Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Garantinnen für nachhaltigen Frieden?

Afrikanische Friedensaktivistinnen in Liberia

von Rita Schäfer

Seit der Verabschiedung der Resolution 1325, »Frauen, Frieden und Sicherheit«, durch den UN-Sicherheitsrat im Oktober 2000 gewinnt die Anerkennung von Friedensstifterinnen international an Bedeutung. Sowohl in der friedenspolitischen Lobbyarbeit als auch in der Forschung werden Friedensstifterinnen allerdings oft idealisiert. Vielfach gilt schon die größere Präsenz von Frauen bei Friedensverhandlungen als Beitrag zu nachhaltigem Frieden. Diese Grundannahme wird jedoch kaum überprüft und hält in der Praxis oft nicht stand, wie dieser Beitrag am Beispiel Liberia zeigt.

Schon 1985, auf der internationalen Abschlusskonferenz der Weltfrauendekade (1975-1985) in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, verlangten verschiedene afrikanische Frauenorganisationen ein Ende der Kriege auf ihrem Kontinent. Mit ihrer Forderung knüpften sie an das Motto der Weltfrauendekade an: »Frauen, Entwicklung und Frieden«. In dieser Zeit führten insbesondere im südlichen Afrika anti-koloniale Guerillagruppen gegen die dortigen Siedlerregime Unabhängigkeitskriege, die zugleich Stellvertreterkriege der Weltmächte im Kontext des Kalten Krieges waren. Dem Anliegen von Frauenrechtlerinnen aus bereits unabhängigen Staaten in West- und Ostafrika, die Gewalt zu beenden, kam damit besonderes Gewicht zu.

Wenige Jahre später mobilisierten sich – u.a. angesichts des grenzübergreifenden Krieges in Liberia und Sierra Leone – afrikanische Friedensaktivistinnen und bildeten neue Netzwerke. Internationale Bedeutung erhielt die 1994 in Dakar gegründete Federation of African Women Peace Networks, in der Aktivistinnen zur Vorbereitung der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 kooperierten. Die Aktionsplattform von Peking enthielt Forderungen zum Schutz von Frauen in Kriegen und Nachkriegsgesellschaften. Hierauf bauten afrikanische Frauenrechtlerinnen auf, die an der Formulierung der UN-Resolution 1325 mitarbeiteten. Im Jahr 2000 fand in der namibischen Hauptstadt Windhoek ein internationaler Workshop zu friedenspolitischen Fragen statt, der Afrikanerinnen und Vertreter_innen der Vereinten Nationen zusammenbrachte, die dort Kernpunkte der kurz darauf verabschiedeten UN-Resolution 1325 diskutierten. Die Mitwirkung von Frauen in Friedensprozessen zählt auch zu den Zielen der Frauendekade 2010-2020 der Afrikanischen Union. Allerdings bleibt die Umsetzung eine große Herausforderung, ordnen doch Staatschefs und Warlords zur Durchsetzung ihrer militärischen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen in und nach gewaltsamen Konflikten auch weiterhin häufig geschlechtsspezifische Gewalt an.

Bürgerkrieg in Liberia 1989-2002

Liberia war die erste Republik Afrikas, sie wurde 1847 von freigelassenen Sklaven_innen vor allem aus Nordamerika gegründet. Die Americo-Liberianer_innen, die in der Haupt- und Hafenstadt Monrovia lebten, dominierten mit eigenen Patronagenetzen Politik und Wirtschaft. Sie pflegten einen kulturellen Überlegenheitsdünkel gegenüber den Ethnien im Landesinneren. In diesen kleinbäuerlichen Gesellschaften hatten alte Männer der landbesitzenden lokalen Elite das Sagen. Frauen- und Männergeheimorganisationen trugen u.a. mit kollektiven genitalen Mädchen- und Jungenbeschneidungen im Rahmen von Initiationszeremonien vielerorts zur Manifestation gesellschaftlicher Hierarchien und Geschlechterasymmetrien bei. Proteste der Landbewohner wegen der grassierenden Armut und des mangelhaften Gesundheits- und Bildungssektors wurden militärisch niedergeschlagen. 1980 putschte das Militär unter Hauptfeldwebel Samuel Doe, einem Mann aus dem Landesinneren. Er schuf dort neue Patronage- und Klientelnetzwerke; sein weit verzweigter Sicherheitsapparat terrorisierte vielerorts die Bevölkerung.

Ab Ende 1989 eroberten Kämpfer der neu gegründeten National Patriotic Front of Liberia (NPLF) unter Charles Taylor einzelne Landesteile. Über illegale Kautschuk-, Holz- und Erzgeschäfte mit französischen und chinesischen Konzernen, Verwicklung in den internationalen Drogenhandel, Geldwäsche und den Zugang zu den Diamantenminen im Nachbarland Sierra Leone finanzierte Taylor seine Kampfgruppen. Die NPLF rekrutierte desillusionierte Jugendliche. Davon waren je nach Kategorisierung des Kampfstatus zwischen zwei und zehn Prozent Frauen und Mädchen.

Gegen Taylor kämpfte die liberianische Armee, deren Oberbefehlshaber Doe bereits im September 1990 ermordet wurde. Im Lauf der Kriegsjahre formierten sich immer neue Kampfgruppen, zudem spalteten sich Milizen von Guerillaeinheiten ab und bildeten temporäre Allianzen mit flexiblen Namen. Auch in den verschiedenen Milizen wirkten Frauen und Mädchen mit; ähnlich wie bei der NPLF variieren die Angaben zu ihrem Anteil. Alle an Macht und Ressourcenkontrolle interessierten Guerillachefs ordneten sexualisierte Gewalt als Kampftaktik an. Truppen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS sollten Anfang der 1990er Jahre für ein Ende der Gewalt sorgen, trugen aber nicht zur Deeskalation bei. 1997 wurden umstrittene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten, daraus ging Taylor siegreich hervor. Unter neuen Vorzeichen wurde der Krieg noch bis 2002/2003 fortgesetzt.

Erfolgreiche Friedensaktivistinnen?

Die 2002 gegründete internationale Kontaktgruppe zu Liberia, an der ECOWAS, die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die Europäische Union beteiligt waren, bemühte sich um einen Friedensschluss. Am 18. August 2003 vereinbarten Vertreter der Konfliktparteien das Friedensabkommen von Accra. Es legte der einzurichtenden Übergangsregierung eine Generalamnestie für alle Kriegsakteure nahe und empfahl anstatt der Strafverfolgung die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Am Friedensabkommen waren Politiker, Milizchefs und einige Friedensaktivistinnen des Mano River Women’s Peace Network (MARWOPNET) beteiligt. Das war ein Zusammenschluss von Friedensaktivistinnen aus Liberia, Sierra Leone und Guinea; die Repräsentantinnen aus Monrovia waren vor allem gebildete Americo-Liberianerinnen. Während des Krieges hatten sie über vergleichsweise privilegierte Überlebensmöglichkeiten verfügt, die Liberianerinnen aus dem Landesinneren oder Flüchtlingsfrauen in den Nachbarländern nicht beanspruchen konnten.

Neben MARWOPNET bemühten sich in Accra Vertreterinnen des Women in Peace Building Network (WIPNET) um Frieden, sie waren aber nicht offiziell zu den Verhandlungen eingeladen. WIPNET war die 2002 gegründete Frauenabteilung innerhalb des 1998 von Männern gebildeten und dominierten West African Network for Peace Building (WANEP). WIPNET-Vertreterinnen, die verschiedenen Ethnien aus dem Landesinneren Liberias angehörten und aus Liberia nach Ghana geflohen waren, wollten durch informelle Gespräche mit den Warlords auf einen Friedensschluss hinwirken. Diese verweigerten aber jeglichen Dialog und unterstellten den Frauen, sie seien von Männern geschickt worden. Selbst die männlichen WANEP-Vorsitzenden hatten ihren eigenen Mitstreiterinnen wiederholt klar gemacht, sie seien nur der Frauenflügel einer übergreifenden Friedensorganisation, in der Männer das Sagen hätten. Als Reaktion kündigten WIPNET-Frauen in Liberia einen Sex-Streik gegen ihre Ehemänner und Partner an, die ebenfalls in Friedensgruppen aktiv waren.

Gleichzeitig drohten WIPNET-Demonstrantinnen in Accra, sich öffentlich zu entkleiden, was die Männlichkeit der Kriegsherren bloßgestellt hätte und einem Fluch gleichgekommen wäre. In einem Unterpunkt des Friedensvertrags verpflichteten sich die Kriegsgegner daher, den Bedürfnissen von Frauen, Kindern, Alten und Kriegsversehrten zu entsprechen. Es gab aber keine Strategie, wie Geschlechtergerechtigkeit in der Politik und Gesellschaft verwirklicht werden sollte. Außerdem hatten die Kriegsherren eine Generalamnestie durchgesetzt, so dass kein Vergewaltiger für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden konnte.

In Liberia betonten WIPNET-Aktivistinnen nach dem Friedensschluss ihre mütterliche Fähigkeit, die Kindersoldaten zur Waffenabgabe zu bewegen. Mit dieser Rollenzuweisung enthob WIPNET männliche Ex-Kombattanten und Ex-Kommandanten ihrer Verantwortung für Gewaltverbrechen. Die Problematik der Kämpferinnen, die sowohl Täterinnen als auch Opfer brutaler Gewalt waren, sowie die sozio-ökonomische Marginalisierung zahlloser vergewaltigter Zivilistinnen blieben unberücksichtigt. Damit näherten sich die WIPNET-Vertreterinnen tendenziell den neuen politischen Machthabern an, die den Status quo – also die Dominanz weniger Männer in allen Machtbereichen – wiederherstellen wollten und Frauen die moralische Erneuerung des Landes aufschulterten.

Zwar sollte die politische Repräsentanz von Frauen gefördert werden, und die Leiterinnen traditioneller Frauengeheimorganisationen sollten sich vor Wahlen nicht mehr von korrupten Politikern kaufen lassen, z.B. mit großzügigen Geschenken in Form von Reis. Dennoch äußerte sich WIPNET nicht zur genitalen Beschneidung und anderen Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt oder zur Ungleichheit in ländlichen Gesellschaften. WIPNET löste sich einige Monate nach der Verabschiedung des Friedensabkommens von Accra auf: Der Frieden war erreicht und persönliche Konflikte, die bereits zuvor geschwelt hatten, brachen nun deutlich auf.

Während der Kriegswirren hatte WIPNET die Mass Action for Peace in Monrovia organisiert – tagelange Sit-ins an wichtigen Plätzen und Straßen der Stadt, um Präsident Taylor zur Beendigung der Gewalt aufzufordern. Diese friedlichen Proteste verschafften WIPNET-Vertreterinnen wie Leymah Gbowee nach dem Krieg internationales Ansehen, 2011 wurde sie zusammen mit Ellen Johnson-Sirleaf für ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

WIPNET hatte sich in der Friedensarbeit um den interreligiösen Dialog bemüht; das Erstarken dieser Organisation von christlichen und nicht christianisierten Frauen aus dem Landesinneren war jedoch nicht konfliktfrei. So fühlten sich vor allem Leiterinnen der bereits im Februar 1994 gegründete Liberian Women’s Initiative (LWI) von den wohlhabenden, christlichen Americo-Liberianerinnen brüskiert und kamen deshalb nicht zu den WIPNET-Massenprotesten in Monrovia. Auch beteiligten sich nur wenige Frauen der moslemischen Minderheit – Händlerfamilien in Monrovia, die im Lauf der Jahrhunderte aus dem Sahelgebiet eingewandert waren – an den WIPNET-Massenprotesten. Demgegenüber hatten Juristinnen der Association of Female Lawyers of Liberia, Lehrerinnen des Forum for African Women Educationalist und Entwicklungsexpertinnen der Women’s Development Association – allesamt aus der americo-liberianischen Bildungselite Monrovias – sich in den 1990er Jahren für den Friedensprozess eingesetzt, alltagspraktische Hilfe für Gewaltopfer und Einkommens- bzw. Bildungsprogramme für Flüchtlingsfrauen in Monrovia geboten. Allerdings standen sie teilweise bestimmten Fraktionen innerhalb der verfeindeten Gruppierungen, wie der NPLF, nahe, was Spannungen zwischen den Frauen zur Folge hatte und ihre übergreifende Zusammenarbeit erschwerte. Diese multiplen Differenzen zwischen den verschiedenen Organisationen, die soziale Gegensätze in der liberianischen Gesellschaft spiegelten, begrenzten auch nach dem offiziellen Friedensschluss 2003 die Möglichkeiten von Frauen, am Aufbau geschlechtergerechter und demokratischer Strukturen mitzuwirken.

Nachkriegsentwicklungen

Die Finanzexpertin Ellen Johnson-Sirleaf wurde am 16. Januar 2006 als erste Präsidentin Liberias und als erste Staatschefin Afrikas vereidigt. Bislang ist es ihr nicht gelungen, Intransparenz und Bereicherung in staatlichen Gremien zu überwinden. Fatal ist die Vernachlässigung des Gesundheitssektors im Landesinneren. Eine unbekannte Zahl der Kinder und Erwachsenen ist HIV-positiv, erhält aber keine Medikamente. Die Misere des liberianischen Gesundheitssektors wurde bei der Ebola-Epidemie 2014 besonders deutlich.

Für mehrere zehntausend Jugendliche und junge Männer gab es nach dem Krieg kaum legale Einkommensperspektiven. Marodierende Jugendbanden sorgten vielerorts für Unruhe; die Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramme boten der Gewaltökonomie und dem Einsatz von geschlechtsspezifischer Gewalt als Machtinstrument keinen Einhalt. Der offizielle Friedensschluss brachte also nur einen relativen Frieden. Latente Konfliktpotenziale ergeben sich aus der schwierigen Versorgungslage, ethnischen Spannungen, massiver Ungleichheit in Landbesitz, Einkommen, Bildung und Berufen und daraus resultierenden Armutsproblemen.

Seit dem Kriegsende werden die Leiter_innen lokaler Männer- und Frauengeheimbünde von zahlreichen internationalen Organisationen als Friedensinstanzen hofiert, zumal sie postulieren, sie würden die soziale Ordnung wiederherstellen. Allerdings schließen die mit internationalen Fördergeldern etablierten elitären Privilegiensysteme vor allem junge, arme Männer und Frauen aus rangniedrigen Familien systematisch aus. Die Lebensrealität zahlloser Frauen und Mädchen bleibt weiterhin von Unterdrückung, Ausbeutung und ehelicher Gewalt geprägt. Viele werden zwangsverheiratet und von wieder erstarkten Geheimbundleiterinnen der genitalen Beschneidung unterzogen. Mehrfach traumatisierte und marginalisierte Frauen sind besonders von der hohen Müttersterblichkeit betroffen, denn die Gesundheitszentren sind nur rudimentär ausgestattet. Auch Polizei und Justiz sind für viele Frauen unerreichbar bzw. wegen der Korruption unbezahlbar; häufig können die Frauen nicht Lesen oder Schreiben und kennen ihre Rechte nicht.

Das Ministerium für Gender und Entwicklung, das den nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325, den nationalen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt sowie entsprechende Gesetze zum Gewaltschutz und gegen genitale Beschneidung umsetzen soll, setzt diese Vorgaben kaum um. Etliche Richter bagatellisieren sexuelle Gewalt und sprechen Angeklagte gegen Zahlung geringer Geldbeträge frei. Liberianische Rechtsexpertinnen gehen davon aus, dass ein nachhaltiger Friede nur möglich ist, wenn die geschlechtsspezifische Gewalt bestraft wird. Dazu wäre Liberia auch mit Blick auf die Ratifizierung internationaler Abkommen und Vereinbarungen der Afrikanischen Union verpflichtet. Die UN-Blauhelmpolizistinnen, die in friedenspolitischen Publikationen zu Symbolfiguren frauenfreundlicher Friedensmissionen erkoren werden, beschränken ihre Einsätze auf einige Stadtteile der Hauptstadt Monrovia, die von Gewalt geprägten Wohnviertel und die ländlichen Provinzen erreichen sie nicht.

Umso wichtiger ist eine Veränderung gewaltgeprägter Maskulinitätskonstrukte, die aus dem Krieg übernommen wurden – noch immer und trotz der traumatischen Folgen gelten Vergewaltigungen als Ausdruck von Virilität. Zwar hatte sich Johnson-Sirleaf dafür eingesetzt, den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen, doch selbst wenn die Politikerinnen geschlechtsspezifische Gewalt zum Politikum machen würden, können sich frühere Kriegsherren, die teilweise mitregieren, eigene kriminelle Klientelstrukturen fortsetzen oder neue aufbauen und dabei sexuelle Gewalt als Machtmittel einsetzen, auf ihre Immunität berufen. Straflosigkeit bleibt also auf allen Ebenen ein Strukturproblem.

