland) bessere Chancen zugemessen werden, in gewalttätigen gesellschaftlichen Konflikten zu vermitteln. Dem Friedensdiktator, dem Basta-Politiker, werden kaum Chancen zugebilligt. Genauerer Analysen in weiteren Studien bedarf allerdings die Frage, warum Frauen in tendenziell machtlosen Lebenskontexten einem brachial auftretenden Friedensstifter mit einer gewissen Sympathie begegnen.

Literatur

Morton Deutsch (1994): Constructive Conflict Resolution – Principles, Training, and Research. Journal of Social Issues, 50, S.13-32.

Carol Gilligan (1993): Reply to critics. In Mary J. Larrabee (ed.): An Ethic of Care – Feminist and Interdisciplinary Perspectives. New York; NY. Routledge, Chapman, and Hall; S.207-214).

Geert Hofstede (2001): Culture’s Consequences – Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations across Nations. Thousand Oaks, CA: Sage Publications, 2nd ed.

Loraleigh Keashly and J. Newberry (1995): Preference for and Fairness of Intervention – Influence of Third-Party Control, Third-Party Status, and Conflict Setting. Journal of Social and Personal Relationships, 12, S.277-293.

Fathali M. Moghaddan, Donald M. Taylor and Stephen C. Wright (1993): Social Psychology in Cross-Cultural Perspective. New York, NY: Freeman.

Cristina J. Montiel and Klaus Boehnke (2000): Preferred Attributes of Effective Conflict Resolvers in Seven Societies: Culture, Development Level, and Gender Differences. Journal of Applied Social Psychology, 30(5), S.1071-1094.

Ken-Ichi Ohbuchi and Ikuyo Yamamoto (1990): The Power Strategies of Japanese Children in Interpersonal Conflict – Effects of Age, Gender, and Target. Journal of Genetic Psychology, 151, S.349-360.

Charles E. Osgood (1952): The Nature and Measurement of Meaning. Psychological Bulletin, 49, S.197-237.

Douglas B. Rosenthal and Jacob Hautaluoma (1988): Effects of Importance of Issues, Gender, and Power of Contenders on Conflict Management style. Journal of Social Psychology, 128, S.699-701.

Peter B. Smith and Michael H. Bond (1993): Social Psychology Across Cultures – Analysis and Perspectives. New York, NY: Harvester Wheatsheaf.

Harry C. Triandis (1972): The Analysis of Subjective Culture. New York, NY: John Wiley & Sons.

Rebekka Schliep ist Studentin des BA-Studiengangs »Intercultural Relations and Behavior« an der Jacobs University Bremen.
Prof. Dr. Klaus Boehnke ist Professor für Sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Jacobs University Bremen und Prodekan der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS).
Prof. Dr. Cristina J. Montiel ist Professorin für Psychologie an der Ateneo de Manila Universität auf den Philippinen und dort Mitglied des Forschungsschwerpunkts »Peace, Justice and Democratic Governance«.

Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Afrikanische Friedensaktivistinnen in Liberia

von Rita Schäfer

Seit der Verabschiedung der Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, durch den UN-Sicherheitsrat im Oktober 2000 gewinnt die Anerkennung von Friedensstifterinnen international an Bedeutung. Sowohl in der friedenspolitischen Lobbyarbeit als auch in der Forschung werden Friedensstifterinnen allerdings oft idealisiert. Vielfach gilt schon die größere Präsenz von Frauen bei Friedensverhandlungen als Beitrag zu nachhaltigem Frieden. Diese Grundannahme wird jedoch kaum überprüft und hält in der Praxis oft nicht stand, wie dieser Beitrag am Beispiel Liberia zeigt.

Schon 1985, auf der internationalen Abschlusskonferenz der Weltfrauendekade (1975-1985) in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, verlangten verschiedene afrikanische Frauenorganisationen ein Ende der Kriege auf ihrem Kontinent. Mit ihrer Forderung knüpften sie an das Motto der Weltfrauendekade an: »Frauen, Entwicklung und Frieden«. In dieser Zeit führten insbesondere im südlichen Afrika anti-koloniale Guerillagruppen gegen die dortigen Siedlerregime Unabhängigkeitskriege, die zugleich Stellvertreterkriege der Weltmächte im Kontext des Kalten Krieges waren. Dem Anliegen von Frauenrechtlerinnen aus bereits unabhängigen Staaten in West- und Ostafrika, die Gewalt zu beenden, kam damit besonderes Gewicht zu.

Wenige Jahre später mobilisierten sich – u.a. angesichts des grenzübergreifenden Krieges in Liberia und Sierra Leone – afrikanische Friedensaktivistinnen und bildeten neue Netzwerke. Internationale Bedeutung erhielt die 1994 in Dakar gegründete Federation of African Women Peace Networks, in der Aktivistinnen zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 kooperierten. Die Aktionsplattform von Peking enthielt Forderungen zum Schutz von Frauen in Kriegen und Nachkriegsgesellschaften. Hierauf bauten afrikanische Frauenrechtlerinnen auf, die an der Formulierung der UN-Resolution 1325 mitarbeiteten. Im Jahr 2000 fand in der namibischen Hauptstadt Windhoek ein internationaler Workshop zu friedenspolitischen Fragen statt, der Afrikanerinnen und Vertreter_innen der Vereinten Nationen zusammenbrachte, die dort Kernpunkte der kurz darauf verabschiedeten UN-Resolution 1325 diskutierten. Die Mitwirkung von Frauen in Friedensprozessen zählt auch zu den Zielen der Frauendekade 2010-2020 der Afrikanischen Union. Allerdings bleibt die Umsetzung eine große Herausforderung, ordnen doch Staatschefs und Warlords zur Durchsetzung ihrer militärischen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen in und nach gewaltsamen Konflikten auch weiterhin häufig geschlechtsspezifische Gewalt an.

Bürgerkrieg in Liberia 1989-2002

Liberia war die erste Republik Afrikas, sie wurde 1847 von freigelassenen Sklaven_innen vor allem aus Nordamerika gegründet. Die Americo-Liberianer_innen, die in der Haupt- und Hafenstadt Monrovia lebten, dominierten mit eigenen Patronagenetzen Politik und Wirtschaft. Sie pflegten einen kulturellen Überlegenheitsdünkel gegenüber den Ethnien im Landesinneren. In diesen kleinbäuerlichen Gesellschaften hatten alte Männer der landbesitzenden lokalen Elite das Sagen. Frauen- und Männergeheimorganisationen trugen u.a. mit kollektiven genitalen Mädchen- und Jungenbeschneidungen im Rahmen von Initiationszeremonien vielerorts zur Manifestation gesellschaftlicher Hierarchien und Geschlechterasymmetrien bei. Proteste der Landbewohner wegen der grassierenden Armut und des mangelhaften Gesundheits- und Bildungssektors wurden militärisch niedergeschlagen. 1980 putschte das Militär unter Hauptfeldwebel Samuel Doe, einem Mann aus dem Landesinneren. Er schuf dort neue Patronage- und Klientelnetzwerke; sein weit verzweigter Sicherheitsapparat terrorisierte vielerorts die Bevölkerung.

Ab Ende 1989 eroberten Kämpfer der neu gegründeten National Patriotic Front of Liberia (NPLF) unter Charles Taylor einzelne Landesteile. Über illegale Kautschuk-, Holz- und Erzgeschäfte mit französischen und chinesischen Konzernen, Verwicklung in den internationalen Drogenhandel, Geldwäsche und den Zugang zu den Diamantenminen im Nachbarland Sierra Leone finanzierte Taylor seine Kampfgruppen. Die NPLF rekrutierte desillusionierte Jugendliche. Davon waren je nach Kategorisierung des Kampfstatus zwischen zwei und zehn Prozent Frauen und Mädchen.

Gegen Taylor kämpfte die liberianische Armee, deren Oberbefehlshaber Doe bereits im September 1990 ermordet wurde. Im Lauf der Kriegsjahre formierten sich immer neue Kampfgruppen, zudem spalteten sich Milizen von Guerillaeinheiten ab und bildeten temporäre Allianzen mit flexiblen Namen. Auch in den verschiedenen Milizen wirkten Frauen und Mädchen mit; ähnlich wie bei der NPLF variieren die Angaben zu ihrem Anteil. Alle an Macht und Ressourcenkontrolle interessierten Guerillachefs ordneten sexualisierte Gewalt als Kampftaktik an. Truppen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS sollten Anfang der 1990er Jahre für ein Ende der Gewalt sorgen, trugen aber nicht zur Deeskalation bei. 1997 wurden umstrittene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten, daraus ging Taylor siegreich hervor. Unter neuen Vorzeichen wurde der Krieg noch bis 2002/2003 fortgesetzt.

Erfolgreiche Friedensaktivistinnen?

Die 2002 gegründete internationale Kontaktgruppe zu Liberia, an der ECOWAS, die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die Europäische Union beteiligt waren, bemühte sich um einen Friedensschluss. Am 18. August 2003 vereinbarten Vertreter der Konfliktparteien das Friedensabkommen von Accra. Es legte der einzurichtenden Übergangsregierung eine Generalamnestie für alle Kriegsakteure nahe und empfahl anstatt der Strafverfolgung die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Am Friedensabkommen waren Politiker, Milizchefs und einige Friedensaktivistinnen des Mano River Women’s Peace Network (MARWOPNET) beteiligt. Das war ein Zusammenschluss von Friedensaktivistinnen aus Liberia, Sierra Leone und Guinea; die Repräsentantinnen aus Monrovia waren vor allem gebildete Americo-Liberianerinnen. Während des Krieges hatten sie über vergleichsweise privilegierte Überlebensmöglichkeiten verfügt, die Liberianerinnen aus dem Landesinneren oder Flüchtlingsfrauen in den Nachbarländern nicht beanspruchen konnten.

