Nukleares Erbe
Nukleares Erbe
Auswirkungen sowjetischer Atomwaffentests in Kasachstan
von Annegret Krüger
Vor 75 Jahren wurde in der kasachischen Steppe der erste sowjetische Atomwaffentest gezündet. Dieser läutete damit eine Testreihe ein, die sich über eine Zeitspanne von 40 Jahren zog. In diesem Zeitraum fanden über 450 Atomwaffentests in Kasachstan statt. Die dramatischen Konsequenzen für Mensch und Umwelt sind bis heute spür- und sichtbar und die Fragen nach einer nuklearen Gerechtigkeit stellen sich heute dringlicher denn je. Auch die Frage einer deutschen Mitbetroffenheit muss diskutiert werden.
Am 29. August 1949 – vor genau 75 Jahren – führte die Sowjetunion ihren ersten Atomwaffentest in den kasachischen Steppen der Semipalatinsk Region (heute Abai Region) durch. Mit diesem ersten Test wurde aus sowjetischer Sicht ein „nukleares Gleichgewicht“ (Tsukerman und Azarkh 1999) mit den USA hergestellt. Dieser erste Test war gleichzeitig die folgenschwerste Testzündung in der Geschichte der sowjetischen Atomwaffentests, vor allem wegen des einsetzenden Regens und des mit ihm in den Boden gewaschenen radioaktiven »Fallouts«. Über vierzig Jahre lang wurden auf dem »Polygon« (so der sowjetische Begriff für ein Gebiet, in dem Waffen getestet oder Militärübungen abgehalten wurden) mehr als 450 Tests durchgeführt. Zwischen 1949 und 1962 wurden atmosphärische, sprich oberirdische Tests durchgeführt, die für den größten Teil der bis heute anhaltenden radioaktiven Kontamination verantwortlich sind. Ungefähre Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Menschen aus, die auf irgendeine Art und Weise von den Atomwaffentests betroffen sind. 1991 wurde das Testgelände auch aufgrund des zivilen Engagements der »Nevada-Semipalatinsk«-Bewegung offiziell geschlossen, nachdem dort 1989 der letzte Test stattgefunden hatte (Kassenova 2022).
Das ehemalige Testgelände erstreckt sich über eine Fläche von ca. 18.000 km2, was in etwa der Größe Sloweniens entspricht. Die Region wurde von sowjetischen Militärplanern ausgewählt, da sie abgeschieden von großen Städten lag und vermeintlich kaum bewohnt war. Während der jahrelangen Tests erfuhren die Bewohner*innen der Steppen am eigenen Leib die kurz- und langfristigen Folgen von nuklearen Explosionen. Die Strahlung vergiftete ihre Luft, ihr Wasser und ihre Nahrung und änderte damit ihr Leben unwiderruflich (Kassenova 2022). Die Menschen in dieser Region, die letztlich alle Überlebende der Atomwaffentests sind, leben auch heute noch tagtäglich mit den unvorstellbaren Auswirkungen dieser Tests.1
Karte: Semipalatinsk Atomwaffentestgelände »Polygon«; Quelle: Datenpunkte Polygon von Paul Richards (Columbia University, 2001); Basemap: Stamen Terrain; eigener Entwurf Redaktion W&F.
Menschliches Leid
Auch wenn sie für die einfache Beobachter*in äußerlich gesund aussehen, leiden doch die allermeisten Betroffenen an verschiedenen mit Radioaktivität in Zusammenhang stehenden Krankheiten. Bis heute sterben viele Menschen bevor sie ein hohes Alter erreichen, unter anderem bedingt durch vorzeitiges Altern (Vakulchuk und Gjerde 2014). Gesundheitliche Folgen der Atomwaffentests spiegeln sich beispielsweise im erhöhten Vorkommen zahlreicher Krebsarten, darunter Leukämie, Lungenkrebs und Schilddrüsenkrebs, in der Rate an Kindern, die mit Behinderungen geboren werden, oder auch in einer Reihe verschiedener Atemwegserkrankungen wider (Yan 2018; Muchametalijewa 2019).