Fazit

Das Fallbeispiel Liberia lässt Zweifel daran aufkommen, ob die in der UN-Resolution 1325 vorgegebene Partizipation von Frauen in Friedensprozessen ausreicht für die Gewaltüberwindung in Nachkriegsgesellschaften. Wichtig wäre die Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure_innen, um die vor und im Krieg etablierten Gewaltstrukturen zu überwinden. Dabei sollte geschlechtsspezifische Gewalt als ein Element weitreichender Gewaltmuster angegangen werden, denen nur durch umfassende Präventionsansätze und Strafverfolgung gegengesteuert werden kann.

Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Autorin der Publikationen »Frauen und Kriege in Afrika. Ein Beitrag zur Gender-Forschung« (Frankfurt, 2008); »Gender and Transitional Justice« (Berlin, 2014); zusammen mit Eva Range »The political use of homophobia« (Berlin, 2014).

Frauenstimmen gegen militärisches Denken

Frauenstimmen gegen militärisches Denken

100 Jahre Internationale Frauenliga

von Susanne Hertrampf

Mit der Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) schufen die Gründerinnen ein Forum, aus dem heraus sich Frauen bis heute für eine neue Sicherheits- und Außenpolitik stark machen. Ihr Ausgangspunkt waren das Wissen, was Militarismus für Männer und Frauen konkret bedeutet, demokratische Prinzipien, soziale Gerechtigkeit sowie Völker-, Frauen- und Menschenrechte. Mit diesen Prinzipien setzen die IFFF-Frauen seither dem Militarismus eine geschlechtergerechte Friedenskultur entgegen und fordern die Hegemonie der Männer in der Außen- und Sicherheitspolitik heraus.

Vom 28. April bis 1. Mai, mitten im Ersten Weltkrieg, treffen sich ca. 1.136 Pazifistinnen aus zwölf neutralen und Krieg führenden Ländern zu einem internationalen Frauen-Friedenskongress in Den Haag und widersetzen sich damit dem herrschenden Freund-Feind-Denken. Die Teilnehmerinnen, die zumeist aus der Frauenstimmrechtsbewegung kommen, verfolgen mit dem Kongress drei Ziele:

1. hörbar gegen den Krieg zu protestieren,

2. die politische Gleichberechtigung der Frauen zu fordern und

3. das Ende des Krieges herbeizuführen.

Auf der Grundlage ihres Verständnisses von Demokratie, Pazifismus und Frauenrechten verabschieden sie zu diesen Zielen 20 Resolutionen. Am Ende des Kongresses richten die Frauen ein »Internationales Komitee für dauernden Frieden« ein und wählen die Amerikanerin Jane Addams zur Präsidentin. Darüber hinaus entsenden sie eigene Delegationen in 15 neutrale und Krieg führende Länder, um ihre Resolutionen den regierenden Männern persönlich zu übergeben.

1919-1929: Ein Jahrzehnt intensiver Diskussionen

Auf ihrem zweiten Kongress 1919 in Zürich geben sich die Friedensfrauen eine Satzung und definieren ihre zwei wichtigsten Ziele, die in den neuen Namen ihrer Organisation einfließen: Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), oder auf Deutsch: Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF).

Entsprechend dieser spannungsgeladenen Zielsetzung engagieren sich die IFFF-Frauen nicht nur für eine allgemeine und umfassende Abrüstung, für die gewaltfreie Lösung von Konflikten sowie eine Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit, sondern auch für soziale Gerechtigkeit und die Verwirklichung von Menschenrechten, gerade auch für Frauen. Zudem verurteilen sie den Versailler-Vertrag, der ohne die Beteiligung von Frauen in Paris ausgehandelt worden war, als Saat für einen neuen Krieg. Ihr internationales Büro verlegt die IFFF nach Genf, dem Sitz des neu gegründeten Völkerbundes. Sie gehört zu den ersten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die die Völkerbundpolitik entsprechend ihren politischen Zielsetzungen zu beeinflussen suchen, teilweise in Kooperation mit anderen internationalen Frauenorganisationen.

Mit dem dritten Kongress 1921 in Wien intensiviert die IFFF ihre Kontakte zu Pazifistinnen in Osteuropa. Kontrovers diskutieren die Teilnehmerinnen, ob die IFFF Formen eines gewalttätigen Widerstandes unterstützen soll, wenn soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit bedroht sind. Anschließend findet die erste Sommerschule in Salzburg statt, weitere folgen jährlich bis 1933.

Auf dem Kongress 1924 in Washington sind 22 nationale Sektionen vertreten. Ausführlich informieren die Chemikerinnen Gertrud Woker (Schweiz) und Naima Sahlbom (Schweden) darüber, welch verheerende Wirkung Giftgase, die als chemische Kampfmittel verwendet werden, auf Menschen haben. Wissenschaft, die sich in den Dienst des Militärs stellt, wird scharf kritisiert. Am Ende reisen die europäischen Delegierten mit einem Zug, dem »Pax Special«, in Etappen von Washington nach Chicago. Nicht überall werden sie freudig begrüßt, mancherorts als Agentinnen Moskaus diffamiert.

Welchen friedenspolitischen Beitrag Frauen leisten können, diskutieren IFFF-Frauen im Rahmen des Kongresses 1926 in Dublin. Während die Mehrheit davon ausgeht, Frauen seien ihrem Wesen nach friedfertiger als die Männer, führt die Engländerin Catherine Marshall die größere Friedfertigkeit auf die geschlechtsspezifische Sozialisation der Frauen zurück. Auch die Französin Andrée Jouve teilt nicht die Meinung der Mehrheit, sondern fordert sozial gerechtere Strukturen. 1926 und 1927 unternehmen IFFF-Frauen Missionen nach Haiti und China, um sich selbst ein Bild von der politischen Lage vor Ort zu machen und Kontakte mit den dortigen Frauenbewegungen zu knüpfen bzw. diese zu stärken. Die Sommerschule in Birmingham wird genutzt, um eingehend über Sozialismus, Bolschewismus und Faschismus zu diskutieren.

Der sechste Kongress in Prag 1929 bringt Veränderungen in Bezug auf die IFFF-Führung: Gleichberechtigt übernehmen Gertrud Baer (Deutschland), Clara Ragaz (Schweiz) und Emily Greene Balch (USA) das Amt von Jane Addams. Die Ansicht, dass zu einer dauerhaften Sicherung des Friedens eine soziale Wirtschaftsordnung notwendig sei, findet die Zustimmung der meisten Teilnehmerinnen.

1930-1947: Zerstörte Hoffnungen – neue Motivation

Anfang der 1930er Jahre intensiviert die IFFF ihr Engagement für eine weltweite Abrüstung. Hoffnung schöpfen die Pazifistinnen aus dem Briand-Kellogg-Pakt, der 1926 in Paris beschlossen wurde und am 24. Juli 1929 in Kraft trat. Durch ihre Unterschrift unter diesen Pakt erklärten Staaten wie die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland jeden Angriffskrieg als völkerrechtswidrig; zudem verpflichteten sie sich dazu, Konflikte nur friedlich zu lösen. Ermutigt sind die IFFF-Fauen auch von der Verleihung des Friedensnobelpreises 1931 an ihre Gründungspräsidentin Jane Addams.

Eine lang diskutierte Abrüstungskonferenz des Völkerbundes wird tatsächlich im Februar 1932 in Genf eröffnet. Frauenorganisationen übergeben Abrüstungspetitionen mit ca. acht Millionen Unterschriften; allein die IFFF-Petition »Auf den Krieg wurde verzichtet, nun lasst uns auf die Rüstung verzichten!«, die zwei Jahre zuvor gestartet worden war, wurde von ca. sechs Millionen Frauen und Männer unterzeichnet. Der Verlauf der Konferenz lässt allerdings schnell erkennen, dass die Abrüstungsforderung der Frauen bei den Staatsmännern kein nachhaltiges Umdenken bewirkt. Die IFFF-Frauen versuchen mit drastischen Worten deutlich zu machen, was auf dem Spiel steht.

Unter dem Motto »Weltabrüstung oder Weltuntergang« fordern sie auf ihrem Kongress 1932 in Grenoble weitere Abrüstungsanstrengungen und setzen ihre Diskussion um eine soziale Wirtschaftsordnung fort. Gegen die Befürchtung vor allem britischer IFFF-Frauen, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit würde von der eigentlichen pazifistischen Forderung nach Abrüstung ablenken und die IFFF zu stark in die Nähe des Kommunismus rücken, beschloss die Mehrheit auf dem Kongress 1934 in Zürich, den Kampf gegen Unterdrückung, Vorteilnahme und Profitdenken als erweiterte IFFF-Politik in der Satzung zu verankern. Auf dem vorläufig letzten IFFF-Kongress 1937 in Luhaèovice (Tschechoslowakei) mahnen Lida Gustava Heymann und Gabrielle Duchêne – vor allem in Richtung der britischen Sektion –, in Bezug auf Hitler-Deutschland nicht neutral zu bleiben, sondern entschieden gegen die Politik der Nationalsozialisten Stellung zu beziehen.

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 macht deutlich, dass der Ruf der Frauen abermals ungehört blieb. Aus ihrem Exil in New York informiert Gertrud Baer ihre Mitstreiterinnen mittels Rundbriefen über politische Ereignisse und Debatten. 1942 kooperiert sie mit der Internationalen Frauenallianz, die internationale Frauenorganisationen für eine gemeinsame Aktion gewinnen will, um auf die Regelung der internationalen Beziehungen nach Kriegsende Einfluss zu nehmen. Der Versuch scheitert an den unterschiedlichen Vorstellungen.

Das Ziel der neu gegründeten Vereinten Nationen, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ (Charta vom 26. Juni 1945), weckt ebenso neuen Mut wie die Verleihung des Friedensnobelpreises an Emily Greene Balch im gleichen Jahr. Auf ihrem ersten Nachkriegskongress 1946 in Luxemburg diskutieren die IFFF-Frauen darüber, ob eine Frauenfriedensorganisation noch zeitgemäß sei. Vor allem mit den Argumenten, Frauen würden letztlich eher dazu tendieren, Leben zu erhalten als zu vernichten, und eine Frauenfriedensorganisation sei besser geeignet, Frauen verschiedener Nationalitäten für eine gemeinsame Friedensarbeit zu gewinnen, votiert die Mehrheit dafür, die gemeinsame Arbeit fortzusetzen.

1947-1967: Im Sog der Vereinten Nationen

Die IFFF erhält 1948 den beratenden Status für NGOs bei den Vereinten Nationen. Gertrud Baer, die ihren Wohnsitz nach Genf verlegt hat, vertritt die IFFF bei den Vereinten Nationen (bis 1973) fast im Alleingang. Einerseits bieten die Vereinten Nationen ein neues Forum, um für die pazifistischen Vorstellungen der IFFF zu werben, andererseits binden sie Zeit und finanzielle Ressourcen und sie geben die Themen vor. In den folgenden Jahren konzentrieren sich die IFFF-Frauen im Rahmen der Vereinten Nationen auf Abrüstungsfragen. Der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 und die Verschärfung des Kalten Krieges in den Jahren danach bestärken sie in dieser Schwerpunktsetzung.

Sorge bereitet der Mitgliederschwund: Auf dem Kongress in Kopenhagen 1949 sind nur 13 nationale Sektionen vertreten. Der Anspruch der IFFF, Avantgarde zu sein, während gleichzeitig feministische Ansätze aus den IFFF-Debatten immer mehr verschwinden, wird zum Hindernis. In den 1950er Jahren gelingt es indischen Pazifistinnen aber dennoch, die IFFF wieder dauerhaft in Indien zu etablieren. Hingegen laufen in den 1950er und 1960er Jahren die Versuche ins Leere, Frauen in Afrika für die IFFF zu gewinnen. Die zumeist westlichen IFFF-Frauen zeigen sich wenig bereit, auf die friedenspolitischen Vorstellungen der Afrikanerinnen einzugehen. Diese Einstellung beginnt sich Ende der 1960er Jahre, vor allem dank Dorothy Hutchinson (USA, internationale IFFF-Präsidentin 1965-68), Dorothy Steffens (USA), Fujiko Isono (Japan) und Sybil Cookson (England) zu verändern. Zwei IFFF-Missionen in den Mittleren Osten, 1958 und 1967, dienen dazu, sich direkt vor Ort zu informieren und zu versuchen, mit Hilfe einheimischer IFFF-Frauen zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und einen Versöhnungsprozess einzuleiten.

1968-1992: Gewichtungsfragen

Mit der Präsidentschaft der amerikanischen Soziologin Elise Boulding (1968-1971) fließen neue Denkansätze in die IFFF-Debatten ein. Auf dem ersten IFFF-Kongress, der nicht in einem westlichen Land ausgetragen wird, sondern zum Jahreswechsel 1970/71 in Neu Dehli (Indien), fordert sie ihre Mitstreiterinnen auf, das bisher ignorierte gesellschaftspolitische Wissen von Frauen aller Kulturen und Schichten sichtbar zu machen und damit das vorherrschende Denken in allen Politikbereichen herauszufordern – als Voraussetzung für eine geschlechtergerechte Friedenskultur. Ihre unmittelbaren Nachfolgerinnen, die Dänin Ellen Holmgaard (1971-72) und die Deutsche Eleonore Romberg (1972-74), nehmen den anspruchsvollen Ansatz von Boulding nicht auf. Stattdessen unterstützen sie die Bestrebungen der IFFF-Generalsekretärin Edith Ballantyne (1968-1992), die IFFF stärker in der stetig anwachsenden NGO-Gemeinschaft in Genf zu verankern, mit dem Ziel, den Pazifistinnen mehr Gehör zu verschaffen. So intensiviert Ballantyne ab 1972 die Mitarbeit der IFFF in etlichen NGO-Gremien, die bei den Vereinten Nationen aktiv sind, und nimmt dort etliche Jahre führende Positionen ein. Parallel dazu begeben sich IFFF-Frauen auf vier Missionen in Krisengebiete, insbesondere um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren: 1971 nach Nord- und Südvietnam, 1973 nach Chile, 1974 nach Nordirland und 1975 erneut in den Mittleren Osten.

Zum Auftakt der Frauendekade der Vereinten Nationen (1975-1985) organisiert die IFFF gemeinsam mit der Internationalen Demokratischen Frauenförderation ein Seminar zu Frauen und Abrüstung in New York. Aufgrund des NATO-»Doppelbeschlusses« zur nuklearen Aufrüstung von 1979 bleibt das Thema Abrüstung auch in den 1980er Jahren ganz oben auf der IFFF-Agenda. 1982 initiiert die IFFF die Kampagne »Stop The Arms Race« (STAR) und übergibt die Abrüstungsforderungen im Rahmen einer Massendemonstration mit über 10.000 Frauen 1983 an NATO-Generäle in Brüssel.

Auf der Abschlusskonferenz der Frauendekade 1985 in Nairobi wird das IFFF-Friedenszelt zum Magnet für friedenspolitisch interessierte Frauen aus der ganzen Welt. Unter der zweiten Präsidentschaft von Eleonore Romberg (1986-1992) gelingt es der IFFF endlich, ihre Friedensarbeit auch in Lateinamerika zu verankern. 1992 richtet sie ihren 25. Kongress in Bolivien aus und setzt sich verstärkt für die Rechte indigener Völker ein.

1993-2015: Frauensichtweisen wider den Militarismus

Die neue Generalsekretärin Barbara Lochbihler (1992-1999) richtet den Blick wieder stärker auf Frauenrechte und -sichtweisen. 1995 organisiert sie einen Frauen-Friedens-Zug, mit dem sich IFFF-Frauen aus verschiedenen Ländern von Helsinki zur vierten Weltfrauenkonferenz in Peking auf den Weg machen. Ziel dieser spektakulären Aktion ist es, unterwegs mit osteuropäischen Frauen in einen Dialog zu treten, ihren Stimmen Gehör zu geben und eine Friedens- und Sicherheitspolitik aus Frauensicht zu konzipieren. Im IFFF-Friedenszelt in Peking diskutieren die Frauen weiter, tauschen Ideen und Meinungen aus. Die Kriege in Jugoslawien zwischen 1992 und 1999 führen der Welt vor Augen, wie dringend die politische Teilhabe von Frauen geboten ist, um Kriege zu verhindern, beizulegen und zu bewältigen.

