Konversion ist tot… es lebe die Konversion

Konversion ist tot… es lebe die Konversion

von Peter Croll und Marc von Boemcken

Im Bereich der Wirtschaft bezeichnet Konversion die Umstellung des Produktionsprogramms eines Unternehmens auf andere Güter. Als vor fast zehn Jahren das Internationale Konversionszentrum in Bonn (BICC – Bonn International Center for Conversion) gegründet wurde, war in diesem Zusammenhang eine ganz bestimmte Art der Umstellung gemeint: Die Umwandlung militärischer Potenziale in zivile. In diesem Prozess soll das BICC – so wurde es bei der Gründung festgelegt – „als operativer Teil der Abrüstung“ wirken, bei der praktischen „Umsetzung von Demilitarisierung den notwendigen Transformationsprozess beschleunigen“ und die „entstehenden Kosten mindern“.
Schwerter zu Pflugscharen, dieses Sinnbild entspricht sicher dem, was man weitläufig unter einer »militärischen Konversion« versteht. Tatsächlich ist das Arbeitsspektrum aber wesentlich breiter. Sechs sich zum Teil überschneidende Aufgabenbereiche lassen sich im Zusammenhang dieser »klassischen« Rüstungskonversion zunächst voneinander unterscheiden:

  • Die Liegenschaftskonversion befasst sich mit der zivilen Verwertbarkeit ehemals militärisch genutzter Flächen, Gebäude und Anlagen.
  • Waffenkonversion ist die – nur in äußerst geringem Maße ökonomisch und ökologisch sinnvolle – zivile Umnutzung von aus Waffen gewonnenem Material.
  • Industriekonversion bezeichnet eine eher strukturelle Umorientierung von Produktionsabläufen.
  • Wissenskonversion ist die zivile Umorientierung militärischer Forschung und Entwicklung.
  • Finanzkonversion beabsichtigt eine Verringerung staatlicher Militärhaushalte und die Übertragung der freiwerdenden Mittel auf zivile Zwecke.
  • Die Humankonversion, auch Demobilisierung oder Reintegration, ist schließlich als Überführung von Menschen – als Arbeitskräfte – von einem militärischen in ein ziviles Umfeld zu verstehen.

Allein die sich bereits hier aus allen sechs Teilbereichen ergebende Vielfältigkeit der Herausforderungen lässt die mit einem umfassenden Konversionsprozess verbundene Komplexität erahnen. Es liegt auf der Hand, dass deren anwendungsorientierte und wissenschaftliche Bearbeitung einen zutiefst multidisziplinären Ansatz verlangt, der sowohl technische und ökonomische als auch politische und soziale Faktoren zu berücksichtigen hat. Als eine im Kern unabhängige Beobachtung und kritische Analyse der oben beschriebenen Konversionsprozesse, erstellt das BICC Empfehlungen für eine möglichst friktionslose Konversionsbewältigung, die verschiedene wissenschaftliche Perspektiven in sich bündeln und zu kombinieren versuchen.

Im populären Sprachgebrauch ist der Begriff der Konversion im Gegensatz zu diesem breiteren Verständnis häufig noch sehr eng einem ganz bestimmten historischem Bezugspunkt verhaftet. Gemeint ist natürlich ein sehr spezielles Konzept der Rüstungskonversion, das als ein vor allem politisches Unternehmen, die bestehenden Abrüstungserfordernisse unmittelbar nach Ende des »Kalten Krieges« möglichst reibungslos abzuwickeln versuchte. Die immer wieder gehörte Hoffnung auf eine »Friedensdividende« bezeichnete hierbei den aus der Freistellung von bisher militärisch genutzten Ressourcen für zivile Zwecke zu erwartenden Gewinn. Konversion war in diesem Sinne also vor allem ein kosten- und nutzungsorientierter Vorgang, eher utilitaristisch als idealistisch motiviert.

Schon bald wurden jedoch, aus den verschiedensten Gründen, die mit den Schlagworten »Schwerter zu Pflugscharen« und »Friedensdividende« umschriebenen Hoffnungen auf einen im großen und ganzen unproblematischen und profitablen Konversionsprozess enttäuscht. Die weltweiten Militärausgaben sind zwar im Zeitraum zwischen 1988 und 1998 um bis zu einem Drittel gesunken, trotzdem hat es aber – insbesondere in Osteuropa und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – nicht unbedingt die vielfach erwartete direkte Verbindung zwischen einem sinkenden Verteidigungshaushalt und einer positiven sozio-ökonomischen Entwicklung gegeben. Im Westen manifestierte sich die Friedensdividende darüber hinaus nicht in der erhofften Steigerung von Sozialausgaben oder, wie im »Bericht zur menschlichen Entwicklung« von den Vereinten Nationen 1994 vorgeschlagen, in einer erhöhten Entwicklungshilfe, sondern in einer Reihe von »unsichtbaren« Bereichen außerhalb des öffentlichen Sektors, z.B. in der Senkung der Netto-Neuverschuldung. Hinzu kommt, dass die direkte Umstellung von Rüstungsproduktionskapazitäten sich häufig als eine zivilwirtschaftliche Fehlallokation erwies. Der zu einer erfolgreichen Konversion nötige immense Kapitaleinsatz wurde vielfach unterschätzt. In Deutschland wurde im Laufe der 90er Jahre, insbesondere nach dem durchaus erfolgreichen Abschluss einer Reihe von nötigen Liegenschaftskonversionen, die Nachfrage nach einer Rüstungskonversion – zumindest in Bezug auf das Erbe des Ost-West Konflikts – immer geringer.

Der folgende Artikel versucht über die sowohl geographischen als auch thematischen Begrenzungen eines derart »engen«, historisch behafteten und rein finanziell ausgerichteten Konversionsverständnisses hinauszudenken. Wird die Konversionsidee den aktuellen sicherheitspolitischen Bedingungen und Erfordernissen angepasst, dann ist sie mitnichten »tot«. Im Gegenteil, der Beginn des neuen Jahrtausends bleibt eine Zeit des unbestreitbaren militärischen und sicherheitspolitischen Umbruchs, der in seiner wissenschaftlichen Begleitung von einer multidisziplinären Herangehensweise an komplexe Transformationsprozesse nur profitieren kann. In diesem Zusammenhang bleibt Konversionsforschung, auch ohne die ursprünglichen Vorgaben seitens der erwünschten »Friedensdividende«, unverzichtbar.

Konversion, Sicherheit und Entwicklung

In Erweiterung des oben skizzierten utilitaristischen Prinzips soll der Konversion, und insbesondere der Konversionsforschung, zunächst eine normative Grundannahme unterstellt werden. Dieser Erweiterung liegt die Einsicht zugrunde, dass Konversion nicht unabhängig von der Frage der Sicherheit behandelt werden darf. Der Wille zur Konversion ist ein implizites Eingeständnis der mit ihrer Erforschung befassten Perspektive. Sie beruht auf der Annahme, dass das Kollektivgut »Sicherheit« nicht mittels Aufrüstung oder Bewaffnung gewonnen wird. Vielmehr erzeugen militärische Mobilisierungsmaßnahmen in der Regel eine erhöhte Unsicherheit – eine paradoxe Logik, die der Politikwissenschaftler John Herz1 während des »Kalten Krieges« als ein im internationalen System fest verankertes Sicherheitsdilemma erkannte. Die Hypothese lautet, dass der Versuch durch steigende Militärinvestitionen ein sowohl subjektiv empfundenes als auch objektiv verifizierbares Sicherheitspotenzial zu produzieren, den gegenteiligen Effekt zur Folge hat, nämlich mehr Instabilität und Unsicherheit.

Hier hinterfragt die Konversionsforschung sowohl die theoretischen Axiome als auch die praktischen Konsequenzen orthodoxer Sicherheitsvorstellungen. Wirkliche Sicherheit kann nämlich in diesem Sinne nur das Ergebnis eines nachhaltigen sozio-ökonomischen Demilitarisierungsprozesses, sprich einer Konversion, sein.

Der Rahmen für eine thematische Erweiterung des Konversionsbegriffes folgert aus dem ihm innewohnenden Imperativ der Demilitarisierung. Konversion erscheint jetzt nicht mehr als die reine Umwandlung ehemals militärisch genutzter Kapazitäten im Interesse eines zivilwirtschaftlichen oder öffentlichen Nutzungsanspruchs. Konversion ist darüber hinaus die Verminderung des Einsatzes militärischer Instrumente gegenüber den Möglichkeiten ziviler Maßnahmen. Neben den anfangs erwähnten sechs »klassischen« Themengebieten lassen sich damit auch eine Reihe weiterer Aufgaben der Konversionsforschung zurechnen. So befasst sie sich mit der

  • Bewältigung und Förderung von Abrüstungs- und Entwaffnungsprozessen,
  • dem Problemfeld der Proliferationskontrolle, also mit der Verringerung und Einschränkung des internationalen Waffenhandels, sowie
  • mit der unabhängigen Beobachtung des Einhaltens einer demokratischen Kontrolle der Streitkräfte, dem so genannten Primat der Politik.

Wenngleich diese Bereiche nicht unbedingt immer auf eine zivile Nutzungsumschichtung abzielen, so sind sie dennoch eine notwendige Vorraussetzung für eine durch Demilitarisierung gewonnene erhöhte Sicherheit. Konversion wird durch diese Erweiterung somit zu einem integralen Bestandteil einer konstruktiven Konfliktbearbeitungs- und -präventionsstrategie.

Wird Konversion in diesem Zusammenhang als Teil einer umfassenden Konfliktprävention verstanden, so muss sie sich des Weiteren an den Referenzpunkten eines sich verändernden Sicherheitsdiskurses orientieren. Auf internationaler Ebene wird Sicherheit zunehmend nicht mehr ausschließlich als das traditionelle »sichern« territorialer Integrität verstanden, sondern auch als der Schutz des Lebens und der Rechte aller Menschen. Als nunmehr vorrangiges Objekt der Sicherheitspolitik besitzt dieses Individuum ein Recht auf körperliche Unversehrtheit (vor direkter Gewalteinwirkung, Krankheiten, Hunger, etc.) und auf die Einbettung in eine stabile ökonomische Struktur als Lebensbasis. Unter dem Stichwort »human security« kann somit, zumindest in der Rhetorik, eine epistemologische Verschiebung des Sicherheitsbegriffes von der Wahrung der Souveränität spezifischer Staatsräume hin zu einem Interesse an dem Wohlergehens der Menschen darin beobachtet werden. Die Kommission der Vereinten Nationen für menschliche Sicherheit unter dem Vorsitz der früheren Hohen Kommissarin der UN für Flüchtlinge, Sadako Ogata, und des Nobelpreisträgers Amartya Sen benutzt diesen Sicherheitsbegriff: „to protect the vital core of all human lives in ways that enhance human freedoms and human fulfilment.“2 Und UN-Generalsekretär Kofi Annan reflektierte: „The demands we face also reflect a growing consensus that collective security can no longer be narrowly defined as the absence of armed conflicts.“3 Die von der UNDP vorgeschlagenen »Millenniums-Entwicklungsziele« zur Beseitigung der menschlichen Armut sind daher auch und vor allem eine Herausforderung an eine verantwortliche Sicherheitspolitik. Eine entsprechend ausgerichtete Konversionsforschung kann sich mitnichten nur auf ein kritisches Studium des politischen Realismus beschränken. Im speziellen Kontext der Verringerung militärischer und der Stärkung ziviler Gesellschaftsstrukturen, haben sie auch Fragen der Armutsbekämpfung und der Ressourcenumverteilung zu interessieren. So sind unverhältnismäßig hohe Militärausgaben noch immer in vielen Entwicklungsländern ein wesentlicher Faktor für weitverbreitete Armut. Dies wurde zum Beispiel besonders im noch nicht weit zurückliegenden Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea, zwei der ärmsten Länder der Welt, sehr deutlich.

Armut selbst kann wiederum zur Quelle von Unsicherheit werden. Arme Menschen leben mit größerer Wahrscheinlichkeit in unsicheren Verhältnissen und sind eher bereit Gewalt anzuwenden, manchmal auch als Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch werden Armut und mangelnde Entwicklung häufig als Rechtfertigung für terroristische Aktivitäten angeführt. Zwar kommen Täter nicht unbedingt aus armen Familien, doch beziehen sie oft aus wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Ausbeutung die Motivation und Rechtfertigung für ihre Taten. Aus Sicht der Konversionsforschung erscheint Armut also zuallererst als ein Sicherheitsproblem. Indem sie sich der Bekämpfung der Armut als eines zentralen Beitrags zur menschlichen Sicherheit annimmt, weist die Konversionsforschung somit eine Reihe von Berührungs- und sogar Überschneidungspunkten mit der Entwicklungspolitik und Entwicklungsforschung auf.

Die zum Teil erheblichen Verschiebungen in der internationalen Staatengemeinschaft nach Ende des »Kalten Krieges« haben, alles in allem, die Grundlage für ein Konversionsverständnis geschaffen, das über ihre »klassischen« Themenbereiche entscheidend hinausgeht. Im zweiten Teil dieses Artikels sollen zunächst die möglichen Aufgabenbereiche einer pro-aktiven, also konfliktverhütenden, Konversion etwas genauer umrissen werden. Vor diesem Hintergrund wird dann eine über das bisher beschriebene Konzept hinausgehende Erweiterung des Konversionsbegriffes auf den Bereich des zivil-militärischen »peace-keeping« diskutiert.

Entwicklungen und Perspektiven

Die 90er Jahre markierten nicht die Geburt einer friedlicheren Weltordnung, sondern eine erneute Verschärfung des sicherheitspolitischen Gefahrendiskurses. Der medienwirksame Zusammenbruch und die Fragmentierung – auch »Balkanisierung« – vieler Staatengebilde, etablierten sich als ein in seinen humanitären Auswirkungen häufig katastrophales Grundproblem der vielbeschworenen »Neuen Weltordnung«. Der hierin zu beobachtende Typus der Kriegsführung hatte sich von Clausewitz’ Idealmodell weit entfernt. Ein innerstaatlicher, asymmetrischer, hochgradig emotionalisierter Krieg rückte plötzlich in den Blickpunkt einer schockierten Öffentlichkeit. Er zeichnete sich besonders durch ein Verschwimmen der »militärischen« und der »zivilen« Domäne beim Treffen taktischer Entscheidungen aus. Die grausame Konsequenz war eine unmittelbare Einbeziehung der Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen. Unsicherheit war überall.

Neue Welt(Un)ordnung – Alte Aufgaben

Mit der verstärkten Wahrnehmung von »Bürgerkriegen« wandelten sich auch Kernthemen der Konversion. Der Beitrag der Konversionsforschung zu interdisziplinären Krisenpräventions- und -bearbeitungsstrategien in den Ländern des Südens rückte immer mehr in den Mittelpunkt der von ihr zu bewältigenden Aufgaben und verdrängte zunehmend die Entsorgung der Altlasten des Ost-West Konfliktes. Damit Konversion pro-aktiv zur Konfliktverhinderung wirken kann, müssen aber auch die Ursachen von Konflikten und die Strategien zu ihrer Überwindung analysiert werden.

Methodologisch lässt sich Forschung für eine pro-aktive Konversion in eine Makro- und eine Mikroebene aufteilen.

Die für die Konversion relevante makro-gesellschaftliche Konfliktanalyse befasst sich zum einen mit den gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die eine nachhaltige Friedensordnung behindern, und zum anderen mit den gewaltfördernden ökonomischen Strukturen, die den Konflikt überlagern.

So werden erstens vor allem staatsinterne Krisen und gewaltsame Auseinandersetzungen durch entweder das Fehlen oder die verfassungswidrige Ausnutzung des staatlichen Gewaltmonopols immer wieder angefacht. Eine die menschliche Sicherheit berücksichtigende pro-aktive Konversion bedeutet hier die strukturelle Reform des Sicherheitssektors von einer »Privatisierung« der Gewalt hin zu einer der demokratischen Kontrolle unterworfenen »öffentlichen« Sicherheitsordnung.

Zweitens sind gerade afrikanische Kriege darüber hinaus häufig in regionale, wenn nicht gar internationale, ökonomische Verflechtungen eingebunden, die das Fortdauern von Kampfhandlungen unabhängig von konfliktinternen Dynamiken selbstständig fördern. Konversion kann hier als das Durchbrechen von – mit den Worten Johan Galtungs – »struktureller Gewalt« hin zu einer den »strukturellen Frieden« schaffenden sozio-ökonomischen Ordnung gedeutet werden.4 Die Konversionsforschung kann auf die meist komplexen Grundstrukturen dieser Konflikte hinweisen und Strategien für deren Überwindung formulieren.

Der »klassische« Aufgabenbereich der Konversion manifestiert sich allerdings weniger in einer strukturellen Konfliktanalyse als vielmehr in der mit ganz spezifischen Problematiken beschäftigten Mikrokonversion. Vor allem hier präsentieren sich viele Regionen – auch zehn Jahre nach Ende des »Kalten Krieges« – als eine große Herausforderung an die Friedensforschung. Pro-aktive Konversion kann insbesondere die im Moment abflauender Kampfintensität anlaufenden Friedensprozesse durch eine nachhaltige Entsorgung des Kriegsmaterials konsolidieren und vorantreiben. In einem Post-Konflikt Szenario fällt ihr zudem die schwierige Aufgabe zu, eine sowohl materiell abgesicherte als auch psychologisch sinnvoll betreute Wiedereingliederung ehemaliger Kombattanten – unter gleicher Berücksichtigung von Männern, Frauen und ganz besonders auch Kindern – in eine funktionierende Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Es bleibt anzumerken, dass die Konversionsforschung – in Ergänzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit – in diesem Zusammenhang einen »consulting service« anbieten, also als eine von den Konfliktparteien unabhängige beratende Instanz für alle gesellschaftlichen Akteure dienen kann.