So nachdrücklich haben sich die Atomwaffentests vor Ort eingeschrieben, dass sie gar einen eigenen medizinischen Begriff geprägt haben: »Kainar-Syndrom« heißt das verbreitete Erscheinungsbild einer Kombination verschiedener Krankheiten, benannt nach dem kasachischen Dorf, in dem dieses am häufigsten auftrat (Atchabarov 2015). Für Frauen sind die gesundheitlichen Folgen noch einmal andere als für Männer. Sie sind oftmals von Brustkrebs, Fehl- und Totgeburten betroffen (Najibullah und Akaeva 2019). Zudem bleibt die große Angst bei einer Schwangerschaft, dass die Kinder womöglich auch von den Folgen der Tests betroffen sein werden. Neben diesen teils offensichtlichen Krankheiten stellen das hohe Aufkommen von Suiziden, vor allem während der Zeit der Atomwaffentests, und psychische Erkrankungen weitere Schattenseiten der Tests dar. Dutzende Menschen aus den umliegenden Dörfern in der Nähe des Polygons begingen jedes Jahr Selbstmord (Makarov et al. 1994).
Die Menschen wurden nicht über die Atomwaffentests und über die möglichen Konsequenzen dieser Tests aufgeklärt. Dies geschah zunächst auch aus Unwissenheit der sowjetischen Militärangehörigen, die selbst die Folgen ionisierender Strahlung nicht verstanden. Im Laufe der Zeit begann die Sowjetunion allerdings, systematisch medizinische Daten dazu zu sammeln, während sie gleichzeitig öffentlich eine Gefahr durch Strahlung als unbegründet abtat. So wurden Menschen in evakuierten Dörfern absichtlich zurückgelassen, um herauszufinden, wie Strahlung auf den menschlichen Körper wirkt. Diese Menschen hatten keine Ahnung, dass sie als Versuchskaninchen verwendet wurden und einer extrem hohen Dosis an Strahlung ausgesetzt wurden (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023). Ein Überlebender resümiert, dass sie lediglich als „biologisches Material“ für Recherche- und wissenschaftliche Zwecke angesehen wurden. Durch diese Forschung konnte ein Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und der Entstehung von Strahlenangst (»Radiophobie«) und einer Zunahme sozialer Ängste festgestellt werden (TPNW 2023).
Im heutigen Gebäude des »Research Institute of Radiation Medicine and Ecology« der medizinischen Universität in Semei, Kasachstan, befand sich eine der zwei geheimen sowjetischen Kliniken, die die Gesundheit der lokalen Bevölkerung überwachen sollte. Das sogenannte »Dispensary No. 4« des sowjetischen Gesundheitsministeriums wurde 1957 gegründet und das medizinische Personal sprach sich schon bald für ein sofortiges Ende der Tests aus. Diese Klinik war jedoch lediglich für die Datensammlung und nicht für die Behandlung der kranken Menschen zuständig, obwohl sie über 10.000 Menschen untersuchten (Kassenova 2022). Auch heute noch dient das Institut überwiegend Forschungszwecken und führt das staatliche, medizinische Registrierungssystem, in dem bereits 373.686 betroffene Menschen von der ersten bis zur fünften Generation registriert wurden. Diese traurige aber notwendige Kartierung bildet die Grundlage für Forschungen im Hinblick auf Strahlung und deren Einfluss auf die Gesundheit und die Sterblichkeit in der betroffenen Bevölkerung, wie die kasachischen Vertreter*innen bei der zweiten Staatenkonferenz der Mitgliedsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrags berichteten (TPNW 2023).
Nukleare Gerechtigkeit!?