1999 startet die IFFF ihr Projekt »Reaching Critical Will«, das andere NGOs, die sich im Rahmen der Vereinten Nationen für Abrüstung einsetzen, unterstützt und mit entsprechenden Informationen versorgt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts forciert die IFFF ihr Engagement für ein umfassendes Waffenhandelsabkommen, das den Transfer von Waffen grundsätzlich verbietet, wenn Menschen- und Frauenrechte gefährdet sowie negative Auswirkungen auf die Umwelt und die sozioökonomische Entwicklung zu befürchten sind. Den Arms Trade Treaty, den die UN-Vollversammlung im April 2013 verabschiedet, bewertet die IFFF als ersten Schritt in die richtige Richtung.

Zurzeit hat die IFFF 30 nationale Sektionen, verteilt auf alle Kontinente, und plant ihr 100-jähriges Jubiläum, das vom 22. bis 25. April 2015 an dem Ort stattfindet wird, an dem ihre ungewöhnliche Geschichte begann: in Den Haag, und zwar im Friedenspalast. Ein Anlass, um gemeinsam über das bisher Geleistete zu reflektieren und ein Manifest für die IFFF-Friedenspolitik der kommenden Jahre zu erarbeiten.

Literatur

Gertrude Busseyand Margaret Tims (1980): Pioneers for Peace. Women’ s International League for Peace and Freedom 1915-1965. Oxford: Alden Press.

Susanne Hertrampf (2006): Zum Wohle der Menschheit«. Feministisches Denken und Engagement internationaler Aktivistinnen, 1945-1975. Herbolzheim: Centaurus.

Dies. (2009): Identitäten, Perspektiven und Kommunikation transnationaler Friedensaktivistinnen 1970/71. In: Martina Ineichen et al. (Hrsg.): Gender in Trans-it. Transkulturelle und Transnationale Perspektiven. Zürich: Chronos, S.213-221.

Sabine Hoffkamp und Monika Pater: Pazifismus in Aktion. Praktische Friedensbildung als Beitrag zur Demokratisierung in Europa. Ariadne, Heft 60, November 2011, S.51-57.

IFFF-Deutsche Sektion (Hrsg) (o.J.): Völkerversöhnende Frauenarbeit. Teil I-VI, 1914-1931.

Dr. Susanne Hertrampf ist Historikerin; sie forscht zu deutschen und internationalen Frauen(friedens)bewegungen und ist Mitglied der IFFF.
Die deutsche Sektion der IFFF feiert den 100. Geburtstag am 19.-21. Juni 2015 in München; Details demnächst unter wilpf.de.

Wi(e)der die Großmacht!

Wi(e)der die Großmacht!

17. IMI-Kongress, 15.-16. November 2014, Tübingen

von Thomas Mickan

Über 200 Menschen besuchten den diesjährigen Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., der im November 2014 zum inzwischen 17. Mal in Tübingen stattfand. Der Kongress stand unter dem Motto »Deutschland: Wi(e)der die Großmacht!« – ganz im Zeichen der seit einiger Zeit immer offensiver formulierten deutschen Großmachtansprüche. Dabei wurde diskutiert, auf welchen Ebenen diese Großmachtpolitik zu beobachten ist und wie sich dagegen Widerstand organisiert.

Elitenkonsens

Am Samstag eröffnete IMI-Vorstand Jürgen Wagner den Kongress mit einem Vortrag, der sich »Deutschlands neuen Großmachtambitionen« widmete. Er führte aus, dass der seit Anfang des Jahres von deutschen Spitzenpolitikern formulierte Anspruch auf eine offensivere (militärische) Großmachtrolle von langer Hand vorbereitet worden sei. Insbesondere sei dies im Rahmen des vom Planungsstab des Auswärtigen Amtes finanzierten Projektes »Neue Macht – Neue Verantwortung« geschehen, dessen Abschlussbericht 2013 von der Stiftung Wissenschaft und Politik und dem German Marshall Fund of the United States veröffentlicht worden war: „Alle wesentlichen Gedanken der Gauck-Rede bis hin zu teils wortgleichen Formulierungen sind dem […] entnommen. Gauck wurde also lediglich zum Sprecher eines Elitenkonsenses auserkoren, der darauf basiert, dass eine aggressivere Militärpolitik die notwendige Bedingung für den angestrebten Aufstieg Deutschlands zu einer veritablen Großmacht darstellt“, so Wagners Kritik.

Zum Auftakt des zweiten Panels zu Aspekten der Sicherheitspolitik der Großen Koalition rekapitulierte Tobias Pflüger die Debatte der parlamentarischen Kontrolle militärischer Auslandseinsätze und konstatierte einen sukzessiven Abbau derselben. Unter der neuen Regierung habe eine aktive Aushebelung parlamentarischer Rechte zur Information und Beteiligung stattgefunden. Auch bei der Entscheidung über Waffenexporte an die »nicht-staatlichen« Peschmerga sei das Parlament außen vor geblieben. Thomas Mickan skizzierte das Maßnahmenpaket zur Attraktivitätssteigerung des Militärs sowie den dazugehörigen Lobbyentwurf des Bundeswehr-Verbandes. Er wies darauf hin, dass die Bundeswehr in dem Entwurf als weltweit agierender »Konzern« verstanden würde und sich Werbemaßnahmen für die Bundeswehr an die Marketingstrategien großer Unternehmen anlehnten. Die Maßnahmen sollten außerdem Vertrauen in die Bundeswehrführung, das aufgrund der Bundeswehrreform in der Bundeswehr verloren gegangen war, wieder herstellen und Fachkräfte binden. Reiner Rehak vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) analysierte die Tätigkeit der Geheimdienste bei der elektronischen/digitalen Bespitzelung und kam zum Schluss, dass der BND ähnliche Strategien verfolge wie der US-amerikanische Geheimdienst NSA und eng mit diesem zusammenarbeite. Er konstatierte ferner, dass es die modernen Medien, aber auch das Kommunikationsverhalten der Nutzer den Diensten leicht mache, Informationen abzugreifen.

Die Hardware der Großmacht

Am Nachmittag ging es um die Standorte und die Rüstungsprojekte der »Armee im Einsatz«. Christoph Marischka stellte das Stationierungskonzept der Bundeswehr von 2011 vor. Darin werde festgehalten, dass mögliche Kriegsbeteiligungen hoher Intensität sowie mehrere Interventionen gleichzeitig von der Regierung als Voraussetzung gesehen werde, um Außenpolitik zu betreiben. Standortschließungen ergäben sich aus Einsparungen durch die Wehrpflicht, der Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben und einzelnen militärischen Aufgaben sowie der umfassenden Privatisierung, insbesondere bei Logistik und Instandhaltung. Arno Neuber beschrieb daraufhin die wichtigsten gegenwärtigen Rüstungsprojekte. Eine klare Einsatzausrichtung zeige sich beim Transporthubschrauber NH90, dem Kampfhubschrauber Tiger, dem Schützenpanzer Puma und dem Militärtransporter A400M. Verteidigungsministerin von der Leyen inszeniere sich gegenwärtig zwar als Kämpferin gegen die Rüstungsmisswirtschaft, die Abhängigkeit der Armee von der Rüstung sei jedoch nicht zu überwinden. Matthias Monroy problematisierte v.a. die Nutzung unbewaffneter Aufklärungsdrohnen mittlerer Größe. Nachdem diese längst militärisch eingesetzt würden, interessierten sich zunehmend auch Polizei- und Grenzschutzbehörden für ihre Verwendung. Als Zwischenlösung für eine Bundeswehranschaffung werde gegenwärtig das Nachfolgemodell der Drohne Heron 1 diskutiert, die (unbewaffnet) bereits in Afghanistan im Einsatz sei, allerdings von der Herstellerfirma geleast und durch private Angestellte gestartet und gelandet werde. Mittelfristig strebten Deutschland und die Europäische Union jedoch die Entwicklung einer eigenen Drohne dieser Klasse an. Monroy verwies auch darauf, dass der EuroHawk keineswegs vom Tisch sei.

Medien im Krieg

Am Samstagabend analysierte IMI-Vorstand Claudia Haydt mediale Ideologieproduktion. Sie ging dabei auf mediale Sprach- und Argumentationsmuster ein, die einerseits militärisches Eingreifen als einzig mögliche Option rahmen und anderseits KriegsgegnerInnen und alternative Lesarten diskreditieren. Haydt stellte die Ergebnisse von Uwe Krügers Buch »Meinungsmacht« vor, in dem er journalistische Elitenetzwerke und ihre Verbindungen zur so genannten »Strategischen Gemeinschaft« untersucht, und diskutierte diese. Sie schloss sich Krügers Forderungen für eine andere journalistische Ethik an, die eine enge Verbindung von Berichterstattungsfeld (oder –objekt) und Journalisten untersage.

Von Afghanistan nach Afrika

Am Sonntagmorgen beschäftigte sich Lühr Henken, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, mit Lehren, die Regierung und Militär aus dem Afghanistankrieg gezogen haben. Er zeigte auf, dass die Hinterlassenschaft des Krieges und die unzähligen Opfer in der Debatte keinerlei Rolle spielten. Dies habe zur Folge, dass lediglich darüber diskutiert werde, wie ein solcher Krieg künftig »besser« geführt werden könne. Eine feste Entschlossenheit sei zu erkennen, durch weitere Aufrüstungsmaßnahmen auf eine Effektivierung hinzuarbeiten. Im Anschluss sprach Christin Bernhold über die »neue« deutsche Afrika-Politik. Aufgrund bedeutender Rohstoffvorkommen und hervorragender Investitionsmöglichkeiten werde Afrika bereits seit einiger Zeit seitens Industrie und Politik nicht mehr ausschließlich als Krisen-, sondern auch als »Chancenkontinent« begriffen. Deshalb werde verstärkt die militärische Flankierung gefordert, um etwaige Profite und Rohstoffvorkommen abzusichern. Die Bundesregierung setze aber eher auf »Outsourcing« von Gewaltanwendung als auf groß angelegte Militäreinsätze. Wenn möglich werde der Aufbau lokaler pro-westlicher Kräfte bevorzugt, so Bernhold.

Ukraine als Testfall

Danach analysierte Jürgen Wagner die »Ukraine als Testfall für Deutschlands neue Großmachtambitionen«. Der Konflikt habe sich an der Ablehnung des damaligen Präsidenten Janukowitsch entzündet, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Vor dem Hintergrund wachsender westlich-russischer Konflikte stelle der Abschluss eines solchen Abkommens faktisch den Beitritt zu einem der beiden Blöcke dar. Mit einem Assoziierungsabkommen werde ein Nachbarland fest in den EU-Binnenmarkt, in die EU-Militärstrukturen und damit auch in das EU-Einflussgebiet integriert. Die EU und die USA hätten nach Janukowitschs Weigerung, das Abkommen zu unterzeichnen, massiv die Proteste unterstützt, die schließlich zum gewaltsamen Sturz des gewählten Präsidenten führten. Zwar habe Russland hierauf ebenfalls mit harten machtpolitischen Bandagen reagiert, die Ursache des Konfliktes sei aber in der westlichen Expansionspolitik zu suchen, so Wagner.

Mobilisierung

Auf dem Abschlusspodium berichteten Aktivisten von den Protesten gegen den Celler Trialog, die Königsbronner Gespräche und die NATO-Sicherheitskonferenz. Diese Veranstaltungen stünden stellvertretend für „Standorte der Ideologieproduktion“, an denen sich der Elitenkonsens bildet und nach außen getragen werde, aber sich durch breite Bündnisse auch Widerstand formiert und manifestiert. In diesem Kontext wurde auch auf den G7-Gipfel im Juni 2015 in Bayern verwiesen, zu dem breite Proteste – auch gegen Deutschlands neue Großmachtambitionen – zu erwarten seien.

Thomas Mickan

Engagement im Lied

Engagement im Lied

Liedermacher und die Friedensbewegung

von Jürgen Nieth

Das politische Lied ist in Deutschland seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eng mit der deutschen Friedensbewegung verbunden: Singend wurde auf der Straße und von der Bühne Solidarität gefordert und postuliert; die politischen Zustände wurden kritisiert und Alternativen formuliert. Und es wurde – manchmal agitatorisch, manchmal mit eher verschlüsselten Texten – zum Nachdenken und Handeln aufgefordert. Ein Rückblick.

Parallel zu der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung der 50er, den Ostermärschen der 60er und dem Protest gegen die »Nach«-Rüstung der 80er Jahre wurden zu allen relevanten friedens- oder gesellschaftspolitischen Themen Lieder gedichtet, vertont, umgetextet oder wieder neu entdeckt. Beispiele sind die »auf der Straße zu singenden Lieder« von Gerd Semmer, Fasia Jansen und Hannes Stütz, die »agitatorischen« Chansons von Dieter Süverkrüp, die nachdenklichen Balladen von Franz Josef Degenhardt, die (so Pressestimmen) „brachial-sinnlichen“ Songs von Konstantin Wecker. Zum Repertoire von Hannes Wader gehörten neben seinen gesellschaftskritischen Liedern auch zahlreiche Übersetzungen sowie zwischendurch vergessene antifaschistische, Arbeiter- und Revolutionslieder.

Bewegung gegen die Remilitarisierung

Die Friedensbewegung,die sich seit den frühen 50er Jahren gegen die Remilitarisierung und die Gründung der Bundewehr formte, wurde in der BRD trotz staatlicher Repression zur Massenbewegung. Zu ihren Aktionsformen gehörten Unterschriftensammlungen und Massendemonstrationen genauso wie Aktionen des Zivilen Ungehorsams. Proteste, Blockaden und Besetzungsaktionen richteten sich u.a. gegen die Nutzung Helgolands als Bombenabwurfplatz der britischen Luftwaffe, gegen Truppenübungsplätze der USA und Großbritanniens, gegen die Nutzung deutscher Häfen für Waffentransporte und gegen die Anlage von Sprengschächten an Autobahnen oder dem Loreleyfelsen.

Das Liedgut dieser Bewegung knüpfte vor allem an die 20er Jahre an. Es dominierten Lieder für eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung, Lieder des spanischen Bürgerkriegs und des antifaschistischen Widerstands oder auch alte Freiheitslieder, wie »Die Gedanken sind frei«. Neue Texte und Melodien wurden von der westdeutsche Friedensbewegung (oder für sie) in dieser Zeit nicht geschrieben. Ganz anders in der DDR, wo die Künstler an die Tradition der 20er Jahre anknüpften. Kein Zufall also, dass auch das bekannteste Lied, das sich auf konkrete Protestaktionen bezieht, von einem Ostberliner geschrieben wurde.

Anlässlich einer Protestaktion an der Loreley und vor dem Hintergrund des Koreakrieges schrieb Ernst Busch 1950:

Was ist unser Leben wert,
wenn allein regiert das Schwert
und die ganze Welt zerfällt in toten Sand?
Aber dies wird nicht gescheh’n,
denn wir wolln nicht untergeh’n,
und so rufen wir durch unser deutsches Land:

Refrain:
Go home, Ami, Ami go home!
Spalte für den Frieden dein Atom!
Sag’ »good bye« dem Vater Rhein,
rühr’ nicht an sein Töchterlein,
Loreley, solang du siegst, wird Deutschland sein.

Clay und Cloy aus USA
sind für die Etappe da:
»Soll’n die German Boys verrecken in dem Sand!«
Noch sind hier die Waffen kalt,
doch der Friede wird nicht alt,
hält nicht jeder schützend über ihn die Hand!
Go home, Ami, Ami go home […]

Kampf dem Atomtod

Mit der »Ohne-mich«-Bewegung nach Einführung der Wehrpflicht und der Bewegung gegen den Atomtod bekam ein Lied der Sozialistischen Jugend aus den 20er Jahren neue Aktualität:

Nie, nie woll‘n wir Waffen tragen,
nie, nie woll‘n wir wieder Krieg.
Lasst die hohen Herrn sich selber schlagen,
wir machen einfach nicht mehr mit.

Erst die Ostermärsche der 60er Jahre setzten starke Impulse für neue politische Lieder in der BRD.

Unüberhörbar ist zu Beginn die Inspiration durch die Anti-Atombewegung in Großbritannien und durch »Folksinger« aus den USA. »We shall overcome« war wohl das meistgesungene Lied der Ostermärsche. Unter den deutschen LiedermacherInnen war eine Stimme nicht zu überhören: die von Fasia Jansen. Sie machte die von Gerd Semmer bearbeitete Fassung des englischen Aldermaston-Songs populär.