Neben MARWOPNET bemühten sich in Accra Vertreterinnen des Women in Peace Building Network (WIPNET) um Frieden, sie waren aber nicht offiziell zu den Verhandlungen eingeladen. WIPNET war die 2002 gegründete Frauenabteilung innerhalb des 1998 von Männern gebildeten und dominierten West African Network for Peace Building (WANEP). WIPNET-Vertreterinnen, die verschiedenen Ethnien aus dem Landesinneren Liberias angehörten und aus Liberia nach Ghana geflohen waren, wollten durch informelle Gespräche mit den Warlords auf einen Friedensschluss hinwirken. Diese verweigerten aber jeglichen Dialog und unterstellten den Frauen, sie seien von Männern geschickt worden. Selbst die männlichen WANEP-Vorsitzenden hatten ihren eigenen Mitstreiterinnen wiederholt klar gemacht, sie seien nur der Frauenflügel einer übergreifenden Friedensorganisation, in der Männer das Sagen hätten. Als Reaktion kündigten WIPNET-Frauen in Liberia einen Sex-Streik gegen ihre Ehemänner und Partner an, die ebenfalls in Friedensgruppen aktiv waren.

Gleichzeitig drohten WIPNET-Demonstrantinnen in Accra, sich öffentlich zu entkleiden, was die Männlichkeit der Kriegsherren bloßgestellt hätte und einem Fluch gleichgekommen wäre. In einem Unterpunkt des Friedensvertrags verpflichteten sich die Kriegsgegner daher, den Bedürfnissen von Frauen, Kindern, Alten und Kriegsversehrten zu entsprechen. Es gab aber keine Strategie, wie Geschlechtergerechtigkeit in der Politik und Gesellschaft verwirklicht werden sollte. Außerdem hatten die Kriegsherren eine Generalamnestie durchgesetzt, so dass kein Vergewaltiger für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden konnte.

In Liberia betonten WIPNET-Aktivistinnen nach dem Friedensschluss ihre mütterliche Fähigkeit, die Kindersoldaten zur Waffenabgabe zu bewegen. Mit dieser Rollenzuweisung enthob WIPNET männliche Ex-Kombattanten und Ex-Kommandanten ihrer Verantwortung für Gewaltverbrechen. Die Problematik der Kämpferinnen, die sowohl Täterinnen als auch Opfer brutaler Gewalt waren, sowie die sozio-ökonomische Marginalisierung zahlloser vergewaltigter Zivilistinnen blieben unberücksichtigt. Damit näherten sich die WIPNET-Vertreterinnen tendenziell den neuen politischen Machthabern an, die den Status quo – also die Dominanz weniger Männer in allen Machtbereichen – wiederherstellen wollten und Frauen die moralische Erneuerung des Landes aufschulterten.

Zwar sollte die politische Repräsentanz von Frauen gefördert werden, und die Leiterinnen traditioneller Frauengeheimorganisationen sollten sich vor Wahlen nicht mehr von korrupten Politikern kaufen lassen, z.B. mit großzügigen Geschenken in Form von Reis. Dennoch äußerte sich WIPNET nicht zur genitalen Beschneidung und anderen Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt oder zur Ungleichheit in ländlichen Gesellschaften. WIPNET löste sich einige Monate nach der Verabschiedung des Friedensabkommens von Accra auf: Der Frieden war erreicht und persönliche Konflikte, die bereits zuvor geschwelt hatten, brachen nun deutlich auf.

Während der Kriegswirren hatte WIPNET die Mass Action for Peace in Monrovia organisiert – tagelange Sit-ins an wichtigen Plätzen und Straßen der Stadt, um Präsident Taylor zur Beendigung der Gewalt aufzufordern. Diese friedlichen Proteste verschafften WIPNET-Vertreterinnen wie Leymah Gbowee nach dem Krieg internationales Ansehen, 2011 wurde sie zusammen mit Ellen Johnson-Sirleaf für ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

WIPNET hatte sich in der Friedensarbeit um den interreligiösen Dialog bemüht; das Erstarken dieser Organisation von christlichen und nicht christianisierten Frauen aus dem Landesinneren war jedoch nicht konfliktfrei. So fühlten sich vor allem Leiterinnen der bereits im Februar 1994 gegründete Liberian Women’s Initiative (LWI) von den wohlhabenden, christlichen Americo-Liberianerinnen brüskiert und kamen deshalb nicht zu den WIPNET-Massenprotesten in Monrovia. Auch beteiligten sich nur wenige Frauen der moslemischen Minderheit – Händlerfamilien in Monrovia, die im Lauf der Jahrhunderte aus dem Sahelgebiet eingewandert waren – an den WIPNET-Massenprotesten. Demgegenüber hatten Juristinnen der Association of Female Lawyers of Liberia, Lehrerinnen des Forum for African Women Educationalist und Entwicklungsexpertinnen der Women’s Development Association – allesamt aus der americo-liberianischen Bildungselite Monrovias – sich in den 1990er Jahren für den Friedensprozess eingesetzt, alltagspraktische Hilfe für Gewaltopfer und Einkommens- bzw. Bildungsprogramme für Flüchtlingsfrauen in Monrovia geboten. Allerdings standen sie teilweise bestimmten Fraktionen innerhalb der verfeindeten Gruppierungen, wie der NPLF, nahe, was Spannungen zwischen den Frauen zur Folge hatte und ihre übergreifende Zusammenarbeit erschwerte. Diese multiplen Differenzen zwischen den verschiedenen Organisationen, die soziale Gegensätze in der liberianischen Gesellschaft spiegelten, begrenzten auch nach dem offiziellen Friedensschluss 2003 die Möglichkeiten von Frauen, am Aufbau geschlechtergerechter und demokratischer Strukturen mitzuwirken.

Nachkriegsentwicklungen

Die Finanzexpertin Ellen Johnson-Sirleaf wurde am 16. Januar 2006 als erste Präsidentin Liberias und als erste Staatschefin Afrikas vereidigt. Bislang ist es ihr nicht gelungen, Intransparenz und Bereicherung in staatlichen Gremien zu überwinden. Fatal ist die Vernachlässigung des Gesundheitssektors im Landesinneren. Eine unbekannte Zahl der Kinder und Erwachsenen ist HIV-positiv, erhält aber keine Medikamente. Die Misere des liberianischen Gesundheitssektors wurde bei der Ebola-Epidemie 2014 besonders deutlich.

Für mehrere zehntausend Jugendliche und junge Männer gab es nach dem Krieg kaum legale Einkommensperspektiven. Marodierende Jugendbanden sorgten vielerorts für Unruhe; die Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramme boten der Gewaltökonomie und dem Einsatz von geschlechtsspezifischer Gewalt als Machtinstrument keinen Einhalt. Der offizielle Friedensschluss brachte also nur einen relativen Frieden. Latente Konfliktpotenziale ergeben sich aus der schwierigen Versorgungslage, ethnischen Spannungen, massiver Ungleichheit in Landbesitz, Einkommen, Bildung und Berufen und daraus resultierenden Armutsproblemen.

Seit dem Kriegsende werden die Leiter_innen lokaler Männer- und Frauengeheimbünde von zahlreichen internationalen Organisationen als Friedensinstanzen hofiert, zumal sie postulieren, sie würden die soziale Ordnung wiederherstellen. Allerdings schließen die mit internationalen Fördergeldern etablierten elitären Privilegiensysteme vor allem junge, arme Männer und Frauen aus rangniedrigen Familien systematisch aus. Die Lebensrealität zahlloser Frauen und Mädchen bleibt weiterhin von Unterdrückung, Ausbeutung und ehelicher Gewalt geprägt. Viele werden zwangsverheiratet und von wieder erstarkten Geheimbundleiterinnen der genitalen Beschneidung unterzogen. Mehrfach traumatisierte und marginalisierte Frauen sind besonders von der hohen Müttersterblichkeit betroffen, denn die Gesundheitszentren sind nur rudimentär ausgestattet. Auch Polizei und Justiz sind für viele Frauen unerreichbar bzw. wegen der Korruption unbezahlbar; häufig können die Frauen nicht Lesen oder Schreiben und kennen ihre Rechte nicht.

Das Ministerium für Gender und Entwicklung, das den nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325, den nationalen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt sowie entsprechende Gesetze zum Gewaltschutz und gegen genitale Beschneidung umsetzen soll, setzt diese Vorgaben kaum um. Etliche Richter bagatellisieren sexuelle Gewalt und sprechen Angeklagte gegen Zahlung geringer Geldbeträge frei. Liberianische Rechtsexpertinnen gehen davon aus, dass ein nachhaltiger Friede nur möglich ist, wenn die geschlechtsspezifische Gewalt bestraft wird. Dazu wäre Liberia auch mit Blick auf die Ratifizierung internationaler Abkommen und Vereinbarungen der Afrikanischen Union verpflichtet. Die UN-Blauhelmpolizistinnen, die in friedenspolitischen Publikationen zu Symbolfiguren frauenfreundlicher Friedensmissionen erkoren werden, beschränken ihre Einsätze auf einige Stadtteile der Hauptstadt Monrovia, die von Gewalt geprägten Wohnviertel und die ländlichen Provinzen erreichen sie nicht.

Umso wichtiger ist eine Veränderung gewaltgeprägter Maskulinitätskonstrukte, die aus dem Krieg übernommen wurden – noch immer und trotz der traumatischen Folgen gelten Vergewaltigungen als Ausdruck von Virilität. Zwar hatte sich Johnson-Sirleaf dafür eingesetzt, den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen, doch selbst wenn die Politikerinnen geschlechtsspezifische Gewalt zum Politikum machen würden, können sich frühere Kriegsherren, die teilweise mitregieren, eigene kriminelle Klientelstrukturen fortsetzen oder neue aufbauen und dabei sexuelle Gewalt als Machtmittel einsetzen, auf ihre Immunität berufen. Straflosigkeit bleibt also auf allen Ebenen ein Strukturproblem.