Die kasachische Regierung hat nach dem Erlangen der Unabhängigkeit 1992 ein »Gesetz zum sozialen Schutz der von den Atomtests auf dem Semipalatinsker Atomwaffen-Testgelände betroffenen Bürger*innen« verabschiedet. Darin wurden die kontaminierten Gebiete festgelegt und anhand der unterschiedlichen Höhe der Strahlenbelastung klassifiziert (Vakulchuk und Gjerde 2014). Als Grundlage dienten die wenigen Dokumente, die noch auffindbar waren, beispielsweise in der sowjetischen Klinik »Dispensary No. 4«, oder die wenigen Informationen sowjetischer Ministerien, die zugänglich waren.2
Den Menschen wurde daraufhin je nach Ort und Dauer des Aufenthalts in den betroffenen Gebieten eine einmalige Entschädigung für durch die Atomwaffentests verursachte Schäden ausgezahlt. Menschen, die in den gesetzlich festgelegten Strahlenrisikogebieten leben und arbeiten, haben ebenfalls Anspruch auf zusätzliche Vergütung und zusätzlichen bezahlten Jahresurlaub. Frauen, die in diesen Gebieten leben, haben Anspruch auf zusätzlichen Schwangerschafts- und Entbindungsurlaub. Kinder von Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1990 in den betroffenen Gebieten gelebt, gearbeitet oder gedient haben, können nach dem Gesetz als Opfer von Kernwaffentests anerkannt werden und haben Anspruch auf die entsprechenden Sozialleistungen, sofern sie an Behinderungen oder Krankheiten leiden, die mit der Exposition gegenüber ionisierender Strahlung in Zusammenhang stehen, und sofern ein kausaler Zusammenhang zwischen ihrem Gesundheitszustand und der Tatsache besteht, dass sich ein Elternteil in Strahlenrisikogebieten aufgehalten hat. Personen mit Behinderungen im Zusammenhang mit der Strahlenexposition bei Atomtests und deren Folgen haben Anspruch auf monatliche Invalidenbeihilfen. Weitere finanzielle Unterstützungsmaßnahmen sind höhere Renten, eine kostenlose oder subventionierte Gesundheitsversorgung oder Ermäßigungen für öffentliche Verkehrsmittel (TPNW 2023; Vakulchuk und Gjerde 2014).
Soweit die Theorie, denn in der Praxis gibt es genau mit der Anwendung dieser Ansprüche viele Schwierigkeiten. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheit und Strahlungsexposition ist nicht immer eindeutig nachweisbar. Soldaten stehen vor der Herausforderung, dass sie nicht immer beweisen können, dass sie auf dem Testgebiet gearbeitet haben, da dies ein streng geheimes Unterfangen war. Diese Soldaten hatten im Gegensatz zu den sowjetischen Wissenschaftlern oftmals keinerlei Schutzkleidung oder -ausrüstung. Hinzu kommt, dass Menschen, die die betroffenen Gebiete verlassen haben, keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Die größte Hürde liegt jedoch darin, dass die Leistungen vor allem Personen gewährt werden, die eine offizielle Bescheinigung über ihren Status als Strahlenopfer erhalten haben. Solche Bescheinigungen werden nur nach einem akribischen Antragsverfahren ausgestellt, das die Vorlage von Dokumenten einschließt, die den Wohnsitz des Antragstellers in den betroffenen Gebieten zwischen 1949 und 1990 bestätigen. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht im Besitz der erforderlichen Bescheinigung und erhält folglich keine Leistungen (Najibullah und Akaeva 2019).
Über die verschiedenen Generationen hinweg haben sich teilweise neue Krankheiten entwickelt oder es sind seltene Krankheiten aufgetreten, die nicht in der Liste der Krankheiten im Gesetz aus dem Jahr 1992 aufgeführt sind. Auch dann ist ein Anspruch schwierig durchzusetzen. Es wird von Betroffenen berichtet, dass das medizinische Personal manchmal keine angemessene medizinische Versorgung leisten könne, da diese selbst nicht wissen würden, an welchen Krankheiten die Menschen litten, gerade auch in den dörflichen Gegenden. Es zeigt sich, dass das Gesetz von 1992 eine Maßnahme darstellt, die für ihre Zeit gut war, nun aber fast 30 Jahre später hoffnungslos veraltet ist.
