Raketenabwehr – Ein Spielstein für das US Space Command

Raketenabwehr – Ein Spielstein für das US Space Command

von Regina Hagen

„Dem Weltraum kommt inzwischen eine viel grundlegendere und wesentlichere Rolle zu, als lediglich die Schlagkraft der Streitkräfte zu verstärken. Weltraum ist eine Voraussetzung. Er ist kein Luxus mehr, sondern eine Voraussetzung, um militärische Operationen durchführen zu können. Es hat sich gezeigt, dass der Weltraum für unsere nationalen Interessen von elementarem Interesse ist.“1 So die Direktion für Öffentlichkeitsarbeit im Hauptquartier des US-Weltraumkommandos im Juli 2000. Dieses Weltraumkommando der USA ist keine Fiktion, sondern unter dem Namen »US Space Command« seit 15 Jahren Wirklichkeit.
Am 1. September 1982 hat auf der Peterson Air Base in Colorado Springs das neue militärische Oberkommando für »Weltraum-Aktivitäten« SPACECOM seine Arbeit aufgenommen. „Es koordiniert die Weltraumaktivitäten der Air Force, die dort auch ihr Luftwaffenkommando NORAD unterhält. Derzeitige Aufgabe des SPACECOM sind die Katalogisierung und Überwachung von mittlerweile mehr als 5000 Satelliten(resten), der Schutz vor Kollisionen von US-Raumflugkörpern mit diesen 5000 Objekten und die Entwicklung von Anti-Satelliten-Waffen.“2 Als Streitkräfte-übergreifende Dachorganisation für das Air Force Space Command, das 1983 gegründete Naval Space Command der Marine und das 1984 installierte Army Space Command der Armee nahm das »United States Space Command« 1985 die Arbeit auf. Seinen Hauptsitz hat es ebenfalls auf der Peterson Air Force Base in Colorado.

In einer Pressemeldung zum 15. Geburtstag der Einheit wird die Aufgabe des US Space Command unzweideutig beschrieben: „Es sollte die Kontrolle über alle Weltraumeinrichtungen des Verteidigungsministeriums übernehmen und als Forum für die Entwicklung neuer Konzepte der Weltraumkriegsführung dienen.“3

Neu war die Idee nicht. Seit 1945, als der erste ballistische Raketentyp, Wernher von Brauns V2, und der Marschflugkörper V1 Angst und Schrecken in London, Amsterdam, Paris und Antwerpen auslösten, feilten Militärs und Ingenieure in den USA an militärischen Weltraumplänen. Spätestens als die Sowjetunion 1957 mit Sputnik-I den ersten Satelliten startete und auch in der Folge im Wettrennen um den Weltraum häufig die Nase vorn hatte, stand für das Verteidigungsministerium der Wert des Weltraums für militärische Zwecke nicht mehr in Frage.4 So wurde zunächst auch das komplette Weltraumprogramm der USA der militärischen Advanced Research Projects Agency (ARPA) übertragen, bevor 1958 mit der NASA (National Aeronautics and Space Administration) ein ziviles Pendant aufgebaut wurde.1961 übernahm die Luftwaffe die Endverantwortung für alle Weltraumentwicklungen von Armee, Marine und Luftwaffe5; in den 70er Jahren war die Einheit für Beschaffung und Operationsplanung zuständig. In rascher Folge machten sich die Militärs die neue Satellitentechnologie zu Nutze:6 Kommunikation (Command, Control, Communication, Information = C3I), Wettervorhersage, Navigation, Geodäsie, Fernerkundung, Aufklärung und Spionage wurden nun auch aus dem Weltraum betrieben und für die (konventionelle) Kriegsführung immer wichtiger. Im Golfkrieg von 1991 wie im Jugoslawienkrieg von 1999 spielten Weltraumkomponenten eine Schlüsselrolle – ohne sie wäre der (für die US-Soldaten) »sichere« Luftkrieg über Serbien nicht möglich gewesen.7

Bis heute ist das US Space Command für die Beobachtung und Katalogisierung von Weltraumobjekten zuständig. Mit dem Space Surveillance Network werden sämtliche Objekte in der Erdumlaufbahn aufgespürt, identifiziert, verfolgt und katalogisiert, die größer als 10 cm sind. Nur der kleinste Teil der inzwischen 10.000 Objekte sind funktionsfähige Satelliten; im Wesentlichen handelt es sich um so genannten Weltraumschrott: ausgediente Satelliten und Raketenoberstufen, Trümmer von Explosionen, von Astronauten verlorenes Werkzeug, usw. Die Daten dieses Netzwerks werden beispielsweise genutzt um einer Kollision von Satelliten oder Weltraumstationen mit größeren Schrotteilen durch Ausweichmanöver vorzubeugen.

Diese Aufgabe erfüllt das Militär aber nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus Eigennutz. „Als erster Schritt für die Weltraumkontrolle muss genau identifiziert werden, was sich im Erdorbit befindet, wem es gehört, und wozu es dient.“8 Die vom Space Control Center in den Cheyenne Mountains (Colorado) betreuten optischen Sensoren und Radars werden z.B. ergänzt durch die Infrarotsatelliten des Defense Support Program (DSP) für die Frühwarnung vor ballistischen Raketen. Raketenfrühwarnung ist für das US Space Command allerdings nur ein Element eines weitreichenden, teils bereits existenten, teils in Entwicklung oder Planung befindlichen Programms zur Raketenabwehr, so wie Weltraumkontrolle eine Voraussetzung für die Erreichung des eigentlichen Ziels ist: Dominanz im Weltraum zu bewahren.

Raketenabwehr – Türöffner für das US Space Command

Wie fügt sich Raketenabwehr in das Gesamtkonzept des US Space Command? Und was verstehen die Strategen des Weltraumkommandos überhaupt unter Raketenabwehr?

Fakt: Für die Weltraumkrieger beschränkt sich Raketenabwehr nicht auf die regionale oder nationale Dimension. Sie fassen unter diesen Begriff das ganze Spektrum von den Patriot- (PAC-3) und Aegis-Systemen zur Punktverteidigung über die nationale Raketenabwehr (NMD) bis hin zu luft- und weltraumgestützten Kampflasern für den globalen Einsatz.

These: Das US-Weltraumkommando nutzt die Debatte über NMD, um Akzeptanz für seine sehr viel umfassenderen Pläne zu finden.

Die 1997 veröffentlichte Vision des US Space Command für das Jahr 2020 definiert als Ziele des militärischen Handelns die dauerhafte Dominanz des »Mediums Weltraum« und die Einbindung von Weltraumstreitkräften in sämtliche militärischen Operationen. Als »konzeptuelles Rahmenwerk« (conceptual framework) für die Transformation der Vision in militärische Fähigkeiten wurden vier so genannte Konzepte definiert: Kontrolle des Weltraums (Control of Space), Globales Engagement (Global Engagement), Integration sämtlicher Teilstreitkräfte (Full Force Integration) und Globale Partnerschaften (Global Partnerships).9Im 1998 verabschiedeten Long Range Plan des US Space Command10 werden diese operationellen Konzepte präzisiert. Auf der Basis des Istzustandes werden für jedes Konzept der angestrebte Endzustand und die Schlüsselziele definiert. Den einzelnen Schlüsselzielen wiederum werden auf einer von 1998 bis 2020 reichenden Zeitschiene je nach Thema Schlüsselfähigkeiten, in Frage kommende Systeme und Technologien, Partnerschafts- und politische Fragen, Aufgaben- und Aktionspläne sowie Empfehlungen zugeordnet.Raketenabwehr gehört in diesem Rahmenwerk zum Konzept »Globales Engagement« mit den Schlüsselzielen Integrierte fokussierte Überwachung (Integrated Focused Surveillance)11, Raketenabwehr (Missile Defense) und Gewaltanwendung (Force Application).12

„Raketenabwehr schützt vor ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, die die Streitkräfte und die vitalen Interessen der USA und unserer Verbündeten gefährden. Diese Aufgabe wird um so schwieriger, da Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen mit immer größerer Reichweite und Letalität zur Verfügung stehen. Besonders die Abwehr der weltweiten Bedrohung durch niedrig fliegende Marschflugkörper ist eine große Herausforderung. Wenn wir aber wirksame Systeme ins Spiel bringen und mit Gefechtsfeldfähigkeiten kombinieren können, werden wir auch in die Lage versetzt, andere hochwertige Ziele in der Luft abzuwehren, beispielsweise Flugzeuge und Drohnen. Raketenabwehr muss (…) sich nahtlos in die Gefechtsfeldsysteme sämtlicher Befehlshaber und Entscheidungsträger integrieren.“13

Für das Jahr 2020 wird der globale Schutz vor Raketenangriffen mit Reaktionszeiten von wenigen Minuten angestrebt: PAC-3- und Aegis-Systeme zur Punktverteidigung; landgestützte Abfangraketen und Laser aus dem NMD-Programm zum Schutz von Nordamerika; land- und luftgestützte Gefechtsfeldsysteme wie THAAD, Abwehrsysteme für obere und untere Schichten (upper and lower tier) und der luftgestützte (d.h. in einer Boeing-Maschine stationierte) Kampflaser (Air-Borne Laser, ABL) für die Flächenverteidigung; eine im Weltraum stationierte Kampfplattform (Space-Based Platform) und ein Raumfahrzeug für weltweite operative Einsätze (Space Operations Vehicle)14 mit Zeitverzug; und als krönender Abschluss, der die minutenschnelle globale Reaktion ermöglichen soll, ein weltraumgestütztes System von Kampflasern und Hochleistungs-Mikrowellenwaffen.15

Diese im Kapitel »Raketenabwehr« abgehandelten Waffensysteme würden abgerundet durch existierende oder neue Weltraum- und Bodensegmente: Satelliten aus dem Defense Support Program, in niedrigen und hohen Umlaufbahnen stationierte Infrarotsysteme (Space-Based Infrared System, SBIRS Low and High), militärische und kommerzielle optoelektronische Aufklärungssatelliten, land- und weltraumgestützte Frühwarn- und X-Band-Radarsysteme, nicht zu vergessen die C3I-Systeme (USSPACECOM Battle Manager, Global Defense Information Network).