»Peace-keeping« als Konversionsprozess

Innerhalb des Strategie- und Militärdiskurses westlicher Streitkräfte sind tiefgreifende und andauernde Veränderungen zu beobachten, die einer wissenschaftlichen Begleitung bedürfen. Einerseits haben die Ereignisse des 11. September 2001 die ohnehin schon aggressive und dem Völkerrecht oft gleichgültig gegenüberstehende Sicherheitsstrategie der USA noch weiter verschärft. Andererseits, und ironischerweise häufig als Konsequenz eben dieser neuen Interventionspolitik, gewinnen auch von den Vereinten Nationen getragene militärische Friedenseinsätze zunehmend an Bedeutung. Wie die am 21. Mai 2003 vom Bundesministerium der Verteidigung herausgegebenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« noch einmal in aller Deutlichkeit betonen, werden nicht Kriegseinsätze, sondern friedenssichernde Maßnahmen der »Konfliktverhütung und Krisenbewältigung« die zukünftige Marschrichtung der Bundeswehr bestimmen. Nicht zuletzt die derzeitigen Erfahrungen in Afghanistan zeigen, dass selbst das Unterfangen zivilgesellschaftlicher Rekonstruktion eine militärische Komponente zumindest nicht ausschließen kann. Wie sich bei der Diskussion um die mögliche zivil-militärische Zusammenarbeit in den »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs) herausgestellt hat, ist diese vermeintliche Notwendigkeit militärischer Fähigkeiten bei friedensfördernden Maßnahmen jedoch alles andere als unproblematisch. Bereits während der »peace-keeping« Einsätze auf dem Balkan prägte sich der denkwürdige Satz: „It’s not a job for a soldier, but only a soldier can do the job.“ Eine solche Aussage deutet darauf hin, dass ein fortan hauptsächlich mit »peace-keeping« Aufgaben betreutes Militär sich unter Umständen auf einschneidende Veränderungen einstellen muss. Hier eröffnet sich ein neuer Bereich für die Konversionsforschung. Paul Klemmer hat dies bereits 1995 erkannt: „Konversion [darf] nicht nur mit Transformation des Rüstungskomplexes in einen auf zivile Güter ausgerichteten Produktionskomplex gleichgesetzt werden, sondern kann auch als eine interne Umstrukturierung des Militärkomplexes selbst interpretiert werden.“5

Vor dem Hintergrund der nun plötzlich von der Weltgemeinschaft beachteten Bürgerkriege entstand am Anfang der 90er Jahre nicht nur die moralische Notwendigkeit, ein Konzept für »menschliche Sicherheit« zu entwerfen. Auch die Idee des »peace-keeping« und sogar »peace-enforcement« wurde in bis dato nicht gekannter Klarheit formuliert.6 Seiner alten Feindbilder und Aufgaben beraubt, nahm sich die Nordatlantische Allianz dieser Herausforderung dankbar an (Weißbuch 1994). Das aus dieser Vereinigung geborene Phänomen des »humanitären Krieges«7 entpuppte sich jedoch schnell nicht nur als ein begrifflicher Widerspruch, sondern auch – und vor allem – als ein das Militär selbst durchschneidender Widerspruch seines eigenen, historisch gewachsenen Selbstbildes. Denn erfolgreiches »peace-keeping« setzt, ungleich den Ausbildungserfordernissen des »Kalten Krieges«, ein radikales Umdenken militärischer Aufgaben und militärischer Doktrin voraus. Die notwendige Überwindung eines statischen Freund/Feind Schemas bedarf einer grundlegenden Transformation der strategischen und taktischen Einsatzgrundsätze des Militärs. Auch das mentale Selbstverständnis des »Soldat-sein« muss in den sich verändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Mit Rückblick auf die 90er Jahre und die andauernden Probleme militärischer »Friedenseinsätze« ist festzuhalten, dass sich der Militärkomplex westlicher Streitkräfte als gegenüber den neuen Aufgaben häufig als unflexibel herausgestellt hat. Konversionsforschung kann einen Beitrag dazu leisten, den nötigen inner-militärischen Wandel kritisch und unabhängig zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls, durch anwendungsorientierte Beratung von Entscheidungsträgern und über die Öffentlichkeit, zu forcieren, um neue Perspektiven und Möglichkeiten zukünftiger Friedensoperationen, insbesondere für den Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit, zu entwickeln und auf Schwierigkeiten hinzuweisen. Vor allem muss sie sich aber den inhärenten Widersprüchen der neuen Konzepte stellen, sich mit ihnen sowohl praktisch als auch theoretisch auseinandersetzen, und deren (Un)Möglichkeiten in Bezug auf potenzielle neue Krisenherde ausloten. Ein solches Unterfangen ist alles andere als einfach. Um der neuen Herausforderung des »peace-keeping« gerecht zu werden, muss der notwendige Wandel militärischer Denkmuster nämlich den originären Berechtigungsgrund des Militärischen, sprich die unbedingte Identifikation des Feindes, in Frage stellen.

Problemskizzen

Nachdem auf mögliche Richtungen einer Weiterentwicklung der Konversion, insbesondere in Richtung Entwicklung und Frieden, hingewiesen wurde, sollen abschließend zwei noch immer bestehende Problematiken kurz dargestellt werden. Die erste bezieht sich auf ein spezifisches Problem aktueller Kriege, die zweite auf den nach dem 11. September 2001 intensivierten Militarisierungstrend in den Vereinigten Staaten.

Die »neuen« Kriege der vergangenen Jahre, in Osteuropa und im Süden, weisen nicht nur auf die Dringlichkeit eines andauernden Nachdenkens über Chancen und Möglichkeiten der Konversion hin. Von einer anderen Perspektive aus betrachtet, stellen sie die Konversion selbst in Frage. Das grundlegende Konzept einer Konversion beruht nämlich auf der Annahme einer unproblematischen Existenz zweier klar voneinander zu unterscheidenden Domänen – dem »Militärischen« und dem »Zivilen«. Eine der vielleicht am besorgniserregendsten Charakteristiken vieler aktueller Kriege und Konflikte ist, dass genau diese beiden Kategorien ineinander zu verschwimmen drohen. Als Beispiel sei der Zerfall von Staatsstrukturen und die sich daraus ergebende Privatisierung des Sicherheitsmonopols genannt. Eine sinnvolle Konversion muss also häufig zuerst die Parameter erforschen, auf Grund derer sie überhaupt erst möglich wird. Dies ist zwar kein neues Problem für die Konversionsforschung – es stellt sich zum Beispiel auch durch die Problematik des »dual-use«-Charakters vieler moderner Technologien – aber seine Bedeutung nimmt zu.

Im Rahmen der von »präventiven Interventionen« bestimmten neuen US-Außenpolitik könnte sich der Konversionsforschung ein breites Tätigkeitsfeld unter dem Schlagwort »nation-building« eröffnen. Das Gebot der Stunde lautet Gesellschaftskonversion, der Übergang von Diktatur zu Demokratie. Wobei diese Frage sicherlich von hoher aktueller Brisanz ist, so muss sich die Konversionsforschung sehr hüten, sich nicht als beratendes Element einer aggressiven Interventionspolitik instrumentalisieren zu lassen, die die Welt nach westlichem Muster zu strukturieren versucht. Konversionsforschung ist mehr als nur die praktisch-utilitaristische Beratung zur Effizienzsteigerung bereits bestehender und als unproblematisch empfundener Sicherheitspolitik, sei es im Namen eines nationalen Interesses oder auch der menschlichen Sicherheit. Konversions- und Friedensforschung muss auch die ontologischen Grundlagen, Denkmuster und Diskurse hinterfragen, die eine solche Politik überhaupt erst in Erscheinung treten lassen und sich um die Formulierung realistischer Alternativen und Perspektiven bemühen.

Mit Hinblick auf ihre normative Grundeichung muss die Konversionsforschung – wie auch schon zur Zeit des »Kalten Krieges« – weiterhin eine Kritik orthodoxer Sicherheitsvorstellungen bleiben. Häufig wird der »Feind« erst im Moment seiner Kenntnisnahme und den damit verbundenen Abwehr- sprich Aufrüstungsmaßnahmen überhaupt erschaffen. Die zur Zeit stattfindende Popularisierung eines Weltbildes vom »clash of civilizations« (S. Huntington) – sei es von morgen- oder abendländischer Seite propagiert – hat den Bedarf nach realistischen und vor allem kritischen Antworten seitens der Wissenschaft deutlich erhöht. Eine sich ernst nehmende Konversionsforschung muss auf die einer permanenten Dialektik der (Un)Sicherheit verhafteten populärpolitischen Militarisierungsdiskurse hinweisen und Alternativen aufzeigen können, die stattdessen einen Beitrag zu wirklicher globaler Sicherheit, und somit menschlicher Entwicklung, zu leisten vermögen.

Unter Berücksichtigung der in diesem Artikel angerissenen Perspektiven stellt sich das BICC den vielfältigen neuen Aufgaben der Konversionsforschung mit seinem gewandelten Profil. Nach wie vor verstehen wir Konversion als einen Prozess, der darauf abzielt, Sicherheit und Entwicklung zu unterstützen. Unser Hauptanliegen ist es, die zu diesem Zweck unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Erfordernisse und Entwicklungen durch anwendungsorientierte wissenschaftliche und beratende Arbeit zu untermauern und zu forcieren. Die Notwendigkeit hierzu hat auch lange nach Ende des »Kalten Krieges« nicht abgenommen. Im Gegenteil, insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 erscheint vielen die Welt unsicherer als jemals zuvor. Das BICC als internationaler Think Tank und Beratungseinheit setzt sich somit verstärkt auf nationaler und internationaler Ebene mit konversionsrelevanten Fragen dieser neuen Unsicherheit auf interdisziplinäre, praxisorientierte und vor allem innovative Weise auseinander.

Anmerkungen

1) John Herz: Das Sicherheitsdilemma im Atomzeitalter. In: Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart, 1950, S. 130-7.

2) Human Security Now, Final Report of the Commission on Human Security, 2003, S. 4.

3) Kofi Annan: Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, General Assembly Official Records Fifty-fifth session Supplement No.1 (A/55/1), New York, United Nations, 2000, p.4.

4) Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln,Leske + Buderich, Opladen, 1998.

5) Paul Klemmer: Konversion – Dimensionen eines komplexen Forschungsfeldes. In: Konversion – Herausforderung für Wissenschaft und Forschung, BICC Report 7, Bonn, 1995, S. 16.

6) Boutros Boutros Ghali: Agenda for Peace, 1993.

7) Adam Roberts: Humanitarian War – military intervention and human rights. In: International Affairs, 69(3), 1993.

Peter Croll ist Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) Marc von Boemcken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am selben Institut

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Möglichkeiten und Grenzen in der Politikberatung

von Annette Schaper

Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung zählt zu den größten deutschen Friedensforschungsinstituten. Während sich die anderen Forschungseinrichtungen in der Regel auf einen oder wenige Schwerpunkte konzentrieren, bearbeiten die Mitarbeiter der HSFK ein sehr breites Themenspektrum. Es enthält Analysen der aktuellen Krisenherde genauso, wie Untersuchungen des Verhältnisses Europa-USA und der neuen Welt(un)ordnung. Schwerpunkt sind sicher die Arbeiten zum Verhältnis »Demokratien und Frieden«. Der Leiter der HSFK, Harald Müller, hat dazu in W&F 2-2003 den Artikel »Die Arroganz der Demokratien – Der demokratische Frieden und sein bleibendes Rätsel« veröffentlicht. In folgendem Beitrag verdeutlicht Annette Schaper die Politik beratende Arbeit der HSFK im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Durch die Erfindung von Kernwaffen entstand zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Gefahr, dass sie sich in einem Krieg selbst auslöschen könnte. Während des Ost-West-Konfliktes gab es einen beispiellosen nuklearen Rüstungswettlauf. Die Zahl der weltweit existierenden Sprengköpfe, die Ende 1945 gerade sechs Sprengköpfe umfasste, war 1952 auf 1.005 auf amerikanischer und fünf auf sowjetischer Seite angestiegen. Der Höchststand war 1986 erreicht, mit rund 23.000 amerikanischen und 40.000 sowjetischen Sprengköpfen. Hinzu kamen je einige hundert in Großbritannien, Frankreich und China. Berühmt wurde der Begriff »Overkill«, der angibt, wie oft sich die Menschheit mit diesem Arsenal auslöschen könnte.

Neben der quantitativen Aufrüstung fand ein qualitativer Rüstungswettlauf statt. Im August 1949 explodierte die erste amerikanische und im August 1953 die erste sowjetische Wasserstoffbombe. Im Gegensatz zu den frühen Kernwaffen, die nur auf Kernspaltung beruhen, findet bei der Explosion einer Wasserstoffbombe auch eine Kernverschmelzung statt. Mit dieser Technik sind noch viel energiereichere Explosionen möglich. Die größte Nuklearexplosion mit 58 Megatonnen, soviel wie ungefähr 30.000 Hiroschima-Bomben, wurde 1961 von der Sowjetunion gezündet. In den Ausbau ihrer Forschung und Entwicklung und in ihre Produktionskomplexe investierten die USA und die Sowjetunion massiv. Bald gab es eine Vielzahl von technischen Variationen. Die Sprengköpfe wurden leichter, so dass sie auf Raketen montiert werden konnten, die elektronischen Kontroll- und Sicherungssysteme wurden komplexer, die Explosionsenergien in den ersten beiden Jahrzehnten des »Kalten Krieges« immer größer.

Strategien und Rüstungskontrolle zielten daher seit Beginn des »Kalten Krieges« darauf ab, den Einsatz dieser Waffen durch Abschreckung zu vermeiden. Tatsächlich ist es zwischen den beiden Machtblöcken während des »Kalten Krieges« niemals zu einem Einsatz gekommen. Ob diese Situation auch auf Dauer stabil geblieben wäre, wenn der »Kalte Krieg« weiter fortgedauert hätte, ist umstritten. Es ist ebenfalls umstritten, ob nach dem Ende des »Kalten Krieges« diese Gefahr bereits gebannt ist, oder ob die Welt nicht sicherer dastünde, wenn alle Kernwaffen von der Erde verschwänden.

Seit Bestehen der HSFK führen wir Forschungsprojekte zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle durch. Sie befassen sich sowohl mit der Analyse des aktuellen Geschehens mit dem Ziel der Politikberatung für die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit als auch mit grundsätzlichen Analysen, um die Ursachen der rüstungsdynamischen Prozesse zu verstehen und längerfristige Handlungsoptionen für die internationale Gemeinschaft zu entwickeln. Unsere Arbeit basiert daher auf zwei Pfeilern – Theorie und Praxis. Die Praxisnähe wäre ohne ständigen Kontakt und Austausch mit den Entscheidungsträgern nicht möglich. Diese sind Beamte (v.a. des Auswärtigen Amts, des Verteidigungsministeriums, des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft und des Bundesausfuhramts), Politiker aller demokratischen Parteien und ihre Mitarbeiter, Diplomaten, die in verschiedenen internationalen Foren mit nuklearer Rüstungskontrolle befasst sind, Vertreter von Interessengruppen, z.B. aus der Wirtschaft und auch entsprechende Kollegen und Kolleginnen aus anderen Ländern.

Im Folgenden einige Beispiele für Forschungsfelder und Politikberatung zu nuklearer Abrüstung:

Nukleare Abrüstung: Erste Schritte zur Gefahrenabwendung

Nukleare Abrüstung ist sowohl ein politischer als auch ein technischer Prozess. In einem ersten Schritt muss ein Inventar der abzurüstenden Systeme erstellt werden. Leider gibt es bis heute keine offiziellen Angaben über die Zahl der Sprengköpfe in den Kernwaffenstaaten, es fehlt an internationaler Transparenz und an Verpflichtungen, Zahlen zu Kernwaffenbeständen offen zu legen. Eine Transparenzmaßnahme wäre zum Beispiel das bereits 1993 vom deutschen Außenminister vorgeschlagene Kernwaffenregister bei den Vereinten Nationen. Die nächsten Schritte sind Verminderung der Alarmbereitschaft, Löschen der Zielprogrammierung und Verlängerung der Vorwarnzeiten, z.B. durch Aufschütten von Erde auf Silos. Maßnahmen in diese Richtung finden statt, allerdings nur auf freiwilliger Basis und ohne Verifikation. Die USA und Russland haben Deaktivierungsmaßnahmen angekündigt, der Grad ihrer Implementierung ist jedoch nicht bekannt. Alle diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Gefahr eines versehentlichen Atomkrieges zu verkleinern und sind auch in unserem Sicherheitsinteresse. Daher ist der Bundesregierung zu empfehlen, sich für eine Beschleunigung dieser Abrüstungsmaßnahmen, eine stärkere Verpflichtung und mehr Transparenz über ihre Implementation einzusetzen.

Nukleare Abrüstung: START und SORT

Im nächsten Abrüstungsschritt müsste man die Sprengköpfe von ihren Trägersystemen separieren und die Träger verschrotten. Die Verpflichtung hierzu ist in den START-Verträgen für bestimmte strategische Systeme festgelegt, ebenso umfangreiche Verifikationsmaßnahmen. Die beiden START-Verträge berühren jedoch nicht die Verschrottung von Sprengköpfen und auch nicht den Abbau von taktischen Kernwaffen. Lange bestand die Hoffnung, dass die Verschrottung von Sprengköpfen Gegenstand eines START-III-Vertrages werden würde. Dies hatten die Präsidenten Clinton und Jelzin auf dem Helsinki-Gipfel im März 1997 angekündigt. Obwohl auf freiwilliger Basis auch Sprengköpfe zerlegt werden, würde die Verpflichtung hierzu in einem internationalen Vertrag ihre Irreversibilität erhöhen. Es wäre dann viel schwieriger wieder aufzurüsten.

Es kam jedoch anders: Der Folgevertrag – genannt Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) – den Bush und Putin am 24. Mai 2002 unterzeichneten, umfasst lediglich 475 Worte. Er verpflichtet beide Seiten, ihre stationierten strategischen Systeme bis zum Dezember 2012 auf 1.700 – 2.200 zu reduzieren, aber er enthält keinerlei Bestimmungen darüber, was mit den Trägersystemen oder den Sprengköpfen geschehen soll. Jede Seite kann selbst über die Zusammensetzung ihrer Arsenale bestimmen. Ein bilaterales »Vertragskomitee« wird sich zweimal jährlich treffen, bis der Vertrag 2012 ausläuft. Die Verpflichtungen erlöschen an diesem Datum und im Prinzip können beide Seiten sofort wieder aufrüsten. Darüber hinaus sind keine Transparenz- oder Verifikationsmaßnahmen vorgesehen. Außerdem kann der Vertrag mit kurzer Frist gekündigt werden. Beide Seiten bleiben also in der Vertragserfüllung extrem flexibel.

SORT bleibt weit hinter den Erwartungen zurück, die der Helsinki-Gipfel 1997 geweckt hatte. Die beiden zentralen Anliegen der Helsinki-Erklärung waren Transparenz und Irreversibilität der nuklearen Abrüstung, also eine weitest mögliche Offenlegung des Prozesses mittels intrusiver Verifikation sowie maximale Unumkehrbarkeit. Der SORT-»Vertrag« verzichtet im Gegenteil auf jegliche Transparenzmaßnahmen und erlaubt, nach seinem Auslaufen 2012 oder nach einer kurzfristigen Kündigung sofort wieder aufzurüsten.1

Diese Einschätzung und das Bedauern über diese Entwicklung wird von den meisten deutschen Entscheidungsträgern geteilt. Mit unserer Politikberatung laufen wir daher offene Türen ein. Auf internationalem Parkett finden wir ebenfalls viele Gleichgesinnte. Es ist jedoch – nicht überraschend – nicht gelungen, die amerikanische Regierung zu einer ähnlichen Beurteilung zu bewegen.

Auf der eher theoretischen Ebene befassen wir uns u.a. mit der grundsätzlichen Bedeutung von Transparenz und Irreversibilität in der nuklearen Rüstungskontrolle. Selbst bei gutem Willen hat man das fundamentale Problem, dass bestimmte technische Informationen über Kernsprengköpfe geheim bleiben müssen, um Risiken der Weiterverbreitung zu minimieren.

Nukleare Abrüstung: Entsorgung des Waffenmaterials

Nach der Demontage von Sprengköpfen liegen die Komponenten aus Nuklearmaterial – genannt Pits – zunächst intakt vor. Die Lagerung von intakten Pits darf aber kein Dauerzustand werden, denn damit ist eine Wiederaufrüstung sehr schnell möglich. Richtig irreversibel wird der Abrüstungsprozess erst, wenn das Material in eine Form überführt worden ist, die größere technische Hürden gegen eine Verwendung für Kernwaffen aufbaut. Im Falle hochangereicherten Urans (dies ist eines von zwei möglichen Nuklearmaterialien) gibt es eine technische Lösung, die sogar begrenzt wirtschaftlich ist: Das Uran wird als waffentauglicher Reaktorbrennstoff verwendbar. Im Falle des anderen für Kernwaffen verwendeten Materials, des Plutoniums, ist die Situation schwieriger. Zwei Vorschläge wurden ernsthaft erwogen, die Verarbeitung zu Mischoxid-Brennelementen (MOX) mit anschließender Bestrahlung in Kernreaktoren und die Vermischung mit radioaktivem Abfall mit anschließender Verglasung und Endlagerung.2 Von diesen beiden blieb nach eingehenderen Untersuchungen nur die MOX-Option als einzige realistische übrig.