Fazit

Das Fallbeispiel Liberia lässt Zweifel daran aufkommen, ob die in der UN-Resolution 1325 vorgegebene Partizipation von Frauen in Friedensprozessen ausreicht für die Gewaltüberwindung in Nachkriegsgesellschaften. Wichtig wäre die Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure_innen, um die vor und im Krieg etablierten Gewaltstrukturen zu überwinden. Dabei sollte geschlechtsspezifische Gewalt als ein Element weitreichender Gewaltmuster angegangen werden, denen nur durch umfassende Präventionsansätze und Strafverfolgung gegengesteuert werden kann.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin der Publikationen »Frauen und Kriege in Afrika. Ein Beitrag zur Gender-Forschung« (Frankfurt, 2008); »Gender and Transitional Justice« (Berlin, 2014); zusammen mit Eva Range »The political use of homophobia« (Berlin, 2014).

Frauenstimmen gegen militärisches Denken

Frauenstimmen gegen militärisches Denken

100 Jahre Internationale Frauenliga

von Susanne Hertrampf

Mit der Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) schufen die Gründerinnen ein Forum, aus dem heraus sich Frauen bis heute für eine neue Sicherheits- und Außenpolitik stark machen. Ihr Ausgangspunkt waren das Wissen, was Militarismus für Männer und Frauen konkret bedeutet, demokratische Prinzipien, soziale Gerechtigkeit sowie Völker-, Frauen- und Menschenrechte. Mit diesen Prinzipien setzen die IFFF-Frauen seither dem Militarismus eine geschlechtergerechte Friedenskultur entgegen und fordern die Hegemonie der Männer in der Außen- und Sicherheitspolitik heraus.

Vom 28. April bis 1. Mai, mitten im Ersten Weltkrieg, treffen sich ca. 1.136 Pazifistinnen aus zwölf neutralen und Krieg führenden Ländern zu einem internationalen Frauen-Friedenskongress in Den Haag und widersetzen sich damit dem herrschenden Freund-Feind-Denken. Die Teilnehmerinnen, die zumeist aus der Frauenstimmrechtsbewegung kommen, verfolgen mit dem Kongress drei Ziele:

1. hörbar gegen den Krieg zu protestieren,

2. die politische Gleichberechtigung der Frauen zu fordern und

3. das Ende des Krieges herbeizuführen.

Auf der Grundlage ihres Verständnisses von Demokratie, Pazifismus und Frauenrechten verabschieden sie zu diesen Zielen 20 Resolutionen. Am Ende des Kongresses richten die Frauen ein »Internationales Komitee für dauernden Frieden« ein und wählen die Amerikanerin Jane Addams zur Präsidentin. Darüber hinaus entsenden sie eigene Delegationen in 15 neutrale und Krieg führende Länder, um ihre Resolutionen den regierenden Männern persönlich zu übergeben.

1919-1929: Ein Jahrzehnt intensiver Diskussionen

Auf ihrem zweiten Kongress 1919 in Zürich geben sich die Friedensfrauen eine Satzung und definieren ihre zwei wichtigsten Ziele, die in den neuen Namen ihrer Organisation einfließen: Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), oder auf Deutsch: Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF).

Entsprechend dieser spannungsgeladenen Zielsetzung engagieren sich die IFFF-Frauen nicht nur für eine allgemeine und umfassende Abrüstung, für die gewaltfreie Lösung von Konflikten sowie eine Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit, sondern auch für soziale Gerechtigkeit und die Verwirklichung von Menschenrechten, gerade auch für Frauen. Zudem verurteilen sie den Versailler-Vertrag, der ohne die Beteiligung von Frauen in Paris ausgehandelt worden war, als Saat für einen neuen Krieg. Ihr internationales Büro verlegt die IFFF nach Genf, dem Sitz des neu gegründeten Völkerbundes. Sie gehört zu den ersten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die die Völkerbundpolitik entsprechend ihren politischen Zielsetzungen zu beeinflussen suchen, teilweise in Kooperation mit anderen internationalen Frauenorganisationen.

Mit dem dritten Kongress 1921 in Wien intensiviert die IFFF ihre Kontakte zu Pazifistinnen in Osteuropa. Kontrovers diskutieren die Teilnehmerinnen, ob die IFFF Formen eines gewalttätigen Widerstandes unterstützen soll, wenn soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit bedroht sind. Anschließend findet die erste Sommerschule in Salzburg statt, weitere folgen jährlich bis 1933.

Auf dem Kongress 1924 in Washington sind 22 nationale Sektionen vertreten. Ausführlich informieren die Chemikerinnen Gertrud Woker (Schweiz) und Naima Sahlbom (Schweden) darüber, welch verheerende Wirkung Giftgase, die als chemische Kampfmittel verwendet werden, auf Menschen haben. Wissenschaft, die sich in den Dienst des Militärs stellt, wird scharf kritisiert. Am Ende reisen die europäischen Delegierten mit einem Zug, dem »Pax Special«, in Etappen von Washington nach Chicago. Nicht überall werden sie freudig begrüßt, mancherorts als Agentinnen Moskaus diffamiert.

Welchen friedenspolitischen Beitrag Frauen leisten können, diskutieren IFFF-Frauen im Rahmen des Kongresses 1926 in Dublin. Während die Mehrheit davon ausgeht, Frauen seien ihrem Wesen nach friedfertiger als die Männer, führt die Engländerin Catherine Marshall die größere Friedfertigkeit auf die geschlechtsspezifische Sozialisation der Frauen zurück. Auch die Französin Andrée Jouve teilt nicht die Meinung der Mehrheit, sondern fordert sozial gerechtere Strukturen. 1926 und 1927 unternehmen IFFF-Frauen Missionen nach Haiti und China, um sich selbst ein Bild von der politischen Lage vor Ort zu machen und Kontakte mit den dortigen Frauenbewegungen zu knüpfen bzw. diese zu stärken. Die Sommerschule in Birmingham wird genutzt, um eingehend über Sozialismus, Bolschewismus und Faschismus zu diskutieren.

Der sechste Kongress in Prag 1929 bringt Veränderungen in Bezug auf die IFFF-Führung: Gleichberechtigt übernehmen Gertrud Baer (Deutschland), Clara Ragaz (Schweiz) und Emily Greene Balch (USA) das Amt von Jane Addams. Die Ansicht, dass zu einer dauerhaften Sicherung des Friedens eine soziale Wirtschaftsordnung notwendig sei, findet die Zustimmung der meisten Teilnehmerinnen.

1930-1947: Zerstörte Hoffnungen – neue Motivation

Anfang der 1930er Jahre intensiviert die IFFF ihr Engagement für eine weltweite Abrüstung. Hoffnung schöpfen die Pazifistinnen aus dem Briand-Kellogg-Pakt, der 1926 in Paris beschlossen wurde und am 24. Juli 1929 in Kraft trat. Durch ihre Unterschrift unter diesen Pakt erklärten Staaten wie die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland jeden Angriffskrieg als völkerrechtswidrig; zudem verpflichteten sie sich dazu, Konflikte nur friedlich zu lösen. Ermutigt sind die IFFF-Fauen auch von der Verleihung des Friedensnobelpreises 1931 an ihre Gründungspräsidentin Jane Addams.

Eine lang diskutierte Abrüstungskonferenz des Völkerbundes wird tatsächlich im Februar 1932 in Genf eröffnet. Frauenorganisationen übergeben Abrüstungspetitionen mit ca. acht Millionen Unterschriften; allein die IFFF-Petition »Auf den Krieg wurde verzichtet, nun lasst uns auf die Rüstung verzichten!«, die zwei Jahre zuvor gestartet worden war, wurde von ca. sechs Millionen Frauen und Männer unterzeichnet. Der Verlauf der Konferenz lässt allerdings schnell erkennen, dass die Abrüstungsforderung der Frauen bei den Staatsmännern kein nachhaltiges Umdenken bewirkt. Die IFFF-Frauen versuchen mit drastischen Worten deutlich zu machen, was auf dem Spiel steht.

Unter dem Motto »Weltabrüstung oder Weltuntergang« fordern sie auf ihrem Kongress 1932 in Grenoble weitere Abrüstungsanstrengungen und setzen ihre Diskussion um eine soziale Wirtschaftsordnung fort. Gegen die Befürchtung vor allem britischer IFFF-Frauen, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit würde von der eigentlichen pazifistischen Forderung nach Abrüstung ablenken und die IFFF zu stark in die Nähe des Kommunismus rücken, beschloss die Mehrheit auf dem Kongress 1934 in Zürich, den Kampf gegen Unterdrückung, Vorteilnahme und Profitdenken als erweiterte IFFF-Politik in der Satzung zu verankern. Auf dem vorläufig letzten IFFF-Kongress 1937 in Luhaèovice (Tschechoslowakei) mahnen Lida Gustava Heymann und Gabrielle Duchêne – vor allem in Richtung der britischen Sektion –, in Bezug auf Hitler-Deutschland nicht neutral zu bleiben, sondern entschieden gegen die Politik der Nationalsozialisten Stellung zu beziehen.

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 macht deutlich, dass der Ruf der Frauen abermals ungehört blieb. Aus ihrem Exil in New York informiert Gertrud Baer ihre Mitstreiterinnen mittels Rundbriefen über politische Ereignisse und Debatten. 1942 kooperiert sie mit der Internationalen Frauenallianz, die internationale Frauenorganisationen für eine gemeinsame Aktion gewinnen will, um auf die Regelung der internationalen Beziehungen nach Kriegsende Einfluss zu nehmen. Der Versuch scheitert an den unterschiedlichen Vorstellungen.

Das Ziel der neu gegründeten Vereinten Nationen, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ (Charta vom 26. Juni 1945), weckt ebenso neuen Mut wie die Verleihung des Friedensnobelpreises an Emily Greene Balch im gleichen Jahr. Auf ihrem ersten Nachkriegskongress 1946 in Luxemburg diskutieren die IFFF-Frauen darüber, ob eine Frauenfriedensorganisation noch zeitgemäß sei. Vor allem mit den Argumenten, Frauen würden letztlich eher dazu tendieren, Leben zu erhalten als zu vernichten, und eine Frauenfriedensorganisation sei besser geeignet, Frauen verschiedener Nationalitäten für eine gemeinsame Friedensarbeit zu gewinnen, votiert die Mehrheit dafür, die gemeinsame Arbeit fortzusetzen.