Die heimlich gesammelten Daten der Sowjetunion wurden nach deren Zusammenbruch nach Russland gebracht und die Anfragen der kasachischen Regierungen seither auf Zugang zu diesen Daten wurde stets abgelehnt. Mehr als 30 Jahre nach dem letzten Atomtest haben kasachische Wissenschaftler*innen zwar ein besseres Verständnis der Auswirkungen der sowjetischen Atomtests auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen, dennoch sind immer noch einige Fragen offen, gerade zu den langfristigen Auswirkungen auf künftige Generationen. Daher fordern Überlebende mehr Forschung, eine bessere Entschädigung, den Zugang zu wichtigen Dokumenten, eine Anpassung des »Opfergesetzes« – letztlich eine umfassende (nukleare) Gerechtigkeit, wobei sowohl die betroffenen Menschen als auch die Umwelt mitbedacht werden müssen. Es ist offensichtlich, dass das nuklear verursachte Trauma generationenübergreifend ist (Vakulchuk und Gjerde 2014; Yan 2018; Najibullah und Akaeva 2019; Kassenova 2022).3
Kasachstan als internationaler Abrüstungschampion
Auf der internationalen Bühne hat sich Kasachstan seit längerer Zeit als »Abrüstungschampion« etabliert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlangte Kasachstan seine Unabhängigkeit 1991 und entschied sich dazu, die sowjetischen Atomwaffen aufzugeben. Dies stellt mitnichten eine Selbstverständlichkeit dar, sondern war Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses unter anderem mit Russland und den USA über Sicherheitsgarantien. Drei Szenarien standen im Raum: 1.) die Atomwaffen zu behalten, auch wenn Kasachstan keine Befehlsgewalt über diese hatte; 2.) die gemeinsame Kontrolle über das Atomwaffenarsenal mit Russland oder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) oder 3.) ein atomwaffenfreies Kasachstan. In instabilen politischen Zeiten und eingeschlossen von zwei nuklearen Mächten – Russland und China – entschied sich Kasachstan für den atomwaffenfreien Weg, auch um internationale Anerkennung zu erhalten, und zeigt damit, dass es die nationale Sicherheit erhöhen kann, auf Atomwaffen zu verzichten (Kassenova 2022).
Schon zwei Jahre später erfolgte die kasachische Ratifizierung des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) im Dezember 1993 im Gegenzug für die Unterzeichnung des Budapester Memorandums über Kasachstans Sicherheitsgarantien. Seit 2006 gehört Kasachstan mit anderen zentralasiatischen Ländern zur »zentralasiatischen kernwaffenfreien Zone«, deren Vertrag symbolisch in Semei bzw. Semipalatinsk unterzeichnet wurde. Zum 70. Jahrestag des ersten sowjetischen Atomwaffentests ratifizierte Kasachstan den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) (Kassenova 2022). Kasachstan setzt sich für den weltweiten, vollständigen Verzicht auf Atomwaffen bis 2045 ein, dem hundertsten Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und der Gründung der Vereinten Nationen. In dem Bemühen, eine bereite Auseinandersetzung zum weltweiten Erbe von Atomwaffentests und -einsätzen zu erreichen, initiierte Kasachstan 2023 eine UN-Resolution in der Generalversammlung zum Thema Opferhilfe und Umweltsanierung, die erfolgreich verabschiedet wurde (UN GA 2023). Weiter stellt Kasachstan den Präsidenten der anstehenden Vorbereitungskonferenz der nächsten Überprüfungskonferenz des NVV und hat den Vorsitz der dritten Vertragsstaatenkonferenz des AVV für 2025 inne. Heute ist der 29. August der Internationale Tag gegen Nuklearversuche, wie er von den Vereinten Nationen auf Kasachstans Initiative hin verabschiedet wurde.
Für aufmerksame Leser*innen wird hierbei eine deutliche Diskrepanz sichtbar, wie sich Kasachstan international präsentiert und wie es gleichzeitig mit den eigenen Überlebenden umgeht.
Auswirkungen auch in Deutschland
Die nukleare Kette der Atomwaffentests in Kasachstan reicht bis nach Deutschland, genauer in die ehemalige DDR. Dort wurde 1946 im sächsischen Erzgebirge und in Ostthüringen begonnen, Uranerz abzubauen. Damit mutierte die DDR zum wichtigsten Uranlieferant für das sowjetische Atomwaffenprogramm und half dabei, dass 1949 die erste sowjetische Atomwaffe in Semipalatinsk getestet werden konnte. Die sowjetische Führung verlieh dem geheimen Uranabbau den Tarnnamen »Wismut« (ebenfalls ein Schwermetall), was die Förderung von Uran verschleiern sollte. Zwischenzeitlich war die DDR der viertgrößte Uranproduzent der Welt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete 1990 auch die Förderung in der DDR und aus der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft wurde die Wismut GmbH, die bis heute die kontaminierten Flächen saniert. Insbesondere die Renaturierung und das Reinigen des Grundwassers dauert nach wie vor an. Man geht davon aus, dass dies erst 2035 beendet sein wird (BMWK o.J.; Hertel 2022).