Das US-Weltraumkommando berücksichtigt in seiner Planung auch Aktivitäten zur Vorbereitung des politischen Umfeldes, das für ein derartiges System zu schaffen wäre. „Und schließlich müssen die (politischen) Führer vermutlich die nationale Politik bezüglich weltraumgestützter Waffen überarbeiten, vor allem hinsichtlich des ABM-Vertrags. Die politische Lage nach dem Kalten Krieg erschwert das, wenn aber die Vorteile gemeinsamen Vorgehens und einer kollektiven Sicherheit hervorgehoben werden, sollte es möglich sein, allmählich Unterstützung für dieses Vorhaben aufzubauen. (…) Empfehlung: Mit den entsprechenden Regierungsorganisationen den Dialog über die Weltraumpolitik aufnehmen.“16 Sogar die Anpassung völkerrechtlicher Vereinbarungen, die den Schutz des Heimatlandes, der Alliierten und nicht näher bezeichneter vitaler Interessen mit Hilfe von Weltraumkriegsführung zulassen, ist in einer Liste offener Punkte berücksichtigt.17

Von der Raketenabwehr zur Kontrolle des Weltraums

„Wer den Weltraum beherrscht, beherrscht die Erde“, überschrieb Jürgen Scheffran 1984 einen Artikel in Wissenschaft & Frieden.18 Diesem Satz würde das US-Weltraumkommando zweifellos ohne Bedenken zustimmen. „Um Kriege zu gewinnen, muss das US-Militär zuerst die Luftkontrolle gewinnen, damit seine Truppen ohne Angst vor einem Angriff durch feindliche Luftstreitkräfte kämpfen können. Gleichzeitig wollen die Vereinigten Staaten keinem Gegner gegenüberstehen, der den Weltraum dominiert.

Um den »Feldherrenhügel« Weltraum zu erhalten, verbessert die Kontrolle des Weltraums durch das Weltraumkommando der Luftwaffe einerseits die Überlebensfähigkeit der Weltraumsysteme des Verteidigungsministeriums; andererseits wird den Gegnern das Recht verwehrt, aus dem Weltraum zu operieren und Informationen zu sammeln.“19

Dieses Zitat ist kein Ausrutscher wildgewordener Public Relations-Offiziere, wie ein hoher Repräsentant des US Space Command bei einer Tagung in Darmstadt im März 1999 abzuwiegeln versuchte. Fast sämtliche Dokumente aus dem Umfeld des Weltraumkommandos sprechen die gleiche Sprache: „Im Rahmen der Kontrolle des Weltraums ermöglicht die Überwachung des Weltraums es den Vereinigten Staaten, den »Feldherrenhügel im Weltraum« zu halten und zu dominieren. (…) Die Kontrolle des Weltraums führt zur Überlegenheit im Weltraum und garantiert damit die sichere und freie Nutzung des Weltraums durch unsere Streitkräfte sowie durch die Streitkräfte unserer Verbündeten. (…) Die Kontrolle von Luft- und Weltraum ist entscheidend, da sie die US-Streitkräfte vor Angriffen schützt und gleichzeitig die Möglichkeit zum Angriff offen hält (freedom from attack and freedom to attack). (…) Wir können es nicht zulassen, dass der Weltraum von unseren Feinden kontrolliert wird.“20

Die verkürzte Botschaft der Broschüre »Vision for 2020« des US Space Command lautet: „US-Weltraumkommando – Dominiert zum Schutz US-nationaler Interessen und Investitionen bei militärischen Operationen die Weltraumdimension. Integriert die Weltraumstreitkräfte in die Kampffähigkeit über das komplette Konfliktspektrum.“21 Die Autoren ziehen eine Parallele von der Entwicklung der Kavallerie zum Schutz von Siedlungen und Eisenbahnen im ehemals Wilden Westen und dem Aufkommen der Marine zum Schutz der Handelsschifffahrt hin zur Etablierung einer Weltraumstreitkraft „zum Schutz militärischer und kommerzieller nationaler Interessen und Investitionen im Medium Weltraum, die immer mehr an Bedeutung gewinnen.“22

Kontrolle des Weltraums wird folgerichtig definiert als „die Fähigkeit, den Zugang zum Weltraum zu gewährleisten, die Operationsfreiheit im Medium Weltraum sicherzustellen, und die Fähigkeit, anderen bei Bedarf die Nutzung des Weltraums zu verwehren. (…) Globales Engagement ist die Anwendung – präzise Gewaltanwendung – aus, in und durch den Weltraum.“23

Um die technischen Voraussetzungen für dieses »globale Engagement« zu schaffen, hält das US-Weltraumkommando die Entwicklung einiger Schlüsseltechnologien für dringend erforderlich: Anti-Satellitenwaffen (wozu auch konventionelle Waffen gezählt werden, die sich zur Zerstörung von Startvorrichtungen oder Bodeneinrichtungen eignen), weiterentwickelte Navigationssatelliten, militärische Raumfahrzeuge, optimierte Trägerraketen, Weltraumstationen und die so genannten „»Launch on Demand«, womit die Fähigkeit gemeint ist, Trägerraketen und bemannte Raumfahrzeuge innerhalb von Stunden zu starten. Heute bedarf es für einen solchen Start monate- und jahrelanger Vorbereitungen.“24

Inzwischen ist die Haltung der Militärs auch durch die offizielle Regierungspolitik der Vereinigten Staaten abgesegnet. Am 9. Juli 1999 veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium die Direktive 3100.10 zur Weltraumpolitik.25 Darin wird postuliert: „Der Weltraum ist ein Medium wie Land, Wasser und Luft, in dem in Zukunft militärische Aktivitäten zur Erlangung US-nationaler Sicherheitsziele durchgeführt werden.“ Weltraumaktivitäten seien für die Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen kritisch, Bewegungsfreiheit für die USA eine Priorität und Weltraumsysteme im Besitz der USA (oder US-amerikanischer Unternehmen) würden als nationales Eigentum betrachtet, das es zu schützen gelte. Jegliche Beeinträchtigung von US-Weltraumsystemen wird als Verletzung der nationalen Souveränitätsrechte angesehen und führt zu „sämtlichen für angemessen erachteten Selbstverteidigungsmaßnahmen“ einschließlich der Gewaltanwendung. Die USA behalten sich ausdrücklich das Recht vor, auch Weltraumsysteme und -dienste von Gegnern auszuschalten, wenn diese für „feindliche Zwecke“ eingesetzt werden.26

Die Direktive des US-Verteidigungsministeriums beschäftigt sich auch mit der Frage, welche Systeme die USA für ihre kriegerischen Weltraumaktivitäten einsetzen wollen, und kommt zum Schluss, dass „Weltraumarchitekturen so strukturiert sein sollen, dass sie je nach Bedarf in vollem Umfang Nutzen aus den weltraumbasierten Fähigkeiten von Verteidigung und Aufklärung sowie von zivilen, kommerziellen, alliierten und befreundeten Systembetreibern Nutzen ziehen können.“

Ausweitung des Aufgabenspektrums

In neuer Zeit wurde das Aufgabenspektrum des US Space Command um eine neue Mission erweitert. Schon länger wird die Informationsüberlegenheit vom US-Militär als ein Schlüsselbereich betrachtet. Folgerichtig übernahm das Weltraumkommando mit einer Einheit in Arlington, Virginia, zum 1. Oktober 1999 die Verantwortung für die „Verteidigung aller Computernetze und systeme des Verteidigungsministeriums. Es überwacht (…) Cyberangriffe und potenzielle Bedrohungen und koordiniert Aktionen, um Schäden zu stoppen oder einzudämmen und den Netzwerkbetrieb wieder herzustellen.“27

Der Oberbefehlshaber des US-Weltraumkommandos, General Richard B. Myers, findet diese Entwicklung logisch: „Das US-Weltraumkommando verfügt über den einheitlichen, globalen und operationellen Fokus für die Mission Computernetzwerk-Verteidigung (Computer Network Defense, CND). Bei dieser neuen Aufgabenstellung profitieren wir davon, dass Weltraum- und Informationsoperationen viele Ähnlichkeiten aufweisen.“28

Zum 1. Oktober 2000 kam der offensive Aufgabenbereich Computernetzwerk-Angriff (Computer Network Attack, CNA) dazu. „Innerhalb des Verteidigungsministeriums wurde dem US-Weltraumkommando die militärische Zuständigkeit für die Verteidigung der Netzwerke des Verteidigungsministeriums zugewiesen. Im Rahmen des Rechts für kriegerische Konflikte übernimmt es außerdem die Aufgabe, einem Gegner die Fähigkeit zu verwehren, Computernetze für die Durchführung militärischer Operationen zu nutzen.

Angriffe auf die Computernetze eines Gegners können auch ein Mittel zur Verteidigung unserer eigenen Computernetze vor größeren Cyberangriffen sein, die gegen unsere eigenen Systeme gerichtet sind. (…) Wie bei allen anderen militärischen Fähigkeiten, werden die Vereinigten Staaten Computernetzwerk-Angriffen nur nach sorgfältiger politischer und rechtlicher Prüfung einsetzen.“29

Mischen wir uns ein!

Abgesehen von allen offensichtlichen Implikationen, die die militärischen Weltraumpläne der USA mit sich bringen, sollten Friedens- und Konfliktforscher und Völkerrechtler jedenfalls der Frage besondere Aufmerksamkeit widmen, welche Konsequenzen die Inanspruchnahme des Weltraums als »vierte Dimension« für das internationale Sicherheitsregime hat. Das Völkerrecht kennt keine »Hoheitsgebiete« im Weltraum. Der 1967 abgeschlossene Weltraumvertrag sieht ausdrücklich das Recht aller Nationen vor, den Weltraum ungehindert für ausschließlich friedliche Zwecke zu nutzen und an der Weltraumnutzung selbst dann zu partizipieren, wenn sie selbst keine Weltraummissionen durchführen. Auch im Weltraum ist nicht Konfrontation angesagt, sondern Kooperation. Für Friedensgruppen, Friedensforscher und Völkerrechtler ergibt sich hier ein weites Feld für Diskussion und Aufklärung.