1947-1967: Im Sog der Vereinten Nationen

Die IFFF erhält 1948 den beratenden Status für NGOs bei den Vereinten Nationen. Gertrud Baer, die ihren Wohnsitz nach Genf verlegt hat, vertritt die IFFF bei den Vereinten Nationen (bis 1973) fast im Alleingang. Einerseits bieten die Vereinten Nationen ein neues Forum, um für die pazifistischen Vorstellungen der IFFF zu werben, andererseits binden sie Zeit und finanzielle Ressourcen und sie geben die Themen vor. In den folgenden Jahren konzentrieren sich die IFFF-Frauen im Rahmen der Vereinten Nationen auf Abrüstungsfragen. Der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 und die Verschärfung des Kalten Krieges in den Jahren danach bestärken sie in dieser Schwerpunktsetzung.

Sorge bereitet der Mitgliederschwund: Auf dem Kongress in Kopenhagen 1949 sind nur 13 nationale Sektionen vertreten. Der Anspruch der IFFF, Avantgarde zu sein, während gleichzeitig feministische Ansätze aus den IFFF-Debatten immer mehr verschwinden, wird zum Hindernis. In den 1950er Jahren gelingt es indischen Pazifistinnen aber dennoch, die IFFF wieder dauerhaft in Indien zu etablieren. Hingegen laufen in den 1950er und 1960er Jahren die Versuche ins Leere, Frauen in Afrika für die IFFF zu gewinnen. Die zumeist westlichen IFFF-Frauen zeigen sich wenig bereit, auf die friedenspolitischen Vorstellungen der Afrikanerinnen einzugehen. Diese Einstellung beginnt sich Ende der 1960er Jahre, vor allem dank Dorothy Hutchinson (USA, internationale IFFF-Präsidentin 1965-68), Dorothy Steffens (USA), Fujiko Isono (Japan) und Sybil Cookson (England) zu verändern. Zwei IFFF-Missionen in den Mittleren Osten, 1958 und 1967, dienen dazu, sich direkt vor Ort zu informieren und zu versuchen, mit Hilfe einheimischer IFFF-Frauen zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und einen Versöhnungsprozess einzuleiten.

1968-1992: Gewichtungsfragen

Mit der Präsidentschaft der amerikanischen Soziologin Elise Boulding (1968-1971) fließen neue Denkansätze in die IFFF-Debatten ein. Auf dem ersten IFFF-Kongress, der nicht in einem westlichen Land ausgetragen wird, sondern zum Jahreswechsel 1970/71 in Neu Dehli (Indien), fordert sie ihre Mitstreiterinnen auf, das bisher ignorierte gesellschaftspolitische Wissen von Frauen aller Kulturen und Schichten sichtbar zu machen und damit das vorherrschende Denken in allen Politikbereichen herauszufordern – als Voraussetzung für eine geschlechtergerechte Friedenskultur. Ihre unmittelbaren Nachfolgerinnen, die Dänin Ellen Holmgaard (1971-72) und die Deutsche Eleonore Romberg (1972-74), nehmen den anspruchsvollen Ansatz von Boulding nicht auf. Stattdessen unterstützen sie die Bestrebungen der IFFF-Generalsekretärin Edith Ballantyne (1968-1992), die IFFF stärker in der stetig anwachsenden NGO-Gemeinschaft in Genf zu verankern, mit dem Ziel, den Pazifistinnen mehr Gehör zu verschaffen. So intensiviert Ballantyne ab 1972 die Mitarbeit der IFFF in etlichen NGO-Gremien, die bei den Vereinten Nationen aktiv sind, und nimmt dort etliche Jahre führende Positionen ein. Parallel dazu begeben sich IFFF-Frauen auf vier Missionen in Krisengebiete, insbesondere um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren: 1971 nach Nord- und Südvietnam, 1973 nach Chile, 1974 nach Nordirland und 1975 erneut in den Mittleren Osten.

Zum Auftakt der Frauendekade der Vereinten Nationen (1975-1985) organisiert die IFFF gemeinsam mit der Internationalen Demokratischen Frauenförderation ein Seminar zu Frauen und Abrüstung in New York. Aufgrund des NATO-»Doppelbeschlusses« zur nuklearen Aufrüstung von 1979 bleibt das Thema Abrüstung auch in den 1980er Jahren ganz oben auf der IFFF-Agenda. 1982 initiiert die IFFF die Kampagne »Stop The Arms Race« (STAR) und übergibt die Abrüstungsforderungen im Rahmen einer Massendemonstration mit über 10.000 Frauen 1983 an NATO-Generäle in Brüssel.

Auf der Abschlusskonferenz der Frauendekade 1985 in Nairobi wird das IFFF-Friedenszelt zum Magnet für friedenspolitisch interessierte Frauen aus der ganzen Welt. Unter der zweiten Präsidentschaft von Eleonore Romberg (1986-1992) gelingt es der IFFF endlich, ihre Friedensarbeit auch in Lateinamerika zu verankern. 1992 richtet sie ihren 25. Kongress in Bolivien aus und setzt sich verstärkt für die Rechte indigener Völker ein.

1993-2015: Frauensichtweisen wider den Militarismus

Die neue Generalsekretärin Barbara Lochbihler (1992-1999) richtet den Blick wieder stärker auf Frauenrechte und -sichtweisen. 1995 organisiert sie einen Frauen-Friedens-Zug, mit dem sich IFFF-Frauen aus verschiedenen Ländern von Helsinki zur vierten Weltfrauenkonferenz in Peking auf den Weg machen. Ziel dieser spektakulären Aktion ist es, unterwegs mit osteuropäischen Frauen in einen Dialog zu treten, ihren Stimmen Gehör zu geben und eine Friedens- und Sicherheitspolitik aus Frauensicht zu konzipieren. Im IFFF-Friedenszelt in Peking diskutieren die Frauen weiter, tauschen Ideen und Meinungen aus. Die Kriege in Jugoslawien zwischen 1992 und 1999 führen der Welt vor Augen, wie dringend die politische Teilhabe von Frauen geboten ist, um Kriege zu verhindern, beizulegen und zu bewältigen.

1999 startet die IFFF ihr Projekt »Reaching Critical Will«, das andere NGOs, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen für Abrüstung einsetzen, unterstützt und mit entsprechenden Informationen versorgt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts forciert die IFFF ihr Engagement für ein umfassendes Waffenhandelsabkommen, das den Transfer von Waffen grundsätzlich verbietet, wenn Menschen- und Frauenrechte gefährdet sowie negative Auswirkungen auf die Umwelt und die sozioökonomische Entwicklung zu befürchten sind. Den Arms Trade Treaty, den die UN-Vollversammlung im April 2013 verabschiedet, bewertet die IFFF als ersten Schritt in die richtige Richtung.

Zurzeit hat die IFFF 30 nationale Sektionen, verteilt auf alle Kontinente, und plant ihr 100-jähriges Jubiläum, das vom 22. bis 25. April 2015 an dem Ort stattfindet wird, an dem ihre ungewöhnliche Geschichte begann: in Den Haag, und zwar im Friedenspalast. Ein Anlass, um gemeinsam über das bisher Geleistete zu reflektieren und ein Manifest für die IFFF-Friedenspolitik der kommenden Jahre zu erarbeiten.

Literatur

Gertrude Busseyand Margaret Tims (1980): Pioneers for Peace. Women’ s International League for Peace and Freedom 1915-1965. Oxford: Alden Press.

Susanne Hertrampf (2006): Zum Wohle der Menschheit«. Feministisches Denken und Engagement internationaler Aktivistinnen, 1945-1975. Herbolzheim: Centaurus.

Dies. (2009): Identitäten, Perspektiven und Kommunikation transnationaler Friedensaktivistinnen 1970/71. In: Martina Ineichen et al. (Hrsg.): Gender in Trans-it. Transkulturelle und Transnationale Perspektiven. Zürich: Chronos, S.213-221.

Sabine Hoffkamp und Monika Pater: Pazifismus in Aktion. Praktische Friedensbildung als Beitrag zur Demokratisierung in Europa. Ariadne, Heft 60, November 2011, S.51-57.

IFFF-Deutsche Sektion (Hrsg) (o.J.): Völkerversöhnende Frauenarbeit. Teil I-VI, 1914-1931.

Dr. Susanne Hertrampf ist Historikerin; sie forscht zu deutschen und internationalen Frauen(friedens)bewegungen und ist Mitglied der IFFF.
Die deutsche Sektion der IFFF feiert den 100. Geburtstag am 19.-21. Juni 2015 in München; Details demnächst unter wilpf.de.

Wi(e)der die Großmacht!

Wi(e)der die Großmacht!

17. IMI-Kongress, 15.-16. November 2014, Tübingen

von Thomas Mickan

Über 200 Menschen besuchten den diesjährigen Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., der im November 2014 zum inzwischen 17. Mal in Tübingen stattfand. Der Kongress stand unter dem Motto »Deutschland: Wi(e)der die Großmacht!« – ganz im Zeichen der seit einiger Zeit immer offensiver formulierten deutschen Großmachtansprüche. Dabei wurde diskutiert, auf welchen Ebenen diese Großmachtpolitik zu beobachten ist und wie sich dagegen Widerstand organisiert.

Elitenkonsens

Am Samstag eröffnete IMI-Vorstand Jürgen Wagner den Kongress mit einem Vortrag, der sich »Deutschlands neuen Großmachtambitionen« widmete. Er führte aus, dass der seit Anfang des Jahres von deutschen Spitzenpolitikern formulierte Anspruch auf eine offensivere (militärische) Großmachtrolle von langer Hand vorbereitet worden sei. Insbesondere sei dies im Rahmen des vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes finanzierten Projektes »Neue Macht – Neue Verantwortung« geschehen, dessen Abschlussbericht 2013 von der Stiftung Wissenschaft und Politik und dem German Marshall Fund of the United States veröffentlicht worden war: „Alle wesentlichen Gedanken der Gauck-Rede bis hin zu teils wortgleichen Formulierungen sind dem […] entnommen. Gauck wurde also lediglich zum Sprecher eines Elitenkonsenses auserkoren, der darauf basiert, dass eine aggressivere Militärpolitik die notwendige Bedingung für den angestrebten Aufstieg Deutschlands zu einer veritablen Großmacht darstellt“, so Wagners Kritik.

