Laser

Laser

von Horst Kremmling

In nun etwa 25 Jahren ist der Laser von einem Labor-Prototyp zu einem Instrument gereift, das eine Reihe von Forschungsbereichen revolutioniert hat und inzwischen auch vielfältige Anwendungen in der Medizin, der Materialverarbeitung, der Meß- und Analysentechnik sowie in Informationssystemen erfährt. Die zukünftige Entwicklung ist zur Zeit nur unvollkommen abzuschätzen, aber sicher wird der Laser zu den bedeutendsten Entwicklungen dieses Jahrhunderts gezählt werden müssen. Die vielfältigen Anwendungen der Lasertechnik, die auch bereits kommerziell eingesetzt werden, bleiben natürlich nicht ohne Auswirkung auf die Militärtechnik.

Man kann annehmen, daß alle Länder, die über die entsprechende Technologie verfügen, bestrebt sind, den Laser für militärische Anwendungen mehr und mehr nutzbar zu machen. Daß in diesem Artikel im wesentlichen amerikanische Beispiele erwähnt werden liegt an der relativ offenen Informationspolitik der Regierung und der beteiligten Wirtschaft, bedeutet aber keinesfalls, daß z. B. die Sowjetunion nicht entsprechende Forschungsanstrengungen unternimmt. Ohne auf die prinzipielle Funktionsweise von Lasern einzugehen, sei hier an die wesentlichen Eigenschaften der Laserstrahlung erinnert. Ein Laser stellt eine nahezu punktförmige Lichtquelle dar, die ihre Lichtenergie in einem eng begrenzten, fast parallelen „Strahlenbündel“ aussendet. Im Gegensatz zu Glühbirnen oder Leuchtstoffröhren, die ihre Strahlung in alle Raumrichtungen emittieren, ist die Laserstrahlung gerichtet. Dabei erzeugt der Laser auch kein „weißes“ Licht, sondern arbeitet auf nur den jeweiligen Typ charakteristischen Wellenlängen („Farben“) der elektromagnetischen Strahlung. Heutzutage stellen weltweit etwa 200 Herstellerfirmen über 1500 verschiedene Lasertypen her, die auf dem Markt angeboten werden. Unterscheidet man nach den verschiedenen Lasermedien (Gasen und Lastkörpern etc.) sowie nach gepulsten oder kontinuierlich arbeitende Lasern, existieren etwa 50 auch technisch grundlegend verschiedene Laser, deren Anzahl sich ständig vergrößert. Hinzu kommen nicht spezielle, kommerziell leicht erhältliche Laser in der Forschung. Mit diesem großen Angebot an Lasern ist praktisch jede optische Wellenlänge zu erzeugen, vom Ultravioletten über den sichtbaren Spektralbereich bis hin zur Wärmestrahlung, dem Infrarot. Es existieren jedoch gewaltige Unterschiede bezüglich der abgestrahlten Lichtleistung, des Wirkungsgrades und der „Qualität“ des Strahles. Der Wirkungsgrad der Laser ist i.A. sehr schlecht. Nur etwa 0,01% bis maximal ca. 30% der aufgewendeten Energie wird in Lichtenergie umgewandelt. Hauptsächlich wird z.B. elektrische Energie benötigt, jedoch existieren auch Lasertypen, die die bei einer chemischen Reaktion freiwerdende Energie oder einen thermodynamischen Effekt benutzen.

Laser als Waffe

Diese Form militärischer Verwendung wurde im vergangenen Jahr am häufigsten in den Medien diskutiert und erinnerte oft an Vorstellungen, wie sie in Science-Fiction-Filmen häufig produziert werden. Im März 1983 kündigte der amerikanische Präsident Reagan die verstärkten Bemühungen an, mit Hilfe von „Laserkanonen“, evtl. im Weltraum stationiert, eine Abwehrmöglichkeit gegenüber Interkontinentalraketen zu schaffen. Im Juni wurde in den Zeitungen über den erfolgreichen Abschuß von Sidewinder-Raketen, im November 1983 von ferngesteuerten Flugzeugen durch das amerikanische Airborne Laser Laboratory (ALL) berichtet, einem thermodynamischen CO2-Laser der von einer militärischen Version der Boeing 707 aus betrieben wird. Für die militärische Anwendung der Laser als Zerstörungswaffe liegt der Vorteil gegenüber herkömmlicher Systeme auf der Hand. Licht pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 300 000 km/sek. fort, es benötigt für eine Strecke von 1000 km nur etwa 0,003 sek. Ein Entrinnen des Zieles, selbst wenn es, wie moderne Raketen, mit Mach 10 (3 km/s) fliegt, ist unmöglich. Zudem ergibt sich der Vorteil, zumindest auf kürzeren Strecken bis einigen 100 km ohne Vorhalt direkt zielen zu können. Bei genügend Energievorrat ist auch kein umständliches Nachladen dieser Waffe nötig. Allerdings ergeben sich auch gewaltige technologische Anforderungen. So muß das Ziel direkt getroffen werden, es genügt nicht, wie bei mit Sprengköpfen bestückten Raketen, in die nähere Umgebung des Zieles zu gelangen. Bei der Größe von Raketen, Flugzeugen etc. und den durch das Licht zu überbrückenden Entfernungen erfordert dies eine exzellente Präszision der Zielerfassung und der Richtungseinstellung des Laserstrahls. Zum zweiten benötigt man eine hohe Lichtintensität, das Metall des Zieles soll. durch Licht geschmolzen werden. Bei der Bearbeitung von Metallen in der Produktion durch Laserlicht sind diese nötigen Lichtintensitäten zu erreichen, indem man den Laserstrahl durch eine Linse kurz über dem Werkstück auf dessen Oberfläche fokussiert. Mit den heute verfügbaren Hochenergielasern sind auf diese Weise Oberflächentemperaturen von einigen tausend Grad C und mehr zu erreichen, jedoch nur auf der kleinen Fläche des Brennpunktes. Für den Einsatz als Waffe jedoch ist es nicht möglich, diese kurzbrennwellige Fokussierung durchzuführen. Hier kann der Brennfleck nur an der Strahlungsquelle selbst eingestellt werden, über Linsen und Spiegel auf einen Raumpunkt festgelegt werden. Der Durchmesser des Brennflecks jedoch ist aus prinzipiellen physikalischen Gründen um so kleiner, je kürzer die Brennweite (die Entfernung zum Ziel) ist, und je größer das fokussierende Element (der Zielspiegel) ist. Für eine Laserwaffe benötigt man daher ein hochpräzises Zielerfassungssystem (auf Laserbasis), einen sehr intensitätsstarken Laser und eine groß dimensionierte Zieloptik (Spiegel), die extrem genau einstellbar ist. Hinzu kommt die Notwendigkeit eines genügend großen Energievorrates bzw. leistungsstarken Generators.

Zur Beurteilung der Realisierbarkeit solcher Systeme muß man unterscheiden nach dem Anwendungszweck

Gefechtsfeldwaffen: Das aus einer Entfernung von einigen tausend km angreifende Flugkörper mit Laserlicht zerstört werden können, ist im letzten Jahr demonstriert worden. Auf diese Entfernung ist die Abschwächung des Laserstrahls in der Atmosphäre nicht so bedeutend, der Brennfleck klein, die geforderte Genauigkeit der Strahlrichtung nicht so gravierend und die Größe der optischen Elemente kann in einem technisch gewohnten Rahmen gehalten werden. Laser der nötigen Intensität von einigen 10-100 kW/cm2 existieren im Prinzip und die Bereitstellung der zum Betrieb der Laser notwendigen Energie in Form von Elektrizität oder eines Vorrats an chemischen Reagenzien ist möglich.

Anti-Interkontinentalraketen (ABM)-Systeme: Diese, in der Öffentlichkeit häufig diskutierten Systeme auf Laserbasis, sind auch technisch sehr umstritten. Da Witterungseinflüsse und damit die Absorption von Laserlicht bis in etwa 15 km Höhe über der Erdoberfläche wirksam sind, sodaß nur ein Bruchteil der ausgestrahlten Energie den freien Raum erreicht, erscheint es sinnvoll, diese Systeme im Weltraum direkt zu stationieren.

Bei weltraumgestützten Laserwaffen ergeben sich vor allem folgende Probleme: 1.) Die weiten Entfernungen vom Laser zum Ziel, die den amerikanischen Plänen zufolge etwa 100-3000 km betragen sollen; 2.) die Energieversorgung des Lasers im Weltraum.

Die Entfernungen begründen, wie erwähnt, einen möglichst hohen Zielspiegel (in der Entwicklung ist ein Spiegel von 4m Durchmesser), eine schnelle und exakte Winkeleinstellung des Spiegels und einen sehr intensitätsstarken Laser, denn bei einer Entfernung von 1000 km ist der vom Spiegel bestimmte Brennfleck einige 1000 qcm groß. Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei der Lasermaterialbearbeitung auf der Erde kann daher keine bedeutende Energiebündelung auf einen kleinen Fleck erfolgen, die Laser müssen mehr als 1000x stärker sein, als die heute verwendeten Materialbearbeitungslaser. Zur Zeit werden folgende Anforderungen für ein Weltraumsystem angenommen: Bei einem 4m-Spiegel, der auf besser als 1 rad (0,00005°) innerhalb von etwa 0,5 s. einstellbar ist, benötigt man einen Laser mit einer Energie pro Laserschuß von etwa 10-20 MWs (Millionen Joule). Während die genauen Justiereinrichtungen des Spiegels nach dem Stand der Technik heute gerade machbar sind, ist die Entwicklung eines derart großen Spiegels hoher optischer Qualität noch nicht gelungen und auch Laser der geforderten Stärke existieren nicht. Zu 2.): Das andere noch ungelöste Problem ist die Energieversorgung im All. Hier bieten sich sofort Lasertypen an, die keine oder nur geringe elektrische Energie benötigen, wie die chemischen Laser (HF, DF), die ihre Energie aus einer chemischen Reaktion beziehen. Hierbei müssen aber gewaltige Mengen der entsprechenden Reaktionsstoffe in den Weltraum gebracht und dort gelagert werden. Die Schätzungen der benötigten Energie sind von Randbedingungen abhängig und unterscheiden sich in den Veröffentlichungen gewaltig. Ohne genauer darauf einzugehen, muß festgestellt werden, daß die heutige Weltraumtechnologie in Form des „Space Shuttle“ für den Transport dieser Treibstoffmengen nicht geeignet ist. Selbst im günstigen Fall ergeben sich ungefähr 1000 Shuttle-Flüge allein, um den Brennstoff zu transportieren (10 Jahre lang 100 Flüge pro Jahr). Dieses Dilemma ist auch den Verantwortlichen offenbar bekannt. So werden Experimente durchgeführt, Lasern durch die Sonnenstrahlung die nötige Energie zuzuführen, jedoch sind diese Systeme noch weit von einer Realisierung entfernt.

Abwehrmöglichkeiten: Betrachtet man die ungeheuren technischen Schwierigkeiten, die der Realisierung der Weltraum-Laser-Systems entgegenstehen, so erscheinen die möglichen Abwehrmöglichkeiten gegenüber der Laserstrahlung gerade zu trivial. So ist eine Verspiegelung der angreifenden Raketen möglich und der Schutz der Außenhaut durch einergieabsorbierende Schichten wie z.B. bei den Apollo-Raumkapseln vielfach erprobt. Zu erwähnen sind hier auch die hochtemperaturfesten Keramikmaterialien, wie sie in Space Shuttle Programm verwendet werden. Neben dieser primären Abwehr ist ebenfalls relativ einfach eine sekundäre möglich. Durch Zerstörung der Station durch andere Satelliten oder Raketen, durch eine Zerstörung des Ortungssystems, wozu eine relativ schwache Laser genügen würde, durch Unterbrechung des notwendigen Kommunikationssystems oder einfach durch eine größere Anzahl stationierter Interkontinentalraketen, bzw. ununterscheidbare Attrappen. Diese letztere Maßnahme würde wiederum die notwendige Spezifikation des Lasersystems heraufsetzen, die notwendig sind, einen Angriff mit Interkontinentalraketen abzuwehren.

Die Laserforschung ist wohl die weitaus teuerste militärische Forschungsprojekt der Vereinigten Staaten. Insgesamt wurden seit 1973 über 2 Mrd. Dollar ausgegeben, 1984 sind insgesamt 700-800 Mill. Dollar hierfür vorgesehen, für 1985 rechnet man mit über 1 Mrd. Dollar. Allerdings fallen hierunter auch Forschungen, die andere Aufgaben mit Hilfe von Lasern ermöglichen sollen und keine eigentlichen Waffen sind. Das TRIAD-Programm der Defence Advanced Research Project Agency (DARPA), die mit der Entwicklung der Weltraumwaffen beauftragt ist, kostet 1984 insgesamt etwas mehr als 150 Mill. Dollar die aufgewendet werden zur Entwicklung eines Hochenergielasers, des Zielspiegels und des Zielerfassungssystems.

Laser in der konventionellen Rüstung

Weitgehend unbemerkt hat der Laser inzwischen im konventionellen militärischen Bereich an Bedeutung gewonnen. Neben den Möglichkeiten den Laser als Gefechtswaffe einzusetzen (gegen Menschen als Blendlaser) sind u.a. Anwendungen auf folgenden Gebieten festzustellen.

  • Als LIDAR-System (Light Detection And Ranging), eine dem herkömmlichen RADAR entsprechende Technik, die jedoch wesentlich präziser die Entfernung, den Ort, die Geschwindigkeit eines Zieles feststellen kann und in Verbindung mit moderner Elektronik eine Zielidentifizierung ermöglicht. Vor allem kleine, relativ einfache aber tragbare Geräte sind bereits heute entwickelt und einsatzbereit.
  • Die ungeheure Präzision des Lasers ermöglicht die Lenkung von Flugkörpern derart genau, daß für diese ein Sprengkopf entbehrlich wird. Das Ziel wird rein mechanisch zerstört. Diese Lenkung von Flugkörpern oder Bomben kann so erfolgen, daß das Ziel durch einen Laserstrahl markiert wird der Flugkörper folgt dann dem vom Ziel gestreuten Licht, oder aber er wird vom Laserstrahl direkt in das Ziel gelenkt. Es wird angenommen, daß solche Systeme kurz vor der Serienfertigung stehen.
  • Mit Lasern ist eine Gefechtsfeldbeleuchtung (Tomoskopie) möglich, die bei schlechten Sichtverhältnissen einen bestimmten Bereich des Geländes sichtbar machen und die Kampftätigkeit auch bei widrigen äußeren Umständen ermöglicht.
  • Ein IRS (Inertial Reference System) in Form des Lasergyrometers ersetzt zur Zeit den altbekannten Kreiselkompaß in Flugzeugen, auch in zivilen wie im neuen Airbus A320. Das Gyrometer erlaubt eine wesentlich präzisere Flugbahn, ist mechanisch robust und kann in Großserie recht billig hergestellt werden. Fluggesellschaften rechnen mit Treibstoffersparnissen bis zu 10% aufgrund der geringen Bahnabweichungen. Diese werden mit etwa 1km pro 1h Flugzeit angegeben, jedoch ist die Entwicklung noch nicht an ihre Grenzen gestoßen.
  • Das Laserlicht als Träger von Informationen ist im Bereich der Glasfasertechnologie bekannt. Eine militärisch besonders interessante Laserkommunikation betrifft getauchte U-Boote. Mit Lasern, die im blau-grünen Spektralbereich arbeiten, ist über Satelliten eine Kommunikation mit diesen möglich, da diese Wellenlängen von Wasser und der Atmosphäre nur wenig absorbiert werden. Dies ermöglicht nicht nur die Anbindung dieser U-Boote an die Befehlszentralen, sondern könnte auch die Ortsbestimmung der Boote verbessern, was für die Treffgenauigkeit ihrer Raketen von großer Bedeutung ist.

Auf weitere Anwendungen von Lasern im militärischen Bereich, wie die Isotopentrennung zur Herstellung von Spaltbrennstoffen soll in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden. Sicher wird die moderne Lasertechnologie, wie im zivilen Bereich, auch die militärischen Möglichkeiten gewaltig verändern, ja in Einzelfällen revolutionieren. Ein Ende dieser Entwicklung ist heute nicht abzuschätzen. Neue Entwicklungen wie der Röntgenlaser, der „freie Elektronenlaser“ und Weiterentwicklung der bisherigen Typen könnte, vor allem in Verbindung mit modernster Elektronik, völlig neue militärische Anwendungen und Strategien ermöglichen.

Die Laserforschung ist wohl da weitaus teuerste militärische Forschungsprojekt der Vereinigten Staaten. Insgesamt wurden seit 1973 über 2 Mrd. Dollar ausgegeben, 1984 sind insgesamt 700-800 Mill. Dollar hierfür vorgesehen, für 1985 rechnet man mit über 1 Mrd. Dollar. Allerdings fallen hierunter auch Forschungen, die andere Aufgaben mit Hilfe von Lasern ermöglichen sollen und keine eigentlichen Waffen sind. Das TRIAD-Programm der Defence Advanced Research Project Agency (DARPA), die mit der Entwicklung der Weltraumwaffen beauftragt ist, kostet 1984 insgesamt etwas mehr als 150 Mill. Dollar, die aufgewendet werden zur Entwicklung eines Hochenergielasers, des Zielspiegels und des Zielerfassungssystems.

Literatur:

Forschungshaushalt:

Laser Focus 5/82 und 10/83, Laser and Applications 6/83

Weltraumlaser:

Physics Today 8/83; Programm in Science and Technology for International Security Report No. 6; Dept. of Physics, MIT, Cambridge, Mass. 02139, 1980; Laser and Applications 9/83, Laser Focus 2/81 und 1/82; Spektrum d. Wissenschaften 2/82; Laser and Applications 11/83; VDI-Nachrichten 4.11.83; Spiegel 9.1.84; Frankfurter Rundschau 4.4.84/20.7.83

Lasertypen:

Laser Focus Buyer's Guide 1984; Laser Focuss 1/82, 9/81, 1/83, 10/83; Photonics 7/83, Laser Handbook Vol. 3 ed M.L. Stitich, North Holland Publishing Company, 1979, Physik i. u. Zeit 6/73, 3/82, 2/80; Laser and Applications 9/82

Anwendungen:

Topics in applied physics Vol.14 Springer, Heidelberg, Berlin, New York 1976; Photonics 8/83, 1/83; Laser Focus 11/80 4/81, 6/81 8/ 82, 4/82, 11/83; Laser and Applications 9/81

Horst Kremmling ist Diplomphysiker in Mainz

Beginn eines Wettrüstens im All?

Beginn eines Wettrüstens im All?

Der chinesische ASAT-Test

von Götz Neuneck

Am 11. Januar 2007 hat China, das jahrelang Gegner der Bewaffnung des Weltraums war, einen Anti-Satelliten (ASAT)-Test durchgeführt: Es zerstörte einen eigenen Wettersatelliten in einer Höhe von ca. 865km mittels einer Mittelstreckenrakete. Neben den USA und Russland bewies nun auch China die Fähigkeit, Satelliten über dem eigenen Territorium »abzuschießen«. Damit unterstreicht es seine Ambitionen auf dem Gebiet der militärischen Raumfahrt, es beschwört aber auch die Gefahr eines Rüstungswettlaufs im All herauf. Denn sollten sich in Washington die Hardliner durchsetzen, könnten Programme zum Schutz eigener Satelliten und damit die Weltraumbewaffnung forciert werden. Weitere Staaten könnten in eine ressourcenverschlingende Konkurrenz einsteigen.

Viele Regierungen zeigten sich besorgt über diesen Test. Seitens der EU verwies ein Sprecher vor der Genfer Abrüstungskonferenz darauf, dass dieser Test unvereinbar mit den internationalen Anstrengungen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum sei. Leider sind diese Aktivitäten bereits länger durch die USA und China blockiert. Auch ein US-Sprecher zeigte sich beunruhigt. Dabei haben die USA wenig Anrecht auf eine Verurteilung Chinas, schließlich haben sie mit ihren Raketenabwehrtests im All den drohenden Rüstungsschub ausgelöst und eine Rüstungskontrolle im Weltraum bisher kategorisch abgelehnt. Im aktuellen US-Rüstungsbudget ist ca. 1 Mrd. US-Dollar eingestellt für Programme, die auf eine Bewaffnung des Weltraums hinzielen: Ein »Space-based Interceptor Test Bed« ist für 2008 geplant; entwickelt werden manövrierbare Mini-Satelliten, ASAT-Laser und neue Flugkörper. Die diversen Raketenabwehrprogramme, bei denen der Abfangvorgang eines anfliegenden Sprengkopfes im Wesentlichen im All stattfindet, haben inhärente ASAT-Fähigkeiten. Studien unterbreiten Vorschläge für Weltraumwaffen. Die neue »US National Space Policy« vom August 2006 verfügt, dass die USA ihre „Aktionsfreiheit im Weltraum“ sichern müssen. Der Schutz der US-Weltraumfähigkeiten wird initiiert, indem den Gegnern der USA die Nutzung des Weltraums für feindliche Zwecke »verweigert« werden soll.

Auch andere Staaten sind nicht untätig. Viele Raumfahrt treibende Staaten besitzen Vorläufertechnologien wie Minisatelliten oder Raketen. Das bestehende Weltraumrecht bietet bisher aber nur begrenzte Verbotstatbestände. Ein Gutachten des »International Court of Justice« zur Legitimität einer einseitig vorgenommen Einführung von Weltraumwaffen vor dem Hintergrund der Bestimmungen des Weltraumvertrages könnte hier Rechtsklarheit schaffen.

Nun wird es entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, rechtlich verbindliche, überprüfbare und wirkungsvolle Regelungen zu schaffen, um eine Bewaffnung des Weltraums zu verhindern. es gibt fünf herausragende Gründe für eine präventive Rüstungskontrolle im Weltraum:

  • das Eskalationspotenzial von Weltraumwaffen,
  • die begrenzte Zahl der Raumfahrtakteure,
  • die teuren und wenig effektiven Technologien für Waffenzwecke,
  • das zunehmende Weltraumschrottproblem und
  • die guten Überwachungschancen im All.

In der Vergangenheit wurden diverse Vorschläge erarbeitet um den Weltraum auf multilateraler Grundlage waffenfrei zu halten. Die Implementierung von konkreten Maßnahmen, wie z.B. einem »Code of Conduct«, wäre ein erster wichtiger Schritt. Rechtsverbindliche Regeln, wie der Verzicht »Satelliten anzugreifen«, würden die Grundlage für Rüstungskontrolle im Weltraum schaffen. Ein »Moratorium für Weltraumtests« könnte ein erster Schritt sein hin zu einem Vertrag, in dem alle Weltraumwaffen geächtet werden. Die Einhaltung eines »Null-Waffen-Vertrags« ist schließlich leichter zu überprüfen als ein Vertrag, der zwischen unterschiedlichen Zahlen und Arten von Waffen differenziert.

Eine Gruppe von »like-minded states«, wie Deutschland, Schweden, Kanada, Brasilien, Japan, könnte eine UN-Resolution einbringen, die einen internationalen Verhandlungsprozess, ähnlich dem Ottawa-Prozess, in Gang bringt. Die Einführung Transparenz bildender Schritte vieler Nationen würde die US-Administration isolieren und möglicherweise zu einer Aufgabe der Blockade in Genf zwingen. Die UN selbst könnte zur Begleitung des Prozesses eine »Group of Experts« berufen, die z.B. ein Zusatzprotokoll zum Weltraumvertrag ausarbeitet.

Die EU sollte auf diesem Sektor die Initiative nicht anderen Staaten überlassen. Aufgabe Europäischer Sicherheits- und Friedenspolitik muss es sein, dafür Sorge zu tragen, dass die Gestalt annehmende EU-Weltraumpolitik die Weltraumbewaffnung ausschließt und dass andere, mit der EU kooperierende Staaten, zur Waffenfreiheit des Weltraums beitragen. Deutschland könnte zum 40. Jahrestages des Weltraumvertrages in den nächsten Monaten – auch in der Funktion der EU-Ratspräsidentschaft – entscheidende Impulse dazu geben.

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereichs Abrüstung und Rüstungskontrolle am Institut für Frieden und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) und Verfasser einer Studie zum Thema, die bei der Deutschen Stiftung Friedensforschung erschienen ist.

Von SDI zu GPALS. Des Kaisers neue Kleider

Von SDI zu GPALS. Des Kaisers neue Kleider

von Katrin Fuchs

I. Einleitung

Die neue unter dem Kürzel GPALS (Global Protection Against Limited Strikes) geführte Debatte über Raketenabwehr ist in vielerlei Hinsicht eine Wiederbelebung der Diskussion über die Strategische Verteidigungs-Initiative (SDI) der 80er Jahre, die wiederum anknüpfte an die Debatte über ABM(Anti-Ballistic Missile)-Systeme Ende der 60er Jahre. Zwar haben sich die historisch-politischen Rahmenbedingungen gravierend verändert, und auch die jeweils verfügbaren Systeme und Technologien sind Produkte ihrer Zeit, doch die Argumentationsstränge ähneln einander auf verblüffende Weise. Insbesondere die naturwissenschaftlich-technischen Grundprobleme der Raketenabwehr ziehen sich wie eine Konstante durch die Jahrzehnte. Auch die Albert Einstein zugewiesene Einsicht, das Nuklearzeitalter erfordere politische, nicht technische Lösungen, bleibt aktuell. An diesen »alten« Weisheiten kommt auch das als »neu« klassifizierte GPALS-System nicht vorbei.

Im folgenden soll zunächst ein Überblick über die aktuelle GPALS-Debatte gegeben werden. Im Anschluß wird GPALS einer kritischen Analyse unterworfen, zum einen in Hinblick auf die mit dem Programm verbundenen Probleme, Risiken und Folgewirkungen, zum anderen hinsichtlich der Berechtigung der vorgebrachten Begründung.

II. Neue Debatte um die Raketenabwehr

1. Tendenzen: »Defensiv“konzepte im Aufwind

In den Vereinigten Staaten haben die Diskussionen über GPALS, das einen globalen Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe (Global Protection Against Limited Strikes) verspricht, Hochkonjunktur.1 GPALS als Fortentwicklung und Neuorientierung von SDI, das mit dem Namen Ronald Reagans verknüpft ist, wird mehr und mehr zum sicherheitspolitischen Signum von Präsident Bush. Schon jetzt läßt sich sagen, daß dieses Militärprogramm in den USA der (haushalts)politische Sieger nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist. GPALS profitiert insbesondere von der sicherheitspolitischen Unübersichtlichkeit in Staaten der südlichen Erdhalbkugel. Dabei sind es gerade die USA, die kurz- oder mittelfristig gar nicht in der Reichweite von Waffen aus Entwicklungsländern liegen.

Für Rußland hat Präsident Jelzin Ende Januar 1992 ein neues Zeichen gesetzt, als er vorschlug, eine Raketenabwehr gemeinsam mit den USA zu entwickeln. Ballistische Trägersysteme aus Ländern der südlichen Hemisphäre könnten schon heute Republiken der GUS erreichen (im übrigen auch die Südflanke Europas). Es spricht vieles dafür, daß die russische Führung mit der Januar-Initiative in erster Linie ein kooperationspolitisches Signal an den Westen geben wollte.

Für die drei wichtigsten europäischen Verbündeten – Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik – ist eine neue Situation eingetreten, als Präsident Bush sie offiziell aufforderte, sich an GPALS zu beteiligen.

Auch wenn dieses »Defensiv“konzept vornehmlich – und politisch äußerst erfolgreich – mit der Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und ballistischen Raketen begründet wird: Die Renaissance der Raketenabwehr in den Vereinigten Staaten hat vielfältige Ursachen. Sie ist innergesellschaftlich und binnenwirtschaftlich/industriepolitisch begründet, sie hat eine unverkennbare allianzpolitische Dimension, und schließlich – und vor allem – ist der Schwung bei der Raketenabwehr nicht ohne den Blick auf die weltpolitische Rolle der USA als einsame Supermacht zu verstehen. Bei GPALS geht es nicht in erster Linie um »defense«, sondern um Dominanz, und zwar sowohl gegenüber den Verbündeten als auch gegenüber der GUS und »dem« Süden. Im Kern ist dieses Militärprogramm der Versuch, die Globalpolitik der USA auf eine neue sicherheitspolitische Geschäftsgrundlage zu stellen, auf der Basis von »Defensiv“technologien, bei denen die USA (wie seinerzeit nach 1945 bei den nuklearen Offensivwaffen) unbestritten führend sind.

Was die innergesellschaftliche Szenerie anbelangt, so hat der Strukturwandel in der amerikanischen Rüstungsindustrie, in den Waffenlaboratorien und Streitkräften nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verzögert und nur langsam begonnen. Obwohl die alte Bedrohung praktisch über Nacht weggefallen ist, soll das Militärbudget im Haushaltsjahr 1993 gegenüber 1992 nur um 5,3 Prozent fallen. Für 1993 sind 291 Mrd. Dollar angesetzt und es ist auch mittelfristig keine drastische Verringerung zu erwarten. Der Raketenabwehrbereich ist von diesem Trend allerdings nicht betroffen. Vielmehr weisen die Budgetforderungen der Bush-Administration, verglichen mit den vom Kongreß im letzten Jahr bewilligten Geldern, in die Gegenrichtung: die verlangten 5,4 Mrd. Dollar liegen um gut 30 Prozent (1,2 Mrd. Dollar) höher. Damit nimmt dieses Militärprogramm wie seinerzeit unter Reagan eine privilegierte Stellung ein.

Auch wenn der Kongreß in diesem Jahr die Haushaltsforderungen der Bush-Administration nicht ganz so großzügig wie 1991 akzeptieren dürfte, weil der vor allem durch den Einsatz der Patriot-Rakete bedingte Golfkriegs-Effekt nachgelassen hat, läßt sich gegenwärtig allerdings feststellen: Der Raketenabwehrbereich hat sich in der Größenordnung von vier Mrd. US Dollar als fester Bestandteil amerikanischer Rüstungsplanung etabliert. Dies schließt zwar ein, daß der Finanzsockel auch in Zukunft kontrovers diskutiert wird – und zwar sowohl innerhalb der Administration als auch zwischen Exekutive und Legislative – denn in Zeiten knapper Gelder müssen unterschiedlichste zivile und militärische Forderungen befriedigt werden; aber GPALS allein wird voraussichtlich vom Etatjahr 1991 an gerechnet bis zum Jahre 2005 gut 90 Mrd. US Dollar verschlingen (dies sind die jüngsten Schätzungen des Bundesrechnungshofes, General Accounting Office).

Dafür, daß dieser Rüstungsektor sich in letzter Zeit zunehmend etabliert hat, gibt es klare bürokratiepolitische Belege: Die einst schwache SDI-Organisation (SDIO), die mit dem Management dieses gesamten Militärsektors betraut ist, hat sich nicht nur gefestigt, sondern hat ihren Einfluß gegenüber den drei Teilstreitkräften ausbauen können. Seit 1988 hat die SDIO ihren Anteil bei den zu vergebenden Geldern für Raketenabwehrprojekte von 11 Prozent auf 38 Prozent gesteigert. Dieses geht eindeutig zu Lasten der Mittelzuweisungen für das Heer, die Luftwaffe und die Marine.

Darüber hinaus hat sich das Netzwerk für Rüstungsaufträge gefestigt und verdichtet. Die Vergabe von SDI/GPALS-Geldern an nur wenige, große Konzerne paßt sich im großen und ganzen in das Muster ein, das für den Militärbereich insgesamt gilt. Rüstungsriesen wie Lockheed, Boeing, TRW, Rockwell International, McDonnell Douglas, Martin Marietta, Hughes, Teledyne Brown, Raytheon und General Electric haben in dieser Reihenfolge bis Ende des Haushaltsjahres 1991 die meisten Gelder erhalten (Lockheed: 1,505 Mrd. US Dollar; General Electric: 378,5 Mio. US Dollar). Bis zu einem gewissen Grade unterfüttert diese konzentrierte Vergabe die diversen Anpassungsstrategien, mit denen die Rüstungsfirmen auf das Ende des Ost-West-Konflikts reagieren müssen. Wie inzestuös das Verhältnis von SDIO und der Industrie inzwischen geworden ist, hat jüngst Senator Pryor enthüllt. Weil die nur 14 SDIO-Bürokraten mit der Abwicklung von Aufträgen in der beachtlichen Höhe von 700 Mio. US Dollar (1991) überfordert sind, hat die SDIO in bedenklichem Ausmaß auf die Expertise aus der Rüstungsindustrie zurückgegriffen. Das ging im Falle der Firma Analytical Sciences Corp. soweit, daß sie das einzige Gutachten zur Verlängerung ihres Auftrages selbst schrieb.

Die sicherheits- und militärpolitische Zielvorgabe der Bush-Administration für die Raketenabwehr hat sich gegenüber der Zeit des Ost-West-Konflikts in ihr Gegenteil verkehrt. SDI sollte mit einem massiven Anflug sowjetischer Nuklearwaffen (in der Größenordnung von einigen tausend Sprengköpfen) fertig werden. GPALS hingegen wird seit Anfang 1991 konzeptionell auf die Zerstörung einzelner ballistischer Waffen (im Höchstfall 200) ausgerichtet, wo immer sie abgefeuert werden – ob in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder auf Befehl eines unberechenbaren Diktators in der ehemaligen Dritten Welt, ob bewußt oder irrtümlich abgeschossen. In erster Linie soll GPALS das amerikanische Territorium und die US-Truppen weltweit schützen, in zweiter Linie die Verbündeten der Vereinigten Staaten. Damit ist nicht nur der globalen Dimension von GPALS Genüge getan; dieses Raketenabwehrkonzept soll auch auf der taktischen Ebene in die allgemeine Militärstrategie eingefügt werden. Nach dem Ende des Ost-West-Antagonismus konzentriert sie sich auf regionale Krisen und Konflikte, bei deren militärischer Bewältigung die USA den Anspruch auf Führung stellen.

Die Bush-Administration ist dabei, die Raketenabwehr mit GPALS auf neue Bahnen zu lenken. Es ist das erklärte Ziel der US-Regierung, ABM-Systeme so bald wie möglich aufzustellen. Langfristig plant die Regierung Bush, ein landesweites Schutzsystem aufzubauen. Einem vorläufigen Strategiepapier der SDIO zufolge erwägt die Administration fünf bis sechs Stellungen auf dem Kontinent, einschließlich Alaska, eine weitere ist für Hawaii vorgesehen. SDIO-Beamte haben bezeichnenderweise eine ABM-Basis um Grand Forks im Bundesstaat North Dakota zu einer bloßen Option herabgestuft. Hier befand sich Mitte der siebziger Jahre bereits die einzige im Raketenabwehr-Abkommen erlaubte Stellung. Die Strategie der SDI-Bürokraten möchte Kapital aus den regionalen Schwierigkeiten schlagen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den USA ergeben haben. Deshalb fassen sie bereits geschlossene oder von der Schließung bedrohte Militärbasen als ABM-Standorte ins Auge. Auf diese Weise, so das Kalkül, ließen sich aus struktur- und arbeitsmarktpolitischen Gründen möglicherweise sogar Gegner oder Skeptiker von GPALS für eine umfassende Raketenabwehr gewinnen.

Der Konflikt mit dem rüstungskontrollpolitisch zentralen ABM-Vertrag von 1972 (Anti-Ballistic Missiles Treaty) ist damit vorprogrammiert. Denn sein Hauptziel ist gerade, daß er die Stationierung von ABM-Systemen zur landesweiten Verteidigung untersagt, es sogar verbietet, die Grundlage dafür zu schaffen (Art.I).

2. Die Elemente von GPALS

Abwehr von taktischen Raketen (Anti-Tactical Ballistic Missiles, ATBMs) Dieser Bereich soll auch im neuesten Haushaltsentwurf der Administration mit 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr (real von 858 Mio. auf 1,06 Mrd. US Dollar) steil ansteigen. Bei der starken Aufwertung des ATBM-Sektors versuchte die Regierung Bush Kapital aus den Abwehrerfolgen der Patriot-Rakete im Golf-Krieg zu schlagen. Dieser der US-Armee zugewiesene Bereich ist zumindest unter den Teilstreitkräften attraktiv geblieben.

Im Etatjahr 1993 soll die Patriot »verbessert« werden. In den nächsten Jahren ist vorgesehen, zusätzlich die derzeit entwickelten anti-taktischen Waffen vom Typ ERINT (Extended Range Interceptor) und THAAD (Tactical High-Altitude Air Defense) zu dislozieren. (Siehe zu den technischen Angaben näheres unter III.)

Landgestützte Abwehr von Raketen strategischer Reichweite Hierfür sind 750 Abfangflugkörper in den bereits erwähnten sechs bis sieben Stellungen vorgesehen. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit liegt der Schwerpunkt darauf, diese landgestützten Systeme möglichst früh aufzustellen. Im Haushaltsjahr 1993 soll hierfür der Löwenanteil von 39,3 Prozent des beantragten SDI-Budgets (5,4 Mrd. US Dollar) zur Verfügung stehen, die Forderungen der Administration sehen gegenüber dem letzten Etatjahr eine Steigerung um fast 40 Prozent vor. Entsprechend finanziell vernachlässigt werden die nur langfristig einsetzbaren exotischen Technologien wie Laser- und Teilchenstrahlwaffen; für sie fordert die Administration für das Etatjahr 1993 mit 300 Mio. US Dollar ungefähr die Hälfte weniger als im letzten Jahr.

Erst seit kurzem bevorzugt die Bush-Administration die ausschließliche Entwicklung eines landgestützten Abfangflugkörpers (Ground-Based Interceptor, GBI), für das der Raketenprototyp ERIS (Exoatmospheric Re-entry Vehicle Intercept System) vorgesehen ist. Neuerdings möchte die SDI-Organisation das GSTS fallenlassen, was aber auf Widerstand im Senat gestoßen ist, da die Alternativen den Raketenabwehr-Vertrag verletzen.

Weltraumgestützte Raketen (Brilliant Pebbles, intelligente Kieselsteine) Diese relativ kleinen High-Tech-Abfangwaffen, von denen die Bush-Administration derzeit 1000 Stück plant, sollen dem GPALS-Konzept erst seine globale Reichweite geben. Die Brilliant Pebbles haben die Aufgabe, die feindlichen Raketen abzufangen und zu zerstören, bevor die Mehrfachsprengköpfe und Attrappen ausgestoßen werden (und deshalb nicht nur ein Ziel, sondern mehrere zu bekämpfende Ziele abgeben). Für den Weltraum sind mindestens 50 Sensoren (Brilliant Eyes, Intelligente Augen) vorgesehen.