@ANM.-TEXT UMB = „Viele der Systeme und Konzepte für Raketenabwehr könnten auch Relevanz für die Gewaltanwendung haben. Dieses Konzept sieht vor, dass wir orts- und zeitunabhängig eine Reihe riskanter Ziele praktisch sofort von weltraumgestützten Einrichtungen ins Visier nehmen können. (…) Für die Fähigkeit zur Gewaltanwendung aus dem Weltraum können sowohl Orbitalsysteme als auch landgestützte Systeme zum Einsatz kommen.“ Ausdrücklich betont wird, dass damit Ziele außerhalb des Raketenabwehrspektrums gemeint sind. Den Verfassern des Long Range Plans ist durchaus bewusst, dass sie damit ein politisch heikles Thema ansprechen. In einem farblich abgesetzten Kasten betonen sie: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Vorstellung von Waffen im Weltraum nicht von den nationalen politischen Richtlinien der USA abgedeckt. Dieser Plan hat daher den Zweck, für diese Möglichkeit Pläne zu erarbeiten, falls die zivile Führung zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet, dass Gewaltanwendung aus dem Weltraum in unserem nationalen Interesse liegt.“ (LRP, S. 65)

Anmerkungen

1) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: Future War: JWID 2000 Features Space and Information – The Warfighters Edge, News Release No. 09-00 vom 10. Juli 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel0900-jwid.htm. Übersetzung dieses und der folgenden Zitate aus dem Englischen durch die Autorin.

2) Dieter Engels, Jürgen Scheffran, Ekkehard Sieker: Die Front im All – SDI: Weltraumrüstung und atomarer Erstschlag, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, 3. Auflage, 1986, S. 54.

3) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: Command Marks 15th Anniversary, News Release No. 14-00 vom 21. September 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel1400-anniversary.htm.

4) Die Sowjetunion allerdings stellte nicht die militärische Nutzung des Weltraums in den Vordergrund, sondern schlug ein vollständiges Verbot jeglicher Rüstung im Weltraum vor, was von den USA abgelehnt wurde. Als Kompromiss wurde 1967 der Weltraumvertrag (Outer Space Treaty) verabschiedet, der immerhin die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im Weltraum untersagt und dazu auffordert, den Weltraum ausschließlich zu friedlichen Zwecken und zum Wohle der ganzen Menschheit zu nutzen.

5) US Department of Defense: Development of Space Systems, DoD Directive No. 5160.32, 1961.

6) Zu den militärischen Weltraumaktivitäten gehört selbstverständlich auch die Entwicklung von ballistischen Raketen und Konzepten der nuklearen Kriegsführung, die in diesem Artikel nicht angesprochen werden. Zur Entwicklung der militärischen Weltraumfahrt siehe auch Regina Hagen, (UN-) Peaceful Use of Space, Referat für die 13. Generalversammlung der International Association of Peace Messenger Cities in O_wiêcim/Polen am 1. September 2000; http:/www.space4peace.org.

7) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Supports Kosovo Operation, 24. März 1999; http://www.spacecom.af.mil/usspace/news6-99.htm.

8) U.S. Government Printing Office: United States Space Command, 1997, S. 8.

9) United States Space Command: Vision for 2020, Peterson Air Force Base, Colorado, 1997

10) US Space Command: Long Range Plan. Implementing USSPACECOM Vision for 2020 (LRP), Peterson Air Force Base, Colorado, März 1998; http://www.spacecom.af.mil/usspace/LRP/cover.htm.

11) „Integrierte fokussierte Überwachung“ ist „die bedarfsgerechte, anhaltende Überwachung besonders interessanter Ziele – um alle Kommandeure bei der Raketenabwehr und der Gewaltanwendung zu unterstützen. Zu den Zielen von besonderem Interesse (…) werden vermutlich stationäre, mobile, unterirdische und verlegbare Ziele sowie ballistische Raketen und Marschflugkörper gehören. (…) Die Notwendigkeit der globalen Überwachung (jederzeit, an jedem Ort) führt zu weltraumgestützten Lösungen, die keinen politischen oder geographischen Einschränkungen unterliegen.“ (LRP, S. 52)

12) B = „Viele der Systeme und Konzepte für Raketenabwehr könnten auch Relevanz für die Gewaltanwendung haben. Dieses Konzept sieht vor, dass wir orts- und zeitunabhängig eine Reihe riskanter Ziele praktisch sofort von weltraumgestützten Einrichtungen ins Visier nehmen können. (…) Für die Fähigkeit zur Gewaltanwendung aus dem Weltraum können sowohl Orbitalsysteme als auch landgestützte Systeme zum Einsatz kommen.“ Ausdrücklich betont wird, dass damit Ziele außerhalb des Raketenabwehrspektrums gemeint sind. Den Verfassern des Long Range Plans ist durchaus bewusst, dass sie damit ein politisch heikles Thema ansprechen. In einem farblich abgesetzten Kasten betonen sie: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird die Vorstellung von Waffen im Weltraum nicht von den nationalen politischen Richtlinien der USA abgedeckt. Dieser Plan hat daher den Zweck, für diese Möglichkeit Pläne zu erarbeiten, falls die zivile Führung zu einem späteren Zeitpunkt entscheidet, dass Gewaltanwendung aus dem Weltraum in unserem nationalen Interesse liegt.“ (LRP, S. 65)

13) LRP, S. 59.

14) Dahinter steckt der offiziell als Nachfolgemodell des Space Shuttle konzipierte X33.

15) LRP, S. 60-63.

16) LPR, S. 63-64.

17) Kapitel 11, Out of Our Lane. Policies, Treaties and Agreements, LRP, S. 137ff.

18) Wissenschaft & Frieden 2/1984.

19) Internal Information Division, Headquarters Air Force Space Command Office of Public Affairs: Guardians of the High Frontier, Sonderausgabe der Zeitschrift Guardian, Peterson AFB, Colorado, o.J., S. 17.

20) Skript zu einem Folienvortrag des 21st Space Wing der Peterson Air Force Base in Colorado Springs, Colorado/USA; o.J.; verwendet von einer Öffentlichkeitsreferentin der Air Force bei einem Vortrag am 9. April 1998.

21) US Space Command: Vision for 2020, Peterson Air Force Base, 2. Auflage, August 1997

22) ibid.

23) ibid.

24) Frank Sietzen, Jr.: Wargames: Air Force Space Command's Battle Plans, Artikel für SPACE.com, 3. Oktober 2000; http://www.space.com/businesstechnology/technology/space_battellabs_001 003.html.

25) Department of Defense: Directive Number 3100.10, Space Policy, 9. Juli 1999; http://web7.whs.osd.mil/pdf.d310010p.pdf. In dieser Datei ist dem Text der Direktive ein Memorandum des US-Verteidigungsministeriums zu dem Dokument vorangestellt.

26) Das könnte folglich die Ausschaltung von Kommunikationssatelliten eines Gegners einschließen, da Kommando, Kontrolle und Kommunikation in aller Regel auf weltraumgestützten Systemen basiert. Theoretisch könnten davon selbst kommerzielle Satelliten eines Drittstaates betroffen sein, die von einem Gegner für die Kommunikation genutzt werden.

27) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Takes Charge of DoD Computer Network Defenses, News Release No. 19-99 vom 1.Oktober 1999; http://www.spacecom.af.mil/usspace/new19-99.htm.

28) Ibid.

29) Directorate of Public Affairs, Headquarters, U.S. Space Command: U.S. Space Command Takes Charge of Computer Network Attack, News Release No. 15-00 vom 29.September 2000; http://www.spacecom.af.mil/usspace/rel15-00.htm.

Regina Hagen ist technische Übersetzerin. Sie ist Mitglied im Darmstädter Friedensforum und im Vorstand des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space.

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA

Plädoyer für ein europäisches »DiplomatieZuerst!«-Konzept

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Memorandum

Am 16. November 2000 haben auf Einladung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Persönlichkeiten aus der Friedensforschung die Raketenabwehrpläne der USA diskutiert und ein Memorandum »Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!-Konzept« beschlossen. Zu den Unterzeichnern gehören: Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU Berlin, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK), Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Prof. Dr. Horst Fischer, Bochum, Dr. Bernd W. Kubbig, Projektleiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Wolfgang Liebert, Sprecher der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS), Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Prof. Dr. Harald Müller, Geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Dr. Götz Neuneck, Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS), Dr. Ulrich Ratsch, Stellvertreter des Leiters der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Dr. Jürgen Scheffran, Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS) und Dr. Herbert Wulf, Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC). Das Memorandum hat folgenden Wortlaut:

1. Unser Anliegen – unser Vorschlag im Überblick

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird sich höchst wahrscheinlich bald für den Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) entscheiden. Wir sind besorgt, dass ein solcher Beschluss zu einer neuen Runde des Wettrüstens führt – und damit weltweit nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit schafft. Davon ist auch die Bundesrepublik Deutschland gravierend betroffen. Darum melden wir uns zu Wort.

Mit unserer Besorgnis über die Einführung eines umfangreichen Abwehrsystems stehen wir nicht allein, wie die Reaktionen auf die Pläne der Vereinigten Staaten weltweit zeigen. Auch innerhalb der USA stoßen die Vorhaben auf Kritik. Wir sehen die Gefahr, dass politische Maßnahmen gegenüber militärischen Mitteln mehr und mehr ins Hintertreffen geraten und nicht ausgelotet werden, wenn es darum geht, die Proliferation (Verbreitung) von Massenvernichtungswaffen (Trägersysteme insbesondere mit atomaren, biologischen und chemischen Sprengköpfen) wirksam zu bekämpfen. Bei den militärischen Vorhaben geht es nicht nur um die Pläne zum Aufbau eines Nationalen Verteidigungsgürtels, sondern auch um vorschnell aufgestellte regionale Abwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD). Sie können leicht zu regionalen Rüstungswettläufen führen.