Das Problem der Abrüstung von Waffenplutonium war relevant für die deutsche Politik, da sich die Frage stellte, ob die nie in Betrieb gegangene Hanauer MOX-Anlage hierfür hätte genutzt werden können. Der Vorschlag aus der HSFK, das russische Plutonium gleich in Hanau zu verarbeiten, hatte – kaum überraschend – keine Realisierungschance, mangels öffentlicher Akzeptanz.3 Ein realistischerer Vorschlag – der Export von Anlagenteilen nach Russland zum Zweck der Abrüstung4 – scheiterte nach längeren Debatten aus dem gleichen Grund. Die Debatte in Deutschland war so polarisiert, dass schließlich sogar die finanzielle Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen Projekt der Industriestaaten zur Entsorgung von Waffenplutonium in Russland scheiterte. Dies stellt das Gelingen des gesamten Projekts in Frage, da der Finanzaufwand enorm und noch nicht gesichert ist. Deutschland beteiligt sich stattdessen an einigen anderen Abrüstungsprojekten. Einige sind wichtig, andere im Vergleich zum Problem der Plutoniumentsorgung weniger relevant.5

Zu diesem Thema haben wir uns aktiv an der deutschen und internationalen Debatte beteiligt. Es war zu beobachten, dass die meisten Entscheidungsträger, die sich intensiv mit dem Thema befasst hatten, zu einer ähnlichen Einschätzung gelangten wie wir, unabhängig von Parteipräferenz. Die Entsorgung des Plutoniums mittels MOX-Technologie bedeutet in diesem Fall nämlich kein Einstieg in die Plutoniumwirtschaft, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so aussieht. Eine solch intensive Beschäftigung blieb jedoch einem kleinen Kreis vorbehalten. Daher war es nicht möglich, für diesen Vorschlag eine breitere Unterstützung zu finden.

Nukleare Abrüstung: Rüstungskontrollverträge

Der einzige Vertrag, der die Kernwaffenstaaten verpflichtet, vollständig abzurüsten, ist der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), früher auch »Atomwaffensperrvertrag« genannt. 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die regelmäßige Überprüfung des Vertrages verstärkt werden und dass dafür eine Liste von Kriterien beachtet werden soll, die so genannten Prinzipien und Ziele der NVV-Überprüfung. Das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung wird darin bekräftigt und einzelne Maßnahmen, wie z.B. der Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) und ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen, genannt »Cutoff«, als förderlich für dieses Ziel benannt.

Die Verhandlungen zum CTBT wurden zwar 1996 erfolgreich abgeschlossen, seine Ratifikation seitens der USA, unabdingbar für das Inkrafttreten, fehlt jedoch. Die Bush-Administration in ihrer Skepsis gegenüber jeder Rüstungskontrolle hat nicht vor, sich noch mal um eine Ratifizierung zu bemühen, im Gegenteil, sie will wieder neue Sprengköpfe entwickeln und schließt längerfristig weitere Nukleartests nicht aus.6 Während der CTBT-Verhandlungen standen wir der deutschen Delegation beratend zur Seite. Dadurch entstand eine wechselseitige Beeinflussung, die einerseits die deutsche Verhandlungsposition zwischenzeitlich beeinflusste, uns andererseits aber ein sehr realistisches Bild vermittelte, wie begrenzt der Spielraum auf internationalem Parkett ist, wenn ein Verhandlungsgegenstand im eigenen Land nur auf schwaches Interesse stößt und daher keine starke Lobby hat.Zum Cutoff haben wir uns ebenfalls stark politikberatend engagiert und sind bei deutschen Partnern nur offene Türen eingerannt. Aber nach 1996 kam es wegen Meinungsverschiedenheiten in der Genfer Abrüstungskonferenz zu keinen Verhandlungen mehr und verschiedene Bemühungen, nicht nur von deutscher Seite, sind wirkungslos verpufft.7

Insbesondere infolge der Ablehnung von internationalen Verpflichtungen, Gremien und nuklearer Rüstungskontrolle seitens der Bush-Administration steht die weitere Zukunft der nuklearen Abrüstung und damit auch die Eindämmung der Nichtverbreitung auf dem Spiel. Die Bundesregierung hat im Gegensatz zur Bush-Regierung das Ziel, die internationalen Verpflichtungen zu stabilisieren und zu stärken. Allerdings hat die nukleare Rüstungskontrolle in der Vielzahl der Politikfelder eine starke Konkurrenz und eine vergleichsweise schwache Lobby. So wird sie oft genug anderen Interessen geopfert. Unsere Politikberatung erreicht zwar die zuständigen Fachleute. Aber deren Einfluss ist begrenzt. Politikberatung ist nicht mit Lobbyarbeit zu verwechseln, da wir keine weiteren Eigeninteressen verfolgen. Um der nuklearen Abrüstung in Deutschland ein stärkeres Gewicht zu verleihen, wäre ein viel stärkeres öffentliches Interesse notwendig.

Anmerkungen

1) A. Schaper: Die Aufwertung von Kernwaffen durch die Bush-Administration, In: Corinna Hauswedell et. Al (Hrsg.): Friedensgutachten 2003, Münster 2003, p.138.

2) National Academy of Sciences (NAS): Committee on International Security and Arms Control (CISAC), Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium, Washington 1994; NAS, CISAC, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium: Reactor Related Options, Washington 1995.

3) Hier ist zu betonen, dass es zwar Vorschläge und Meinungen {u}aus{/u} der HSFK gibt, nicht jedoch {u}der{/u} HSFK. Das Institut als solches gibt keinerlei Stellungnahmen ab, alle geäußerten Meinungen sind die von einzelnen Mitarbeitern. Zu Einzelheiten des Vorschlags siehe: A. Schaper: Using Existing European MOX Fabrication Plants for the Disposal of Plutonium from Dismantled Warheads, in: W.G. Sutcliffe (Ed.): Selected Papers from Global ‘95, UCRL-ID-124105, Livermore, June 1996, p.197.

4) National Academy of Science and German-American Academic Council (GAAC): U.S.-German Co-operation in the Elimination of Excess Weapons Plutonium, July 1995.

5) Vgl. A. Schaper: Deutsche Abrüstungshilfe für russisches Waffenplutonium – Ein Plädoyer, in: Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Ratsch (Hrsg.): Friedensgutachten 2001, Münster 2001, S.283.

6) A. Schaper: Friedensgutachten 2003, siehe Fußnote 1.

7) Die Vorgänge in der CD sind dokumentiert und analysiert in den Publikationen des Acronym-Instituts. Auf seiner Webseite sind alle Publikationen herunterladbar: www.acronym.org

Dr. Annette Schaper ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Missbrauch von Naturkräften eingrenzen

Missbrauch von Naturkräften eingrenzen

Forschung und Politikberatung für Abrüstung

von Götz Neuneck

Die nunmehr zwanzigjährige Abschlusserklärung des Mainzer Kongresses »Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung«, der am 2. und 3. Juli 1983 mit 3.000 Teilnehmer(inne)n in Mainz stattfand, enthält den programmatischen Satz: „Naturwissenschaftler tragen eine besondere Verantwortung, weil einige ihr Expertenwissen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen missbrauchen ließen und andere dazu geschwiegen haben. Wir haben die Pflicht, über die Grenzen des Missbrauchs von Naturkräften nachzudenken und ihm mit Entschiedenheit entgegenzutreten.“1 Dieses aus der Tradition der Russell-Einstein-Erklärung von 1955 und der Göttinger Erklärung von 1957 stammende Denken muss mit konkreter Arbeit gefüllt und in die Realität umgesetzt werden. In den Zeiten des »Kalten Krieges« haben viele Wissenschaftler/innen dazu beigetragen, dass die Folgen des fortschreitenden Wettrüstens und der Gefahr eines globalen Nuklearkrieges der Öffentlichkeit und den Regierungen deutlich gemacht wurden.2 In den 80er Jahren leisteten viele Gruppen mit naturwissenschaftlichem Hintergrund national wie international durch Kongresse, Workshops und Publikationen einen wichtigen Beitrag zur Dämpfung der Überrüstung und zu ihrer Einhegung durch Rüstungskontrolle und Abrüstung. Insbesondere amerikanische, sowjetische und europäische Wissenschaftler bildeten ein wichtiges Diskussionsforum und ein Kontaktnetzwerk zwischen Politik und Wissenschaft. Sie initiierten Rüstungskontrollvorschläge und halfen die umfassende vertragsbasierte Rüstungskontrollarchitektur zu errichten. Angesichts neuer Aufrüstungsschübe und der unbeeinflussten Rüstungsdynamik scheint diese Arbeit heute wieder wichtiger denn je zu sein.
In Deutschland hatte insbesondere die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses und des SDI-Programms viele Naturwissenschaftler(innen) an diversen Hochschulen mobilisiert. In den 80er Jahren fanden in deutschen Hochschulen Ringvorlesungen, Seminare und Projekte statt, die sich intensiver mit Fragen des Wettrüstens, der Rüstungsdynamik und der Abrüstung auseinander setzten. Schwerpunkte waren strategische Raketenabwehr, die Weltraumrüstung sowie die Verifikation und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Die Gründung naturwissenschaftlich-orientierter Gruppen in Deutschland

Die Volkswagenstiftung ermöglichte ab 1988 die Anschubfinanzierung für drei naturwissenschaftlich arbeitende Forschungsgruppen in Bochum, Darmstadt und Hamburg.3 Das Bochumer Verifikationsprojekt untersuchte den Einsatz von Sensoren für die kooperative Verifikation zur Beschränkung von Land- und Luftfahrzeugen, die Darmstädter IANUS-Gruppe bearbeitete das Themenfeld der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung atomarer/biologischer Waffen sowie deren Trägersysteme und die Hamburger CENSIS-Gruppe befasste sich mit der automatischen Auswertung von Luft- und Satellitenbildern für die Verifikation und Umweltüberwachung sowie mit konventionellen Waffentechnologien und der Raketenproliferation. Im Laufe der Jahre wurden die Aktivitäten der Gruppen ausgebaut und aktuellen Fragestellungen angepasst.4 Es ergaben sich Arbeitskontakte zu den etablierten Forschungsinstituten ebenso wie Möglichkeiten, Diplom- und Doktorarbeiten durchzuführen. 1996 schlossen sich die Gruppen zum Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS) zusammen.

Im FONAS-Kreis wurden über 20 meist naturwissenschaftliche Diplom- und Doktorarbeiten erarbeitet.5 Dies ist insofern bemerkenswert, als anfänglich in einzelnen Fakultäten die Skepsis bezüglich der Behandlung von naturwissenschaftlichen Fragen mit politischem Hintergrund überwog. Inzwischen bestehen reichhaltige Erfahrungen, wie naturwissenschaftliche Methoden mit friedenspolitischen Fragen verbunden werden können. Da eine Vielzahl von Disziplinen wie die Physik, Mathematik, Informatik, Biologie aber auch die Politikwissenschaft, Sozialethik oder das Völkerrecht konstitutiv für die Bearbeitung der jeweiligen Fragestellungen war, wurde ein umfassendes Netzwerk von verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen an den jeweiligen Universitäten und darüber hinaus errichtet. Heute bildet dieser Verbund, der inzwischen auch eine internationale Anbindung hat, eine wertvolle Expertise und einen Erfahrungsschatz im Schnittfeld von Naturwissenschaft, Technologie, Friedensforschung, Politik und Öffentlichkeit. Dennoch ist die Arbeit immer noch stark von Drittmitteln abhängig und sie hat nicht den Grad gesicherter Kontinuität erreicht, der z.B. in den USA etabliert ist. In zu hohem Maße sind die Arbeiten vom Engagement und dem Ethos friedensbewegter Nachwuchswissenschaftler(innen) abhängig. FONAS hat bereits frühzeitig auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass nach wie vor die dauerhafte Einrichtung von entsprechenden Professuren und naturwissenschaftlich arbeitenden Forschungsgruppen notwendig ist.6 Nur so kann die erarbeitete Expertise gesichert und weiterentwickelt werden. Die von der DSF ausgeschriebene »Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftungsprofessur« wird hier einen ersten bedeutenden Beitrag leisten.7Der 1996 gegründete Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) hat insbesondere auch die Aufgabe, die Arbeit der Gruppen zu koordinieren, zu bündeln und die Kontakte zu Politik und Öffentlichkeit zu verstärken.8 Die Halbjahrestreffen ermöglichen eine intensive Forschungsdiskussion; ein Rundbrief informiert die ca. 50 Mitglieder über die Ergebnisse, lokalen Aktivitäten und Tagungsbeiträge. Die Ergebnisse der Projekte bzw. die Ergebnisse internationaler Zusammenarbeit werden seit 1996 bei den – bisher 14 – »FONAS-Fachgesprächen« vorgestellt. In der Bundeshauptstadt werden regelmäßig Mitglieder des Bundestags, Fachleute der Ministerien sowie Fachjournalist(inn)en eingeladen, um sie über aktuelle rüstungskontrollpolitische Fragen und Forschungsresultate zu informieren. Als besonders erfolgreich kann das 7. Fachgespräch (22. März 2000) gelten, bei dem Richard Garwin/ Council of Foreign Relations und Ted Postol/MIT die grundlegende Kritik an den Plänen der US-Administration zur Raketenabwehr darlegten. In der Folgezeit wurden die Arbeiten zur Raketenabwehr eine wichtige Expertise, auf die auch das Auswärtige Amt zurückgriff.

Schwerpunkt des 11. Fachgesprächs war der im Jahr 2002 in Kraft getretene »Open-Skies-Treaty«-Vertrag. Hierdurch wurde der gesamte Luftraum der Mitgliedstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für kooperative Beobachtungsflüge geöffnet. Da Deutschland zu diesem Zeitpunkt über kein eigenes Fluggerät verfügte, bestand Handlungsbedarf und technische Begleitforschung war notwendig. Ein Memorandum verlieh der Forderung nach einer eigenen fliegenden Open-Skies-Plattform Ausdruck. Heute besteht auf diesem Gebiet eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen.

Auf Fachgesprächen wurden zudem immer wieder die Forschungsergebnisse der Gruppen vorgestellt, so die Arbeiten zur Proliferationsresistenz aus Darmstadt oder die Arbeiten zur akustischen und seismischen Sensorverifikation aus Bochum. Die Gruppen halten zudem Einzelkontakte zu interessierten Parlamentariern und Ministerien und werden immer wieder zu Einzelgesprächen und Expertentreffen eingeladen. Im März 2001 konnten schließlich die Ergebnisse eines Verbundantrages vorgestellt werden, der durch die BMBF-Projektförderung ermöglicht wurde.9 Hier wurden an den Fallbeispielen Raketenabwehr, B-Waffen/Biotechnologie, Mikrosystemtechnik, Plutoniumbestände die Methoden, Kriterien und Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle überprüft. Die folgende Tabelle zeigt wichtige Projekte der naturwissenschaftlichen Abrüstungsforschung in Deutschland seit 2000, als die Bundesregierung über das BMBF die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung wieder aufnahm, was auch der naturwissenschaftlichen Arbeit zugute kam. Wichtige Ergebnisse zur Sicherheit von Nuklearmaterialen, dem Open-Skies-Vertrag oder der modernen Kriegsführung werden immer wieder dargestellt in Zeitschriften wie »Spektrum der Wissenschaft« oder »Science and Global Security«.Bei all den positiven Beispielen soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass zwischen »wissenschaftlich orientierter Politikberatung« und »praktischer politischer Anwendung« auch natürliche Differenzen vorhanden sind.10 Politiker wollen stets mit Informationen und im FONAS-Fall mit technischen Expertisen versorgt werden. Dies ist in klar definierten Fällen möglich, bedeutet jedoch noch nicht automatisch, dass sich daraus fertige, übernehmbare und einfach umzusetzende Handlungsanweisungen ergeben. Über diese hat letztlich die Politik selbst zu entscheiden und diese auch zu verantworten. Aufgabe der Wissenschaft muss es insbesondere sein, auf die Gefahren, Probleme und Konsequenzen negativer, wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen hinzuweisen und die jeweiligen Widersprüche aufzudecken. Ein Beispiel ist hier der Nuklearterrorismus: Während es allgemein üblich ist, die Gefahr einer Nuklearexplosion durch die »Osama bin Ladens« anzuführen, zeigen die Bestandsaufnahmen waffenfähiger Arsenale, dass das Material für einen solchen Anschlag nur aus den übervollen waffenrelevanten Beständen der Kernwaffenstaaten stammen kann, für deren Sicherheit die Staaten selbst verantwortlich sind. Nukleare Abrüstung und die Verbesserung der Materialsicherheit sind hier die richtigen Antworten. Oft zeigt sich auch, dass Politiker nur handeln, wenn der Druck groß genug ist. Ein Problem wissenschaftlicher Politikberatung ist schließlich, dass manche Friedensforscher davon ausgehen, dass die Politik direkt ihrem Rat folgt oder dass mit wissenschaftlichen Kriterien Politik gemacht werden kann. Dies ist aber nur selten der Fall.

FONAS und die Deutsche Physikalische Gesellschaft

Dass die in Bochum, Darmstadt und Hamburg getätigten Forschungsergebnisse auch in der physikalischen Fachgesellschaft etabliert sind, zeigen die Fachsitzungen »Physik und Abrüstung« bei den Frühjahrstagungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die heute über 45.000 Mitglieder hat und auf eine reichhaltige Tradition zurückblicken kann. Seit 1995 werden hier, organisiert durch den FONAS-Kreis, eigene Fachsitzungen zu Abrüstung und Verifikation durchgeführt. Schwerpunkte der letzten Jahre waren u.a. Teststopp, Kernwaffenabrüstung, Raketenabwehr, Verifikation, Minensuche, präventive Rüstungskontrolle, die Proliferationsresistenz und der Nuklearterrorismus. Auch in anderen naturwissenschaftlich-technischen Fachgesellschaften gibt es Aktivitäten, so im Bereich Minensuche und bei den B-Waffen. 1998 konnte in der DPG der Arbeitskreis »Physik und Abrüstung« gegründet werden, der die Arbeiten koordiniert und Kontakt zur DPG-Führung hält.11 Es gelang zudem, die »Max von Laue«-Vorlesung dauerhaft zu etablieren, deren Aufgabe es ist, gesellschaftliche Fragen naturwissenschaftlicher Verantwortung zu vertiefen. Schließlich wurde im Jahr 2003 die »Atomtestkommission der DPG« reaktiviert, die noch in diesem Jahr einen Bericht zur Lage des vollständigen Teststoppvertrages erarbeiten wird.

FONAS, die Ausbildung und die internationale Anbindung

Unterschätzt werden darf auch keinesfalls die Aus- und Weiterbildung von Nachwuchs im Bereich »Naturwissenschaft und Friedensforschung«. Dies bezieht sich einerseits auf die Schulung von Naturwissenschaftlern in Bezug auf die Konsequenzen ihres Tuns und die Anwendung ihrer Methoden, aber auch auf die ambivalenten Probleme ihrer instrumentellen Fähigkeiten und Ergebnisse. Diplom- und Doktorarbeiten helfen hier ebenso wie interdisziplinäre Seminare an naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Zum anderen sollten auch Sozial- und Geisteswissenschaftler über grundlegende Kenntnisse naturwissenschaftlicher Methodik verfügen. An der Universität Hamburg wird z.B. durch das IFSH im Verbund mit einer Reihe von Fakultäten seit einem Jahr der Masterstudiengang »Peace and Security Policy« durchgeführt.12 Hier können auch Naturwissenschaftler(innen) in einem einjährigen, postgradualen Studiengang den »Master of Peace and International Security« erwerben. Für Studierende mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund gibt es eine Vorlesung zu »Naturwissenschaftlichen Methoden in der Friedensforschung«, die gleichzeitig für Studierende aller Fakultäten offen ist.