Die Folgen des Uran-Abbaus für Natur und Mensch sind auch hierzulande bis heute spürbar. Die Bergarbeiter erlitten gesundheitliche Schäden durch die Strahlung oder kamen sogar zu Tode und häufig kam es zu Grubenunfällen und -bränden. Durch das Einatmen schädlicher Partikel, die in der Lunge verblieben, kam es noch Jahre später zu Mutationen und dadurch zu Krebserkrankungen. 1956 wurde zum ersten Mal die Strahlenbelastung der lokalen Bevölkerung untersucht, jedoch wurden die Ergebnisse zunächst unter Verschluss gehalten. Seit 1993 führt das Bundesamt für Strahlenschutz die sogenannte »Wismut-Studie« durch, die eine der weltweit größten Kohortenstudien darstellt. Dabei werden ca. 59.000 männliche Bergarbeiter untersucht und die Ergebnisse dazu werden in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Die Studie zeigt, dass die Lungenkrebssterblichkeit bei den Wismut-Bergarbeitern 2,4 Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung ist. Bis heute kommen immer neue Lungenkrebsfälle hinzu. Zudem steigt das Risiko, an Leukämie zu erkranken. Die Studie stellt weiter fest, dass nicht nur die Radon-, sondern auch die Quarzfeinstaubexposition zu einem deutlichen Anstieg des Lungenkrebsrisikos bei den ehemaligen Wismut-Beschäftigten führt. Außerdem konnte ein sehr starker Anstieg der Sterblichkeit an Silikose (»Quarzstaublunge«) festgestellt werden (Bundesamt für Strahlenschutz 2023).
Weiter beschäftigen die sowjetischen Atomwaffentests auch immer wieder deutsche Gerichte. Dabei geht es oftmals um sogenannte (Spät-)Aussiedler*innen, die sich in der Nähe des Atomwaffentestgeländes in Kasachstan aufhielten. Die Gerichte müssen darüber entscheiden, ob aufgrund der gesundheitlichen Schäden durch den Aufenthalt in Kasachstan Beschädigtenversorgung bzw. -rente gezahlt werden muss.
Politische Schlussfolgerungen
Die nukleare Kette greift also auf unterschiedliche Weise bis in das heutige Deutschland und zeigt, warum uns auch hier die sowjetischen Tests etwas angehen sollten. Aufgrund ihrer humanitären Auswirkungen und Risiken für die gesamte Menschheit gibt es keine andere Schlussfolgerung als Atomwaffen abzuschaffen. Denn solange es Atomwaffen gibt, besteht auch die Gefahr eines Einsatzes.
In der kasachischen Gesellschaft erfahren die Menschen aus den betroffenen Gebieten bis heute Stigmatisierungen. Dennoch sind die Geschichten der Überlebenden vor allem Geschichten einer unfassbaren Resilienz. Für ihre Heimat haben sie große Zukunftspläne. Sie sind weit mehr als Überlebende, sie sind Akteur*innen – so habe ich das auf der Recherchereise zu diesem Beitrag erlebt. Ihre Geschichten sollten uns alle als Warnung dienen in einer Zeit, in der Atomwaffen erneut unhinterfragt als Sicherheitsgarant gelabelt werden. Die anhaltenden Auswirkungen der sowjetischen Tests auf die Region sollten Politiker*innen weltweit als Erinnerung an die hohen Kosten von Atomwaffenprogrammen für Mensch und Umwelt dienen.