Hörst du nicht H-Bombendonner?
Denkst du dir denn nichts dabei?
Menschen müssen langsam sterben,
ist es dir denn einerlei?
Willst du, dass die kleinen Kinder
elend dran zugrunde gehen,
und die Nachbarn und die Freunde –
willst du sie verbrennen seh’n?

Refrain:
Bombe weg für alle Zeiten
ist jetzt oberstes Gebot.
Einig sein in diesem Ziele,
oder wir sind morgen tot.

[…]
Nur an deiner Stimme liegt es,
ob die Welt zu Asche wird.
Nur an deinem Handeln sieht man,
ob Vernunft dein Herz regiert.
Darum musst du mit uns gehen,
denn es ist noch nicht zu spät.
Dein Gewissen muss jetzt sprechen,
dass die Erde fortbesteht.

Inhaltlich ging es bei den neuen deutschen Protestsongs zu Beginn der 60er Jahre vor allem um den Kampf gegen die Atombombe. Dafür stehen Lieder wie der »Weltuntergangsblues«, »Die Höllenbombe« und »Strontium 90« (Semmer/Dallas):

Jeder neue H-Bombenversuch
ist ein Fetzen mehr für dein Leichentuch.
Komm, sei nicht müde, du musst etwas tun,
es geht um die kommende Generation:
Strontium 90, Strontium 90
fällt auf die ganze Welt.
Strontium 90, Strontium 90
vergiftet Flur und Feld.

Zum Ostermarsch 1964 schrieb Hannes Stütz mit »Unser Marsch ist eine gute Sache« auch eine Antwort auf die Verleumdungskampagne der Regierenden, nach der die Bewegung »vom Osten« gesteuert sei.

Unser Marsch ist eine gute Sache
weil er für eine gute Sache geht.
Wir marschieren nicht aus Haß und Rache
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsre Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh’n uns’re Sprache:

Refrain:
Marschieren wir gegen den Osten? Nein!
Marschieren wir gegen den Westen? Nein!
Wir marschieren für die Welt
die von Waffen nichts mehr hält.
Denn das ist für uns am besten.

[…]
Du deutsches Volk, du bist fast immer
für falsche Ziele marschiert,
am Ende waren nur Trümmer.
Weißt du heute, wohin man dich führt?
Nimm dein Schicksal in die Hand,
steck den Kopf nicht in den Sand
und laßt euch nicht mehr verführen!

Vor allem Gerd Semmer bezieht sich in diesen Jahren in seinen Texten immer wieder auf die aktuelle politische Entwicklung in der BRD. Als 1963/64 die Bundesregierung eine Luftschutzkampagne startete, die von einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Verharmlosung der wirklichen Kriegsgefahren abgelehnt wurde, karikiert er diese Politik in seinem »Luftschutzlied« (Musik Dieter Süverkrüp):

Leute greift zur Feuerpatsche,
stellt den Tütensand bereit,
ohne dass ihr es beachtet,
ist schon wieder Luftschutzzeit.

Wieder müsst ihr Vorrat hamstern:
Selterswasser, Haferschleim,
Luftmatratzengruft mit Kerzen –
schmückt den Keller wie das Heim.

Mut in Pillen, Luft in Dosen,
schlau bedacht ist alles hier.
Wenn die Luft euch aber wegbleibt,
dann seid doch die Dummen ihr.

Schwarze Herrenschokolade,
wenn ihr reinbeisst, wenn es kracht,
sollt ihr wissen: schwarze Herren
haben dies für euch vollbracht.

Wieder müsst ihr euch luftschützen:
Himmel blau – und plötzlich rot;
ohne dass sie es beachten,
sind schon zehn Millionen tot.

Mitte der 60er Jahre wurden Pläne bekannt, einen Atomminengürtel entlang der Grenze zur DDR zu legen. Es entstand »Verbrannte Erde in Deutschland« (Semmer/Jansen):

Feuer, Vorsicht, man legt Feuer,
ein Atomminengürtel wird geplant.
Geht auf die Straße und schreit Feuer!
Feuer, unsere Erde wird verbrannt.

Annemarie Stern schrieb in einem Vorwort zu »Politische Lieder ’67« über die Texte dieser Zeit: „Es sind politische Lieder und keine Protestschnulzen. Das Argument überwiegt die Emotion, die Verständlichkeit die so genannte Poesie. Reines kulinarisches Kunstvergnügen ist also nicht beabsichtigt, weil dann die Argumentation in die Binsen ginge.“

Neue Schwerpunkte der Ostermärsche

Mitte der 60er Jahre änderten sich die politischen Schwerpunkte der Ostermärsche. Zum Protest gegen die Bombe kam der Widerstand gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Das spiegelte sich auch in den Liedern wider. Dieter Süverkrüp agitierte gegen die Zustimmung der SPD zu den Notstandsgesetzen mit seinem »An alle schon jetzt – oder demnächst – enttäuschten SPD Wähler; nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze zu singen«. Fast alle LiedermacherInnen schrieben gegen den Vietnamkrieg. Unvergessen bleibt Degenhardts »P. T. aus Arizona«, gewidmet einem amerikanischen »GI«, der sich in Kaiserslautern seinem Vietnameinsatz entzog und nach Frankreich desertierte. Dieter Süverkrüp verfasste einen ganzen Vietnamzyklus, und Fasia Jansen textete »An meinen amerikanischen Brieffreund Jonny«. Von der Düsseldorfer Skiffle-Gruppe »Die Conrads« stammt »Für Vietnam«:

Vielleicht wird die Bombe schon scharf gemacht.
Vielleicht, doch was ist schon dabei?
Und ein Reisbauer wird wieder umgebracht –
denn so macht man Reisbauern frei.

Vielleicht schreit ein Kind jetzt, von Phosphor verbrannt.
Vielleicht predigt ein Pfarrer von Gott,
Und der Mörder des Kindes bleibt ungenannt,
denn ein Christ kennt genau sein Gebot.

Und sie brennen im Namen des Abendlands
einem Volk ihren Stempel ins Fleisch.
Und sie liefern der Freiheit den Totenkranz,
doch einst zahlen sie dafür den Preis.

Die Entwicklung des politischen Liedes wurde von vielen Faktoren bestimmt. Bei den Ostermärschen traten u.a. Joan Baez und der Kanadier Perry Friedmann auf. Beide knüpften an die Tradition nordamerikanischer Arbeiterlieder à la Woody Guthrie und Pete Seeger an. Von 1964 bis 1968 trafen sich auf der Burg Waldeck Tausende zum jährlichen Songfestival »Chansons, Folklore International«. Prägend dabei: Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Fasia Jansen, Hein und Oss Kröher, Reinhard Mey, Walter Moosmann, Dieter Süverkrüp und Hannes Wader. Der Einfluss des französischen Chanson und des politischen Kabarett ist bei Degenhardt und Süverkrüp nicht zu überhören, Hüsch war selbst politischer Kabarettist. Dementsprechend zeichnen sich viele Werke der drei durch einen beißenden Spott aus.

Auch musikalisch gab es eine Weiterentwicklung. In den 50er und 60er Jahren dominierte die Gitarre, bei den Ostermärschen manchmal ergänzt durch Banjo, Mundharmonika und Rhythmusinstrumente. Ende der 60er trat Dieter Süverkrüp zusammen mit der Kölner Rockband »Floh de Cologne« auf, Franz Josef Degenhardt spielte ebenfalls mit Band. Zu Konstantin Wecker, der in den 70ern dazu kommt, gehört das Klavier. Dazu kommen »Ton, Steine, Scherben«, »Die Schmetterlinge«, »Lokomotive Kreuzberg« und andere Rockgruppen mit linken politischen Texten.

Die 80er Jahre

Degenhardt, Hüsch, Süverkrüp, Wader und Wecker – sie alle liehen ihre Ideen und ihre Stimme auch der Friedensbewegung der 80er Jahre, traten insbesondere bei Protesten gegen die nukleare »Nach«-Rüstung vor Hunderttausenden auf. An den vier Konzerten der »Künstler für den Frieden« zwischen 1981 und 1983 beteiligten sich hunderte KünstlerInnen. Zu den fast 200 Mitwirkenden bei dem größten dieser vier Konzerte, 1982 in Bochum, zählte neben den oben genannten viel internationale »Prominenz«, darunter auch deutsche KünstlerInnen, die bis dahin nicht für politisches Engagement bekannt waren, wie Bill Ramsey, Gitte und Katja Ebstein.

Das war eine Ausnahmesituation: Nie zuvor war der Einfluss des politischen Liedes so groß, wie in diesen Jahren, und nie zuvor hatte die BRD eine solche Massenbewegung für den Frieden erlebt.

In dieser Zeit entstanden auch viele unmittelbar aktionsbezogene Lieder. So wandte sich Gerda Heuer gegen »Frauen in die Bundeswehr«:

Schon seit vielen Jahren
gibt’s die Bundeswehr
und nun soll’n auch Frauen
in das Männerheer.

Jetzt soll’n auch Frauen kämpfen
für Macht und Militär
wir lassen uns nicht knechten
wir setzen uns zur Wehr.

Die Frauen in unserem Staate
hab’n nichts damit im Sinn,
sie halten ihre Köpfe nicht
für solchen Unsinn hin.

Ekkes Frank protestierte gegen die öffentlichen Gelöbnisse der Bundeswehr mit einer Neufassung von »Wenn die Soldaten«:

Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren,
schließen Demokraten Fenster und Türen,
Ei warum? Ei darum!
Ei, schon mal wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn die Demokraten dagegen protestieren,
dann darf die Polizei ihnen die Fresse polieren.
Ei warum? Ei darum!
Ei, nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Wenn man mich fragt, ob mir denn nicht klar ist,
wozu die Bundeswehr denn eigentlich da ist,
dann frag ich: Ei warum?
Dann sag ich: Ei warum?
Wohl nur wegen dem Dschingdarassa
Dschingdarassa Bumm.

Denn wenn eines Tages, dann wirklich ein Krieg kommt,
dann ist heute schon klar, dass da keiner zum Sieg kommt.
Ei warum? Ei darum!
Da hilft dann auch kein Dschingdarassa,
da macht es nur noch – – – Bumm.

Zu einer Art Hymne der Friedensbewegung wurde in den 80er Jahren das Lied »Aufstehn« der niederländischern Gruppe »Bots«, das in Variation auch bei vielen anderen emanzipatorischen Aktionen gesungen wurde:

Alle die nicht gerne Instant-Brühe trinken, sollen aufstehn
Alle, die nicht schon im Hirn nach Deo-Spray stinken, sollen aufstehn
Alle, die noch wissen, was Liebe ist
Alle, die noch wissen, was Hass ist
und was wir kriegen sollen, nicht das ist, was wir wollen,
sollen aufstehn […]

Alle, die gegen Atomwaffen sind […]
Alle Frauen für den Frieden sollen aufstehn […]
Alle Menschen, die ein besseres Leben wollen, sollen aufstehn […]

Die Stimmung der Straße erfasste ein anderes Lied, das die »Bots« populär machten: »Das weiche Wasser« (frei nach Brecht von Lerryn/Sanders):

Europa hatte zweimal Krieg
der dritte wird der letzte sein
gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei
das weiche Wasser bricht den Stein

Die Bombe, die kein Leben schont
Maschinen nur und Stahlbeton
hat uns zu einem Lied vereint
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain:
Es reißt die schwersten Mauern ein
und sind wir schwach und sind wir klein
wir wollen wie das Wasser sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Raketen steh’n vor unsrer Tür
die soll’n zu unserm Schutz hier sein
auf solchen Schutz verzichten wir
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain
Die Rüstung sitzt am Tisch der Welt
und Kinder, die vor Hunger schrei’n
für Waffen fließt das große Geld
doch weiches Wasser bricht den Stein

Refrain
Komm feiern wir ein Friedensfest
und zeigen, wie sich‘s leben läßt
Mensch! Menschen können Menschen sein
das weiche Wasser bricht den Stein

Refrain

Und heute?

Der Aufschwung des politischen Liedes in den 60ern war sehr zeitspezifisch. Er hing zusammen mit der unmittelbaren Bedrohungssituation und der Aufbruchstimmung in der Gesellschaft, die schließlich zu »68« führten. Die LiedermacherInnen der 80er Jahre wiederum hatten ihren Resonanzboden in einer bis dahin beispiellosen Massenbewegung gegen nukleare Rüstung.

Und heute? Hannes Wader und Konstantin Wecker gehen noch regelmäßig auf Tournee, ihre Texte sind nach wie vor aktuell. Aber nur wenige »Jüngere«, wie Kai Degenhardt, widmen sich den (neuen) friedenspolitischen Themen. Ihre Zuhörerzahlen gehen selten in den vierstelligen Bereich – am Mangel an Themen liegt das sicherlich nicht. 1986 warb die Friedensbewegung zu ihrer letzten großen Demonstration gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in den Hunsrück; die Losung lautete »Frieden braucht Bewegung«. Ohne (Massen-) Bewegung bleibt auch für das politische Lied nur die Nische.

Nachbemerkung

Ich habe hier aus Platzgründen nur wenige Lieder im vollen Wortlaut zitiert und dafür Lieder ausgewählt, die damals mitgesungen wurden, die politische Schwerpunkte der Bewegung spiegeln und die inzwischen drohen, in Vergessenheit zu geraten. Franz Josef Degenhardt, Hans Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Konstantin Wecker u.a. wurden nur sparsam zitiert, weil bei ihnen reinhören möglich ist – und sehr empfehlenswert.

Konstantin Weckers Lieder liegen alle auf CD vor, und von Hannes Wader kommen jetzt auch die »Pläne Jahre 1979-2007«, die es bisher nur auf Platte gab, auf CD heraus (Universal). »Süverkrüps Liederjahre, 1963 bis 1985 ff« sind in einer Box mit vier CDs versammelt (Conträr, 2002) sowie als Textbuch (Grupello, 2002). Von Franz Josef Degenhardt sind »Gehen unsere Träume durch mein Lied. Ausgewählte Lieder 1963 bis 2008« ebenfalls auf vier CDs erhältlich (Koch Universal Music, 2011).

Unter dem Titel »Fasia – geliebte Rebellin« ist von Marina Achenbach et. al. eine Biographie über Fasia Jansen erschienen, der auch eine CD mit 22 Songs beiliegt (Asso Verlag, 2004).

Jürgen Nieth ist Vorstandsmitglied von W&F. Er ist seit der Anti-Atombewegung Ende der 1950er Jahre in der Friedensbewegung aktiv.

Lebenslaute

Lebenslaute

Gewaltfreier Widerstand mit Konzertblockaden

von Gerd Büntzly und Ulrich Klan

Die gewaltfreie Bewegung hat auch in Deutschland seit Jahrzehnten in verschiedenen Regionen Kulturen des Zivilen Ungehorsams aufgebaut. Bekannt wurden vor allem der Widerstand im Wendland gegen das geplante atomare Endlager Gorleben oder der erfolgreiche Protest gegen das so genannte Bombodrom, einen geplanten Luftkriegsübungsplatz in Brandenburg. Gewaltlose, genau kalkulierte und inszenierte Gesetzesübertretungen möglichst vieler verschiedener Teile der Bevölkerung und öffentlichkeitswirksame symbolische Aktionen bringen die Spannung zwischen Recht und Gesetz, Legitimität und Legalität immer neu in Fluss, schaffen Aufmerksamkeit, nutzen und erweitern Spielräume des Widerstands und erinnern die Herrschenden daran, dass viele Gesetze und politische Maßnahmen nicht den Interessen der Menschen entsprechen, die sie zu vertreten vorgeben. Einer ungewöhnlichen Art des gewaltfreien Protests widmen sich die MusikerInnen der Lebenslaute.

Natürlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Protesten, der gewaltfreie Widerstand hat aber mehr positive und nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Gewaltfreie Aktions- und Lebensformen verzichten auf (Be-) Drohung und gestalten eine Atmosphäre der Entspannung und des menschenfreundlichen Geistes, und zwar auf beiden Seiten, bei den AktivistInnen wie den »Anderen«. Die liebevolle und genaue Vorbereitung derartiger Aktionen sowie das intensive Training des gewaltfreien Dialogs wirken bis zu einem gewissen Grad »entwaffnend«, da sie Feindbilder der Polizei bzw. der Sicherheitsbeauftragten unterlaufen. Nicht zuletzt deshalb haben Gerichte schon mehrmals versucht, solche Trainings zu verbieten.