Zum Auftakt des zweiten Panels zu Aspekten der Sicherheitspolitik der Großen Koalition rekapitulierte Tobias Pflüger die Debatte der parlamentarischen Kontrolle militärischer Auslandseinsätze und konstatierte einen sukzessiven Abbau derselben. Unter der neuen Regierung habe eine aktive Aushebelung parlamentarischer Rechte zur Information und Beteiligung stattgefunden. Auch bei der Entscheidung über Waffenexporte an die »nicht-staatlichen« Peschmerga sei das Parlament außen vor geblieben. Thomas Mickan skizzierte das Maßnahmenpaket zur Attraktivitätssteigerung des Militärs sowie den dazugehörigen Lobbyentwurf des Bundeswehr-Verbandes. Er wies darauf hin, dass die Bundeswehr in dem Entwurf als weltweit agierender »Konzern« verstanden würde und sich Werbemaßnahmen für die Bundeswehr an die Marketingstrategien großer Unternehmen anlehnten. Die Maßnahmen sollten außerdem Vertrauen in die Bundeswehrführung, das aufgrund der Bundeswehrreform in der Bundeswehr verloren gegangen war, wieder herstellen und Fachkräfte binden. Reiner Rehak vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) analysierte die Tätigkeit der Geheimdienste bei der elektronischen/digitalen Bespitzelung und kam zum Schluss, dass der BND ähnliche Strategien verfolge wie der US-amerikanische Geheimdienst NSA und eng mit diesem zusammenarbeite. Er konstatierte ferner, dass es die modernen Medien, aber auch das Kommunikationsverhalten der Nutzer den Diensten leicht mache, Informationen abzugreifen.

Die Hardware der Großmacht

Am Nachmittag ging es um die Standorte und die Rüstungsprojekte der »Armee im Einsatz«. Christoph Marischka stellte das Stationierungskonzept der Bundeswehr von 2011 vor. Darin werde festgehalten, dass mögliche Kriegsbeteiligungen hoher Intensität sowie mehrere Interventionen gleichzeitig von der Regierung als Voraussetzung gesehen werde, um Außenpolitik zu betreiben. Standortschließungen ergäben sich aus Einsparungen durch die Wehrpflicht, der Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben und einzelnen militärischen Aufgaben sowie der umfassenden Privatisierung, insbesondere bei Logistik und Instandhaltung. Arno Neuber beschrieb daraufhin die wichtigsten gegenwärtigen Rüstungsprojekte. Eine klare Einsatzausrichtung zeige sich beim Transporthubschrauber NH90, dem Kampfhubschrauber Tiger, dem Schützenpanzer Puma und dem Militärtransporter A400M. Verteidigungsministerin von der Leyen inszeniere sich gegenwärtig zwar als Kämpferin gegen die Rüstungsmisswirtschaft, die Abhängigkeit der Armee von der Rüstung sei jedoch nicht zu überwinden. Matthias Monroy problematisierte v.a. die Nutzung unbewaffneter Aufklärungsdrohnen mittlerer Größe. Nachdem diese längst militärisch eingesetzt würden, interessierten sich zunehmend auch Polizei- und Grenzschutzbehörden für ihre Verwendung. Als Zwischenlösung für eine Bundeswehranschaffung werde gegenwärtig das Nachfolgemodell der Drohne Heron 1 diskutiert, die (unbewaffnet) bereits in Afghanistan im Einsatz sei, allerdings von der Herstellerfirma geleast und durch private Angestellte gestartet und gelandet werde. Mittelfristig strebten Deutschland und die Europäische Union jedoch die Entwicklung einer eigenen Drohne dieser Klasse an. Monroy verwies auch darauf, dass der EuroHawk keineswegs vom Tisch sei.

Medien im Krieg

Am Samstagabend analysierte IMI-Vorstand Claudia Haydt mediale Ideologieproduktion. Sie ging dabei auf mediale Sprach- und Argumentationsmuster ein, die einerseits militärisches Eingreifen als einzig mögliche Option rahmen und anderseits KriegsgegnerInnen und alternative Lesarten diskreditieren. Haydt stellte die Ergebnisse von Uwe Krügers Buch »Meinungsmacht« vor, in dem er journalistische Elitenetzwerke und ihre Verbindungen zur so genannten »Strategischen Gemeinschaft« untersucht, und diskutierte diese. Sie schloss sich Krügers Forderungen für eine andere journalistische Ethik an, die eine enge Verbindung von Berichterstattungsfeld (oder –objekt) und Journalisten untersage.

Von Afghanistan nach Afrika

Am Sonntagmorgen beschäftigte sich Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, mit Lehren, die Regierung und Militär aus dem Afghanistankrieg gezogen haben. Er zeigte auf, dass die Hinterlassenschaft des Krieges und die unzähligen Opfer in der Debatte keinerlei Rolle spielten. Dies habe zur Folge, dass lediglich darüber diskutiert werde, wie ein solcher Krieg künftig »besser« geführt werden könne. Eine feste Entschlossenheit sei zu erkennen, durch weitere Aufrüstungsmaßnahmen auf eine Effektivierung hinzuarbeiten. Im Anschluss sprach Christin Bernhold über die »neue« deutsche Afrika-Politik. Aufgrund bedeutender Rohstoffvorkommen und hervorragender Investitionsmöglichkeiten werde Afrika bereits seit einiger Zeit seitens Industrie und Politik nicht mehr ausschließlich als Krisen-, sondern auch als »Chancenkontinent« begriffen. Deshalb werde verstärkt die militärische Flankierung gefordert, um etwaige Profite und Rohstoffvorkommen abzusichern. Die Bundesregierung setze aber eher auf »Outsourcing« von Gewaltanwendung als auf groß angelegte Militäreinsätze. Wenn möglich werde der Aufbau lokaler pro-westlicher Kräfte bevorzugt, so Bernhold.

Ukraine als Testfall

Danach analysierte Jürgen Wagner die »Ukraine als Testfall für Deutschlands neue Großmachtambitionen«. Der Konflikt habe sich an der Ablehnung des damaligen Präsidenten Janukowitsch entzündet, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Vor dem Hintergrund wachsender westlich-russischer Konflikte stelle der Abschluss eines solchen Abkommens faktisch den Beitritt zu einem der beiden Blöcke dar. Mit einem Assoziierungsabkommen werde ein Nachbarland fest in den EU-Binnenmarkt, in die EU-Militärstrukturen und damit auch in das EU-Einflussgebiet integriert. Die EU und die USA hätten nach Janukowitschs Weigerung, das Abkommen zu unterzeichnen, massiv die Proteste unterstützt, die schließlich zum gewaltsamen Sturz des gewählten Präsidenten führten. Zwar habe Russland hierauf ebenfalls mit harten machtpolitischen Bandagen reagiert, die Ursache des Konfliktes sei aber in der westlichen Expansionspolitik zu suchen, so Wagner.

Mobilisierung

Auf dem Abschlusspodium berichteten Aktivisten von den Protesten gegen den Celler Trialog, die Königsbronner Gespräche und die NATO-Sicherheitskonferenz. Diese Veranstaltungen stünden stellvertretend für „Standorte der Ideologieproduktion“, an denen sich der Elitenkonsens bildet und nach außen getragen werde, aber sich durch breite Bündnisse auch Widerstand formiert und manifestiert. In diesem Kontext wurde auch auf den G7-Gipfel im Juni 2015 in Bayern verwiesen, zu dem breite Proteste – auch gegen Deutschlands neue Großmachtambitionen – zu erwarten seien.

Thomas Mickan

Engagement im Lied

Engagement im Lied

Liedermacher und die Friedensbewegung

von Jürgen Nieth

Das politische Lied ist in Deutschland seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eng mit der deutschen Friedensbewegung verbunden: Singend wurde auf der Straße und von der Bühne Solidarität gefordert und postuliert; die politischen Zustände wurden kritisiert und Alternativen formuliert. Und es wurde – manchmal agitatorisch, manchmal mit eher verschlüsselten Texten – zum Nachdenken und Handeln aufgefordert. Ein Rückblick.

Parallel zu der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der 50er, den Ostermärschen der 60er und dem Protest gegen die »Nach«-Rüstung der 80er Jahre wurden zu allen relevanten friedens- oder gesellschaftspolitischen Themen Lieder gedichtet, vertont, umgetextet oder wieder neu entdeckt. Beispiele sind die »auf der Straße zu singenden Lieder« von Gerd Semmer, Fasia Jansen und Hannes Stütz, die »agitatorischen« Chansons von Dieter Süverkrüp, die nachdenklichen Balladen von Franz Josef Degenhardt, die (so Pressestimmen) „brachial-sinnlichen“ Songs von Konstantin Wecker. Zum Repertoire von Hannes Wader gehörten neben seinen gesellschaftskritischen Liedern auch zahlreiche Übersetzungen sowie zwischendurch vergessene antifaschistische, Arbeiter- und Revolutionslieder.

Bewegung gegen die Remilitarisierung

Die Friedensbewegung,die sich seit den frühen 50er Jahren gegen die Remilitarisierung und die Gründung der Bundewehr formte, wurde in der BRD trotz staatlicher Repression zur Massenbewegung. Zu ihren Aktionsformen gehörten Unterschriftensammlungen und Massendemonstrationen genauso wie Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Proteste, Blockaden und Besetzungsaktionen richteten sich u.a. gegen die Nutzung Helgolands als Bombenabwurfplatz der britischen Luftwaffe, gegen Truppenübungsplätze der USA und Großbritanniens, gegen die Nutzung deutscher Häfen für Waffentransporte und gegen die Anlage von Sprengschächten an Autobahnen oder dem Loreleyfelsen.