Anmerkungen
1) Als Teil einer Bildungsreise – organisiert von ICAN Deutschland, der Friedrich-Ebert-Stiftung Kasachstan und STOP (»Steppe Organization for Peace«) – durfte ich im Mai 2024 mit weiteren jungen Menschen nach Kasachstan reisen, um vor Ort über das nukleare Erbe zu lernen. Neben Treffen mit hochrangigen Vertreter*innen der Politik in der Hauptstadt Astana, wie Treffen im Außenministerium und mit einem Verfassungsrichter, waren insbesondere die Begegnungen mit Überlebenden der ersten Generation der Atomwaffentests in der Stadt Semei (ehemals Semipalatinsk) am beeindruckendsten. Die Stadt liegt ungefähr 120 km vom ehemaligen Testgelände entfernt.
2) Ein Großteil der gesammelten Daten zu den gesundheitlichen Folgen liegt jedoch weiterhin unerreichbar in russischen Archiven, wie dem Atomenergieministerium oder dem Verteidigungsministerium (Kassenova 2022; Wilhelmi 2023).
3) Die letzten Absätze beruhen u. a. auf persönlichen Berichten von Betroffenen.
Literatur
Atchabarov, A. (2015): Kainar syndrome: History of the first epidemiological case-control study of the effect of radiation and malnutrition. Central Asian Journal of Global Health 4(1), 221.
Bundesamt für Strahlenschutz (2023): Wismut Uranbergarbeiter-Kohortenstudie. Homepage, URL: bfs.de/de/bfs/wissenschaft-forschung/wirkung-risiken-ion/laufend/wismut.html.
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) (o.J.): Geschichte des Uranerzbergbaus und Gründung der Wismut GmbH. Homepage, URL: bmwk.de/Redaktion/de/Artikel/Energie/Wismut/02-geschichte.html.
Hertel, A. (2022): Mit deutscher Hilfe: So kam Russland zu seinen Atomwaffen. MDR, 11.4.2022.
Kassenova, T. (2022): Atomic steppe. How Kazakhstan gave up the bomb. Stanford: Stanford University Press.
Makarov, M. A.; Kisseleva, L. M.; et al. (1994): “Stressovoe vozdeistvie faktorov okruzhaiushchei sredy na chostotu samoubiistv” [Stress impact of environmental factors on suicide frequency]. In: Zdorov’ye liudei, prozhivaiushchin v raione prilegaiushchem k Semipalatinskomu poligonu [Health of residents in the vicinity of Semipalatinsk Polygon], Collection of Articles, Vol. 2.
Najibullah, F.; Akaeva, K. (2019): Victims of Kazakhstan’s soviet-era nuclear tests feel ‘abandoned’ by government. RadioFreeEurope, 23.11.2019.
TPNW (2023): Second meeting of states parties to the treaty on the prohibition of nuclear weapons. Assessments of the consequences of nuclear tests on the territory of Kazakhstan. Report submitted by Kazakhstan. New York. 27 November–1 December 2023, (TPNW/MSP/2023/10).
Tsukerman, V.; Azarkh, Z. (1999): Arzamas-16: Soviet scientists in the nuclear age. A memoir. Nottingham: Bramcote Press.
UN GA (2023): First Committee. 78th Session. General and Complete Disarmament. A/C.1/78/L.52.
Wilhelmi, A. (2023): „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir eine atomwaffenfreie Welt vorstellen kann“ – ein Interview mit Togjan Qasenova. Novastan.org, 24.1.2023.
Muchametalijewa, Z. (2019): Semipalatinsker Testgelände: Das atomare Erbe der Sowjetunion in Kasachstan. Übersetzt von Petersen, S. Novastan.org, 7.9.2019.
Vakulchuk, R.; Gjerde, K. (2014): Semipalatinsk nuclear testing: the humanitarian consequences. Report prepared for the Second Conference on Humanitarian Impact of Nuclear Weapons in Nayarit, Mexico, 13–14 February 2014. (mit Belikhina, T.; Apsalikov, K.) NUPI Report 1/2014. Oslo: Norwegian Institute of International Affairs.
Yan, W. (2018): Has Kazakhstan forgotten about its Polygon test survivors? The World, 17.12.2018.
Annegret Krüger ist Friedens- und Konfliktforscherin und arbeitet beim Netzwerk Friedenskooperative. Zudem ist sie Vorsitzende des Frauennetzwerk für Frieden e.V.