Wie in den Jahren zuvor ist GPALS auch gegenwärtig kein ausgereiftes Konzept, Änderungen werden vorgenommen, technologische Optionen geprüft und offengehalten, Termine verschoben. Wie in den Jahren zuvor benutzen die Befürworter die Argumente in puncto Wirksamkeit und Stand der Technologien für (haushalts)politische Zwecke, oft in widersprüchlicher Weise: Mal wird beklagt, daß die angestrebte Effizienz der Waffen und die Stimmigkeit der Konzepte nicht rechtzeitig erreicht werden können, weil der Kongreß nicht genügend Gelder bereitstelle (die SDIO kann offensichtlich sowohl ihr zentrales landgestütztes Projekt als auch das Weltraumprogramm nicht fristgerecht entwickeln); mal wird die Effizienz der Waffen völlig überzeichnet, um mehr Gelder für ein Programm zu bekommen (so etwa hat der Leiter von Brilliant Pebbles in der SDIO in Aussicht gestellt, daß Systeme aus dem Orbit Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von maximal 80 km zerstören können; alle offiziellen Erklärungen, einschließlich die von SDIO-Direktor Cooper, gehen jedoch davon aus, daß Weltraumwaffen ballistische Flugkörper mit einer Reichweite unter 400 km nicht abwehren können).

3. Die Debatte in den USA

In der Legislative haben sich die unterschiedlichen SDI-Gruppierungen zu Beginn der neunziger Jahre im Kontext von GPALS kaum verändert. Neu ist jedoch der sich in den Vordergrund schiebende Nord-Süd-Problematik. Er überlagert zum Teil wegen der Proliferationsgefahr als neue sicherheitspolitische Determinante den Ost-West-Zusammenhang, der im Hinblick auf die unklaren Verhältnisse im atomaren Bereich bei den »nuklearen Rechtsnachfolgern« der UdSSR jedoch weiterhin wichtig bleibt. Zur Kategorisierung der folgenden drei Hauptgruppierungen müssen beide Achsen – Nord-Süd und Ost-West – berücksichtigt werden:

1. Die im Militärbereich vornehmlich als liberal einzustufenden Gegner und Skeptiker möchten GPALS wie seinerzeit SDI vor allem aus rüstungskontroll- und haushaltspolitischen Gründen zu einem bloßen Forschungsprogramm geringen Ausmaßes herunterstutzen. Diese politische Gruppierung denkt noch stark in stabilitätspolitischen Kategorien des Ost-West-Gegensatzes. Um eine kostspielige und riskante Rüstungsdynamik auch mit der GUS zu vermeiden, halten die Gegner und Skeptiker die wichtigsten Bestimmungen des ABM-Vertrages für unantastbar. Derzeit sind sie am ehesten bereit, die Grauzonen des Abkommens in bilateralen Verhandlungen zu präzisieren, etwa im Hinblick auf die ungenau gefaßte Grenze zwischen den vom ABM-Vertrag erlaubten ATBMs und den verbotenen strategischen Abfangflugkörpern. Unter dem Eindruck des Golf-Krieges hat die Abwehr taktischer Raketen selbst unter den GPALS-Gegnern und -Skeptikern breite Zustimmung gefunden.

Die Liberalen schätzen »die« Bedrohung aus »den« Staaten der südlichen Hemisphäre weitgehend differenziert ein. Wie in den achtziger Jahren bezweifeln sie besonders die technische Wirksamkeit von GPALS. Diese Bedenken wiegen in der Tat schwer. GPALS vermag gegen Kurzstreckenwaffen unter 400 km genauso wenig auszurichten wie gegen von Terroristen abgefeuerte oder eingeschmuggelte Massenvernichtungsmittel, und es kann perspektivisch von Marschflugkörpern unterlaufen werden. Die Liberalen sind der Ansicht, daß politische Probleme nicht mit technologischen Antworten à la GPALS zu lösen sind, sondern daß sie entsprechende politische Antworten erfordern. Deshalb geben die GPALS-Kritiker der Kontrolle von Rüstung und Exporten den Vorzug. So sprechen sie sich zum einen für eine beträchtliche Verminderung des US-Rüstungspotentials und für ein umfassendes nukleares Teststopp-Abkommen aus; sie sollen als Anreiz dienen, daß Schwellenstaaten vor allem auf die atomare Option verzichten. Zum anderen befürworten die Liberalen multinationale und unilaterale Ausfuhrbeschränkungen). Die Vielzahl der gerade von dieser Gruppierung eingebrachten Gesetzesinitiativen im Kongreß belegt die politische Präferenz.

2. Die in sich nicht ganz einheitliche Fraktion der zum Teil gemäßigt konservativen Befürworter möchte den ABM-Vertrag in Verhandlungen mit der GUS/Rußland so modifizieren, daß er an die Entwicklungen von GPALS geschmeidig angepaßt wird. Dieser zentrale Punkt trennt sie besonders klar von den Liberalen. Das Moment der Rüstung ist den meisten konservativen Parlamentariern wichtiger als das Moment der Kontrolle. Partiell teilen sie die erheblichen stabilitätspolitischen Bedenken der Liberalen gegenüber den weltraumgestützten Elementen: die GUS könnte sich zu einem neuen Rüstungswettlauf herausgefordert sehen. Als Antwort auf die Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln befürwortet die konservative Gruppierung durchaus auch rüstungskontroll- und exportpolitische Maßnahmen. So ging die Initiative, der GUS bei der Verschrottung eines Teils ihrer Nuklearwaffen zu helfen, von gemäßigten Konservativen wie Senator Nunn aus. Ein Teil dieser politischen Fraktion hält im Zweifelsfalle technologische Lösungsversuche im Sinne von GPALS aber für wichtiger.

3. Die kleine, sich im Raketenabwehrsektor nach wie vor stark artikulierende, hier als äußerst konservativ einzuschätzende Gruppe der unbedingten Befürworter möchte alle Elemente von GPALS so früh wie möglich stationieren – unabhängig davon, ob die Technologien unausgereift oder vielversprechend sind. Technologiegläubigkeit geht bei dieser Gruppierung einher mit dem Versuch, die auf Offensivwaffen beruhende nukleare Abschreckung möglichst schnell durch ein »Defensiv“konzept unter amerikanischer Führung abzulösen. Der ABM-Vertrag, der diesem auch machtpolitisch motivierten Interesse entgegensteht, sollte über Nacht einseitig aufgekündigt und dahin geworfen werden, „wo er hingehört: (auf den) Müllhaufen der Geschichte„ (Senator Wallop).2

Diese Gruppierung war die erste, die bereits Ende der achtziger Jahre die Notwendigkeit der Raketenabwehr mit der weitgehend undifferenziert gesehenen Gefahr der Weiterverbreitung begründete, und zwar in dem Maße, in dem die sowjetische Gefahr als alleinige Legitimation für SDI unglaubwürdig wurde. Wo technologischen Lösungsstrategien ein derart hoher Stellenwert eingeräumt wird, können rüstungskontroll- und exportpolitische Maßnahmen zur Eindämmung der Proliferation nur von untergeordneter Bedeutung sein.

In der Amtszeit Bush hat sich das Zentrum der politischen Gravität stärker zu den gemäßigt Konservativen wie den Senatoren Nunn, Warner und Cohen verlagert. Weitaus schwerer wiegt jedoch, daß sich deren Positionen zugunsten von GPALS verschoben haben. Vor dem Hintergrund der politischen Vorgaben der Bush-Administration waren es die »Zentristen«, die in Kompromißpapieren die Rahmenbedingungen der amerikanischen SDI/GPALS-Diskussion fundamental verändert haben, indem sie sich für eine Stationierung von ABM-Systemen aussprachen. Damit haben sie die entscheidende politische Hürde überwunden und neue Tatsachen geschaffen, weil SDI/GPALS den Charakter als unverbindliches Forschungprogramm verloren hat. Den gemäßigt Konservativen ist somit gelungen, was der äußerst konservativen Gruppierung der »Frühstationierer« seit 1983 versagt geblieben war.

Der im Kontext der konzeptionellen Vorgaben der Bush-Administration unter den Gruppierungen im Kongreß ausgehandelte Kompromiß hat im Missile Defense Act of 1991 seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden. Danach wird zunächst ein mit dem Raketenabwehr-Vertrag zu vereinbarendes ABM-System um Grand Forks im Bundesstaat North Dakota gebaut. Der Zeithorizont: 1996 oder wann immer es technologisch verfügbar ist. Gleichzeitig soll die Bush-Administration den ABM-Vertrag in Verhandlungen mit der GUS/Rußland so abändern, daß die Stationierung von weiteren Abwehrsystemen möglich wird. Die Legislative hat den Präsidenten gleichfalls aufgefordert, ihr 1994 über den Verhandlungsstand zu berichten. Das höchst kontroverse und mit dem Abkommen nicht zu vereinbarende Brilliant Pebbles-Programm konnte nicht gestoppt werden. Der Kongreß finanziert es im Haushaltsjahr 1992 mit immerhin 390 Mio. US Dollar weiter. All dies läuft auf eine knappe Schonzeit für den ABM-Vertrag hinaus.

Während es gegen die Weltraumprogramme eine Mitte-Links-Koalition im Kongreß gibt, will eine Mitte-Rechts-Allianz den ABM-Vertrag aufweichen bzw. aufkündigen. 100 Abfangflugkörper können im Rahmen des Raketenabwehr-Abkommens landgestützt und nicht-beweglich zum Schutz eines einzigen Raketenfeldes (oder der jeweiligen Landeshauptstadt Washington bzw. Moskau) aufgestellt werden. Ein Hauptproblem in puncto Verträglichkeit von GPALS und ABM-Vertrag liegt im Wortlaut des Missile Defense Act begründet. Er erlaubt ein System, das nicht nur mit dem Raketenabwehr-Abkommen in Einklang steht und „kostenwirksam“ ist, also ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist, sondern auch in „operativer Hinsicht effizient“ sein soll. Das erste Kriterium ist jedoch nicht mit dem dritten vereinbar, wenn man unter Effizienz versteht, daß ein derartiges System anfliegende Sprengköpfe, wo immer sie auch herkommen, erfolgreich abzuwehren vermag. Ein solches „Defensiv“konzept müßte letztlich auf das nicht mit dem ABM-Vertrag zu vereinbarende Ziel hinauslaufen, nämlich möglichst das gesamte US-Territorium zu schützen – und nicht etwa das kleine Gebiet mit der alten ABM-Stellung um Grand Forks, die bereits in den siebziger Jahren nicht für effektiv gehalten und deshalb schnell wieder abgerissen wurde. Die Legislative hat sich im Missile Defense Act of 1991 nicht auf mehrere Stellungen festgelegt, die dem Kriterium der Effizienz gerecht würden, aber sie hat den Weg hierzu auch nicht verschlossen.

Wenn man annimmt, daß die vorgesehenen Raketen zunächst eine Reichweite von 1500 km haben werden, dann wirft die auf eine einzige Stellung beschränkte Stationierung zunächst insofern keine Schwierigkeiten auf, als auf diese Weise nur ein kleiner Teil des US-Territoriums abgedeckt wird – nicht jedoch der Osten, der Westen und die Golfküste, wo insgesamt 80% der amerikanischen Bevölkerung leben.

Allerdings dürfte selbst diese begrenzte Abwehroption bald mit der gegenwärtig offiziell gültigen, sogn. engen Deutung des ABM-Vertrages in Konflikt geraten (auf diese Interpretation hatte der Kongreß bereits die Reagan-Administration verpflichtet, um das Raketenabwehr-Abkommen möglichst wenig durch neue SDI/GPALS-Technologien auszuhöhlen).

Im Rahmen dieser Deutung sieht der ABM-Vertrag einschränkend vor: Neue ABM-Komponenten, die, wie z.B. die exotischen Laser- und Teilchenstrahlwaffen auf anderen Prinzipien beruhen und die vom Abkommen erlaubten ABM-Abfangflugkörper, Abschußvorrichtungen und Radaranlagen ersetzen können, sind verboten. Die entprechenden Abänderungen für solche neuen Technologien müssen gemeinsam mit der UdSSR bzw. ihrem Rechtsnachfolger ausgehandelt werden. Inhaltlich würde eine Zustimmung der GUS/Rußlands auf eine der sogn. weiten, weil weniger restriktiven Interpretation des ABM-Vertrages hinauslaufen. Die politisch riskante und gegenwärtig im Kongreß nicht durchzusetzende Alternative wäre, das Abkommen einseitig aufzukündigen.

Das Problem im Falle einer einzigen Stellung um Grand Forks wäre, daß ein Radar durch eine neue Sensortechnologie ersetzt werden müßte, damit eine sich der US-Küste annähernde Rakete wegen der Erdkrümmüng erkannt und verfolgt werden kann. Die neue Deutung zu akzeptieren, hieße für eine Reihe von Mitgliedern der Legislative, ihre Haltung zu GPALS und zum ABM- Abkommen unter den neuen politischen Rahmenbedingungen neu zu definieren. Abschied von seiner bisherigen Rolle als Hüter des ABM-Vertrages zu nehmen würde in mancher Hinsicht beispielhaft für Senator Nunn gelten, der eine autoritative politische Leitbildfunktion für andere Parlamentarier besitzt. Er profilierte sich gegen Ende der Ära Reagan, als er der Exekutive damit drohte, daß eine Mißachtung der engen Deutung eine verfassungsrechtliche Konfrontation großen Ausmaßes heraufbeschworen würde.

Die Zeiten haben sich inzwischen offenbar auch für Senator Nunn, neben Senator Warner einer der Mitinitiatoren des neue Zeichen setzenden Missile Defense Act of 1991, geändert. Möglicherweise spielen die internationalen Bedrohungen nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes dabei gar nicht die Hauptrolle. Denn Nunn war zu aller Überraschung bereits Mitte Januar 1988 erstmals mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten, die USA sollten ein offensichtlich vertragskompatibles Accidental Launch Protection System (ALPS) entwickeln. Es sollte gegen irrtümlich abgefeuerte, einzelne Raketen schützen. Nunn hatte einen solchen Plan dann offenbar nicht weiterverfolgt. Als die Gruppierung der unbedingten Raketenabwehr-Befürworter 1989 nach dem ALPS-Vorschlag als dem letztem Strohhalm griff, um für ihr Hauptziel der Frühstationierung eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen, versagte sich Nunn. Er stimmte gegen einen entsprechenden Antrag, weil ALPS seiner Meinung nach technisch unausgereift, militärisch ineffizient und von der Bush-Administration verworfen worden sei.

1991 kamen für Nunn neue innenpolitische Erwägungen hinzu. Zum einen die Tatsache, daß die Regierung Bush ihr Raketenabwehrkonzept durch GPALS in Richtung ALPS umorientiert hat. Dies erleichterte es Nunn, der bereits 1989 zusammen mit Warner den Raketenabwehretat der Bush- Administration im Senat durchzusetzen versuchte, 1991 erneut mit der Exekutive zu kooperieren, als es darum ging, einen neuen überparteilichen Konsens zu GPALS zu schmieden. Wohl noch entscheidender für die Initiative des Senators aus Georgia, mit dem Missile Defense Act eine neue Ära in der Raketenabwehr- und ABM-Diskussion einzuleiten, war Nunns Interesse, seinen Ruf als »Falke« wiederherzustellen. Dies hängt mit seinem Verhalten im Vorfeld des Golf-Krieges zusammen. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses wurde nach dem für die USA erfolgreich verlaufenen Krieg scharf als »Taube« angegriffen. Er hatte durch seinen Anhörungen ein Stück Gegenöffentlichkeit zum Regierungskurs geschaffen, vor allem für eine Verlängerung des Wirtschaftsembargos plädiert.

4. Raketenabwehr in den amerikanisch-russischen Beziehungen

Die Diskussionen über »Defensiv“waffen und -konzepte sowie über das ABM-Abkommen sind zwischen Moskau und Washington in Bewegung geraten. Jahrelang waren die Positionen festgefahren, beide Seiten standen sich mit unversöhnlichen Forderungen gegenüber. Auf der politisch-praktischen Ebene hat die SDI-Organisation neuerdings Interesse bekundet, eine breite Palette der russischen Raketenabwehrtechnologien aufzukaufen. Auf russischer Seite regte Präsident Jelzin Ende Januar 1992 überraschend an, gemeinsam mit den USA ein globales Verteidigungssystem gegen Atomwaffen anstelle von SDI auszuarbeiten. Die amerikanischen Reaktionen auf diese vage Erklärung, die Jelzin, soweit ersichtlich, bisher nicht präzisiert hat, sind im Grundsatz positiv-optimistisch, aber sehr verhalten, wenn es um konkrete Sachfragen geht. Die US-Regierung lotet derzeit die Motive, Interessen und Positionen der russischen Führung aus.

In der US-Politik nimmt Rußland/die GUS eine ambivalente Stellung ein. Einerseits begründet Washington GPALS mit der Notwendigkeit, irrtümlich oder unbefugt abgefeuerte Raketen aus vormals sowjetischem Gebiet abwehren zu können. Andererseits ist Moskau völkerrechtlich und politisch Verhandlungspartner der Bush-Administration, wenn es darum geht, bisherige russische Bedenken zum ABM-Vertrag so aufzuweichen, daß die Raketenabwehr aus den Fesseln des Abkommens befreit und den GPALS-Gegnern in den USA der Boden entzogen wird.

Offen ist gegenwärtig, inwieweit Washington seinerseits ein ernsthaftes und konkretes Interesse daran hat, ein „bilaterales Regime“ (SDIO-Direktor Cooper) aufzubauen, um Massenvernichtungsmittel von Drittländern abzuwehren.3 Eine Reihe von politischen und militärischen Gründen spricht dagegen, daß es auf absehbare Zeit zu einem bi- oder gar multilateralen »Defensiv“konzept kommt. Auf US-Seite ist die Neigung zu politischer Symmetrie und militärischer Parität gerade nach dem »gewonnenen« Ost-West-Konflikt zweifelhaft. Daß es vielen GPALS-Befürwortern in erster Linie um eine unilaterale Dominanz auch gegenüber der GUS geht, dürften die bereits erwähnten Pläne der SDI-Organisation zeigen, alle für die USA wichtigen Raketenabwehrtechnologien zu erwerben. 50 Sektoren soll die SDIO ausgemacht haben, bei denen das Pentagon annimmt oder es für erwiesen hält, daß der Gegner von einst führend ist. Direkter und gezielter als durch eine derartige technologische Einbahnstraße ließe sich die amerikanische Überlegenheit bei den »Defensiv“waffen nicht ausbauen.

Zu den besonders attraktiven Kandidaten gehören sowjetische ballistische Raketen, von deren Auswertung sich das Pentagon neue Daten über die tödliche Wirkung (lethality) der Waffen verspricht; Neutralteilchenstrahl-Technologien, mit denen die Russen möglicherweise bereits Tests im Weltraum durchgeführt haben; und der Atomreaktor vom Typ Topaz 2, der Weltraumsysteme mit elektrischer Energie versorgen und den amerikanischen Reaktor SP-100 ersetzen soll, der bisher von der SDIO, dem Energieministerium und der NASA finanziert worden ist. Die SDIO wirbt für den Ankauf der vielversprechenden GUS-Technologien mit dem Hinweis darauf, daß auf diese Weise bei GPALS fünf Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit und mehr als 4,5 Mrd. US Dollar eingespart werden könnten. Als weitere Argumente haben die SDIO, aber auch Firmen wie Space Power Inc., finanzielle und technische Hilfe für die GUS genannt, letztere im Hinblick auf eine Rüstungskonversion.

Diese Aufkaufstrategie hat in der Rüstungswirtschaft (hier etwa bei Firmen wie General Atomics) und im politischen System Zustimmung gefunden. Sie ist aber auch auf wirtschaftlich und bürokratisch bedingte Widerstände in den USA gestoßen, wie die Auseinandersetzungen um die Atomreaktoren exmplarisch zeigen. Im Falle der sich lange hinziehenden amerikanisch-sowjetischen/russischen Verhandlungen über Topaz 2 hat vor allem General Electric für den von ihm entwickelten SP-100 lobbyiert. Vergeblich, denn die SDIO kündigte im Dezember 1991 an, die Gelder für den amerikanischen Reaktortyp zu streichen. Begründung: Der SP-100 sei zu teuer, für die ihm zugedachten Aufgaben viel zu leistungsstark und zu spät einsatzbereit. Mit der SDIO-Entscheidung war der Kauf von Topaz 2 vorprogrammiert. Im Frühjahr 1992 war der Handel in Höhe von acht Mio. US Dollar perfekt.

Gegenwärtig ist nicht zu erkennen, daß die amerikanische Seite ihrerseits zu einem entsprechenden Transfer in Richtung Rußland/GUS bereit ist. Die in den späten achtziger Jahren Schlagzeilen machende Ankündigung Ronald Reagans, die USA sollten und würden ihr Wissen in einem gemeisamen Raketenabwehrprojekt teilen, ist auch in der Ära Bush reine Rhetorik geblieben. Zuwiderlaufen würde ein solches »sharing« einem gegenwärtigen Hauptziel amerikanischer Rußland-/GUS-Politik: die Gefahr einzudämmen, daß Naturwissenschaftler ihr Wissen einem dritten Regime mit nuklearen Ambitionen zur Verfügung stellen. Und selbst wenn die Administration bereit wäre, das dichte Netz von Exportbeschränkungen zu lockern – die Mehrheit des Kongresses wäre gewiß allein aus wirtschafts- und industriepolitischen Gründen gegen solche Maßnahmen.

Zu diesen politisch-praktischen Aspekten des Technologietransfers dürften beträchtliche militärische und konzeptionelle Probleme hinzukommen, wenn es darum geht, den ABM-Vertrag bilateral auf die geplante Entwicklung von GPALS zuzuschneiden oder gar ein gemeinsames »Defensiv“system zu entwickeln.4 So werfen allein die unterschiedlichen geographischen Dimensionen von USA und Rußland Probleme der Parität auf. Die gegenwärtig von der Bush-Administration angestrebte Stationierung von ca. 1.000 Abfangflugkörpern mit einer Reichweite von um die 1.500 km auf rund sechs Stellungen läßt sich kaum auf das Gebiet der Russischen Föderation übertragen, wenn beide Seiten gleiche Obergrenzen anstreben. Denn zum einen ist das zu schützende russische Territorium nahezu zweimal so groß wie die Vereinigten Staaten. Zum anderen kommt erschwerend hinzu, daß die Reichweite der russischen Abwehrraketen bei ca. 300 km liegt; selbst wenn sie sich auf 500 km steigern ließe, erforderte der Schutz Rußlands wahrscheinlich zwischen 20 bis 30 ABM-Stellungen.

Da die russische Sensortechnologie hinter der amerikanischen zurückliegt und die Abwehrsysteme nuklear und nicht wie die der USA konventionell bestückt sind, benötigt Moskau für jede Stellung möglicherweise zweimal so viele Abfangflugkörper pro ABM-Basis wie die USA. Das könnte für die Russische Föderation auf 10.000 ABM-Waffen, also auf das Zehnfache der von den Vereinigten Staaten geplanten Systeme, hinauslaufen. Es ist schwer vorstellbar, daß die einzige Supermacht USA mit ihrem unverkennbaren hegemonialen Ambitionen auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine solche zahlenmäßige Asymmetrie, die zu ihren Ungunsten ginge, akzeptiert.

Neue, gemischte Signale aus Moskau

Die andere wesentliche Frage ist, wie Rußland sich in Zukunft zur Raketenabwehr und zum ABM-Vertrag verhält. Bereits in den letzten Jahren haben sich unter zivilen und militärischen Rüstungsexperten jene verstärkt zu Wort gemeldet, die das bisherige offzielle Moskauer Nein zur Raketenabwehr im Sinne von SDI/GPALS für unangemessen halten. Sie drängen auf eine flexiblere Position, vor allem wegen der Proliferationsgefahr. In diesem Rahmen ist beispielsweise der Vorschlag des Militärfachmanns Nikita Moisejew zu sehen. Er regte 1991 ein »planetarisches Defensivsystem« an, das auf der Basis von Brilliant Pebbles-Technologien aufbaut und der UNO unterstellt werden sollte.

Jelzins Vorschlag vom Januar 1992 zeigt, daß es den Befürwortern einer offeneren Haltung auch gegenüber den Raketenabwehrplänen der Bush-Administration erstmals gelungen ist, sich bei der politischen Führung der Russischen Föderation Gehör zu verschaffen. Auch wenn sich Jelzins knappe Januar-Offerte politisch schwer einschätzen läßt, ist es möglich, die gegensätzlichen Reaktionen zu skizzieren, die sie in der russischen ABM-Debatte ausgelöst hat.

Als Kritiker des Jelzin-Angebots an die USA haben sich Georgij Arbatow und sein Sohn Aleksej profiliert (der erste ist langjähriger Direktor des Instituts für das Studium der USA und Kanadas, der zweite ist Leiter des Zentrums für Abrüstung und strategische Stabilität der Vereinigung für Außenpolitik).5 Beide machen die traditionellen, primär rüstungskontroll- und stabilitätspolitischen Einwände gegen Jelzins Initiative geltend, an deren Zustandekommen sie im Vorfeld nicht beteiligt waren. Auch ihre wirtschaftlichen (zu hohe Kosten) und technologischen Argumente (nicht machbar bzw. nicht wirksam) haben sich, ähnlich wie bei den GPALS-Kritikern in den USA, seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht geändert.

Als neue Einwände kommen hinzu, daß es gegen die Proliferationsgefahr effizientere Mittel gebe und daß ein »Anschluß« Rußlands an die USA bei der Raketenabwehr das Ende einer selbständigen Rolle Moskaus in den amerikanisch-russischen Beziehungen wäre. Obwohl die Arbatows die Proliferationsgefahr von außen nicht in Abrede stellen, sehen sie die größte Herausforderung für die Sicherheit in der inneren Instabilität. Hinter Jelzins Vorschlag sieht Georgij Arbatow hauptsächlich innergesellschaftliche Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. Der Konvertit Welichow (siehe unten) wird Arbatow darin bestätigen, daß ein russisches GPALS oder eine Zusammenarbeit mit dem Westen in diesem Bereich eine willkommene Möglichkeit ist, den Konversionskurs in Rußland/der GUS zu verlangsamen.

Neben dieser harten Kritik gab es auch Zustimmung zu Jelzins Vorschlag – so etwa von Andreij Kokoschin und Jewgenij Welichow.6 Das ist deshalb aufschlußreich, weil beide in der Ära Reagan von westlichen SDI-Kritikern als Protagonisten des »sowjetischen Njet« zu den Plänen der US-Regierung hofiert wurden (sie fehlten damals praktisch auf keiner internationalen Konferenz zur Weltraumrüstung). Beide stehen dem Moskauer Machtapparat nahe bzw. sind mittlerweile ein Teil von ihm (Welichow ist Vize-Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Kokoschin deren Korrespondierendes Mitglied und inzwischen auch Erster Stellvertretender Verteidigungsminister in Moskau).

Aber nicht nur deshalb verdienen es ihre Positionen, ausführlicher dargestellt zu werden. Vielmehr spiegeln sich in ihrem Plädoyer für eine Raketenabwehr auch viele Facetten der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Lage Rußlands.

Die beiden früheren SDI-Gegner begründen ihren Meinungswandel zur Raketenabwehr sicherheitspolitisch damit, daß die Russische Föderation nicht mehr von den Vereinigten Staaten bedroht werde. Vielmehr müsse sie sich zusammen mit Japan und den Europäern in einem System kollektiver Sicherheit gegen Aggressoren und Abenteurer in der vormals Dritten Welt schützen. Kokoschin und Welichow begründen eine Kooperation mit dem Westen auf diesem Rüstungssektor jedoch nicht in erster Linie mit externen Bedrohungen, sondern mit internen Interessen. Ihr Plädoyer für gemeinsame Programme mit den USA, der EG und Japan scheint der Ausdruck einer umfassenden Strategie zu sein, die Rußland auf möglichst allen Gebieten wenn nicht in die industrialisierte Welt einbinden, so doch an sie anbinden möchte. Es ist auffällig, wie scharf Kokoschin und Welichow Rußland als entwickeltes Land gegen unterentwickelte Länder abgrenzen.

Darüber hinaus scheint die kooperative Raketenabwehr beiden GPALS-Befürwortern deshalb besonders wichtig zu sein, weil sie die Militärplaner zwingt, ein umfassendes Konzept nationaler russischer Sicherheit auszuarbeiten. Das positive Signal an den in Umfang und Struktur gefährdeten militärisch-industriellen Komplex ist ebenfalls klar: SDI-Programme könnten dazu dienen, die Konversion (gemeint ist wohl eher Umrüstung) des militärisch-industriellen Komplexes »weniger schmerzhaft« zu gestalten.

Nicht die vage formulierten Bedingungen der für dringend erachteten russisch-amerikanischen/westlichen Zusammenarbeit stehen bei bei Kokoschin und Welichow im Vordergrund. Vielmehr betonen sie die konkreten Inhalte der Kooperation und das, was Rußland einbringen kann. Genannt werden das weltweit einzige in Betrieb befindliche ABM-System um Moskau (Galosh), das sowjetische Pendant zur amerikanischen Patriot-Rakete (die anti-taktische Waffe vom Typ S-300) und das Trägersystem Energia zur Beförderung von Satelliten ins All. Aber gerade diese Technologien stehen nicht (oben) auf der »Einkaufliste« der SDI-Organisation. Selbstverständlich ist den beiden Russen bewußt, daß Moskau den USA in verschiedenen, aber nicht konkretisierten Bereichen Know-how anzubieten vermag.

Es ist nur konsequent, daß in dieser kooperationspolitisch ausgerichteten Position Rüstungskontrolle bei der Raketenabwehr klein geschrieben wird. Kokoschin scheint mit der bisherigen sowjetischen/russischen Haltung zum als unantastbar geltenden ABM-Vertrag bereits gebrochen zu haben. Denn er bezeichnet das Abkommen als ABM-1 und macht damit deutlich, daß er in Verhandlungen mit den USA für ein verändertes ABM-2 offen ist. Setzt sich diese Position durch – Jelzins Januar-Offerte geht ganz in diese Richtung –, dürften sich die Regierungen der USA und Rußlands näherkommen. Damit würde sich die bisherige Allianz zwischen Moskau und der Mehrheit des US-Kongresses grundlegend verändern. Diese Koalition war vor allem in der Reagan/Gorbatschow-Ära recht erfolgreich für den Erhalt des ABM-Abkommens und gegen eine freizügige Raketenabwehrpolitik der USA eingetreten.

Eine Reihe von Problemen stellen sich erst bei einer bilateralen Annäherung. So ist es schwer vorstellbar, daß selbst das geschwächte Rußland einer gemeinsamen ABM-Abwehr zustimmt, die wegen einer krassen zahlenmäßigen Disparität eindeutig zu seinen Lasten ginge – dies wäre angesichts des bereits erwähnten globalen Dominanz-Interesses der Bush-Administration aus gegenwärtiger Sicht die wahrscheinliche Option. Darüber hinaus stellt sich bei einem System kollektiver »defensiver« Sicherheit auch für das finanzschwache Rußland die Frage nach der Kommandogewalt über den Abschuß von Abfangflugkörpern.

Offen ist die Haltung der Militärs vor allem in der Russischen Föderation. Mit der eifernden Entschiedenheit, die Konvertiten eigen ist, glaubt der ehemalige SDI-Gegner Welichow feststellen zu können: Unter den russischen Militärs wie auch unter den Waffendesignern sei niemand gegen die Jelzin-Initiative. (Die Kritiker dieser Pläne in Rußland und in den USA, also viele politische Bundesgenossen von einst, hält Welichow ohnehin für einflußlose »Reaktionäre«.) Wie bei vielen sicherheits- und rüstungspolitischen Fragen dürften die Militärs in Wirklichkeit auch in der ABM-Frage gespalten sein, und zwar sowohl in der GUS insgesamt als auch innerhalb der Russischen Föderation. Vor allem bei den kleineren GUS-Republiken könnten sich gewachsene antiwestliche Tendenzen mit antirussischen Einstellungen verbinden. Auch Kokoschin ist dies bewußt, wenn er davon spricht, daß die Beteiligung der GUS-Staaten an einem System kollektiver »defensiver« Sicherheit das heikelste Problem der russischen Außenpolitik sei. Diese Republiken mit einzubeziehen, wirft in der Tat automatisch die Frage auf, wer über die Antiraketensysteme verfügen und wer sie kontrollieren soll – das Problem russischer Dominanz und der militärpolitischen Parität innerhalb der GUS wird sich hier dringlich stellen.

5. Die Europäer und Israel: Kalte Schulter und nationale Eigenständigkeit

Die amerikanischen Verbündeten sind in das US-Raketenabwehrsystem konzeptionell auf zweifache Weise eingebunden: einerseits über den Anspruch von GPALS, auch die Alliierten in diesem Projekt globaler Reichweite durch die weltraumgestützten Systeme zu schützen; andererseits durch die nach dem Golf-Krieg neu betonte Komponente der Abwehr von Gefahren aus konfliktträchtigen Regionen. Obwohl der Anspruch auf weltweiten Schutz auf absehbare Zeit nicht zu verwirklichen sein wird, war es dieser Aspekt, der Bush dazu bewog, Bonn, Paris und London zu einer Beteiligung an GPALS aufzufordern. Für die Europäer kommt noch hinzu, daß es das erklärte Ziel der Bush-Administration ist, die auf dem alten Kontinent stationierten US-Truppen durch das globale »Defensiv“konzept zu schützen. Diese konkreten Interessen sollten vor dem Hintergrund des wohl übergeordneten Ziels amerikanischer Raketenabwehrpolitik in der Allianz gesehen werden, nämlich hier die verlorene Vormachtposition nach dem Ende des Ost-West-Antagonismus neu zu begründen.

Während die Antwort Großbritanniens und der Bundesrepublik noch aussteht, erteilte die französische Regierung Washington bereits eine Absage. Hinter der traditionellen Begründung, Frankreich lehne eine »Militarisierung des Weltraums« ab, verbergen sich strategische und politische Interessen. Sie hatten Paris bereits in den achtziger Jahren dazu bewogen, der Einladung der Reagan-Administration zur Teilnahme an SDI nicht nachzukommen. Frankreich fürchtet zum einen, daß GPALS im allgemeinen und ein europäisches Abwehrsystem im besonderen die Rolle des französischen Nuklearpotentials null und nichtig macht. Zum anderen möchte Paris seine politischen Spielräume nicht dadurch einengen lassen, daß es sich in ein sicherheitspolitisches Abhängigkeitsverhältnis zu Washington begibt, das im Rahmen eines Abwehrsystems den Ton angeben würde. Die französische Regierung könnte erheblich unter Druck geraten, wenn sich etwa in Krisensituationen unterschiedliche Interessenlagen ergäben.

Die Bundesregierung

Die Bundesregierung in Bonn steht der Einladung Bushs ebenfalls ablehnend gegenüber. Vordergründig führt sie allerdings vor allem finanzielle Gründe ins Feld. Es scheint Konsens zwischen Kanzleramt, Außenministerium und (zumindest teilweise) der Hardthöhe darin zu bestehen, daß sich eine (export)politische Strategie am besten dazu eignet, das Problem der Proliferation in den Griff zu bekommen. Obwohl offizielle Bedrohungsanalysen der Bundesregierung noch ausstehen, reagiert Bonn, wie im übrigen auch Paris, auf die potentielle Bedrohung durch ballistische Raketen aus Ländern der südlichen Halbkugel im Gegensatz zu Washington gelassen.

Gegenwärtig erscheint es als kaum wahrscheinlich, daß es in der Bundesrepublik in absehbarer Zeit eine Neuauflage der monatelangen Debatten geben wird, die denen um die SDI-Beteiligung Mitte der achtziger Jahre gleichkommt. Die damals grassierende Angst, Europa könnte bei einer Verweigerung technologisch in die Zweitklassigkeit absinken, ist in den neunziger Jahren bisher nicht wieder aufgelebt. Dies ist auf die doppelt negativen Erfahrungen aus der SDI-Beteiligung zurückzuführen. Zum einen verweigerten die USA den erhofften Zugang zu neuestem technologischen Wissen, zum anderen blieb das Auftragsvolumen auch für bundesdeutsche Firmen marginal (dabei hatten sie von SDI-Aufträgen am zweitstärksten profitiert).

Diese Situation wird sich deshalb nicht ändern, weil alle zentralen Projekte weiterhin nur für amerikanische Firmen ausgeschrieben werden. Diese Vergabepraxis zeigt, wie tief der wissenschaftlich-militärische Protektionismus im Pentagon und im Kongreß verwurzelt ist. Eine besondere Verfügung der US-Regierung trifft Messerschmidt-Bölkow-Blohm, das 1986 den weitaus größten SDI-Einzelauftrag erhalten hatte, der je an nicht-amerikanische Konzerne ergangen ist. Nachdem vermutet wurde, daß MBB in illegale Exporte an den Irak verwickelt ist, wurde es von derartigen US-Aufträgen ausgeschlossen. Offen muß gegenwärtig bleiben, inwieweit eine eventuelle Aufstellung von anti-taktischen Abwehrsystemen etwa vom Typ Patriot oder THAAD in Europa zu transatlantischen Kontroversen führt.

Israel

Mit einem anderen Verbündeten, Israel, sind aus heutiger Sicht derartige Meinungsverschiedenheiten eher unwahrscheinlich. Dieser nahöstliche US-Verbündete ist praktisch der einzige Staat, der an der Aufstellung eines ATBM-Systems ernsthaft interessiert ist, allerdings eines eigenen. Mit Geldern der SDIO hat die Firma Israeli Aircraft Industries den Abfangflugkörper Arrow entwickelt, der allerdings erhebliche technische Probleme aufweist. Nachdem die amerikanische Finanzierung im Juli auslief, hat ein Nachfolgeprogramm begonnen, für das die US-Regierung Mittel in Höhe von etwa 18o Mio. USD für die nächsten vier Jahre zur Verfügung stellt.

Trotz der aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Arrow gilt Tel Avivs Präferenz eindeutig diesem Programm – und nicht der Konkurrenzwaffe Patriot, was die harsche israelische Kritik an deren technischer Unzuverlässigkeit während des Golf-Krieges mit erklären mag. Es bleibt abzuwarten, ob Israels ATBM-Interesse in Zukunft auf andere Regionen, etwa Europa, so übergreift, daß auch hier anti-taktische Waffen der USA politisch hoffähig werden.

Bernd W. Kubbig ist Projektleiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt.