Das Liedgut dieser Bewegung knüpfte vor allem an die 20er Jahre an. Es dominierten Lieder für eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung, Lieder des spanischen Bürgerkriegs und des antifaschistischen Widerstands oder auch alte Freiheitslieder, wie »Die Gedanken sind frei«. Neue Texte und Melodien wurden von der westdeutsche Friedensbewegung (oder für sie) in dieser Zeit nicht geschrieben. Ganz anders in der DDR, wo die Künstler an die Tradition der 20er Jahre anknüpften. Kein Zufall also, dass auch das bekannteste Lied, das sich auf konkrete Protestaktionen bezieht, von einem Ostberliner geschrieben wurde.

Anlässlich einer Protestaktion an der Loreley und vor dem Hintergrund des Koreakrieges schrieb Ernst Busch 1950:

Was ist unser Leben wert,
wenn allein regiert das Schwert
und die ganze Welt zerfällt in toten Sand?
Aber dies wird nicht gescheh’n,
denn wir wolln nicht untergeh’n,
und so rufen wir durch unser deutsches Land:

Refrain:
Go home, Ami, Ami go home!
Spalte für den Frieden dein Atom!
Sag’ »good bye« dem Vater Rhein,
rühr’ nicht an sein Töchterlein,
Loreley, solang du siegst, wird Deutschland sein.

Clay und Cloy aus USA
sind für die Etappe da:
»Soll’n die German Boys verrecken in dem Sand!«
Noch sind hier die Waffen kalt,
doch der Friede wird nicht alt,
hält nicht jeder schützend über ihn die Hand!
Go home, Ami, Ami go home […]

Kampf dem Atomtod

Mit der »Ohne-mich«-Bewegung nach Einführung der Wehrpflicht und der Bewegung gegen den Atomtod bekam ein Lied der Sozialistischen Jugend aus den 20er Jahren neue Aktualität:

Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen,
nie, nie woll‘n wir wieder Krieg.
Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen,
wir machen einfach nicht mehr mit.

Erst die Ostermärsche der 60er Jahre setzten starke Impulse für neue politische Lieder in der BRD.

Unüberhörbar ist zu Beginn die Inspiration durch die Anti-Atombewegung in Großbritannien und durch »Folksinger« aus den USA. »We shall overcome« war wohl das meistgesungene Lied der Ostermärsche. Unter den deutschen LiedermacherInnen war eine Stimme nicht zu überhören: die von Fasia Jansen. Sie machte die von Gerd Semmer bearbeitete Fassung des englischen Aldermaston-Songs populär.

Hörst du nicht H-Bombendonner?
Denkst du dir denn nichts dabei?
Menschen müssen langsam sterben,
ist es dir denn einerlei?
Willst du, dass die kleinen Kinder
elend dran zugrunde gehen,
und die Nachbarn und die Freunde –
willst du sie verbrennen seh’n?

Refrain:
Bombe weg für alle Zeiten
ist jetzt oberstes Gebot.
Einig sein in diesem Ziele,
oder wir sind morgen tot.

[…]
Nur an deiner Stimme liegt es,
ob die Welt zu Asche wird.
Nur an deinem Handeln sieht man,
ob Vernunft dein Herz regiert.
Darum musst du mit uns gehen,
denn es ist noch nicht zu spät.
Dein Gewissen muss jetzt sprechen,
dass die Erde fortbesteht.

Inhaltlich ging es bei den neuen deutschen Protestsongs zu Beginn der 60er Jahre vor allem um den Kampf gegen die Atombombe. Dafür stehen Lieder wie der »Weltuntergangsblues«, »Die Höllenbombe« und »Strontium 90« (Semmer/Dallas):

Jeder neue H-Bombenversuch
ist ein Fetzen mehr für dein Leichentuch.
Komm, sei nicht müde, du musst etwas tun,
es geht um die kommende Generation:
Strontium 90, Strontium 90
fällt auf die ganze Welt.
Strontium 90, Strontium 90
vergiftet Flur und Feld.

Zum Ostermarsch 1964 schrieb Hannes Stütz mit »Unser Marsch ist eine gute Sache« auch eine Antwort auf die Verleumdungskampagne der Regierenden, nach der die Bewegung »vom Osten« gesteuert sei.

Unser Marsch ist eine gute Sache
weil er für eine gute Sache geht.
Wir marschieren nicht aus Haß und Rache
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsre Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh’n uns’re Sprache:

Refrain:
Marschieren wir gegen den Osten? Nein!
Marschieren wir gegen den Westen? Nein!
Wir marschieren für die Welt
die von Waffen nichts mehr hält.
Denn das ist für uns am besten.

[…]
Du deutsches Volk, du bist fast immer
für falsche Ziele marschiert,
am Ende waren nur Trümmer.
Weißt du heute, wohin man dich führt?
Nimm dein Schicksal in die Hand,
steck den Kopf nicht in den Sand
und laßt euch nicht mehr verführen!

Vor allem Gerd Semmer bezieht sich in diesen Jahren in seinen Texten immer wieder auf die aktuelle politische Entwicklung in der BRD. Als 1963/64 die Bundesregierung eine Luftschutzkampagne startete, die von einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Verharmlosung der wirklichen Kriegsgefahren abgelehnt wurde, karikiert er diese Politik in seinem »Luftschutzlied« (Musik Dieter Süverkrüp):

Leute greift zur Feuerpatsche,
stellt den Tütensand bereit,
ohne dass ihr es beachtet,
ist schon wieder Luftschutzzeit.

Wieder müsst ihr Vorrat hamstern:
Selterswasser, Haferschleim,
Luftmatratzengruft mit Kerzen –
schmückt den Keller wie das Heim.

Mut in Pillen, Luft in Dosen,
schlau bedacht ist alles hier.
Wenn die Luft euch aber wegbleibt,
dann seid doch die Dummen ihr.

Schwarze Herrenschokolade,
wenn ihr reinbeisst, wenn es kracht,
sollt ihr wissen: schwarze Herren
haben dies für euch vollbracht.

Wieder müsst ihr euch luftschützen:
Himmel blau – und plötzlich rot;
ohne dass sie es beachten,
sind schon zehn Millionen tot.

Mitte der 60er Jahre wurden Pläne bekannt, einen Atomminengürtel entlang der Grenze zur DDR zu legen. Es entstand »Verbrannte Erde in Deutschland« (Semmer/Jansen):

Feuer, Vorsicht, man legt Feuer,
ein Atomminengürtel wird geplant.
Geht auf die Straße und schreit Feuer!
Feuer, unsere Erde wird verbrannt.

Annemarie Stern schrieb in einem Vorwort zu »Politische Lieder ’67« über die Texte dieser Zeit: „Es sind politische Lieder und keine Protestschnulzen. Das Argument überwiegt die Emotion, die Verständlichkeit die so genannte Poesie. Reines kulinarisches Kunstvergnügen ist also nicht beabsichtigt, weil dann die Argumentation in die Binsen ginge.“

Neue Schwerpunkte der Ostermärsche

Mitte der 60er Jahre änderten sich die politischen Schwerpunkte der Ostermärsche. Zum Protest gegen die Bombe kam der Widerstand gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Das spiegelte sich auch in den Liedern wider. Dieter Süverkrüp agitierte gegen die Zustimmung der SPD zu den Notstandsgesetzen mit seinem »An alle schon jetzt – oder demnächst – enttäuschten SPD Wähler; nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze zu singen«. Fast alle LiedermacherInnen schrieben gegen den Vietnamkrieg. Unvergessen bleibt Degenhardts »P. T. aus Arizona«, gewidmet einem amerikanischen »GI«, der sich in Kaiserslautern seinem Vietnameinsatz entzog und nach Frankreich desertierte. Dieter Süverkrüp verfasste einen ganzen Vietnamzyklus, und Fasia Jansen textete »An meinen amerikanischen Brieffreund Jonny«. Von der Düsseldorfer Skiffle-Gruppe »Die Conrads« stammt »Für Vietnam«:

Vielleicht wird die Bombe schon scharf gemacht.
Vielleicht, doch was ist schon dabei?
Und ein Reisbauer wird wieder umgebracht –
denn so macht man Reisbauern frei.

Vielleicht schreit ein Kind jetzt, von Phosphor verbrannt.
Vielleicht predigt ein Pfarrer von Gott,
Und der Mörder des Kindes bleibt ungenannt,
denn ein Christ kennt genau sein Gebot.

Und sie brennen im Namen des Abendlands
einem Volk ihren Stempel ins Fleisch.
Und sie liefern der Freiheit den Totenkranz,
doch einst zahlen sie dafür den Preis.

Die Entwicklung des politischen Liedes wurde von vielen Faktoren bestimmt. Bei den Ostermärschen traten u.a. Joan Baez und der Kanadier Perry Friedmann auf. Beide knüpften an die Tradition nordamerikanischer Arbeiterlieder à la Woody Guthrie und Pete Seeger an. Von 1964 bis 1968 trafen sich auf der Burg Waldeck Tausende zum jährlichen Songfestival »Chansons, Folklore International«. Prägend dabei: Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Fasia Jansen, Hein und Oss Kröher, Reinhard Mey, Walter Moosmann, Dieter Süverkrüp und Hannes Wader. Der Einfluss des französischen Chanson und des politischen Kabarett ist bei Degenhardt und Süverkrüp nicht zu überhören, Hüsch war selbst politischer Kabarettist. Dementsprechend zeichnen sich viele Werke der drei durch einen beißenden Spott aus.

Auch musikalisch gab es eine Weiterentwicklung. In den 50er und 60er Jahren dominierte die Gitarre, bei den Ostermärschen manchmal ergänzt durch Banjo, Mundharmonika und Rhythmusinstrumente. Ende der 60er trat Dieter Süverkrüp zusammen mit der Kölner Rockband »Floh de Cologne« auf, Franz Josef Degenhardt spielte ebenfalls mit Band. Zu Konstantin Wecker, der in den 70ern dazu kommt, gehört das Klavier. Dazu kommen »Ton, Steine, Scherben«, »Die Schmetterlinge«, »Lokomotive Kreuzberg« und andere Rockgruppen mit linken politischen Texten.