Die kleine FONAS-Szene ist inzwischen auch international gut integriert. Gemeinsame Projekte und Wissenschaftleraustausch finden statt, so z.B. mit dem »Defense Studies Program« des MIT. Internationale Workshops werden organisiert und regelmäßig nimmt deutscher Nachwuchs an den jährlichen Summer Symposiums on Science and World Affairs teil. Insgesamt hat sich die naturwissenschaftlich orientierte Friedens- und Abrüstungsforschung in Deutschland seit 1985 zu einem wichtigen Pfeiler der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsszene entwickelt.

Aktuelle Forschungen und Projekte

Ein Beispiel für aktuelle Forschungen ist der FONAS-Projektverbund »Präventive Rüstungskontrolle«. Präventive Rüstungskontrolle ist qualitative Rüstungskontrolle angewandt auf die Zukunft.13 Ihr vorbeugender Charakter kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass – geleitet durch Rüstungskontrollkriterien – militärrelevante Forschung und Entwicklung frühzeitig in rüstungskontrollpolitische Konzepte einbezogen werden sollen. Ziel dieses ortsübergreifenden Projektverbundes ist es, die Konzepte, Bedingungen und Verfahren der präventiven Rüstungskontrolle auf allgemeiner Ebene sowie in spezifischen Technologiefeldern zu untersuchen. Einzelprojekte zu Themen wie Nanotechnologie, Proliferationsresistenz oder Weltraumrüstung widmen sich spezifischen Technologiefeldern, ein Rahmenprojekt stellt deren Vorschläge zusammen, bewertet und verallgemeinert sie und untersucht Probleme und Randbedingungen vorbeugender Rüstungsbegrenzung. Entscheidend für die Umsetzung ist dabei die Fähigkeit, destabilisierende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und adäquate Beschränkungsmaßnahmen zu entwickeln. Solche Beschränkungen können nicht nur die internationale Sicherheit stärken, sondern auch erhebliche Kosten sparen helfen. Die Weiterentwicklung neuer Militärtechnologien kann zukünftige technologische Rüstungswettläufe implizieren. In der Regel ist es zudem nach Einführung qualitativ neuer Waffensysteme schwieriger, diese bzw. ihre Wirkungen zu beschränken, als ein geplantes System noch in der Entwicklungsphase zu verbieten (z.B. Blendlaser). So soll Rüstungskontrolle mit Abrüstungsschritten verbunden werden.14

Seit 1988 untersucht das »Bochumer Verifikationsprojekt« (BVP), das an der Ruhr-Universität angesiedelt ist, unter Leitung von J. Altmann, die Möglichkeiten mittels akustischer, seismischer und magnetischer Sensorsysteme, Begrenzungen bei militärischen Land- und Luftfahrzeugen zu überwachen.15 Bemerkenswert sind hier eine Reihe von internationalen Experimenten, die gemeinsam mit der Informatik der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt und ausgewertet wurden. Auch wurden zwei Sensorstationen entwickelt und auf einem Bundeswehr-Erprobungsgelände einen Monat betrieben, um die Schall- und Bodenvibration von Panzern, militärischen Lkw und anderen Fahrzeugen zu messen. Auf dieser Grundlage könnten Sensorsysteme für einen UN-Einsatz entwickelt werden.Die »Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit« (IANUS) der TU Darmstadt beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit der Thematik nuklearer Proliferation und den Möglichkeiten des Zugriffs auf waffenfähiges Nuklearmaterial. Einen Schwerpunkt bildet z.B. die Beschäftigung mit dem Münchner Forschungsreaktor FRM-II, der mit hochangereichertem Uran (HEU) als Brennstoff geplant wurde und damit unter Proliferationsgesichtspunkten sehr problematisch ist.16 IANUS konnte in einer Expertenkommission des BMBF mitwirken, die die Möglichkeiten einer Brennstoff-Umstellung vor oder nach Inbetriebnahme des FRM-II konkretisierte und seine Expertise beim atomrechtlichen Verfahren beim BMBF einbringen. Bei IANUS wurden alternative Auslegungen des Reaktors mit praktisch nicht waffentauglichem, schwach angereichertem Uran durchgerechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass gute Chancen bestehen, durch Umrüstung den Umgang mit HEU im zivilen Bereich als wichtige Maßnahme der Bemühung um Nichtweiterverbreitung zu beenden.17In Hamburg werden die Arbeiten insbesondere am IFSH im Rahmen der »Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien« (IFAR) zusammen mit der CENSIS-Gruppe durchgeführt. Das Forschungsprojekt »Die Zukunft der Rüstungskontrolle« arbeitet die Grundlagen, die Gültigkeit und die Defizite der Rüstungskontrollidee heraus. Eine Homepage wurde aufgebaut, auf der viele Internet-Ressourcen, Verträge und technische Einzelheiten zur Rüstungskontrolle zu finden sind. Das Forschungsprojekt »Weltraumbewaffnung/Raketenabwehr und die Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle« analysiert einerseits die technischen Möglichkeiten von Waffensystemen im Weltraum sowie von außerhalb der Atmosphäre wirksamen Raketenabwehrsystemen auf der Basis heutiger und künftiger technologischer Entwicklungen. Schwerpunkte sind Simulationen von Weltraummüll und die Wirkung von Laserwaffen im Weltraum. Andererseits werden präventive Beschränkungen für eine aktive Nutzung von Weltraumwaffen aufgezeigt und Impulse für die internationale Rüstungskontrolle erarbeitet. Naturwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es für einen Gegner relativ einfach möglich ist, technische Maßnahmen zu ergreifen, um die geplante Raketenabwehr zu umgehen.18 Eine technische Analyse ist hier genauso unverzichtbar wie die Frage nach den rüstungskontrollpolitischen Konsequenzen bei der Einführung von Raketenabwehr. Zu befürchten ist, dass die nuklearen Begehrlichkeiten durch die augenblickliche Debatte wieder geweckt und angeheizt werden. Ein weiteres Thema sind die Technologien, die unter dem Oberbegriff »Revolution in Military Affairs« fallen.19 Viele der Arbeitsergebnisse der Gruppen flossen auch in Gutachten und Studien für das »Büro für Technologiefolgenabschätzung des deutschen Bundestages« (TAB) oder für die »Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt« (DLR) ein.

Naturwissenschaft und Rüstungsdynamik unter veränderten Rahmenbedingungen

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich die Randbedingungen der Rüstungsdynamik und damit von Rüstungskontrolle und Abrüstung zweifelsohne geändert. Kriege sind für manche Regierungen wieder »salonfähig« geworden, neue Kriegsbilder sind ebenso hinzugetreten wie neue Akteure (Terroristen, substaatliche Gruppen etc.). Die Suche nach neuen Strategien zur Konfliktprävention, Kriegsverhinderung, für zivile Konfliktlösungen hat begonnen. Das Schwerpunktheft »Friedensforschung im 21. Jahrhundert« kündet von der Breite und Tiefe der Diskussion, die in der Friedensforschung geführt wird.20 Keiner der Autoren dieses Heftes bezweifelt, dass der »Kalte Krieg« enorme, einsetzbare Gefahrenpotenziale hinterlassen hat, die einer kritischen Begleitforschung bedürfen. Die Gefahr eines Nuklearkrieges ist gemindert, aber nicht gebannt. Abrüstung findet nicht mehr statt. Erinnert sei hier an ca. 31.000 operative Atomsprengköpfe über 70.000 Tonnen Giftgas und Millionen Tonnen herkömmlicher Munition und konventioneller Sprengköpfe, steigende Weltmilitärausgaben, Rüstungsexporte und ein proliferierender Waffenhandel. Die Zukunft überschüssigen Nuklearmaterials, der ideale Stoff für Nuklearterrorimus, ist ungelöst. Neben den unbewältigten Altlasten finden neue, lokale Aufrüstungsrunden statt. Zwischen Indien und Pakistan gibt es einen Nuklear- und Raketenwettlauf. Das nordkoreanische Regime spielt mit dem nuklearen Feuer und hat seinen Austritt aus dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) erklärt. Der Iran wird beschuldigt, ein eigenes Nuklearwaffenprogramm zu betreiben. Angesichts der in Afghanistan und im Irak demonstrierten militärischen Macht der USA und der Präventivdoktrin der Bush-Administration steigt die Gefahr, dass weitere Staaten sich Nukleararsenale zulegen und der nukleare Rüstungswettlauf sich beschleunigt. Neue konventionelle Waffentechnologien führen zu neuen Kriegsbildern und bedingen neue konventionelle Rüstungsschübe. Raketenabwehr, Weltraumrüstung und »Miniaturatomwaffen«, die von der Bush-Administration verstärkt gefördert werden, sind deutlicher Ausdruck dieser Krise. Angesichts dieser Situation müssen die an der Friedensforschung beteiligten Disziplinen ihre Fähigkeiten bündeln, um realistische Wege aus der Gefahr zu erarbeiten. Eine Deutungshoheit einer einzelnen Disziplin kann es ebenso wenig geben wie einen gesicherten Methodenanspruch auf eine garantierte Lösung durch die Friedensforschung.

FONAS ist stets für die Themenkomplexe eingetreten, die interdisziplinär bearbeitbar sind, eine wesentliche naturwissenschaftliche Komponente enthalten und auf die Suche nach Problemlösungsstrategien ausgerichtet sind, die durch eine Kombination von angewandter Forschung und Politikorientierung gelöst werden können.21

  • Hierzu gehören die Erarbeitung von Vorschlägen für Abrüstung, Rüstungsbeschränkung und Nichtverbreitung. Dies umfasst Analysen und Vorschläge zu Rüstungsbegrenzung im Bereich von Massenvernichtungswaffen. Beispiele sind hier der Transformationsprozess zur kernwaffenfreien Welt, Raketenabwehr, vollständiger Cutoff für kernwaffenfähige Materialien, Effektivierung der Biowaffenkonvention, Militarisierung des Weltraums, neuartige Kernwaffen, technologisch bedingte Weiterverbreitungsdynamik, terroristische Bedrohung und Vorbeugungsmaßnahmen, konventionelle Abrüstung.
  • Zur Vertragseinhaltung sind hier Arbeiten zu technischen Mitteln und Verfahren zur Verifikation nötig. Zu nennen sind hier: Überprüfungsmaßnahmen für die Kontrolle von Abrüstung, von vorhandenen militärischen Potenzialen und zur Vermeidung der militärischen Nutzung von Hochtechnologie. Beispiele bilden die Detektion der Herstellung von Massenvernichtungswaffen, die Nutzung von Sensoren für Landfahrzeuge und Flugzeuge oder die automatische Verarbeitung von Luftbildern.
  • Ein weiterer Schwerpunkt ist die qualitative und vorbeugende Rüstungskontrolle und Rüstungsbeschränkung, d.h. die Analyse konkreter militärtechnologischer Entwicklungstrends, Vorschläge für vorbeugende Eingrenzung, das systematische Studieren der zivil-militärisch ambivalenten, wissenschaftlich-technologischen Entwicklungsdynamik auf militärrelevante Absichten und Möglichkeiten von Vermeidungsstrategien (Beispielfelder: Mikrobiologie, Informationstechnologien, Nanotechnologie, Werkstoffentwicklung), Untersuchung der militärischen Verwendbarkeit von bereits existierenden oder in Weiterentwicklung befindlichen Technologien oder Materialien (Beispiele: nukleare Technologien und Materialien, Beschleuniger).
  • Wichtig ist nach wie vor die Beseitigung von Altlasten und Konversion militärischer Hochtechnologie, also z.B. der Altlasten des »Kalten Krieges« oder von bewaffneten Konflikten. Beispiele sind hier die Beseitigung von waffenrelevanten Nuklearmaterialien oder die Detektion von Minen.
  • Als weiteres wichtiges Forschungsfeld erscheint zunehmend die Analyse naturwissenschaftlich-technischer Einflussfaktoren in heute antizipierbaren Konflikten, die mit Umwelt, Ressourcen und Energie verbunden sind. Beispiele sind hier die Wasserproblematik, der Klimawandel, fossile Energieträger, nukleare Abfälle, energietechnologischer Wandel. Ebenso kann die mathematische Modellierung komplexer Systeme Beiträge zum theoretischen Verständnis der Aufrüstungs- und Abrüstungsdynamik oder von anderen Konfliktsituationen liefern.

Der renommierte Astrophysiker und »Astronomer Royal« Sir Martin Rees hat in seinem Aufsehen erregenden Buch »Our Final Hour« (New York 2003) in 14 Kapiteln ausgeführt, dass die Chance, dass die Menschheit das 21. Jahrhundert übersteht, lediglich 50 zu 50 steht. Terror, wissenschaftliche Fehlenwicklungen, Umweltkatastrophen können dazu beitragen, dass die Menschen die Mittel hervorbringen, die ihren eigenen Untergang bewirken. Selbstgemachte technologische Fehlentwicklungen, Kriege, Großkatastrophen können durchaus dazu führen, dass das Überleben der Menschheit als Ganzes in Frage steht. Enorme Anstrengungen von Forschung und Wissenschaft sind nötig, um die vor uns liegenden Risiken zu vermeiden. Die Friedenforschung sollte sich daran beteiligen und ihre naturwissenschaftliche Komponente nicht marginalisieren.

Anmerkungen

1) Hans-Peter Dürr, u.a. (Hrsg.): Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hamburg/Reinbek bei Hamburg: Spiegel/Rowohlt, 1983.

2) Siehe dazu z.B. Joseph Rotblat: Scientists in the Quest for Peace: A History of the Pugwash Conferences, Cambridge MA, 1972.

3) Ulrike Kronfeld u.a. (Hrsg.): Naturwissenschaft und Abrüstung – Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen, Münster: 1993.

4) Siehe Altmann/Liebert/Neuneck 2003 (Fußnote 1).

5) FONAS-Newsletter Nr. 1-4 (1999-2002), siehe: http://www.fonas.org

6) FONAS, Forschungsmemorandum, 23. Juni 1998 (http://www.fonas.org/aktuell/memo.html)

7) Homepage: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/html/stiftungsprofessur.html

8) Homepage: http://www.fonas.org

9) PRK 2001: „Erste Ergebnisse des Projektes »Präventive Rüstungskontrolle« des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS)“, in: Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 38, 2001.

10) Diese Überlegen fußen auf dem Papier von Herbert Wulf: „Politikberatung – Schwerpunkt der Deutschen Stiftung Friedensforschung“, Manuskript, Februar 2001.

11) Siehe die Homepage: http://www.dpg-physik.de/fachgremien/aka

12) Siehe dazu: http://www.ifsh.de/studium/studium.php

13) Götz Neuneck,/Reinhard Mutz: Vorbeugende Rüstungskontrolle, Baden-Baden: 2000.

14) Ergebnisse siehe dazu Fußnote 11. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung.

15) Siehe Jürgen Altmann, Bernhard Gonsior: „Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung von konventionellen Waffen“, in: Sicherheit und Frieden, 7, Nr. 2, 1989, S. 77-82.

16) Siehe hier: Hans Ackermann, W. Buckel, W. Liebert: „Zur Nutzung von hochangereichertem Uran im Forschungsreaktor FRM-II“. Physikalische Blätter. Vol.55, 1999, S. 16-20.

17) Alexander Glaser: „The Conversion of Research Reactors to Low-Enriched Fuel and the Case of the FRM-II“, in: Science and Global Security, 2002, Vol.10(1), S. 61-79.

18) Götz Neuneck: „Von National Missile Defense zu Global Missile Defense? Technische Machbarkeit und Ansätze der Bush-Administration“, in: Die Friedens-Warte, Vol. 76(4), 2001, S. 391-434.

19) Neuneck, Götz: „Virtuelle Rüstungen. Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder die USA rüsten mit sich selbst“, Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 31, 1999, S. 10-15; Neuneck, Götz: „Die Rolle der Naturwissenschaft: Dienerin zweier Herren“, in: Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 32, Nr. 2, 2002, S. 205-226.

20) :Schwerpunktheft: Friedensforschung im 21. Jahrhundert, in: Sicherheit und Frieden Vol. 20(2), 2002.

21) Siehe dazu: Forschungsmemorandum 1998 (Fußnote 7) und Wolfgang Liebert: „Aufgaben naturwissenschaftlich orientierter Friedensforschung“, in: Friedenspolitik und Friedensforschung (Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VIII), Osnabrück, 2001.

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereichs »Abrüstung und Rüstungskontrolle« am IFSH

NMD kontra ABM-Vertrag

NMD kontra ABM-Vertrag

Die Differenzen zwischen den USA und Russland

von Bernd W. Kubbig

Das Spitzentreffen zwischen Bill Clinton und Wladimir Putin am 4./5. Juni 2000 in Moskau sollte zu einem Durchbruch bei den seit langem stagnierenden Gesprächen über Änderungen des Raketenabwehr-Vertrages (Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM) werden. Die Clinton-Administration wollte das bilaterale Abkommen von 1972 gravierend modifizieren, damit es mit ihren Plänen zur Aufstellung eines begrenzten Nationalen Abwehrsystems (National Missile Defense System, NMD) vereinbar wird. Denn der Kerninhalt des ABM-Vertrages besteht im Verbot eines solchen landesweiten Abwehrschildes. Angesichts der Raketenbedrohung aus so genannten Schurkenstaaten (die neuerdings offiziell »besorgniserregende Staaten« heißen) hielt es die alte US-Administration für geboten, ihr Territorium entsprechend zu schützen. Unter dem neuen Präsidenten dürfte das nicht anders sein.
Die neue Moskauer Führung hingegen macht sich – wie alle ihre Vorgängerinnen – das zentrale Anliegen des ABM-Abkommens zu eigen. Sie spricht sich vehement gegen das Nationale Abwehrsystem der Vereinigten Staaten aus. So konnte es nicht überraschen, dass sich auf dem Moskauer Gipfel beide Seiten unversöhnlich gegenüberstanden. Zum »Grand Bargain« kam es nicht. Dieser von der US-Regierung angestrebte »Große Tauschhandel« sah vor, dass der Kreml den Abänderungen des ABM-Vertrages zustimmt und damit sein »Ja« zum Rüstungsvorhaben der Administration gibt; im Gegenzug würde die Exekutive in Washington die von Moskau angestrebte drastische Verminderung der Nuklearwaffen akzeptieren. Statt des Raketenabwehr-Kompromisses unterzeichneten die beiden Präsidenten auf dem Gipfel nur zwei vergleichsweise bescheidene Abkommen. Das eine sieht die Zerstörung von waffenfähigem Plutonium vor; das andere ordnet die Einrichtung eines gemeinsamen Moskauer Zentrums an, in dem beide Seiten Frühwarndaten über ihre jeweiligen Raketenstarts austauschen (»information sharing«).