Vor diesem Hintergrund zielt unser »Diplomatie Zuerst!«-Vorschlag darauf ab, der Politik als Mittel zur Lösung insbesondere des Proliferationsproblems wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und ihr den Vorrang einzuräumen. Die »Diplomatie Zuerst!-Initiative« richten wir insbesondere an den deutschen Außenminister und an die Mitglieder der verantwortlichen Parlamentsausschüsse.

Unser Vorschlag hat drei Dimensionen:

  • Erstens fordern wir vor allem die Bundesregierung auf, ihre diplomatischen Anstrengungen gegenüber Washington zu intensivieren. Das Hauptziel gegenüber der neuen US-Administration und dem neuen Kongress muss es sein, ein Nationales Raketenabwehrsystem wegen der absehbaren negativen Folgen zu verhindern. Der nach wie vor wichtige Raketenabwehr-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) muss in seiner jetzigen Substanz erhalten bleiben. Wir befürchten, dass die Schwächung oder gar die einseitige Aufkündigung des ABM-Abkommens durch die Vereinigten Staaten das gesamte Rüstungskontrollgebäude der letzten Jahrzehnte zum Einsturz bringt, insbesondere den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag. Der Prozess der nuklearen Abrüstung wäre nachhaltig gestört und würde möglicherweise zum Erliegen kommen. Washington ist auch in erster Linie angesprochen, wenn es darum geht, eine weitere Militarisierung des Weltraums zu beschränken. Aber auch Moskau und Beijing müssen stärker dazu gebracht werden, dass sie glaubwürdiger als bisher unter Beweis stellen, es ernst mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu meinen.
  • Zweitens drängen wir im Rahmen der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative darauf, durch den Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen eine präventiv angelegte Rüstungskontrolle zu betreiben. Zu denken ist hier zum einen an Maßnahmen der Vertrauensbildung und Risikominderung, wie z.B. die rechtzeitige Meldung von Raketenstarts oder die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Bedeutsam sind zum anderen eine Beschränkung oder gar ein Teststopp von bestimmten ballistischen Raketen sowie ein globales oder regionales Aufstellungsverbot für neue Raketen. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass diese Forderung aus gegenwärtiger Sicht nur schwer zu verwirklichen ist. Dies muss jedoch nicht für erste gezielte Schritte gelten.
  • Drittens fordern wir deshalb die Bundesregierung und den Bundestag auf, auf diesem langen Weg zusammen mit den europäischen Partnern eine »Diplomatie Zuerst!«-Initiative gegenüber einzelnen Problemstaaten zu starten. Länder wie Iran, Irak, Syrien und Libyen liegen in einer graduell nach Süden zu erweiternden »Sphäre europäischer Verantwortung«. Eine solche Initiative dürfte insbesondere gegenüber Iran gute Chancen haben, zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen. Mit Blick auf den EU-Gipfel im Dezember in Nizza empfehlen wir, ein solches Konzept zu einem Kernelement der viel beschworenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu machen.

2. Lagebericht: Stagnierende Abrüstung, bedrohliche Aufrüstung

Zum vielfach erhofften Aufschwung bei der Abrüstung ist es nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gekommen. Die weltweite Verminderung der Rüstungspotenziale hat sich in einigen Bereichen deutlich verlangsamt, in anderen ist sie gar zum Stillstand gekommen. So hat der amerikanische Senat den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) nicht ratifiziert, auch die Umsetzung der Chemiewaffen-Konvention kommt nur schleppend voran. Ein Abkommen zur weiteren Reduktion der strategischen Nukleararsenale in den Vereinigten Staaten und Russland auf rund je 1500 Sprengköpfe (START III) ist derzeit genauso wenig in Sicht wie ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von atomwaffenfähigen Materialien (»Fissile Material Cut-off«) oder die Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen in den Abrüstungsprozess. Die russische Duma hat zwar den START II-Vertrag verabschiedet, seine Umsetzung jedoch an Erhalt und Einhaltung des Raketenabwehr-Vertrages seitens der Vereinigten Staaten gekoppelt. Dieses Abkommen haben die damalige Sowjetunion und die Vereinigten Staaten 1972 abgeschlossen, um ein politisch wie finanziell kostspieliges Wettrüsten zwischen Raketen und Abwehrraketen zu vermeiden.

Zur vielfach paralysierten Abrüstung kommt der deutliche Gegentrend zur Aufrüstung im Kontext der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln hinzu. Die Nukleartests in Indien und Pakistan von 1998 und die Folgeentwicklung zeigen, dass diese zusätzlichen Kernwaffenstaaten im Begriff sind, ihre Potenziale auszubauen. Die Erprobungen der iranischen Shahab-Rakete verdeutlichen beispielhaft, dass einige Dritt-Welt-Länder dabei sind, ein Arsenal von Trägersystemen für Massenvernichtungswaffen zu entwickeln; große Teile der Türkei und andere Nachbarländer des Iran liegen bereits in der Reichweite der iranischen Shahab, die sich noch im Teststadium befindet.

Zum Gegentrend der Aufrüstung gehören auch die amerikanischen Pläne, ein landesweites Raketenabwehrsystem (NMD) aufzustellen. Dies bedeutet das Ende des ABM-Vertrages in seiner bisherigen Substanz und Form. Denn sein zentrales Anliegen ist es, die Stationierung eines solchen Systems und die Vorbereitungen hierfür zu verbieten. Mit dem geplanten NMD-Abwehrschirm soll das gesamte Staatsgebiet der Vereinigten Staaten vor einem begrenzten Raketenangriff geschützt werden – also vor einer Attacke mit einigen wenigen Langstreckenraketen, die entweder versehentlich von russischem Boden aus oder absichtlich von einem der Risikostaaten, wie beispielsweise Nordkorea, abgeschossen werden könnten. Um ihre Aufrüstungspläne zu verwirklichen, hat die Clinton-Administration in den Gesprächen mit Moskau angestrebt, die Vertragsinhalte gravierend zu verändern. Dabei ging vielen Republikanern in beiden Häusern des Kongresses bereits die Gesprächsbereitschaft der Clinton-Regierung zu weit. Sie forderten eine einseitige Aufkündigung des Vertrages, den auch die scheidende US-Administration als »Eckstein strategischer Stabilität« bezeichnet hat.

Die Zukunft des ABM-Vertrages ist nicht nur eine Sache der beiden Vertragsparteien. Seine Aufweichung oder gar sein Bruch werden weltweite Folgen haben, denen sich auch Europa nicht verschließen kann. Ein weiterer Rüstungsschub droht. Denn die amerikanischen Rüstungspläne haben zu heftigen internationalen Reaktionen geführt. Russland und China haben mit dem Ende des feinmaschigen Netzwerks von Rüstungskontrollabkommen und mit der Aufrüstung bei ihren Kernwaffenarsenalen gedroht. Das NMD-Programm, das für die Vereinigten Staaten Sicherheit stiften soll, hat globale Auswirkungen und führte zu einer Belastung der transatlantischen Beziehungen, da die meisten europäischen Staaten das amerikanische Vorhaben weitgehend ablehnen. Nicht nur die absehbaren negativen weltweiten Folgen betreffen die Europäer gravierend. Zumindest Großbritannien und Dänemark werden direkt durch die Pläne für die Umrüstung zweier NMD-Radarstationen in Fylingdales und Thule (Grönland) in das amerikanische Militärprogramm involviert sein. Die meisten europäischen Regierungen fürchten zu Recht, dass die Sicherheit auch auf dem Alten Kontinent stark beeinträchtigt wird.

3. Nach der amerikanischen Wahl: Optionen

US-Präsident Clinton hat am 1. September 2000 bekanntgegeben, dass er seinem Nachfolger die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen Systems überlässt. Clintons Beschluss, nichts zu beschließen, bedeutet aus heutiger Sicht nur eine begrenzte Hinauszögerung der historischen Entscheidung, ein Nationales Abwehrsystem aufzustellen. Denn die beiden Präsidentschaftskandidaten Al Gore und George W. Bush haben sich – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – für den Aufbau eines Abwehrsystems ausgesprochen.

Setzt der Demokrat Gore seine Wahlkampf-Rhetorik um, dann kommt es zu einem eher begrenzten System. Ein US-Präsident Gore würde wie sein Amtsvorgänger versuchen, die notwendigen Veränderungen des ABM-Vertrages möglichst einvernehmlich mit Russland zu erzielen. Macht der republikanische Kandidat George W. Bush seine Wahlkampf-Äußerungen wahr, dann ist mit einem umfassenderen Abwehrsystem zu rechnen. Er will einen mehrschichtigen Gürtel aufbauen und die US-Alliierten einbeziehen; Bush will weniger Rücksicht auf die Sorgen Russlands nehmen. In jedem Falle bleibt die Gefährdung des Raketenabwehr-Vertrages weiterhin real.

Von entscheidender Bedeutung wird die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Kongresses bleiben. Die entschlossenen NMD-Stationierer vor allem im Senat waren in den vergangenen Jahren der Motor der militärischen Abwehrpläne. Diese ideologische Gruppierung von Senatoren ist auch im neuen Kongress unvermindert stark vertreten. Es ist daher zweifelhaft, dass sich die geschrumpften Mehrheiten der Republikaner in Senat und Repräsentantenhaus automatisch auf eine rüstungskontrollpolitisch wünschenswerte Verlangsamung der amerikanischen Raketenabwehrpolitik auswirken. In jedem Falle wird es sich auch der 107. Kongress nicht nehmen lassen, die Politik des neuen Präsidenten und seiner Administration in diesem Bereich maßgeblich mitzubestimmen.