Die 80er Jahre

Degenhardt, Hüsch, Süverkrüp, Wader und Wecker – sie alle liehen ihre Ideen und ihre Stimme auch der Friedensbewegung der 80er Jahre, traten insbesondere bei Protesten gegen die nukleare »Nach«-Rüstung vor Hunderttausenden auf. An den vier Konzerten der »Künstler für den Frieden« zwischen 1981 und 1983 beteiligten sich hunderte KünstlerInnen. Zu den fast 200 Mitwirkenden bei dem größten dieser vier Konzerte, 1982 in Bochum, zählte neben den oben genannten viel internationale »Prominenz«, darunter auch deutsche KünstlerInnen, die bis dahin nicht für politisches Engagement bekannt waren, wie Bill Ramsey, Gitte und Katja Ebstein.

Das war eine Ausnahmesituation: Nie zuvor war der Einfluss des politischen Liedes so groß, wie in diesen Jahren, und nie zuvor hatte die BRD eine solche Massenbewegung für den Frieden erlebt.

In dieser Zeit entstanden auch viele unmittelbar aktionsbezogene Lieder. So wandte sich Gerda Heuer gegen »Frauen in die Bundeswehr«:

Schon seit vielen Jahren
gibt’s die Bundeswehr
und nun soll’n auch Frauen
in das Männerheer.

Jetzt soll’n auch Frauen kämpfen
für Macht und Militär
wir lassen uns nicht knechten
wir setzen uns zur Wehr.

Die Frauen in unserem Staate
hab’n nichts damit im Sinn,
sie halten ihre Köpfe nicht
für solchen Unsinn hin.

Ekkes Frank protestierte gegen die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr mit einer Neufassung von »Wenn die Soldaten«:

Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren,
schließen Demokraten Fenster und Türen,
Ei warum? Ei darum!
Ei, schon mal wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn die Demokraten dagegen protestieren,
dann darf die Polizei ihnen die Fresse polieren.
Ei warum? Ei darum!
Ei, nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn man mich fragt, ob mir denn nicht klar ist,
wozu die Bundeswehr denn eigentlich da ist,
dann frag ich: Ei warum?
Dann sag ich: Ei warum?
Wohl nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Denn wenn eines Tages, dann wirklich ein Krieg kommt,
dann ist heute schon klar, dass da keiner zum Sieg kommt.
Ei warum? Ei darum!
Da hilft dann auch kein Dschingdarassa,
da macht es nur noch – – – Bumm.

Zu einer Art Hymne der Friedensbewegung wurde in den 80er Jahren das Lied »Aufstehn« der niederländischern Gruppe »Bots«, das in Variation auch bei vielen anderen emanzipatorischen Aktionen gesungen wurde:

Alle die nicht gerne Instant-Brühe trinken, sollen aufstehn
Alle, die nicht schon im Hirn nach Deo-Spray stinken, sollen aufstehn
Alle, die noch wissen, was Liebe ist
Alle, die noch wissen, was Hass ist
und was wir kriegen sollen, nicht das ist, was wir wollen,
sollen aufstehn […]

Alle, die gegen Atomwaffen sind […]
Alle Frauen für den Frieden sollen aufstehn […]
Alle Menschen, die ein besseres Leben wollen, sollen aufstehn […]

Die Stimmung der Straße erfasste ein anderes Lied, das die »Bots« populär machten: »Das weiche Wasser« (frei nach Brecht von Lerryn/Sanders):

Europa hatte zweimal Krieg
der dritte wird der letzte sein
gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei
das weiche Wasser bricht den Stein

Die Bombe, die kein Leben schont
Maschinen nur und Stahlbeton
hat uns zu einem Lied vereint
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain:
Es reißt die schwersten Mauern ein
und sind wir schwach und sind wir klein
wir wollen wie das Wasser sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Raketen steh’n vor unsrer Tür
die soll’n zu unserm Schutz hier sein
auf solchen Schutz verzichten wir
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain
Die Rüstung sitzt am Tisch der Welt
und Kinder, die vor Hunger schrei’n
für Waffen fließt das große Geld
doch weiches Wasser bricht den Stein

Refrain
Komm feiern wir ein Friedensfest
und zeigen, wie sich‘s leben läßt
Mensch! Menschen können Menschen sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain

Und heute?

Der Aufschwung des politischen Liedes in den 60ern war sehr zeitspezifisch. Er hing zusammen mit der unmittelbaren Bedrohungssituation und der Aufbruchstimmung in der Gesellschaft, die schließlich zu »68« führten. Die LiedermacherInnen der 80er Jahre wiederum hatten ihren Resonanzboden in einer bis dahin beispiellosen Massenbewegung gegen nukleare Rüstung.

Und heute? Hannes Wader und Konstantin Wecker gehen noch regelmäßig auf Tournee, ihre Texte sind nach wie vor aktuell. Aber nur wenige »Jüngere«, wie Kai Degenhardt, widmen sich den (neuen) friedenspolitischen Themen. Ihre Zuhörerzahlen gehen selten in den vierstelligen Bereich – am Mangel an Themen liegt das sicherlich nicht. 1986 warb die Friedensbewegung zu ihrer letzten großen Demonstration gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in den Hunsrück; die Losung lautete »Frieden braucht Bewegung«. Ohne (Massen-) Bewegung bleibt auch für das politische Lied nur die Nische.

Nachbemerkung

Ich habe hier aus Platzgründen nur wenige Lieder im vollen Wortlaut zitiert und dafür Lieder ausgewählt, die damals mitgesungen wurden, die politische Schwerpunkte der Bewegung spiegeln und die inzwischen drohen, in Vergessenheit zu geraten. Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Konstantin Wecker u.a. wurden nur sparsam zitiert, weil bei ihnen reinhören möglich ist – und sehr empfehlenswert.

Konstantin Weckers Lieder liegen alle auf CD vor, und von Hannes Wader kommen jetzt auch die »Pläne Jahre 1979-2007«, die es bisher nur auf Platte gab, auf CD heraus (Universal). »Süverkrüps Liederjahre, 1963 bis 1985 ff« sind in einer Box mit vier CDs versammelt (Conträr, 2002) sowie als Textbuch (Grupello, 2002). Von Franz Josef Degenhardt sind »Gehen unsere Träume durch mein Lied. Ausgewählte Lieder 1963 bis 2008« ebenfalls auf vier CDs erhältlich (Koch Universal Music, 2011).

Unter dem Titel »Fasia – geliebte Rebellin« ist von Marina Achenbach et. al. eine Biographie über Fasia Jansen erschienen, der auch eine CD mit 22 Songs beiliegt (Asso Verlag, 2004).

Jürgen Nieth ist Vorstandsmitglied von W&F. Er ist seit der Anti-Atombewegung Ende der 1950er Jahre in der Friedensbewegung aktiv.

Lebenslaute

Lebenslaute

Gewaltfreier Widerstand mit Konzertblockaden

von Gerd Büntzly und Ulrich Klan

Die gewaltfreie Bewegung hat auch in Deutschland seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen Kulturen des Zivilen Ungehorsams aufgebaut. Bekannt wurden vor allem der Widerstand im Wendland gegen das geplante atomare Endlager Gorleben oder der erfolgreiche Protest gegen das so genannte Bombodrom, einen geplanten Luftkriegsübungsplatz in Brandenburg. Gewaltlose, genau kalkulierte und inszenierte Gesetzesübertretungen möglichst vieler verschiedener Teile der Bevölkerung und öffentlichkeitswirksame symbolische Aktionen bringen die Spannung zwischen Recht und Gesetz, Legitimität und Legalität immer neu in Fluss, schaffen Aufmerksamkeit, nutzen und erweitern Spielräume des Widerstands und erinnern die Herrschenden daran, dass viele Gesetze und politische Maßnahmen nicht den Interessen der Menschen entsprechen, die sie zu vertreten vorgeben. Einer ungewöhnlichen Art des gewaltfreien Protests widmen sich die MusikerInnen der Lebenslaute.

Natürlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Protesten, der gewaltfreie Widerstand hat aber mehr positive und nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Gewaltfreie Aktions- und Lebensformen verzichten auf (Be-) Drohung und gestalten eine Atmosphäre der Entspannung und des menschenfreundlichen Geistes, und zwar auf beiden Seiten, bei den AktivistInnen wie den »Anderen«. Die liebevolle und genaue Vorbereitung derartiger Aktionen sowie das intensive Training des gewaltfreien Dialogs wirken bis zu einem gewissen Grad »entwaffnend«, da sie Feindbilder der Polizei bzw. der Sicherheitsbeauftragten unterlaufen. Nicht zuletzt deshalb haben Gerichte schon mehrmals versucht, solche Trainings zu verbieten.

Der Verzicht auf atavistische Routinen des Auftrumpfens oder Drohgebärden erfordert von gewaltfreien Aktionen um so mehr Innovation und Phantasie. Daher spielen in gewaltfreien Bewegungen häufig KünstlerInnen und Formen der Kunst und Kultur eine große Rolle. In Deutschland macht sich die Initiative Lebenslaute seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre künstlerische Phantasie für gewaltfreien Widerstand zunutze.

Lebenslaute

Die Lebenslaute sind ein Zusammenschluss klassischer MusikerInnen – Professionelle wie Laien – sowie vieler UnterstützerInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihre Spezialität ist ziviler Ungehorsam durch gewaltlose »Konzertblockaden« gegen Krieg, Unrecht und Zerstörung. Mindestens einmal im Jahr kommen größere oder kleinere Ensembles der Lebenslaute, immer in Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen und vor Ort betroffenen Menschen, zusammen – an Raketendepots, Waffenfabriken, Abschiebe-Behörden, genmanipulierten Äckern oder anderen Plätzen, von denen Gewalt bzw. Zerstörung der Natur ausgeht.