Der Verzicht auf atavistische Routinen des Auftrumpfens oder Drohgebärden erfordert von gewaltfreien Aktionen um so mehr Innovation und Phantasie. Daher spielen in gewaltfreien Bewegungen häufig KünstlerInnen und Formen der Kunst und Kultur eine große Rolle. In Deutschland macht sich die Initiative Lebenslaute seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre künstlerische Phantasie für gewaltfreien Widerstand zunutze.

Lebenslaute

Die Lebenslaute sind ein Zusammenschluss klassischer MusikerInnen – Professionelle wie Laien – sowie vieler UnterstützerInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihre Spezialität ist ziviler Ungehorsam durch gewaltlose »Konzertblockaden« gegen Krieg, Unrecht und Zerstörung. Mindestens einmal im Jahr kommen größere oder kleinere Ensembles der Lebenslaute, immer in Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen und vor Ort betroffenen Menschen, zusammen – an Raketendepots, Waffenfabriken, Abschiebe-Behörden, genmanipulierten Äckern oder anderen Plätzen, von denen Gewalt bzw. Zerstörung der Natur ausgeht.

Die AktivistInnen übertreten dort Gesetze und übersteigen Bauzäune oder Absperrungen. In Konzertkleidung und oft raumgreifenden Orchester-/Chor-Formationen besetzen sie Plätze oder Zufahrten. Mit geübten Stimmen und Instrumenten funktionieren sie »trockene Stellen« und »verbotene Orte« zur Musikbühne um, locken viele ZuhörerInnen und auch zahlreiche ReporterInnen an, tauchen Nato-Draht, Absperrgitter und Polizeikordons überraschend in eine Atmosphäre von Wohlklang und Schönheit – und stellen damit besonders effektive Sitzblockaden her. Im Zusammenspiel mit den ZuhörerInnen sind solche »Konzertblockaden« eine ebenso lustvolle wie gewaltlose Form, den Ablauf der bespielten Betriebe wirksam zu stören bzw. zum Erliegen zu bringen. Zuweilen helfen Aktionen der Lebenslaute, das tödliche Geheimnis bestimmter Orte wirksam ans Licht zu bringen: Die attraktive Art ihrer Auftritte popularisiert den Widerstand auch an verschwiegenen oder abgelegenen Orten.

Das hat Geschichte – und es fing an mit einer Idee dreier Musiker. Im Kontext des wachsenden weltweiten Widerstands gegen die Bedrohung durch sowjetische und US-amerikanische Atomraketen – konkret gegen die Stationierung von SS20- und Pershing-Raketen in der DDR und der BRD – wurde Ende August 1986 im schwäbischen Mutlangen die Aktionsform Lebenslaute aus der Taufe gehoben: Zwei Musikensembles – ein Sinfonieorchester und ein Chor – sorgten für Verblüffung und für Schlagzeilen, als 120 MusikerInnen in feiner Konzertkleidung und Hunderte HelferInnen und ZuhörerInnen sechs Stunden lang alle Zufahrten des Pershing-Depots dicht machten. Sie spielten dabei Beethovens »Egmont«-Ouverture und Schuberts »Unvollendete«. Die US-Soldaten und die Polizei waren ratlos, und die Tatsache, dass bei dieser Aktion auch prominente Tonkünstler und mehrere TV-Sender dabei waren, machte es ihnen nicht leichter.

Später unterstützten die Lebenslaute mehrfach örtliche Anti-Atom-Initiativen mit Konzertblockaden auf »verbotenem Gelände«, etwa in Gorleben oder Wackersdorf. »Konzertblockiert« wurden unter anderem auch die Rhein-Main Air Base am Frankfurter Flughafen zu Beginn des Zweiten Golfkriegs 1991, das geplante Bombodrom in Brandenburg, das Bundesinnenministerium in Berlin wegen seiner unmenschlichen Abschiebepraxis und die Rüstungsfirma Heckler & Koch in Oberndorf als größter Kleinwaffenhersteller Europas und Profiteur von Waffenexporten in viele Teile der Welt.

Musikalischer und künstlerischer Widerstand im Flughafen-Terminal

Wie läuft eine Lebenslaute-Aktion ab? Als Beispiel eine Momentaufnahme vom August 2011 im Flughafen Halle/Leipzig: Vier intensive Tage mit Proben, Diskussionen und gewaltfreiem Aktionstraining liegen hinter den fast 100 MusikerInnen und HelferInnen, die sich jetzt in der Abflughalle unauffällig unter die Passagiere mischen. Um Punkt 11 Uhr 30 formieren sich plötzlich ein großes Sinfonieorchester und ein Chor, im Rekordtempo und zugleich in größter Ruhe. Sicherheitsdienst und Polizei haben keine Chance, das zu verhindern, oder nur um den Preis, dass der gesamte Passagierbetrieb zum Erliegen käme. Presse- und Polizei-SprecherInnen der Lebenslaute binden die Akteure der Gegenseite. Die Konzertblockade startet mit bestgelaunter Musik von Joseph Haydn.

Warum diese Aktion an diesem Ort? Wie aus dem Nichts werden Transparente entrollt. AktivistInnen lassen von einer Empore die riesige Reproduktion eines Scherenschnittes herunter, geschaffen von dem Leipziger Künstler Jan Caspers. Das große Bild zeigt die erschreckende Szene eines Kriegstransportes: Soldaten, die aus einem Flugzeugbauch stürmen und zu schießen anfangen. Das bei einem Kunstwettbewerb der Stadt Halle ausgezeichnete Kunstwerk sollte schon einmal in eben diesem Flughafen hängen. Das hatte die Flughafengesellschaft damals in einem Akt der Zensur unterbunden.

Die Lebenslaute helfen hier, den geheim gehaltenen Missbrauch des »zivilen« Flughafens Halle/Leipzig aufzudecken: Dieser Ort ist Umschlagplatz für Truppen und schweres Kriegsgerät nach Afghanistan oder in den Irak. Jeder vierte Fluggast ist hier in militärischem Auftrag unterwegs in diese Kriegsgebiete. Diese Flüge werden nicht im Flugplan aufgelistet und sind ein schmutziges und profitables Geschäft für den Flughafen-Betreiber, die Kommunen und den Freistaat Sachsen.

In Kooperation mit örtlichen Friedensinitiativen erheben die Musiker von Lebenslaute ihre geübten Stimmen gegen das »Tabu« dieses Ortes, mit Musik auf hohem Niveau. Zum Beispiel aus Benjamin Brittens erschütterndem »War Requiem« und dem Anti-Kriegs-Oratorium »Das Alexanderfest« von Georg Friedrich Händel: Der Weltbürger aus Halle vertonte darin u.a. die Arie »Waffenhandwerk schafft nur Unheil«. Ohne Zwischenfälle gelingt es »spielend«, eine dreistündige gewaltlose Protestaktion im Flughafen durchzuführen. Auf die Drohung der Polizei, man werde Chor und Orchester räumen lassen, wird lächelnd weiter musiziert. Schließlich verzichtet die Flughafenleitung auf eine Räumung.

Als die Lebenslaute den »Jazz-Walzer« von Dmitri Schostakowitsch anstimmen, springt der Funke über: Viele ZuhörerInnen beginnen, sich im Tanz zu drehen. Auch wartende Flugpassagiere. Das Bild ist so ungewöhnlich wie anrührend: Warteschlangen in fröhlich-subversiver Bewegung – ein Hochglanzterminal lustvoll umfunktioniert. Die österreichische Dirigentin dieser Aktion sagt im Interview mit einem Rundfunksender: „Diese Verbindung von politischer Aktion mit klassischer Musik – das macht Lebenslaute so unwiderstehlich.“ 1

Musik ist subversiv

Von Daniel Barenboim, der zusammen mit seinem palästinensischen Freund Edward Said das israelisch-arabische West-Eastern-Divan-Orchester ins Leben rief, stammt das Bonmot: „Music is subversive.“ Damit trifft er kurz und bündig verschiedene Eigenschaften der Musik: ihre Kraft zur Überraschung und zur Freude, ihre Kraft, Bewegung und »swing« in festgefahrene, verkrustete Verhältnisse zu bringen, ihre Kraft, Grenzen zu überschreiten, Menschen zu vereinen, und ihre Kraft zur Heilung. Wo Musik beruhigend und entspannend wirkt, ist sie selbst ein Element von Gewaltfreiheit. Die Lebenslaute wählen eine spezifische Form der Musik, nämlich eine hoch artifizielle, die eine gründliche Vorbereitung erfordert. Dabei wird auch ein entscheidendes Element gewaltfreien Handelns eingeübt: Disziplin.

Musik kann, wie alle Kunst, auch das Lachen freisetzen, welches Herrschaft untergräbt. So haben sich bei Lebenslaute-Aktionen immer wieder satirische und kritische Musikstücke bewährt, etwa Mauricio Kagels »10 Märsche um den Sieg zu verfehlen«. Musik kann auf angenehme Weise auch Distanz und Reflexion schaffen: „Wir wollen an Orten, an denen Argumente nichts mehr bewirken, Musik als abstrahierendes Element einsetzen, um so auf die Absurdität der Situation hinzuweisen“, so eine Teilnehmerin der Lebenslaute-Aktion 2012 vor der Waffenfabrik Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar.

Musik, Kunst oder Performance, wie sie von den Lebenslauten gemacht werden, sind nicht exklusiv und niemals nur Mittel zum Zweck. Sie sind nicht weniger als attraktive, erstaunliche, unabgenutzte Formen des Liebens, des Lebens und des Widerstands. Unsere eigenen Formen, wenn wir sie uns aneignen oder selbst kultivieren. Wir sind am lebendigsten mit dem, was wir mit größter Lust und Liebe tun. Und was wir am besten können, das überzeugt am meisten. Uns selbst und andere. Hier könnten Lebenslaute ein Modell für jede andere Menschengruppe sein, die ihr Können und ihre Lust in den Widerstand einbringen will. Warum dem Ton und dem Trott folgen, den andere vorgeben, wenn mensch die eigene Stimme finden kann?

In Aktionen des zivilen Ungehorsams, zumal in künstlerischen oder musikalischen, gilt jedoch: Sie müssen gut gemacht sein. Es soll schön sein, sie zu erleben. Oder »schön hässlich«. Und insgesamt heiter. Wenn wir provozieren, dann mit Grazie und auch mit Selbstironie. Die Wirkung auf alle, die da sind, ist um so tiefer, je inniger, witziger, authentischer und virtuoser wir sind. „Schlechte Töne, Texte, Bilder oder Happenings sind gerade im Widerstand nicht erlaubt.“ 2

Anmerkungen

1) graswurzel.tv (2011): piano und forte statt Kriegstransporte – LL-Aktion 2011 im Flughafen Halle/Leipzig. Kurzfilm.

2) Ulrich Klan (2000): Ungehorsam, lachend, zivil. In: Wolfram Beyer (Hrsg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus heute. Hommage an Ossip K. Flechtheim. Berlin: Humanistischer Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg.

Gerd Büntzly ist Musiker und Übersetzer in Herford.
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Autor und Pädagoge in Wuppertal. Er ist aktiv bei den gewaltfreien Ensembles Lebenslaute und »Fortschrott – Musksatire« sowie Vorsitzender der internationalen Armin T. Wegner-Gesellschaft.
Die Lebenslaute erhalten für ihr dauerhaftes, phantasievolles und effektives Friedensengagement zusammen mit der US-Gruppe CODEPINK 2014 den Aachener Friedenspreis.

Subversion in arabischer Literatur

Subversion in arabischer Literatur

von Friederike Pannewick

Der frische Wind des »Arabischen Frühlings« ist verweht, Hoffnungen wurden enttäuscht, Ängste geschürt. Zunächst blühten friedliche emanzipatorische Bestrebungen einer breiten Bevölkerungsschicht auf, doch dann setzten sich die alten autoritären und korrupten Machteliten langsam wieder durch. Intellektuelle und Künstler riskieren ihre Sicherheit und oft sogar ihr Leben bei dem Versuch, gegen die Unterdrückung von Meinungsfreiheit anzuschreiben. Täglich suchen sie neu nach Strategien, um die Zensoren auszutricksen.

Dieser Überlebenskampf der Kunst geht bis in die Kolonialzeit zurück. In der frühen postkolonialen Zeit rezipierten arabische Schriftsteller mit großer Begeisterung das Konzept einer »littérature engagée« des französischen Philosophen J.-P. Sartre, das vom Autor eine klare Stellungnahme in Krisenzeiten fordert. Diese offene Konfrontation wurde aber zunehmend lebensgefährlich. In dieser Situation wird die Kunst der Subversion wichtig: Sie verschleiert ihre politische Botschaft mit ästhetischen Mitteln und wendet sich an aufmerksame Leser, die zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Texte unpolitisch, erst auf den zweiten Blick entwickeln sie ihre provokative Sprengkraft – und genau das macht sie in Zeiten der Zensur so wirkungsmächtig.

Die moderne arabische Literatur spiegelt die politische Instabilität und Gewalt der letzten Jahrzehnte deutlich wider. Sie reflektiert diese problematischen Bedingungen und ist zugleich von diesen geprägt – eine klassische Doppelfunktion von Kunst. Den arabischen Künstlern schien es angesichts dieser bedrückenden Lage unmöglich, eine von der Tagespolitik losgelöste »Kunst um der Kunst willen« zu präsentieren. Viele ihrer Romane, Dramen oder Gedichte handeln von Menschenrechtsverletzungen, Verfolgung, Exil, Gefängnis und politischer wie körperlicher Gewalt. Der 1933 in Jordanien geborene und 2004 in Damaskus verstorbene Autor Abdarrahman Munif, Sohn eines saudi-arabischen Vaters und einer irakischen Mutter, sagte in einem Interview von 1990: „Ein arabischer Literat ist ein Fidai, ein Freiheitskämpfer. In Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, keine Parteien zugelassen sind, wo vielleicht nicht einmal eine Verfassung existiert, müssen die Intellektuellen, müssen alle, die sich ausdrücken können, Widerstand leisten. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen aufzuklären, sie auf Recht und Unrecht hinzuweisen, solange es an legalen und allgemein anerkannten politischen Institutionen mangelt. In Saudi-Arabien und in einigen Golfländern gibt es keine Verfassung, keine Legislative und Exekutive, durch die die Machtverteilung zwischen Bürger und Staat geregelt wäre, keine Garantien, auf die sich ein Bürger notfalls auch gegen den Staat berufen könnte. Dort haben die Herrscher und die religiösen Führer die Macht, und sie nutzen sie nach Belieben für ihre Interessen.“ (Munif, taz 14.5.1990)

Schon in der Kolonialzeit hat es in der arabischen Literatur immer wieder prominente politische Stellungnahmen gegeben. Seit den 1950er Jahren verstärkte sich diese politische Funktion deutlich. Literatur wurde nun als eine Art Korrektiv der herrschenden Unrechtsverhältnisse im eigenen Land verstanden. Nicht selten – in Ländern wie Syrien oder Irak, aber auch in Ägypten – haben Schriftsteller dabei ihre persönliche Sicherheit und Freiheit aufs Spiel gesetzt. Angesichts dieser Hintergründe war und ist es bis heute zuweilen überlebenswichtig und außerdem ein guter Weg durch den Dschungel staatlicher und religiöser Zensur, wenn Autoren sich der Technik der Camouflage, des Sprechens zwischen den Zeilen und der Verschleierung bedienen – d.h., wenn sie die Kunst der Subversion beherrschen.

Subversion als Überlebensstrategie

Was ist Subversion? Ein hervorragendes Beispiel für literarische Subversion wäre das Trauergedicht Ibn al-Anbaris (gest. 977), verfasst in Bagdad im 10. Jahrhundert. Dieser schrieb Elegien auf seinen Patron und Freund, den Wesir Ibn Baqiyya. Ibn Baqiyya wurde aufgrund seiner oppositionellen Aktivitäten als Dissident zum Tode verurteilt. Der Herrscher ließ seinen Leichnam ans Kreuz schlagen und in den Straßen Bagdads ausstellen. Ibn al-Anbari schrieb daraufhin eine glänzende Elegie auf seinen Gönner – allerdings ohne die Kreuzigung und deren politischen Hintergrund zu erwähnen. Das Gedicht erlangte großen Ruhm, Kritiker priesen es als Glanzstück ohnegleichen. Als dem Herrscher eine Rezitation dieses Gedichts zu Ohren kam, das den Gekreuzigten so brillant pries, dass er als der edelste Mann seiner Zeiten erschien und nicht als zum Tode verurteilter politischer Rebell, drückte er seine Bewunderung aus, indem er ausrief, wie schade es sei, dass nicht er an dessen statt gekreuzigt worden sei, denn dann hätte man ebenso glänzende Zeilen über ihn verfasst.