4. Nationale Raketenabwehrsysteme: Wenig wirksam und doch gefährlich

Wie immer das mehr oder minder stark veränderte NMD-Design der neuen Administration und ihr Zeitplan für Weiterentwicklung und Stationierung aussehen werden: Auch diese amerikanische Regierung muss die technischen Probleme, die bereits durch die Tests in der Clinton-Ära ans Tageslicht kamen, bewältigen. Im Falle eines umfassenderen und anspruchsvolleren Systems, das stärker als bisher Weltraumkomponenten einschließt, dürften die technischen Schwierigkeiten noch wachsen. In den USA sind bislang bereits deutlich mehr als 100 Milliarden Dollar für Raketenabwehr ausgegeben worden, seit den SDI-Plänen des Jahres 1983 rund 70 Milliarden. Bis heute wurde kein funktionsfähiges System stationiert. Zur Zeit werden jährlich etwa 4 Milliarden Dollar in Forschung, Entwicklung und Erprobung investiert. Nach Angaben des Congressional Budget Office werden für die NMD-Pläne der Clinton-Administration 60 Milliarden Dollar – ohne Weltraum-Konzepte – bis 2011 benötigt. Trotz der ausgegebenen großen Summen sind die technischen Ergebnisse kläglich. Von den 16 ab 1982 im Weltraum durchgeführten Abfangversuchen waren nur zwei erfolgreich – und das, obwohl sie unter extrem günstigen Versuchsbedingungen stattfanden, die mit der Realität eines möglichen tatsächlichen Raketenangriffs kaum etwas zu tun haben.

Insbesondere das fehlende Vertrauen in die Wirksamkeit der NMD-Technologie veranlasste den Präsidenten, seinen Stationierungsbeschluss zu verschieben. Kein militärischer Planer in den USA würde sich in einem Ernstfall auf einen derartig unzuverlässigen Abwehrschirm verlassen können. Unabhängig davon, wie erfolgreich die unter der neuen Regierung in Washington durchgeführten Versuche sein werden, wird jedes NMD-System mit gravierenden Herausforderungen von anderen Staaten konfrontiert sein. Eine im April 2000 von amerikanischen Wissenschaftlern veröffentlichte Studie zeigt u.a. drei verhältnismäßig einfache Gegenmaßnahmen auf, mit denen sich ein Abwehrsystem »überlisten« und »täuschen« lässt. Dies ist deshalb möglich, weil das Grundproblem, echte feindliche Sprengköpfe von bloßen Attrappen zu unterscheiden, nach wie vor völlig ungelöst ist:

  • Die betreffenden Länder können Bio- und Chemiewaffen, die in vielen kleinen Behältern (»submunition«) im Kopf der Rakete transportiert werden, einsetzen. Gegen diese vielen kleinen Ziele sind sowohl der landesweite Abwehrschirm als auch die regional aufzustellenden Raketenabwehrsysteme (Theater Missile Defense, TMD) machtlos. Ob andere Konzeptionen (etwa zum Abfangen in der Startphase durch seegestützte Waffen) dieses Problem lösen, lässt sich heute noch nicht sagen.
  • Im Innern von metallbeschichteten Ballons lassen sich Kernsprengköpfe unterbringen, die das Abwehrsystem nicht zu erkennen vermag. Diese Gefechtsköpfe können gemeinsam mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden, die die amerikanischen Abfangwaffen auf sich lenken.
  • Wird der Gefechtskopf innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden freigesetzt, lässt sich eine genaue Ortung durch das Radar verhindern.

Bei diesen Gegenmaßnahmen handelt es sich, anders als bei den Abfangtechnologien, nicht um Reißbrett-Phantasien. Länder, die in der Lage sind, Trägersysteme und Gefechtsköpfe zu bauen, können auch derartige technische Gegenmittel verwirklichen. Hinzu kommt – und dies wird in der Diskussion oft übersehen –, dass Regierungen oder terroristische Vereinigungen, die die Vereinigten Staaten erpressen wollen, eine große Bandbreite von Möglichkeiten zur Verfügung hätten, gegen die Raketenabwehrsysteme nichts auszurichten vermögen. Hierzu gehören:

  • Die Stationierung von Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern auf Frachtschiffen oder U-Booten in der Nähe des amerikanischen Territoriums, die mit A-, B- oder C-Sprengköpfen ausgerüstet sind,
  • deponierte Sprengladungen mit Massenvernichtungsmitteln auf Schiffen, die in amerikanischen Häfen zur Explosion gebracht werden können und
  • das Einschmuggeln dieser Waffen auf US-Gebiet.

Mit ihren grundsätzlichen Zweifeln an den NMD-Fähigkeiten und der Effizienz von Gegenmaßnahmen stehen unsere Naturwissenschaftler-Kollegen in den Vereinigten Staaten nicht allein. Auch die öffentlich zugänglichen Bedrohungsanalysen aller amerikanischen Geheimdienste (»National Intelligence Estimates«) weisen neuerdings auf die Bedeutung und die Machbarkeit derartiger Gegenmaßnahmen hin. Darüber hinaus betonen die Geheimdienstberichte die beträchtlichen Möglichkeiten, über die (sub-)staatliche Akteure mit Erpressungsabsichten verfügen.

Trotz der relativ leichten Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gehört es zu den Paradoxien der Militärpolitik, dass in einer Reihe von Ländern die langfristig kalkulierenden Militärplaner und Politiker von Szenarien des »schlimmsten Falles« ausgehen – sie bauen also in ihre Überlegungen ein, dass die Nuklearkapazitäten ihrer Länder, wenn nicht heute oder morgen, so doch übermorgen durch ein NMD-System bedroht sein könnten. Diese Praxis hat aber ein fortschreitendes Offensiv-Defensiv-Wettrüsten zur Folge.

Denn China mit seinem begrenzten strategischen Nukleararsenal von ca. 20 Interkontinentalraketen wird wahrscheinlich die US-Raketenabwehrsysteme zum Anlass nehmen, um sein Atomarsenal auszubauen. Denn, so das Kalkül in Beijing, selbst ein begrenztes Abwehrsystem der USA wird die eigenen Nuklearwaffen entwerten. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen weiteren nuklearen Rüstungswettlauf in Südostasien provozieren. Eine Kettenreaktion von China über Indien und Pakistan, die bis zu Taiwan und Japan reichen könnte, ist zu befürchten.

China dürfte in der amerikanischen Raketenabwehrpolitik die zentrale Rolle spielen, auch wenn es in den offiziellen Begründungen kaum vorkommt. Die Vereinigten Staaten, die das »Reich der Mitte« mit beiden Abwehrvarianten offenbar militärisch eindämmen wollen, versprechen sich von NMD und TMD zusätzliche Handlungsmöglichkeiten, etwa im Konflikt zwischen der Volksrepublik und Taiwan. Wir sind der Auffassung, dass ein solcher erhöhter Aktionsspielraum zweifelhaft ist, denn der Zugewinn an Handlungsspielraum könnte durch die Gefährdung der regionalen Stabilität wieder zunichte gemacht werden.

5. Wesentlich: Der Erhalt des ABM-Vertrages

Wird das NMD-Vorhaben verwirklicht, muss der ABM-Vertrag aufgekündigt oder beträchtlich verändert werden. Er ist seit fast drei Jahrzehnten in Kraft und begrenzt die gegenwärtig erlaubte Raketenabwehr drastisch. Die Vertragspartner Vereinigte Staaten und Russland haben sich verpflichtet, „keine ABM-Systeme zur Verteidigung des Territoriums des eigenen Landes zu stationieren und keine Basis für solch eine Verteidigung vorzusehen.“ Der bilaterale Vertrag hat eine präventive Funktion, da er beide Vertragsparteien laut Artikel V (1) verpflichtet „keine ABM-Systeme oder Bestandteile zu entwickeln, zu erproben oder aufzubauen, die see-, luft- oder weltraumgestützt sind oder als bewegliches System landgestützt sind.“

Der ABM-Vertrag ist auch unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen ein wesentlicher Baustein im komplizierten Geflecht internationaler Abmachungen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung nuklearer Waffen. Er ist daher weiterhin von substanzieller und politisch-symbolischer Bedeutung.

Obwohl der Ost-West-Konflikt beendet ist, besteht das nukleare Abschreckungssystem weiter, und zwar nicht nur im US-russischen Verhältnis, sondern auch im Hinblick auf China. Die Vertragskritiker, die das Abkommen für ein Überbleibsel aus der Zeit des ideologischen Antagonismus halten, übersehen diese Ungleichzeitigkeit. Insbesondere auf der Ebene der operativen Zielplanung haben sich Moskau und Washington (so unzeitgemäß dies ist) einander nach wie vor im Visier.

Selbst unter den stark veränderten internationalen Bedingungen lässt sich das gegenwärtige Abschreckungssystem noch verschlechtern. Eine »Kostprobe« hierfür enthalten die unlängst bekannt gewordenen US-Verhandlungsvorschläge gegenüber Moskau (so gen. Talking Points des amerikanischen Verhandlungsleiters John Holum). Befolgte Moskau die dort enthaltenen Empfehlungen, würde nicht nur der Prozess der Rüstungsverminderung ins Stocken geraten. Denn die Amerikaner legten ihren Verhandlungspartnern ferner nahe, ihre Atomwaffen im Zustand hoher Alarmbereitschaft zu halten. Für eine Krisensituation könnte sich diese Empfehlung als fatal erweisen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Im Gegensatz zu den Gegnern des ABM-Vertrages schließen wir nicht aus, dass Moskau als Reaktion auf ein amerikanisches NMD-System finanzierbare Aufrüstungsmaßnahmen trifft. Das Argument, Russland sei hierzu wegen seiner bekannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage, greift nicht. Denn die Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRVs) ist nicht nur finanziell erschwinglich. Vielmehr ist sie stabilitätspolitisch äußerst problematisch. Sie bedeutet ferner das Ende des START II-Vertrages. Damit wird das in ihm enthaltene MIRV-Verbot für landgestützte Raketen – ein Meilenstein in der Geschichte der Rüstungskontrolle – ausgehebelt.