III. Metamorphosen einer Vision – Kritische Anmerkungen zu SDI/GPALS

Seit der damalige US-Präsident Ronald Reagan mit seiner berühmten Star-Wars Rede vom 23.3.1983 die Wissenschaftler aufgefordert hatte, die nukleare Bedrohung »impotent und obsolet« zu machen, haben sich die politischen Rahmenbedingungen radikal verändert. Das »Reich des Bösen«, vor dem SDI vorgeblich schützen sollte, ist zerbrochen. Dennoch konnte sich das SDI-Programm bisher den Stürmen der Zeit widersetzen. Die 1984 gegründete SDI-Organisation (SDIO) hat es wie ein Chamäleon verstanden, sich wechselnden Bedrohungsmustern und Feindbildern anzupassen und steigende Mittel zu beanspruchen, trotz Kürzungen im Verteidigungshaushalt.7

Zunächst als technisch-ambitionierter Weltraum-Schutzschirm vor einem umfassenden sowjetischen Nuklearangriff präsentiert, sollte SDI bald darauf zum Schutz der eigenen Kernwaffenträger vor einem Erstschlag dienen, um schließlich mit dem Ziel einer begrenzten Abwehr gegen versehentliche Nuklearangriffe fast zu versanden. Wie ein Phönix aus der Asche stieg SDI nach dem Golfkrieg erneut empor, als sich die Patriot-Rakete als vermeintlicher Retter darstellte. Auf dieser Welle schwimmend und sie zugleich antreibend, konnte US-Präsident George Bush mit GPALS ein globales System zum Schutz vor begrenzten Raketenangriffen, besonders aus der Dritten Welt, in Auftrag geben.

Das neue Bedrohungsmuster konnte angesichts der patriotischen Gesinnung nach dem Golfkrieg sowohl den US-Kongreß überzeugen, der einer Mittelerhöhung und einer mit dem ABM-Vertrag konformen ersten Stationierung zustimmte, wie auch die russische Führung, die, ihres Supermachtstatus beraubt, lieber gemeinsam mit der verbleibenden Supermacht Bedrohungen aus der Dritten Welt abwehren wollte, statt selbst auf den Status eines Entwicklungslandes zu sinken. So wie die Existenz der Sowjetunion einst als Argument für eine Raketenabwehr diente, so wird deren Zusammenbruch nun zur Triebfeder für die Fortführung des SDI-Programms, das sich zum Nulltarif aus dem verbleibenden Reservoir an Rüstungs- und Weltraumtechnologien des früheren Gegners bedienen will.8

Schwieriger war dagegen der Versuch auf der Wehrkunde-Tagung in München am 8./9. Februar 1992, auch die europäischen NATO-Verbündeten zu einer politischen Zustimmung zu bewegen.9 Hier sind unterschiedliche wirtschaftliche und (sicherheits-)politische Motive maßgeblich, was nicht ausschließt, daß Teile des Establishments in GPALS eine Option sehen.10 Nach der Beilegung des Ost-West-Konfliktes und dem Wegfall des Hauptfeindes Sowjetunion sieht Generalstabschef Colin Powell die wahre Bedrohung „im Unbekannten, in der Unsicherheit“.11 Ein Mangel an konkreten Feindbildern machte sich auch bei US-Vizepräsident Dan Quayle anläßlich der Wehrkundetagung vorübergehend bemerkbar: „Wir wissen nicht, wann der nächste `-ismus' kommt, aber Bedrohungen und Konflikte wird es weiter geben, und eine neue Bedrohung entsteht schneller, als man eine neue Allianz schmieden kann.“12 US-Präsident George Bush schließlich hatte in seinem Bericht zur Lage der Nation am 29.1.1991 ehrgeizige Ziele für SDI gesteckt: „Wir wollen ein SDI-Programm verfolgen, das jeder zukünftigen Bedrohung der Vereinigten Staaten, unserer Streitkräfte in Übersee und unserer Freunde und Verbündeten gewachsen ist.“ 13

1. Die Strukturen von GPALS/SDI

Bis zum Haushaltsjahr 1991 bestand SDI aus folgenden sechs Programmelementen:

  1. SATKA (Surveillance, Acquisition, Tracking and Kill Assessment), z. B. Sensoren, Radartechnologie, Aufklärung und Bahnverfolgung etc.
  2. DEW (Directed Energy Weapons), z.B. Laser- und Teilchenstrahlwaffen
  3. KEW (Kinetic Energy Weapons), z.B. Brilliant pebbles, Bodenabfangraketen
  4. SLKT (Survivability, Lethality and Key Technologies), z.B. Studien zur Zerstörungswirkung und Überlebensfähigkeit der Abwehr
  5. SC/BM (Systems Concepts and Battle Management), z.B.Systeme zum Gefechtsfeld-Management
  6. BSTS/FSD (Boost Surveillance and Tracking System/Full-Scale Development), z.B. Aufklärungssysteme

Im Rahmen dieser Programmelemente werden fortwährend Versuche durchgeführt, die oftmals weniger der technischen Fortentwicklung dienten, als vielmehr der Einflußnahme auf politische Entscheidungen (besonders spektakulär waren die überzeichneten »Erfolge« des Röntgenlasers). Im Frühjahr 1991 etwa wurde, parallel zu den Verhandlungen im US-Kongreß, eine Reihe von SDI-Tests durchgeführt, darunter ein Flugtest mit Brilliant Pebbles sowie der Test mit einem Zielortungssystems an Bord eines Space Shuttles, in das auch die von MBB entwickelte SPAS-2 Plattform einbezogen war.

Als Bewertungskriterien für ein mögliches SDI-System wurden 1985 von Paul Nitze die Überlebensfähigkeit und die Kosteneffektivität gefordert und vom US-Kongreß zur Bedingung für eine Stationierung gemacht. Ohne die Einhaltung der Bedingungen nachzuweisen, bemühte sich die Reagan-Administration dennoch ab 1987, eine großangelegte, schrittweise Stationierung, genannt »Phase I«, zu propagieren, was nicht zuletzt wegen der Unvereinbarkeit mit dem ABM-Vertrag auf heftigen Widerspruch im Kongreß stieß. Damit verbunden war eine Schwerpunktverlagerung von den »exotischen« Laserwaffen auf die teilweise »erprobten« kinetischen Waffen. 1988 versuchte der Kernwaffenforscher Lowell Wood vom Lawrence Livermore National Laboratory mit dem Konzept der Brilliant Pebbles einen Rettungsversuch für SDI. Anfang 1990, immerhin ein Jahr vor dem Golfkrieg, legten Edward Teller und Gregory Canavan (Los Alamos) in der Wissenschafts-Zeitschrift »Nature« die Grundidee für ein globales Abwehrsystem gegen begrenzte Raketenangriffe vor, besonders solche aus der Dritten Welt.14

Von einigen SDI-Befürwortern wird GPALS als Einstieg in die Frühstationierung (Phase I) des alten SDI-Konzepts verstanden, die etwa drei bis vier mal soviele boden- und weltraumgestützte Abfangraketen und Sensoren umfassen soll. Weitere Phasen sollen folgen, die auch »exotische« Waffensysteme wie Laserwaffen enthalten. Das vom US-Kongreß vorgeschlagene bodengestützte und mit dem ABM-Vertrag konforme »Limited Protection System« (LPS) in Grand Forks und die »Theater Missile Defense Initiative« (TMDI) können als Vorstufe zu GPALS aufgefaßt werden. In der folgenden Übersicht werden einige der Technologiekomponenten von GPALS kurz beschrieben.15

Bei wechselnden Begründungen und Programmbezeichnungen konnte das SDI-Programm sich mit mehr als 25 Milliarden US-Dollar seit 1984 einen beträchtlichen Anteil der militärischen Forschung und Entwicklung der USA sichern. Für das Haushaltsjahr 1992 beanspruchte die SDIO immerhin 18.2% der Mittel für die Technologien, die das Pentagon jährlich im Critical Technologies Plan auflistet.16 Während im Haushaltsjahr 1992 4,15 Mrd. $ für SDI bewilligt wurden, hat die SDIO für 1993 5.4 Mrd. $ beantragt. Allein für das THAAD System sollen die Ausgaben von 100 Mio.$ (1992) auf 243 Mio.$ steigen.17

SDI-Ausgaben 1992 und 1993 (in Mio. $)
SDI-Teilbereich Mittel `92 Anteil beantr. `93 Anteil
Limited Defense System 1521 37% 2134 40%
Theater Missile Defenses 829 20% 1060 20%
Space-Based Interceptors 465 11% 575,5 11%
Other Follow-on Systems 630 15% 849,5 16%
Research & Support Activities 705 17% 754,7 14%
Total 4150 100% 5374 100%
(Quellen: ACR (1991), SDI-Monitor vom 31.1.92)

Technologiekomponenten von GPALS

Brilliant Pebbles (BPs): halbautonome, manövrierfähige Abfangraketen auf Satelliten in niedriger Umlaufbahn zur Abwehr von angreifenden Lang- und Mittelstreckenraketen in der Startphase bzw. der Nachstartphase. Die 1 m langen, rund 50 kg schweren Flugkörper vereinen einen Infrarot-Sensor zur Ortung der Abgasflamme einer anfliegenden Rakete, einen Kleincomputer hoher Rechenleistung (vergleichbar Cray-1) auf engstem Raum mit einem Antrieb, um das Ziel anzufliegen.

Brilliant Eyes (BEs): mit Sensoren ausgestattete Frühwarnsatelliten in mittlerer Umlaufbahn, die Raketenstarts per Infrarotsensor aufspüren und die Daten an die BPs oder andere Einheiten weitermelden sollen.

Ground-Based Interceptors (GBIs) haben die Aufgabe, die anfliegenden Sprengköpfe von Interkontinentalraketen außerhalb der Atmosphäre (bis ca. 200 km Höhe) abzufangen. Die GBI-Entwicklungen, die 1989 begonnen wurden, fußen auf dem ERIS(Exo-atmospheric Re-entry Vehicle Interceptor)-Programm, das ca. 30 Jahre ABM-Forschung in den USA vereint. Ein Schwerpunkt ist die Unterscheidung von Attrappen und echten Sprengköpfen. Am 28.1.1991 fing eine ERIS-Testversion einen anfliegenden Minuteman-I-Sprengkopf durch Aufprall ab. Ein Test am 13.3.1992 schlug dagegen fehl.

Endo-Exoatmospheric Interceptor (E2I) basiert auf dem seit 1986 im Rahmen von SDI vorangetriebenen Programm HEDI (High-Endoatmospheric Defense Interceptor) und soll Sprengköpfe besonders innerhalb der Atmosphäre durch einen direkten Treffer ausschalten. Ein HEDI-Test fand am 26.1.1990 in White Sands statt.

Ground-Based Radar (GBR): Bodengestützte, teilweise mobile Radars sind nötig, um anfliegende Sprengköpfe in der letzten Freiflug- und in der Anflugphase frühzeitig zu erfassen, zu verfolgen und die Abwehrraketen ins Ziel zu lenken.

Ground-Based Surveillance and Tracking System (GSTS) befindet sich an der Spitze einer Rakete und kann bei Bedarf in den Weltraum geschossen werden, um mittels Infrarot-Sensoren anfliegende Sprengköpfe aufzuspüren.

Theater Missile Defense Initiative (TMDI): Verbesserte Patriot: Im Rahmen des »Multi-Mode-Seeker« Projektes soll mit deutscher Kooperation ein aktives Suchsystem in die Patriot eingebaut werden, um so taktische, ballistische Raketen mit geringerem Radarquerschnitt, hoher Endgeschwindigkeit und steilem Eintrittswinkel besser abfangen zu können. Weitere Verbesserungen an Hard- und Software sollen vorgenommen werden.

Aegis: Es werden Untersuchungen durchgeführt, um dem Abwehrsystem der US-Navy eine Fähigkeit zur Abwehr taktischer Raketen zu verleihen.

Extended Range Interceptor (ERINT): Hierbei handelt es sich um eine kleine, manövrierbare »fire-and-forget«-Rakete, die, stationiert wie Patriot, anfliegende Sprengköpfe bis zu einer Höhe von 15 km durch die Explosion eines konventionellen Sprengkopfs abfangen soll. 1987 gelang angeblich die Abwehr einer Lance-Kurzstreckenrakete durch eine ERINT in 15 km Höhe. Es ist geplant, daß die Rakete auch Flugkörper mit luftansaugenden Triebwerken abfangen kann.

Arrow: ist eine Abwehrrakete, die im Rahmen des amerikanisch-israelischen ACES (Arrow Continuation Experiment) Programms angesichts der Bedrohung durch Raketen im Mittleren Osten entwickelt wird. Die ACES-Abfangrakete wird etwas leichter und kleiner als die Arrow sein. Forschung, Entwicklung und Test sollen im Haushaltsjahr 1996 abgeschlossen sein.Theater High Altitude Area Defense (THAAD) soll bereits in der oberen Atmosphäre anfliegende Raketen abfangen können und einen größeren Radius (160 statt 32 km) schützen als die Patriot. Es soll mobil sein und auch auf Schiffen installiert werden können. Mitte der 90er Jahre soll ein Demonstrationssystem, bestehend aus einigen Dutzend Raketen, getestet werden. Die dazugehörigen Radar- und Peripheriesysteme werden zusätzlich entwickelt und sollen mit GPALS einen festen Verbund bilden.

Quellen: SDIO (1991), Interavia (1991), Canavan (1991)

Von den 1991 geschätzten Gesamtkosten für Bau, Test und Stationierung eines GPALS-Systems in Höhe von 41 Mrd. $ sind 9 Mrd. $ für taktische und regionale Raketenabwehr vorgesehen. Nach Angaben der SDIO sollen Forschung, Entwicklung, Beschaffung und Transport von 1.000 Brilliant Pebbles ca. 10 Mrd. $ kosten. Für die Anschaffung von 750 Bodenabwehrraketen (GBIs) und sechs Bodenradars (GBRs), Anschaffung und Start von 60 Brilliant Eyes, sowie die Anschaffung von dazugehörigen Befehls- und Kontroll-Installationen werden 22 Mrd. $ (in konstanten Dollars von 1988) veranschlagt.18 Von den bis zum Jahr 2005 für SDI geplanten 90 Mrd. $ ist mehr als ein Drittel (33.9 Mrd. $) für Technologie-Entwicklung vorgesehen.19

Durch den Abschluß von Rahmenabkommen gelang es der SDIO, mit vergleichsweise geringen Beträgen andere westliche Regierungen und Rüstungsfirmen in das SDI-Programm einzubeziehen und damit die politische Unterstützungsbasis zu verbreitern. Auffällig ist der hohe Anteil Israels, der auf die Unterstützung des Arrow-Programms zurückzuführen ist.

SDI-Rahmenabkommen mit verschiedenen Ländern
Land MOU-Datum Mittel (in Mio. $)
Großbritannien 6.12.1985 92
West-Deutschland 27.3.1986 75
Israel 6.4.1986 500
Italien 19.9.1986 15
Japan 21.7.1987 3,8
Niederlande 21.7.1987 15
MOU: Memorandum of Understanding
(Quelle: Hildreth (1992), S. 4)

2. Patriot im Golfkrieg – Erfolg zweifelhaft

Ein maßgeblicher Motor für die öffentliche Wiederbelebung des Raketenabwehrgedankens war der spektakuläre Einsatz der Patriot-Abwehrrakete gegen irakische Scud-Raketen im zweiten Golfkrieg. Fernsehgerecht wurden Patriot-Starts von der internationalen Presse als erfolgreiche Abschüsse gefeiert. Nach anfänglicher Darstellung durch Offizielle der Armee sollen 45 von 47 anfliegenden Sprengköpfen wirkungsvoll bekämpft worden sein, ohne jedoch solide Belege vorzuweisen. Auf solche Erfolgsmeldungen zurückgreifend, erklärte US-Präsident George Bush schon während des Golf-Krieges am 15.2.1991 bei einem Besuch von Raytheon: „Zweiundvierzig Scuds bekämpft, 41 abgefangen“.20 Nach dem Golfkrieg, Ende April 1991, gab die Patriot-Herstellerfirma Raytheon an, daß 90% der Scud-Sprengköpfe über Saudi-Arabien und die Hälfte über Israel zerstört worden seien. Vergleichbare Zahlen benutzte Brigadegeneral R. Drolet noch am 6.12.91.21 Amerikanische Regierungsvertreter konnten so das Duell Patriot gegen Scud leicht als Argument für mehr Raketenabwehr verwenden.

Inzwischen ist in den USA Ernüchterung eingetreten, denn die Wirksamkeit des Patriot-Abwehrsystems im Golfkrieg ist umstritten. Dazu beigetragen haben Wissenschaftler, die die hohen Trefferquoten bezweifelten und behaupteten, die Armee übertreibe den Erfolg der Patriot. Aufgrund öffentlich verfügbarer Daten kam der Physiker Ted Postol, Professor am Massachussetts Institute of Technology, in einer Anhörung vor dem US-Kongreß schon kurz nach dem Golfkrieg zu dem Ergebnis, daß die vermeintlich große Effektivität der Patriot fraglich sei.22 Es könne nicht einmal zweifelsfrei entschieden werden, ob durch den Patriot-Einsatz eine Erhöhung oder Verminderung der Schäden erreicht wurde. Besonders im Hinblick auf die GPALS-Vorschläge weist er daraufhin, daß nicht so wichtig sei, ob die Patriot die Scud treffe, sondern welchen Schaden die herunterfallenden Trümmer oder die intakten Sprengköpfe auf dem Boden anrichten. In der Tat zeigen einige Fernsehaufnahmen, daß der anfliegende Sprengkopf verfehlt wird oder trotz der Explosion des Patriot-Sprengkopfes weiterfliegt und am Boden explodiert. In einem Falle wird erkennbar, daß die herabfallenden Patriots selbst auf dem Boden explodierten. Aufgrund eines Software-Fehlers kamen am 28.2.1991 zudem 28 Soldaten der USA ums Leben, als ein Scud-Sprengkopf in eine Soldatenunterkunft in Saudi-Arabien flog und explodierte. Eine geheimgehaltene Studie des israelischen Verteidigungsministeriums schließlich soll belegen, daß nur drei der Scud-Sprengköpfe, die auf Israel fielen, überhaupt zerstört wurden.23

Inzwischen wird die ursprünglich behauptete Abwehreffektivität der Patriot auch in Militärkreisen bezweifelt. Die Vorsitzenden der Verteidigungsausschüsse bestätigten, daß herabstürzende Teile der Patriot an Wohngebäuden in Israel erheblichen Schaden angerichtet hätten.24 Selbst neuere Aussagen der Armee, wonach in Israel 40% und in Saudi-Arabien 70% der angegriffenen Scud-Raketen zerstört oder außer Funktion gesetzt wurden, erscheinen zunehmend fraglich. Nach Ansicht von Steven Hildreth vom Forschungsdienst des US-Kongresses, vorgetragen während eines Kongreß-Hearings im April 1992, belegen die verfügbaren Daten nur die Zerstörung einer einzigen Scud-Rakete über Israel.25 Der Kongreßabgeordnete John Conyers forderte daraufhin eine Freigabe der Armeedaten und deren unabhängige Untersuchung: „Ironischerweise, je mehr Informationen wir haben, umso weniger erfolgreich erscheint die Patriot.“26

Trotz einiger Ungereimtheiten zeigte der Golfkrieg, wie weit die Patriot noch von einem einsatzfähigen Raketenabwehrsystem entfernt ist. Ursprünglich nur zur Luftabwehr gegen Flugzeuge entwickelt, sollte Patriot erst durch Modifikationen von Radar, Software, Gefechtskopf und Zünder eine Fähigkeit zur Abwehr von Kurzstreckenraketen erlangen. Die Praxis zeigt, daß die Wirksamkeit selbst gegen die veraltete und modifizierte Scud-B-Rakete, die auf russischer Raketentechnologie der 50er und 60er Jahre basiert, begrenzt ist. Es ist nach wie vor eine technisch anspruchsvolle Aufgabe, eine mit mehr als sechsfacher Schallgeschwindigkeit anfliegende Rakete mit einer anderen Rakete im Fluge zu treffen und den Sprengkopf zu neutralisieren. Von einem effektiven Schutz von Bevölkerungszentren kann nur dann gesprochen werden, wenn der konventionelle Sprengkopf funktionsunfähig wird und die herunterfallenden Trümmer keinen Schaden anrichten. Im Erfolgsfalle kann Patriot zwar die Explosionsenergie des konventionellen Sprengstoffs ausschalten, nicht jedoch die vergleichbar große Bewegungsenergie der anfliegenden Scud-Rakete. Im Falle eines Abschusses wurden die verbleibenden Scud-Trümmer auf eine größere Zahl von Zielen verteilt. Hinzu kommt die ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit herabfallende Masse der Patriot-Raketen selbst, von denen etwa drei pro Scud gestartet wurden.

Die Abfangaufgabe wurde dadurch weiter erschwert, daß Raketenstufe und Sprengkopf der Scud oft in mehrere Teile auseinanderbrachen, die für das Patriot-System nicht leicht zu unterscheiden waren. Ein entsprechender Effekt könnte in Zukunft gezielt herbeigeführt werden durch das Ausstoßen leichter Täuschkörper, die das Patriot-Radarsystem kaum von Sprengköpfen unterscheiden kann. Dieses Beispiel zeigt, daß bereits einfache Gegenmaßnahmen das Problem weiter verkomplizieren und die Abwehreffektivität reduzieren können. Die Aufgabe würde um ein Vielfaches komplizierter, wenn der Sprengkopf eine nukleare oder chemische Ladung enthielte. Eine Kernwaffe könnte vor dem Abfangvorgang zur Explosion kommen, und die radioaktiven Trümmer könnten ein weites Areal verseuchen. Bei 50% Abwehrwahrscheinlichkeit würden zwei Raketen genügen, um eine Stadt fast sicher zu zerstören.

Unzweifelhaft bleibt, daß die Aufstellung der Patriot eine politische und psychologische Funktion gehabt hat. Dies wird vermutlich genügen, um weitere Forschungen auf dem Gebiet der Raketenabwehr am Leben zu halten.27 Für ein erfolgversprechendes Abwehrsystem gegen Massenvernichtungswaffen ist dies jedoch keine ausreichende Basis. Weder ist die Patriot-Rakete zum Schutz von Bevölkerungszentren gedacht, noch bietet sie einen Schutz gegen Mittel- und Langstreckenraketen mit nuklearem oder chemischem Sprengkopf.

3. Machbarkeit und Kosten von GPALS

Patriot hat zwar einen Aufschwung für GPALS gebracht, jedoch keine neuen Erkenntnisse für deren technische Realisierung, die erheblich schwieriger sein wird. Andererseits liegen die technischen Anforderungen deutlich unter denen des ursprünglichen Ansatzes, der in zahllosen Studien in Frage gestellt wurde.28 Auch GPALS wird mit Problemen zu kämpfen haben, die zu einem unverhältnismäßig hohen technischen Aufwand führen, ohne daß es je eine hundertprozentige Abwehrsicherheit geben kann. Wie ausgereift die technische Konzeption ist, kann angesichts ungenügender bzw. verschleiernder Angaben zur Zeit nur schwer beurteilt werden, zumal es scheint, als habe dabei der Gesichtspunkt der raschen politischen Durchsetzbarkeit im Vordergrund gestanden. Dabei wird in Kauf genommen, daß die Gesamtarchitektur nicht ausreichend entwickelt ist.

Auf die Probleme und Risiken eines derartigen Vorgehens weist ein Bericht des Rechnungshofs der amerikanischen Regierung (Government Accounting Office, GAO) hin. Darin wird konstatiert, daß die Entscheidung über die Integration von weltraumgestützten Abfangsystemen (space based interceptors, SBIs) in die GPALS-Architektur erhebliche Konsequenzen hat, deren Ausmaß unbekannt ist: „Werden SBIs in die Architektur eines Raketenabwehrsystems integriert, aber niemals stationiert, werden unnötige Systemkosten erzeugt. Wenn auf der anderen Seite SBIs nicht integriert werden, dies jedoch später notwendig erscheinen sollte, ist eine teure Umstrukturierung erforderlich.“ 29 Die Folge einer unausgereiften und instabilen Architektur können zeitliche Verzögerungen, eskalierende Kosten, nicht erreichbare Missionsziele und technische Risiken sein. Die Verwendung von Weltraumkomponenten zur Raketenabwehr in der Startphase erfordert wie geplant eine teure Stationierung von hunderten von Abwehrsatelliten, die ständig die Erde umkreisen, um jedes mögliche Startgebiet zu überdecken. Eine Bodenabwehr in der Endanflugphase reicht auf keinen Fall aus, um nukleare Explosionen und den damit verbundenen Schaden (u.a. elektromagnetischer Puls (EMP), radioaktiver Fallout) über dem angegriffenen Gebiet zu verhindern. Auch durch eine Weltraumabwehr kann nicht ausgeschlossen werden, daß das nukleare Material der Sprengköpfe in die Atmosphäre eindringt und dort verteilt wird.

Das Problem der Gegenmaßnahmen stellt sich ebenfalls wieder neu, auch wenn Staaten der Dritten Welt hier sicherlich erheblich geringere Möglichkeiten haben als die frühere UdSSR. Dazu gehören die schon angesprochenen Täuschkörper, die die Ortung eines Gefechtskopfs im Weltraum oder beim Wiedereintritt erschweren sollen. Mittels einfacher Tarnmaßnahmen wie Ballons, Wärmequellen oder das Auseinanderbrechen der Rakete in mehrere etwa gleich große Teile, zwischen denen sich die Sprengköpfe verstecken, könnte die Identifizierung erschwert werden, ein bislang technisch ungelöstes Problem.

Zudem könnte ein Angreifer verschiedene aktive Gegenmaßnahmen unternehmen, um den Abwehrerfolg zu schwächen. Einzelne Komponenten des Gesamtsystems sind empfindlich gegen Störversuche und Angriffe, v.a. gegen elektronische Kriegsführung, Anti-Satelliten-Waffen sowie den EMP einer Nuklearexplosion, der Satellitenelektronik in erdnahen Umlaufbahnen zerstören kann. Weiterhin wäre es auch für einige Schwellenländer der Dritten Welt, die eine eigenständige Weltraumstartkapazität besitzen, möglich, die von GPALS genutzten Bahnen mit Weltraumschrott zu »verunreinigen«. Die wärmeempfindlichen Weltraumsensoren von GPALS könnten durch Lasereinstrahlung vom Boden geblendet werden. Unterhalb einer Flughöhe von 100 – 130 km blenden sich die Sensoren der Brilliant Pebbles durch Reibung mit der Atmosphäre selbst. Daher kann die Weltraumkomponente von GPALS unterflogen werden, etwa durch ballistische Raketen kurzer und mittlerer Reichweite, bei denen der Scheitelpunkt der Flugbahn entsprechend niedrig liegt, sowie durch Flugzeuge und durch die schwer abzuwehrenden Marschflugkörper.30 Werden weitreichende Raketen so modifiziert, daß die Startphase noch in der Atmosphäre abgeschlossen werden kann, ist eine Ortung aufgrund des sichtbaren Raketenantriebs nicht mehr möglich. Aus diesen Gründen eignet sich ein Weltraumsystem nicht zur Abwehr von U-Boot-Raketen, die in der Nähe der Küste abgeschossen werden, oder für den Einsatz in Krisenregionen, in denen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite zum Einsatz kommen können. Eine Raketenabwehr kann auch nicht verhindern, daß Atombomben sowie chemische oder biologische Waffen heimlich per Schiff oder Lastwagen in ein Land eingeschmuggelt werden. Aufgrund der Bestimmungen des ABM-Vertrages gibt es keine Möglichkeit, ein Raketenabwehrsystem zu stationieren, das zugleich effektiv und vertragskonform ist. Durch Asymmetrien in Technologie und Geographie sind die Voraussetzungen zur Schaffung eines Raketenabwehrsystems für die USA, GUS und Europa zudem völlig unterschiedlich (vgl. B. Kubbig).

Bei allen technischen Problemen darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Realisierung von GPALS/SDI letztlich eine Frage der politischen Akzeptanz der Kosten ist. Sind bereits die offiziell geschätzten mehr als 40 Mrd. Dollar ein beträchtlicher Posten, so kann sich bei Annahme üblicher Kostensteigerungen in komplexen Systemen durchaus ein Wert von 100 Mrd. Dollar oder mehr ergeben.31 Dies steht mit anderen zivilen und militärischen Ausgaben in Konkurrenz und wird nicht zu vernachlässigende Auswirkungen auf die ohnehin schon belasteten Volkswirtschaften haben, sicherlich auch die sozialen Probleme in den USA verschärfen. Nennenswerte Nutzanwendungen im zivilen Bereich, der sogenannte »Spin-Off«, sind nach den bisherigen Erfahrungen mit SDI kaum zu erwarten. Bei entsprechend hohen finanziellen Aufwendungen mögen sich einige der genannten technischen Probleme lösen lassen, doch spricht vieles dafür, daß es für die Gegenseite(n) relativ billig ist, dies wiederum zu kompensieren. Solange Länder Kernwaffen zur Abschreckung für nötig halten, werden sie Gegenmaßnahmen gegen Abwehrsysteme entwickeln. Das kann zu neuen Rüstungswettläufen führen. Sich im Vertrauen auf überlegene westliche Technik und Wirtschaft auf ein Wettrüsten einzulassen, würde der Menschheit weitere Ressourcen entziehen, die für die Lösung globaler Probleme dringend benötigt werden.

4. Risiken und Instabilitäten

Die Hardware und Software von GPALS, einschließlich der beteiligten Personen, bilden ein hochkomplexes und gekoppeltes System, das kaum vollständig zu testen sein wird und zahlreiche Möglichkeiten zur Instabilität enthält. Zum einen mag ein solches System im Kriegsfalle nur eine geringe Zuverlässigkeit bei der Ausführung seines Auftrags aufweisen, zum anderen kann es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus Versehen in Aktion treten und andere Weltraumobjekte oder zivile Weltraumraketen abschießen. Auch wenn der dadurch verursachte Schaden begrenzt sein sollte, kann das in einer Krise zu unberechenbaren Reaktionen führen.

Der schon erwähnte GAO-Bericht sieht große technische Probleme und Risiken durch die Instabilität und Komplexität der GPALS-Architektur, die sich nicht wesentlich von denen von SDI unterscheiden: „Die technische Komplexität bei der Integration der GPALS Segmente und Subsysteme ist beispiellos. Seine Funktionen sind auf hunderte von Computern im Weltraum und rund um die Welt verteilt. Das System muß in einer feindlichen Umgebung in Echtzeit operieren, mit einer dynamischen Konfiguration von Sensoren, Zielen und Abfangflugkörpern. Die Kommunikation und Datenverarbeitung muß hochgradig zuverlässig und sicher sein. Angesichts der kurzen Reaktionszeit – 35 Minuten für eine ICBM und viel weniger für eine taktische Rakete – müssen die kritischen Daten praktisch sofort empfangen, analysiert und ausgeführt werden. Und weil die Komponenten zur Datenverarbeitung und -übertragung während eines Gefechts ausfallen oder zerstört werden könnten, müssen die Verbindungen zwischen den Subsystemen für Veränderungen flexibel sein.“32

Die Entwicklung des Gefechtsführungssystems gilt als der schwierigste Teil eines Raketenabwehrsystems. Nach Ansicht von Pentagonvertretern sollen die Anforderungen von GPALS an die Sicherheit, Korrektheit und Fehlertoleranz von Software nicht wesentlich höher sein als für Kernreaktoren, medizinische Systeme oder Flugkontrollsysteme. Demgegenüber ist für den GAO-Bericht GPALS nicht mit anderen Systemen vergleichbar. Während als Folge des Software-Fehlers der Patriot 28 Menschen ums Leben kamen, könnte das Versagen von GPALS Millionen Menschen das Leben kosten33. Ob GPALS/SDI Anreize zum vorwegnehmenden Angriff (Präemption) schafft, hängt sehr stark vom Kontext ab, etwa von der Verfügungsgewalt über das System, dem Verhältnis von Offensivwaffen und Abwehrsystemen und der zur Verfügung stehenden Zeit. Während der russische Präsident Boris Jelzin ein von der UNO betriebenes Raketenabwehrsystem vorschlägt, scheint den USA nichts ferner zu liegen, als mit anderen, noch dazu politisch unsicheren Staaten die Verfügungsgewalt über GPALS zu teilen.

Bei einem gemeinsamen Betrieb von GPALS durch mehrere Staaten ergeben sich in einer Krise Zuständigkeits- und Kontrollfragen, über die in Sekundenschnelle entschieden werden müßte, damit eine Abwehr noch in der Startphase möglich ist. Dies macht politische Entscheidungen praktisch unmöglich. Im Falle einer Krise oder eines Militärputsches in der GUS etwa könnten die beteiligten Parteien die Befürchtung hegen, der Gegenpart könnte sich der Verfügung über GPALS bemächtigen, um daraus militärische Vorteile zu ziehen. Auch wenn dies ausgeschlossen werden könnte, gäbe es in einer Bedrohungssituation eventuell die Befürchtung, eine der Nuklearmächte könnte im Rahmen eines Erstschlages ihr gesamtes Raketenarsenal einsetzen, um das begrenzte Abwehrsystem zu überwinden und den eigenen Schaden zu minimieren. Dies mag zudem die Bereitschaft verringern, das eigene Nuklearwaffenarsenal unter eine von der Abwehrfähigkeit der Gegenseite gesetzte Zahl abzurüsten.34

Sowohl die boden- wie auch die weltraumgestützten Abwehrschichten von GPALS können Satelliten innerhalb kurzer Zeit zerstören. Dies widerspricht den Erklärungen des US-Kongresses und von Präsident Jelzin, die auf der Einhaltung eines Testverbots von ASAT-Waffen bestehen. Abwehrraketen können vom Boden aus in wenigen Minuten Satelliten in niedriger Umlaufbahn zerstören, Brilliant Pebbles sogar noch schneller, jederzeit und weltweit. Darüber hinaus haben letztere die Fähigkeit, in rund 90 Minuten in die wichtige geostationäre Umlaufbahn vorzudringen, in der u.a. militärische Frühwarn- und Kommunikationssatelliten die Erde umkreisen.35 Jede andere Macht, für die Satelliten im Weltraum von Bedeutung sind, muß diese dadurch gefährdet sehen. Nach Aussagen von SDI-Befürwortern sollen Komponenten von GPALS, besonders die Brilliant Eyes, die weltweite Kriegsführungsfähigkeit der USA verstärken. Warum sollten sich nur Staaten der Dritten Welt durch eine globale militärische Vormachtstellung der USA bedroht fühlen?

Umweltpolitischer Nutzen?

Zur Anhebung der Akzeptanz werden GPALS weitere »wünschenswerte Nebeneffekte« zugeschrieben. Unter der Überschrift „Globale Sicherheit ist mehr als bloß militärische Sicherheit, und Weltraumsysteme spielen eine Schlüsselrolle“ listete Paul Brown (Livermore-Labor der USA) während eines Vortrags in Castiglioncello (Italien) im Oktober 1991 verschiedene Einsatzmöglichkeiten von Satellitensensoren, insbesondere den Brilliant Eyes, auf. Dazu gehören, neben der Verbesserung der konventionellen Kriegsführung, die Überwachung von (Natur) Katastrophen, globalen Klimaveränderungen, Ozonabbau und anderen ökologischen Problemfeldern.36 In eine ähnliche Richtung ging der Vorschlag von Sergei Machulin vom Forschungs-Institut des sowjetischen Verteidigungsministeriums im Herbst 1991, ein globales System für strategische Überwachung und Verteidigung unter der Kontrolle der UNO einzurichten, das Umweltüberwachung und Notfallmeldungen einbezieht.37

Statt Umweltprobleme zu lösen, dürfte SDI/GPALS eher neue Umweltprobleme schaffen. Zum einen gehört dazu der neu entstehende Weltraummüll, der zu dem schon vorhandenen hinzukommt. Selbst nur zentimetergroße Splitter hätten bei Relativgeschwindigkeiten von 10 km/s die Zerstörungsenergie eines tonnenschweren PkW mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h, genug, um jeden existierenden Satelliten schwer zu beschädigen. Schon jetzt umkreisen etwa 7000 Objekte in einer Größe von mehr als zehn Zentimetern und etwa 50.000 Objekte größer als 1 cm die Erde. Bei Fortsetzung der Weltraumstarts könnte die Zahl der Bruchstücke durch Zusammenstöße explosiv anwachsen, vergleichbar einer Kettenreaktion, und die erdnahen Umlaufbahnen auf Dauer unbenutzbar machen.38

Weitere Probleme entstehen durch die Freisetzung umwelt- und gesundheitsgefährdender Substanzen bei den für SDI/GPALS vorgesehene Raketenstarts, die die empfindliche Ozonschicht schädigen können.39 Noch vergleichsweise wenig untersucht sind die Folgen eines Einsatzes nuklearer Energiequellen für Raketen und Satelliten im Rahmen von SDI. Die Abstürze von mit nuklearen Batterien ausgerüsteten sowjetischen Satelliten, der umstrittene Start des nukleargetriebenen Galileo-Satelliten der USA und die langjährige Diskussion über den orbitalen SP-100-Kernreaktor haben die Risiken der Kernenergie im Weltraum zum Thema gemacht. Es gibt Vorschläge von amerikanischen und sowjetischen Wissenschaftlern, die auf ein Verbot von Weltraum-Reaktoren drängen.40 Die spektakuläre Enthüllung des geheimen Timberwind-Projekts der SDIO durch die Federation of American Scientists (FAS) im April 1991 hat nun auch die Problematik nuklearer Raketenantriebe in die öffentliche Debatte gebracht.41 Ziel des Projekts ist die Entwicklung eines Reaktorantriebs, mit dem die für SDI erforderlichen großen Nutzlasten ins All transportiert werden sollen. Wie sorglos die SDIO dabei ist, zeigt sich daran, daß Flugversuche innerhalb der Atmosphäre vorgesehen sind, was gegen bisherige offizielle Politik der USA verstoßen würde. Dabei wird auch in Kauf genommen, daß die Antarktis und Neuseeland überflogen werden. Nach einer vom Sandia-Forschungslabor durchgeführten Analyse liege die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes über Neuseeland bei immerhin mehr als 4 zu 10.000. Die Kombination der riskanten Nuklear- und Raketentechnologien könnte die durch die Galileo-Mission angeregten Proteste gegen »Tschernobyl im Himmel« neu beleben.

5. Neue Begründungen – wovor soll GPALS schützen?

Maßgeblich für GPALS ist die im Missile Defense Act von 1991 festgelegte Forderung nach einem Raketenabwehrsystems zur Verteidigung der USA gegen „begrenzte Bedrohungen durch ballistische Raketen, einschließlich unfallbedingte oder versehentliche Starts oder Angriffe aus der Dritten Welt.“ Im folgenden soll im einzelnen untersucht werden, wie stichhaltig die für GPALS vorgebrachten Begründungen sind.

Unfallbedingte, unbeabsichtigte oder nicht-autorisierte Raketenstarts

Wenig überzeugend wirkt die Begründung, man benötige ein umfassendes Raketenabwehrsystem zum Schutz vor unfallbedingt, versehentlich oder nicht-autorisiert gestarteten Raketen. Ähnliche Argumente hatte bereits Senator Sam Nunn 1988 für die Notwendigkeit eines »Accidental Launch Protection System« (ALPS) vorgebracht.42 Mit der schwindenden zentralen Kontrolle über die Nuklearraketen in der GUS bekamen entsprechende Befürchtungen neue Nahrung.