Der von der Clinton-Administration erhoffte bilaterale Kompromiss kam auch deshalb nicht zustande, weil ein Brief von 25 einflussreichen republikanischen Senatoren an den US-Präsidenten die Verhandlungsposition der US-Regierung in Sachen Modifikation des ABM-Vertrages desavouierte. Die Senatoren teilten ihrem Präsidenten unverblümt mit, er könne nicht damit rechnen, dass die Mehrheit der Kammer ein entsprechend ausgehandeltes Abkommen ratifizieren würde. Dieses Schreiben signalisiert nicht nur, dass in den USA das Jahr 2000 ein Wahljahr ist (am 7. November wurde nicht nur ein neuer Präsident gewählt, sondern auch ein Drittel der 100 Senatoren und alle 435 Abgeordneten).

Inhaltlich gesehen belegt das Schreiben der Senatoren, wie sehr sich Teile dieser Kammer von der Administration unterscheiden, wenn es um Konzeption und Umfang eines Raketenabwehrsystems geht. Anders als die alte Regierung, die einen zunächst begrenzten Schild anstrebte, der stufenweise ausgebaut wird, wollen einflussreiche Senatoren und ihre politischen Verbündeten im gesellschaftlichen Umfeld einen weitaus umfangreicheren Abwehrgürtel aufstellen. Unterschiedlich ist auch der Umgang mit dem ABM-Abkommen und dem Vertragspartner Russland entlang der Trennungslinie von striktem Unilateralismus versus einem an Bedingungen geknüpften Bilateralismus. Die energischen NMD-Befürworter wollen, ohne weiter mit Moskau über die Veränderungen zu verhandeln, von der im Vertragstext vorgesehenen Rückzugsklausel Gebrauch machen (in diese Richtung hat sich auch George W. Bush geäußert, der aber als Präsident sicher vorher über einen gewissen Zeitraum mit Russland verhandeln würde).1

Im Vergleich dazu war die alte Administration konzessionsbereiter. Ihre Verhandlungspositionen sind dem angesehenen Fachblatt »Bulletin of the Atomic Scientists« zugespielt worden, das sie veröffentlichte. Es handelt sich dabei um die »Talking Points«, die höchst wahrscheinlich US-Delegationsleiter John Holum auf der Arbeitsebene seinem russischen Gesprächspartner Juri Kapralow im Januar 2000 präsentierte. Dieses US-amerikanische Dokument ist aus mindestens drei Gründen außerordentlich aufschlussreich: Inhaltlich ermöglicht es eine Analyse der US-Positionen und der Streitpunkte zwischen Washington und Moskau, wie sie bisher in so detaillierter Form nicht möglich war. In politischer Hinsicht zeigen die »Talking Points« des US-Delegationsleiters, wie moderat die Haltung der Clinton-Administration im Vergleich zu den weiter reichenden Vorstellungen der erzkonservativen Befürworter war. Normativ gesehen vermitteln die Unterlagen in bisher beispielloser Weise, wie problematisch selbst die »relativ« gemäßigte Haltung der alten US-Regierung aus einer an Rüstungskontrolle orientierten Perspektive ist. Diese Verhandlungspositionen waren im Großen und Ganzen auch für den Moskauer Clinton/Putin-Gipfel relevant.

Die Raketenabwehrpläne der Clinton-Administration verändern den Charakter des Abkommens fundamental, machen sie doch den Rüstungskontrollvertrag, der der Raketenabwehr enge Fesseln anlegte, zu einem Rüstungsmanagement-Abkommen. Auf der Grundlage der »Talking Points« bleiben demgegenüber die russischen Positionen blass. Denn was aus dem Dokument nicht hervorgeht, ist die von Moskau favorisierte beträchtliche Verminderung der atomaren Gefechtsköpfe auf 1500. Auf einen entsprechenden Vorschlag ist die US-Regierung nicht eingegangen. Russlands Verhandlungsposition war dadurch gekennzeichnet, dass es über den ABM-Bereich hinausgehende Vorschläge zur gemeinsamen Bekämpfung der Proliferation präsentierte.

Der inhaltliche Dissens, der in den »Talking Points« einen breiten Raum einnimmt, läuft auf die Frage hinaus, inwieweit die Abwehrpläne der Clinton-Administration die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Moskaus perspektivisch untergraben. Dies war für die russische Führung die Gretchenfrage. Das genannte Dokument setzt sich mit den von Moskau genannten sicherheitspolitischen Aspekten auseinander; die statuspolitische Dimension (Russlands kontinuierliches Interesse daran, zumindest auf atomarem Gebiet Weltmacht zu bleiben), werden in den »Talking Points« nicht angesprochen. Mit der in Zweifel gezogenen Zweitschlagsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte sind die folgenden Aspekte verbunden:

  • Die grundsätzliche Frage, inwieweit die nukleare Abschreckungslogik, in deren Rahmen der ABM-Vertrag entstand, die atomare Politik beider Seiten auch nach dem Ost-West-Konflikt anleitet. Hier ist relevant, dass beide Seiten trotz der fundamentalen weltpolitischen Veränderungen und der verminderten Rolle der Nuklearwaffen in puncto Militärstrategie, Zielplanung und operative Fähigkeiten noch völlig dem System der »wechselseitigen gesicherten Zerstörung« (Mutual Assured Destruction, MAD) aus der Zeit des Ost-West-Konflikts verhaftet sind. Die »Talking Points« von US-Delegationsleiter John Holum zementieren die nukleare Abschreckung dadurch auf einem außerordentlich hohen Niveau, dass der russischen Seite nahegelegt wird, ihr Nuklearpotenzial auf 1500 bis 2000 Sprengköpfe auszurichten. Dies soll sicherstellen, dass Russland das von den Vereinigten Staaten geplante NMD-System zu durchdringen vermag. Folgt Moskau diesem Rat, so wird der Aufbau des US-amerikanischen Schirms gerade nicht zur „nuklearen Rüstungsverminderung durch NMD&147; führen, die die Abwehrbefürworter beständig beschwören.
  • Die Plausibilität von Erstschlagsszenarien und die Moskau nahegelegten militärischen Reaktionen auf ein umfassendes Abwehrsystem der Vereinigten Staaten. In krisenstabilitätspolitischer Hinsicht ist problematisch, dass die US-Delegation Russland nahelegt, sein strategisches Nukleararsenal weiterhin in ständiger Alarmbereitschaft zu halten. Eine Strategie des »launch on warning« soll Moskau befähigen, seine Nuklearwaffen abzufeuern, bevor sie durch US-Raketen vernichtet werden könnten. So wenig plausibel ein solches Erstschlagsszenario sein mag: Die Gefahr von nicht autorisierten oder versehentlich abgeschossenen Raketen als Reaktion auf einen fälschlich gedeuteten Raketenangriff bleibt bestehen – oder erhöht sich sogar angesichts des in schlechtem Zustand befindlichen russischen Frühwarnsystems.
  • Die Vorhersehbarkeit (predictability) der NMD-Pläne mit dem Ziel, für Russland Erwartungsstabilität herzustellen und Vertrauen zu schaffen/die Ausbruchsgefahr der USA aus einem begrenzten Nationalen Abwehrsystem. Moskau misst die Ausbruchsgefahr Washingtons aus einem begrenzten NMD-System an dem Ausbaupotenzial, das die Vereinigten Staaten bei ihren Radar- und Sensorkapazitäten anstreben. Den derzeitigen NMD-Plänen der Clinton-Administration zufolge ist für die Phase II die Dislozierung von 24 mit Infrarot-Sensoren ausgestatteten Satelliten im Weltraum vorgesehen. Damit entsteht zusammen mit den fünf umgerüsteten Frühwarnradars und dem möglichen Bau einer weiteren Radaranlage in Südkorea eine technologische Infrastruktur, die den Sprung von einem begrenzten zu einem umfassenden Raketenabwehrsystem in relativ kurzer Zeit ermöglichen dürfte. Russland sieht ebenfalls mit Sorge, dass die USA anstreben könnten, den Nationalen Abwehrgürtel mit den geplanten regionalen Abwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) zu verknüpfen. Einer Studie der Ballistic Missile Defense Organization im Pentagon vom 1. Juni 1999 zufolge können die für NMD-Zwecke eingesetzten Radaranlagen die weit reichenden (Navy Theater Wide) Abwehrwaffen dazu befähigen, strategische Potenziale Russlands zu zerstören. Die Clinton-Administration plante die Aufstellung von mehr als 600 solcher seegestützten Abfangsysteme. Die im Brief der 25 republikanischen Senatoren vom 17. April 2000 zum Ausdruck kommenden Vorstellungen, die über die Abwehrpläne der Clinton-Administration weit hinausgehen, unterstreichen, dass die von Russland verlangte Vorhersehbarkeit nicht gewährleistet ist.

Auf dem Moskauer Gipfel (und auch danach) wurde deutlich, dass die US-Regierung ihrem russischen Vertragspartner nicht glaubwürdig versichern konnte, dass ihre NMD-Pläne ausschließlich eine Antwort auf die begrenzten Raketenfähigkeiten »besorgniserregender Staaten« wie Nord Korea, Iran und Irak sind. Moskau fürchtet weiterhin, dass die USA mittel- und langfristig fähig und willens sind, ein Nationales Verteidigungssystem aufzubauen, das die Vergeltungsfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte in einem unannehmbaren Ausmaß einschränkt. Zu den inhaltlichen Gegensätzlichkeiten kommen politisch-taktische Erwägungen. Das politische System der USA ist im Wahljahr 2000 im Übergang begriffen, während der frisch gewählte russische Staatspräsident nicht unter unmittelbarem Zeitdruck steht. Durch einen auf dem Moskauer Juni-Gipfel voreilig erzielten Kompromiss wäre Putin Gefahr gelaufen, mit Clintons Nachfolger bereits im nächsten Jahr neu verhandeln zu müssen.

Russland muss sich jedoch darauf einstellen, dass die neue US-Administration das Nationale Raketenabwehrprojekt noch stärker vorantreiben wird. Die oben herausgearbeiteten Unstimmigkeiten können sich noch verschärfen. Dies wirft die Frage auf, ob Russland dann eher bereit sein wird, einen Kompromiss zu akzeptieren oder aber, ob es mit verstärkten Gegenmaßnahmen bei den Nuklearwaffen reagiert, um den US-Schild durchlöchern zu können. Letzteres liefe auf ein erneutes Wettrüsten hinaus. Wie der (möglicherweise nur vorübergehend) beigelegte Richtungsstreit zwischen Verteidigungsminister Sergejew und Generalstabschef Kwaschnin belegt, sind die russischen Ressourcen begrenzt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass Moskau sich aus sicherheits- und statuspolitischen Gründen dafür entscheidet, zu nuklearen Mehrfachsprengköpfen zurückzukehren. Dies wäre das Ende des START II-Vertrages, der diese Technologie verbietet – die Folgen für das gesamte Rüstungskontrollgebäude wären unübersehbar.

Im Umfeld des Gipfels bot Präsident Clinton an, den geplanten Anti-Raketenschild mit den Verbündeten und anderen »zivilisierten Staaten« zu teilen. Diese Offerte weckt diesseits des Atlantiks (etwa in der Bundesregierung) die Hoffnung auf den Zugang zu US-amerikanischer Spitzentechnologie – oder, negativ formuliert, die Angst, bei einer Nichtbeteiligung den Anschluss an diese zu verlieren. Derartige Erwartungen einer partnerschaftlich fairen wie finanziell lukrativen Teilhabe an einem zentralen Hochtechnologie-Projekt der USA im Militärbereich erwiesen sich bereits während der SDI-Debatte in der Ära Reagan als illusorisch. Die Aufträge, die an nicht-US-amerikanische Firmen ergingen, blieben insgesamt »peanuts«. Die restriktiven gesetzlichen Rahmenbedingungen gelten im Großen und Ganzen heute auch noch. Der technologiepolitische Protektionismus der Vereinigten Staaten ist eine Variante des gegenwärtig im Bereich Sicherheit vorherrschenden US-Unilateralismus.

Angesichts der Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, der über Russland hinaus China erfassen dürfte und damit zu einer Kettenreaktion in Asien führen könnte, sollte die Bundesregierung allein (besser noch im europäischen Konzert) gegenüber Washington darauf hinwirken, dass ein NMD-System – wenn es denn nicht verhindert werden kann – so begrenzt wie möglich bleibt. Ohne sein begründetes Nein zu einem kontinentalen Abwehrsystem aufzugeben, müsste Berlin als suboptimale Variante darauf drängen, dass dem russischen Interesse an einer Erwartungsstabilität durch vertraglich zugesicherte Restriktionen Rechnung getragen wird. Ein modifiziertes Abkommen sollte deshalb die einzelnen Phasen des NMD-Aufbaus konkret festlegen.

Derartige Forderungen sind für die europäischen Staaten wichtig, aber nicht ausreichend um sich als seriöse Akteure zu positionieren. Insbesondere Dänemark und England können sich nicht einerseits für die Erhaltung des ABM-Abkommens aussprechen, wenn sie andererseits der Umrüstung der US-Radaranlagen in Thule und Fylingdales zustimmen (sie müssen technologisch verbessert werden, damit sie im Rahmen des Nationalen Raketenabwehrschirms funktionstüchtig sind). Die europäischen Regierungen sollten vielmehr beide Länder ermutigen, ihre Position als Trumpfkarte gegenüber den USA einzusetzen, um den wichtigsten Bündnispartner zu abrüstungsfreundlicheren Positionen zu bewegen.

Die europäischen Staaten – und darunter Deutschland – werden in Washington, aber auch in Moskau und Beijing, nur dann Gehör finden, wenn sie nicht nur vor einem Rüstungswettlauf warnen, sondern auch mit glaubwürdigen und machbaren Initiativen zur Bekämpfung der Proliferation auftreten. Hierfür enthält die Berliner Erklärung zu NMD vom 25. Mai 2000 wichtige Punkte mit einem beträchtlichen Ausbaupotenzial. Ein modernisiertes Konzept kooperativer Rüstungskontrolle, das sich vom Ziel der gemeinsamen Minimierung von Bedrohungen sowie vom Primat der Politik anleiten lässt, könnte mit Iran als Modellfall umgesetzt werden.

Mit einem solchen »Diplomatie Zuerst!«-Ansatz könnte die Europäische Union mit Blick auf den Dezember-Gipfel in Nizza ihre Visionen eines stärkeren Europa auf einem wichtigen Politiksektor pragmatisch Wirklichkeit werden lassen. Führende europäische Politiker wie Jacques Chirac, Hubert Védrine und Joschka Fischer hätten so Gelegenheit, den deutsch-französischen Motor jenseits bloßer Rhetorik anzuwerfen und Europa mit einem »Diplomatie Zuerst!«-Konzept zu einem seriösen und sichtbaren Akteur zu machen.

Anmerkungen

1) Der Artikel basiert auf einer umfangreicheren Veröffentlichung vom Oktober 2000 (HSFK-Report). Er wurde am 20. November abgeschlossen. Aufgrund der Probleme mit der Stimmauszählung in Florida konnte deshalb die Entscheidung über den neuen Präsidenten der USA nicht mehr berücksichtigt werden.

Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter in der HSFK. Er koordiniert die US-Forschung und das Internet Programm »Raketenabwehr International« (www.hsfk.de/fg1/proj/abm).

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Raketenabwehr, Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

von SDI zu NMD

von Jürgen Scheffran

Trotz der Aufschiebung der NMD-Entscheidung durch den scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton gilt es als wahrscheinlich, dass sein Nachfolger mit der Stationierung beginnen will. Zwar soll sich ein begrenztes Abwehrsystem lediglich gegen kleinere Raketenmächte richten, doch stellen sich Russland und China bereits auf eine NMD-Welt ein. Für sie geht es vor allem darum, ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber einer US-Dominanz zu sichern. Die sich abzeichnende Rüstungsdynamik ist jedoch keine Notwendigkeit. Bislang wurden die Möglichkeiten zur internationalen Kontrolle und Abrüstung von Atomwaffen und ballistischen Raketen, von Raketenabwehrsystemen und Weltraumwaffen kaum ausgeschöpft. Auch der Versuch, die Einführung von Raketenabwehr kooperativ zu stabilisieren, würde erhebliche Rüstungskontrollanstrengungen erfordern, ohne aber alle Risiken ausschließen zu können.
Das Verhältnis zwischen Raketenabwehr, Stabilität und Rüstungskontrolle spielte bereits in den achtziger Jahren eine Rolle. Im Frühjahr 1985 hatte ich Gelegenheit, an einem Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung teilzunehmen, das der Debatte über die Strategic Defense Initiative (SDI) der USA gewidmet war. Per Satellit war Paul Nitze als hochrangiger Vertreter der Reagan-Administration zugeschaltet. Ausgehend von der Forderung Ronald Reagans vom 23. März 1983, Atomwaffen durch SDI „impotent und obsolet“ zu machen, fragte ich damals Nitze, ob der umgekehrte Weg nicht vernünftiger sei, also SDI durch die Abrüstung von Raketen und Atomwaffen obsolet zu machen. Nitze widersprach nicht grundsätzlich, hielt die Idee aber für politisch unrealistisch.

Die verpasste Chance von Reykjavik

In der vom Kalten Krieg geprägten Zeit war seine Skepsis berechtigt, doch schon bald veränderten sich die politischen Umstände dramatisch. Im Herbst 1985 begannen die Genfer Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über eine Verhinderung des Wettrüstens auf der Erde und im Weltraum, und zu Beginn des Jahres 1986 legte Michail Gorbatschow seinen Plan zur Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor. Der vorläufige Höhepunkt einer neuen Entspannung war im Oktober 1986 der Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, bei dem die Führer beider Supermächte das für damalige Verhältnisse Unglaubliche diskutierten: Innerhalb von fünf Jahren sollten alle Atomwaffen halbiert, in zehn Jahren alle ballistischen Raketenwaffen abgeschafft werden. Während Reagan SDI als Versicherungspolice behalten wollte, befürchtete Gorbatschow, durch SDI könne der nukleare Abrüstungsprozess destabilisiert werden. Eine Einigung scheiterte an der Frage, in welchem Umfang SDI-Forschung und Entwicklung durch den Raketenabwehrvertrag (ABM-Vertrag) von 1972 beschränkt sei.

Die Sorge vor einer rüstungstechnischen Dominanz der USA wurde auch von sowjetischen Vertretern auf dem internationalen Wissenschaftler-Kongress »Ways Out of the Arms Race« im November 1986 in Hamburg geäußert, doch sie wich zunehmend einer nüchternen Betrachtung der technischen Probleme von SDI. Unter dem Beifall der etwa 4000 Konferenzteilnehmer fragte Valentin Falin, wozu SDI noch nötig sei, „wenn in zehn Jahren keine atomare Waffe mehr existieren wird.“1

Die sich abzeichnende Kompromissbereitschaft Gorbatschows bei SDI schlug sich ein Jahr später im INF-Vertrag von 1987 nieder, der eine ganze Kategorie nuklearer Waffen in Europa verschrottete, sowie in der Reduzierung der strategischen Kernwaffen im START I-Vertrag. Auch über einen »großen Kompromiss« bei der Festlegung zulässiger Grenzen im ABM-Vertrag wurde gesprochen sowie über stabile Mischungsverhältnisse offensiver und defensiver Waffen.2 Mit dem Zerfall des Ostblocks fanden solche Überlegungen jedoch ein jähes Ende. Es schien, als sei SDI durch das Ende des Kalten Krieges tatsächlich »obsolet« geworden. Auch Paul Nitze unterstützte 1992 den Vorschlag der Federation of American Scientists (FAS), in Anknüpfung an Reykjavik alle ballistischen Raketenwaffen abzuschaffen (Zero Ballistic Missiles, ZBM). Es entwickelte sich eine weltweite Bewegung für die Abschaffung aller Kernwaffen.