Die AktivistInnen übertreten dort Gesetze und übersteigen Bauzäune oder Absperrungen. In Konzertkleidung und oft raumgreifenden Orchester-/Chor-Formationen besetzen sie Plätze oder Zufahrten. Mit geübten Stimmen und Instrumenten funktionieren sie »trockene Stellen« und »verbotene Orte« zur Musikbühne um, locken viele ZuhörerInnen und auch zahlreiche ReporterInnen an, tauchen Nato-Draht, Absperrgitter und Polizeikordons überraschend in eine Atmosphäre von Wohlklang und Schönheit – und stellen damit besonders effektive Sitzblockaden her. Im Zusammenspiel mit den ZuhörerInnen sind solche »Konzertblockaden« eine ebenso lustvolle wie gewaltlose Form, den Ablauf der bespielten Betriebe wirksam zu stören bzw. zum Erliegen zu bringen. Zuweilen helfen Aktionen der Lebenslaute, das tödliche Geheimnis bestimmter Orte wirksam ans Licht zu bringen: Die attraktive Art ihrer Auftritte popularisiert den Widerstand auch an verschwiegenen oder abgelegenen Orten.

Das hat Geschichte – und es fing an mit einer Idee dreier Musiker. Im Kontext des wachsenden weltweiten Widerstands gegen die Bedrohung durch sowjetische und US-amerikanische Atomraketen – konkret gegen die Stationierung von SS20- und Pershing-Raketen in der DDR und der BRD – wurde Ende August 1986 im schwäbischen Mutlangen die Aktionsform Lebenslaute aus der Taufe gehoben: Zwei Musikensembles – ein Sinfonieorchester und ein Chor – sorgten für Verblüffung und für Schlagzeilen, als 120 MusikerInnen in feiner Konzertkleidung und Hunderte HelferInnen und ZuhörerInnen sechs Stunden lang alle Zufahrten des Pershing-Depots dicht machten. Sie spielten dabei Beethovens »Egmont«-Ouverture und Schuberts »Unvollendete«. Die US-Soldaten und die Polizei waren ratlos, und die Tatsache, dass bei dieser Aktion auch prominente Tonkünstler und mehrere TV-Sender dabei waren, machte es ihnen nicht leichter.

Später unterstützten die Lebenslaute mehrfach örtliche Anti-Atom-Initiativen mit Konzertblockaden auf »verbotenem Gelände«, etwa in Gorleben oder Wackersdorf. »Konzertblockiert« wurden unter anderem auch die Rhein-Main Air Base am Frankfurter Flughafen zu Beginn des Zweiten Golfkriegs 1991, das geplante Bombodrom in Brandenburg, das Bundesinnenministerium in Berlin wegen seiner unmenschlichen Abschiebepraxis und die Rüstungsfirma Heckler & Koch in Oberndorf als größter Kleinwaffenhersteller Europas und Profiteur von Waffenexporten in viele Teile der Welt.

Musikalischer und künstlerischer Widerstand im Flughafen-Terminal

Wie läuft eine Lebenslaute-Aktion ab? Als Beispiel eine Momentaufnahme vom August 2011 im Flughafen Halle/Leipzig: Vier intensive Tage mit Proben, Diskussionen und gewaltfreiem Aktionstraining liegen hinter den fast 100 MusikerInnen und HelferInnen, die sich jetzt in der Abflughalle unauffällig unter die Passagiere mischen. Um Punkt 11 Uhr 30 formieren sich plötzlich ein großes Sinfonieorchester und ein Chor, im Rekordtempo und zugleich in größter Ruhe. Sicherheitsdienst und Polizei haben keine Chance, das zu verhindern, oder nur um den Preis, dass der gesamte Passagierbetrieb zum Erliegen käme. Presse- und Polizei-SprecherInnen der Lebenslaute binden die Akteure der Gegenseite. Die Konzertblockade startet mit bestgelaunter Musik von Joseph Haydn.

Warum diese Aktion an diesem Ort? Wie aus dem Nichts werden Transparente entrollt. AktivistInnen lassen von einer Empore die riesige Reproduktion eines Scherenschnittes herunter, geschaffen von dem Leipziger Künstler Jan Caspers. Das große Bild zeigt die erschreckende Szene eines Kriegstransportes: Soldaten, die aus einem Flugzeugbauch stürmen und zu schießen anfangen. Das bei einem Kunstwettbewerb der Stadt Halle ausgezeichnete Kunstwerk sollte schon einmal in eben diesem Flughafen hängen. Das hatte die Flughafengesellschaft damals in einem Akt der Zensur unterbunden.

Die Lebenslaute helfen hier, den geheim gehaltenen Missbrauch des »zivilen« Flughafens Halle/Leipzig aufzudecken: Dieser Ort ist Umschlagplatz für Truppen und schweres Kriegsgerät nach Afghanistan oder in den Irak. Jeder vierte Fluggast ist hier in militärischem Auftrag unterwegs in diese Kriegsgebiete. Diese Flüge werden nicht im Flugplan aufgelistet und sind ein schmutziges und profitables Geschäft für den Flughafen-Betreiber, die Kommunen und den Freistaat Sachsen.

In Kooperation mit örtlichen Friedensinitiativen erheben die Musiker von Lebenslaute ihre geübten Stimmen gegen das »Tabu« dieses Ortes, mit Musik auf hohem Niveau. Zum Beispiel aus Benjamin Brittens erschütterndem »War Requiem« und dem Anti-Kriegs-Oratorium »Das Alexanderfest« von Georg Friedrich Händel: Der Weltbürger aus Halle vertonte darin u.a. die Arie »Waffenhandwerk schafft nur Unheil«. Ohne Zwischenfälle gelingt es »spielend«, eine dreistündige gewaltlose Protestaktion im Flughafen durchzuführen. Auf die Drohung der Polizei, man werde Chor und Orchester räumen lassen, wird lächelnd weiter musiziert. Schließlich verzichtet die Flughafenleitung auf eine Räumung.

Als die Lebenslaute den »Jazz-Walzer« von Dmitri Schostakowitsch anstimmen, springt der Funke über: Viele ZuhörerInnen beginnen, sich im Tanz zu drehen. Auch wartende Flugpassagiere. Das Bild ist so ungewöhnlich wie anrührend: Warteschlangen in fröhlich-subversiver Bewegung – ein Hochglanzterminal lustvoll umfunktioniert. Die österreichische Dirigentin dieser Aktion sagt im Interview mit einem Rundfunksender: „Diese Verbindung von politischer Aktion mit klassischer Musik – das macht Lebenslaute so unwiderstehlich.“ 1

Musik ist subversiv

Von Daniel Barenboim, der zusammen mit seinem palästinensischen Freund Edward Said das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchester ins Leben rief, stammt das Bonmot: „Music is subversive.“ Damit trifft er kurz und bündig verschiedene Eigenschaften der Musik: ihre Kraft zur Überraschung und zur Freude, ihre Kraft, Bewegung und »swing« in festgefahrene, verkrustete Verhältnisse zu bringen, ihre Kraft, Grenzen zu überschreiten, Menschen zu vereinen, und ihre Kraft zur Heilung. Wo Musik beruhigend und entspannend wirkt, ist sie selbst ein Element von Gewaltfreiheit. Die Lebenslaute wählen eine spezifische Form der Musik, nämlich eine hoch artifizielle, die eine gründliche Vorbereitung erfordert. Dabei wird auch ein entscheidendes Element gewaltfreien Handelns eingeübt: Disziplin.

Musik kann, wie alle Kunst, auch das Lachen freisetzen, welches Herrschaft untergräbt. So haben sich bei Lebenslaute-Aktionen immer wieder satirische und kritische Musikstücke bewährt, etwa Mauricio Kagels »10 Märsche um den Sieg zu verfehlen«. Musik kann auf angenehme Weise auch Distanz und Reflexion schaffen: „Wir wollen an Orten, an denen Argumente nichts mehr bewirken, Musik als abstrahierendes Element einsetzen, um so auf die Absurdität der Situation hinzuweisen“, so eine Teilnehmerin der Lebenslaute-Aktion 2012 vor der Waffenfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar.

Musik, Kunst oder Performance, wie sie von den Lebenslauten gemacht werden, sind nicht exklusiv und niemals nur Mittel zum Zweck. Sie sind nicht weniger als attraktive, erstaunliche, unabgenutzte Formen des Liebens, des Lebens und des Widerstands. Unsere eigenen Formen, wenn wir sie uns aneignen oder selbst kultivieren. Wir sind am lebendigsten mit dem, was wir mit größter Lust und Liebe tun. Und was wir am besten können, das überzeugt am meisten. Uns selbst und andere. Hier könnten Lebenslaute ein Modell für jede andere Menschengruppe sein, die ihr Können und ihre Lust in den Widerstand einbringen will. Warum dem Ton und dem Trott folgen, den andere vorgeben, wenn mensch die eigene Stimme finden kann?

In Aktionen des zivilen Ungehorsams, zumal in künstlerischen oder musikalischen, gilt jedoch: Sie müssen gut gemacht sein. Es soll schön sein, sie zu erleben. Oder »schön hässlich«. Und insgesamt heiter. Wenn wir provozieren, dann mit Grazie und auch mit Selbstironie. Die Wirkung auf alle, die da sind, ist um so tiefer, je inniger, witziger, authentischer und virtuoser wir sind. „Schlechte Töne, Texte, Bilder oder Happenings sind gerade im Widerstand nicht erlaubt.“ 2

Anmerkungen

1) graswurzel.tv (2011): piano und forte statt Kriegstransporte – LL-Aktion 2011 im Flughafen Halle/Leipzig. Kurzfilm.

2) Ulrich Klan (2000): Ungehorsam, lachend, zivil. In: Wolfram Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg.

Gerd Büntzly ist Musiker und Übersetzer in Herford.
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Autor und Pädagoge in Wuppertal. Er ist aktiv bei den gewaltfreien Ensembles Lebenslaute und »Fortschrott – Musksatire« sowie Vorsitzender der internationalen Armin T. Wegner-Gesellschaft.
Die Lebenslaute erhalten für ihr dauerhaftes, phantasievolles und effektives Friedensengagement zusammen mit der US-Gruppe CODEPINK 2014 den Aachener Friedenspreis.