1. Unfälle

Obwohl die USA und die UdSSR über drei Jahrzehnte hinweg tausende von strategischen Raketen stationiert hatten, gibt es bislang kein Beispiel für Unfälle, die zum Start von nuklearbestückten Raketen geführt haben. Die Wahrscheinlichkeit für derartige Ereignisse wurde von unabhängigen Experten und Regierungsvertretern als sehr gering eingeschätzt. Allerdings gab es Unfälle, in die Nuklearraketen verwickelt waren, die nach John Pike in fünf Kategorien eingeteilt werden können:43

1. Nicht-bewaffnete Test- oder Zielflugkörper, die vom geplanten Kurs oder Zielgebiet abweichen;

2. Raketen, die in Übungen abgefeuert werden und falsche Ziele treffen;

3. Kleinraketen ohne Schutzvorkehrungen, die aufgrund mechanischen Versagens gestartet werden;

4. Erwarteter, aber nicht erfolgter Start durch mechanisches Versagen;

5. Unfälle, die zur Zerstörung oder Beschädigung von Nuklearraketen führen, ohne Gefahr des Weiterflugs.

Während in der ersten Kategorie keine Kernwaffen vorkommen, ist auch die zweite Kategorie irrelevant, da seit etwa 30 Jahren keine Kernwaffen in Tests oder Übungen mehr verwendet werden. Risiken aus der dritten Kategorie können vermieden werden, wenn Kernwaffen grundsätzlich nicht auf Kleinraketen ohne entsprechende Sicherheitsmechanismen und Startprozeduren stationiert werden, die für Großraketen längst üblich sind. Eine Verschärfung solcher Verfahren könnte auch die Risiken der Kategorien 4 und 5 verringern. Hierzu gehören Mechanismen, wonach eine Startfreigabe nur unter Verwendung eines verschlüsselten Codes möglich ist. Solche Permissive Action Links (PALs) sind zumindest bei landgestützten Raketen bereits üblich, ein Problem sind allerdings die U-Boot-Raketen. Es ist aber keine technisch anspruchsvolle Aufgabe, eine gestartete Rakete nach dem Start durch Fernzündung im Flug zu zerstören, ein Verfahren, daß bei Raketentests und Weltraumstarts bereits erprobt ist. Es ist weitaus einfacher, rascher und zuverlässiger möglich, alle Raketen mit PALs oder Selbstzerstörungs-Mechanismen zu versehen bzw. nicht damit ausgerüstete Raketen zu verschrotten als ein Abwehrsystem zu errichten. Die Vernichtung aller Nuklearraketen, insbesondere der taktischen, dürfte aber immer noch der wichtigste Beitrag zur Verringerung der Unfallrisiken sein.

2. Unbeabsichtigte Raketenstarts

Unbeabsichtigte Raketenstarts unterscheiden sich von technischen Unfällen darin, daß das Versagen mehr auf der Ebene des Befehlssystems liegt statt bei der einzelnen Rakete. 15 Ereignisse dieser Art wurden bislang registriert. Die meisten geschahen auf einer relativ niedrigen Befehlsebene, ohne Einschluß höherer Entscheidungsinstanzen, waren rasch als »Irrtum« diagnostiziert und führten in der Folge zu Verbesserungen am nuklearen Befehlssystem. Solche Ereignisse können nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, solange die nukleare Abschreckung besteht. Immerhin hat aber das Ende des Kalten Krieges zu einer erheblichen Entspannung der ständigen Alarmbereitschaft geführt, die eine Randbedingung für die Gefahr übereilter und unüberlegter Reaktionen war. Das Risiko irrtümlicher Raketenabschüsse kann durch verschiedenen Maßnahmen gesenkt werden, die insbesondere den gegenseitigen Informationsaustausch verbessern und die Reaktionszeit verlängern. Dies impliziert, daß bestimmte Waffen und Strategien, durch die in kurzer Zeit gegnerisches Territorium erreicht werden kann (»Launch on Warning«, grenznahe Abstandswaffen oder U-Boote), ausgeschlossen werden und spricht auch gegen eine Raketenabwehr, die Entscheidungszeiten von Sekunden erfordert.

3. Nicht-autorisierte Starts

Die Befürchtung, einzelne Personen oder Gruppen könnten ohne offizielle Befugnis durch nationale Regierungen Kernwaffen gegen die USA einsetzen, ist ein wesentliches Motiv für die GPALS-Pläne der USA. Besonders die Figur eines außer Kontrolle geratenen russischen U-Boot-Kommandanten, belebt im Film »Hunt for Red October«, scheint mit der Auflösung der sowjetischen Nuklearkontrolle ungeahnte Triumphe zu feiern. Die reale Gefahr, daß ehemals sowjetische Kernwaffentechnologie in die »falschen« Hände gerät, wird zum Vorwand für GPALS benutzt.

Die UdSSR hatte, bis zu ihrer Auflösung, eine zentrale Kontrolle über ihr Nukleararsenal eingehalten, die im strategischen Bereich wahrscheinlich strenger war als in den USA. Selbst während des Putsches gegen Gorbatschow schienen die USA wenig beunruhigt über das Risiko eines Nukleareinsatzes. Auch wenn ein Bürgerkrieg in der GUS sicherlich Anlaß zur Sorge wäre, ist doch kaum zu erkennen, warum dies eine unmittelbare nukleare Bedrohung für die USA oder Europa bedeuten sollte. Wie wahrscheinlich ist es, daß etwa russische oder ukrainische Nationalisten einen Angriff auf die Supermacht USA starten, mit dem Risiko eines vernichtenden Gegenschlages? Bruce Blair von der Brookings Institution hält die Übernahme ehemals sowjetischer Kernwaffen durch eine Gruppe von Rebellen oder Terroristen aufgrund der komplizierten, mehrschichtigen Freigabe und Startprozeduren für wenig plausibel.44 Gegen das Entwenden taktischer Kernwaffen würde GPALS wenig nützen.

Ein nukleares Sicherheits- und Abrüstungsregime mit der GUS würde eine Bedrohung wirkungsvoller behindern als GPALS, dessen Aufstellung sich über 10 bis 15 Jahre hinziehen soll. Die Probleme möglicher Instabilität in der GUS sowie der Abwanderung von Experten für Nuklearwaffen, Raketen und Raketenabwehr müssen dagegen heute angegangen werden. Die Einrichtung von Technologiezentren in der GUS, in denen an der Beseitigung der Rüstungsaltlasten, der Konversion und der Lösung von Umweltproblemen gearbeitet wird, kann schon jetzt wirksam werden.45 Ebenso wichtig ist die Einrichtung von kernwaffenfreien Zonen in den GUS-Republiken. In Rußland könnte bis zur vollständigen Verschrottung, ein Sammellager für alle Kernwaffen unter internationaler Kontrolle eingerichtet werden. Politischer und wirtschaftlicher Druck in diese Richtung würde mehr zur Lösung der Probleme in der GUS beitragen und das Risiko nicht-autorisierter Kernwaffeneinsätze stärker verringern als die Beteiligung Rußlands an einem Raketenabwehrsystem.

Nukleare Proliferation

Das derzeitige Hauptargument für GPALS, der Schutz vor den Folgen der Verbreitung (Proliferation) von Massenvernichtungswaffen und Raketen, hält einer tiefergehenden Betrachtung ebenfalls nicht stand. Den Problemen der Proliferation sollte direkter, wirksamer und billiger durch andere Mittel als Raketenabwehr begegnet werden.

Die weltweite Weiterentwicklung und Weiterverbreitung von Kernwaffen sind ein ernstzunehmendes Problem, dessen Ursachen und Folgewirkungen nicht durch die Debatte über Raketenabwehr verdeckt werden dürfen. Zur Zeit kann davon ausgegangen werden, daß neben den fünf etablierten und zugleich priviligierten Kernwaffenstaaten USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich und China mindestens drei weitere Staaten in den 70er und 80er Jahren den Zugriff auf A-Waffen erreicht haben: Israel, Indien und Pakistan; vermutlich gehört Südafrika als viertes Land dazu. Zur Zeit sind die Ukraine, Kasachstan und Weißrußland ebenfalls als Kernwaffenstaaten zu zählen. Zurecht bestanden große Befürchtungen im Hinblick auf die nuklearen Schwellenländer Argentinien und Brasilien. Nordkorea ist ebenfalls ein aktuelles Beispiel für die internationalen Bemühungen, soeben noch (hoffentlich) rechtzeitig die Nuklearwaffenfähigkeit eines Landes der Dritten Welt zu verhindern. Im islamischen und arabischen Raum werden neben dem Irak insbesondere Iran, Libyen und Algerien argwöhnisch betrachtet, was ihre Nuklearaktivitäten angeht.

Mindestens 18 Länder der Welt beherrschen wenigstens eine der beiden sensitivsten Nukleartechnologien – Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung – die den direkten Zugriff auf Bombenstoff ermöglichen.46 Die zivil-militärische Ambivalenz der Nukleartechnologie ist eine ständige latente Quelle für Proliferationsgefahren, indem der weltweite Betrieb ziviler Kernenergieanlagen die Schwelle zur Kernwaffenentwicklung senkt. Eine rein technische Kontrolle der existierenden Nuklearanlagen konnte die Ausbreitung der Kernwaffentechnologien zwar deutlich zeitlich verzögern, ohne jedoch vollständige Sicherheit zu bringen. Ausgelöst durch das Versteckspiel um das Kernwaffenprogramm des Irak wird endlich über die dringend notwendige Effektivierung der Sicherungsmaßnahmen (safeguards) der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) diskutiert.

Der 1970 in Kraft getretene Non-Proliferations-Vertrag (NPT) hat unbestreitbar einen wichtigen Beitrag zur Verlangsamung der Weiterverbreitung geliefert, doch kann nicht übersehen werden, daß das Non-Proliferations-Regime in der Krise ist. Es gibt verschiedene Schwächen, die überwunden werden können und müssen, wenn der NPT über das Jahr 1995 hinaus gültig bleiben soll. Es gibt bislang keine internationale Inspektion aller betriebenen Nuklearanlagen, weder in allen sogenannten Schwellenländern noch in den etablierten Kernwaffenstaaten. Die Kontrollen von relevanten kleinen Forschungszentren sowie von Anlagen, die sich im Aufbau befinden, sind unzureichend. Es gibt kein weltweites Ende der Produktion spaltbarer, waffenfähiger Materialien (cut-off). Die Waffenlabors der Kernwaffenstaaten und der nuklearen »Newcomer« arbeiten weiter. Neue, proliferationsträchtige Technologien, wie Trägheitseinschlußfusion (ICF) und Laserisotopenseparation (LIS) werden weiter erforscht.47

Es darf nicht übersehen werden, daß die Proliferation nicht nur eine horizontale Dimension besitzt, womit die Gefahr einer wachsenden Zahl von Staaten mit Kernwaffen gemeint ist, sondern auch eine vertikale Dimension: die Modernisierung der nuklearen Rüstungspotentiale bei den etablierten Kernwaffenmächten. Die im NPT festgeschriebene Asymmetrie zwischen den erklärten Atomwaffenstaaten und den Nicht-Atomwaffenstaaten im Verbund mit einseitigen Exportkontrollen bleibt latenter Sprengstoff für das Non-Proliferationsregime, wie sich insbesondere an der letzten NPT-Überprüfungskonferenz im Herbst 1990 zeigte, auf der keine Abschlußerklärung erreicht werden konnte. Besonders deutlich hat sich dies festgemacht an den bislang gescheiterten Bemühungen, den NPT-Mitgliedern USA und Großbritannien einen vollständigen Teststoppvertrag (CTBT) abzuringen, der eine qualitative Weiterentwicklung der A-Waffenkonzepte weitgehend unmöglich machen würde.

Es muß die Frage erlaubt sein, ob wir auf Dauer anderen Ländern die (kontrollierte) Betreibung von Technologien untersagen können, die wir selber selbstverständlich betreiben. Momentan unzweifelhaft sinnvolle Exportkontrollen dürfen zumindest nicht Argumentationen begünstigen, die von einem Technologieembargo des Nordens gegen den Süden reden. Wenn die »Habenden« ihre Massenvernichtungspotentiale nicht ausreichend abbauen, kann auf Dauer nicht erwartet werden, daß die »Habenichtse« auf jegliche Kernwaffenprogramme verzichten.

Der NPT hat für die Zeit nach 1995 nur eine Chance, wenn seine inhärente Asymmetrie überwunden oder zumindest deutlich abgemildert werden kann. Es müssen Wege gefunden werden, die horizontale und vertikale Proliferation und die nukleare Abrüstung simultan anzugehen. Dies betrifft die politische wie die wissenschaftlich-technische Ebene (beispielsweise Abschluß eines CTBT und Ende der wissenschaftlich-technologischen Fortentwicklung im Bereich der Kernwaffen oder die Effektivierung technischer Safeguards und die politische Sanktionsfähigkeit der Weltgemeinschaft). Ergänzungen zum NPT – zumindest in Form von Zusatzprotokollen – müssen ausgearbeitet werden. Die Rolle und Aufgabenstellung der IAEO müssen überdacht und erweitert werden.

Raketenabwehr der Kernwaffenmächte bietet jedoch keine Lösung der hier skizzierten Proliferationsproblematik. Weder wird das komplexe Wechselspiel von horizontalen und vertikalen Proliferationsanreizen beendet, noch werden die ständig nachwachsenden wissenschaftlich-technologischen Voraussetzungen beschnitten. Die horizontale Proliferation könnte durch die Weltraumrüstung eher noch beschleunigt werden. Diese liefert, bei Fortführung der vertikalen Proliferation, nur einen weiteren Angriffspunkt für Kritiker des NPT in der Dritten Welt, was seine Verlängerung über 1995 hinaus unwahrscheinlicher macht. Manche Länder, die Zugriff auf Atomwaffen anstreben, könnten ihre Bemühungen verstärken, um genügend große Arsenale einschließlich Gegenmaßnahmen zum Durchdringen eines in ferner Zukunft verfügbaren Abwehrsystems aufzubauen.

Überdies zeigen 20 Jahre Erfahrungen mit der Non-Proliferationspolitik, daß immer wieder (gezielte) Nachlässigkeit gegenüber bestimmten »Partnern« wie Irak betrieben wurde oder gar jahrelang Länder, die nachweislich nuklearwaffenrelevante Programme unterhalten, mit großen Militärhilfesummen bedacht wurden, wie im Falle Pakistan. Wer garantiert, daß unter dem trügerischen »Schutz« eines globalen Abwehrsystems solche verfehlte Politik nicht wieder auflebt, im Glauben, die Folgen aus dem Weltraum nachträglich korrigieren zu können? Durch die Scheinlösung der Raketenabwehr könnte auf beiden Seiten die Bereitschaft zur politischen Lösung sinken und ein fatale Kopplung der horizontalen und vertikalen Proliferation entstehen.

Raketenproliferation

Während die USA und die ehemalige UdSSR ihre Kurz- und Mittelstreckenarsenale weitgehend verschrotten und ihre strategischen Nuklearstreitkräfte verringern, verfügt eine Reihe von Staaten der Dritten Welt weiterhin über Trägersysteme kurzer und mittlerer Reichweite. Dazu gehören auch Raketen. Die führenden Raketenmächte hatten ihren Anteil daran, das Wissen und die Technologie über Raketen in Entwicklungsländer zu verbreiten.48

Sicherlich ist die Proliferation ballistischer Raketen und nuklearer Waffentechnologie besorgniserregend, doch GPALS liefert die falschen Antworten zur falschen Zeit. Nur weil eine Waffe interkontinentale Reichweite hat, folgen daraus noch nicht strategische Gründe, diese auch einzusetzen. Die große Mehrzahl der Konflikte ist regionaler Natur. Wollte ein Terrorist eine Kernwaffe in New York zum Einsatz bringen, gäbe es zuverlässigere und billigere Möglichkeiten, eine solche Waffe einzuschmuggeln, als sie auf einer unausgereiften Rakete zu starten. Raketenabwehr kann dagegen nichts tun.

Es ist nicht einsichtig, warum die USA nun auf ein Raketenabwehrsystem drängen, während sie doch über Jahre und Jahrzehnte hinweg ohne Abwehr gegen die sowjetischen und chinesischen Interkontinentalraketen leben konnten. Der beschrittene Weg der Öffnung gegenüber China hat der Sicherheit der USA vermutlich mehr gedient und langfristig zum Abbau verhärteter Fronten beigetragen. Dennoch ist es die (hypothetische) Bedrohung durch einen Diktator in der Dritten Welt, die GPALS antreibt. In der näheren Vergangenheit sucht man vergeblich nach einem historischen Vergleichsfall. Selbst Diktatoren wie Hitler oder Saddam Hussein scheuten das Risiko, Chemiewaffen einzusetzen, aus Furcht vor Vergeltungsschlägen.

Die USA und weite Teile Europas sind von den in einigen Schwellenländern vorhandenen Kurz- und Mittelstreckenraketen nicht erreichbar. In den Regionen, wo die Bedrohung tatsächlich real werden könnte, kann das vorgesehene Weltraum-Abwehrsystem unterflogen werden. Bodengestützte Abfangsysteme bieten keinen sicheren Schutz, wenn z.B. Attrappen eingesetzt werden. Das heißt, daß das vorgeschlagene Konzept regionale, mit Kurz- und Mittelstreckenraketen ausgetragene Konflikte nicht verhindern könnte. Die zur Begründung für GPALS angeführten Bedrohungen durch Langstreckenraketen sind derzeit entweder nicht existent oder so unrealistisch, daß sie die Ausgaben nicht rechtfertigen.

Die Schätzungen der CIA, die bis zum Jahre 2000 etwa 15 – 20 Staaten der Dritten Welt mit eigenen Produktionskapazitäten für ballistische Raketen erwarten, scheinen deutlich überhöht. Abgesehen von China verfügt gegenwärtig kein Land der Dritten Welt über Raketen interkontinentaler Reichweite. Einige wenige Staaten wie Israel, Indien, Brasilien und vielleicht Pakistan mögen um die Jahrtausendwende die Fähigkeit zur Entwicklung und Produktion ballistischer Raketen langer Reichweite besitzen. Erfahrungen mit den bisherigen Raketenmächten zeigen, daß es zehn Jahre und länger dauern kann, bis der Übergang von der Kurzstreckenrakete bis zur Interkontinentalrakete vollzogen ist.

Der wesentliche Grund liegt darin, daß die Herstellung von Raketen längerer Reichweite ein komplizierter Prozeß ist und der technische Aufwand stark mit der Reichweite anwächst. Nur wenige Staaten der Dritten Welt verfügen über das Personal, die Infrastruktur sowie die finanziellen und materiellen Ressourcen für die Produktion langreichweitiger Raketen. Die eigenständige Entwicklung und Produktion erfordert Kenntnisse in vielen verschiedenen Technologiebereichen (z.B. Lenkung, Materialien, Wiedereintrittsbelastung) und ist ein zeitaufwendiger und kostenintensiver Prozeß, der ausländische Unterstützung und eine weithin beobachtbare Infrastruktur erfordert.

Hier setzt das Trägertechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR) von 1987 an, in dem sich einige westliche Staaten auf eine Vereinheitlichung restriktiver Exportkontrollen im Bereich Raketentechnik verständigt haben. Dieses Abkommen hat sich in der Ära nach dem Kalten Krieg als unerwartet erfolgreich erwiesen. Zum einen hat sich die Zahl der Unterstützerländer in relativ kurzer Zeit von sieben auf nunmehr 19 erhöht, und über eine Beteiligung weiterer Staaten, darunter auch der GUS und Staaten der Dritten Welt, wird verhandelt. Zum zweiten konnten einige Raketenprogramme in Entwicklungsländern gestoppt (wie das Condor-II-Programm Argentiniens, Ägyptens und des Irak) oder deutlich verlangsamt werden (wie im Falle Indiens oder Brasiliens), da der Zufluß wichtiger Komponenten wie Lenksysteme, Materialien oder Antriebsstoffe ausblieb und der politische Druck deutlich zugenommen hat.

Trotz seiner relativen Wirksamkeit ist das MTCR noch verbesserungswürdig und kann durch verschiedene Maßnahmen ergänzt werden. Dazu gehört die genauere und schärfere Festlegung genehmigungspflichtiger Güter, die sich in einer Verschärfung einiger Grenzwerte im November 1991 bereits niedergeschlagen hat. Weiterhin können die Angaben und Kontrollmöglichkeiten zum Endverbleibsnachweis verbessert werden, etwa durch Inspektionen vor Ort. Eine Verstärkung des internationalen Informationsaustauschs über verdächtige Entwicklungen sowie eine härtere Strafpraxis, etwa im Falle illegaler Auslandstätigkeit von Experten, wurde bereits begonnen. Stärkeres Augenmerk sollte auf den internationalen Wissens- und Technologietransfer gelegt werden, wobei eine internationale Kooperation in der zivilen Raumfahrt im Rahmen einer UNO-Behörde nicht nur einen militärischen Gebrauch der Raketentechnik ausschließen muß, sondern auch Anreize zur Kooperation schaffen kann. Kernstück einer Einbindung des diskriminatorischen MTCR in ein kooperatives, globales und verifizierbares Rüstungskontroll-Regime wäre, neben einem vollständigen Atomwaffenteststopp, ein Raketen-Teststopp, der die Raketenentwicklung auf dem gegenwärtigen Stand einfrieren würde. Darüber hinaus gibt es Diskussionsansätze zur Schaffung regionaler oder globaler Abrüstungsregimes für ballistische Raketen, Marschflugkörper und Flugzeuge, die vertieft werden müssen.

Statt Raketenabwehr aufzubauen, wäre es sinnvoller – gerade auch für die GUS – den Abrüstungsprozeß weiter voranzutreiben und den ABM-Vertrag zu stärken, etwa durch konkrete Begrenzungen für Waffen mit neuen physikalischen Prinzipien und das internationale Verbot von Waffen im Weltraum, wie im Göttinger Vertragsentwurf von 1984 gefordert.49

6. Resumee

Derartige politische Lösungskonzepte erscheinen angesichts der erfolgten Auflösung des Ost-West-Konflikts nicht so unrealistisch. Das alte Denken des Kalten Krieges darf nicht Grundlage einer neuen Weltordnung werden, die auf einer Dominanz des Nordens über den Süden beruht. Die globalen Probleme sind nur gemeinsam zwischen Nord und Süd zu lösen. Ein konfrontativer, aus der Zeit des Kalten Krieges stammender militärisch-technischer Lösungsversuch wie SDI/GPALS nährt die Illusion, man könne militärische Bedrohungen jederzeit aus dem Weltraum neutralisieren. Dies könnte eher den Fundamentalismus in der Dritten Welt fördern und Feindbildmuster beleben, die das Bestreben nach eigenen Nuklear- und Raketenpotentialen und die militärische Süd-Süd-Kooperation verstärken. Dann könnte die nukleare Bedrohung aus der Dritten Welt zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Auch mag in einigen Staaten im Falle eines Konflikts die Bereitschaft steigen, den Betreibern des Raketenabwehrsystems auf anderem Wege Schaden zuzufügen, etwa durch Zerstörung von Ölfeldern, Umweltkriegführung oder das schon genannte Unterlaufen der Abwehr. Es ist eine Illusion, man könne sich durch einen Weltraumschirm wie in einer Festung von den globalen Problemen abkoppeln.

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J. Scheffran und W. Liebert sind Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheitspolitik (IANUS) in der Technischen Hochschule Darmstadt, J. Altmann arbeitet in dem Verifikations-Forschungsprojekt am Institut für Experimentalphysik der Ruhr-Universität Bochum. G. Neuneck ist Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH). Alle Autoren sind Physiker. Dieser Beitrag ist die erweiterte und überarbeitete Fassung eines Papiers, das für die Naturwissenschaftler-Initiative verfaßt wurde (siehe Scheffran, 1992b).

IV. GPALS – Was getan werden muß

Erstens gilt es, den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen über 1995 hinaus zu verlängern und zu stärken. Die Einlösung seines Artikels VI, in dem sich das Kartell der Atomwaffenbesitzer zu konsequenter Abrüstung verpflichtet, gehört ebenso dazu wie der Ausbau der internationalen Kontrollmechanismen.

Die Atommächte könnten ein wichtiges Zeichen setzen, indem sie rasch einen völligen Atomteststopp vereinbaren (Comprehensive Test Ban Treaty). Damit würde endlich dem qualitativen Wettrüsten auf diesem Gebiet Einhalt geboten.

Zweitens ist das Nichtweiterverbreitungsregime im Bereich der Trägertechnologien auszubauen. Bedeutend mehr Länder müssen für die Unterstützung des sog. Missile Technology Controll-Regimes (MTCR) gewonnen werden. Über einen Teststopp für militärische Raketen muß diskutiert werden. Auch hier geht es darum, die rüstungstechnologische Entwicklung »einzufrieren«. Zugleich sind für den zivilen Bereich Raumfahrtprogramme zu entwickeln, an denen möglichst viele Staaten der Welt kooperativ beteiligt werden sollten.

Drittens ist die Konvention zum weltweiten Verbot chemischer Waffen rasch zum Abschluß zu bringen. Zugleich sind alle Möglichkeiten zur besseren Kontrolle des Verbots biologischer Waffen auszuschöpfen und vertraglich abzusichern.

Viertens steht gerade nach den Erfahrungen der beiden Golfkriege die drastische Einschränkung der Rüstungsexporte weltweit an. Um der Gefahr der Entstehung und unkontrollierter Ausweitung regionaler Konflikte zu begegnen, muß hier eine Kehrtwende stattfinden. Das Konzept, auch in Krisengebiete modernstes, hocheffizientes Kriegsgerät zu liefern und auf verschiedene Seiten unter dem Vorwand »regionaler Stabilität« zu verteilen, ist restlos gescheitert. Dennoch wird es immer noch praktiziert: die Rüstungsexporte in die Golfregion sind auch nach dem Golfkrieg in großem Stil weitergegangen! Allein die USA lieferten 1991 konventionelle Waffen im Wert von drei Mrd. Dollar in den Nahen Osten.

Fünftens muß der ABM-Vertrag strikt eingehalten werden. Zu seiner Stärkung sollten striktere Begrenzungen für Waffen auf der Grundlage neuer physikalischer Prinzipien und das internationale Verbot von Waffen im Weltraum eingearbeitet werden.

Sechstens müssen in einem völkerrechtlich anerkannten Vertrag Anti-Satellitenwaffen (ASAT) verboten werden, wie dies auch der russische Präsident Jelzin jüngst gefordert hat. Das bisher bestehende Agreement zwischen den USA und der ehemaligen UdSSR, solche Waffen nicht zu stationieren, reicht nicht aus.

Siebtens führt kein Weg daran vorbei, daß international Mittel mobilisiert werden müssen, um die Umstellung der überdimensionierten Rüstungsindustrien auf zivil nützliche Produktion zu erleichtern. Diese Konversion steht gegenwärtig vor allem in den GUS-Staaten auf der Tagesordnung. Aber die »Abwicklung« des nuklearen Komplexes betrifft Ost und West.

Es sollte daher international ein Fonds geschaffen werden, der hilft, die nötigen Konversionsprogramme finanziell abzustützen. Es ist allemal sinnvoller, die Umstellung der überdimensionierten Rüstungsindustrien mit öffentlichen Mitteln zu fördern, als neue Rüstungsprojekte aus »wirtschaftspolitischen« Gründen (Sicherung der Arbeitsplätze, Erhaltung der Unternehmen … aufzulegen.

Achtens geht es um die Entwicklung kooperativer Formen des Technologietransfers von Nord nach Süd. Daß dabei auf die Sicherung der zivilen Nutzung geachtet werden muß (z.B. durch Endverbleibsklauseln etc.), liegt auf der Hand.

Neuntens sind regionale Konflikte zu entschärfen, indem ihre Ursachen wirkungsvoll bekämpft werden.

Dies gilt besonders für die brisantesten Krisenzonen: Osteuropa, die ehemalige UdSSR, den Nahen und Mittleren Osten und Südasien.

Zur Stabilisierung der neuen Demokratien in Osteuropa und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten müssen gut durchdachte, gezielte, jedenfalls umfangreiche Hilfsprogramme aufgelegt werden.

Gegenwärtig müssen alle erdenklichen wirtschaftlichen und diplomatischen Mittel eingesetzt werden, um einen wirklichen Friedensprozess im Nahen Osten zustande zu bringen. Mehr Waffen verträgt dieses Pulverfass nicht – auch keine sog. Abwehrwaffen.

Gerade im Indien-Pakistan-Streit droht die Gefahr, daß sich religiös aufgeladene Auseinandersetzungen zu zwischenstaatlichen Konfrontationen ausweiten. Basis eines gefährlichen Fanatismus ist dort wie anderswo die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. Statt also die Dinge weiter treiben zu lassen, müssen sich die reichen Industrienationen endlich zu einer massiven wirtschaftlichen Unterstützung aufraffen.

Katrin Fuchs ist MdB-SPD. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Papier „GPALS: Der Traum von der Unverwundbarkeit oder die Hybris einer exklusiven Weltmacht“

Dokumentation

John Conyers (Abgeordneter der Demokraten) faßt die Untersuchungen des Kongreßausschusses zur Leistungsfähigkeit der Patriot im Golfkrieg wie folgt zusammen:

„Die Untersuchung ist komplex und faszinierend. Es ist eine Geschichte darüber, wie bereitwillig wir das wahrnahmen, was wir auf den Fernsehschirmen glauben wollten. Sie zeigt auch, wie eine Regierung unser Verständnis manipulieren kann, indem sie den Zugang zu Informationen und Medien kontrolliert. Und sie macht deutlich, wie die Regierung Geheimhaltung mißbraucht, um die Wahrheit zu verbergen.

Während des Krieges blickten wir alle voll Furcht auf unseren Fernseher. Wir dachten, wir sähen wie die himmelwärts strebende Patriot jede Scud in Reichweite zerstört. Wir sahen die Feuerbälle. Wie hörten die Explosionen. Wie sahen den Jubel unserer Truppen und wir hörten den Stolz in den Stimmen der Offiziellen als sie Tag für Tag verkündeten: „Scuds abgefangen und zerstört“. (…) Wir dachten, die Patriot sei nahezu perfekt. Wir lagen falsch. Wie Sherlock Holmes sagte:“Wir sehen, aber wir beobachten nicht“.“

Das Lichtschwert ist einsatzbereit

Das Lichtschwert ist einsatzbereit

Die Weltraumbewaffnung durch die USA rückt näher

von Theresa Hitchens

Die Regierung von US-Präsident George W. Bush lancierte eine lange erwartete Direktive zur Nationalen Weltraumpolitik im Oktober 2006 in die Öffentlichkeit. Der Text provozierte rund um den Globus kritische Kommentare. Die traditionellen Verbündeten Washingtons allerdings nahmen die Doktrin, die unstrittig eine unilateralere und militaristischere Sicht auf den Weltraum erkennen lässt, weitestgehend mit Schweigen zur Kenntnis. Diese Diskrepanz hat sowohl mit der Sprachwahl der Direktive selbst zu tun sowie mit den politischen und finanziellen Realitäten, vor denen die Möchtegern-Weltraumkrieger in den USA stehen. Wenn wir beim Lesen des Dokuments das politische Umfeld mit berücksichtigen, vor allem andere politische und militärische Doktrinen der letzten sechs Jahre, dann gibt die neue Weltraumpolitik durchaus grünes Licht für die Entwicklung, Stationierung und Nutzung von Antisatelliten- und weltraumgestützten Waffen. Andererseits: Sie buchstabiert weder ausdrücklich eine Strategie zur Weltraumbewaffnung aus noch zeichnet sie einen unausweichlichen Weg der Vereinigten Staaten zum »Krieg der Sterne« vor.

Die neue Nationale Weltraumpolitik wurde von Präsident Bush zwar schon am 31. August 2006 unterzeichnet, aber erst am 6. Oktober freigegeben – nachmittags um 17 Uhr, am Freitag vor dem langen Wochenende zum Columbus-Tag. Es gab keine Presseerklärung und kein formelles Briefing, statt dessen wurde auf der Website des Office of Science and Technology Policy (Büro für Wissenschafts- und Technologiepolitik) des Weißen Hauses lediglich eine Zusammenfassung der Weltraumpolitik eingestellt, versehen mit dem Zusatz »unclassified« (unterliegt nicht der Geheimhaltung).1 Auch die Botschafter und andere offizielle Vertreter der Verbündeten in Washington wurden zuvor nicht über die neue Direktive informiert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Public Relations-Maschinerie im Weißen Haus die Aufmerksamkeit für die neue Politik und ihre politische wie öffentliche Bedeutung bewusst klein hielt. Nach der Freigabe des Papiers und dem darauf folgenden Entrüstungssturm in den Medien im In- und Ausland startete die US-Regierung mit dem Verteidigungsministerium einen diplomatischen und Medienfeldzug, um die neue Weltraumpolitik herunterzuspielen: Sie sei doch nur die Fortsetzung der letzten Nationalen Weltraumpolitik, die auf die Regierung Clinton zurückgeht und von 1996 stammt.

Und tatsächlich finden sich viele Formulierungen aus der Direktive von Clinton auch in der neuen Version; insbesondere gleichen sich die Stellen, die sich auf kontrovers diskutierte Angriffe auf Satelliten beziehen. Bei einer genaueren Textanalyse fallen allerdings einige subtile aber relevante Unterschiede auf. In der Summe laufen die neuen Formulierungen auf eine deutlich unilateralistischere Vision der Rolle – insbesondere der militärischen Rolle – der USA im Weltraum hinaus. Die neue Doktrin betont den hohen Stellenwert von Weltraum und Weltraumtechnologien für die nationale Sicherheit der USA, und zwar eher im Sinne von »hard power« als von »soft power«. Dies ist eine Abkehr der Direktiven zur US-Weltraumpolitik, die seit Eisenhower erlassen wurden und »soft power« eher gleichrangig neben »hard power« stellten. So heißt es in der neuen Nationalen Weltraumpolitik der Regierung Bush z.B.: „In diesem neuen Jahrhundert genießen diejenigen, die den Weltraum wirksam nutzen, höheren Wohlstand und mehr Sicherheit und haben einen erheblichen Vorteil gegenüber denen, die darauf verzichten. Handlungsfreiheit im Weltraum ist für die Vereinigten Staaten so wichtig wie Luftmacht und Seemacht.“2

Während die neue Doktrin das »ungehinderte« Recht der USA auf Handlungsfreiheit im Weltraum postuliert, fallen die Pflichten der Vereinigten Staaten gegenüber anderen Raumfahrtnationen, die sich aus einer Reihe internationaler Übereinkünfte und Abkommen ergeben, einfach unter den Tisch. Unverkennbar misstrauen die Autoren internationalen Vereinbarungen und Initiativen, die kollektive Sicherheit im Weltraum anstreben. Das passt zur bekannten Abneigung der Bush-Regierung gegenüber völkerrechtlichen Abkommen. Die Doktrin erkennt zwar den Bedarf, mit anderen Ländern bei der Erdbeobachtung und Weltraumüberwachung3 (space surveillance) zusammenzuarbeiten, der Geist der Kooperation wird aber gleich wieder konterkariert durch die Aussage, dass die Spielregeln dafür von den USA vorgegeben werden. Und zu guter Letzt wird zwar betont, dass »öffentliche Diplomatie« nötig ist, um für die Positionen der USA zu werben, zugleich untergräbt die Sprachwahl aber jeglichen diplomatischen Ansatz, der eine Konsensfindung über gemeinsame Interessen der Raumfahrtnationen ermöglichen würde.

Beim Vergleich der Bush- mit der Clinton-Doktrin fällt der neue unilateralistische Tonfall z.B. an den Stellen auf, die sich mit dem Recht auf freien Zugang zum Weltraum befassen – einem Grundpfeiler des Weltraumvertrags von 1967, den die Vereinigten Staaten damals mitverhandelt hatten:

  • Nationale Weltraumpolitik unter Clinton: „Die Vereinigten Staaten vertreten die Ansicht, das die Weltraumsysteme sämtlicher Nationen nationales Eigentum sind mit dem Recht auf ungehinderten Zugang zum und Betrieb im Weltraum. Die absichtliche Behinderung von Weltraumsystemen wird als Verstoß gegen die Souveränitätsrechte angesehen.“4
  • Unter Bush lautet die Stelle so: „Die Vereinigten Staaten vertreten die Ansicht, dass Weltraumsysteme das Recht auf ungehinderten Zugang zum und Betrieb im Weltraum haben. In diesem Sinne betrachten die Vereinigten Staaten eine absichtliche Beeinträchtigung ihrer Weltraumsysteme als Verstoß gegen ihre Rechte.“

Aufschlussreich ist auch die Stelle, an der die Bush-Doktrin in direktem Gegensatz steht zur Clinton-Doktrin, die ausdrücklich für internationale Dialog, Zusammenarbeit und Vertragsverpflichtungen warb: „Die Vereinigten Staaten sind gegen die Entwicklung neuer Rechtsregime oder anderer Beschränkungen, die den Zugang zum oder die Nutzung des Weltraums durch die USA verbieten oder einschränken. Vorschläge für Rüstungskontrollabkommen oder -beschränkungen dürfen nicht das Recht der Vereinigten Staaten auf Forschung, Entwicklung, Erprobung und Betrieb oder andere Aktivitäten im Weltraum, die im nationalen Interesse der USA sind, einschränken.“

Das zentrale Leitmotiv der Doktrin – der Schutz des Rechts der USA auf Handlungsfreiheit im Weltraum – ist nicht neu; diese Stoßrichtung schwang schon in der Clinton-Doktrin mit. Beide Texte lassen sich so interpretieren, dass die Entwicklung von Antisatelliten- bzw. weltraumgestützten Waffen hingenommen würde. Allerdings muss man bei einer Nationalen Weltraumpolitik auch den Kontext mitberücksichtigen. Die Doktrin von 1996 befürwortete zwar eine Strategie der »Weltraumkontrolle« (space control), die Regierung Clinton war aber extrem skeptisch, ob offensive Weltraumwaffen strategisch klug seien. Entsprechend unterstützte die Clinton-Regierung keinesfalls aktiv Programme zur Entwicklung von Antisatellitenwaffen, obwohl ihre Weltraumdoktrin dies durchaus hergegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Clinton strich etliche Forschungs- und Entwicklungsprogramme, die genau darauf abzielten. Während seiner Präsidentschaft beklagte die US Air Force in zahlreichen Planungsdokumenten, dass eine Strategie zur Weltraumkontrolle keine politische Unterstützung finde.5

Die Weltraumpolitik der Regierung Bush hingegen steht in einem völlig anderen Kontext: Sie komplettiert etliche andere Dokumente und öffentliche Verlautbarungen des Militärs, in denen die Weichen viel eindeutiger in Richtung Weltraumbewaffnung gestellt werden. So betont sowohl die »Joint Doctrine for Space Operations« des US-Generalstabs vom August 20026 als auch die «Counterspace Operations Doctrine« der US Air Force vom August 20047 die „Freiheit“ der Vereinigten Staaten „zum Angriff als auch die Freiheit vor einem Angriff“ im Weltraum und erhebt Anspruch auf „Gewaltanwendung“ (force application) aus dem Weltraum. Beide Dokumente beschreiben bestimmte Taktiken – einschließlich der Zerstörung von Satelliten in einer Erdumlaufbahn – für die offensive „Kontrolle des Weltraums“ (space control) und benennen als potentielle Ziele u.a. kommerzielle und staatliche Satelliten „von Drittländern“ (third party). In diesem Sinne äußerte sich auch John Mohanco, stellvertretender Direktor für multilaterale Nuklear- und Sicherheitsangelegenheiten im Außenministerium der USA, als er vor der UN-Abrüstungskonferenz in Genf referierte, dass die US-Regierung zum Schutz ihrer Satelliten „weltraum-bezogene Bewaffnung“ auch „weiterhin in Betracht zieht“. Und gemäß der üblichen juristischen Devise, dass alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist, bleibt nur der Schluss übrig, dass die Nationale Weltraumpolitik der Regierung Bush in der Tat eine Strategie der Weltraumkriegsführung verfolgt.