Rüstungskontrolle – ein Relikt des Kalten Krieges?

Die Anfangseuphorie über den beendeten Ost-West-Konflikt und die erhoffte Friedensdividende war jedoch bald verflogen. Die Sowjetunion hatte sich zwar aufgelöst, doch die USA nutzten das, um nun noch ungehinderter als zuvor Machtpolitik zu betreiben; Raketenabwehr erhielt eine neue Funktionsbestimmung. Bereits im April 1990 erschien in der renommierten Zeitschrift Nature ein Artikel von dem »Vater der Wasserstoffbombe« und Vordenker von SDI, Edward Teller, und dem Los Alamos-Wissenschaftler Gregory Canavan.3 Darin zeichnen sie das Bild einer Bedrohung aus dem Süden, gegen die nur Raketenabwehr helfen könne.

Den Durchbruch für die Re-Instrumentalisierung der Raketenabwehr brachte der zweite Golfkrieg 1991, der trotz des technischen Versagens der Patriot-Abwehr von George Bush Senior genutzt wurde, um einen globalen Schutz gegen begrenzte Raketenangriffe zu fordern.4 Bushs Nachfolger Bill Clinton benannte 1983 zwar das SDI-Programm um und stellte exotische Weltraumwaffen zurück, ließ aber das Budget intakt und integrierte Raketenabwehr in die Counterproliferationsstrategie der USA. Daran hat sich mit NMD nicht viel geändert.

Über alle weltgeschichtlichen Veränderungen hinweg hat die Raketenabwehr in den USA eine erstaunliche Eigendynamik gezeigt. Genau diese zu begrenzen ist das Ziel des ABM-Vertrages, der erstmals in der Geschichte das Wechselspiel zwischen Offensive und Defensive beenden soll. Deshalb ist er den NMD-Anhängern ein Dorn im Auge. In einem bemerkenswerten Umkehrschluss machen sie den ABM-Vertrag, und mit ihm das Konzept der Rüstungskontrolle, zu einem Relikt des Kalten Krieges, nicht jedoch die Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsysteme, die dadurch kontrolliert werden sollen. Die USA, die keines ihrer Gewaltinstrumente beschränkt sehen wollen, widerlegen nicht die Notwendigkeit von Rüstungskontrolle, zeigen aber ihre Schwäche.

Sicherlich lässt sich das heutige USA-Russland-Verhältnis nicht mit dem Ost-West-Konflikt vergleichen, allein schon weil Russland sich das derzeitige Kernwaffenarsenal auf Dauer nicht leisten kann und für die USA in einem Wettrüsten kein gleichgewichtiger Gegner ist. Dennoch sind die angekündigten russischen Gegenmaßnahmen gegen NMD ebenso ernst zu nehmen wie Versuche, durch diplomatische Initiativen, durch Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folgen abzuschwächen.

Stabilität und präventive Rüstungskontrolle

Auf beiden Seiten gibt es ein Interesse an Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle, selbst wenn NMD weitergeht. Von Interesse sind hier die Vorschläge Putins vom 13. November 2000. Er bietet den USA an, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe unter die Grenze von 1500 zu senken, also in einen Bereich, in dem eine begrenzte Abwehrfähigkeit der USA bedeutsam werden könnte. Der Kommandeur der russischen nuklearen Raketenstreitkräfte, General Wladimir Jakowlew, schlug als Gegengewicht zur US-amerikanischen Raketenabwehr vor, „einen konstanten allgemeinen Index für strategische Rüstung einzuführen, in den neben den nuklearen Offensivwaffen auch die Anti-Raketen-Abwehrsysteme aufgenommen werden''.5 Ein Land, das die Abwehrkomponente verstärken wolle, müsse somit zugleich die Bedrohung gegenüber anderen Staaten verringern.

Mit solchen Vorschlägen, befürchtete Instabilitäten durch NMD kooperativ abzumildern, wird der in Reykjavik angesprochene Zusammenhang zwischen Raketenabwehr, Rüstungskontrolle und Stabilität wieder aktuell. Damals wie heute stellt sich der Moskauer Führung die Frage: Soll Russland an seiner grundsätzlichen Ablehnung von NMD festhalten und dabei riskieren, dass die USA alleine agieren, oder soll Russland sich auf einen Deal mit den USA beim ABM-Vertrag einlassen, um als Akteur im Raketenabwehrspiel noch eine Rolle zu spielen?

Zwar richtet sich NMD offiziell gegen kleiner Raketenmächte aber das Verhältnis USA-Russland wäre unmittelbar betroffen, selbst dann, wenn die Führer beider Staaten sich auf ein kooperatives Management verständigen. Bei einem gleichzeitigen Prozess »Offensive runter – Defensive rauf« wird irgendwann der Zeitpunkt der Parität erreicht, an dem die Abwehr rechnerisch die Offensive unwirksam macht. Weder kann dann ein Angreifer sicher sein, strategische Ziele zu erreichen, noch die angegriffene Seite ihrer Zweitschlagkapazität. Eine solche Unsicherheit kann die Entscheidungsträger zur Vorsicht veranlassen, im Falle gegenseitigen Misstrauens jedoch das Gegenteil bewirken.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von definierbaren Offensivkapazitäten und Abwehrschwellen nicht haltbar ist. Zum einen gibt es große Unsicherheiten über die Rüstungspotenziale, zum anderen macht die durch Raketenabwehr vervielfachte Komplexität der Sicherheitspolitik eine Prognose nahezu unmöglich, zumal wenn Weltraumkomponenten ins Spiel kommen. Wenn schon eine durchdringende Rakete genügt, um New York in Schutt und Asche zu legen, nützt es den USA wenig, eine statistische Abwehrfähigkeit gegen 50 Raketen zu besitzen.

Der Ost-West-Konflikt ist vorbei, aber damit nicht notwendig die Furcht vor Atomwaffen oder die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern gegenüber Word-Case-Szenarien. Wie würden die USA reagieren, wenn sie in einer Krise befürchten müssten, dass ihr komplexes Abwehrsystem durch Sabotage, Cyber War oder direkte Angriffe außer Kraft gesetzt wird? Wer will garantieren, dass Ängste vor einem Erstschlag, der die Zweitschlagfähigkeit unter die Abwehrschwelle schrumpfen ließe, keine Rolle mehr spielen? Ist es wirklich auszuschließen, dass in Moskau Kräfte an die Macht kommen, die glauben die russische Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA sichern zu müssen? Wie würde dann die Führungselite der USA reagieren, die schon heute zu überzogenen Bedrohungswahrnehmungen gegenüber vermuteten kleinen Raketenmächten neigt? Warum sollen sich die Führer anderer Staaten rationaler verhalten, obwohl bekannt ist, dass die USA sich das Recht zur militärischen Intervention und Counterproliferation herausnehmen?

Ob eine stabile Einführung der Raketenabwehr kooperativ abgesichert werden kann, hängt von der Fähigkeit der Kernwaffenmächte ab, die großen Unsicherheiten durch gegenseitige Überwachung und Informationsaustausch zu minimieren, und ihrer Bereitschaft, auf Worst-Case-Denken zu verzichten und den potenziellen Gegenspielern zu vertrauen. Diese »kooperative Rüstungssteuerung« bedeutet eher mehr Rüstungskontrolle als bisher und die Verständigung auf eine Zielperspektive. Wenn das Ziel ist, die Raketenbedrohung zu verringern oder gar die nukleare Abschreckung zu beenden, stellt sich die Frage, ob Raketenabwehr angesichts der Kosten und Risiken ein dazu geeigneter Weg ist oder nicht eher in die Sackgasse führt. Offenkundig gibt es die Alternative, die Bedrohung kooperativ und in überprüfbarer Weise herunterzufahren. Ein solcher Abrüstungsprozess müsste ebenfalls durch Rüstungskontrolle abgesichert werden, wäre aber einfacher zu realisieren als bei gleichzeitiger Einführung von Raketenabwehr.

Im Unterschied zur traditionellen Rüstungskontrolle, die vorwiegend auf die Stabilisierung, Risikominderung und Kostensenkung in der Rüstungsdynamik zielt, geht es beim Konzept der präventiven Rüstungskontrolle darum, rechtzeitig auf destabilisierende Rüstungsentwicklungen hinzuweisen und bereits im Frühstadium der rüstungstechnischen Forschung und Entwicklung geeignete Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten aufzuzeigen.6 Folgende Bereiche der Rüstungskontrolle sind von NMD unmittelbar betroffen: die Kontrolle von Kernwaffen, ballistischen Raketen, Raketenabwehrsystemen und Weltraumrüstung. Zu allen vier Bereichen sollen kurz einige Optionen angesprochen werden, ohne hier ins Detail gehen zu können.

Nukleare Abrüstung

Die Kontrolle nuklearer Rüstung hatte nach dem zweiten Weltkrieg einen hohen Stellenwert in den internationalen Beziehungen, auch wenn konkrete Fortschritte lange auf sich warten ließen (Nichtverbreitungsvertrag, Kernwaffenfreie Zonen, SALT, INF, START, Teststopp-Vertrag). Während lange versucht wurde, die Gefahren eines Wettrüstens und die Risiken eines Atomkrieges zu minimieren, steht seit Mitte der neunziger Jahre die Beseitigung der Kernwaffen auf der internationalen Tagesordnung von Staaten (NVV-Konferenzen, Canberra-Komission, Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, New Agenda Coalition, UNO-Resolutionen) und Nichtregierungsorganisationen (Abolition 2000, Studien zur kernwaffenfreien Welt, Nuklearwaffenkonvention). Ein Streitpunkt betrifft das geeignete Verhältnis zwischen kurzfristig möglichen Schritten und dem längerfristigen Konzept einer kernwaffenfreien Welt. Mit der Vorlage eines Modellentwurfs für eine Nuklearwaffenkonvention wurde versucht, die Konkretisierung der Zielperspektive mit einzelnen Schritten zu verknüpfen.7 Unter anderem aufgrund der Kernwaffentests in Südasien und der Blockade durch den US-Kongress ist der Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.

Ein kleiner Lichtblick auf der deklaratorischen Ebene ist die im November 2000 mit großer Mehrheit in der UNO-Generalversammlung verabschiedete Resolution der »New Agenda Coalition« für eine kernwaffenfreie Welt, die erstmals die Zustimmung aller NATO-Staaten erhielt, einschließlich USA, bei Enthaltung Frankreichs und Russlands. Auch die russische Ratifizierung von START II und Teststoppvertrag schafft günstigere Bedingungen, ist jedoch an die Einhaltung des ABM-Vertrages gekoppelt. Ein nächster Schritt wäre der in Genf verhandelte Produktionsstopp für spaltbare Materialien. Darüber hinaus muss auch über die Beseitigung aller Kernwaffen verhandelt werden, ein Ziel, das bei einer NMD-Stationierung noch schwieriger zu erreichen wäre. Das Stabilitätsproblem stellt sich auch bei der Abrüstung auf sehr niedrige Kernwaffenzahlen, wäre aber weniger brisant als mit Raketenabwehr und höheren Kernwaffenzahlen.

Internationale Kontrolle ballistischer Raketen

Bislang verfügen lediglich die fünf Kernwaffenmächte über Interkontinentalraketen, während andere Staaten nur Raketen kurzer und mittlerer Reichweite haben. Die Bedrohungseinschätzungen der US-Geheimdienste, die auch NMD zu Grunde liegen, sind bislang nicht eingetreten. Mit diplomatischen Initiativen, wie jüngst im Falle Nordkoreas, lassen sich möglicherweise selbst die als »irrational handelnd« angesehenen Mächte von einer Weiterentwicklung ihrer Raketen abbringen.

Bisher gibt es kein multilaterales Abkommen zur Begrenzung oder Abrüstung ballistischer Raketen. Für Raketen mittlerer und langer Reichweite wurden Verträge zwischen den USA und der UdSSR bzw. Russland unterzeichnet. Das Missile Technology Control Regime (MTCR) konnte die Verbreitung von Raketentechnik durch Exportkontrollen der Lieferländer zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Solange es keine internationale Norm gegen ballistische Raketen gibt, kann kein Staat einem anderen die Möglichkeit zu einer eigenständigen Raketenentwicklung verwehren.8 Ein Ausgangspunkt ist der schon erwähnte ZBM-Vorschlag der FAS, die 1992 nicht nur einen vollständigen Vertragsentwurf zur Beseitigung ballistischer Raketenwaffen vorlegte, sondern zugleich einen stufenweisen Prozess zum Ziel anvisierte.9 Das ZBM-Konzept benennt unterschiedliche Aufgabenteilungen zwischen Staaten, je nach Stand ihrer Raketenentwicklung, und schlägt die Einrichtung raketenfreier Zonen vor. Von wesentlicher Bedeutung wäre es, die Erprobung ballistischer Raketen zu beschränken oder ganz einzustellen (Raketenteststopp)10 und keine weiteren Raketen aufzustellen, um die Raketenentwicklung auf dem derzeitigen Stand einzufrieren (Freeze).

Ein Raketentest-Moratorium wäre am besten überprüfbar, denn ein Raketenstart ist ein weit sichtbares Ereignis. Bei umfassender Raketenabrüstung wäre der Aufbau eines internationalen Überwachungssystems erforderlich, das satelliten- und luftgestützte Aufklärung ebenso umfasst wie Radaranlagen und Sensoren am Boden, die in den Weltraum gerichtet sind.11 Um die Verwendung von Weltraumraketen als ballistische Fernwaffen zu verhindern, muss auch die Überprüfung vor Ort an wichtigen Weltraumanlagen erfolgen, unter Einsatz zerstörungsfreier Messverfahren. Der Austausch von Informationen, etwa über Raketenstarts und Startgelände, ist eine weitere Quelle, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Vorschläge zur verbesserten Raketenfrühwarnung und -überwachung wurden von der russischen Regierung mit ihrem globalen Raketenkontrollsystem vorgelegt und auch bei einem Rundtischgespräch in Ottawa im März 2000 diskutiert.12

Kontrolle der Raketenabwehr

Der ABM-Vertrag untersagt beiden Staaten den Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr (Art. I), einschließlich Entwicklung, Erprobung und Stationierung (Art. V), bis auf 100 Abschussvorrichtungen an einem Ort und ein bis zwei Versuchsgebiete. Weitere Paragraphen untersagen, Nicht-ABM-Systeme mit einer »ABM-Fähigkeit« auszurüsten (Art. VI) sowie den Transfer von ABM-Technologien in andere Staaten (Art. IX). Nach der gemeinsamen Interpretation D sollen spezifische Begrenzungen auch für ABM-Systeme mit „anderen physikalischen Prinzipien“ Gegenstand von Gesprächen sein.

Der Vertrag ist doppelt unter Druck. Auf der einen Seite versucht die US-Führung seit Jahren, diesen Vertrag aufzuweichen oder gar abzuschaffen. Zum anderen untergraben neue rüstungstechnische Entwicklungen die Wirksamkeit des Vertrages, insbesondere phasengesteuerte oder mobile Radaranlagen, taktische Raketenabwehrsysteme (TMD: Tactical Missile Defense), Anti-Satelliten-Waffen (ASAT) und »exotische« Technologien wie Laserwaffen. Daher bedarf der ABM-Vertrag der Anpassung an veränderte Gegebenheiten, nicht im Sinne einer weiten Interpretation, die die Grenzen des Erlaubten überdehnt, sondern zur Konkretisierung und Stärkung der Vertragsbestimmungen.

Um definitorische Probleme zu minimieren hatte FAS-Wissenschaftler John Pike schon auf dem Hamburger Kongress 1986 quantitative und überprüfbare Grenzen für die verschiedenen ABM-Komponenten vorgeschlagen. Diese betreffen etwa die Höhe, Vorbeiflugdistanz und relative Geschwindigkeit von Abfangversuchen; die Zahl und den Ort für große phasengesteuerte Radaranlagen; Grenzen für die Helligkeit von Lasern oder die Öffnungsweite von Sensoren oder Laserspiegeln.13 Physikalische Betrachtungen über mögliche Grenzziehungen für Laserwaffen und taktische Raketenabwehr finden sich in zwei Studien von Jürgen Altmann.14 Mit dem Demarcation Agreement gab Russland dem Drängen der USA teilweise nach, ihr TMD-Programm zu legitimieren, was dem US-Senat aber noch nicht weit genug ging. General Wladimir Jakowlew wollte der FAZ vom 14.11.2000 zufolge ein weiteres Einlenken in der Frage des ABM-Vertrages nicht ausschließen, was aber umgehend dementiert wurde.

Rüstungskontrolle im Weltraum

Ein wichtiger Beitrag nicht nur zur Stärkung des ABM-Vertrages, sondern auch zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum wäre das Verbot von Weltraumwaffen. Ballistische Raketen langer Reichweite fliegen durch den Weltraum und Raketenabwehrsysteme nutzen zu ihrer Bekämpfung den Weltraum. Auch wenn in den Konzepten eines begrenzten Raketenabwehrsystems zunächst nur der Einsatz einzelner Komponenten (insbesondere Sensoren) im Weltraum geplant ist, ergeben sich völkerrechtliche Fragen. Zum Ersten steht die Erprobung und Stationierung solcher Komponenten im Weltraum in Konflikt mit Art. V des ABM-Vertrages. Zum Zweiten könnten weltraumgestützte Komponenten zur Zielscheibe von ASAT-Waffen werden. Bei einem weiteren Ausbau von NMD ist auch die Stationierung von Waffen in einer Umlaufbahn nicht mehr ausgeschlossen. Letztlich kann jede Waffe, die eine ballistische Rakete oberhalb der Atmosphäre treffen kann, auch Satelliten zerstören. Besondere Aktualität bekommt dies durch die Pläne des US Space Command, die Dominanz der USA im All auch militärisch zu festigen und missliebige Weltraumobjekte anderer Staaten bei Bedarf abschießen zu können.

Dies widerspricht den Interessen der Völkergemeinschaft. Grundpfeiler des Weltraumrechts ist der Weltraumvertrag von 1967, einschließlich der Zusatzabkommen. Darin verpflichten sich die Staaten zur friedlichen Nutzung des Weltraums, die im Interesse aller Staaten erfolgen soll. Militärische Einrichtungen auf Himmelskörpern sind ebenso verboten wie Massenvernichtungswaffen in der Erdumlaufbahn, andere Waffen jedoch nicht. Der Wunsch zur friedlichen Nutzung kommt auch in vielen Resolutionen der Vereinten Nationen zum Ausdruck, so in der 1999 ohne Gegenstimmen (bei Enthaltungen der USA und Israels) angenommenen UNO-Resolution »Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum«. Diese betont, „dass zur Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum weitere Maßnahmen mit geeigneten wirksamen Verifikationsbestimmungen notwendig sind.“

Trotz überwältigender Zustimmung zu diesen Zielen hapert es mit der Umsetzung, denn weder die Genfer Abrüstungskonferenz noch der UN-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums wollen oder können sich angesichts des Widerstands der USA dieser Frage annehmen. Ältere Initiativen gegen eine Bewaffnung des Weltraums sind die 1983 und 1984 vorgelegten Vorschläge Frankreichs und der Sowjetunion zum Verbot von ASAT bzw. zur Begrenzung von Weltraumwaffen. Die Union of Concerned Scientists erarbeitete Anfang 1983 einen Vertragsentwurf zum Verbot von Anti-Satellitenwaffen, der von deutschen Wissenschaftlern zu einem »Vertragsentwurf zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums« erweitert und im Juli 1984 anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses gegen die Weltraumrüstung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.15 Der Entwurf war im Herbst 1984 auf Initiative der SPD Gegenstand einer Bundestagsdebatte und fand die Unterstützung der Grünen, stieß aber auf Ablehnung der damaligen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP.