Fällt der ABM-Vertrag, erhöht sich das Risiko, dass auch andere Abkommen entwertet werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einhegen wollen. Angesprochen ist hier insbesondere der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Die zunehmende Militarisierung der Nonproliferationspolitik der USA signalisiert eine sich verstärkende Abkehr von internationalen Normen. Von besonderer Bedeutung (wenn auch in der Diskussion weitgehend ignoriert) ist in diesem Zusammenhang der Ausbau des Nationalen Abwehrsystems mit dem Ziel, Abfangwaffen im Weltraum zu stationieren. Weltraumgestützte Komponenten können Zielscheiben von Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) werden, die wiederum militärische Gegenmaßnahmen herausfordern. Dies bedeutet ein Wettrüsten auch im Weltraum.

Die Konsequenzen einer Kündigung oder weitgehenden Aufweichung des ABM-Vertrags können als Einstieg in einen kontinuierlichen Aufbau von Raketenabwehrsystemen angesehen werden. Eine stetige quantitative und qualitative Weiterentwicklung ist absehbar. Nach der in den USA bislang geplanten letzten Aufbaustufe für das Jahr 2011 wären im Weltraum stationierte Waffensysteme der nächste Schritt.

Zudem könnten weitere Staaten versucht sein – gewissermaßen noch rechtzeitig – in eigene Nuklearpotenziale zu investieren, denn die beste Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten – oder gar nicht – wirksamen Raketenabwehrsystems der USA ist in der Denkweise nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Neue regionale Rüstungswettläufe können entstehen. Das Nichtverbreitungsregime insgesamt würde in Gefahr geraten.

Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung reagieren würde oder könnte, wäre die schrittweise nukleare Abrüstung bedroht. Russland wird insbesondere aufgrund ökonomischer Gründe zwar gezwungen sein, seine Nukleararsenale weiter zu reduzieren, die untere Grenze der Nukleararsenale wird aber wesentlich bestimmt durch die Bedrohungspotenziale der nuklearen Konkurrenten. Jeder Kernwaffenstaat muss seine Zweitschlagsfähigkeit erhalten, um eine stabile Abschreckung zu gewährleisten. Bei Einführung von umfassender Raketenabwehr wird somit die schrittweise und tiefgreifende nukleare Abrüstung bedroht. Das Ziel der nuklearwaffenfreien Welt rückt in weite Ferne. Ein Prozess der vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung globaler strategischer Stabilität ist weit schwerer, bei der Existenz umfangreicherer Raketenabwehr vielleicht gar nicht organisierbar.

Deshalb plädieren wir entschieden dafür, den ABM-Vertrag in seiner jetzigen Substanz zu erhalten.

6. Das vernachlässigte Problem: Aufrüstung durch regionale Abwehrsysteme

Es wird in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausreichend gesehen, dass es sich beim kontroversen National Missile Defense System nur um eine Variante der Raketenabwehr – und damit um eine Form der Aufrüstung – handelt. Erst ab der Jahreswende 1998/99 betonte die Clinton-Administration den Aufbau eines Nationalen Abwehrsystems. Sie tat dies aufgrund des Drucks von Seiten der Republikaner im Kongress. Er war nach dem Test der nordkoreanischen Rakete am 31. August 1998 beträchtlich angewachsen. Bis dahin hatte der Schwerpunkt der Clinton-Administration auf der zweiten Variante, den regional aufzustellenden Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) gelegen. Sie sind gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen ausgelegt. Beide Varianten können nicht isoliert voneinander gesehen werden.

Auch mit diesen regionalen Abfangraketen sind perspektivisch beträchtliche rüstungskontrollpolitische Probleme verbunden. Sie betreffen einerseits den ABM-Vertrag (und damit das amerikanisch-russische Verhältnis). Andererseits – und diese Gefahr ist einer der blinden Flecken der Debatte – können sie regionale Rüstungswettläufe anheizen, die Europa (und damit die Bundesrepublik) unmittelbar angehen.

Regionale Abfangsysteme (TMD), von denen die Vereinigten Staaten derzeit mehrere entwickeln, verletzen den ABM-Vertrag »im Prinzip« nicht. Denn das Abkommen von 1972 verbietet nur Abwehrwaffen, die sich gegen strategische Trägersysteme mit einer großen Reichweite richten. Allerdings besteht das Manko des Vertrages darin, dass er nicht definiert, was unter »strategisch« zu verstehen ist. In jahrelangen Verhandlungen einigten sich Moskau und Washington im September 1997 auf eine Definition, die die Grauzone teilweise schließt. Beide Seiten legten fest, welche Waffen als strategisch und damit als verboten gelten und welche Systeme als sub-strategisch (taktisch) bezeichnet werden können und damit erlaubt sind (so gen. Demarcation Agreement, das im Übrigen nur die russische Duma ratifiziert hat und das dem US-Senat zur Verabschiedung bisher nicht vorliegt).

Allerdings konnten sich beide Seiten nicht auf die Kategorisierung der so genannten seegestützten Navy Theater Wide-Systeme einigen. Die Russen sehen sie wegen ihrer Reichweite als strategisch und damit als nicht erlaubt an; aus der Sicht der Amerikaner sind diese seegestützten Potenziale als taktisch einzustufen und verstoßen damit nicht gegen den ABM-Vertrag. Ein weiteres Problem kommt hinzu, das der Streit um dieses Theater Wide System der amerikanischen Marine beispielhaft deutlich macht. Die Unterscheidung zwischen taktisch und strategisch verschwimmt – und zwar in dem Ausmaß, in dem die ursprünglich gegen Mittelstreckenraketen einzusetzenden Abfangwaffen im Laufe der Zeit so verbessert werden, dass sie auch strategische Systeme vernichten können. Perspektivisch – und dies ist die auch von China geäußerte Sorge – ließen sich die landesweite NMD-Variante und die regionalen TMD-Varianten zu einem umfassenden System integrieren.

Insgesamt ist es uns wichtig, festzustellen: Die Waffensysteme, auf die sich Washington und Moskau im Demarcation Agreement 1997 geeinigt haben, sind nicht per se die »guten«, weil mit dem ABM-Vertrag vereinbar gemachten Systeme. Denn die Aufstellung von taktischen Abwehrwaffen etwa in Asien, im Nahen Osten, Persischen Golf oder in Europa bedeutet ein weiteres Drehen an diesen regionalen Rüstungsspiralen. Dies gilt es durch Initiativen, die den Primat auf die Diplomatie setzen, zu vermeiden.

7. Notwendig und erfolgversprechend: Eine europäische »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Erste Dimension: Vorschläge zur Rüstungsbeschränkung und -verminderung

Die Europäer sollten die Vereinigten Staaten auf den Erhalt des ABM-Vertrages drängen und auch der neuen US-Administration klar machen, wie wichtig es ist, die europäischen Sicherheitsbelange und die Sorgen Moskaus ernst zu nehmen. Dies heißt auf das NMD-Projekt zu verzichten oder ein System zu entwickeln, das mit dem ABM-Vertrag in seiner jetzigen Form vereinbar ist. Ebenso sollte die Weiterentwicklung luft- und weltraumgestützter Lasersysteme unterbunden werden, um nicht einer weiteren Militarisierung des Weltraums Vorschub zu leisten. Als Basis für entsprechende deutsche und europäische Initiativen bietet sich die 1999 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig angenommene Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum« an.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer destabilisierender Waffentechnologien, der zunehmenden Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften und der beschleunigten Verbreitung militärisch relevanter Technologie erscheint es nötig zu sein, vorbeugende Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Wichtig ist hierbei die Kontrolle besonders gefährlicher Waffensysteme bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Dabei sollte vor dem Beschaffungsprozess, möglichst in der Phase von Forschung und Entwicklung, angesetzt werden. Ein Gesamtkonzept vorbeugender Rüstungskontrolle, das die technologische Dynamik in den Blick nimmt und in die Rüstungskontrollbemühungen integriert, erscheint notwendig. Der ABM-Vertrag stellt einen Baustein dieses geforderten neuen Konzepts dar.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Kreml-Führung für einen Kompromiss mit der neuen US-Administration entscheidet. Würde der ABM-Vertrag doch gemäß dem Wunsch Washingtons abgeändert und gleichzeitig weitere nukleare Abrüstung vereinbart, so wären einige offensichtliche Probleme auf diplomatischer Ebene möglicherweise gelöst. Andere – insbesondere ein Rüstungsschub in Asien – dürften sich verschärfen. Denn China steht einem solchen US-russischen Kompromiss ablehnend gegenüber, da er das amerikanische Militärvorhaben legitimieren würde.

Zweite Dimension: Vorschläge zum Ausbau eines internationalen Frühwarn- und Kontrollsystems für ballistische Raketen und Weltraumwaffen

Die Europäer – und damit die Berliner Regierung – sollten bei der Moskauer Führung nicht nur auf eindeutige Abrüstungsmaßnahmen drängen. Darüber hinaus sollten sie – wie auch gegenüber Beijing – entsprechende aktive Schritte für eine entschiedene und konstruktive Nichtverbreitungspolitik einklagen. Hier ergibt sich zunächst der Befund, dass mit Exportkontrollen der Lieferländer von Raketentechnologie allein (etwa im Rahmen des Missile Technology Control Regime, MTCR) die Verbreitung der Raketentechnik für militärische Zwecke nicht verhindert, sondern allenfalls verlangsamt werden kann. Deshalb sind weitergehende Schritte notwendig.

Zur erforderlichen gemeinsamen Strategie zur internationalen Eindämmung der Raketenproliferation und zur Vertrauensbildung gehören aus unserer Sicht Maßnahmen zur Erhöhung der Krisenstabilität; gemeinsame Frühwarnsysteme für versehentliche Raketenstarts; die Vorabmeldung von Satellitenstarts und Startanlagen sowie die getrennte Lagerung von Sprengköpfen und Raketen. Hieran sollten sich weitergehende Maßnahmen anschließen – etwa eine Beschränkung oder gar ein Teststopp bestimmter Raketentypen, oder ein Aufstellungsstopp für neue ballistische Flugkörper. Hierfür könnte der Mittelstreckenraketen-Vertrag von 1987, der eine ganze Waffenkategorie mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km verbot, als Modell dienen. Einige dieser Forderungen sind derzeit möglicherweise schwer zu verwirklichen. Das Fernziel sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren: Die Schaffung raketenfreier Zonen und die hiermit verbundene dauerhafte Etablierung der internationalen Norm gegen ballistische Waffensysteme.