Dieses Gedicht enthält eine hoch politische, ja explosive Botschaft: Die Entscheidung des Herrschers, einen Mann zum Tode zu verurteilen, wird in diesen Zeilen in Frage gestellt. Der Verurteilte wird als überlegener Held dargestellt, ein Vorbild an Moral und Weisheit. Selbst wenn das Gedicht dies nicht klar ausspricht, so löst es im Leser doch die skeptische Frage aus: Wie konnte ein weiser Herrscher einen so vorbildhaften Mann hinrichten lassen? Ein Dichter stellt hier also ein Urteil des Herrschers in Frage – und normalerweise hätte diese Kritik seine eigene Verurteilung zur Folge gehabt. Aber der Kritisierte nimmt die politische Provokation gar nicht wahr – so sehr ist er begeistert von der Ästhetik, vom literarischen Wert dieses Gedichts. Die als überzeitlich schön beurteilte Kunst siegt über die ephemere politische Autorität, Schönheit über den Tod.

Die politische Botschaft im Gedicht ist immer noch vorhanden, nur ist sie nicht gleich sichtbar an der Oberfläche; die explosive politische Kraft entfaltet sich nur langsam, fast bleibt sie unbemerkt. Nur sehr aufmerksame Zuhörer und scharfe Beobachter werden stutzig und bemerken den heiklen Charakter dieser Zeilen. Dieses Gedicht der klassischen arabischen Literatur ist ein Paradebeispiel subversiver Literatur. Es ist politisch und kritisch, aber erst auf den zweiten Blick. Es überbringt keine einfache und klare politische Botschaft, die sich an »das Volk«, die Massen, richtet, sondern spricht eher zu Individuen, zu einer kleinen Gruppe kluger Köpfe, die scharfsinnig genug sind, um diese subversive Sprache harscher politischer Kritik zu entziffern.

In seinem Buch mit dem Titel »Persecution and the Art of Writing« beschreibt der Philosoph Leo Strauss diese spezielle Schreibweise: Verfolgung lasse eine besondere Schreibtechnik entstehen, und somit auch einen besonderen Typ Literatur, in welchem Wahrheit und alle wesentlichen Dinge ausnahmslos zwischen den Zeilen angesprochen werden. Diese Literatur richtet sich, so Strauss, nicht an alle Leser, sondern nur an vertrauenswürdige und intelligente Leser (Strauss 1988, S.25), an eine Art verschworene Gemeinschaft.

Diese Form der indirekten ästhetischen Artikulation erwähnt auch der syrische Filmemacher Usama Muhammad in einem Interview: „Es gibt zwei Antworten auf die Regeln der Zensur. Eine ist, schlechte Kunst zu machen und über nichts zu reden, die zweite, zu sagen, was du sagen willst und Kunst zu machen […] Der Trick ist, seine eigene Sprache zu finden, und zwar eine indirekte, so dass man Filme über politische Macht, Religion, Sex und Gewalt machen kann auf metaphorische – und oft wirkungsmächtige – Weise.“ (zitiert nach Nice 2000, S.31)

Subversion als Kunst für Individuen

Im späten 20. Jahrhundert entwickelte sich in der arabischen Kunst eine emanzipatorisch-subversive Rhetorik, die zunehmend auf das kritische Bewusstsein des Individuums zielte. In der frühen postkolonialen Zeit der 1950er und 1960er Jahre bis hinein in die frühen 1970er Jahre, als die Idee der »engagierten Literatur/adab al-iltizam« in der arabischen Welt noch vorherrschend war, waren es eher »das Volk«, das Kollektiv oder die sozialen Klassen gewesen, die aufgeklärt und politisiert werden sollten. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert: Die auf kollektiven Identitätskonzepten beruhenden Massenideologien, wie der Nationalismus und Islamismus, haben ihre Bedeutung zunehmend zugunsten individualisierter Denkmodelle und Artikulationsformen eingebüßt. Dadurch wurde ein tief greifender Wandel ausgelöst, der von Schulze (2012) als „Ende utopischen Denkens“ und als Übergang von politischen Normenordnungen zu einer lebensweltlichen Werteordnung bezeichnet wird: Es fand eine Entflechtung der Werte-Normen-Ordnung der Moderne statt, indem das Konzept »Gesellschaft« in Frage gestellt wurde, das bisher als normative Ordnung und soziale Vorstellungswelt das politische Ideal der Eliten gewesen ist.

Im Zentrum des Interesses steht nun der Einzelne in seiner individuellen Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft; es geht um Bewusstseinsprozesse und Erkenntnisse Einzelner in ihrer Begegnung mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Vermittelt werden sollen keine festen Weltbilder, Wertesysteme oder Ideologien. Klare Botschaften und normative Vorgaben erscheinen mehr denn je fraglich und ohne Überzeugungskraft – oder aber sie gewinnen gerade wegen der allgemein vorherrschenden postmodernen Verunsicherung erheblich an Attraktivität.

Subversive Strategien im irakischen Gefängnis

In einem Land wie dem Irak, das seit Jahrzehnten von totalitären Regimen, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Gewalt geprägt ist, hat die künstlerische Taktik der Subversion eine besondere Bedeutung. Ein Beispiel, wie sich in der irakischen Literatur Romanfiguren subversiver Verschleierungsstrategien bedienen, ist der Roman »Irakische Rhapsodie« des Schriftstellers, Dichters und Dokumentarfilmers Sinan Antoon (geb. 1967). Kurz nach der amerikanischen Invasion im Irak Anfang der 1990er Jahre verließ Antoon das Land und begann diesen Debütroman voll schwarzen Humors und Sprachwitzes zu schreiben, der 2004 publiziert wurde.

Die Handlung spielt während des Ersten Golfkriegs im Irak der 1980er Jahre. Mitarbeiter des irakischen Geheimdienstes sollen ein verdächtiges Manuskript entschlüsseln, das von einem politischen Häftling in einer Art Geheimsprache verfasst wurde. Der Verfasser ist ein literarisch aktiver und regimekritischer Student, der in die Fänge des Geheimdienstes geraten ist und Wochen und Monate in quälender Ungewissheit und ohne Anklage in einem der politischen Gefängnisse Saddam Husseins festgehalten wird. Panische Angstattacken ergreifen ihn, als ihm eines Tages ein Gefängniswärter Papier und Stift bringt – ein unerwartetes Privileg nach Wochen quälend stiller, einsamer Einzelhaft. An dieser entscheidenden Stelle des Romans wird die Rolle des Schreibens in einer von Gewalt und Zensur geprägten Gesellschaft thematisiert. Es bleibt unklar, ob das Schreiben ein gewährter Gnadenakt, die Einladung zu Verrat an anderen oder eine Falle ist, die den Schreibenden zu ungewollten Geständnissen bringen könnte, die er nicht einmal unter Folter zu geben bereit war. Von unerträglicher Ungewissheit gepeinigt, zieht sich der Protagonist ganz in sich selbst, in eine faszinierende innere Welt aus Erinnerungen, Ängsten und Träumen zurück. Aus seinem Rückzug ins Innere erwächst schließlich die Idee für eine Strategie, die ihm das Schreiben ermöglicht, ohne jedoch seinen Peinigern Einblick in dessen Inhalt zu gewähren: Werden in einem arabischen Text die diakritischen Punkte des Alphabets weggelassen, kann ein und dasselbe Konsonantengerüst mehrere unterschiedliche Bedeutungen erlangen. Auf diese Weise erhält also jedes Wort eine mehrdeutige Semantik, und der Text als Ganzer wird nahezu unlesbar. Der Protagonist macht sich diese Verschleierungstaktik zu eigen, die einen Text ergibt, der auf den ersten Blick lesbar und auf den zweiten Blick als Geheimnis erscheint, das erst enträtselt werden muss.

In hoch symbolischen Träumen des Häftlings scheinen sich nun aber die Buchstaben selbständig gemacht zu haben, sie tanzen über die Zeilen, werden zu Heuschrecken – die Schrift wird zur Landplage. Nach weiteren Wochen der Isolationshaft wird der Student von einem Alptraum geplagt, in dem sein Ich sich aufzulösen beginnt, verfolgt von wilden Tieren. Er liegt nackt auf weißem Sand unter tief schwarzem Himmel, es fallen tintenfarbene Regentropfen auf ihn, die sich eiskalt auf seiner Haut festsetzen. Er hört, wie Autos und bellende Hunde sich in der Dunkelheit nähern, und flieht panisch, rutscht immer wieder in den größer werdenden Tintenlachen aus, fällt hin; weißer Sand und schwarze Tinte bilden ein klebriges Amalgam auf seiner Haut: „Ich versuchte weiterzurennen, aber da war ein unerträglicher Schmerz in Füssen und Kopf. Ich stolperte und kroch auf allen vieren weiter. Ich kam mir vor wie ein dem Untergang geweihtes Tier. Das Gebell der Hunde war schon ganz nahe. Ich schaute mich um und sah, dass einer von ihnen sich gerade über mich hermachen wollte. Seine gebleckten Zähne leuchteten, sein Zahnfleisch schien rosig und schwarz gerändert. Ich verbarg meinen Kopf zwischen den Händen. Dann schlug ich die Augen auf… und sah die weißen Blätter vor mir. Die Zeilen liefen darüber, neben meinem Kopf. Sollte ich schreiben?“

Dieser Alptraum zeigt die Ängste, die durch die vorhergegangene Auflösung der Schrift ausgelöst werden: Die anfangs als Verschleierungstaktik erfundene Schreibtechnik ohne diakritische Punkte hat sich nun gegen den Schreibenden gerichtet, seine Ausdrucksfähigkeit hat ihn verlassen, sich feindlich gegen ihn gewandt, die Tinte strömt einer Naturgewalt gleich auf seinen weißen wehrlosen Körper. Der Leib des Schriftstellers, weiß wie Papier, wird zum Beschriebenen, er wird passiv, seine aktive schreibende Existenz ist in Frage gestellt.

Der Roman endet mit der Nachricht, dass das Regime gestürzt und alle politischen Gefangenen frei seien. Der junge Student tritt vor die Gefängnistore in eine seltsam entvölkerte Stadt, die ihm beunruhigend fremd vorkommt. Der Wärter, der ihm damals Papier und Stift gebracht hatte, erscheint ihm in seiner Erinnerung, und er fühlt das Verlangen, weiterzuschreiben. Wie so oft in diesem kunstreich verschachtelten Erzählwerk bleibt es unklar, ob die Befreiung nur wieder einer der vielen Tagträume des Häftlings war oder reales Ereignis. Offener Widerstand ist in diesem System zwecklos. Das Spiel mit Mehrdeutigkeiten erweist sich deshalb in diesem Roman als literarisches Stilmittel und zugleich subversive politische Taktik, um Zensur und Verbot der Meinungsfreiheit zu unterlaufen. Der Roman zeigt keine politischen Handlungsoptionen, sondern eher Überlebensstrategien in totalitären Systemen – leider auch nach dem so genannten »Arabischen Frühling« ab Ende 2010 ein weiterhin hochaktuelles Thema für die arabische Welt.

Zeugnis der Scheiterns

Die subversive Kritik in diesem irakischen Roman ist kein Einzelfall; viele weitere Romane der arabischen Welt arbeiten seit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts mit ähnlichen literarischen Mitteln. Dies ist als Antwort auf und Konsequenz des Scheiterns der postkolonialen Regime zu werten, die ihren Bürgern selbst die elementarsten Rechte und Errungenschaften der Moderne vorenthielten. In dieser Situation, in der rascher politischer Wandel absurd und unrealisierbar erschien, wurde Subversion zu einem geeigneten Weg literarischer Kritik. Subversion schließt neue Formen sozialer Organisation ein, und diese dienen dazu, die Interessen bestimmter Bereiche der Mittelklasse zu artikulieren. Diese neuen Interessengruppen sind zunehmend partikularistisch, individuell und de-ideologisiert. Eine Organisation in Massenorganisationen mit kollektivistischem Bewusstsein hat gegenüber diesen neuen Partikulartendenzen an Bedeutung verloren (Ouaissa 2012, 69ff). Diese Entwicklung verläuft vielfach »subkutan«, unter der Oberfläche des Mainstream, und somit subversiv. Die politische Sprengkraft dieser ästhetischen wie gesellschaftlichen Veränderungen entfaltet sich erst auf den zweiten Blick, dann aber geben sie ein untrügliches Zeugnis des Scheiterns der autoritären Herrschaftsformen ab.

Literatur

Sinan Antoon (2009): Irakische Rhapsodie. Basel: Lenos (Übersetzung von Fähndrich und Fierz; arab. Fassung erschien 2004 in Beirut).

Abdarrahman Munif (1990): Ölpest in den Oasen. Interview mit Abdarrahman Munif. taz, 14.5.1990.

Pamela Nice: Finding the Right Language. A Conversation with Syrian Filmmaker Usama Muhammad. Al Jadid Magazine – A Review & Record of Arab Culture and Arts, Vol. 6, No. 31 (Spring 2000).

Rachid Ouaissa: Arabische Revolution und Rente. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.57-77.

Reinhard Schulze (2012): Die Passage von politischer Normenordnung zu lebensweltlicher Werteordnung. Erkenntnisse aus dem arabischen Frühling. In: Werner Ruf (Red.) (2012): Wandel in der Arabischen Welt. Periplus – Jahrbuch für außereuropäische Geschichte Bd. 22. Berlin: LIT Verlag, S.32-56.

Leo Strauss (1988; 1. Auflage 1952): Persecution and the Art of Writing. Chicago und London: The University of Chicago Press.

Friederike Pannewick ist Professorin für Arabische Literatur und Kultur am Centrum für Nah-und Mitteloststudien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg und Teilprojektleiterin sowie Vorstandsmitglied im Forum Transregionale Studien in Berlin.

Politischer Protest in Uganda

Politischer Protest in Uganda

Vom Ende der »Walk-to-Work«-Bewegung

von Matthias Elsas und Oliver Göbel

Als sich die ugandische Regierung im April 2011 mit anhaltenden Protesten durch die so genannte »Walk-to-Work«-Kampagne (WtW) konfrontiert sah, stellte sich die Frage, ob sich der »Arabische Frühling« südlich der Sahara ausbreiten würde (siehe Beitrag von Maaser und Koblofsky zu den Ereignissen in W&F 3-2011).1 Retrospektiv kann davon kaum die Rede sein. Welche Faktoren für diese Entwicklung bedeutsam waren, haben Matthias Elsas und Oliver Göbel anhand des weiteren Verlaufs der politischen Auseinandersetzung in Uganda untersucht und für W&F zusammengefasst.

Die WtW-Demonstrationen, die von der zivilgesellschaftlichen Gruppe A4C organisiert wurden, setzten am 11. April 2011 in Kampala sowie in weiteren urbanen Zentren des Landes ein. Zu Beginn waren sie von dem offiziellen Motiv getragen, gegen den zu dieser Zeit massiven Anstieg der Benzin- und Lebensmittelpreise zu protestieren. Ungeachtet des repressiven Vorgehens der staatlichen Sicherheitsorgane und des Verbots weiterer Demonstrationen wurde die Kampagne fortgeführt, deren Agenda sich im Zuge einer zunehmender Mobilisierung um Forderungen nach einer demokratischen Öffnung bis hin zu einem Regimewechsel erweitern sollte. Rückblickend lassen sich drei Phasen der Protestbewegung nachzeichnen.2

April und Mai 2011, die die erste Phase markieren und den Höhepunkt der Proteste darstellten, waren von einer hohen Mobilisierungsrate, hoher Protesthäufigkeit und repressiv-gewaltförmigen Gegenreaktionen durch die staatlichen Sicherheitsorgane geprägt. So kam es während der landesweiten Proteste am 14. April zum Einsatz der Armee. In Wakiso, Masaka und Jinja wurden dabei etwa 50 Menschen verletzt, bei Protesten von StudentInnen der Makerere University Kampala etwa 70 Personen. Zahlreiche AktivistInnen wurden verhaftet. Insgesamt kamen in dieser ersten Phase neun Menschen ums Leben. Von ca. 200 Verletzten wurden 20 mit Schusswunden in den Krankenhäusern behandelt. Allein in Kampala wurden etwa 700 AktivistInnen verhaftet. Kizza Besigye, Präsident des Forum for Democratic Change (FDC) und neben Mathias Mpuuga (dem nationalen Koordinator der A4C) zentrale Figur der politischen Opposition, wurde mehrfach verhaftet, unter Hausarrest gestellt und durch Übergriffe der Polizei verletzt.