Verboten werden sollen Waffen gegen Weltraumobjekte (ASAT) und weltraumgestützte Waffen gegen beliebige Ziele, einschließlich Entwicklung, Test und Stationierung. Mit dem Testverbot könnte die Herstellung fortgeschrittener Weltraumwaffen noch verhindert werden. Stabilisierende Funktionen von Satelliten sollen durch den Entwurf nicht eingeschränkt werden; vorgeschlagen wird lediglich, die Benutzung weltraumgestützter Systeme zur direkten Lenkung von Nuklearwaffen und die Errichtung bemannter militärischer Kommandozentralen zu verbieten. Auch wenn der Göttinger Vertragsentwurf ein Kind seiner Zeit ist, bleibt das Anliegen relevant: die Risiken einer Rüstungsdynamik im Weltraum in überprüfbarer Weise zu verhindern.16

Anmerkungen

1) V. Falin: Die sowjetische Sicht der Ereignisse des Reykjavik-Gipfels, in: W. Kerby, R. Rilling (Hrsg.): Wege aus dem Wettrüsten, Marburg, 1987, S. 38.

2) J. Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability, Doktorarbeit, Marburg, IAFA, 1989. Darin finden sich Modellrechnungen und eine Literaturübersicht.

3) G.H. Canavan, E. Teller: Strategic defence for the 1990s, Nature, Vol. 344, 19 April 1990, pp. 699-704.

4) Siehe J. Scheffran, J. Altmann, W. Liebert: Keine Mauer zwischen Nord und Süd – SDI kann das Proliferationsproblem nicht lösen, Dokumentation der Frankfurter Rundschau, 9.4.1992; eine längere Version mit G. Neuneck, B. W. Kubbig und K. Fuchs findet sich in: Von SDI zu GPALS, Dossier Nr. 10, Wissenschaft und Frieden, 2/1992.

5) Widersprüchliche Signale zum ABM-Vertrag, FAZ, 14.11.00.

6) Vgl. J. Altmann, W. Liebert, G. Neuneck, J. Scheffran: Preventive Arms Control as a Prerequisite for Conversion of Military R&D, in: J. Reppy, V. Avduyevsky, J. Rotblat (eds.): Conversion of Military R&D, Macmillan Press, 1999, S. 255-271.

7) M. B. Kalinowski, W. Liebert, J. Scheffran: Ist die Zeit reif für die Nuklearwaffenkonvention?, Sicherheit und Frieden (S+F) 2/98, S. 108-114; IALANA/INESAP/IPPNW: Security and Survival. The Case for a Nuclear Weapons Convention, Cambridge, MA, 1999 (auf deutsch: Berlin 2000).

8) J. Scheffran, G. Neuneck: Schritte zur Abschaffung ballistischer Raketen, in: Wissenschaft und Frieden 13, 1/95, S. 30, 49-51; J. Scheffran: Raketenkontrolle: Verteidigen ist gut – Kontrolle ist besser, Spektrum der Wissenschaft, Sept.2000, S. 94-99.

9) Revisiting Zero Ballistic Missiles – Reagan's Forgotten Dream, in: F.A.S. Public Interest Report, May/June 1992; A. Frye: Zero Ballistic Missiles, Foreign Policy, No. 88, Fall 1992, S. 12-17.

10) Siehe U. Schelb: Raketenzielgenauigkeit und Raketenteststopp, Marburg, 1988; L. Lumpe: A Flight Test Ban as a Tool for Curbing Ballistic Missile Proliferation, INESAP Information Bulletin, No.4, January 1995, pp. 15-18.

11) J. Scheffran: Ein internationales Überprüfungssystem für die Nicht-Verbreitung und Abrüstung ballistischer Raketen, in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, DPG/FONAS, 1996, S. 260-288.

12) Ballistic Missiles Foreign Experts Roundtable Report, March 30-31, 2000, Canadian Centre for Foreign Policy Development, April 7, 2000.

13) J. Pike: Quantitative Begrenzungen von Raketenabwehrsystemen, Wissenschaft und Frieden, 88/1.

14) J. Altmann: Laserwaffen, Marburg, IAFA-Schriftenreihe Nr. 2, 1986; J. Altmann: SDI for Europe?, Frankfurt, HSFK Research Report 3/1998.

15) Siehe H. Fischer, R. Labusch, E. Maus, J. Scheffran: Entwurf eines Vertrages zur Begrenzung der militärischen Nutzung des Weltraums, in: R. Labusch, E. Maus, W. Send (Hrsg.): Weltraum ohne Waffen, München, Bertelsmann, 1984, S. 175-187. Auf englisch: Treaty on the Limitation of the Military Use of Outer Space, in: J. Holdren, J. Rotblat (eds.): Strategic Defences and the Future of the Arms Race, New York, St. Martin's Press, 1987. Ein neu kommentierter Diskussionsentwurf wurde von mir anlässlich des Göttinger Naturwissenschaftler-Kongresses zur Raketenabwehr am 4.11.2000 vorgelegt.

16) Optionen finden sich in: J. Scheffran: Rüstungskontrolle bei Antisatellitenwaffen – Risiken und Verifikationsmöglichkeiten, Frankfurt, HSFK-Report, Nr. 6, Okt. 1986; J. Scheffran: Die Überprüfbarkeit eines Abkommens zur Begrenzung von Anti-Satelliten-Waffen, in: B. Kubbig (Hrsg.): Die militärische Eroberung des Weltraums, Bd. 1, Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 418-447.

Dr. Jürgen Scheffran ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt und Redakteur von W&F

Atomare Rüstungskontrolle

Atomare Rüstungskontrolle

– Opfer des US-amerikanischen Unilateralismus

von Alexander Kelle

Die Medien haben wieder einmal falsch berichtet: Die Erklärung der fünf offiziellen Nuklearwaffenstaaten USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich am Ende der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) stellt keinen Durchbruch auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt dar, ja noch nicht einmal eine in ihrer inhaltlichen Substanz neue Aussage. Die Fünf hatten bereits bei der unbegrenzten Verlängerung des NVV im Jahr 1995 eine Verpflichtung abgegeben, nukleare Abrüstung nicht nur als Prozess zu verstehen, sondern auch als verbindliches Ziel im Sinne der vollständigen nuklearen Abrüstung. Damals wie heute weigern sich die Kernwaffenbesitzer aber, einen auch nur unverbindlichen Termin für die Realisierung dieses Ziels anzugeben. Es sei praktikabler – so ihre Argumentation – in überschaubaren, aufeinander folgenden Abrüstungsschritten voranzugehen. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden solange erkennbar bleibt, dass die Strategie zum gewünschten Ziel führt. Genau daran sind derzeit jedoch erhebliche Zweifel angebracht.

Im bilateralen US-amerikanisch-russischen Abrüstungsdiskurs überwiegen die negativen Anzeichen eindeutig. Daran ändert auch die kurz vor der NVV-Überprüfungskonferenz erfolgte Ratifizierung des START-II-Vertrages zur Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen nichts. Diese war zweifellos mit Blick auf ebendiese Konferenz erfolgt, wo sie dazu genutzt werden konnte, Fortschritte bei der Umsetzung der im NVV enthaltenen Abrüstungsverpflichtung zu demonstrieren. Mit diesem Schritt tritt jedoch weder der START-II-Vertrag unmittelbar in Kraft – dazu müssen die USA ihrerseits noch Ergänzungen des Vertrags ratifizieren – noch besteht Klarheit zwischen den beiden Parteien über die jetzt vorzunehmenden Abrüstungsschritte.

Weiter gehende Abrüstungsschritte im bilateralen Rahmen werden zudem durch die US-Pläne bezüglich eines landesweiten Raketenabwehrsystems erschwert. Die russische Besorgnis über ein nationales Raketenabwehrsystem in den USA blockierte lange Zeit bilaterale Schritte zur Reduktion der strategischen Nuklearwaffenarsenale. Die Ratifizierung des START-II-Vertrags durch die russische Duma im April 2000 wurde denn auch an die Abkehr der USA von ihren Plänen, ein landesweites Raketenabwehrsystem zu errichten, geknüpft.

Auch auf multilateraler Ebene, in der Genfer Abrüstungskonferenz (CD), droht die US-amerikanische Raketenabwehr Fortschritte bei der nuklearen Rüstungskontrolle gänzlich zu verhindern. Scheiterte der Beginn von Verhandlungen über einen sogenannten Cut-Off-Vertrag bislang an der damit verbundenen Forderung einiger Blockfreie Staaten nach einem verbindlichen Abrüstungsfahrplan, so droht nun die chinesische Forderung nach einem »Ausschuss zur Verhinderung eines Rüstungswettlaufs im Weltall« weiteren Sand in das abrüstungspolitische Getriebe der CD zu streuen. Verantwortlich für diese chinesische Forderung sind zweifelsfrei die US-Raketenabwehrpläne. Insbesondere die Möglichkeit regionaler Abwehrsysteme, die in Japan, Südkorea oder gar Taiwan stationiert werden könnten, alarmieren die chinesische Führung.

Mit Blick auf den Umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) von 1996, der als letzter Meilenstein der nuklearen Rüstungskontrolle angesehen werden muss, stellt ebenfalls die US-Politik eines der entscheidenden Hindernisse auf dem Weg zu seinem Inkrafttreten dar. Die Ablehnung des CTBT durch den amerikanischen Senat im Oktober 1999 wird hier – ungeachtet der russischen CTBT-Ratifizierung im April 2000 weiteren Stillstand verursachen. Die Ratifizierung durch China ist höchst unwahrscheinlich, schließlich hat China seine letzten Nukleartests 1996 mit dem Hinweis auf seinen Rückstand bei der Waffenentwicklung gegenüber den USA und Russland gerechtfertigt. Sollte nun ein landesweites Raketenabwehrsystem in den USA errichtet werden, könnte die chinesische Führung zu dem Schluss kommen, die Glaubwürdigkeit des chinesischen Abschreckungsdispositivs werde vollends untergraben. In einem solchen Szenario könnte die Entwicklung neuer Nuklearwaffen – möglicherweise unter Einbezug von Nukleartests – als einzig mögliche Option erscheinen, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten.

Betrachtet man die Ursachen der gegenwärtigen Krisensymptome nuklearer Rüstungskontrolle – verzögertes Inkrafttreten von CTBT und START-II-Vertrag, ausbleibende Verhandlungen über einen Cut-Off-Vertrag, unklarer Einzugsbereich von START-III-Verhandlungen und, last but not least, die Raketenabwehrpläne – so zeigt sich der zunehmende US-amerikanische Unilateralismus als entscheidender Einflussfaktor. Jedoch bleibt diese politische Grundhaltung nicht auf die nukleare Rüstungskontrolle begrenzt: Die Umsetzung des Chemiewaffen-Übereinkommens durch die USA läuft schleppend, bei den Verhandlungen über ein Biowaffen-Protokoll blockieren die USA rasche Fortschritte und die Anti-Personenminen-Konvention wurde ohne die USA abgeschlossen, um nur einige Beispiele zu nennen. Allerdings manifestiert sich dieser Unilateralismus nicht nur im sicherheitspolitischen Bereich, sondern auch in anderen Politikfeldern wie etwa der Umweltpolitik. So ist denn auch der von Harald Müller im diesjährigen Friedensgutachten auf den Punkt gebrachten Feststellung insbesondere auch im Rüstungskontrollbereich zuzustimmen: „Die Welt hat ein Problem. Das Problem heißt USA.“ Eine schnelle, politikfeldbezogene Lösung ist in Anbetracht des sehr viel grundlegenderen Charakters des Problems nicht zu erwarten. Es ist zu hoffen, dass der Bestand verhandelter Rüstungskontrollabkommen die gegenwärtige unilaterale Phase der US-Politik ohne größere Verluste übersteht. Der größten Gefahr ist hier der ABM-Vertrag ausgesetzt, der mit den US-Raketenabwehrplänen ausgehebelt zu werden droht. Hier ist ein Gegensteuern der an Rüstungskontrolle nach wie vor interessierten US-Verbündeten am dringendsten geboten.

Dr. Alexander Kelle, Institut für Vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen, J.W. Goethe Universität/Hessische Stiftung Friedens und Konfliktforschung

Die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle

Die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle

von Oliver Meier

Als Ende der Achtzigerjahre die politische Auseinandersetzung zwischen Ost und West abflaute, schien es zunächst so, als ob auch die nukleare Konkurrenz zwischen den Blöcken beendet werden könnte. Der Abschluss des Intermediate Nuclear Forces-Abkommens (INF) 1987 über die Vernichtung aller nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa markierte den Beginn einer Periode wichtiger rüstungskontrollpolitischer Erfolge. Die USA und die Sowjetunion vereinbarten in der Folge eine Reduzierung ihrer strategischen Waffen auf ein Drittel und zogen einige Tausend taktische Atomwaffen aus Europa ab. Nicht nur zwischen den beiden nuklearen Großmächten, auch im multilateralen Rahmen kam die atomare Rüstungskontrolle entscheidend voran. 1995 wurde der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (Nuclear Nonproliferation Treaty, NPT) unbegrenzt verlängert und ein Jahr später der Vertrag über ein Umfassendes Verbot von Nukleartests (Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, CTBT) zur Unterschrift ausgelegt.

Seitdem jedoch ist die nukleare Rüstungskontrolle zum Stillstand gekommen. Mittlerweile hat die Periode „der großen Frustration“1 mit der Ablehnung des CTBT durch den US-Senat am 13. Oktober 1999 einen neuen, traurigen Tiefpunkt erreicht. Seit mehreren Jahren werden weder in bilateralen Gesprächen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland noch auf der multilateralen Ebene Fortschritte erzielt. Das Inkrafttreten des START II-Vertrages und des CTBT ist in weite Ferne gerückt. Die Aushandlung neuer Verträge, zum Beispiel eines »Verbots der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen und andere Kernsprengkörper« (Treaty Banning the Production of Fissile Material for Nuclear Weapons or other Explosive Devices, Fissile Material Treaty, FMT), erscheint momentan unmöglich. Eine Ausweitung des rüstungskontrollpolitischen Dialoges durch die Einbeziehung taktischer und inaktiver Waffen oder die Teilnahme der Atomwaffenbesitzer China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel und Pakistan ist noch schwerer vorstellbar.

Ist die »traditionelle« Rüstungskontrolle, die Militärpotenziale auf der Grundlage von Verträgen reguliert, der heutigen dynamischen, multipolaren Welt nicht mehr angemessen? Ist der herkömmliche Rüstungskontrollprozess zu langsam? Diejenigen, die diese Frage bejahen, propagieren zunehmend eine flexiblere Abrüstungspolitik: Militärpotenziale sollen durch eine Mischung uni- und bilateraler Schritte begrenzt und reduziert werden und nicht mehr notwendigerweise auf der Grundlage ausgehandelter, starrer Verträge. Staaten sollen ad hoc entscheiden können, welche Waffen und Rüstungspotenziale sie als unnötig erachten. Derartige lediglich politisch verbindliche Abrüstungsmaßnahmen können bilateral oder sogar zwischen mehreren Staaten koordiniert werden. Ihre Durchführung kann wenn nötig durch internationale BeobachterInnen oder andere Mittel verifiziert werden.2 Im Folgenden werden Probleme neuer und alter Rüstungskontrollansätze schlaglichtartig an einigen Themen der nuklearen Rüstungskontrolle beleuchtet.

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag

Der NPT bildet das Fundament der atomaren Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle. 182 Staaten haben durch ihren Beitritt dauerhaft auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA werden durch den Vertrag zwar als Atomwaffenstaaten anerkannt, allerdings verpflichteten sie sich gleichzeitig zur nuklearen Abrüstung. Auch wenn ein Beitritt der Atomwaffenbesitzer Indien, Israel und Pakistan nach den Atomtests der beiden südasiatischen Staaten im Mai 1998 derzeit nicht vorstellbar ist, wird die globale nukleare Nichtverbreitungsnorm nach wie vor zentral durch den NPT verkörpert.

Als im Mai 1995 eine Entscheidung über die Gültigkeitsdauer des NPT getroffen werden musste, stimmten viele Nichtkernwaffenstaaten der unbegrenzten Verlängerung des Vertrages nur zu, weil die Kernwaffenstaaten im Gegenzug einen Prinzipienkatalog über Ziele der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung sowie eine Stärkung des Prozesses zur Überprüfung des Vertrags akzeptierten. Auf der im kommenden April und Mai stattfindenden ersten Überprüfungskonferenz des NPT seit 1995 wird dieser »Handel« – Atomwaffenverzicht gegen Fortschritte bei der Abrüstung – wieder im Mittelpunkt von Diskussionen stehen. Die bisherige Bilanz dürfte aus Sicht vieler Nichtkernwaffenstaaten nicht allzu positiv ausfallen. Weder ist die nukleare Rüstungskontrolle, wie 1995 in Aussicht gestellt, voran gekommen, noch gaben die letzten Treffen der Vertragsstaaten Anlass zur Hoffnung, dass die Atomwaffenstaaten bereit sind, sich ernsthaft auf eine Stärkung des NPT einzulassen.3

Gleichzeitig nehmen die USA den Kampf gegen die Verbreitung von nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen zunehmend in die eigene Hand. Grundlage ist die 1993 eingeführte »Counterproliferation«-Strategie, die die Gewichte zwischen multi- und unilateralen Instrumenten der Nichtverbreitung neu verteilt hat. Die Proliferation von Massenvernichtungwaffen soll danach durch eine jeweils adäquate Mischung aus »sticks and carrots« begrenzt und verhindert werden. Internationale Organisationen wie etwa die für die Verifikation des NPT zuständige Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien spielen in diesem Konzept eine wichtige, aber keine zentrale Rolle. Das gilt ebenso für die Vereinten Nationen: Wenn alle politischen und diplomatischen Bemühungen fehlschlagen, halten die USA sich den Einsatz militärischer Mittel zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vor – notfalls auch ohne UN-Mandat.4 Langfristig aber sind NPT und Counterproliferation inkompatibel: Entweder der Kernwaffenbesitz wird als Teil des Nichtverbreitungs-Problems gesehen oder als ein Element seiner Lösung.

Die Begrenzung
der nuklearen Arsenale

Die Fortschritte bei der Begrenzung und Verkleinerung der nuklearen Arsenale bildeten Anfang der Neunzigerjahre den wichtigsten Anlass zur Hoffnung, die Kernwaffenstaaten könnten es mit der atomaren Abrüstung ernst meinen. In kurzer Abfolge vereinbarten die USA und die Sowjetunion/Russland eine Reihe historischer Abrüstungsmaßnahmen, die praktisch alle Kernwaffenarten erfassten: Der START I-Vertrag vom 31. Juli 1991 begrenzte die Zahl der strategischen Sprengköpfe auf je 6.000. Weitreichende Rüstungskontrollmassnahmen bei den taktischen Waffen sowie der Verzicht auf neue strategische Systeme wurden am 27. September und 5. Oktober 1991 sowie am 28. und 29. Januar 1992 von Washington und Moskau verkündet. In der Folge wurde Zentraleuropa (bis auf die fortgesetzte Stationierung von 150-200 taktischen Atomwaffen durch die USA im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO) atomwaffenfrei. Mit dem START II-Vertrag vom Januar 1993 legten die beiden Seiten eine Obergrenze von 3.500 strategischen Sprengköpfen für die USA und 3.000 für Russland fest und verzichteten auf landgestützte Nuklearraketen mit Mehrfachsprengköpfen, die wegen ihrer Erstschlagfähigkeit besonders destabilisierend sind.5

Seitdem bildet die nukleare Rüstungskontrolle ein gemischtes Bild. Einerseits verringert sich die Anzahl der Atomwaffen kontinuierlich: Die USA werden die Obergrenzen des START II-Vertrages voraussichtlich nächstes Jahr erreichen6; während Russland wegen fehlender Ressourcen diese Obergrenzen bald sogar unterschreiten wird.7 Im März 1997 einigten sich Clinton und Jelzin darauf, dass ein START III-Abkommen Obergrenzen von jeweils 2.500 strategischen Waffen für jede Seite festschreiben soll. Beide Regierungen verkündeten zudem, inaktive Sprengköpfe und taktische Kernwaffenwaffe in Abrüstungsgespräche mit einzubeziehen.8 Andererseits bleibt die vertraglich geregelte Abrüstung blockiert: Informelle »Diskussionen« über ein START III-Abkommen kommen nicht vom Fleck9 und die strategische Rüstungskontrolle bleibt so lange blockiert wie Russland sich weigert, START II zu ratifizieren und die USA die Ratifikation zur Voraussetzung für die Aufnahme von formellen Verhandlungen macht.