Wie schon erwähnt stieß die neue Weltraumdoktrin in den internationalen Medien fast einhellig auf Kritik. Ihr aggressiver unilateralistischer Tonfall stieß genau so auf Missbilligung wie ihre manifeste Befürwortung von Weltraumwaffen. Offizielle Verlautbarungen aus anderen Ländern waren zwar dünn gesät, aber hinter den Kulissen zeigten sich Diplomaten aus Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien bestürzt und besorgt über die neue Haltung der USA. Die europäischen Länder befürchten, dass die kriegslüsterne Haltung der USA und die Betonung eines möglichen Einsatzes von militärischer Gewalt im Weltraum die Entwicklung und den Einsatz von Weltraumwaffen geradezu legitimieren – und das halten die Europäer für gefährlich.

Dabei sehen kritischen Experten innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten durchaus, dass trotz der Feuer speienden Rhetorik der Bush-Regierung die Umsetzung einer Strategie der Weltraumkriegsführung aus politischen und finanziellen Gründen eher fraglich ist. So war der US-Kongress sogar unter republikanischer Führung immer recht zurückhaltend mit der Finanzierung von Technologien für Antisatelliten- und weltraumgestützte Waffen, einschließlich einer weltraumgestützten Raketenabwehr. Bei den Beratungen zum Verteidigungshaushalt 2007 strichen die Abgeordneten Gelder für einen Lasertest in der Versuchsanlage »Starfire Optical Range« der US Air Force, weil sie befürchteten, dass der Test zur Entwicklung eines bodengestützten Antisatelliten-Lasers beitragen könnte. Allerdings wurden die Gelder nach einer Blitzkampagne der Public Relations-Abteilung der US Air Force im Vermittlungsausschuss von Repräsentantenhaus und Senat wieder in den Haushalt eingestellt. Aber immerhin beschloss der Ausschuss, dass jegliche Ausgaben für eine weltraumgestützte Raketenabwehr so lange gesperrt bleiben, bis die zuständige Behörde, die Missile Defense Agency, die Kosten und potentiellen politischen Risiken detailliert auflistet. Da nach den Wahlen vom Herbst 2006 jetzt beide Kammern des US-Kongresses demokratisch kontrolliert werden und die Demokraten traditionell gegen die Bewaffnung des Weltraums sind, wird die Zurückhaltung im Kongress sicherlich anhalten.

Darüber hinaus gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die Regierung Bush einen aggressiven Finanzierungsplan für die Entwicklung und Stationierung von Weltraumwaffen vorantreibt. Es wird zwar an entsprechenden Systemen geforscht, eine kritische Durchsicht des Haushaltsantrags des US-Verteidigungsministeriums für das Haushaltsjahr 2007 durch zwei Nicht-Regierungsorganisationen förderte aber lediglich 1 Milliarde US$ für entsprechende Forschungsprogramme zu Tage.8 Zweifellos wird Forschung zu Weltraumwaffen auch über geheime Programme abgewickelt. In Anbetracht der laufenden Technologieprogramme, die nicht der Geheimhaltung unterliegen, ist aber kaum anzunehmen, dass ein geheimes Crash-Programm in absehbarer Zukunft wirklich in neue Waffen münden könnte. Die von der US Air Force skizzierte Strategie zur Kriegsführung im Weltraum würde nämlich horrende Summen kosten. Außerdem dauert die Entwicklung neuer Waffen mindestens ein Jahrzehnt. Daher besteht kaum die Gefahr, dass die Vereinigten Staaten in nächster Zeit einen Shoot-out im Weltraum anzetteln werden.

Dennoch: Es ist kaum zu übersehen, dass die jetzige US-Regierung genau diesen gefährlichen Weg gerne beschreiten würde. Genau so wenig ist zu übersehen, dass andere Länder – vielleicht als defensive Reaktion auf die Vereinigten Staaten, vielleicht aber auch aus eigenen Erwägungen über den potentiellen taktischen Nutzen von Weltraumwaffen – selbst schon Versuche mit solchen Technologien unternommen haben, darunter zumindest China, Russland, Indien, Israel und Frankreich. Es findet zwar noch kein Wettrüsten im Weltraum statt, die Basis für so einen kräftezehrenden Wettlauf ist aber bereits gelegt. Daher müssen Entscheidungsträger und Weltraumexperten rund um den Erdball, die um die extreme Gefahr von Weltraumwaffen für die Weltraumnutzung wissen, ihre Stimme deutlicher als bisher erheben und noch emsiger daran arbeiten, einen richtigen »Krieg der Sterne« auch in Zukunft zu verhindern.

Anmerkungen

1) Unclassified – U.S. National Space Policy; ohne Herkunfts- und Datumsangabe; www.ostp.gov/html/US%20National%20Space%20Policy.pdf.

2) Übersetzung sämtlicher Zitate durch d.Ü.

3) d.Ü.: Weltraumüberwachung dient zur Beobachtung von Satellitenbahnen und Weltraumschrott sowie zur Frühwarnung vor Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde.

4) The White House: National Science and Technology Council, Fact Sheet – National Space Policy, 19. September 1996; http://history.nasa.gov/appf2.pdf.

5) Beispielsweise in United States Space Command: Long Range Plan, April 1998; www.fas.org/spp/military/docops/usspac/lrp/toc.htm. Dieses Planungsdokument stellt fest, dass die Vereinigten Staaten zur Umsetzung einer robusten Weltraumkontrollstrategie „nationale politische Leitlinien entwickeln müssen, die die Kriegsführung im Weltraum, die Entwicklung und den Einsatz von Waffen sowie Einsatzregeln unterstützen…“ Die Schlussfolgerung daraus ist, dass solche Leitlinien bis dato nicht existierten. Überdies stellt der Plan klar, dass „die Vorstellung von Waffen im Weltraum momentan nicht durch die nationale Politik der USA abgedeckt ist.“

6) Joint Chiefs of Staff (US-Generalstab), Joint Doctrine for Space Operations: Joint Publication 3-14, 9. Aug. 2002; www.dtic.mil/doctrine/jel/new_pubs/jp3_14.pdf.

7) US Air Force, Counterspace Operations: Air Force Doctrine Document 2-2.1, 2. Aug. 2004; www.dtic.mil/doctrine/jel/service_pubs/afdd2_2_1.pdf.

8) Center for Defense Information und The Henry L. Stimson Center: Space Weapons Could Emerge From Pentagon Budget, 7. März 2006; http://www.cdi.org.

Theresa Hitchens ist Direktorin des Center for Defense Information, einem unabhängigen Think Tank in Washington D.C., und Verfasserin der Studie »Future Security in Space: Charting a Cooperative Course«. Übersetzt von Regina Hagen.

Europa – eine führende Macht im Weltraum?

Europa – eine führende Macht im Weltraum?

von Regina Hagen

„Auf globaler Ebene ist die wirklich entscheidende Entwicklung im Weltraumsektor die permanente Überarbeitung der US-Weltraumpolitik“, zeigt sich der Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur (ESA) überzeugt.1 Kombiniert mit der Erweiterung der Europäischen Union, der Umsetzung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gestiegenen Sicherheitsanforderungen und der wichtigen Rolle von Weltraumtechnologie für eine Vielzahl von Nutzern ergibt sich aus seiner Sicht die Notwendigkeit, die Rolle der ESA neu zu definieren. Das heißt, die ESA soll in Zukunft zu »Verteidigung und Sicherheit« beitragen. Regina Hagen über die erstaunliche Entwicklung einer Organisation, die sich noch vor wenigen Jahren beleidigt dagegen wehrte, mit Militär überhaupt in Zusammenhang gebracht zu werden, die jegliche Anspielungen auf »dual use« empört von sich wies und die gemäß ihren Statuten auf „friedliche Zwecke“ verpflichtet ist.

Voraussetzung für die Neuorientierung der ESA waren politische Entscheidungen der EU, so die Festlegung auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Vertrag von Maastrich 1992, die Definition der so genanntenen Petersberg-Aufgaben durch die Staats- und Regierungschefs der Westeuropäischen Union (WEU) auf dem Petersberg bei Bonn im selben Jahr und schließlich 2000 im Vertrag von Nizza die Einigung auf Grundzüge einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).

Seither ist in der Europäischen Union nicht alles friedlich, wo friedlich drauf steht. Zählen zu den Petersberg-Aufgaben im Verfassungsentwurf der EU neben humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen doch auch „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung“.2

Diese Entwicklung kam manchen in der ESA-Führungsspitze entgegen. Das Umfeld für Weltraumaktivitäten war in den vergangenen Jahren schwierig. Die ökonomische Krise führte zu einer zurückhaltenden Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand, folglich konnten manche Forschungsprojekte nicht realisiert werden. Dass einige groß angelegte kommerzielle Projekte platzten, traf vor allem die Weltraumindustrie schwer.

In dieser Situation sehen sie in der »Globalisierung des Militärs« eine große Chance. Für Einsätze zwischen Hindelang und Hindukusch sind die nationalen Armeen in Europa nicht gut genug ausgerüstet. Es fehlen unter anderem eigene Aufklärungskapazitäten, schnelle und geschützte Kommunikationsmöglichkeiten, zuverlässige Zeit- und Positionsgebung.

Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt

Hier kommen Satelliten ins Spiel – und damit auch die ESA. Weltraumagentur und Europäische Kommission haben in den vergangenen Jahren in zahlreichen Kontakten eine neue Partnerschaft abgesteckt. Dabei wurde in rasendem Tempo das Tabu der ESA, sich mit militärischen Aufgaben zu befassen, über Bord geworfen.

In einem »Gemeinsamen Grundsatzpapier der (Europäischen) Kommission und der ESA zur europäischen Strategie für die Raumfahrt« stellten die Partner fest: „Der Weltraum hat eine sicherheitspolitische Dimension, die bisher auf europäischer Ebene nur im Kontext der WEU eine Rolle gespielt hat. Durch die anstehende Integration der WEU in die EU und die auf dem europäischen Gipfel von Helsinki unternommenen Schritte in Richtung einer ESVP erlangt die Raumfahrt für die Europäische Union einen neuen Stellenwert, beispielsweise für die Entscheidungsfindung zur Planung und Durchführung der Petersberg-Aufgaben.“3 In dem Papier wird empfohlen, ein satellitengestütztes Informationsnetz zu schaffen, „das den politischen Erfordernissen Europas entspricht“.

Gleichzeitig tagte im Auftrag des damaligen ESA-Kabinettchefs der Rat der »drei Weisen«. Carl Bildt (ehemaliger schwedischer Ministerpräsident), Jean Peyrelevade (Präsident der Crédit Lyonnaise) und Lothar Späth (ehemaliger baden-württembergischer Ministerpräsident und dann Chef von Jenoptik) erstellten den Bericht »Towards a Space Agency for the European Union«. Der Bericht empfiehlt der Agentur, „die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen. Da die Anstrengungen der Europäischen Union in diesen Bereichen auf die so genanntenen Petersberger Aufgaben … abgestimmt sind, sehen wir kein Problem mit der Satzung der ESA.“4

In einer Charme-Offensive wurde seitdem an einer Begriffsfindung gearbeitet. »Sicherheit« und »Verteidigung« fallen jetzt unter den Oberbegriff „ »utilitaristische« Aktivitäten: Entwicklung von Weltraumsystemen zur Unterstützung öffentlicher Dienste … zum Wohl der Bürger.“5 Das ehemals verpönte »Militärische« ist somit positiv belegt, der ESA-Satzung Genüge getan.

„Weltraum ist ein strategischer Aktivposten“, heißt es denn auch gleich zu Beginn eines Internationalen Berichts über Weltraum- und Sicherheitspolitik in Europa.6 vom Herbst 2003. Und es folgt der Verweis, dass die Entwicklung zivil-militärischer Weltraumtechnologie danach ruft, die momentanen nationalen Verteidigungsprogramme mit den vorwiegend zivil ausgerichteten europäischen Programmen zu verschmelzen. Konsequent ist folglich die Gründung eines eigenen Europäischen Weltrauminstituts, das mit Sitz in Wien „eine gesellschaftliche und politische Debatte initiieren, unterstützen und fördern soll, um das öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung weltraumgestützter Infrastrukturen und Dienstleistungen zu heben.“7

Vorläufiger Endpunkt bei der Neudefinition europäischer Weltraumpolitik ist ein Rahmenabkommen zwischen ESA und Europäischer Kommission vom Oktober 2003 und das »Weißbuch« vom November 2003. Nach einem angeblich offenen gesellschaftlichen Diskussionsprozess, in Wirklichkeit unter Ausschluss einer kritischen Öffentlichkeit und bei vollständiger Missachtung durch die Medien, wurde der »Aktionsplan (Europäisches Raumfahrtprogramm) einschließlich einer Liste empfohlener Maßnahmen zur Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik« erstellt.8 Hier fließen alle früheren Entscheidungen zusammen. Gesehen wird „Die Chance: Ergänzung der in Europa bestehenden raumgestützten Kapazitäten und Analyse der Erfordernisse im Hinblick auf die Schaffung einer glaubwürdigen Sicherheitskapazität mit hohem Zusatznutzen für die EU.“

Das Beispiel Galileo: ein transatlantischer Machtkampf

Als Systembeispiele genannt werden in allen oben zitierten Papieren jeweils zwei Systeme: GMES und Galileo.

GMES ist mehr eine europäische Initiative denn ein Projekt. »Global Monitoring for Environment and Security« wurde im Jahr 2000 durch die EU gestartet und soll vorhandene, eigentlich für Forschung und Umweltbeobachtung konzipierte europäische Satelliten bis 2008 so vernetzen, dass Satellitenaufnahmen und daraus gewonnene Aufklärungsdaten an europäische „Gremien und Einrichtungen“ geliefert werden können – ein Informationsnetz mithin, das „den politischen Erfordernissen Europas entspricht“.9

An Galileo lassen sich exemplarisch die Probleme aufzeigen, die sich aus der militärischen Orientierung europäischer Weltraumpolitik ergeben. Ursprünglich als rein ziviles System geplant,10 sollen die 30 Satelliten spätestens ab 2008 den Nutzern jederzeit die exakte Bestimmung des eigenen Standorts und die Nutzung präziser Zeitsignale ermöglichen. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig, z.B. beim vollautomatischen Landeanflug von Flugzeugen, für Zugleitsysteme, zur Positionsbestimmung im Fahrzeug, beim Wandern und vieles mehr.

In der Berichterstattung wird die dual use-Fähigkeit der Signale häufig verschwiegen. Auch Raketen, Bomben und Marschflugkörper finden durch Satellitennavigation ins Ziel, die Fernsteuerung unbemannter Flugzeuge (Drohnen) wäre ohne die Signale nicht denkbar, und das Militär nutzt die Daten zur exakten Lokalisierung seiner Truppen. Dafür war es bisher auf GPS (global positioning system) angewiesen, entwickelt und betrieben vom US-Militär. Mit dem europäischen System soll sich das ändern.

Das rief die USA auf den Plan. Gemäß dem Motto „Für das US-Militär ist jedes Weltraumprogramm, das sie nicht selbst kontrollieren, eine Herausforderung für seine offizielle Politik, den Weltraum militärisch zu dominieren“11 und zum Schutz seiner eigenen Industrie insistierte Washington auf »Gesprächen«. Als absehbar war, dass Europa auf Galileo besteht, feilschten Verhandlungsdelegationen jahrelang an Präzisionsgraden, Frequenzen und Abschaltmöglichkeiten. Und im Endergebnis haben die Europäer bei diesen Verhandlungen verloren: Ursprünglich sollte Galileo Europa unabhängig von den USA machen. Das US-Militär kann nämlich je nach Bedarf entscheiden, in welcher Qualität und ob überhaupt GPS-Signale in bestimmten Regionen der Erde empfangbar sind. Jetzt wird das neue System seine Dienste für Nicht-Militärs nicht nur auf anderen, weniger geeigneten Frequenzen und mit geringerer Präzision abstrahlen als bislang geplant, die USA erhalten zusätzlich die Option, Galileo über einem Krisengebiet nach »Diskussion« mit den Europäern eigenmächtig zu stören. Die Brauchbarkeit der Galileo-Technologie wird damit für Industrie und kommerzielle Nutzer fraglich, die vorgesehene Investitionssumme – bis 3,6 Mrd. Euro – scheint pure Verschwendung.

Das System wirft aber noch ganz andere Probleme auf.

Internationale Zusammenarbeit ist von Europa gewünscht, entsprechend wurden zu Galileo Kooperationsabkommen mit China und Indien abgeschlossen. Damit sind aber auch Fragen der Rüstungskontrolle aufgeworfen. Schon kündigten die USA an, Technologietransfers Richtung China genau im Blick zu behalten und notfalls die Lieferung sensitiver Technologie an China zu verhindern.

Der Galileo-Vertrag mit Indien schließt von vornherein verschlüsselte Signale für Sicherheits- und Militäranwendungen aus. Indien hat daraus die Konsequenz gezogen und verhandelt parallel ein Abkommen mit Russland, das zivile wie militärische Anwendungen zulassen soll. Russland betreibt seit langem Glonass, das aufgrund von Satellitenausfällen allerdings nur bedingt einsatzbereit ist. Mit indischer Hilfe sollen 8-9 neue Glonass-Sateliten gestartet werden und dem System wieder auf die Sprünge helfen. So wird die Rüstungsspirale weiter gedreht.

Europäisch, aber auch national

Die militärische Nutzung des Weltraums durch die Bundeswehr reduziert sich aber nicht auf GMES und Galileo.

»SAR-Lupe« wird das erste satellitengestützte Radar-Aufklärungssystem Deutschlands. In Auftrag gegeben wurde es noch vom ehemaligen Verteidigungsminister Scharping – unter Verweis auf fehlende Aufklärungskapazitäten im Kosovo-Krieg – bei der Bremer Firma OHB-Systems, die mehrheitlich im Besitz der französischen Rüstungskonzerns THALES ist. Fünf baugleiche Kleinsatelliten sollen im Dienste der Bundeswehr die Erde rund um die Uhr bei jeder Tages- und Nachtzeit überwachen. Das System wird nach Aussage des deutschen Verteidigungsministers Struck „militärischen Forderungen nach … weltweiter Aufnahmefähigkeit“ gerecht. Die Realisierung dieses Projektes ist nach Struck „gleichzeitig die Voraussetzung für die Beteiligung an einem europäischen Verbundsystem der raumgestützten Aufklärung, in das die Partner Systeme mit unterschiedlicher Sensorik einbringen können.“12 Im Klartext heißt das, einzelne europäische Länder bringen unterschiedliche Satellitentechnologien in das Aufklärungs-Gesamtsystem ein, Frankreich z.B. seine optischen Helios-Satelliten.

»SATCOMBw« ist nach gescheiterten bi- und trilateralen Projekten ein neuer Versuch Deutschlands, ein satellitengestütztes System für die Kommunikation der Bundeswehr „in und mit weit entfernten Einsatzgebieten“ bereitzustellen. Stufe 1 ist bereits realisiert und nutzt zivile Satellitenkapazitäten, um Kommunikationsnetze für Auslandseinsätze bereit zu stellen. In Stufe 2 sollen die Daten über eigene Satelliten ausgetauscht werden. Bis zum Jahr 2013 sollen für dieses Vorhaben insgesamt 935 Mio. Euro bereitgestellt werden.13

Probleme, Triebkräfte und Rüstungswettlauf

Aus der militärischen Ausrichtung der Weltraumpolitik durch EU und ESA ergeben sich Probleme zwischen den Mitgliedsländern. Die Mitgliedschaft ist zwar großenteils identisch, aber nicht in jedem Fall. So sind die Schweiz und Norwegen Mitgliedstaaten der ESA, nicht aber der EU. Besonders bei den neutralen Eidgenossen dürfte die Zuarbeit der ESA für Militärvorhaben der EU nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen. Umgekehrt gehören Griechenland und Luxemburg zur EU, aber noch nicht zur ESA. Nach der Erweiterung der EU am 1. Mai 2004 klafft die Mitgliedschaft noch weiter auseinander.

Aus friedenspolitischer Sicht ist die Tatsache schwerwiegender, dass der massive Einsatz von Weltraumtechnologie für US-militärische Zwecke und die von den USA unverhohlen geäußerte Absicht, den Weltraum militärisch zu dominieren und auch die Stationierung von Weltraumwaffen zu realisieren, weltweit zu einer Rüstungsspirale im Weltraum führt.14 Auch für den ESA-Generaldirektor ist das US-Militär der Vergleichsmaßstab: „Die US-Luftwaffe … wird ihre Rolle im Weltraum konstant ausbauen und, sofern der momentane Schwerpunkt bei der Verteidigung beibehalten wird, [in vier Jahren] zur führenden Weltraumagentur der Welt.“15

Anstatt dieser Tendenz mit vereinter Kraft entgegen zu steuern, lässt sich Europa auf eine neue Rüstungsspirale ein. Denn – technische Machbarkeit und nötige Finanzen vorausgesetzt – wird technische Aufrüstung durch ein Land in der Regel von anderen Ländern oder Machtblöcken kopiert.

In diesem konkreten Fall führt die Dominanz der USA bei Weltraumsystemen, der Unwille der Washingtoner Regierung, die entsprechenden Kenntnisse mit den Bündnispartnern zu teilen, und das Streben nach militärischer Eigenständigkeit zum europäischen Wunsch nach verstärkter Nutzung von Weltraumtechnologien für das europäische Militärarsenal. Wie zuvor beim US-Militär, steigt damit die Abhängigkeit von genau diesen Systemen. Dann ist es nur noch ein Schritt bis zur Befürchtung, Satelliten seien ein lohnendes Ziel für etwaige Gegner – und zum Beschluss, diese mit Waffengewalt zu schützen. Ein Teufelskreis, aus dem es dann kaum noch einen Ausweg gibt.

Anmerkungen

1) ESA Strategy Department: Agenda 2007 – A Document by the ESA Director General. Noordwijk, Oktober 2003; http://esamultimedia.esa.int/docs/BR-213.pdf. Generaldirektor der ESA ist seit Juli 2003 Jean-Jacques Dordain.

2) Europäischer Konvent: Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Brüssel, 18. Juli 2003; Artikel III-210; http://www.europa.eu.int/futurum/constitution/index_de.htm.

3) Kommission der europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament – Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt. KOM(2000) 597 endgültig vom 27. September 200

4) Towards a Space Agency for the European Union. Report by Carl Bildt, Jean Peyrelevade, Lothar Späth to the ESA Director General. Vorgestellt am 9. November 2000 in Paris; http://esamultimedia.esa.int/docs/annex2_wisemen.pdf. Siehe dazu auch Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Weltraum – ein Instrument europäischer Macht, Wissenschaft und Frieden 3/2001.

5) ESA Strategy Department, op.cit.

6) ESA und Istituto Affari Internatzionali: International Report on Space and Security Policy in Europe. Rom, November 2003;

7) ESA: European Space Policy Institute founded in Vienna. Pressemitteilung Nr. 80-2003 vom 26. November 2003.

8) Kommission der europäischen Gemeinschaften: Weissbuch – Die Raumfahrt: Europäische Horizonte einer erweiterten Union. Aktionsplan für die Durchführung der europäischen Raumfahrtpolitik. KOM(2003) 673 vom 11. November 2003; http://europa.eu.int/comm/space/whitepaper/pdf/whitepaper_de.pdf.

9) Kommission der europäischen Gemeinschaft, op.cit.

10) Eine Entschließung des [Europäischen] Rates zu GALILEO vom 5. April 2001 beispielsweise „weist darauf hin, daß GALILEO ein ziviles Programm unter ziviler Kontrolle ist“, http://europa.eu.int/comm/space/doc_pdf/council_galileo.pdf.

11) Dan Plesch: China’s space mission may clash with US. Dawn/The Guardian News Service, 17. Oktober 2003; http://www.dawn.com/2003/10/17/int14.htm.

12) Satellitenkommunikation für die Deutsche Bundeswehr – Ein Interview mit dem Bundesverteidungsminister Dr. Peter Struck. Raumfahrt Concret 4+5/2003.

13) Europäische Sicherheit online: Satellitenkommunikation der Bundeswehr. Dezember 2003; http://www.europaeische-sicherheit.de/Rel/2003_12/2003,12,umschau.html.

14) Zu den militärischen Weltraumplänen der USA siehe Regina Hagen und Jürgen Scheffran: Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser? Das Streben der USA nach Dominanz im All. Wissenschaft & Frieden 1/2002. Die darin beschrieben Tendenz hat sich seither noch deutlich verschärft.

15) ESA Strategy Department, op.cit.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) an der TU Darmstadt

Nukleare Weltraummissionen und moralische Grenzwerte

Nukleare Weltraummissionen und moralische Grenzwerte

von Regina Hagen

Anfang Februar 2003, zwei Tage nach dem Absturz des Space Shuttle Columbia, zeigten die Nachrichten in den USA eine gespenstisch anmutende Szene: Spezialisten in Schutzanzügen, Gasmasken vor dem Gesicht und Sauerstoffgeräte auf dem Rücken, überprüften mit Geigerzählern Anwohner auf radioaktive Verstrahlung, die zuvor mit Trümmerstücken der Raumfähre in Kontakt gekommen waren. Die US-Weltraumbehörde NASA (National Aeronautics and Space Administration) hatte die lokalen Suchtrupps angewiesen, potentiell radioaktiveÜberbleibsel des Unglücks mit höchster Priorität aufzuspüren. Die Bilder schienen zu bestätigen, was Sheriff Thomas Kerss von Nacogdoches, Texas, am Tag zuvor im National Public Radio bekannt gegeben hatte: „An Bord des Raumschiffs war radioaktives Material.“ Auf Nachfragen alarmierter Journalisten und verängstigter Anwohner versuchte die NASA später das Problem herunterzuspielen. Wenige Gramm Americium seien in Rauchmeldern enthalten, das Problem vernachlässigbar klein. Der Aufwand zur Messung von Radioaktivität spricht allerdings gegen diese Variante.1
Radioaktive Verseuchung als Folgeschäden von Weltraummissionen, ein solches Szenario wird seit langem von kritischen Wissenschaftlern, Friedensgruppen und Umweltexperten befürchtet. Schließlich umkreisen nicht nur mehrere hundert Kilogramm Plutonium und fast eine Tonne Uran die Erde als Erblast aus Weltraumissionen der Vergangenheit, der US-Haushalt hält auch mehrere Milliarden Dollar bereit für nukleare Weltraumtechnologien der Zukunft.

Strahlende Erkundung des Weltraums

Der Versuch, mit Kernantrieb die riesigen Distanzen im All rasch zu durchfliegen, reicht in den USA fast fünf Jahrzehnte zurück. 1958-65 beschäftigte sich Project Orion mit dem Antrieb von Weltraumraketen durch die Zündung von Atombomben: Der Rückstoß der Explosionen sollte das Raumschiff in den Weltraum katapultieren. 1961-71 erforschte das Programm NERVA (Nuclear Engines for Rocket Vehicle Applications) die Nutzung eines Atomreaktors für den Raketenantrieb. 1985 wurde an der Universität von Florida in Gainesville das Innovative Nuclear Space Power Propulsion Institute (INESPI) gegründet, das nach wie vor Reaktorkonzepte für die Weltraumfahrt erforscht. Und in Albuquerque, New Mexico, kamen einen Tag nach dem Unfall der Raumfähre Columbia Experten aus Forschung, Industrie und Militär zur 20. Jahrestagung über nukleare Raketenantriebe und Stromversorgungsmöglichkeiten bei Weltraummissionen zusammen.2

Beim neuesten dazu passenden Vorhaben der NASA ist schon der Projektname aussagekräftig: Prometheus. In der griechischen Mythologie stahl der Titan Prometheus das Feuer vom Olymp und gab es an die Menschheit weiter. Prometheus schenkte den Menschen mit dem Feuer die Voraussetzung für ihre weitere Entwicklung, wurde von Zeus dafür aber schrecklich bestraft. Project Prometheus hat unter Einbeziehung der erst kürzlich gestarteten Nuclear Systems Initiative der NASA in den nächsten fünf Jahren einen Etat von mehr als drei Milliarden US$ für die Entwicklung nuklearer Stromquellen und Antriebssysteme zur Verfügung.3Als erste Mission ist der Jupiter Icy Moon Orbiter (JIMO) geplant. Dabei soll ein kleiner Kernreaktor ein leistungsfähiges Ionentriebwerk mit Energie versorgen. Gleichzeitig wird auf diese Weise aber auch genug Energie erzeugt, um an Bord des Raumschiffes Hochleistungsinstrumente und ausgereifte Kommunikationstechnologie zu betreiben. Für Wissenschaftler sind das ganz neue Perspektiven, da Strom an Bord ansonsten immer streng rationiert ist, was in den vergangenen Jahrzehnten zur Entwicklung hochmoderner Geräte mit besonders sparsamen Energieverbrauch anregte.4

Project Prometheus umfasst neben Reaktorsystemen für den Antrieb sowie für die Stromversorgung auf der Marsoberfläche u.a. auch die Entwicklung neuer Plutoniumgeneratoren. Bei diesen Geräten wird Strom nicht durch die Spaltung des Atoms erzeugt, sondern es wird die Wärmeentwicklung beim natürlichen Zerfall radioaktiver Materialien genutzt. Einen fehlerfreien Flug vorausgesetzt, haben Plutoniumgeneratoren hinsichtlich Zuverlässigkeit und Langlebigkeit tatsächlich eine stolze Bilanz vorzuweisen. Erst im Februar 2003 hat die Sonde Pioneer-10 ihr letztes Signal an die irdische Empfangsstation ausgeschickt – gestartet ist sie im März 1972. Insgesamt 31 Jahre lang ermöglichte die nukleare Stromversorgung aufregende Einblicke in das Sonnensystem. Der Preis: Vier SNAP-Generatoren mit etwa acht kg Plutonium-238.

1997 geriet die NASA vor dem Start ihrer Saturn-Mission Cassini in die öffentliche Kritik. Zur Deckung des Strombedarfs der Muttersonde wie der von der Europäischen Weltraumagentur ESA beigesteuerten Erkundungssonde Huygens wurde die Mission mit 32 kg Plutonium-238 bestückt.

Und jetzt haben Friedens- und Umweltgruppen New Horizon im Blick. Die Vorgeschichte dieser ursprünglich Pluto-Kuiper-Express genannten Mission zur Erkundung des äußersten Planeten Pluto und des tiefer im Weltraum liegenden Kometengürtels Kuiper reicht schon einige Jahre zurück, das Zeitfenster für einen sinnvollen Starttermin ist aber äußerst schmal. Nur wenn die Sonde spätestens 2006 losgeschickt wird, ermöglicht die Planetenkonstellation einen Vorbeiflug am Jupiter und somit den nötigen Schwung für den Flug bis Pluto. Wird diese Chance nicht genutzt, kommt die Sonde deutlich nach 2015 an. In diesem Fall würde die Beobachtung des Planeten durch die rasch gefrierende Gashülle, die sich im 200 Jahre andauernden Pluto-Winter bildet, unmöglich gemacht.

Umstritten ist die Mission weniger wegen ihrer Kosten (500 MillionenUS$), sondern wegen der Nutzung eines RTG (radioisotope thermoelectric generator), der vermutlich als Reservesystem für Cassini diente. Der Plutoniumgenerator enthält knapp elf kg Plutonium-238 in Form eines keramischen Dioxidgemisches. Vom waffentauglichen Plutonium-239 unterscheidet sich dieser Stoff vor allem durch seine relativ kurze Halbwertzeit von 87,8 Jahren. Gerade dadurch ist das Isotop im Unglücksfall aber besonders gefährlich. Lungengrädige Partikel bedeuten durch das Dauerbombardement des umliegenden Gewebes mit Alphastrahlung ein hohes Krebsrisiko.

Mehr Plutonium und neue Generatoren

Im Oktober 1998 gab das Energieministerium der USA im Federal Register (Bundesanzeiger der USA) bekannt, dass Plutonium-238 für radioisotope Generatoren nicht mehr in ausreichender Menge vorhanden sei und daher die Produktion des Isotops wieder aufgenommen werden soll. Für die Ausarbeitung einer entsprechenden Umweltverträglichkeitsstudie wurden an mehreren denkbaren Produktionsstandorten (Oak Ridge National Laboratory, Idaho, Hanford Site) öffentliche Anhörungstermine angesetzt. Im September 1999 wurde dieses isolierte Vorhaben aufgegeben zu Gunsten der Ausarbeitung eines Programmatic Environmental Impact Statement für eine nukleare Infrastruktur, die ein sehr viel breiteres Spektrum an ziviler Nukleartechnologie und Isotopenproduktion abdecken soll (u.a. auch für medizinisch einsetzbare Isotopen). Und im Februar 2001 schließlich wurde Oak Ridge als künftige Produktionsstätte ausgedeutet – wobei die Finanzierung des Vorhabens offen blieb.

Aufgrund dieser Verzögerungen sowie der nicht näher erläuterten Umwidmung erheblicher Mengen des begrenzten Inventars an Plutonium-238 für »nationale Sicherheitsbelange« im Sommer 2002 sah sich das US-Energieministerium vor einem Materialengpass. Um die Lücke zu schließen, vereinbarte die Behörde im Januar 2003 die Fortsetzung eines bestehenden Lieferabkommens mit Russland. Über einen Zeitraum von fünf Jahren sollen ab 2004 Lieferungen im Wert von 32 Millionen Euro erfolgen.5 Die Liefermenge wurde nicht bekannt gegeben, vermutlich handelt es sich aber wie bei früheren Verträgen um etwa fünf kg pro Jahr. Dabei ist sich das Energieministerium bewusst, dass durch den Aufkauf von Plutonium-238 in Russland dort der Weiterbetrieb von Fertigungsanlagen unterstützt wird, die die US-amerikanischen Umweltschutz- und Nicht-Proliferationsauflagen nicht erfüllen.6Damit ist vorläufig das Problem geklärt, woher das Plutonium für die Weltraumgeneratoren kommt, die Frage nach einer neuen Generatorentechnologie mit geringerem Plutoniumbedarf ist aber nach wie vor offen. Schon während der Planungsphase für Cassini war die US-amerikanische Firma Advanced Modular Power Systems (AMPS) von der NASA und dem Energieministerium mit der Entwicklung neuer Plutoniumgeneratoren beauftragt. Die daraufhin entstandenen AMTEC-Generatoren stehen nach Angaben von AMPS bereits seit mehreren Jahren zur Verfügung.7 Dennoch sollen im Rahmen von Project Prometheus jetzt neue RTG-Modelle entwickelt werden, und zwar für eine Marsmission 2009.8 Als eine Technologie kommt ein Sterling-Konverter in Frage, der im Vergleich zum herkömmlichen RTG bei identischer Energieausbeute nur ein Drittel des Plutoniums benötigt.9

An alternativen Energieversorgungsmöglichkeiten – beispielsweise durch die Kopplung von Solarenergie mit hochleistungsfähigen Batterien mit hoher Lebensdauer – wird zwar gearbeitet. Sie werden bei der Missionsplanung aber offensichtlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen, zumal für Missionen zu weitentfernten Zielen wie Pluto die verfügbaren Technologien vermutlich nicht ausreichen.

Verbote und Risikominimierung durch Völkerrecht

Entscheidungen über die Nutzung von Kernenergie im Weltraum fallen nicht im rechtsfreien Raum. Die Vereinten Nationen haben etliche völkerrechtliche Regelungen vereinbart.10 So untersagt der so genannte Weltraumvertrag die Stationierung von Kernwaffen im Weltraum, auf einer Erdumlaufbahn oder auf Himmelskörpern (Artikel IV).11 Laut Mondabkommen ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen möglichst vorab davon zu informieren, wenn radioaktives Material auf den Mond verbracht wird (Artikel 7).12 Das partielle Atomteststopp-Abkommen verbietet Tests von Atomwaffen und andere nukleare Explosionen nicht nur unter Wasser und in der Atmosphäre sondern auch im Weltraum.13 Die Konvention über die Haftpflicht bei Weltraummissionen verpflichtet den Startstaat zur Kompensation für sämtliche Schäden, die beim Absturz eines Weltraumobjektes auf der Erde oder im Luftraum verursacht werden.14 Darunter zählen auch Aufräumarbeiten im Falle einer Freisetzung radioaktiver Materialien. Mittels des so genannten Gewohnheitsvölkerrechts entwickeln diese Vereinbarungen völkerrechtliche Wirkung über den Kreis der unterzeichnenden oder ratifizierenden Staaten hinaus – und sei es nur, indem sie moralische Grenzwerte setzen für das, was sich während des Verhandlungsprozesses als Handlungsnorm herauskristallisiert.

Neueren Datums sind die Prinzipien für die Nutzung von nuklearen Energiequellen im Weltraum.15 Vor dem Hintergrund mehrerer Weltraumunfälle, die teilweise zu einer erheblichen Verseuchung mit Uran-235 oder Plutonium-238 sowohl auf der Erde als auch in der Atmosphäre führten,16 stellt dieser Text vor allem Regeln zur Risikominimierung und Schadenshaftung auf. In der Präambel wird der Geltungsbereich ausdrücklich auf nukleare Energiequellen für die Stromerzeugung an Bord für Nicht-Antriebszwecke beschränkt, und zwar gemäß dem Stand der Systeme und Missionen, die 1992 bereits in Betrieb waren. Prinzip 3 konkretisiert den Geltungsbereich für Kernreaktoren, die ausschließlich mit Uran-235 betrieben werden sollen sowie radioisotope (d.h. auf dem Prinzip der Wärmeabstrahlung beruhende) Generatoren.