Die zweite Phase der Proteste wurde Ende Juli 2011 eingeleitet, als sich A4C mit der Ankündigung zurückmeldete, die Aktionen würden fortgesetzt, und unter dem Motto »Light a Candle« zu Versammlungen zum Gedenken an die Verstorbenen aufrief. Mehrere Versuche, die Kundgebung abzuhalten, wurden verhindert. Im Oktober 2011 wurde eine »Relaunch Walk-to-Work«-Kampagne ausgerufen. Die Polizei, von A4C über die geplanten Demonstrationen informiert, verwehrte eine entsprechende Erlaubnis. Wenige Tage später kam es trotz des massiven polizeilichen Aufgebotes zu folgenschweren Protesten. Landesweit wurden an diesem Tag mehr als vierzig Personen verhaftet, darunter 15 Oppositionsmitglieder. Der Generalinspekteur der Polizei beschuldigte die Oppositionsmitglieder des „Hochverrats“ (New Vision und Daily Monitor, 18.10.11), da sie angeblich beabsichtigten, die Regierung zu stürzen. Besigye und weitere Oppositionspolitiker, die an den Protesten nicht teilgenommen hatten, wurden präventiv unter Hausarrest gestellt.

Die WtW-Bewegung trat in der dritten Phase, zwischen Januar und April 2012, noch einmal verstärkt mit Aktionsformen an die Öffentlichkeit; allerdings blieben diese nun vorwiegend auf die Hauptstadt beschränkt. Im Januar 2012 veröffentlichte A4C eine Pressemitteilung, die mit dem Aufruf endete, im Rahmen einer »Walk-to-Work Reloaded«-Kampagne an weiteren Demonstrationen teilzunehmen. Die Polizei agierte verstärkt präventiv. Im Vorfeld der Demonstration in Katwe (Kampala) wurden Mitglieder der politischen Opposition überwacht und die geplanten Demonstrationen für illegal erklärt. Wie schon während der Proteste 2011 wurden Besigye, Abgeordnete des FDC, der Oberbürgermeister von Kampala und Mpuuga vorläufig festgenommen.

Im März führte das gewaltsame Aufeinandertreffen zwischen BürgerInnen und Sicherheitskräften zum Tod eines Polizisten. Die Regierung stellte einen Zusammenhang her zwischen dem Todesfall und dem Oberbürgermeister von Kampala sowie der politischen Opposition um Besigye. A4C stellte klar, dass es sich bei jenem Vorkommnis weder um eine Demonstration noch eine sonstige von ihr geplante Aktivität gehandelt habe. Dennoch unterschrieb Generalstaatsanwalt Peter Nyombi am 4. April 2012 den Kabinettsbeschluss, der A4C als „rechtswidrige Vereinigung“ verbot, und zwar unter Rückgriff auf den Penal Code Act, Abschnitt 56/2c. Dieser besagt, dass Gruppen oder Organisationen von mehr als zwei Personen verboten werden können, wenn sie sich u.a. des „Krieges gegen die Regierung“ oder des „Umsturzes bzw. der Aufforderung zum Umsturz der Regierung“ schuldig machen. In einer Stellungnahme des Generalstaatsanwalts heißt es: „Eine Mitgliedschaft ist verboten. Wenn sie versuchen, irgendeine andere Gruppe zu gründen, wird diese auch rechtswidrig sein.“ 3 (zitiert in Daily Monitor, 23.04.2012)

Unter dem Namen »For God and My Country« (4GC) führten die OrganisatorInnen von A4C ihre Aktivitäten zunächst weiter, bis auch 4GC einen Monat später verboten wurde. Zu letzten Kundgebungen kam es im Juli 2012 in drei Distrikten im Westen Ugandas. Eine Petition, die im September an das Verfassungsgericht ging und die Änderung des Gesetzes forderte, welches das Verbot von A4C/4GC ermöglicht hatte, scheiterte. Die für den 9. Oktober 2012 angekündigten Demonstrationen anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zur 50-jährigen Unabhängigkeit Ugandas wurden durch ein massives Polizeiaufgebot sowie Verhaftungen und Hausarreste im Vorfeld verhindert.

Schon während der zweiten Phase, insbesondere aber nach dem Verbot von A4C/4GC, konnte die Bewegung keine breite Mobilisierung mehr bewirken. Obwohl das Heidelberger Konfliktbarometer 2012 weiterhin eine „gewaltförmige Krise“ konstatierte, blieben der Berichterstattung zufolge die noch vereinzelt stattfindenden Aktionen auf einen kleinen Kreis um die zentralen Führungspersonen der Bewegung, Besigye und Mpuuga, beschränkt.

Vom Aufstieg und Zerfall einer Bewegung

Zwei wesentliche Prozesse können als Ausgangspunkt der Protestmobilisierung in der politischen Auseinandersetzung zwischen Staat und Gesellschaft ausgewiesen werden. Da ist zum einen die Anfang 2011 eintretende sozio-ökonomische Entwicklung. Eine rapide ansteigende Inflation trug bei gleichzeitigem Anstieg der allgemeinen Lebenshaltungskosten zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung bei. Zum anderen kann den externen politischen Entwicklungen im Nahen- und Mittleren Osten, die mit dem »Arabischen Frühling« umschrieben werden, ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die kollektive Deutung politischer und ökonomischer Missstände zugewiesen werden.

Damit ist die kollektive Wahrnehmung politischer Gelegenheiten angesprochen, die einen wesentlichen Mechanismus für den Prozess der Mobilisierung bilden (McAdam et al. 2001). Die sozio-ökonomische Krise und der »Arabischen Frühling« bot den A4C und der politischen Opposition die Gelegenheit, Teile der Bevölkerung für eine öffentliche Protestkampagne zu mobilisieren. Die seit 1986 vom National Resistance Movement geführte Regierung unter Museveni sollte in die Verantwortung genommen werden. Die Regierung erkannte hierin früh ein Bedrohungspotential und setzte in der Folge ausschließlich auf die gewaltsame Niederschlagung der Proteste. Neben dem exzessiven Einsatz repressiver Mittel griff sie dabei auf die diskursive Delegitimierung und wirksame Kriminalisierung von AktivistInnen und Protestierenden zurück.

Der anfängliche Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen (A4C), religiösen (Inter-Religious Council of Uganda) und politischen Akteuren (die Oppositionsparteien FDC, DP, UPC, JEEMA)4 unter dem Banner von »Walk to Work« trug wesentlich zu der landesweiten Mobilisierung im Rahmen der ersten Kampagne bei. Über die tatsächliche Merkmalsstruktur der Protestanhängerschaft ist wenig bekannt. Vieles deutet auf eine Mobilisierung der urbanen, jüngeren und einkommensschwachen Bevölkerungsschicht hin. Nach Einschätzung eines Journalisten des Daily Monitor konnten weder Teile der ugandischen Mittelschicht noch andere einflussreiche Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden.5 Zunehmende Gewalteskalation und steigende Opferzahlen mündeten letztlich in einer drastischen Demobilisierung. Dies gilt nicht nur für die Anhängerschaft, sondern insbesondere für die Trägerschaft der Protestbewegung. Bei der Vorbereitung der zweiten Kampagne »Relaunch Walk-to-Work« waren der Berichterstattung zufolge nur noch die FDC und die DP vertreten (Daily Monitor und New Vision, 13.10.2011). Auch der Inter-Religious Council of Uganda distanzierte sich aufgrund der Gewaltausschreitungen in der Hochphase der Proteste vom Bündnis. Die Koalition im Zeitraum der »Walk-to-Work Reloaded« scheint sich primär auf A4C und FDC zu reduzieren.

Nicht wenige BeobachterInnen sahen in Letzterem den eigentlichen Grund dafür, dass A4C nicht zum Ausdruck einer gesellschaftlich breit legitimierten sozialen Bewegung wurde, einer dritten Kraft außerhalb des »partisanen Machtkampfes« zwischen dem National Resistance Movement und dem FDC. So resümierte etwa der international renommierte Analyst Andrew Mwenda (The Independent, 15.05.2012), die politisch-instrumentelle Inanspruchnahme der Person Besigye, der zum Gesicht der Proteste avancierte, habe A4C die politische Neutralität entzogen. Die wäre aber Voraussetzung gewesen, um einen politischen Prozess anzustoßen, der unter Einbindung weiter zivilgesellschaftlicher Kräfte der anhaltenden Durchsetzung partikularer Machtinteressen entgegenstünde.

Konfliktdynamiken zwischen Bewegung und Stillstand

Gewaltförmige Konflikte haben seit jeher den postkolonialen Werdegang des ugandischen Staates geprägt. Ob sie, um Charles Tillys (1985) berühmte These zu bemühen, notwendiger Bestandteil der Herausbildung und Festigung staatlicher Gebilde sind, ist am jeweiligen Einzelfall stets kritisch zu hinterfragen. Die vielschichtigen Konfliktdynamiken in Uganda lassen sich einmal im Kontext nationaler Integrationsprozesse im Anschluss an die politische Herrschaft kolonialer Regime verorten (Rupesinghe 1989). Der Nord-Uganda Konflikt zwischen »Lord’s Resistance Army« (LRA) und Regierung ist in diesem Kontext zu verstehen. Eine weitere Erklärung sieht Potentiale von Konflikten im politisch-transformativen Prozess von einer autoritären Herrschaftsform hin zur Demokratisierung begründet (Mutua 2007, Izama/Wilkerson 2011). Die Protestbewegung unter dem Banner der WtW-Kampagnen kann aus dieser Perspektive sinnvoll interpretiert werden. Sie stellt insofern eine Zäsur in der Konfliktgeschichte Ugandas dar, als ihre ProtagonistInnen eine »Politik mit anderen Mitteln« (McAdam et al. 1988) verfolgten, welche ausdrücklich die gewaltfreie Austragung widerstreitender Interessen zu ihrem Credo erklärte. Ob jene Konfliktdynamik mittel- oder langfristig zu einer von vielen Seiten erhofften Verschiebung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft führen wird, bleibt fraglich. Von einem »Ugandischen Frühling«, der ähnlich seinem nördlichen Vorbild imstande wäre, einen Regimewechsel – mit allerdings offenen Folgen – einzuleiten, kann bislang nicht die Rede sein.

Quellen

A4C relaunch walk to work campaign. Daily Monitor (monitor.co.ug), 13.10.2011.

Police smash walk to work demos. Daily Monitor, 18.10.2011.

From A4C to 4GC: Are they vehicles of change or a terror to the state? Daily Monitor, 23.04.2012.

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK): Conflict Barometer 2012.

Izama, Angelo und Wilkerson, Michael (2011): Uganda: Museveni’s Triumph and Weakness. Journal of Democracy, 22:3, S.64-78.

Maaser, Johannes und Koblofsky, Lydia: Keine Bewegung mit Ugandas »Movement«. Ein politischer Reisebericht aus dem Land des alten Mannes mit dem Hut. Wissenschaft und Frieden, 3-2011, S.33-36.

McAdam, Doug; McCarthy, John D.; Zald, Meyer N. (1988): Social Movements. In: Smelser, N.J. (ed): Handbook of Sociology. Newbury Park, California: Sage, S.695-739.

McAdam, Doug; Tarrow, Sidney; Tilly, Charles (2001): Dynamics of Contention. Cambridge: Cambridge University Press.

Mutua, Makau (2007): Beyond Juba: does Uganda need a national Truth and Reconciliation process? East African Journal of Peace and Human Rights, 13:1, S.142-155.

Mwenda, Andrew (2012): Reflecting the banning of A4C. The Independent, 15.04.12.

Opposition defies Police, launches walk-to-work week. New Vision, 13.10.2011.

Walk-to-Work activists face treason charges. New Vision, 18.10.2011.

Rupesinghe, Kumar (1989): Conflict resolution in Uganda. Oslo/Athens: Peace Research Institute Oslo (PRIO).

The Penal Code Act (Uganda) von 1950; online bei wipo.int.

Tilly, Charles (1985): War Making and State Making as Organized Crime. In Evans, P.; Rueschemeyer, D.; Skocpol, Th. (eds.): Bringing the state back in. Cambridge: Cambridge University Press.

Anmerkungen

1) Maaser und Koblofsky, die im Anschluss an ihren Ugandaaufenthalt die Ereignisse und Hintergründe für W&F dokumentierten, hatten offen resümiert: „Ob sich der »Weg zur Arbeit« aber wirklich zu einer Bewegung ausdehnt und Museveni das Schicksal der Dauerpräsidenten in der Maghreb-Region und Ägypten bescheren wird, bleibt abzuwarten. Ein innerer Wandel des Systems Museveni scheint jedenfalls nicht in Sicht.“ (W&F 3-2011, S.36).

2) Mit Ausnahme direkter Zitation basiert die Belegführung des Textes auf der im Forschungsprojekt vorgenommenen Dokumentenanalyse. Neben den nationalen Tageszeitungen in Uganda, dem »Daily Monitor« und der »New Vision«, wurden Studien von Human Rights Watch, Amnesty International, International Crisis Group und der Ugandischen Menschenrechtskommission (UHRC) sowie Statistiken des Afrobarometer, des African Economic Outlook und des African Media Barometer, internationale Pressedokumente sowie das Internetblog der Gruppe »A4C« ausgewertet.

3) Übersetzungen aus dem Englischen durch die Autoren.

4) DP: Democratic Party; UPC: Uganda People’s Congress; JEEMA: Justice Forum.

5) Interview durch die Autoren im Rahmen der empirischen Untersuchung.

Matthias Elsas und Oliver Göbel sind Absolventen des Masterstudiengangs Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Zu politischem Protest in Uganda haben die Autoren im Rahmen des Forschungsprojekts »Konfliktdynamiken in Uganda: Die Walk-To-Work-Bewegung« eine empirische Untersuchung durchgeführt.

Friedenspolitische Forderungen

Friedenspolitische Forderungen

Kurzfassung

von Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Die Prävention von Krieg und Gewalt ist eine der zentralen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft, deshalb:

1. Ein friedenspolitisches Leitbild für Deutschland

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) Die neue Bundesregierung muss ein friedenspolitisches Leitbild formulieren, das übergreifend für alle innen- und außenpolitischen Handlungsfelder Ziele und Prinzipien für eine gewalt- und krisenpräventive, friedensfördernde Politik Deutschlands benennt.

b) Der Deutsche Bundestag sollte die Erarbeitung und Umsetzung eines friedenspolitischen Leitbilds aktiv begleiten. Dafür sollte der Unterausschuss »Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit« als wichtiger Ort der Diskussion friedenspolitischer Fragestellungen fortgeführt und politisch aufgewertet werden.

c) Die Bundesregierung sollte einen »Rat für Gewaltprävention und Friedenspolitik« beim Bundeskanzleramt einrichten – ähnlich dem »Rat für Nachhaltigkeit«. Damit würde sie der weitreichenden Bedeutung der Aufgabe Rechnung tragen und zugleich wichtige gesellschaftliche Akteure an der Debatte um ein friedenspolitisches Leitbild angemessen beteiligen.

2. Handlungsfähige Strukturen für Zivile Krisenprävention

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, Gewaltprävention, Friedensförderung und Konfliktsensibilität als übergreifende Prinzipien im Regierungshandeln zu verankern. Dazu ist es notwendig, den Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« so weiterzuentwickeln, dass er mittelfristige Ziele und überprüfbare Umsetzungsschritte benennt. Der Ressortkreis zivile Krisenprävention muss politisch aufgewertet werden. Seine Ausstattung mit finanziellen Mitteln und Personal ist deutlich zu verbessern, so dass er zu einer arbeitsfähigen und wirksamen interministeriellen Struktur wird, die einen Vorrang zivilen, krisenpräventiven Handelns in allen Politikbereichen durchsetzen kann.

b) von Bundestag und Bundesregierung, Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft systematisch an Beratungen zur Zivilen Krisenprävention, der Frühwarnung und -reaktion und der bi- und multilateralen Planung von Programmen und Missionen zu beteiligen.

c) von der Bundesregierung, dem Thema Geschlechtergerechtigkeit, geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung und insbesondere der Rolle von Frauen in Friedensprozessen besondere Aufmerksamkeit im Kontext Ziviler Krisenprävention zu widmen. Für die Realisierung des nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 sind Ressourcen auszuweisen, eine Berichtspflicht einzuführen und nachhaltige Arbeitsstrukturen zu schaffen.

d) für alle Politikbereiche die Erstellung von Aktionsplänen für Menschenrechte voranzubringen.