Angesichts dieser politischen Blockade mehren sich die BefürworterInnen einer vertraglich nicht geregelten nuklearen Abrüstung. Das in Washington einflussreiche Stimson Center hat zum Beispiel vorgeschlagen, die Nukleararsenale beider Seiten in einer Reihe paralleler, reziproker und verifizierbarer Schritte weiter drastisch zu reduzieren. Die Vereinigten Staaten und Russland würden nach diesem Modell ihre nuklearen Arsenale in einem transparenten Prozess auf je 1.000 Sprengköpfe reduzieren. Daneben sollen beide Seiten den Alarmzustand ihrer Atomwaffen weiter herabsetzen.10 Wie schon bei den taktischen Waffen, deren Rückzug und teilweise Vernichtung ohne einen Vertrag stattfand, könnten unilaterale Schritte im strategischen Bereich die von diesen Waffen ausgehenden Gefahren erheblich mindern. Die Entwicklung bei den taktischen Waffen macht aber zugleich auch die Schwächen eines solchen Ansatzes deutlich: Da es keine verbindlichen Obergrenzen für Waffen kurzer Reichweite gibt, können russische PolitikerInnen ungestört davon träumen, durch eine massive Aufrüstung bei diesen Waffen den Zerfall der konventionellen russischen Militärmacht zu kompensieren.11 Bis heute sind weder die USA noch Russland verpflichtet, ihre Bestände an taktischen Waffen öffentlich zu machen.12

Ein Ende der Produktion spaltbarer Materialien

Ein FMT steht seit mehreren Jahrzehnten auf der Tagesordnung der multilateralen Rüstungskontrolle. Viele sehen in einem solchen Abkommen den nächsten logischen Schritt nach einem Abkommen über die Beendigung von Atomtests. Ein Verbot der Produktion von Plutonium und hochangereichertem Uran für Kernwaffenzwecke würde dauerhaft und überprüfbar ein quantitatives Ende der nuklearen Aufrüstung festschreiben.13 Zweimal bereits hat sich die internationale Gemeinschaft darauf verständigt, einen solchen Vertrag zu verhandeln. Im März 1995 hatte der kanadische Botschafter Gerald E. Shannon es geschafft, eine Einigung über ein Verhandlungsmandat zu erzielen. Am 11. August 1998 beschlossen die damals 61 Mitgliedsstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) dann endlich, FMT-Verhandlungen zu beginnen.14

Seitdem allerdings ist dieser Konsens, der unter dem Eindruck der indischen und pakistanischen Atomtests vom Mai 1998 zustande gekommen war, nicht wieder herzustellen gewesen. Die Gründe sind vielfältig: Viele Nichtkernwaffenstaaten möchten gleichzeitig im multilateralen Rahmen über nächste nukleare Rüstungskontrollschritte reden. Aber auch einige Kernwaffenbesitzer sind nicht wirklich an einem zügigen Verhandlungsbeginn interessiert. China macht seine Zustimmung zu FMT-Verhandlungen davon abhängig, dass gleichzeitig die US-amerikanischen Pläne zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems zum Thema multilateraler Gespräche werden. Indien und Pakistan wollen die eigenen Nukleararsenale weiter ausbauen und brauchen dafür noch weitere spaltbare Materialien. Israel schließlich befürchtet, dass ein FMT es notwendig machen könnte, sich als Atomwaffenstaat zu bekennen.

Trotz der Blockade auf der multilateralen Ebene sind im uni- und bilateralen Rahmen zum Teil erhebliche Fortschritte bei der Transparenz und Kontrolle waffenfähiger spaltbarer Materialien gemacht worden. Alle Atomwaffenstaaten haben begonnen, ihre militärischen Bestände an spaltbaren Materialien zu deklarieren.15 Zudem haben Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA mittlerweile ein Produktionsmoratorium für waffenfähiges Plutonium und Uran verkündet. Es wird vermutet, dass auch China die Produktion solcher Materialien beendet hat.

Am dringlichsten aber sind die Kontrolle und die Sicherheit hunderter Tonnen potenziell atomwaffenfähiger Materialien, die unter teilweise katastrophalen Bedingungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lagern. Hier haben die USA eine internationale Führungsrolle übernommen und finanzieren (mit der Unterstützung einiger anderer westlicher Staaten) ein umfangreiches Kooperationsprogramm mit Russland. Diese Bemühungen werden durch die sogenannte Trilaterale Initiative ergänzt, durch die die USA zusammen mit Russland und der IAEO versuchen, eine Einigung darüber zu erzielen, wie spaltbare Materialien militärischer Herkunft IAEO-Sicherungsmaßnahmen unterstellt werden können.16

Ohne diese größtenteils nicht vertraglich geregelten Nonproliferations- und Abrüstungsbemühungen wäre die Gefahr eines Unfalls oder Diebstahls solcher waffenfähiger Materialien heute erheblich größer. Da kein Nuklearwaffenbesitzer durch den NPT verpflichtet ist, seine zivilen oder militärischen Nuklearaktivitäten unter internationale Kontrolle zu stellen, bleiben viele dieser Maßnahmen allerdings reversibel.

Der nukleare Teststopp

Im August 1996 konnte die CD langjährige Verhandlungen über ein umfassendes Verbot aller Nukleartests zu Ende bringen. Der Vertrag verbietet dauerhaft alle Nuklearexplosionen und sieht umfangreiche Verifikationsmaßnahmen vor, die ein Unterlaufen des Verbots unmöglich machen sollen. Allerdings müssen 44 Staaten mit einem fortgeschrittenen zivilen Nuklearprogramm den Vertrag ratifizieren, bevor er in Kraft treten kann. Zwar haben mehr als 150 Staaten das Abkommen gezeichnet und über 50 Staaten ratifiziert, darunter jedoch nur 26 Staaten jener Gruppe der 44. Von den Atomwaffen besitzenden Ländern ratifizierten lediglich Großbritannien und Frankreich den Vertrag. China, Israel, Russland und die USA beließen es bisher bei einer Unterzeichnung; Indien, Nordkorea und Pakistan konnten sich nicht einmal dazu entscheiden.

Die Ablehnung des CTBT durch den US-Senat am 13. Oktober 1999 macht die USA zum ersten Staat, in dem das Ratifikationsverfahren gescheitert ist. Damit ist ein formelles Inkrafttreten des Atomtest-Abkommens zunächst verhindert worden. Sollte der Kongress in einem zweiten Schritt auch den US-amerikanischen Beitrag zur Atomteststopp-Behörde in Wien streichen, so würde der Aufbau des Verifikationssystems erheblich erschwert. Die USA tragen mit 25% den größten Anteil der Kosten und US-Technologie ist maßgeblich für das Funktionieren des Überwachungssystems.17 Ein CTBT ohne die USA ist schwer vorstellbar. Außerdem werden die anderen Atomwaffenstaaten den CTBT kaum vor den USA ratifizieren.

Wenn es darum geht, die Proliferation von Nuklearwaffen zu verhindern, verlässt sich die Mehrheit der US-SenatorInnen offensichtlich eher auf die militärischen Fähigkeiten des eigenen Landes als auf multilaterale Regelungen. Die Gefahr einer unerkannten Vertragsverletzung war eines der wichtigsten Argumente der GegnerInnen des Vertrages. Der Vorsitzende der RepublikanerInnen im Senat, Trent Lott, sah in dem Vertrag deshalb gar „einen Akt einseitiger Abrüstung“.18 Obwohl die USA immer noch über rund 10.000 Atomsprengköpfe verfügen19 und in der Atomwaffenforschung weltweit führend sind weigert sich der Senat, jeglicher vertraglichen Einschränkung der nuklearen Fähigkeiten der USA zuzustimmen. „Niemals zuvor sind die Ansichten unserer engsten Verbündeten so leichtfertig missachtet worden. Niemals zuvor hat der Senat einen Vertrag dieser Bedeutung so abrupt abgelehnt“, stellte US Außenministerin Madeleine Albright nach der Ablehnung des Teststopps ernüchtert fest.20

Wohin geht die Reise?

Angesichts der politischen Blockade in vielen Bereichen der nuklearen Rüstungskontrolle ist es sinnvoll und notwendig, den Abrüstungsprozess durch uni- und bilaterale Maßnahmen voran zu treiben. Solche Ansätze sind im Einzelfall flexibel, effizient und einfach zu implementieren. Durch sie können bereits unterzeichnete aber noch nicht ratifizierte Verträge vorzeitig umgesetzt werden. Gleichzeitig können unilaterale Vorleistungen die Aufnahme neuer Verhandlungen erleichtern. Allerdings bestehen gegenüber ausgehandelten Rüstungskontrollverträgen entscheidende Nachteile. Gerade in Krisenzeiten, wenn die durch Verträge garantierte Erwartungsverlässlichlichkeit besonders wichtig ist, können unilaterale Maßnahmen zurück genommen werden. Ihre Einhaltung ist oft nicht kontinuierlich überprüfbar. Schließlich werden im Rahmen solcher Maßnahmen besonders problematische Bereiche der Rüstungskontrolle oft ausgeklammert. Langfristig sollten solche Schritte daher wo immer möglich in rechtlich bindende Verträge überführt werden, die auch verifiziert werden können. Nur wenn Regeln existieren, die es Staaten ermöglichen, die Einhaltung von Verträgen auch zu überprüfen, kann das Vertrauen in Rüstungskontrollabkommen langfristig gesichert werden.

Ob insbesondere die US-amerikanische Rüstungskontrollpolitik sich tatsächlich dauerhaft von multilateralen Regelungen abwendet, wird die Zukunft zeigen. Entscheidend dürfte unter anderem sein, ob Präsident Clinton im nächsten Sommer der Stationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems zustimmt. China und Russland haben unmissverständlich klargemacht, dass sie den Aufbau eines solchen, mit dem Anti Ballistic Missile (ABM)-Vertrag aus dem Jahr 1972 inkompatiblen Systems als eine Gefährdung der strategischen Stabilität sehen. Beide Staaten haben gedroht, auf einen solchen Entschluss mit dem Ausbau ihrer eigenen Offensivkapazitäten zu antworten.21 Auch einige der europäischen Verbündeten der USA lehnen ein nationales US-Raketenabwehrsystem ab. Sie fürchten zum einen negative Auswirkungen auf die Rüstungskontrolle, zum anderen sehen sie die Gefahr eines Auseinanderdriftens in der NATO, wenn die USA sich gegen bestimmte Bedrohungen durch einen Raketenschild schützen, während Europa ungeschützt bleibt.22

Ein Verzicht auf eine nationale Raketenabwehr – und das heißt die Einhaltung des ABM-Vertrages – ist die Mindestvoraussetzung für eine Wiederbelebung der nuklearen Rüstungskontrolle. Keiner der Atomwaffenbesitzer bemüht sich derzeit ernsthaft, die nukleare Abrüstung voran zu bringen. Die USA sind daher nicht allein für die gegenwärtige Krise in der nuklearen Rüstungskontrolle verantwortlich zu machen. Allerdings haben die Vereinigten Staaten den größten politischen und militärischen Spielraum, um die nukleare Rüstungskontrolle wieder in Gang zu bringen.

Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verification Research, Training and Information Centre (VERTIC) in London.


Für ein Jahrhundert ohne Atomwaffen

Die Nuklearwaffen stellen die Existenz der Menschheit insgesamt in Frage. Ein neues Denken, eine neue Politik ist notwendig, um die Kernwaffen unter Kontrolle zu bringen, das Wettrüsten einzustellen und damit auch die Liquidierung der Kernwaffenarsenale zu garantieren. Denn die vorhandenen Kernwaffenarsenale bilden nach wie vor eine potenzielle Gefahr. So vergingen mittlerweile schon mehrere Jahre, in denen zwischen den USA und Rußland keine Verhandlungen über die Fortsetzung der nuklearen Abrüstung geführt wurden. Die Ratifizierung des SALT-2-Vertrages wurde verzögert. Die Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen besteht weiterhin. Es gibt auch bestimmte Gründe zur Sorge hinsichtlich der ungesetzlichen Weitergabe von atomwaffenfähigem Plutonium sowie hinsichtlich der Möglichkeit einer nuklearen Erpressung.

All das bedeutet, daß die Regierungen, internationalen Organisationen und die Weltöffentlichkeit nicht wenige Anstrengungen unternehmen müssen, um die atomare Gefahr zu bannen. Deshalb ist beharrlich hinzuarbeiten auf:

  • die weitere tiefgreifende Kürzung der Kernwaffenarsenale der USA und Rußlands sowie die Einbeziehung der übrigen Atommächte in diesen Prozeß;
  • die vollständige und endgültige Einstellung der Kernwaffenversuche;
  • die Verstärkung der Funktion der Internationalen Atomenergiebehörde bezüglich der Lieferung nicht nur aller atomaren, sondern auch »voratomaren« Materialien sowie bezüglich der Kontrolle der weltweiten Nutzung von Kernenergie;
  • die Ausarbeitung eines Garantiesystems für jene Länder, die keine Atomwaffen besitzen.

Ich bleibe ein überzeugter Verfechter des Übergangs zu einer atomwaffenfreien Welt. Die Verbreitung von Kernwaffen kann letztlich nur dadurch verhindert werden, daß die Atommächte durch Taten ihre Bereitschaft zeigen, die Kernwaffen nach und nach vollständig zu vernichten.

Anmerkungen

1) William Walker: International nuclear relations after the Indian and Pakistani test explosions, International Affairs 74, 3 (1998).

2) Siehe zum Beispiel Stansfield Turner: Clinton Can Cut Nuclear Arms Without a Treaty, International Herald Tribune, November 2, 1999.

3) Gute Analysen zum NPT finden sich auf der Internetseite des ACRONYM Instituts (http://www.acronym.org.uk/) und des Programme for Promoting Nuclear Non-Proliferation (http://www.soton.ac.uk/~ppnn/).

4) Department of Defense, Office of the Secretary of Defense: Proliferation – Threat and Response, Washington D.C., April 1996.

5) Oliver Meier: Wettlauf ohne Gegner? Die amerikanische Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Muenster, Agenda Verlag, 1998.

6) Oleg Bukharin and Kenneth Luongo: U.S.-Russian Warhead Dismantlement Transparency: The Status, Problems, and Proposals, PU/CEES Report No. 314, Princeton: Center for Energy and Environmental Studies, April 1999.

7) Siehe Alexander A. Pikayev: The Rise and Fall of START II: The Russian View, Working Papers Number 6, Carnegie Endowment for International Peace, Washington D.C., Non-Proliferation Project, September 1999, http://www.ceip.org/programs/npp/pikayevindex.htm.

8) Joint Statement on Parameters on Future Reductions in Nuclear Forces, Helsinki Summit, 21 March 1997.

9) Craig Cerniello: Little Progress Made at START/ABM Talks, Arms Control Today 29, 5 – July/August 1999. Solche Gespräche waren auf dem G8-Gipfel im Sommer 1999 vereinbart worden. The White House, Office of the Press Secretary: Joint Statement Between the United States and the Russian Federation Concerning Strategic Offensive And Defensive Arms and Further Strengthening of Stability, Cologne, June 20, 1999.

10) Committee on Nuclear Policy: Jump-START: Retaking the Initiative to Reduce Post-Cold War Nuclear Dangers, Washington D.C., The Henry L. Stimson Center, February 1999.

11) Insbesondere der ehemalige russische Atomenergieminister Viktor Mikhailov fordert immer wieder öffentlich eine stärkere Rolle taktischer Waffen. Siehe zum Beispiel David Hoffman: Russia's Nuclear Future Is Uncertain, Washington Post, August 31, 1999.

12) Schätzungen reichen von 6.000 bis 13.000 russischen taktischen Sprengköpfen. Ebenso geheim ist die Anzahl der taktischen US-Waffen in Europa, sie dürfte bei etwa 180 liegen. Siehe Nikola Sokov: Tactical Nuclear Weapons Elimination – Next Steps for Arms Control, The Nonproliferation Review 4, 2 – Winter 1997; Otfried Nassauer and others: Amerikanische Atomwaffen in Europa 1996-97, BASIC-BITS-Research Note 97.1, Berlin, London, Washington, Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit / British American Security Information Council, April 1997.

13) Eine sehr gute Zusammenfassung der Probleme eines FMT bietet Annette Schaper: A Treaty on the Cutoff of Fissile Material for Nuclear Weapon – What to cover? How to verify?, PRIF-Report – Peace Research Institute Frankfurt, 48/1997.

14) Draft Decision on the Establishment of an Ad Hoc Committee under Item 1 of the Agenda entitled »Cessation of the Nuclear Arms Race and Nuclear Disarmament«, Geneva, Conference on Disarmament, 11 August, 1998.

15) Allerdings ist Großbritannien der einzige Atomwaffenstaat, der dies umfassend getan hat. UK Strategic Defence Review, 8 July 1998.

16) Frans Berkhout and William Walker: Transparency and Fissile Materials, Disarmament Forum, 2, 1999.

17) Eine Zusammenfassung des CTBT-Verifikationssystems findet sich in Trevor Findlay and Oliver Meier: Not Quite Ready and Waiting – The CTBT Verification System, VERTIC Briefing Paper 99/3, London, Verification Research, Training and Information Centre, September 1999, (www.fhit.org/vertic).

18) Oliver Meier: Verifying the CTBT – Responses to Republican Criticisms, Disarmament Diplomacy, 40, September/October 1999.

19) Dies ist möglich, da der START I-Vertrag lediglich die Vernichtung von Trägersystemen, aber nicht der eigentlichen Sprengköpfe vorschreibt. Zusätzlich zu den rund 10.000 intakten Sprengköpfen halten die USA rund 5.000 Plutonium-»pits« in Reserve. Vgl. Bulletin of Atomic Scientists, Nuclear Notebook, July/ August 1998.

20) Madelaine Albright: Speech before Chicago Council on Foreign Relations, November 10, 1999.

21) Peking hat nach einem Bericht chinesischer Medien bereits beschlossen, zehn Mrd. US$ zu investieren, um die Zweitschlagfähigkeit des eigenen Nukleararsenals zu sichern. Vgl. Joseph Fitchett: Chinese Nuclear Buildup Predicted, International Herald Tribune, November 6-7, 1999.

22) William Drozdiak: U.S. missile »shield« alarms Europe, San Jose Mercury News, November 7, 1999.

Michail Gorbatchov