Obschon den Prinzipien nicht der Rang eines Vertrages zukommt, enthalten sie für eine Resolution ungewöhnlich weitreichende Formulierungen. Prinzip 1 und Prinzip 8 verweisen Staaten und internationale Organisationen, die nukleare Weltraummissionen durchführen, auf ihre Verantwortung gemäß dem Weltraumvertrag, der wiederum in Artikel IX die Vermeidung von schädlichen Kontaminationen von Himmelskörpern und eine Beeinträchtigung der irdischen Umwelt vorschreibt. Haftungs- und Kompensationsvorkehrungen umfassen laut Prinzip 9 den gesamten Schaden von natürlichen und juristischen Personen sowie die Erstattung sämtlicher Kosten für Suche und Sicherung radioaktiver Teile sowie für Säuberungsarbeiten.

Bezugspunkt der Resolution ist der Schutz von Mensch und Biosphäre vor radiologischen Gefährdungen. Nukleare Energiequellen für Weltraumzwecke sollen so konstruiert sein, dass bei einem Unfall bei hohem Vertrauensniveau folgende Strahlungsgrenzwerte nicht überschritten werden: ein mSv pro Jahr für ein begrenztes Gebiet und für Personen; ersatzweise fünf mSv über einige Jahre, solange die durchschnittliche Strahlenbelastung die Lebensdosis von durchschnittlich einem mSv pro Jahr nicht übersteigt. Die Grenzwerte übernimmt die Resolution dabei von den Empfehlungen der International Commission on Radiological Protection (ICRP), eine Ausnahme gilt lediglich für Unfälle mit schwerwiegenden Folgen aber geringer Wahrscheinlichkeit.

Die Frage nach dem moralischen Grenzwert

Experten schließen aus, dass die Grenzwerte der Prinzipien für die Nutzung von nuklearen Energiequellen im Weltraum bei einem Unfall vorhandener nuklearer Weltraumtechnologie eingehalten würden.17 Aufräum- und Sucharbeiten sind – wie der Fall Kosmos-954 und das Columbia-Unglück zeigen – mühsam, aufwendig und nur von begrenztem Erfolg.

Ein anderes Problem ist bislang gar nicht geklärt: Der Verbleib strahlender Altlasten im Weltraum. Die Weltraumsonde Galileo beispielsweise, die mit 24 kg Plutonium-238 an Bord 1989 von Astronauten der Raumfähre Atlantis auf ihren Flug durch das Sonnensystem geschickt wurde, soll am 21. Dezember 2003 durch kontrollierten Absturz in die Atmosphäre des Planeten Jupiter entsorgt werden. Experten versichern, dort könne das radioaktive Material keinen Schaden anrichten, nach einer sauberen Lösung klingt das aber nicht. Noch brennender ist der Verbleib von drei Dutzend Satelliten mit Plutoniumgeneratoren oder Uranreaktoren, die die Erde auf vorläufig sicheren Bahnen umkreisen, sich aber langsam der Erde nähern. Wird der Natur einfach Lauf gelassen, werden in den nächsten 650 Jahren etliche hundert Kilogramm Plutonium und etwa eine Tonne hochangereichertes Uran beim Absturz dieser Satelliten in der Erdatmosphäre verglühen und ihre radioaktive Fracht über die ganze Erde verteilen – mit unabsehbaren Folgen für die ganze Natur und Menschheit.

Ebenfalls schwerwiegend wären die Folgen eines Unfalls mit nuklearem Raketenantrieb. Die Fehlerrate beim Start von Weltraummissionen mit bewährter Technologie beträgt nach konservativen Werten zwischen 5 und 10 Prozent, selbst die NASA geht von einem Umfall bei 20 Starts aus. Das entspricht wohl kaum der in den Prinzipien für nukleare Weltraumtechnologie geforderten „geringen Unfallwahrscheinlichkeit“.

Wissenschaftler und Politiker tragen Verantwortung für die Entscheidungen, die sie treffen, und für die Projekte, an denen sie arbeiten. Sie müssen sich folglich entscheiden, wo für sie zulässige Grenzen erreicht sind: Bei elf nuklearen Heizern mit jeweils einem Gramm Plutonium zum Schutz empfindlicher Instrumente wie bei den zwei für Mai und Juni 2003 geplanten Starts des NASA-Projekts Mars Exploration Rover-2003? Bei leistungsfähigeren Generatoren mit »nur« noch zwei bis drei kg Plutonium? Oder erst bei Reaktoren mit 97% angereichertem Uran-235 für bis zu 400 kWe?

Sowohl bei nuklear als auch bei solar gespeisten Weltraummissionen ist bislang die Reduzierung des Strombedarfs von wissenschaftlichen Instrumenten Stand der Technik.18 Dreht sich die Sichtweise jetzt um? Sollen in Zukunft nukleare Reaktoren den Einsatz stromintensiver Geräte zur Erkundung und Nutzung des Weltraums ermöglichen? Wo sind die Grenzen – welches Risiko ist uns die Erforschung des tiefen Weltraums wert? Wo ist der Zugewinn für die Menschheit im Vergleich zu den Gefahren?Diese letzte Frage betrifft auch den erhofften wirtschaftlichen und militärischen Nutzen: Schon heute wird darüber nachgedacht, dass der Strom aus Kernreaktoren auf dem Mars die Rohstoffausbeute ermöglichen könnte. Und die US-Luftwaffe scheint in der Luft für Recht zu halten was im Weltraum billig ist: Sie erstellt gegenwärtig eine Machbarkeitsstudie über eine nukleare Version der Drohne Global Hawk, die monatelang unbemannt über einem zu beobachtenden Zielgebiet oder Objekt kreisen könnte.19

Aus Wien verlautet, die USA wollen im Technical & Scientific Subcommittee des UN Committee on the Peaceful Uses of Outer Space (UNCOPUOS) Kernenergie wieder auf die Tagesordnung setzen. Das lässt nichts Gutes ahnen.

Anmerkungen

1) Erhellende Informationen zu einer eventuellen radioaktiven Kontamination durch das Shuttle-Unglück sind nach wie vor nicht erhältlich.

2) 20th Annual Symposium on Space Nuclear Power and Propulsion; unter Vorsitz von Professor Mohamed S. El-Genk, Director des Institute for Space and Nuclear Power Studies der University of New Mexico; Programm und Abstracts unter http://www.unm.edu/~isnps/staif/archives/index.html

3) Frank Morring, Jr.: NASA Targets Jupiter’s Icy Moons With First Nuke-Propulsion Probe, Aviation Week & Space Technology, 10.2.2003.

4) Informationen zur laufenden Entwicklung von nuklearen Weltraumsystemen finden sich u.a. im Schwerpunkt Space Nuclear Power der Zeitschrift Nuclear News, herausgegeben von der American Nuclear Society im Dezember 2002.

5) Russia to provide US space program with nuclear fuel: official, AFP, 26.2.2003

6) Nuclear Energy Research Advisory Committee, Subcommittee for Long Term Planning for Nuclear Energy Research, Summary Report, Nuclear Waste Technology and Space Nuclear Systems R&D Working Group, October 18-20, 1999 Workshop. Die Arbeitsgruppe gab folgendes zu Protokoll: „Some participants were concerned about relying on Russian supplies for Pu-238. The US might be supporting a production scheme that is counter to US environmental and proliferation goals.“ http://www.ne.doe.gov/nerac/LTRDP-Appendices.pdf

7) www.ampsys.com/spacepower.htm; AMTEC = alkali metal thermal to electrical conversion.

8) Weitere Informationen zu den entsprechenden NASA-Plänen finden sich auf der Website der NASA Power and On-Board Propulsion Technology Division unter http://powerweb.grc.nasa.gov/sitemap.html. Allerdings ist der Zugang zu etlichen Unterseiten seit einiger Zeit gesperrt.

9) NASA Glenn Research Center: Thermo-Mechanical Systems Branch, Stirling Radioisotope Power for Deep Space. Available Today for Tomorrow’s Needs, http://www.grc.nasa.gov/WWW/tmsb/stirling/doc/stirl_radisotope.html

10) Für die Beantwortung von Verständnisfragen zu diesem Themenkomplex bin ich Marietta Benkö zu Dank verpflichtet.

11) Treaty on Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space, including the Moon and Other Celestial Bodies, in Kraft getreten 1967.

12) Agreement Governing the Activites of States on the Moon and Ohter Celestial Bodies, in Kraft getreten 1984, allerdings wurde dieses Abkommen von keiner der relevanten Weltraumnationen ratifiziert oder unterzeichnet.

13) Treaty Banning Nuclear Weapon Tests in the Atmosphere, in Outer Space And Under Water, in Kraft getreten 1963.

14) Convention on International Liability for Damage Caused by Space Objects, in Kraft getreten 1972.

15) Principles Relevant to the Use of Nuclear Power Sources, in Outer Space, Resolution der UN-Vollversammlung vom 14. Dezember 1992 (Res. 47/68).

16) Zu nennen sind hier besonders der Wiedereintritt von Kosmos-954 in die Erdatmosphäre im Jahre 1978, wobei 31 kg hoch angereichertes Uran über Kanada freigesetzt wurden. Vier Jahre später verglühte die gleiche Menge Uran bei einem Unfall von Kosmos-1402. Bereits 1964 verteilten sich bei einem Unfall des amerikanischen Satelliten Transit 5-BN-2 mehr als 2 kg in einem Generator enthaltenes Plutonium-238, die anschließend über die ganze Welt verteilt wurden. 1996 brach beim Absturz die russische Sonde Mars-96 auseinander und verteilte das radioaktive Inventar mit 200 g Plutonium über dem Grenzgebiet von Bolivien und Chile. Siehe auch Regina Hagen: Nuclear Powered Space Misssions – Past and Future, in Martin B. Kalinowski (Hrsg.): Energy Supply for Deep Space Missions, IANUS-Arbeitsbericht 5/1998.

17) Siehe z.B. Roland Wolff: Plutonium Releases into the Atmosphere, in Bender, Hagen, Kalinowski, Scheffran (Hrsg.): Space Use and Ethics, Darmstädter interdisziplinäre Beitrage 5/I, agenda, 2001.

18) Siehe z.B. Göstar Klingelhöfer: German Participation in the NASA ‚Mars Surveyor‘ Program, in: Bender et. al.: op. cit.

19) Duncan Graham-Rowe: Nuclear-powered drone aircraft on drawing board, New Scientist, 19.2.2003.

Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (www.inesap.org) und Vorstandsmitglied des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space (www.space4peace.org).

Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser?

Mit Weltraumwaffen gegen Teppichmesser?

Das Streben der USA nach Dominanz im All

von Regina Hagen und Jürgen Scheffran

Die Ereignisse vom 11. September haben allzu deutlich gezeigt, wie verwundbar die USA, die modernen Industriegesellschaften insgesamt sind. Keine Kernwaffenarsenale, keine Flugabwehr, keine Raketentechnologie und keine Weltraumsatelliten konnten verhindern, dass mit Hilfe von Teppichmessern Verkehrsflugzeuge in Massenvernichtungswaffen umgewandelt wurden. Der Versuch, Sicherheit aus großer Distanz mit immer ausgeklügelteren technischen Systemen herzustellen, muss kläglich scheitern, wenn der Gegner mitten in der Gesellschaft sitzt und klare Fronten nicht mehr auszumachen sind. Daran ändert auch der nachfolgende HighTech-Krieg gegen Afghanistan nichts: Er wird den USA nicht zur Unverwundbarkeit verhelfen. Dem zum Trotz fühlen sich US-Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Rumsfeld sogar in ihren Plänen bestärkt, die USA und ihre Alliierten mit Abwehrraketen und Weltraumwaffen vor Angriffen durch »Schurkenstaaten« und Terroristen zu schützen.
Seit ihrem Amtsantritt im Januar 2001 hat die Regierung Bush keinen Zweifel daran gelassen, dass der neue Präsident zumindest zwei Versprechen seiner Wahlkampfzeit einlösen will: Er gedenke die Anzahl der Atomwaffen drastisch zu reduzieren und den Aufbau eines Raketenabwehrschirmes deutlich zu beschleunigen.

Seit dem Gipfeltreffen mit seinem russischen Kollegen Putin Mitte November auf der Farm in Crawford stehen beide im Wort, im Laufe des Jahrzehnts die Nukleararsenale auf das im Rahmen von START III vorgesehene Niveau von etwa 2.000 Atomsprengköpfen zu verringern. Allerdings wurde die Vereinbarung auf typisch Bush’sche Art besiegelt: Mit einem Händedruck unter Männerfreunden – ohne Vertrag, ohne Überprüfungsmechanismen, ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit.

Von einem umfassenden Sicherheitskonzept, das die präventive Vermeidung von Risiken für die Sicherheit der USA und der Welt im 21. Jahrhundert im Auge hätte, kann bislang keine Rede sein. Statt dessen will Bush sich von vertraglichen Fesseln der Vergangenheit befreien: Auf der Abschussliste stehen unter anderem das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz, das Verifikationsprotokoll zum Biowaffenabkommen, die Landminenkonvention, der ABM-Vertrag, der Atomwaffen-Teststoppvertrag und die Chemiewaffenkonvention. Es geht nicht mehr nur um einzelne Verträge, sondern um das Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime der letzten Jahrzehnte. Dazu passt die Anordnung von Bush, nicht einem Internationalen Strafgerichtshof, sondern geheimen Militärgerichten die Aburteilung ausländischer Terroristen zu übertragen.

Raketenabwehr als Zeichen moderner Zeiten?

»Ancient history«, graue Geschichte der Vorzeit, sei der 1972 abgeschlossene Raketenabwehrvertrag, assistierte Donald Rumsfeld. Seine Aufkündigung war bereits beschlossene Sache, da wurde Russland in die »internationale Koalition« gegen den Terror einbezogen. Nun wird noch etwas abgewartet – die nächsten Tests für den geplanten Abwehrschild, versicherte der Verteidigungsminister, würden die Vertragsbestimmungen noch nicht verletzen.

Das wird auch kaum nötig sein: Russland drückt zur Not ein Auge zu und der Zeitplan entwickelt seine eigene Dynamik. Eigentlich sollten in 2001 mehrere Tests durchgeführt werden, zum Jahresende schon mit der eigentlichen Abfangrakete. Davon sind die Tester weit entfernt. Nach drei Fehlschlägen unter Clinton war auch der jüngste als Erfolg gefeierte Abwehrversuch von Mitte Juli – die Wiederholung des Fehlschlags vom Jahr zuvor – alles andere als überzeugend. Abgesehen davon, dass das Abfangen eines Ersatzsprengkopfs mit Ersatzraketen in einem gut geplanten Szenario noch wenig mit einem Test unter realen Bedingungen zu tun hat, wurden die verwendeten Tricks (Sprengkopfattrappe war mit Sender ausgestattet) und aufgetretenen Probleme (Zielverfolgungsradar fiel wegen Überlastung aus) erst hinterher offenkundig. Und im November musste gar eine Testrakete bereits 52 Sekunden nach ihrem Start vom Kodiak-Gelände in Alaska gesprengt werden, weil die Kommunikation zusammenbrach. Eigentlich hätte der Test überprüfen sollen, ob bodengestützte Radars in Kalifornien zwischen Gefechtsköpfen und Attrappen unterscheiden können. Und von den anderen für dieses Jahr geplanten Versuchen ist gar nicht erst die Rede.

Noch ein weiteres Schlüsselsystem macht Kummer: Der Haushaltsausschuss stellte jüngst fest, dass die von Raytheon und TRW zu bauende Satellitenkonstellation SBIRS-Low (Space-Based Infrared System, Low Orbit) zur Verfolgung der Raketenflugbahn im Weltraum anstatt 10 Mrd. voraussichtlich 23 Mrd. US-Dollar kosten wird. Der Haushaltsausschuss schlägt nun vor, die Machbarkeit alternativer Systeme zu untersuchen. Und das von Lockheed Martin geplante SBIRS-High-System für die geostationäre Umlaufbahn steht aus ähnlichen Gründen zur Disposition.

Neue US-Strategie: offensiv und defensiv gegen Pearl Harbor im All

Allerdings ist längst die gesamte Planung hinfällig. In seiner gespannt erwarteten Rede vom 1. Mai 2001 erläuterte Bush nicht nur den politischen Strategiewandel. Demzufolge soll an die Stelle des Gleichgewichts des Schreckens jetzt die gemeinsame Verantwortlichkeit für die Abwehr von Bedrohungen für die »freie Welt« treten, und zwar durch eine Mischung aus aktiver Nichtverbreitung, militärischer Counterproliferation und Raketenabwehr. (Seit dem 11.9. wurde die Liste ergänzt um Sicherheit, Kooperation und Transparenz.) Neue Abschreckungskonzepte sollen offensive und defensive Elemente miteinander verknüpfen, sollen vor Bedrohungen und Proliferation schützen und – wie kürzlich ein hoher US-Diplomat das Schwierige einfach formulierte – „uns auf den Weg zurückbringen, auf dem wir die wirklichen Gefahren angehen können.“ Diesen Weg bereiten soll auch die Raketenabwehr, obschon nicht länger »national« definiert, weil es schließlich auf den Standpunkt ankäme: Was »national« anderswo, sei vermutlich »taktisch« für die USA.

Die Ausweitung des Raketenabwehrpakets auf jeden für die USA relevanten Ort wird begleitet von einer Änderung des Abwehrkonzepts. Nicht mehr Schutz bestimmter Territorien oder Regionen ist das Ziel, sondern Abwehr ballistischer Raketen in den drei Flugphasen einer Rakete, denen dann die passenden Abwehrsysteme zugeordnet werden. Plötzlich ist für alles Bedarf, was die – übrigens schon unter Ex-Präsident Clinton initiierte und finanzierte – Angebotspalette hergibt: bodenstationierte Abfangraketen ebenso wie der luftgestützte Laser (Air-Borne Laser, ABL), der bereits 2004 einsatzbereit sein soll; seegestützte Abwehrsysteme wie der weltraumbasierte Laser (Space Based Laser, SBL); bodengestützte Radar- und Infrarotsysteme ebenso wie solche, die im Weltraum stationiert sein sollen.

Spätestens mit dem SBL – der Grundstein für die Testanlage wurde im Mai 2001 in Mississippi gelegt – würde die Grenze zwischen offensiver und defensiver Weltraumrüstung eindeutig überschritten. Und auch das passt gut ins neue Konzept der Bush-Administration. Wenige Tage vor seinem Amtsantritt als US-Verteidigungsminister stellte Mitte Januar Donald Rumsfeld den Bericht einer Kommission vor, die sich unter seinem Vorsitz mit nationalen Sicherheitsaspekten der US-Weltraumpolitik befasste. Sie kam zu folgendem Ergebnis:

„Schutzlos ausgesetzt sind Weltraumsysteme Angriffen, die Bodenstationen, Startvorrichtungen oder Satelliten in der Umlaufbahn außer Betrieb setzen oder zerstören. Ihr politischer, wirtschaftlicher und militärischer Wert macht Weltraumsysteme zu attraktiven Zielen für staatliche und nicht-staatliche Akteure, die den USA und ihren Interessen feindlich gesinnt sind. (…) Ein Angriff auf Teile des US-Weltraumsystems (…) sollte nicht als unwahrscheinlich abgetan werden. Wenn die USA ein ‚Pearl Harbor im Weltraum‘ verhindern wollen, müssen sie die Möglichkeit eines Angriffs auf US-Weltraumsysteme ernsthaft in Betracht ziehen. (…) Die US-Regierung (…) sollte unbedingt sicherstellen, dass der Präsident die Option hat, Waffen im Weltraum zu stationieren. (…) In absehbarer Zukunft werden die USA zur Unterstützung ihrer nationalen Interessen auf der Erde und im Weltraum [militärische] Operationen in den, aus dem, in dem und durch den Weltraum durchführen.“

Die Kommission empfahl der Regierung dringlich, auch durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die militärischen Interessen der USA im Weltraum angemessener berücksichtigt werden. Mitte Oktober wies Rumsfeld zahlreiche Abteilungen im Verteidigungsministerium an, Direktiven auszuarbeiten, die die Umsetzung ermöglichen.

Die weitest reichende Einbindung der Weltraumkrieger ist aber schon vorher erfolgt: Ende August wurde mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2001 Richard Myers, bis dahin Oberbefehlshaber des US Space Command, zum neuen Generalstabchef der USA ernannt. Statt weiter über HighTech-Kriege im All zu phantasieren, dirigiert Myers den Angriff auf Afghanistan.

Donald Rumsfeld stellt auch sonst sicher, dass der Weltraummilitarisierung gebührende Aufmerksamkeit zukommt. Anfang September ernannte Rumsfeld einen Industrievertreter zu seinem Repräsentanten in Europa sowie zum Verteidigungsberater der US-Vertretung bei der NATO in Brüssel: Evan G. Galbraith ist u.a. Vorstandsmitglied der Groupe Lagardère S.A. in Paris. Diese wiederum hält außer großen Paketen an Medienunternehmen auch bedeutende Anteile (zwischen 26 und 80%) an Rüstungs- und Weltraumfirmen wie EADS, Astrium, Dassault Aviation, MBDA, Airbus, Arianespace und ATR und ist alleiniger Eigentümer von Eurocopter.

Großes Schild und kleines Schwert statt Rüstungskontrolle?

In Genf erklärte sich kürzlich ein bei der UN-Abrüstungskonferenz akkreditierter deutscher Diplomat zum glühenden Anhänger des Gedankens, der Welt durch die Kombination eines immer größer werdenden Schildes und eines mäßig großen Schwertes nicht länger die gegenseitig gesicherte Zerstörung (MAD: Mutually Assured Destruction) zuzumuten, sondern mit dem gegenseitig gesicherten Überleben (MAS: Mutually Assured Survival) zu beglücken. Das entspricht exakt der Argumentationslinie der USA, die vom Kongress auch finanziell bestätigt wird. Der Haushaltsplan des US-Verteidigungsministeriums für Raketenabwehr wurde für 2002 um US$ 8,3 Mrd. gesteigert, wobei nach einigem Hin und Her in Folge der Terrorismusdebatte bis zu 1,3 Mrd. alternativ für Terrorismusbekämpfung umgewidmet werden dürfen. Mit diesem Geld soll nun u.a. ein als Testanlage deklarierter Stationierungsort für erste Abfangraketen in Fort Greely, Alaska, gebaut werden. Mit den Rodungsarbeiten wurde im Oktober begonnen und die Anlage soll bis 2004 einsatzbereit sein, weil es, so Bush, nicht so sehr darauf ankomme, dass das System wirklich funktioniere, sondern mehr darauf, dass ein Gegner mit dem Funktionieren rechnen müsse…

Die Pläne der USA stoßen in der übrigen Welt meist nicht auf Gegenliebe. Ganz im Gegenteil – eine Vielzahl von Initiativen versucht, dem drohenden Wettrüsten bereits im Vorfeld entgegenzutreten.

  • Als Mindestforderung werden die USA aufgefordert, bereits bestehende Verträge strikt einzuhalten, darunter den Weltraumvertrag von 1967 und den ABM-Vertrag von 1972, und andere zu ratifizieren wie den Kernwaffen-Teststoppvertrag.
  • Wiederholt verabschiedete in den vergangenen Jahren die UN-Generalversammlung den dringlichen Appell, in Genf endlich substanziell über die »Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum« (PAROS, Prevention of an Arms Race in Outer Space) zu verhandeln.
  • Nichtregierungsorganisationen setzen sich verstärkt für ein Verbot von Weltraumwaffen ein. Am 16. November wurde auf einem Workshop in Berlin diskutiert, wie der Göttinger Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums von 1984 für die heutige Situation genutzt werden kann.
  • China legte im Juni 2001 bei der UN-Abrüstungskonferenz ein Vertragsgerüst für ein Abkommen zur Verhinderung der Bewaffnung des Weltraums vor.
  • Die russische Regierung propagiert u.a. ein Konzept zur globalen Frühwarnung vor Raketenbedrohungen.
  • Auf Initiative Irans wurde Ende 2000 bei den Vereinten Nationen eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die in den nächsten zwei Jahren die reale Raketenbedrohung untersuchen soll.
  • Für das Missile Technology Control Regime haben die Staaten einen Regelkatalog (Code of Conduct) ausgearbeitet, der auch Maßnahmen zur Rüstungskontrolle von Raketen erlaubt.
  • Am 2. Oktober 2001 legte der demokratische Abgeordnete Dennis Kucinich dem US-Kongress einen Gesetzentwurf (HR 2977) zum Verbot aller Weltraumwaffen, einschließlich Forschung, Entwicklung, Erprobung, Produktion und Stationierung, vor.
  • Rebecca Johnson vom Londoner Acronym Institute schlug bei der internationalen Konferenz »Space Without Weapons« in Moskau im April 2001 ein dreigliedriges Weltraumwaffenverbot vor: a) ein Verbot von Stationierung und Einsatz aller Formen von Weltraumwaffen, in Erweiterung und Stärkung des Weltraumvertrages; b) das Verbot der Erprobung, Stationierung und des Einsatzes von Antisatellitenwaffen (ASAT), sowohl erdgestützt wie auch weltraumgestützt; c) die Einrichtung eines Code of Conduct für friedenserhaltende, nicht-offensive und nicht-aggressive Weltraumnutzungen.

Oft hängt die Einschätzung der US-Pläne von der verfügbaren Information ab. Robert C. Byrd, demokratischer Vertreter von West Virginia im US-Senat und Vorsitzender des Haushaltsausschusses, hielt im Kongress Ende September 2001 – also nach den Terrorattacken auf das Pentagon und das World Trade Center – eine nachdenkliche Rede, die durch die Lektüre eines Artikels über US-Weltraumrüstungsvorhaben im New York Times Magazine angeregt wurde. Byrd zeigte sich entsetzt von den Plänen des US-Militärs und schlug vor, alle entsprechenden Programme einem Moratorium zu unterziehen. So solle Zeit gewonnen werden, um in einer öffentlichen Debatte auszuloten, ob die USA tatsächlich die „Überlegenheit im Weltraum“ erlangen, zum „Weltraum-Sheriff“ werden und somit eine „imperialistische, selbst wenn wohlmeinende, Diktatur im Weltraum“ ausüben sollten. Er sieht nicht nur die Gefahr eines immensen Haushaltsdefizits zur Finanzierung der Weltraumwaffen, sondern beschwört auch die Wahrscheinlichkeit herauf, dass andere Staaten auf die Provokation reagieren und sich ihrerseits mit Weltraumwaffen ausrüsten würden. Anders als US-Verteidigungsminister Rumsfeld sieht er die USA in keinster Weise im Weltraum gefährdet und warnt davor, mit den Weltraumplänen das Wettrüsten auf eine bislang unbekannte Ebene zu steigern.

Regina Hagen ist Koordinatorin von INESAP und Vorstandsmitglied des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space.
Jürgen Scheffran ist Physiker und Mathematiker und leitet das Projekt »Moving Beyond Missile Defense« des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP), das an der Technischen Universität Darmstadt angesiedelt ist.

Weltraum – ein Instrument europäischer Macht?

Weltraum – ein Instrument europäischer Macht?

von Regina Hagen und Jürgen Scheffran

In seiner Rede vom 1. Mai betonte US-Präsident George W. Bush seine Entschlossenheit zum Aufbau eines weltumspannenden Raketenabwehrsystems auf der Erde, zur See, in der Luft und im All. Bereits zuvor kündigte sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Weltraumwaffen an, angeblich um die USA vor der Gefahr eines »Pearl Harbor« im Weltraum zu schützen. Und Europa – bleibt es auf die zivile Raumfahrt verpflichtet und ein Hort des Friedens im Weltraum? Leider nicht, wenn die jüngsten Planungen realisiert werden.
Raumfahrt hat in Europa einen anderen Stellenwert als in den USA oder in Russland. In diesen beiden Ländern sind die Weltraumaktivitäten seit 50 Jahren durch die gegenseitige Konkurrenz, durch den Drang nach technologischer und vor allem militärischer Vorherrschaft getrieben. Besonders das US Space Command versucht seit Jahren, die Dominanz der USA im Weltall auszubauen.1 Demgegenüber hinkte Europa immer hinterher. Dennoch haben sich einzelne Nationen und die Europäische Weltraumorganisation ESA (Europa Space Agency) mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln einen guten Ruf erarbeitet. Wissenschaftsprojekte, interplanetare Missionen, Sonnenerkundung, Erdbeobachtung, Katastrophenvorhersage sowie Klima- und Umweltforschung finden auf höchstem Niveau statt. Die Trägerrakete Ariane garantiert Europa nicht nur den Zugang zum Weltraum sondern hat sich längst zur wirtschaftlichen Erfolgsstory gemausert und ganz nebenbei einen Zuverlässigkeitsrekord aufgestellt.

Weltraumforschung für ausschließlich friedliche Zwecke…

Zweck der 1975 gegründeten ESA ist es laut Satzung, „die Zusammenarbeit europäischer Staaten für ausschließlich friedliche Zwecke auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der Weltraumtechnologie und ihrer weltraumtechnischen Anwendungen (…) sicherzustellen und zu entwickeln.“2 Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Übermacht der USA – das Budget der US-Raumfahrtagentur NASA beträgt dieses Jahr rund 31 Mrd. Mark (14 Mrd. US Dollar), während sich die ESA mit etwas mehr als 5,5 Mrd. Mark (2.856 Mrd. Euro) begnügen muss3 – zielen die Bemühungen Europas vor allem darauf ab, technologisch den Anschluss nicht zu verlieren und der heimischen Industrie ein Stück des lukrativen Kuchens zukommen zu lassen.

Satellitengestützte Navigation, Fernaufklärung, Information und Kommunikation sowie die Bereitstellung entsprechender Transportkapazitäten stellen einen viel versprechenden Markt dar. Die Zukunft eröffnet ein gewaltiges Potenzial: Rohstoffausbeute auf dem Mond und auf Asteroiden, Gewinnung von Sonnenenergie durch Solaranlagen im All, die Gründung von bewohnten Stationen oder gar Kolonien auf Himmelskörpern, die gezielte Beeinflussung des irdischen Wettergeschehens aus dem Orbit und der Aufbau von Weltraumtourismus scheinen in greifbarer Nähe zu liegen.4 Dass Russland kürzlich mit dem hochbezahlten Flug von Dennis Tito zur Internationalen Raumstation die Nase wieder einmal vorne hatte, wurde von den USA mit beleidigten Kommentaren quittiert.Dieses Beispiel zeigt, dass die internationale Konkurrenz hart ist – ein Grund für die ständig fortschreitende »Konsolidierung« der beteiligten Industrieunternehmen.5 Die Entwicklung und der Bau von Weltraumtechnologie konzentrieren sich weit gehend auf einige Firmen, deren Namen aus Rüstung sowie Luft- und Raumfahrt bereits bekannt sind. Um mit Boeing, TRW, Lockheed-Martin und Raytheon mithalten zu können, haben sich im vergangenen Jahr in Europa die Firmen Daimler Chrysler Aerospace AG (DASA, Deutschland; 47,5 %), Aerospatiale Matra (Frankreich; 47,5 %) and Construcciones Aeronáuticas S.A. (CASA, Spanien; seit 2000 zur DASA gehörig; 8,5 %) zur EADS (European Aeronautic Defence and Space Company; 75.000 Beschäftigte) zusammengeschlossen, die dadurch zum weltweit drittgrößten Luft- und Raumfahrtkonzern mit bedeutenden Rüstungsanteilen wurde. In Großbritannien fusionierten die Rüstungsfirmen British Aerospace (BAe) und General Electric (GEC) zur BAE Systems. Ebenfalls im vergangenen Jahr fusionierten Matra Marconi Space (Frankreich; 55 %) und die Weltraum-Divisions von DaimlerChrysler (Deutschland; 45 %) zu Astrium (7.500 Beschäftigte).6 Und vor wenigen Wochen schließlich schlossen sich die neuen Konsortien EADS und BAE Systems mit der italienischen Finmeccania zum weltweit zweitgrößten Raketenbauer MBDA zusammen.7

… oder darf es auch etwas Militär sein?

Neben industriepolitischen und technologischen Erwägungen rückt in der neueren Raumfahrdiskussion in Europa seit einigen Jahren verstärkt auch die militärische Nutzung in den Mittelpunkt. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre machte der Golfkrieg überdeutlich, welch enormen Anteil Weltraumtechnologie an militärischen Operationen hat. Mit dem Jugoslawienkrieg von 1999 war für den deutschen Verteidigungsminister das Fass übergelaufen. Er fordert seither energisch die Entwicklung und Stationierung eines deutschen Radarsatelliten.

Diese Idee ist allerdings nicht ganz neu. Schon die von Helmut Kohl geführte CDU/FDP-Regierung unterstützte 1985 nicht nur die Teilnahme am SDI-Programm der USA, sondern auch die Stationierung militärischer Satelliten. Europa hätte dazu die Erfahrungen mit zivilen Fernerkundungs- und Kommunikationssatelliten nutzen und die Programmleitung der Westeuropäischen Union (WEU) übertragen können.8 Da Tausende von Wissenschaftlern und die Friedensbewegung protestierten und die SDI-Pläne in den USA mit dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung verloren, ließ auch das öffentliche Interesse an den europäischen Weltraumplänen nach.

Hinter den Kulissen ging die Überzeugungsarbeit aber weiter, dem weltpolitischen Wandel zum Trotz. 1986 hatte die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) den Bericht »Deutsche Weltraumpolitik an der Jahrhundertschwelle« veröffentlicht. Darin wird u.a. gefordert, dass außen- und sicherheitspolitischen Aspekten ein höherer Stellenwert bei Entscheidungen über die Weltraumnutzung zukommen müsse und ein deutsch-französisches Aufklärungssystem aufgebaut werden solle. In einer zweiten Studie »Beobachtungssatelliten für Europa« von 1990 sind die entsprechenden Anforderungen präzisiert und die Vorteile aufgeführt, die sich aus einer Nutzung des Systems auch für den Schutz gegen Katastrophen und Umweltgefahren ergeben könnten.

Die hartnäckige Propagierung dieser Pläne führte 1994 zu einem gemeinsamen deutsch-französischen Satellitenprojekt. Dabei sollte sich Deutschland an einer neuen Generation der französischen optischen Aufklärungssatelliten Helios beteiligen, und im Gegenzug wollte Frankreich zur Entwicklung und Stationierung eines deutschen Radarsatelliten mit dem Namen Horus beitragen. Das Projekt platzte 1998, als die neue französische Regierung die Kooperation aus finanziellen Gründen wieder aufkündigte.

Im Juni 2000 änderte sich die Beschlusslage abermals, und Verteidigungsminister Scharping setzte seinen Willen durch: Frankreich und Deutschland schlossen ein neues Abkommen über die Zusammenarbeit bei der militärischen Aufklärung. Frankreich will wiederum seine optischen Helios-Satelliten beisteuern, Deutschland den neu zu entwickelnden licht- und wetterunabhängigen Radarsatelliten SAR-Lupe, der (unter Beteiligung von EADS) von der Bremer Firma OHB gebaut wird.9 Fortschritte in der Technologie ermöglichen inzwischen eine deutlich billigere Realisierung und machen die Umsetzung des Abkommens viel wahrscheinlicher. Dennoch sieht Scharping auch dieses Projekt durch den Sparzwang gefährdet und forderte daher die finanzielle Beteiligung des Außen- und des Entwicklungsministeriums. Begründung: Die Aufklärungsdaten könnten von den Kollegen auch bestens für ihre eigenen Zwecke genutzt werden.Die militärische Zusammenarbeit im Weltraum ist damit keineswegs ausgereizt. Im Januar 2001 kamen die Forschungs- und Verteidigungsminister von Frankreich und Italien überein, ein dual use-Fernerkundungssystem für militärische und zivile Zwecke aufzubauen. Frankreich will zwei Helios-, Italien vier Radarsatelliten beisteuern. Anderen europäischen Regierungen wollen die beiden Vertragspartner eine Minderheitsbeteiligung am Programm anbieten.10

Auch ohne diese Kooperationspläne ist die Nutzung des Weltraums durch Europa längst nicht mehr auf friedliche Zwecke beschränkt. Neben zivilen Weltraumsystemen, deren Dienste und Daten vom Militär auf dem freien Markt aufgekauft und für eigene Zwecke ausgewertet werden,11 verfügt Großbritannien über militärische Kommunikationssatelliten des Typs Skynet auf geostationären Umlaufbahnen. Frankreich verfügt über die militärischen Helios-Satelliten und ist zusätzlich mit einer militärischen Kommunikationskomponente Untermieter in den ansonsten zivilen Satelliten von France Telecom.12

Gemeinsam plant es sich besser

Waren die Bestrebungen, Weltraumanwendungen in der Militärpolitik mehr Raum zu geben, bislang eher unkoordiniert und auf bilaterale Abkommen angewiesen, hat sich dies in den vergangenen Jahren deutlich geändert. 1999 beispielsweise stellte eine hochrangige ESA-Kommission fest, dass die Abhängigkeit im Bereich der Satellitennavigation von den USA (dessen Militär das Global Positioning System, GPS, betreibt) vollkommen inakzeptabel sei. Für die nationale Sicherheit und die Durchführung weltweiter Friedenseinsätze europäischer Truppen seien die Bereiche Aufklärung, Kommunikation und Befehlsübermittlung von größter Bedeutung. „Daher“, folgern die Berichterstatter, „sind Weltraumsysteme für Verteidigungsanforderungen ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Sicherheitsarchitektur und für ihren Beitrag zu den weltweiten Bemühungen für die Friedenserhaltung.“13

Im September 2000 verabschiedete die Europäische Kommission eine Mitteilung zur europäischen Raumfahrt, in der unter Bezug auf die „sicherheitspolitische Dimension“ des Weltraums dafür plädiert wird, mit dem mittlerweile in Planung befindlichen europäischen Satellitennavigationssystem GALILEO und dem globalen Umwelt- und Sicherheitsüberwachungsprogramm GMES ein Informationsnetz zu schaffen, „das den politischen Erfordernissen Europas entspricht“14. Dabei werden in allen offiziellen Dokumenten und Verlautbarungen die Bereiche Umwelt und Sicherheit nachdrücklich miteinander verknüpft. So soll GMES globale Beobachtungsmöglichkeiten zugleich für Sicherheits- und Umweltbelange bieten.

Als ebenso problematisch wie GMES ist GALILEO zu sehen. Das europäische Satellitensystem soll die Navigationssysteme GPS und GLONASS der USA und Russlands einerseits ergänzen, andererseits die europäische Abhängigkeit von diesen Systemen durch die Stationierung von bis zu 30 eigenen Navigationssatelliten reduzieren.

Einer vom deutschen Forschungsministerium und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) geförderten interdisziplinären Studie zufolge wird mit GALILEO „die Souveränität und Unabhängigkeit Europas auch auf dem Gebiet der Satellitennavigation unterstrichen“.15Eigene Fähigkeiten der Navigation, Aufklärung und Kommunikation durch ein weltraumgestütztes System für „Friedenseinsätze von europäischen Streitkräften, an denen die NATO nicht beteiligt ist“, seien die Konsequenz des Ziels der Europäischen Union, „auch auf sicherheitspolitischem Gebiet eine eigene Identität zu entwickeln.“ Einerseits betont die Studie die Konzeption von GALILEO als „ziviles System unter gemeinsamer europäischer Kontrolle.“ Andererseits wird klargestellt, dass „im Krisenfall eine Nutzung von GALILEO-Signalen durch potenzielle Gegner durch aktive Funkstörungen und eine Signalverschlüsselung verhindert oder zumindest erschwert werden [kann].“

Die sicherheitspolitische Einschätzung, dass damit „insgesamt die politischen Handlungsoptionen Europas in Krisenzeiten erweitert“ werden, mag in die vorherrschende Militärstrategie passen, ist aus friedenspolitischer Sicht aber keineswegs wünschenswert, auch wenn sie von dem an der Studie beteiligten Friedensforschungsinstitut mitgetragen wurde.