3. Den Frieden vorbereiten: Instrumente und Programme ausbauen

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von Bundestag und Bundesregierung, die Mittel für zivile Krisenprävention in den kommenden Jahren deutlich zu erhöhen und eine mittelfristige Finanzplanung vorzunehmen, damit insbesondere zivilgesellschaftliche Programme (zivik, Friedenserhaltende Maßnahmen/FEM) nachhaltig ausgebaut werden können. Der Etat für den Zivilen Friedensdienst muss bis zum Ende der Legislaturperiode schrittweise auf 80 Millionen Euro erhöht werden. Mit dem Ausbau werden insbesondere die lokalen Strukturen der Primärprävention und die lokalen Kapazitäten für zivile Konfliktbearbeitung in den betroffenen Ländern gestärkt.

b) von der Bundesregierung einen deutlichen Aufwuchs von qualifiziertem, zivilem Fachpersonal für internationale Friedenseinsätze. Dazu müssen auf Bundes- und Landesebene die Rahmenbedingungen zur Entsendung insbesondere in den Bereichen Polizei, Justiz und Verwaltung verändert werden sowie die bestehenden Kompetenzzentren der Qualifizierung für internationale Einsätze (ZIF, zivilgesellschaftliche Qualifizierungseinrichtungen) ausgebaut werden.

c) von der Bundesregierung, die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung und die finanzielle Unterstützung von Kooperationen zwischen deutschen Forschungseinrichtungen, lokalen Instituten und Friedensnetzwerken mindestens zu verdoppeln. Zusätzlich schlägt die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung die Schaffung eines Fonds für kurzfristige Konfliktanalysen und die Einrichtung wirksamer Kommunikationsstrukturen zwischen politischen Entscheidungsträgern und Akteuren der zivilen Konfliktbearbeitung in den Konfliktregionen vor, um diese Expertise bei der Erstellung von zivilen Handlungsalternativen in akuten Konfliktsituationen (Early Action) besser zu nutzen.

4. Stärkung Ziviler Konfliktbearbeitung in der eigenen Gesellschaft

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, Initiativen zur Förderung der Friedensbildung zu ergreifen mit dem Ziel, diese in ihrer theoretischen wie auch praktischen Dimension in die schulische, berufliche und wissenschaftliche Ausbildung zu integrieren.

b) von der Bundesregierung und dem Verteidigungsministerium, auf den Unterricht durch Jugendoffiziere an Schulen zu verzichten sowie die Beendigung von Werbekampagnen der Bundeswehr, die die Gewaltdimensionen und Konsequenzen militärischer Einsätze verharmlosen.

c) von Bundestag und Bundesregierung, die strukturellen und materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit Verfahren der zivilen Konfliktbearbeitung im Umgang mit Konflikten und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Deutschland verstärkt genutzt werden. Insbesondere gilt es, die Inanspruchnahme von Mediationsverfahren zu fördern, bei Großprojekten Bürgerbeteiligungsverfahren konsequent einzuplanen und Konfliktbearbeitung und Konfliktberatung bei Konflikten im Kontext von sozialen Problemen, Integration und Rassismus auf kommunaler Ebene zu fördern.

5. Auf internationaler Ebene Vorrang für Zivile Konfliktbearbeitung

Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung fordert:

a) von der Bundesregierung, sich verstärkt für den Vorrang Ziviler Konfliktbearbeitung und Gewaltprävention in internationalen Strukturen – vor allem Vereinte Nationen, EU, NATO – einzusetzen. Konkret soll sich die Bundesregierung auf UN-Ebene für eine stetige Befassung der »Peace Building Commission« mit dem Feld der Pre-War Prevention und für den Aufbau einer Internationalen Polizeieinheit der Vereinten Nationen einsetzen.

b) von Bundestag und Bundesregierung, sich gegen den Export von Produkten und Dienstleistungen, die für Krieg und Unterdrückung nutzbar sind, einzusetzen. Dazu dient ein konsequent umgesetztes, rechtsverbindliches Ausfuhrverbot in Konfliktgebiete und in Länder, die Menschenrechte systematisch missachten, die Einführung einer effektiven Endverbleibsklausel für exportierte Rüstungsgüter sowie die Abschaffung staatlicher Bürgschaften für Rüstungsgeschäfte.

c) von der Bundesregierung, den Abzug der letzten verbliebenen Nuklearsprengköpfe aus Deutschland durchzusetzen.

d) von der Bundesregierung, globale Konfliktursachen – Armut und ungerechte Verhältnisse, Ursachen und Folgen von Klimawandel und Instabilität der Finanzmärkte – anzugehen. Dazu sollte ein eigenständiges Ressort für globale Strukturfragen mit den dafür notwendigen Kompetenzen und Ressourcen eingerichtet werden. Das Ziel der globalen nachhaltigen Entwicklung muss ins Zentrum von Politik und Wirtschaft gestellt werden.

Die Friedenspolitischen Forderungen der Plattform

von Christiane Lammers

Die Prävention von Krieg und Gewalt ist eine der zentralen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung hat deshalb in einem mehrmonatigen Prozess Forderungen zur Bundestagswahl 2013 entwickelt, die die einzelnen Schwerpunktfelder abbilden: Zivile Konfliktbearbeitung in Deutschland, Gender, Außen-, Sicherheits- und Rüstungspolitik, Zivile Konfliktbearbeitung im Ausland, Menschenrechtspolitik, Entwicklungspolitik, Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Mindestens drei weitere Ansprüche sollte das »Produkt« am Ende erfüllen:

1. möglichst konkrete politische Erfordernisse zu definieren – ausgehend von den sehr unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Milieus;

2. in dem dafür notwendigen Pragmatismus mittel- und langfristige Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren und die Komplexität, auch Widersprüche mitzubedenken, ohne dabei aussageunfähig zu werden:

3. die Inhalte in ein Format zu geben, das sich sowohl für die Auseinandersetzung mit PolitikerInnen eignet als auch als Information bei Aktionen und der Öffentlichkeitsarbeit dienen kann.

Als Ergebnis des Diskussionsprozesses sind unter dem Titel »Friedenslogik statt Sicherheitslogik soll Deutschlands Politik bestimmen« zwei Papiere entstanden: eine sechsseitige Langfassung, der ein umfangreiches Raster mit den Ressort-Zuordnungen der Forderungen angefügt ist (online unter konfliktbearbeitung.net/node/6261), sowie eine Kurzfassung, die schon beim Kirchentag Anfang Mai in Hamburg an Infotischen der Friedensorganisationen ausgelegt wurde und hier dokumentiert wird.

Mit der Erarbeitung der Forderungen haben die in der Plattform zusammengeschlossenen Organisationen und Personen nicht nur eine »Arbeitshilfe« für die »Wahlkampf-Beteiligung« aufgelegt, sondern auch eine gemeinsame Grundlage geschaffen für die Advocacy-Arbeit in der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags.

Kandidat, wie stehst Du dazu?

Kandidat, wie stehst Du dazu?

von Karl Grobe

Der Suche nach Exoplaneten ist eine utopische Dimension zugewachsen, seit menschliches, industrielles, gewinngetriebenes Handeln den Zustand des Planeten Erde erkennbar beeinträchtigt. Nicht mit realistischer Hoffnung, aber doch mit sachlichem Interesse forschen Astronomen, ob es Himmelskörper gibt, die der Erde vergleichbare Umweltbedingungen bieten, also bewohnbar – besiedelbar – wären, käme man eben dorthin. Das war über ein Jahrhundert Thema der Science-Fiction-Literatur. Sie reicht bis zur fiktiven Schilderung eines fernen, sehr erdähnlichen Planeten, auf dem augenscheinlich Krieg herrscht, Raketensalven um den Globus herum mit Raketensalven beantwortet werden, aber ebenso augenscheinlich kein denkendes Wesen (mehr) lebt. Vielmehr werden die Zerstörungsgeräte vollautomatisch produziert, programmiert und abgeschossen; Tötungsgeräte, also Waffen im herkömmlichen Sinn, sind sie nicht mehr, weil es da nichts mehr zu töten gibt.

Utopischer Pessimismus? Nein. Die Entwickler von Kampfdrohnen gehen entschlossen diesen Weg. Die nächste Etappe: Spionagedrohnen sammeln Daten wie bisher, vergleichen sie ohne Zutun menschlichen Bedienungspersonals mit vorgegebenen Bewegungsmustern und weiteren Parametern, senden das daraus gewonnene »Profil« an Kampfdrohnen, die nun »Objekte« aufspüren, welche dem »Profil« entsprechen, und diese bei hinreichender Ähnlichkeit liquidieren. Auch hier ist menschliches Bedienpersonal unnötig und vielleicht, weil es Gewissen haben könnte, unerwünscht.

Den letztendlich Entscheidenden, die gegenwärtig noch die Todeslisten abzeichnen, und den Steuerern an weit vom Tatort entfernten Rechnern wird diese neue Tötungstechnik schlaflose Nächte ersparen, unter denen die Teilnehmer an Präsident Barack Obamas Dienstagsrunde vielleicht noch leiden, zumal wenn sie die Liquidierung eines US-Staatsbürgers durch Drohneneinsatz abgesegnet und so dem US-Staatsbürger das verfassungsmäßige Recht auf eine Grand Jury vorenthalten haben. Drohnen unterscheiden überdies nicht zwischen Bürgern und Nichtbürgern jener demokratischen Supermacht und sind deshalb nicht als rassistische Kampfinstrumente zu bezeichnen.

Die US-Regierung unter Präsident George W. Bush hat mit Zustimmung der beiden Kongress-Häuser die meisten Grundrechte suspendiert (USA Patriot Act), Foltereinrichtungen geschaffen (u.a. Guantanamo) und die außerrechtliche gezielte Tötung von Personen für rechtens erklärt, weil der Staat sich im Krieg befinde. Das ist seit jenem 11. September vor zwölf Jahren fraglich; denn Krieg führen laut Definition Staaten gegen Staaten, aber nicht Präsidenten oder Regierungen gegen kriminelle Banden. Die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder folgte der Bush-Regierung in uneingeschränkter Solidarität, und uneingeschränkt solidarisch beteiligte und beteiligt sich die Bundesrepublik an deren Kriegen, mit der rühmlichen Ausnahme Irak und den Einschränkungen im Fall Libyen. Über eine Grundsatzentscheidung ist noch zu reden.

Über die Anschaffung von Kampfdrohnen – noch solcher, die vom elektronisch erteilten Befehl eines Schichtdienst leistenden Soldaten in einem weit entfernten Kommandostand abhängen – soll der Bundestag nun nicht mehr vor der Neuwahl im September beschließen. Diese Entscheidung und manche andere, welche Grundsatzfragen von Krieg und Frieden betreffen, wird dem nächsten Bundestag und dem nächsten Haupt der Regierung – Kanzlerin oder Kanzler – überlassen. Weil es aber um Grundsätzliches geht, über das dem Geist des Grundgesetzes gemäß und dem Sinn einer demokratischen Ordnung entsprechend jeder Abgeordnete gemäß seinem Gewissen befinden muss, ist eine gründliche öffentliche Debatte darüber dringend erforderlich:

  • Kandidat, befürwortest du anonyme Tötungsmaschinen wie Kampfdrohnen o.ä., oder lehnst du sie ab?
  • Kandidat, folgst du bei Abstimmungen über Krieg und Frieden deinem Gewissen oder dem nachrangigen Gebot des Fraktionszwangs?

Die zweite Frage ist von einem früheren Bundestag unter einer rot-grünen Bundesregierung beantwortet worden. Am 16. November 2001 hat die absolute Mehrheit der Abgeordneten für den Kriegseinsatz in Afghanistan gestimmt. Die liberale und christdemokratische Opposition hätte dem SPD-Kanzler eine überwältigende Mehrheit verschaffen können – bei Freigabe der Abstimmung. Doch Gerhard Schröder (SPD) stellte die Vertrauensfrage. Abgeordnete aus dem bürgerlichen Lager, die grundsätzlich von der Notwendigkeit militärischer Beteiligung der Bundesrepublik ebenso überzeugt waren wie der Kanzler, waren gleichwohl gehalten, gegen ihn zu stimmen – weil die Vertrauensfrage Teil des Machtkampfes zwischen Regierung und Opposition ist. Diejenigen, die aus ebenso gut nachvollziehbaren Gründen dieses Mandat nicht wollten, waren aus denselben Gründen gehalten, dem Kanzler das Vertrauen auszusprechen. Alle stimmten nicht über Krieg und Frieden ab, sondern über das Rechtsgut »Schröder bleibt Kanzler«.

Alle Staatsgewalt aber geht vom Volke aus. Bei der kommenden Wahl ist genau zu prüfen, welcher Kandidat dazu steht.

Dr. Karl Grobe-Hagel war von 1968 bis 2002 außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau und ist heute freier Autor.

Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)

Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)

von Christoph Weller

Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung gestartet

Nachfolgerin der AFK-Friedensschriften ist seit 2012 die »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« (ZeFKo), herausgegeben im Auftrag des Vorstands der AFK von Thorsten Bonacker (Marburg), Tanja Brühl (Frankfurt a.M.) und Christoph Weller (Augsburg). Heft 2/2012 der ZeFKo erscheint Mitte Dezember, doch bereits jetzt ist das Inhaltsverzeichnis über die AFK-Homepage (afk-web.de) einsehbar. AFK-Mitglieder erhalten die ZeFKo kostenlos im Rahmen ihrer Mitgliedschaft, über weitere Bezugsmöglichkeiten informiert der Nomos-Verlag (zefko.nomos.de).

Die ZeFKo ist ein Kommunikationsforum für die Auseinandersetzung um begriffliche, theoretische, methodische und konzeptionelle Fragen der Forschung zu Gewalt, Konflikt und Frieden und regt dabei insbesondere auch die interdisziplinären Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung an. Hierin einbezogen sind Fächer wie Ethnologie, Geographie, Geschichtswissenschaft, Kultur- und Literaturwissenschaften, Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Theologie, aber auch die Naturwissenschaften.

Die halbjährlich mit ca. 160 Seiten erscheinende Zeitschrift ist ein »reviewed journal«. Die bei der ZeFKo eingereichten Aufsatzmanuskripte und Literaturberichte werden einem doppelt anonymisierten Begutachtungsverfahren unterzogen und müssen deshalb in einer anonymisierten und einer nicht-anonymisierten Version bei der ZeFKo-Redaktion eingereicht werden. Sie dürfen nicht bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden sein oder gleichzeitig zur Publikation an anderer Stelle angeboten werden.

Die Rubrik »Forum« der ZeFKo ist offen für Debattenbeiträge und Repliken auf andere (ZeFKo-) Veröffentlichungen, aber auch für andere Texte, die über aktuelle Entwicklungen in der Friedens- und Konfliktforschung informieren, etwa Sammelrezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen, Hinweise auf Forschungsprogramme, Calls for Papers oder auch thematisch fokussierte Tagungsberichte. Forums-Beiträge unterliegen keinem externen Begutachtungsverfahren, müssen aber spätestens vier Monate vor Erscheinen des nächsten Hefts bei der ZeFKo-Redaktion eingereicht werden (jeweils 15.1. bzw. 15.7.). Aufsatzmanuskripte und Literaturberichte (max. 10.000 Wörter inkl. Literaturangaben und Fußnoten) können jederzeit bei der Redaktion der »Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung« eingereicht werden.

Neue AFK-Geschäfsführung

Vorstand und Mitglieder der AFK freuen sich, dass die AFK-Geschäftsstelle in Augsburg zum 15. September 2012 wieder besetzt werden konnte. Neue Geschäftsführerin ist Lisa Katharina Bogerts. Sie hat an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg studiert und vor kurzem ihre Masterprüfung in Internationalen Studien/Friedens- und Konfliktforschung erfolgreich abgeschlossen. Zuvor studierte sie Politik- und Kommunikationswissenschaft (BA) an der Technischen Universität Dresden. Während ihres Studiums war Lisa Bogerts als studentische Hilfskraft am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« in Frankfurt a.M. tätig und absolvierte Praktika in verschiedenen Institutionen und Ländern; so u.a. bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kolumbien und Äthiopien (Afrikanische Union), in der Deutschen Botschaft Panama, im Deutschen Bundestag und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Christoph Weller, Vorstandsvorsitzender AFK