Dritte Dimension: Vorschläge zur Einrichtung eines beständigen Dialogforums mit Problemstaaten

Um in Washington, Moskau und Beijing ernst genommen zu werden, muss sich Europa durch einen eigenständigen, sichtbaren und politisch erfolgversprechenden Beitrag zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Trägersystemen und Sprengköpfen als glaubwürdiger Akteur positionieren. Hier sind die diplomatischen Initiativen Europas gegenüber denjenigen Ländern angesprochen, die in Nordafrika, im Nahen Osten und in der Persischen Golfregion eine Bedrohung darstellen können. Gefragt sind hier langfristige Konzepte im Rahmen einer »Diplomatie Zuerst!«-Initiative. Sie kann gleichermaßen dazu dienen, das Fernziel internationale Abrüstung zu fokussieren und kleinschrittig anzugehen.

Wir fordern die Bundesregierung und die zuständigen Ausschüsse im Bundestag auf, hier mit einer vorbeugenden Politik aktiv zu werden. Die derzeitigen europäischen Rahmenbedingungen sind für die Entwicklung und die Umsetzung eines solchen Konzepts günstig. Denn mit ihrer Kritik an den amerikanischen NMD-Plänen und mit ihrer geäußerten Besorgnis über weitere globale und regionale Rüstungsschübe gibt es einen großen gemeinsamen Nenner unter den europäischen Regierungen. Dies bedeutet gleichzeitig, die offiziellen Gründe der USA für den Ausbau eines Nationalen Verteidigungssystem konstruktiv anzugehen – und sie mit politischen Mitteln gegenstandslos zu machen, zumindest aber sichtlich zu entschärfen.

Die Chancen für einen durch den Primat der Politik ausgezeichneten Ansatz halten wir auch deshalb für groß, weil die offiziellen Bedrohungsanalysen in gewisser Weise Entwarnung geben, was das Tempo der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln anbelangt. Der damalige CIA-Direktor William Webster hatte 1989 für das Jahr 2000 mehr als 15 Staaten mit einem entsprechenden Potenzial von Raketen vorausgesagt. In ihren Einschätzungen aus jüngster Zeit nennen sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch die »National Intelligence Estimates« der USA nur eine Handvoll von Ländern, die auf absehbare Zeit in puncto Massenvernichtungswaffen problematisch sind. Es sind neben Nordkorea vor allem Iran, Irak, Syrien und Libyen. Diese auf wenige Länder konzentrierte – also gerade nicht diffuse – Bedrohung stufen die US-Analysen zudem noch ab („real“, „(höchst) wahrscheinlich“, „möglich“). Die europäische Initiative müsste – und könnte – entsprechend zielgerichtet ausgelegt werden.

Ihr konzeptioneller Kern ist, dass sie auf einen institutionalisierten Dialog mit diesen Staaten setzt. Deshalb ist es erforderlich, im EU-Rahmen ein hierfür zuständiges Forum einzurichten. Es sollte in der Bürokratie der Europäischen Union hoch angesiedelt sein, etwa im Kompetenzbereich von »EU-Außenminister« Javier Solana, der über Aktivitäten, Fortschritte und Probleme in regelmäßigen Abständen öffentlich berichten müsste. Nur so wird die EU als Akteur sichtbar. Gesprächsgegenstand des Forums dürften von europäischer Seite die sicherheitspolitischen Sorgen und von Seiten der Problemstaaten die vorgebrachten (möglicherweise primär regional verursachten) Motive für ihre Aufrüstung sein.

Die folgenden Ergebnisse des Dialogforums sind denkbar:

  • In den Problemstaaten könnte die Motivation für einen Verzicht auf relevante Entwicklungen im Bereich von Massenvernichtungswaffen durch attraktive Kooperationsangebote erhöht werden.
  • Anstreben ließen sich im Sinne eines Tauschhandels nachprüfbar begrenzte Reichweiten der Raketen gegen Wirtschaftshilfe oder einen Ausbau der Handelsbeziehungen.
  • Ein Angebot zur Partizipation an zivilen europäischen Programmen zur Weltraumnutzung könnte den Verzicht auf eigene Anstrengungen zur eigenständigen Entwicklung von Trägersystemen erleichtern, die sich auch militärisch nutzen ließen.
  • Das Angebot zur Kooperation im Bereich regenerativer Energietechnologien könnte mit dem Verzicht auf den Zugriff auf sensitive Nukleartechnologien, die für Atomwaffenprogramme wesentlich sind, gekoppelt werden. Deutschland ist zur Zeit mit einigen anderen europäischen Ländern Vorreiter bei der zunehmenden Entwertung der Rolle der Nuklearenergie als nachhaltiger Zukunftsoption.
  • Weitere gemeinsame Programme im Bereich Wissenschaft und Forschung aber auch im Bereich Landwirtschaft, Stadtplanung, Umweltmonitoring etc. sind auszuloten.

8. Zukunftsweisend: Ein europäisches Engagement für die Umsetzung der »Diplomatie Zuerst!«-Initiative

Wir, die Unterzeichner, sind der Auffassung, dass eine am Primat der Politik ausgerichtete Initiative konzeptionelle Vorteile gegenüber dem Ansatz der USA hat, die mehr und mehr auf technische Lösungen und Waffen setzen, um das Problem der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln in den Griff zu bekommen. Unsere Vorschläge

  • setzen auf nicht-militärische Kooperation und Einbindung – und nicht auf Unilateralismus und Ausgrenzung;
  • entwerten gerade nicht die durch die Raketenabwehrpolitik der USA bedrohten, mühsam geschaffenen und über Jahrzehnte am Leben erhaltenen bilateralen (ABM-Vertrag) sowie internationalen Abkommen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Raketentechnologie-Kontrollregime);
  • erweitern die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle durch zusätzliche Initiativen zur präventiven Begrenzung gefährlicher Rüstungstrends auf der Erde und im Weltraum, anstatt Aufrüstung zu forcieren;
  • sind insofern selbstbewusst, als sie andere Gewichte als die USA setzen. Und doch sind sie gleichzeitig in hohem Maße bündnisverträglich. Denn die diplomatischen Schritte, die wir am Beispiel Iran vorschlagen, führen die Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea bereits mit Erfolg durch (aber eben auf diesen Einzelfall beschränkt, und nicht systematisch und auf breiter Basis). Hinzu kommt, dass ein stärkeres Engagement der Europäer eine glaubwürdige Antwort auf die Forderung vieler moderater US-Senatoren nach einer sichtbaren und glaubwürdigen europäischen Anstrengung im Nonproliferationssektor darstellt. Eine Initiative, die den bisherigen Erfolg der amerikanischen Nordkorea-Politik in der eigenen regionalen »Sphäre europäischer Verantwortung« auslotet, ist daher nicht »anti-amerikanisch«, die Gefahr einer europäischen Abkopplung von den USA ergibt sich ebenfalls nicht. Wohl aber macht sich das Konzept den Wettbewerbsvorteil Europas zu eigen; denn dem Alten Kontinent haftet nicht das Bild des »Großen Satans« an.

Mit seinem Fokus auf den Erhalt existierender Rüstungskontrollabkommen und dem notwendigen Ausbau vor allem präventiv angelegter Maßnahmen übernimmt Europa deutliche Verantwortung in einem Bereich, den die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren vernachlässigt haben. Europa wird dabei nicht zum politischen Lückenbüßer, sondern zum konzeptionellen Mitgestalter. Auch mit dem Blick auf eine »Sphäre der Verantwortung« (Nordafrika, Naher Osten/Persische Golfregion) zeigt sich Europa als sichtbarer Akteur im Politikbereich Nonproliferation und vorbeugender Rüstungskontrolle.

Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, die derzeitigen günstigen Umstände entsprechend zu nutzen. Die Überprüfung der bisherigen Raketenabwehrpolitik durch die neue US-Administration gibt den Europäern noch etwas Zeit. Hinzu kommt, dass der EU-Gipfel im Dezember in Nizza dazu genutzt werden sollte, den von führenden Politikern wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer oft beschworenen deutsch-französischen Motor auf diesem wichtigen Politikfeld in Gang zu setzen. Eine vom Primat der Politik angeleitete Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsstrategie ist über die »Avantgarde-Gruppe« hinaus bündnisfähig. Nach dem NMD-kritischen Bericht des Auswärtigen Ausschusses im britischen Unterhaus lassen sich auch in Großbritannien »inhaltliche Alliierte« finden.

Die Forderung nach gemeinsamen großen Projekten steht auf der europäischen Agenda, inhaltlich ist sie aber bisher weitgehend leer geblieben. Eine gemeinsame »Diplomatie Zuerst!«-Initiative könnte der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Façon und Schwung verleihen. Sie würde Europa als eigenständigem und doch kooperationsbereitem Akteur Profil geben, drohende Rüstungswettläufe konstruktiv anzugehen und zu vermeiden.

Der Traum von der Unverwundbarkeit

Der Traum von der Unverwundbarkeit

von Paul Schäfer

Wie sich die Zeiten ändern. Früher galt die Bundeswehr als Kriegsverhinderungsarmee – heute ist sie nach Scharping, Kujat und Angelika Beer eine Einsatzarmee.

Die alte Bundesrepublik hielt sich die Kultur (militärpolitischer) Zurückhaltung zugute – heute sind wir in Sachen Interventionsfähigkeit „in der Nato (…) auf der Überholspur“, wie der Inspekteur des Heeres schwärmerisch zu berichten weiß. Für die neue Eingreiftruppe der Europäischen Union stellt Deutschland das größte Kontingent, insgesamt mehr als ein Fünftel der Truppe.

Früher wollte ein konservativer Bundeskanzler „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ – heute werden militärische Beschaffungsprogramme im Umfang von weit über 200 Milliarden DM für die nächsten fünfzehn Jahre aufgelegt.

Nach der Kosovo-Kriegsbeteiligung, die der Bundesrepublik Deutschland einen deutlichen Zugewinn an Macht und Einfluss gebracht hat, sprießen die außenpolitischen Gestaltungsfantasien der Eliten hierzulande immer üppiger. Von wegen Begrenzung auf Europa. Minister Scharping hat auf dem Bundeswehr-Forum der Welt am Sonntag (September 2000) im militärtypischen Verschleierungsjargon formuliert: „Ob der Nahe und Mittlere Osten, der Kaspische Raum, Süd- oder Ostasien oder das von Kriegen und humanitären Katastrophen geschüttelte Afrika – gewaltige Instabilitäten gefährden die regionale, aber auch globale Sicherheit. Unsere politischen und sicherheitspolitischen Ressourcen müssen wir auch an anderen Stellen dieser Welt in regionalpolitische Lösungsansätze einbringen.“

Die Bundesrepublik Deutschland ist dabei voll im Trend. Die Bevorzugung einer auf militärische Macht gestützten Außenpolitik ist allenthalben unverkennbar. Während die Bewältigung der Umweltkrisen auf der Stelle tritt, die Armutsbekämpfung nicht richtig vorankommt, sind Erfolgsmeldungen über den Ausbau der »sicherheitspolitischen Ressourcen« an der Tagesordnung. Die NATO verfolgt energisch ein weitreichendes Rüstungsmodernisierungsprogramm (Defense Capability Initiative) und die EU hat gerade die Einzelheiten für die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe beschlossen.

Dabei sieht sich der frühere Hauptfeind gerade genötigt, die Armee um weitere 600.000 Angehörige zu verkleinern. Zur Verteidigung wird die von der Bundesregierung vorgesehene 280.000 Mann/Frau-Armee nicht mehr benötigt.

Die Dekade der blutigen Balkankriege scheint vorbei. Die Quasi-Protektorate der NATO in Südosteuropa indes müssen aufrechterhalten bleiben. Ist das das Modell »Zukunft« auch für andere Regionen?

Die auf militärische »Machtprojektion« verengte Sicherheitspolitik bringt alles andere als Stabilität. Ressourcen werden gebunden, die für die wirkliche, sprich ökonomische, öko-logische, gesellschaftliche Stabilisierung der Konfliktregionen dringend gebraucht würden. Die »subalternen« Länder des Südens werden die Ungleichgewichte korrigieren wollen – indem sie mit gleicher Münze heimzahlen und sich militärisch wappnen. Dies wiederum wird als Bedrohung in den Industriemetropolen empfunden. Der klassische Fall einer Rüstungsspirale.

Wer in der Logik militärischer Abschreckung befangen ist, wird immer dafür sorgen wollen, eine möglichst große Überlegenheit zu erringen. »Eskalationsdominanz« soll ein Optimum eigener Handlungsfreiheit sichern. Das US-amerikanische Projekt einer Nationalen Raketenabwehr folgt dieser Logik: sich einen Schutzschild zulegen, um unbegrenzt schlagen zu können. Die genuin US-amerikanischen Konnotationen – der Traum von der Unverwundbarkeit nach dem Trauma von Pearl Harbour – sind das eine, die militärstrategischen Voraussetzungen das andere. Und in diesem Fall gehören National Missile Defense und Theater Missile Defense zusammen. Die Raketenabwehr auf dem Kriegsschauplatz soll den möglichst reibungslosen Einsatz der NATO/EU-Interventionstruppen garantieren: Unverwundbarkeit »im Konkreten«, die ebenfalls die Hemmschwelle für den Einsatz militärischer Gewalt senkt.

Dabei erscheint die nationale Raketenabwehr der USA um einiges gefährlicher, weil sie zu weltpolitischen Verwerfungen und Konfrontationen führen kann, deren Ausgang unwägbar scheint. Natürlich können China und Russland der Entwertung ihrer Nukleararsenale nicht tatenlos zusehen. Sie werden ihre Sprengköpfe aufstocken. Wenn die allgemeine Atomabrüstung auf den St. Nimmerleinstag verschoben wird, werden auch die de-facto-Atommächte Indien und Pakistan ihre Zurückhaltung aufgeben. Die Folgen wären alles andere als beruhigend.

Sich gegen die Pläne einer US-Raketenabwehr zur Wehr zu setzen, wird jetzt eine vorrangige Aufgabe. Zugleich sollten wir nicht die Raketenabwehrprogramme im Rahmen der NATO, wie MEADS, aus den Augen verlieren. Auch hier gilt es NEIN zu sagen!

Paul Schäfer

Dem Krieg den Krieg erklären

Dem Krieg den Krieg erklären

von Jürgen Nieth

Der von US-Präsident Bill Clinton am 1. September bekannt gegebene Entschluss, die Entscheidung über den Bau und die Stationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) seinem Nachfolger zu überlassen, wurde weltweit mit Erleichterung aufgenommen. Zu offensichtlich war nach dem gescheiterten Abwehrtest vom 7. Juli, dass der politische Anspruch, einen begrenzten Raketenangriff abzuwehren, derzeit technisch nicht einzulösen ist. Zwar wurde mit der Verschiebung Zeit gewonnen, doch Anlass zur Beruhigung gibt es nicht. Al Gores Kontrahent George Bush Jr. lässt keinen Zweifel daran, dass er ein noch viel größeres NMD möchte. Nur zu berechtigt sind daher die Befürchtungen Russlands und Chinas, sie könnten ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA verlieren.

Es zeigt sich erneut, dass selbst der mächtigste Politiker nicht an den Gesetzmäßigkeiten der Physik rütteln kann. Eine Rakete kann eben nicht mit der Fliegenklatsche vom Himmel geholt werden. Allerdings zählt in der Politik der Anschein oft mehr als die Wahrheit. Allzu deutlich wurde dies im Golfkrieg, als das völlige Versagen der Patriot-Abwehrrakete der USA als grandioser Erfolg verkauft wurde.

Selbst wenn NMD auf absehbare Zeit nicht zuverlässig funktionieren sollte, schafft es dennoch Tatsachen. Es erhöht die Unsicherheit zwischen den potenziellen GegnerInnen, die dagegen rüsten um ihre Abschreckung zu sichern. Auch die USA und andere NATO-Staaten werden sich kaum auf einen löchrigen Raketenabwehrschirm verlassen wollen und daher ihre eigenen Kernwaffen behalten bzw. modernisieren.

Die Risiken der immer noch viel zu großen Nuklear- und Raketenarsenale sind nicht virtuell, sie sind ganz real. Dies zeigt einmal mehr das gesunkene russische Atom-U-Boot, das der Welt einen Schrecken über die Gefahren von Nuklearunfällen eingejagt hat. Statt dieses Ereignis aber zur Kritik an der Atomrüstung zu nutzen, kritisierten die westlichen Medien lediglich den sowjetischen Führungsstil Wladimir Putins. Kaum erwähnt wird, dass Putins Großmachtpolitik nicht nur ein Produkt innenpolitischer Machtspiele ist, sondern auch eine Reaktion auf westliche Dominanzbestrebungen, von der NATO-Osterweiterung über den Kosovokrieg bis zur Raketenabwehr. Mit NMD würden die nuklearen Risiken noch multipliziert. Dies zeigt nichts deutlicher als der Vorschlag der USA, Russland solle seine Atomwaffen nicht abrüsten, sondern in höchste Alarmbereitschaft versetzen, um NMD überwinden zu können.

Aus den Erfahrungen des Kalten Krieges kann es nur die Konsequenz geben, Atomwaffen nicht zu bekämpfen, sondern vollständig zu beseitigen. Die Abrüstung ballistischer Raketen blieb bislang allerdings nur ein Randthema. So beklagte Jayantha Dhanapala, Leiter der Abrüstungs-Abteilung der Vereinten Nationen, am 3. Juli: „Warum bleibt die öffentliche Debatte heute in einem Duell zwischen Abschreckung und Abwehr gefangen, während die Abrüstung von Raketen nur eine geringe Aufmerksamkeit erfährt?“

Die mit der NMD-Verschiebung gewonnene Zeit könnte für politische Initiativen zur internationalen Raketenkontrolle genutzt werden. Konkrete Vorschläge für ein globales Raketenkontrollsystem möchte Russland auf den Weg bringen. Schritte in Richtung auf eine multilaterale Raketenkontrolle und verbesserte Frühwarnung wurden Ende März 2000 bei einem Expertengespräch in Ottawa diskutiert. Als Modell für umfassende Raketenabrüstung könnte ein 1992 von der Federation of American Scientists erarbeiteter Vorschlag dienen. Ein Raketenteststopp würde den Entwicklungsstand bei Raketen einfrieren.

Bei der Entwicklung solcher Abrüstungskonzepte ebenso wie bei der kritischen Analyse von Rüstungsprogrammen wie NMD spielt die Friedenswissenschaft eine wichtige Rolle. Dass die technischen Grenzen der Raketenabwehr ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind, ist der beharrlichen Aufklärung durch PhysikerInnen zu verdanken. Einer der aktivsten und zähesten Gegner von NMD ist Ted Postol, Professor am MIT, der sich dabei mit mächtigen GegnerInnen anlegt und seinen Job riskiert. In der NMD-Debatte drehte Postol den Spieß um: Er verklagte die Verantwortlichen, bei einem der Abwehrtests einen Erfolg nur vorgetäuscht zu haben.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es weiterhin einen großen Bedarf an kritischer friedenswissenschaftlicher Expertise gibt, einer der Bereiche, in denen Frieden zum Beruf werden kann. Leider stehen den immer neuen Konfliktherden nicht die adäquaten Mittel gegenüber. Nicht einmal die mit hohen Vorschusslorbeeren bedachte deutsche Stiftung für die Friedensforschung konnte bislang vom Stapel laufen. Wie einfach war es dagegen im vergangenen Jahr, in kürzester Zeit Milliardenbeträge (also das Tausendfache) für den Krieg zu bewilligen. Wenn es für den Krieg immer noch mehr Geld gibt als für die präventive Bewahrung des Friedens, dann müsste Deutschland dem Krieg den Krieg erklären.

Jürgen Scheffran