Die offizielle Haltung zu diesem Punkt ist nicht ganz eindeutig. In einer Entschließung des Europäischen Rates vom 11. April 2001 wird ausdrücklich daran erinnert, „dass es sich bei GALILEO um ein ziviles Programm unter ziviler Kontrolle handelt“ und als eine der einschlägigen Anforderungen an das System die „Kontinuität der Dienstleistung in Krisensituationen“ benannt. Dennoch sieht auch dieser Text „von zivilen Behörden in Krisensitationen beschlossene Zugangsbeschränkungen oder sogar Zugangsverbote“ vor. 16 Einige Monate zuvor hatte die Europäische Kommission bereits mitgeteilt, dass im Krisenfall eine politische Instanz, die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) der EU zu benennen sei, sicherheitsbedingte Zugangsbeschränkungen bis hin zum Entzug der Dienste von GALILEO organisieren müsse.17

In einem offenen Brief wiesen besorgte NaturwissenschaftlerInnen bereits 1999 darauf hin, dass keine militärischen Satellitenkapazitäten erforderlich seien und „Deutschlands neuer Verantwortung in der Welt (…) bestens gedient [wäre], wenn es seine wissenschaftliche und wirtschaftliche Kapazität in zukunftweisenden, innovativen Projekten bündelt, die wirksame Methoden für die Beilegung von innerstaatlichen und ethnischen Konflikten entwickeln.“ In seiner Antwort wies Walther Stützle, Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, die Forderung zum Verzicht auf militärisch nutzbare Satelliten zurück, weil Satellitenaufklärung für kein anderes Land eine Bedrohung darstelle und kein Schritt zur Weltraumrüstung sei.18

Schützenhilfe von den Drei Weisen

Der Schwenk von kommerzieller und forschungsgetriebener Raumfahrt hin zur militärischen Weltraumnutzung würde vor allem für die ESA einen spürbaren Bruch mit bisherigen Traditionen bedeuten. Zur argumentativen Untermauerung des beabsichtigten Schwenks holte sich die ESA Schützenhilfe von renommierten Persönlichkeiten. Angekündigt als »drei Weise« präsentierten im November 2000 der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt, der Präsident der Crédit Lyonnaise Jean Peyrelevade und der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, heute Chef von Jenoptik, im ESA-Hauptquartier in Paris unter dem Titel »Towards a Space Agency for the European Union« ihre Empfehlungen zur Neuausrichtung der europäischen Weltraumaktivitäten.19

Das Vorwort kommt nach einführenden Bemerkungen zur wachsenden Rolle von Satelliten „für die Umwelt- und sonstige Sicherheit“ rasch zu dem Punkt, der für die europäische Raumfahrt deutliche Konsequenzen haben dürfte: „Die Europäische Union hat sich auf eine historische Erweiterung eingelassen, entwickelt eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und strebt an, die konkurrenzfähigste wissensbasierte Wirtschaft in der Welt aufzubauen. Dem Weltraum kommt bei all diesen Herausforderungen eine wichtige Bedeutung zu.“

Nur mit einer neuen Weltraumstrategie lasse sich Unabhängigkeit von den USA erreichen und verhindern, dass „andere Wettbewerber (vor allem aus Asien)“ eine eigene Infrastruktur für die Raumfahrt aufbauen. Außerdem empfiehlt der Bericht, „Programme im Zusammenhang mit der Friedenserhaltung [peace keeping] innerhalb des ESA-Rahmens“ zu implementieren. „Daher sehen wir es als logisch an, die Fähigkeiten der ESA auch für die Entwicklung der eher sicherheitsorientierten Aspekte der europäischen Weltraumpolitik einzusetzen. Da die Anstrengungen der Europäischen Union in diesen Bereichen auf die sogenannten Petersberger Aufgaben der Friedensstärkung durch Konfliktprävention und des Krisenmanagements, einschließlich bei zivilen und Umweltkatastrophen, abgestimmt sind, sehen wir kein Problem mit der Satzung der ESA.“ Ein bemerkenswerter Versuch, den Einsatz militärischer Gewaltmittel als friedliche Handlung zu definieren, um nicht in Konflikt mit der ESA-Satzung zu kommen.

Die Vorschläge der ESA und die Forderungen der Europäischen Kommission finden massive politische Unterstützung. Im Februar 2001 kündigte der europäische Forschungskommissar Philippe Busquin die Bildung einer »Task Force« von EU und ESA an.20 Die Task Force soll u.a. ein Konzept zur Einbindung der ESA in die Strukturen der EU vorbereiten. Im November 2001 soll die Umsetzung des Konzepts auf der ESA-Ministerratstagung in Edinburgh beschlossen werden. Eine entsprechende Beschlussfassung ist etwa gleichzeitig auf Ebene der EU-Kommission geplant.

Europäische Weltraummilitarisierung hat Konsequenzen

Forscher und Wissenschaftler, die Weltraumwaffen zur Zerstörung irdischer Ziele bauen und Uniformen tragen, werde es in der ESA auch in Zukunft nicht geben. Eher, so die Pressesprecherin des Satellitenkontrollzentrums der ESA in Darmstadt, Jacqueline Landeau, werde die ESA zum „Lieferanten des Militärs“. Diese Entwicklung ist aus ihrer Sicht folgerichtig. Nachdem sich Europa auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Normengebung, der Anerkennung von Diplomen und der Politik zusammengefunden habe, sei der nächste Schritt ganz logisch, denn: „Was kommt nach der Währung? Armeen!“ 21 Und die Weltraumkomponente gehöre nun mal dazu.

Für die ESA ist dies ein nahezu revolutionärer Umbruch. Noch vor zwei Jahren begründete Frau Landeau die Absage, an einer Tagung an der TU Darmstadt zur Diskussion ethischer Aspekte der Weltraumnutzung teilzunehmen, damit, dass „uns die Veranstalter in Zusammenhang mit Militärsatelliten gebracht haben und sehr voreingenommen sind.“22

Die ESA wie auch das DLR haben allen Grund, einen solchen Zusammenhang zu fürchten. Die angestrebte Zusammenarbeit mit der Industrie (Stichwort: private-public partnership) wird durch eine militärische Ausrichtung von Weltraumprogrammen gefährdet. So waren die Unternehmen bislang trotz der zu erwartenden Gewinne nicht bereit, das GALILEO-Programm mitzufinanzieren. Sie drängen auf eine rein zivile Ausrichtung des Projektes, um zu verhindern, dass das System im Krisenfall abgeschaltet oder in seiner Genauigkeit eingeschränkt werden könnte. Für die europäische Raumfahrt wäre die Teilnahmeverweigerung der Industrie ein schwerer Rückschlag, soll das Projekt doch belegen, dass Europa technisch und politisch in der Lage ist, ein so komplexes Weltraumsystem aufzubauen und den USA Paroli zu bieten.

Mit der Erweiterung der Zuständigkeit für militärische Satelliten müssten die Weltraum-Wissenschaftler überdies befürchten, in ein militärisches Geheimhaltungs- und Sicherheitskonzept eingebunden zu werden. Sollen beispielsweise die militärischen Satelliten von den bisherigen Kontrollzentren von ESA und DLR mitbetreut werden? Sind ESA-Forscher dann in die Definition und Entwicklung militärischer Satelliten eingebunden? Die Tragweite solcher Entscheidungen für das Arbeitsumfeld der Betroffenen darf nicht unterschätzt werden

Ebenfalls nicht von der Hand zu weisen ist das Argument, dass sich Drittstaaten bei zunehmender militärischer Weltraumnutzung in ihrer Sicherheit gefährdet fühlen und Gegenmaßnahmen ergreifen könnten, die zu einer neuen Rüstungsdynamik im Weltraum und auf der Erde führen – vor allem bei den USA, die ihre »Dominanz im Weltraum« sicherstellen wollen.Schon jetzt halten die USA zur Vorbeugung eines »Pearl Harbor im Weltraum« die Entwicklung von Antisatellitenwaffen für erforderlich. Sollten andere Länder ebenfalls zu diesen »Abwehrmaßnahmen« greifen, wäre die friedliche Nutzung des Weltraums endgültig gefährdet.

Von unten Einfluss nehmen

Raketenabwehr und zunehmende Weltraummilitarisierung erfordern eine eindeutige Antwort Europas. Aber dem Schild der USA einen Schild Europas hinzuzufügen, wird kaum zur Verringerung der globalen Spannungen führen. Gerade Deutschland, das mit der Entwicklung der Schreckenswaffe V2 vor fast 60 Jahren der Raumfahrt den Weg bereitete, hätte allen Grund seinen Teil dazu beizutragen, dass im Weltraum Kooperation, Forschung und die Lösung dringender irdischer Probleme den Vorrang behalten.

Um der zunehmenden Militarisierung und der beginnenden Bewaffnung des Weltraums entgegenzuwirken, wurden von Friedens- und anderen Nichtregierungsorganisationen bereits einige Initiativen auf den Weg gebracht:

  • Ausgangspunkt für ein Verbot von Weltraumwaffen könnte der »Göttinger Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums«sein, der 1984 bei einem Kongress von NaturwissenschaftlerInnen vorgestellt, im Bundestag erörtert und bei einer Fachtagung zur Raketenabwehr in Göttingen im November 2000 mit einem neuen Kommentar wieder in die Diskussion gebracht wurde.23 Auf der gleichen Tagung wurde auch ein internationaler Appell an die UNO-Generalversammlung verabschiedet, der das Verbot von Weltraumwaffen fordert und mittlerweile von einigen tausend Personen unterzeichnet wurde.
  • Die deutsche Sektion des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space startete im Spätherbst 2000 eine Brief- und Unterschriftenaktion, in der die deutsche Forschungsministerin Edelgard Bulmahn, zur Zeit amtierende ESA-Präsidentin, aufgefordert wird, der Einbindung der ESA in militärische Weltraumprojekte entgegenzuwirken. Aufgrund der Aktion wurde den InitiatorInnen vom Raumfahrtreferat des Ministeriums inzwischen ein Gesprächstermin angeboten, weil – so das Einladungsschreiben – „die Ministerin in der Frage der friedlichen Weltraumnutzung derzeit viele Briefe [erreichen]“.
  • Im Herbst 1999 führte die UNESCO gemeinsam mit der ESA einen Workshop zur Ethik der Weltraumnutzung durch. Die vorbereitende Arbeitsgruppe hatte allerdings beschlossen, „die spezielle militärische Dimension der Weltraumeroberung“ in den Diskussionen auszuklammern.24 Die ESA muss dazu gedrängt werden, diesen Aspekt offen anzugehen und sich mit den Konsequenzen einer Einbindung in militärische Strukturen zu stellen.
  • Die Initiativen gegen die Weltraumbewaffnung stehen in Zusammenhang mit der Kritik an der Raketenabwehr. Zu erwähnen ist das Memorandum der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler vom November 2000 sowie der von der deutschen Kampagne »Atomwaffen Abschaffen« am 24. März verabschiedete Appell »Raketen abrüsten statt abwehren!«. Darin wird, wie auch in einem kurz zuvor vom ver.di-Gründungskongress verabschiedeten Aufruf, die Bundesregierung aufgefordert, sich nicht an den Planungen für eine Raketenabwehr zu beteiligen, sondern sich für internationale Initiativen für Raketenabrüstung einzusetzen.25 Wie solche Initiativen aussehen könnten, wird in einem vom International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) im März gestarteten Projekt untersucht.

Anmerkungen

1) Siehe R. Hagen, Raketenabwehr – Ein Spielstein für das US Space Command, W&F 1/2001.

2) Artikel II im Übereinkommen zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation, Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1976, Teil II, Seite 1863.

3) NASA’s Budget, Februar 2000 (www.hq.nasa.gov/office/pao/facts/HTML/FS-003-HQ.html). Der Gesamtetat für Weltraumfahrt ist allerdings höher. In Europa müssen außer dem Anteil an den nationalen Verteidigungshaushalten auch die nationalen Raumfahrtbudgets einberechnet werden. Der vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) verwaltete Jahresetat für die deutsche Raumfahrt beträgt etwa 1,5 Mrd. Mark (www.dlr.de/oeffentlichkeit/jahresbericht).

4) Entsprechende Beurteilungen finden sich z.B. in: ESA, Long-Term Space Policy Committee, Investing in Space, Second Report (SP-2000), Noordwijk,1999.

5) Siehe z.B. Konkurrenz im All, WZB-Mitteilungen 80, Juni 1998.

6) Informationen zu EADS unter www.eads.net, zu Astrium unter www.astrium-space.com. Zu den Verflechtungen und Beteiligungen siehe S. Gose, Vaterlandslose Gesellen – Die europäische Luftfahrtindustrie, in: U. Cremer, D. S. Lutz (Hrsg.), Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, VSA-Verlag, 2000.

7) Europäisches Trio macht Raketenbauer startklar, Frankfurter Rundschau, 27.4.2001.

8) Zur Weltraum-Diskussion der achtziger Jahre siehe D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker (Hrsg.), SDI – Falle für Westeuropa, Köln 1987. Zu den neunziger Jahren siehe D. Engels, Europäische Pläne zur militärischen Nutzung des Weltraums, in: U. Cremer, D. S. Lutz (Hrsg.), Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung, Hamburg, 2000; D. Engels, J. Scheffran, Westeuropas Augen im All, Wissenschaft und Frieden, 4/94, S. 39-43.

9) H.-H. Bremer, Berlin und Paris demonstrieren Einigkeit. Länder vereinbaren bei Gipfeltreffen Rüstungsprojekte, Frankfurter Rundschau, 10.6.2000; Firmenprospekt SAR-Lupe der Firma Orbital und Hydrotechnologie Bremen – System GmbH (OHB) aus Bremen von 2000.

10) H.-A. Marsiske, Doppelte Nutzung von Satelliten. Dual Use wird zum Schlagwort der schleichenden Militarisierung der europäischen Raumfahrt, Telepolis, 24.2.2001 (www.telepolis.de/deutsch/special/raum/4989/1.html).

11) Zur zivil-militärischen Nutzbarkeit von Satellitentechnik siehe W. von Kries, Dual-Use of Satellite Remote Sensing, in: W. Bender, R. Hagen, M. Kalinowski, J. Scheffran (Hrsg.), Space Use and Ethics, Münster, 2001 (in print) sowie H. Spitzer, Dual-Use Character of Satellites. A Challenge for Arms Control in Space, in: W. Liebert, J. Scheffran (Hrsg.), Against Proliferation – Towards General Disarmament, Münster, 1995.

12) V. Liebig, K.-U. Schrogl, Space Applications and Policies for the New Century, Frankfurt a. M., 2000.

13) ESA, Investing in Space, op.cit.

14) Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament: Ein neues Kapitel der europäischen Raumfahrt, Brüssel, 27.9.2000, KOM(2000) 597 (europa.eu.int/eur-lex/de/com/cnc/2000/com2000-0597de02.pdf). Siehe auch: Europäische Kommission, In Richtung eines kohärenten europäischen Ansatzes für die Raumfahrt, 1999 (europa.eu.int/comm/hrc/space/approach99.toc_de.html). Informationen zu GMES in Global Monitoring for Environment and Security, European Community, Jan. 2000.

15) Wirtschaftsstrategische und sicherheitspolitische Bedeutung des europäischen Satellitennavigationssystems GALILEO und seine Auswirkungen auf die zivile Infrastruktur. Zusammenfassung und Ergebnis einer interdisziplinären Studie, gefördert durch das BMBF und die DLR, 27.11.2000. Leiter der Studie war Prof. Dr.-Ing. G. W. Hein von der Universität der Bundeswehr München.

16) Rat der Europäischen Union, Entschließung des Rates zu GALILEO, 11. April 2001, Drucksache des Deutschen Bundestages 14-405.

17) Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Über GALILEO, Brüssel, 22.11.2000, KOM(2000) 750.

18) Zur Entwicklung militärischer Aufklärungssatelliten in Europa, Briefwechsel der NaturwissenschaftlerInnen-Initiatve – Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit mit dem BMVg, dokumentiert in Wissenschaft und Frieden 3/1999.

19) Towards a Space Agency for The European Union. Report by C. Bildt, J. Peyrelevade, L. Späth to the ESA Director General, vorgestellt am 9.11.1999 in Paris (ravel.esrin.esa.it/docs/wisemen_report.pdf).

20) DLR, Presse-Information Nr. 8/2001 vom 12.2.2001.

21) J. Landeau, Pressesprecherin des European Space Operation Centre, in einem Interview zur neuen ESA-Strategie in Radio Darmstadt am 22.2.2001.

22) Raumfahrttagung ohne Merbold, Darmstädter Echo, 4.3.1999.

23) Der von J. Scheffran redaktionell bearbeitete Vertragsentwurf findet sich im Reader der NaturwissenschaftlerInnen-Initative zur Fachtagung ebenso wie der Göttinger Appell, der auch in W&F 2/2001 abgedruckt wurde.

24) A. Pompidou in: The Ethics of Space Policy, UNESCO 2000.

25) Beide Aufrufe sind abgedruckt in Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2001.

Regina Hagen ist technische Übersetzerin und Vorstandsmitglied im Global Network Against Weapons And Nuclear Power in Space. Sie koordiniert das internationale Wissenschaftlernetzwerk INESAP an der Technischen Universität Darmstadt.
Dr. Jürgen Scheffran hat das INESAP-Projekt »Moving Beyond Missile Defense« mit initiiert und ist Redakteur von Wissenschaft und Frieden.

Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung

Zwischen Raketenabwehr und Weltraumrüstung

Was macht Europa?

von Regina Hagen und Jürgen Scheffran

Die Pläne der Bush-Administration zum Aufbau einer nationalen Raketenabwehr (National Missile Defense, NMD) und zur Aufrüstung im Weltraum bedeuten auch für Europa eine ernste Herausforderung. Versuche, es den USA gleichzutun, stärken nicht die Eigenständigkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sondern untergraben internationale Bemühungen zur Abrüstung und Nichtverbreitung der Atomwaffen, zur Friedenssicherung und Konfliktvermeidung.
Kaum hatte George W. Bush die Wahl zum US-Präsidenten denkbar knapp gewonnen, machte er deutlich, dass es auch im neuen Jahrtausend für die USA vor allem darum geht, die militärische Dominanz weiter auszubauen. Besonders der neue Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, unter Präsident Ford schon einmal mit dem Amt betraut, bewies, dass sich auch nach dem Ost-West-Konflikt mit Feindbildern Politik machen lässt. Bereits 1998 kam die von ihm geleitete »Kommission zur nationalen Sicherheit« zu dem Ergebnis, »Schurkenstaaten« wie Nordkorea, Iran oder Irak könnten die USA in wenigen Jahren mit ballistischen Raketen bedrohen, was zu einem wesentlichen Auslöser für das NMD-Programm wurde. Nach dem gleichen Muster verfuhr auch die zweite von ihm geleitete Kommission, die mit ihrem Bericht vom 11. Januar 2001 die Gefahr eines „Pearl Harbor im Weltraum“ ausmalte.1 Die Begleitmusik dazu lieferte Bush selbst, als er seinem Vater zum 10. Jahrestag des Golfkriegs einen Angriff auf den Irak schenkte. Mit den zu erwartenden Drohungen Saddam Husseins bekam Bush, was er wollte: Eine verstärkte Nachfrage nach Raketenabwehr.

Anlässlich der Münchner Wehrkundetagung vom 3. Februar 2001 ließ Rumsfeld, ungeachtet europäischer Kritik, keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA, eine weltumspannende Raketenabwehr zu errichten.2 Außenminister Joschka Fischer sorgte sich um ein Wettrüsten in Asien und im Weltraum, und der außenpolitische Experte der Unionsfraktion, Karl Lamers, warnte, die USA wollten die „Herren der Welt“ werden. Seine Partei hatte sich in den am 15. Januar vorgelegten »Leitsätzen für eine deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik« jedoch bereits für eine Raketenabwehr mit den USA ausgesprochen. Da wollte auch Bundeskanzler Schröder nicht abseits stehen, der sich in München noch um eine Schwächung der NATO gesorgt hatte, aber schon am 28. Februar einen »Kurswechsel« der Bundesregierung einleitete. Einen Monat vor seinem Antrittsbesuch bei Bush setzte er sich für eine deutsche Beteiligung am Raketenabwehrsystem der USA ein, nicht nur aus bündnispolitischen Erwägungen, sondern auch aufgrund des „eminenten wirtschaftlichen Interesses“ (FAZ 28.2.2001). Als bester Bündnispartner der USA erwies sich aber der britische Premierminister Tony Blair, der sowohl den Einsatz gegen den Irak unterstützte als auch im eigenen Parlament geäußerte Bedenken gegen NMD über Bord warf.Dass von einer gemeinsamen europäischen Kritik an NMD nichts zu spüren war, liegt auch daran, dass es schon seit Jahren in Europa Pläne und Programme gibt, die auf die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen und eine verstärkte Militarisierung des Weltraums hinauslaufen. Einige dieser Aktivitäten werden im Folgenden beleuchtet.3

Europäische Raketenabwehrpläne

Schon seit Beginn der achtziger Jahre gibt es in den USA und Europa Entwicklungen für die Schaffung einer Abwehr gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen auf dem europäischen »Gefechtsfeld« (TMD: Theater Missile Defense).4 Kern der europäischen Raketenabwehrpläne ist die »Erweiterte Luftabwehr« (Extended Air Defense) der NATO, ergänzt um mobile Abwehrsysteme zum Schutz von Krisenreaktionskräften in den jeweiligen Einsatzgebieten. In den vergangenen 20 Jahren untersuchte die NATO in verschiedenen Konzeptstudien die Möglichkeiten zur erweiterten Luftabwehr gegen das gesamte Spektrum angreifender Flugkörper, von Flugzeugen über Marschflugkörper bis zu ballistischen Raketen kurzer und mittlerer Reichweite.

Trotz der seit 1989 verringerten Bedrohungslage geht es weiterhin um ein mehrschichtiges Abwehrsystem, bestehend aus Frühwarnsensoren, Multifunktionsradars, schnellen Lenkflugkörpern und einem System zur Datenübertragung in Echtzeit. Besonders bei den Interventionstruppen wird eine hohe Mobilität und gute Transportabilität als notwendig angesehen. Der graduelle Prozess wird deutlich bei der Weiterentwicklung der Patriot-Luftabwehrrakete zum Zweck der Raketenabwehr (Patriot Advanced Capability, PAC-3).

Die geplante mehrschichtige TMD-Architektur umfasst eine Abwehr innerhalb der Atmosphäre gegen Raketen bis zu 1000 km Reichweite wie auch außerhalb der Atmosphäre gegen Reichweiten bis 3500 km. Die untere Abwehrschicht soll aus PAC-3-Versionen der Patriot, dem französisch-italienischen Abwehrsystem SAM-T, einem System der US-Navy (lower-tier) und dem Medium Extended Air Defense System (MEADS) bestehen. Die obere Abwehrschicht würde das THAAD-System (Theater High-Altitude Area Defense) der USA, das schiffgestützte Abwehrsystem der US-Navy für größere Höhen und eine luftgestützte Laserwaffe zur Abwehr in der Startphase umfassen.5 Bezeichnenderweise soll auch eine »counterforce strike capability« dazu gehören, also ein offensives Potential zur Zerstörung militärischer Ziele.

Zur Zeit stehen wichtige Weichenstellungen an, und die beteiligten Rüstungsfirmen hoffen auf große Gewinne. Für sie wäre TMD „das größte Projekt, das jemals von der Allianz unternommen wurde.“6 Am 15. Januar 2001 sollten die Vorschläge für Machbarkeitsstudien eines zukünftigen TMD-System eingereicht werden. Vier Industriekonsortien „fiebern“ danach, die zwei begehrten Kontrakte zu erhalten, auch weil es um die Rangordnung der Firmen im enger werdenden globalisierten Konkurrenzkampf geht. Die vier Konzeptteams gruppieren sich um die großen US-Rüstungsfirmen Lockheed-Martin, Raytheon-Tales, Boeing-SAIC, Northrop Grumman. Beteiligt sind auch einige europäische Firmen, wobei der europäische Konzern European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) in allen vier Teams dabei ist, also auf jeden Fall zu den Gewinnern gehören will. Im Juni dieses Jahres will die NATO eine Auswahl treffen und 2004 eine Entscheidung fällen, so dass etwa 2010 mit einer Stationierung begonnen werden könnte. Die Integration der Software und Kommunikationssysteme in das modernisierte Air Command and Control System (ACCS) soll ab 2005 erfolgen.

Auch in anderen Regionen der Welt wird an TMD-Systemen gearbeitet, was die dortige Rüstungsdynamik anheizt. Besonders weit fortgeschritten ist Israel, das nicht nur über die offensive Jericho-Rakete verfügt, sondern auch über das Arrow-Abwehrsystem. Hier wird im regionalen Kontext die globale Schwert-Schild-Logik der USA reproduziert: massiv zuschlagen können, aber sich vor den Folgen schützen. Die USA tun ihr Bestes, um dieser Logik auch in Japan, Südkorea, Taiwan oder anderswo zum Durchbruch zu verhelfen und damit zugleich Absatzmärkte für die eigenen Abwehrsysteme zu schaffen.

Je mehr steigende Kosten und hohe Gewinnerwartungen eine Rolle spielen, umso mehr ist die transatlantische Kooperation in der Raketenabwehr Widersprüchen und Konkurrenzen zwischen den Partnern ausgesetzt. Hinter der europäischen Forderung nach Technologietransfer verbirgt sich die Erwartung, dass die USA Europa Zugang zu Technologien und Programmen ermöglichen sollen, um die »technologische Lücke« zwischen Europa und den USA zu schließen. US-Firmen denken in der Regel jedoch nicht daran, ihren technologischen Vorsprung preiszugeben, und sie haben die stärkere Hausmacht.

Querelen um MEADS

Unübersehbar wurden die Differenzen bei dem Abwehrprojekt MEADS, das nach Ansicht des DASA-Vorsitzenden Manfred Bischoff der „Testfall der transatlantischen Kooperationsfähigkeit“ ist.7 Mit dem mobilen System soll die veraltete Hawk-Luftwabwehr ersetzt werden. Es geht um den Nahbereichs-Schutz der eigenen Truppen bei »Out of Area«-Einsätzen, in Ergänzung zu den bodengestützten Systemen Patriot PAC-3 und THAAD.8 Um die hohen Kosten zu senken – die Schätzungen reichen bis zu mehr als 20 Milliarden DM ,9 unterzeichneten 1995 die USA, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichterklärung über die Entwicklung von MEADS. Da sich Frankreich kurz darauf aus finanziellen Gründen aus dem Projekt zurückzog und Eigenentwicklungen den Vorzug gab (etwa dem schiffsgestützten Aster-System) musste der ursprüngliche Kostenschlüssel von 50% für die USA, je 20% für Deutschland und Frankreich sowie 10% für Italien geändert werden. Er liegt heute bei 55:28:17.

Das Projekt hatte von Anfang an mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. So verzögerte der US-Kongress die Bewilligung der vorgesehenen Projektmittel. Das Pentagon bestand auf einer veränderten Projektkonzeption, derzufolge MEADS im wesentlichen auf den US-Systemen Patriot und THAAD aufbauen soll. Dies bedeutete für die europäischen Partner einen Rückschlag und schloss eigenständige Entwicklungen wie das deutsche Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) weitgehend aus. Dennoch stimmten sie zu, um einen Ausstieg der USA aus dem Projekt zu verhindern. Weitere Unstimmigkeiten ergeben sich aus der hinhaltenden Technologietransferpolitik der USA. So hatte es bis zu 259 Tagen gedauert, bis das Pentagon die Weitergabe von Informationen über kritische Technologien genehmigte.10 Weitere Anträge, etwa zur Leistungsfähigkeit von PAC-3, wurden erst gar nicht behandelt.

Auch wenn im Mai 2000 der Zugang Deutschlands und Italiens zu PAC-3 geöffnet wurde, ging das „transatlantische Trauerspiel“ 11 weiter. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde erreicht, als der Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walther Stützle, in einem Brief vom 26. November 2000 die deutsche Mitarbeit am MEADS-Programm aufkündigte.12 Als Begründung wurde angegeben, das MEADS-Konzept würde „nicht notwendig den Erfordernissen genügen, um dem zukünftigen Spektrum sich abzeichnender Bedrohungen für die Landesverteidigung und internationale militärische Operationen zu begegnen.“ Der Kosovo-Krieg habe zudem gezeigt, dass Radarsensoren für die Luftverteidigung durch Anti-Radar-Flugkörper unwirksam gemacht werden können. Auf Druck Washingtons erklärte Verteidigungsminister Scharping das Schreiben Stützles kurz darauf für nichtig und bewilligte für die Finanzierung der »Risk Reduction«-Phase von MEADS 50 Millionen DM.

Russische Planspiele für eine Euro-Abwehr

Angesichts der drohenden US-Dominanz tritt der russische Präsident Wladimir Putin die Flucht nach vorn an. Neben die Androhung von Gegenmaßnahmen gegen NMD und das Angebot weiterer nuklearer Abrüstung tritt der Vorschlag für ein mobiles, »gesamteuropäisches Raketenabwehrsystem« gegen nukleare Bedrohungen, den der russische Verteidigungsminister Sergejew NATO-Generalsekretär Robertson bei seinem Besuch in Moskau unterbreitete.13 Danach soll vor dem Aufbau einer Raketenabwehr genau analysiert werden, ob überhaupt eine Bedrohung vorliege. Sei dies der Fall, soll mit Hilfe von Diplomatie und Kooperation versucht werden, der Bedrohung zu begegnen. Erst wenn dies misslinge, soll ein Abwehrsystem aufgebaut werden, das allen europäischen Staaten offen stehe und nicht zu Spannungen gegenüber den Ländern führen dürfe, die als potentielle Angreifer gelten. »Paria-Staaten« soll es in Europa nicht geben.

Verwiesen wird auf die Erfahrungen Russlands, das aus sowjetischer Zeit nicht nur verschiedene Luftabwehrsysteme zur Hand hatte, sondern bei Moskau in Übereinstimmung mit dem ABM-Vertrag das einzige Abwehrsystem gegen Interkontinentalraketen besitzt und auch über Testgelände verfügt. Die Schaffung einer Euro-Abwehr könne durch gemeinsame schnelle Eingreifkräfte zur Raketenabwehr realisiert werden. Zu besprechen sei die Abwehrarchitektur (Zahl der Abfanglinien, Zusammensetzung des Systems und Zusammenwirken der Komponenten), die Rolle von weltraumgestützten Systemen zur Erkennung von Raketenstarts sowie die Schaffung eines gemeinsamen Frühwarnzentrums für Raketenstarts. Besondere Bedeutung scheint Russland einer Abwehr in der Raketenstartphase beizumessen, durch Systeme, die in der Nähe vermuteter Raketenbedrohungen stationiert werden (etwa auf Schiffen). Auch wenn Moskau mit dem Konzept einige seiner Probleme mit NMD verringern möchte, lassen sich andere Probleme nicht ausschließen, etwa die Inkompatibilität mit dem ABM-Vertrag, technische Schwierigkeiten oder Gegenmaßnahmen potentieller Kontrahenten. Ein mobiles Abwehrsystem könnte so stationiert werden, dass es auch russische oder chinesische Raketen in der Startphase abwehren kann.14

Auch wenn der russische Vorstoß im Westen auf freundliches Wohlwollen stieß, bleibt seine Implementierung fraglich. Wenn schon die engsten NATO-Verbündeten von den USA vorgeführt werden, warum sollte der stärkste Rüstungskomplex der Welt auf eine Mitarbeit des ehemaligen Gegenspielers angewiesen sein oder gar russische Rüstungsfirmen unterstützen? Bush machte dann auch für sich das Beste daraus: Er wertete den russischen Vorschlag als grundsätzliche Zustimmung zu den Raketenabwehrplänen der USA.

TMD und NMD – Zwei Seiten einer Medaille

Während über NMD heftig gestritten wird, bleibt TMD meist von der Kritik ausgespart, so als handele es sich um das bessere Abwehrsystem. Dabei sind, allen Unterschieden zum Trotz, TMD und NMD zwei Seiten der selben Medaille.15 Wie in den achtziger Jahren liegt die Funktion von Euro-TMD vor allem darin, die Ankopplung Europas an die globalen Raketenabwehrpläne der USA herzustellen und so einer europäischen Kritik zu begegnen. Während NMD sich gegen Interkontinentalraketen richtet, soll TMD die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen in verschiedenen Regionen der Erde bereitstellen. Einige der Sensor- und Kommunikationssysteme ließen sich in einem integrierten Gesamtsystem für beide Aufgaben nutzen.

Schwer zu schätzen sind die Kosten eines europäischen TMD-Programms, die in der Größenordnung von einigen Dutzend Milliarden Dollar liegen könnten. Sie geraten in Konflikt mit knappen Budgets und anderen kostspieligen Rüstungsvorhaben Europas. Sollte Europa in die Raketenabwehrfalle tappen, bedeutet dies ein Rüstungsprojekt ohne erkennbares Ende und ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis von den USA, die hier immer voraus sein werden. Die bereits in der SDI-Debatte vor 16 Jahren von Helmut Kohl propagierte Vorstellung, Europa könne durch Mitarbeit in der Raketenabwehr wirtschaftlich oder technologisch etwas gewinnen, ist absurd angesichts des geringen kommerziellen Marktsegments der betreffenden Rüstungstechnologien und der protektionistischen »Buy-American«-Strategie, die jede Gleichberechtigung ausschließt.16Allen Anstrengungen zum Trotz bleibt der technische Erfolg von TMD fraglich. Zur Abwehr von Kurzstreckenraketen bleiben nur wenige Minuten Reaktionszeit. Eine torkelnde oder in mehrere Teile zerfallende Rakete in der Endflugphase ist schwer zu treffen. Ob die Integration aller Komponenten zu einem komplexen aber dennoch zuverlässigen Gesamtsystem gelingt, zeigt sich erst im Ernstfall. Sensoren und Kommunikationseinrichtungen sind verwundbar gegenüber verschiedenen Arten von Attacken. Bislang sind die Fortschritte von TMD eher ernüchternd. Dies wurde deutlich, als sich das Patriot-System bei seinem Debüt im Golfkrieg zur Abwehr der irakischen Scud-Rakete als ungeeignet erwies. Alle Abwehrversuche schlugen fehl, und der Schaden in den angegriffenen israelischen Städten wurde sogar noch vergrößert, da die zur Abwehr eingesetzten Patriot-Raketen ebenfalls auf bewohnte Gebiete herab fielen.17

Dass trotz dieser Fehlschläge die auf die sechziger Jahre zurückgehende Patriot-Rakete als Zugpferd einer zukünftigen Euro-Abwehr dienen soll, erweckt wenig Vertrauen. Ungeachtet aller politischen Debatten bleibt die Entwicklung der Raketenabwehr ein langwieriger und kostspieliger Prozess ohne Erfolgsgarantie. Anlass zur Beruhigung bietet dies allerdings nicht, denn wachsende Rüstungsausgaben, eine neue Rüstungsdynamik und die Neigung zur weltweiten Kriegführung sind reale Probleme, die nicht weg zu definieren sind.

Um die Kosten und Risiken der Raketenabwehr zu rechtfertigen, wird nun auch in der deutschen Debatte, gestützt auf Aussagen des Bundesnachrichtendienstes (BND), zunehmend die Raketenbedrohung bemüht. In dem BND-Bericht vom Oktober 1999 zur Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersystemen heißt es: „Einige Staaten im Nahen Osten arbeiten an Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1000 km. Damit liegt auch NATO-Gebiet in der Reichweite dieser Raketen und der mit ihnen gegebenenfalls bestückten Massenvernichtungsmittel.“18 Eine realistische Bedrohungsanalyse, die nicht nur potentielle technische Fähigkeiten betrachtet, sondern auch den politischen Kontext und die eigenen Drohpotentiale, steht immer noch aus.

Andere Akzente setzt Brigadegeneral a.D. Hermann Hagena, der in Führungsstäben der Streitkräfte diente. Seiner Ansicht nach „ist die Wahrscheinlichkeit als äußerst gering einzustufen, dass ein »Schurkenstaat« die erforderlichen Fähigkeiten zu einem Angriff mit weitreichenden Raketen und MVW auf die USA oder NATO erlangt. Sie würde sich weiter verringern, wenn es gelänge, Russland und China in die Anti-Proliferationsfront der Weltgemeinschaft wirksam einzubinden und die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf die »rogue states« intensiviert würden. Entsprechende Angebote des russischen Präsidenten Putin sollten ernst genommen werden. Der Annäherungsprozess zwischen Süd- und Nordkorea wie auch die parlamentarischen Erfolge der gemäßigten Kräfte im Iran sind Entwicklungen, deren Unterstützung mehr Erfolg verspricht als schlecht abgestimmte oder gar einseitige militärische Reaktionen …“19

Das Proliferationsproblem militärisch lösen zu wollen, entspricht dem Versuch, ein Feuer mit Benzin zu löschen. Weitergehende politische und diplomatische Lösungsansätze, die den Ursachen der Proliferation mit Abrüstung und Rüstungskontrolle, mit vertrauensbildenden Maßnahmen, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Konzepten regionaler Sicherheit zu Leibe rücken, werden in der politischen Debatte zumeist ausgeblendet. Hier liegt aber das Feld, auf dem sich Europa gegenüber den USA am ehesten profilieren und weltweit Ansehen und Einfluss gewinnen kann.

L. Hill, TMD – NATO Starts the Countdown, Jane's Defence Weekly (JDW), 3 January 2001, S. 24-27. Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile Defence and the Alliance after Kosovo, Draft General Report to NATO Parliamentary Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale Raketenabwehrsystem (NMD) und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an die Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6. Oktober 2000, http://www.nato-pa.int.

Anmerkungen

1) Report of the Commission to Assess United States National Security Space Management and Organization, Washington DC, Jan. 11, 2001; siehe auch die kritische Bewertung G. von Randow, C. Stelzenmüller, Killersatelliten im All – Amerikas Strategen denken wieder über Weltraumwaffen nach, Die Zeit 09/2001.

2) Siehe G. Neuneck, Missile Defense, Germany and Europe, Febr. 2001, in: Pugwash Special Issue on NMD (im Druck).

3) Europäische Entwicklungen zur militärischen Weltraumnutzung werden im nächsten Heft behandelt.

4) Siehe hierzu J. Scheffran, Die Europäische Verteidigungsinitiative – Testfall für SDI, in: D. Engels, J. Scheffran, E. Sieker, SDI – Falle für Westeuropa, Köln 1987, S. 271-337. Zu den Programmen Anfang der neunziger Jahre vgl. J. Scheffran, Raketenabwehr contra Proliferation – Der Norden tut sich zusammen, in: Wissenschaft und Frieden 12, 1/94, S. 51-56. Eine umfassende technische Analyse findet sich bei J. Altmann, SDI for Europe?, Frankfurt: HSFK Research Report 3/1988.

5) B = L. Hill, TMD – NATO Starts the Countdown, Jane's Defence Weekly (JDW), 3 January 2001, S. 24-27. Entsprechende Informationen finden sich auch in: National Missile Defence and the Alliance after Kosovo, Draft General Report to NATO Parliamentary Assembly by Jan Hoekema, 3.10.2000; Das Nationale Raketenabwehrsystem (NMD) und seine Folgewirkungen für die Allianz, Entwurf eines Zwischenberichts an die Parlamentarische Versammlung der NATO, Berichterstatter: Karl A. Lamers, 6. Oktober 2000, http://www.nato-pa.int.

6) JDW, 3.1.2001.

7) M. Bischoff, Sicherheitspolitik und Wirtschaft – Verteidigungstechnologie und Verteidigungsindustrie, Europäische Sicherheit 3/98, S. 20-22.

8) Eine aktuelle Übersicht zu MEADS findet sich in einem Arbeitspapier von Tom Bielefeld (IFSH), vorgetragen auf dem Workshop »National and Theater Missile Defenses after the US Elections«, Berlin, 14.-16.2.2001.

9) H.-J. Leersch, Scharping unter Beschuss wegen Raketenabwehr, Die Welt, 13.12.2000; A. Szandar, Angriffe aus Schurken-Staaten, Der Spiegel 16, 17.4.2000, S. 42.

10) U.S. General Accounting Office, Defense Acquisitions: Decision Nears on Medium Extended Air Defense System, GAO/NSIAD-98-145, Juni 1998.

11) B.W. Kubbig, T. Kahler, Problematische Kooperation im Dreieck: Das trilaterate Raketenabwehrprojekt MEADS, HSFK-Bulletin No.18, Herbst 2000, www.hsfk.de/abm/index.html.

12) JDW 6.12.2000, S.3, H.-J. Leersch, Amerika verärgert: Berlin steigt aus Rüstungsprojekt aus, Die Welt, 8.12.2000.

13) Siehe die Dokumentation von Auszügen in der FAZ vom 24.02.2001, S. 6.

14) Zur Kritik einer »boost-phase defense« siehe R.W. Jones, Taking Missile Defense to Sea – A Critique of Sea-Based and Boost-Phase Proposals, Washington, DC: Council for a Livable World Education Fund, October 2000, www.clw.org.

15) Zur Verbindung siehe M. Broek, F. Slijper, Theatre Missile Defence in Europe, HSFK-Bulletin No 22, 2001.

16) Vgl. J. Scheffran, SDI – Wird Europa totgeforscht?, W+F 2/85.

17) Siehe T. A. Postol, Lessons of the Gulf War Experience with Patriot, International Security, Winter 1991/92, Vol. 16, No. 3, S. 119-171.

18) BND, Proliferation von Massenvernichtungsmitteln und Trägerraketen, Oktober 1999. Siehe auch N. Busse, Atombomben auf Berlin und München?, FAZ 15.2.2001; BND: Saddam Hussein baut Atomwaffen, Die Welt, 24.2.2001.

19) H. Hagena, NMD für die USA – Verteidigung gegen ballistische Flugkörper für die NATO?, Europäische Sicherheit 7/2000, S. 14-19.

Regina Hagen ist im Vorstand des Global Network Against Weapons and Nuclear Power in Space und Koordinatorin von INESAP.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit an der TU Darmstadt und Redakteur von W&F.

US-Raketenabwehr

US-Raketenabwehr

Zurück zum globalen Schutzschild?

von Tom Bielefeld und Götz Neuneck

Die Ankündigung US-Präsident Clintons, die Entscheidung über die Stationierung des umstrittenen landesweiten Raketenabwehrsystems National Missile Defense (NMD) seinem Nachfolger zu überlassen, hat Befürwortern und Gegnern des Systems lediglich eine kurze Atempause verschafft. Spätestens nach der Vereidigung der neuen Administration im Januar wird die Debatte um Zweck und Architektur der Raketenabwehr jedoch wieder aufleben. Beide Präsidentschaftskandidaten haben sich prinzipiell für die Einführung einer Raketenabwehr zur Landesverteidigung ausgesprochen. Während der Demokrat Gore weitgehend an den bisherigen Plänen der Clinton-Administration festhalten möchte, hat der Republikaner Bush angekündigt, ein noch umfassenderes System entwickeln lassen zu wollen, das auch verbündete Staaten vor Raketenangriffen schützen soll. Gleichzeitig lockt Bush mit einer Überprüfung der US-Nukleardoktrin und stellt eine einseitige Reduzierung der Nuklearstreitkräfte in Aussicht. Auch scheint er eher geneigt zu sein, den ABM-Vertrag, der den USA und Russland die Entwicklung einer landesweiten Raketenabwehr verbietet, im Zweifelsfall aufzukündigen, falls Russland einer Anpassung des Vertrages nach US-amerikanischen Wünschen weiterhin nicht zustimmen sollte. Gore kündigte an, in intensive Verhandlungen zur Lösung des Streits insbesondere mit Russland, aber auch mit China zu treten.
Unterdessen wird die Debatte um NMD vor dem Hintergrund fehlgeschlagener Testflüge und wachsender Zweifel an der technischen Durchführbarkeit des Projekts zunehmend angereichert durch Forderungen nach Alternativen zur jetzigen NMD-Architektur. Es existieren mittlerweile aus den verschiedenen politischen Lagern einige neue Vorschläge, die das NMD-System entweder durch ein weniger aufwändiges ersetzen oder durch neu zu entwickelnde Komponenten zur See oder im Weltraum ergänzen sollen – letzteres mit möglicherweise verheerenden Folgen für den Abrüstungsprozess.

Clintons Entscheidung, nicht zu entscheiden

In seiner Rede vom 1. September1 begründete Präsident Clinton die Verschiebung der Stationierungsentscheidung von NMD damit, dass er aufgrund der bisherigen Testergebnisse noch nicht genügend Vertrauen in Technik und Effektivität des Gesamtsystems habe. Clinton erwähnte auch die Vorbehalte der europäischen Verbündeten und kündigte an, die diplomatischen Bemühungen für eine Änderung des ABM-Vertrages mit Russland fortzusetzen. Desweiteren betonte er, dass seine Entscheidung den NMD-Programmablauf nicht verzögere. Der ursprüngliche, ehrgeizige Zeitplan, der die Stationierung der NMD-Eingangsstufe2 bereits im Jahre 2005 vorgesehen hatte, war zwischenzeitlich aufgrund der fehlgeschlagenen Tests und unvorhergesehener Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Abfangraketen allerdings bereits um ein bis zwei Jahre nach hinten korrigiert worden.

Außenpolitisch hatte die Clinton-Administration sowohl Russland und China als auch die europäischen Verbündeten von der Notwendigkeit und Unschädlichkeit ihrer Planungen zu überzeugen versucht. Die Europäer blieben skeptisch, Russland und China verharrten in offener Ablehnung. Die Regierungen beider Länder warnten wiederholt vor „ernsthaften Konsequenzen für die internationale Sicherheit Russlands, Chinas und anderer Länder (…) und die weltweite strategische Stabilität“.3 Innenpolitisch wurde jeder diplomatische Schritt der Clinton-Administration von der republikanischen Kongressmehrheit misstrauisch beäugt. Deren Vertreter stellten mittlerweile die Gültigkeit des ABM-Vertrages überhaupt in Frage und kündigten an, jedes Abkommen mit Russland, das die Vereinigten Staaten in ihren Bemühungen um ein Abwehrsystem einschränken könnte, verhindern zu wollen.4 Die europäischen Regierungen begrüßten Clintons Entscheidung. Die britische und deutsche Regierung nannten sie „weise“ und der NATO Generalsekretär Robertson bezeichnete sie als „klugen Schritt“. Clinton betonte in seiner Rede, dass die Vereinigten Staaten in Zukunft alliierte Unterstützung haben „müssen“.

Countermeasures

Neben der Diskussion um die politischen Konsequenzen einer NMD-Stationierung bestimmte vor allem der Streit über die technische Durchführbarkeit des Projekts die letzten Monate. Im April veröffentlichte eine Gruppe von US-Naturwissenschaftlern, unter ihnen renommierte Experten wie Richard Garwin und Ted Postol, eine Studie, in der sie ihre technischen Einwände gegen das System vorbrachten und durch detaillierte Rechnungen belegten.5 Die Studiengruppe kam zu dem Schluss, dass vergleichsweise geringe technische Mittel ausreichten, um die Sensoren des geplanten Abwehrsystems zu überlisten und dass diese so genannten »Countermeasures« (Gegenmaßnahmen) sehr wahrscheinlich von jedem Land installiert werden könnten, das in der Lage sei, ballistische Raketen mit großer Reichweite zu bauen oder zu kaufen. Die Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste bestätigte, dass Länder wie Nordkorea, Iran oder Irak auf einfach zugängliche Technologien für Gegenmaßnahmen wie Ballonattrappen oder radarabsorbierende Materialien zurückgreifen können: „Diese Länder können Gegenmaßnahmen basierend auf diesen Technologien zu dem Zeitpunkt entwickeln, zu dem sie ihre Raketen testen.“6

Die Einwände, ein Abwehrsystem sei technisch recht einfach zu umgehen, sind nicht neu, allerdings wurden sie im Rahmen der Studie erstmals mit quantitativen Abschätzungen und konkreten Berechnungen für drei Beispiele unterfüttert:

  • Bio- oder Chemiewaffen, die in hundert oder mehr kleinen Behältern, so genannter »Submunition«, im Kopf der Rakete transportiert werden,
  • Nukleare Gefechtsköpfe, die im Inneren von metallbeschichteten Ballons untergebracht sind und zusammen mit einer größeren Anzahl leerer Ballons freigesetzt werden und schließlich
  • Nukleare Gefechtsköpfe, die mit einer stickstoffgekühlten Hülle versehen werden.

Im ersten Fall, in dem der B-und C-Kampfstoff anstatt in einem einzigen Gefechtskopf in vielen kleinen Behältern transportiert wird, die gleich nach dem Ausbrennen der letzten Stufe freigesetzt werden, wird das Verteidigungssystem durch die große Anzahl einfliegender Objekte schlicht überfordert. Das NMD würde auch nach der letzten geplanten Ausbaustufe im Jahre 2011 lediglich für das Abfangen einiger Dutzend Sprengköpfe ausgelegt sein. Das bedeutet, dass die Ortung, Verfolgung und Zerstörung hunderter »Bomblets« aus mehreren angreifenden Raketen unmöglich wäre. Diese Angriffstaktik ist zudem für einen B- oder C-Waffeneinsatz die effektivste Methode, weil so der Kampfstoff im Zielgebiet über eine große Fläche verteilt werden kann.

Im zweiten und dritten Fall werden den NMD-Sensoren die notwendigen Informationen über das Ziel vorenthalten, die es braucht, um einfliegende Gefechtsköpfe zu orten, von Attrappen zu unterscheiden und schließlich mit dem Abfangflugkörper anzusteuern. Es gibt jedoch für die Radaranlagen und IR-Sensoren keinerlei Unterscheidungskriterium mehr zwischen einem Gefechtskopf und zusätzlich freigesetzten Attrappen, wenn der Gefechtskopf im Inneren eines metallbeschichteten Ballons versteckt, also selbst als Attrappe getarnt wird.7

Es existieren zahlreiche weitere Tarnmöglichkeiten, zum Beispiel verhindert die Freisetzung des Gefechtskopfes innerhalb einer großen Wolke von kleinen Metallfäden eine exakte Radarortung. Diese Methoden sind allesamt keine Reißbrett-Phantasien, die in der Realität schwierig zu implementieren wären, sondern realistische Möglichkeiten, die auch technisch weniger entwickelten Ländern zur Verfügung stehen sollten, sobald diese in der Lage sind, ballistische Raketen zu konstruieren.

Walk before you run? Teil I: Pleiten, Pech und Pannen des Testprogramms

Im Flugtestprogramm der dem Pentagon zugehörigen Raketenabwehrbehörde BMDO fanden ernstzunehmende Gegenmaßnahmen bisher wenig Beachtung.8 Die Devise lautete: „Walk before you run“. Die beiden ersten Testflüge im Juli 1997 und Januar 1998, bei denen Prototypen des Abfangflugkörpers Sensordaten über Zielköpfe und Attrappen sammeln sollten, wurden zunächst als Erfolg gewertet. Allerdings wurde nach diesen Flügen die Anzahl der Attrappen für die eigentlichen Abfangtests im Oktober 1999 sowie im Januar und Juli diesen Jahres, drastisch gesenkt, nämlich auf einen einzigen hellen Ballon. Dieser runde Ballon, der sich schon äußerlich deutlich von einem konisch geformten Gefechtskopf unterscheidet, leuchtete noch dazu unter den Versuchsbedingungen sechs bis sieben Mal heller als der Gefechtskopf, war also gut zu erkennen.

Trotz des weitgehenden Verzichts auf realistische Gegenmaßnahmen und der Tatsache, dass sich das Ziel weitgehend »kooperativ« verhielt (das Abfangteam kannte die Flugbahn und die Angriffszeit, die physikalischen Eigenschaften des Ziels und der Attrappe sowie die genauen Koordinaten des Gefechtskopfes, die dieser über einen Sender übermittelte) verlief nur der erste der drei Abfangtests erfolgreich. Der zweite Test scheiterte an einer Panne im Kühlsystem für den Infrarotsensor des Abfangflugkörpers. Beim dritten Test verhinderte eine Fehlfunktion der letzten Trägerstufe das Ausklinken des Abfangflugkörpers, so dass beide zusammen unverrichteter Dinge ins Meer stürzten.

Der Mangel an ernstzunehmenden Attrappen und die Verwendung kooperativer Ziele bilden die Hauptkritikpunkte am Testprogramm. Vor dem dritten Test im Sommer war befürchtet worden, dass dem System im Erfolgsfalle vom Verteidigungsminister die technische Reife bescheinigt werden würde, nach lediglich drei Tests, die allesamt nicht unter den wahrscheinlichen Bedingungen des Ernstfalls stattgefunden hätten. Nach dem unerwarteten Scheitern des letzten Tests mehrten sich jedoch auch im Kongress die Stimmen, die für eine Verschiebung der Stationierung eintraten. In der Tat zitierte Clinton in seiner Rede die beiden fehlgeschlagenen Testflüge als eine Begründung dafür, dass ihm noch das Vertrauen in die NMD-Technologie fehle. Weitere „robuste Entwicklungs- und Testprogramme“ seinen nötig, um die „operative Effektivität“ des Systems zu prüfen. Der nächste Test ist frühstens im Januar 2001 geplant. Die weitere Testplanung dürfte aber stark vom Ausgang der US-Wahl und den Plänen der neuen Administration abhängen.

Walk before you run? Teil II: Manipulationsvorwürfe

Die Kritik am NMD-Testprogramm ließ auch nach den letzten Misserfolgen nicht nach, im Gegenteil. Im Mai dieses Jahres schrieb der MIT-Professor Ted Postol einen Brief an den Stabschef des Weißen Hauses, in dem er Vorwürfe gegen ein an der NMD-Entwicklung beteiligtes Unternehmen erhebt.9 Postol beruft sich auf technische Unterlagen über den ersten Testflug IFT-1a (Juli 1997), die im Rahmen eines Prozesses einer entlassenen Mitarbeiterin gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber TRW zugänglich gemacht wurden. Die Protokolle über die Auswertung des Testflugs zeigten, so Postol, Inkonsistenzen und deutliche Hinweise auf Datenmanipulationen, die allen Beteiligten bekannt gewesen sein müssten.

Bei IFT-1A flog ein Testabfangflugkörper an einem Feld mit zehn Objekten vorbei. Dabei handelte es sich um den Gefechtskopf, acht Attrappen verschiedener Form und Größe sowie den Bus, auf dem die anderen neun Objekte in den Weltraum gebracht wurden. Ziel dieses Versuchs war, die Sensoreinheit des Abfangflugkörpers zu erproben und Daten über die zehn Objekte zu sammeln. Mit diesen Daten wiederum sollten die Zielerkennungs- und Diskriminierungsalgorithmen für den Bord-Computer des Abfangflugkörpers getestet werden. Laut BMDO war dieser Test erfolgreich. Die Sensoren hätten die Objekte erkannt und die Software sei in der Lage gewesen, den Gefechtskopf von den Attrappen zu unterscheiden.

Postols Analyse der technischen Unterlagen hingegen zeigte, dass die gemessenen Signale der zehn Objekte keinerlei Merkmale enthielten, die zur Unterscheidung von Gefechtsköpfen und Attrappen hätten dienen können. Mehr noch, die vorliegenden Protokolle ergäben, dass versucht wurde, dieses Ergebnis mit Hilfe einer Manipulation der Auswertungssoftware zu vertuschen. Postol kommt zu dem Schluss, dass aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Daten die Sensoren und Computer des Abfangflugkörpers prinzipiell nicht in der Lage sein werden, Gefechtsköpfe von einfachen Attrappen zu unterscheiden.10

Das Pentagon reagierte auf Postols Vorwürfe, indem es den Brief und die technischen Anhänge, die allesamt aus freigegebenen Unterlagen bestanden, eine Woche später wieder als geheim einstufte. Zur Zeit sind die Behauptungen Postols Gegenstand einer Überprüfung durch das General Accounting Office. Tatsache ist auch, dass nach dem zweiten Testflug, der wie der erste ebenfalls ein Vorbeiflugtest war, die Anzahl der Attrappen für die eigentlichen Abfangtests auf eine einzige reduziert wurde, nämlich auf den oben bereits erwähnten hellen Ballon.11 Weitere BMDO-Unterlagen zeigen, dass auch bei den für die kommenden Jahre geplanten Abfangtests auf glaubwürdige Attrappen verzichtet werden wird.

Von Frachtschiffen und Weltraumwaffen: Alternativen zu NMD?

Die andauernde Diskussion um die technischen Unzulänglichkeiten von NMD und die Ankündigung von George W. Bush, im Falle seiner Wahl zum Präsidenten das Abwehrsystem um zusätzliche Komponenten erweitern zu lassen, haben dazu geführt, dass im Laufe des Jahres von verschiedenen Seiten Vorschläge für alternative Raketenabwehrsysteme vorgetragen wurden. Auf den ersten Blick sehen sich einige der Vorschläge sehr ähnlich, bei näherem Hinsehen wird aber klar ersichtlich, dass es drei sehr unterschiedliche Ansätze gibt:

Richard Garwin hat den Vorschlag gemacht, das NMD-System durch ein kleineres, so genanntes Boost-Phase-Intercept-System (BPI) zu ersetzen.12 Ted Postol hat diese Ideen, an denen er mitgearbeitet hat, als effizienter bezeichnet als NMD. Im Gegensatz zu NMD, dessen in Nordamerika stationierte Abfangraketen anfliegende Gefechtsköpfe im Weltraum abfangen sollen, schlagen sie vor, feindliche Raketen bereits wenige Minuten nach dem Start noch während der Antriebsphase abzuschießen. Zu diesem Zweck müssten die BPI-Abfangraketen in der unmittelbaren Nähe des Angreifers, nicht mehr als einige hundert Kilometer entfernt stationiert werden, denn die Antriebsphase einer Interkontinentalrakete dauert nicht länger als etwa vier Minuten. In dieser Zeit müsste der Start der Rakete registriert werden, ihre Flugbahn berechnet, die Abfangrakete gestartet und schließlich der Abschuss erfolgt sein. Die Zeitkritikalität ist der gravierendste technische Nachteil dieser Abfangmethode.

Die erforderliche Nähe zum Angreifer hingegen ist bei kleineren Staaten von der Größe Nordkoreas oder auch des Irak kein unüberwindliches Problem. Die Abfangraketen könnten in diesen Fällen auf Frachtschiffen im Japanischen oder Kaspischen Meer oder auch in kooperierenden Ländern wie der Türkei stationiert werden. Russland und China hätten vor einem solchen System nichts zu befürchten, denn ihre schiere Größe würde es ihnen immer ermöglichten, einen Abschussort zu finden, der außerhalb der Reichweite des BPI-Systems liegt. Aus diesem Grunde wäre BPI für diese Staaten wahrscheinlich eher akzeptabel als NMD. Garwin hofft, dass über die auch für das BPI-System notwendigen Anpassungen des ABM-Vertrags leichter ein Konsens zu finden sein wird. In der Tat hatte der russische Präsident Putin Anfang Juli im Vorfeld des Moskauer Gipfeltreffens mit Präsident Clinton angedeutet, Russland und die USA könnten bei örtlich begrenzten Raketenabwehrsystemen zusammenarbeiten.

Eine weiterer, technisch weniger überzeugender Vorschlag für ein BPI-System wurde unter anderem vom ehemaligen CIA-Chef John Deutch vorgetragen.13 Dieser Vorschlag beinhaltet, vorhandene Marineschiffe, die mit dem Schiffsverteidigungssystem AEGIS ausgestattet sind, das sich gerade in der Weiterentwicklung zum Raketenabwehrsystem »Navy Theater Wide«-System (NTW) befindet, so umzurüsten, dass die Abfangraketen an Bord dieser Schiffe angreifende Raketen in der Antriebsphase abfangen können. Ungewiss ist bei diesem Vorschlag vor allem die Frage, ob das NTW ohne weiteres für BPI-Missionen umgerüstet werden kann. Es ist denkbar, dass eine Neuentwicklung gemäß dem Garwin/Postol-Vorschlag, mit Frachtschiffen und landgestützten Abfangraketen, billiger zu realisieren wäre. Deutch und seine Kollegen haben ihren Vorschlag im Sommer als Übergangslösung veröffentlicht, weil sie der Überzeugung waren, das geplante NMD-System sei noch nicht ausgereift und eine verfrühte Stationierungsentscheidung würde zudem den Beziehungen zu Russland und China schweren Schaden zufügen. Die Ideen der Gruppe sind jedoch wenig detailliert und nicht ausgereift. Viele Fragen bleiben offen.

Die Fraktion der Befürworter einer globalen Raketenabwehr, zu der traditionell weite Kreise der Republikaner gehören, hat die technische Kritik der NMD-Gegner ebenfalls aufgenommen. Jedoch verkehrt sie deren Argumentation in ihr Gegenteil, indem sie betont, dass der Verwundbarkeit des begrenzten Abwehrsystems der Clinton-Administration durch eine Ergänzung dieses Systems um zusätzliche Komponenten zur See und möglicherweise auch im Weltraum begegnet werden müsse.

Ein Vorschlag in diese Richtung wurde 1999 von der konservativen Heritage Foundation vorgelegt.14 Deren Autoren möchten ebenfalls die Raketenabwehr »Theater Missile Defense« (TMD) der Marine aufrüsten und in ein globales, see- und weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem verwandeln. Ihr Vorschlag zielt darauf ab, die landgestützten NMD-Abfangraketen auf Schiffen unterzubringen und desweiteren die für das NMD geplante Infrastruktur an Aufklärungssatelliten und Radaranlagen zu nutzen. Hinzukommen sollen weltraumgestützte Abwehrwaffen, die feindliche Raketen sowohl in der Antriebsphase als auch in der mittleren Flugphase abfangen sollen. Einige der Vorschläge erinnern verdächtig an die alten SDI-Fantasien.Eines dieser Systeme, der »Space-Based Laser« (SBL), befindet sich bereits in der Entwicklung. Das Ziel des SBL ist es, startende Raketen noch in der Antriebsphase mit Hilfe eines Laserstrahls zu zerstören. Dieses Programm, das gemeinsam von der Luftwaffe und dem BMDO betrieben wird, hat jedoch laut einer aktuellen GAO-Studie15 noch hohe technische Hürden zu überwinden. Ein Prototyp des SBL wird frühestens im Jahre 2008, wahrscheinlich aber erst zwischen 2010 und 2012, in den Weltraum gebracht werden können. 12 bis 24 SBLs könnten die gesamte Erde abdecken.

Das zweite vorgeschlagene System sind die sogenannten weltraumgestützten kinetischen Interzeptoren (SBI), die als »Brilliant Peebles« bereits aus früheren Studien zu SDI bekannt sind.16 Dieses System würde aus Abfangprojektilen bestehen, die, gekoppelt an Satelliten, ständig auf einer Erdumlaufbahn kreisen. Wenn ein Satellit einen Raketenstart registriert, würden sich diese Abfangraketen in Bewegung setzen und auf Kollisionskurs zum anfliegenden Gefechtskopf gehen. Auch hier müssten die Weltraumprojektile ihre Ziele selbständig orten und von Attrappen unterscheiden können.17

Unabhängig von den astronomischen Kosten, die eine solche umfassende Raketenabwehr verursachen würde und die die Kosten für das aktuelle NMD-System bei weitem übersteigen, ist äußerst zweifelhaft, ob dieses System überhaupt zuverlässiger funktionieren würde. See- und weltraumgestüzte Abfangraketen, die Gefechtsköpfe in der mittleren Flugphase abschießen sollen, sind natürlich genauso durch Attrappen zu verwirren wie landgestützte Raketen. Die prinzipiellen Probleme, die das NMD-System plagen, wären also auch mit umfangreicheren Systemen wie dem der Heritage Foundation nicht gelöst. Letztlich hätte ein solches System also sehr viel Geld gekostet, zu einer Bewaffnung des Weltraums geführt und die ohnehin schon schwierigeren politischen Probleme, die mit strategischen Raketenabwehrsystemen verbunden sind, dramatisch verschärft.

BPI-Systeme, die feindliche Raketen bereits in ihrer Antriebsphase abfangen sollen, hätten möglicherweise mehr Aussicht auf Erfolg, obgleich auch solche Systeme bei weitem keine absolute Verlässlichkeit garantieren könnten. Auch hier steckt der Teufel im Detail. Das BPI-System von Garwin/Postol scheint prinzipiell technisch machbar zu sein. Das gleiche gilt für eine Variante, bei der die Abfangraketen von Kampfflugzeugen aus losgeschickt werden. In beiden Fällen wäre der logistische Aufwand groß und die zu überwachende Fläche, etwa die eines Landes von der Größenordnung Iraks oder Libyens, vergleichsweise klein. Dies stellt aber, wie bereits erwähnt, mit Bezug auf die Beziehungen zu Russland und China keinen Nachteil dar. Die extrem kurzen Reaktionszeiten, die dadurch begründet sind, dass die Antriebsphase von Raketen nur wenige Minuten dauert, würde bei BPI-Systemen lange Befehlsketten ausschließen. Das System müsste sofort quasi automatisch reagieren, Zeit für eine Autorisierung durch höhere Kommandoebenen oder die politische Führung bliebe nicht.

Garwins und Postols BPI-System existiert gegenwärtig nur als Vorschlag. Hingegen werden von der BMDO zwei andere BPI-Systeme bereits entwickelt. Das ist neben dem weltraumgestützten Laser SBL das sogenannte »Airborne Laser«-Programm (ABL), bei dem ebenfalls ein Laserstrahl zum Abschuss von aufsteigenden Raketen benutzt werden soll. Der dazugehörige Laser soll an Bord einer Boeing 747-400 untergebracht werden, die in mehreren hundert Kilometern Entfernung vom Startplatz der feindlichen Rakete patrouilliert. Geplant ist, bis zum Jahre 2007 eine Flotte von sieben Flugzeugen zu stationieren. Ein ABL-Flugzeug ist leichter gegen startende ICBM einzusetzen, da deren Wände dünner sind als die von Kurzstreckenraketen. Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen darüber, ob das ABL-System überhaupt in der Lage sein wird, innerhalb der Erdatmosphäre und aus mehreren hundert Kilometern Entfernung einen Laserstrahl genügend lange auf einen Punkt auf der Hülle einer sich bewegenden Rakete zu fokussieren, um diese schließlich zu durchdringen. Ähnliche Vorbehalte existieren über den weltraumgestützten Laser. Letzterer ist jedoch sicherheitspolitisch noch kritischer, weil er völlig unzweideutig die Bewaffnung des Weltraums einläutet.

Die schon heute in der Entwicklung befindlichen TMD-Systeme haben alle das Potenzial der Vernetzung untereinander und mit der geplanten NMD-Radar und Weltraumsensorik (SBIRS). So kann zum Beispiel das mobile »Theater High Altitude Area Defense System« (THAAD), dessen Zweck es sein soll, Bevölkerungszentren oder militärische Einrichtungen vor Raketen zu schützen, mit den NMD-Frühwarnsatelliten SBIRS verbunden werden. Diese Vernetzung würde dem System im Prinzip die Fähigkeit geben, größere Bereiche (einige 100 km Durchmesser) abzudecken. Auch kann das System im Prinzip gegen strategische Raketen mittlerer und langer Reichweite eingesetzt werden.18 Somit könnte THAAD Teil eines landesweiten, strategischen Abwehrsystems werden und das »begrenzte« NMD-System gleich um mehrere hundert Abfangraketen erweitern. Ähnliches gilt für das Marine-Abwehrsystem NTW. So tragen diese beiden Systeme de facto zur weiteren Erosion des ABM-Vertrages bei.

Aussichten

Durch die Einführung von mehreren TMD-Systemen oder einer BPI-Raketenabwehr kann die Funktion des NMD-Systems ergänzt oder erweitert werden, so dass eine mehrschichtige Raketenverteidigung entsteht. Dies wäre mit der Idee des ABM-Vertrages genauso wenig vereinbar wie die Schaffung einer globalen Weltraumaufklärungs- und Steuerkomponente (SBIRS, SBL etc.). TMD-Systeme sollten ursprünglich außerhalb der USA zum Schutz von US-Truppen oder Alliierten vor Raketenangriffen stationiert werden. Ihr militärischer Hauptzweck besteht darin, den Handlungsspielraum von US-Truppen weltweit zu erhalten.

Für einige Regionen und Länder wie z.B. Taiwan bzw. Japan oder Israel würden diese effektiv aber auch ein nationales Verteidigungssystem darstellen. Der tatsächliche Nutzen solcher Systeme ist jedoch zweifelhaft, denn die Möglichkeiten von Gegenmaßnahmen bestehen auch hier. Entscheidend ist, ähnlich wie beim NMD, wie effektiv die Abwehr gegen einfache Gegenmaßnahmen ist und nicht, ob es prinzipiell gelingt einen anfliegenden, ungetarnten Gefechtskopf im Flug zu treffen.

Die Bost Phase-Vorschläge bieten ebenfalls lediglich eine technische Lösung des heutigen Proliferationsproblems. Regionale, see- oder landgestützte BPI-Systeme wären mit dem ABM-Vertrag leichter in Einklang zu bringen. Zumindest Russland könnte einer solchen Lösung zustimmen. Das Problem dieser Systeme liegt, neben den noch zu überwindenden technischen Hürden darin, dass sie aus US-Perspektive in der gegenwärtigen Situation eher als weitere Ergänzung der NMD-Architektur betrachtet werden und nicht als deren Ersatz.

Die in den USA fortdauernde Debatte zeigt, dass die USA nach wie vor gewillt sind, eine umfassende Raketenabwehr aufzubauen. Keines der vorgeschlagenen Konzepte ist jedoch bisher ausgereift und überzeugend. Es wird entscheidend von der nächsten Administration abhängen, welcher der genannten Wege beschritten wird und ob es gelingt, die Sorgen Russlands und Chinas zu zerstreuen. Die Befürchtigung dieser Nuklearstaaten liegt darin, dass durch den Wegfall des ABM-Vertrages ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten beginnt, das u.a. auch in den Weltraum getragen wird. Eine Aufkündigung der Substanz des ABM-Vertrages könnte den Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozess weiter schwer behindern und sogar die zweite Säule des internationalen Rüstungskontrollregimes, den Nichtverbreitungsvertrag, zum Einsturz bringen.19 Im Zuge einer solchen Entwicklung könnten sich weitere Staaten gezwungen fühlen, in eigene Nukleararsenale zu investieren. Die beste Rückversicherung gegen den Aufbau einer Raketenabwehr ist in der Logik nuklearer Abschreckung der Aufbau bzw. Ausbau eigener Nukleararsenale. Die Paradoxie der heutigen Diskussion besteht darin, dass zwar der Kalte Krieg beendet ist, nicht jedoch sein Erbe, das Denken in Abschreckungskategorien. Soll aber die nukleare Abschreckung überwunden werden, ist der einfachere Weg sicher die konsequent fortgesetzte nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle von Massenvernichtungswaffen. Diese hat zumindest in der Vergangenheit mehr Raketen unschädlich gemacht als alle bisherigen Raketenabwehrversuche.

Literatur

Siehe dazu: Tom Bielefeld, Götz Neuneck: Ende der Illusion?, Spektrum der Wissenschaft, September 2000, S. 92-94. Eine aktuelle, offizielle Bewertung des NMD-Testprogramms findet sich in: Statement by The Honorable Philip E. Coyle, Director, Operational Test and Evaluation, Before the House Committee on Government Reform, Subcommittee on National Security, Veterans Affairs, and International Relations, 8. September 2000,
http://sun00781.dn.net/spp/starwars/congress/2000_h/ coyle_sept_8. htm

Anmerkungen

1) The White House, Office of the Press Secretary: Remarks by the President on National Missile Defense, 1. September 2000, www.whitehouse.gov/library/hot_releases/ September_1_2000_2.html

2) »SDI light« oder die Aushöhlung des ABM-Vertrages, in: Wissenschaft & Frieden 2/1999, S.58-63.

3) The Washington Post, 19. Juli 2000.

4) Senator Trent Lott et al.: Letter to the President, 25. September 1998; R. James Woolsey: What ABM Treaty?, Washington Post, 15. August 2000; Mirko Jakubowski: Öffentliche Meinung, gesellschaftliche Gruppen und Raketenabwehr in den USA, HSFK-Bulletin Nr. 5, Frühjahr 2000.

5) Union of Concerned Scientists, MIT Security Studies Program: Countermeasures – A Technical Evaluation of the Operational Effectiveness of the Planned US National Missile Defense System, Cambridge, April 2000.

6) National Intelligence Council: Foreign Missile Developments and the Ballistic Missile Threat to the United States Through 2015, September 2015 (Unclassified Summary of the Intelligence Communitys 1999 National Intelligence Estimate).

7) Leere Ballons haben wegen des fehlenden Luftwiderstands im Weltraum dasselbe Driftverhalten wie der schwere Gefechtskopf und ihre Oberflächentemperatur lässt sich leicht durch einen dünnen Farbanstrich manipulieren, der das Sonnenlicht in gewünschter Menge absorbiert. Bei nächtlichen Angriffen würde ein kleines, batteriebetriebenes Heizaggregat denselben Zweck erfüllen. Im Übrigen könnten auch alle Attrappen eine leicht unterschiedliche Temperatur haben, wenn das System die eigentliche Temperatur des Gefechtskopfs nicht genau kennt.

8) B = Siehe dazu: Tom Bielefeld, Götz Neuneck: Ende der Illusion?, Spektrum der Wissenschaft, September 2000, S. 92-94. Eine aktuelle, offizielle Bewertung des NMD-Testprogramms findet sich in: Statement by The Honorable Philip E. Coyle, Director, Operational Test and Evaluation, Before the House Committee on Government Reform, Subcommittee on National Security, Veterans Affairs, and International Relations, 8. September 2000, http://sun00781.dn.net/spp/starwars/congress/2000_h/ coyle_sept_8. htm

9) Theodore A. Postol, Letter to John Podesta, White House Chief of Staff, 11. Mai 2000; William J. Broad: Antimissile System's Flaw Was Covered Up, Critic Says, New York Times, 18. Mai 2000; Uwe Schmitt: Kritik an US-Raketenabwehrsystem, Die Welt, 27. Mai 2000.

10) Den Autoren dieses Artikels liegen die technischen Unterlagen, auf die Postol sich bezieht, teilweise vor. Wir teilen die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Analyse und können ebenfalls bestätigen, dass diese Unterlagen in entscheidenden Passagen inkonsistente Behauptungen und irreführende bzw. physikalisch unhaltbare Schlussfolgerungen enthalten.

11) Kleinere Ballons, deren Infrarotsignatur der des Gefechtskopfs ähnlicher ist und die ursprünglich ebenfalls bei den ersten Abfangtests hätten mitfliegen sollen, wurden, wahrscheinlich aufgrund der Erfahrungen aus den Vorbeiflugtests, nicht mehr berücksichtigt.

12) Richard L. Garwin: A Defense that Will Not Defend, in: The Washington Quarterly 23:3, Summer 2000, S. 109-123; The Wrong Plan, in: The Bulletin of the Atomic Scientists, March/April 2000, S. 36-41.

13) John Deutch, Harold Brown, John P. White: National Missile Defense: Is There Another Way?, in: Foreign Policy, Summer 2000, S. 91-100.

14) Defending America: A Plan to Meet the Urgent Missile Threat, Report by The Heritage Foundation's Commision on Missile Defense, March 1999, http://www.heritage.org/missile_defense . Eine detaillierte Analyse dieses Vorschlags findet sich in: Rodney W. Jones, Taking National Missile Defense to Sea, Council for a Livable World Education Fund, October 2000, http://www.clw.org/ef/seanmd.html

15) United States General Accounting Office, DoD Efforts to Develop Laser Weapons for Theater Defense, GAO/NSIAD-99-50, March 1999.

16) Dieser Vorschlag wurde insbesondere während der Bush-Administration populär. Es sollte sozusagen eine etwas realistischere Variante von SDI darstellen und wurde wiederum von Edward Teller und seinen Kollegen propagiert. Eine Kritik findet sich in: Richard L. Garwin: Brilliant Pebbles Won't Do, in: Nature, Vol. 346, S. 21, July 5, 1990.

17) Die Strecke, die die Abfangrakete bis zu ihrem Zielen zurücklegen müsste, hängt ab von der Anzahl der stationierten Satelliten und deren Abständen zueinander. Je mehr Satelliten stationiert werden, desto dichter das Netz und desto kürzer der zurückzulegende Weg.

18) Lisbeth Gronlund, George Lewis, Theodore Postol, David Wright: Highly Capable Theater Missile Defenses and the ABM Treaty, Arms Control Today, April 1994, S. 3-8.

19) Siehe dazu das VDW-Memorandum: Warnung vor den Raketenabwehrplänen der USA – Plädoyer für ein europäisches Diplomatie Zuerst!- Konzept, W&F 1-2001.

Tom Bielefeld ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
Dr. Götz Neuneck ist Wissenschaftlicher Referent am IFSH und Vorsitzender des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS)