Rüstungsexportkontrollatlas | 2023

Rüstungsexportkontrollatlas

mit Beiträgen von David Scheuing und Marius Pletsch, Andrea Kolling, Anna Katharina Ferl, Andreas Seifert, Luca Schiewe und Julius-Anton Bussenius, Simone Wisotzki, Jürgen Grässlin, Markus Bayer, Max Mutschler, Michael Brzoska, Anna von Gall

herausgegeben durch die Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF)
in Koordination mit der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

erscheint als Beilage zu W&F 4/2023

Vorwort

von David Scheuing und Marius Pletsch

Deutsche Rüstungsexporte boomen – aber so ganz genau ist der Öffentlichkeit oft nicht klar, was und warum von welchem Unternehmen wohin exportiert wird. Es wird vielmehr eine emotionale und oft erstaunlich faktenfreie Diskussion im öffentlichen Raum geführt, weshalb »deutsche Tabus« fallen müssten. Dabei gibt es an der derzeitigen Praxis von Rüstungsproduktion und -export viel zu kritisieren: Mangelnde Transparenz, widersprüchliche Exportentscheidungen, undemokratische Entscheidungsverfahren und vieles mehr.

Im Kontext der Militarisierungs- und Rüstungsschübe, verstärkt durch die »Zeitenwende« und die Bestrebung, Deutschland »kriegstüchtig« zu machen, sehen wir eine dreifache Relevanz für einen Rüstungsexportkontrollatlas, den wir hiermit vorlegen.

Zum einen hatte es in den Jahren vor dem einschneidenden Ereignis des russischen Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022 doch signifikante Bewegung und Zusagen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegeben, eine umfassendere und bedeutungsvollere Rüstungsexportkontrolle möglich zu machen. Dies mündete noch im Herbst 2021 im Versprechen des Koalitionsvertrags gemeinsam mit der FDP, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auf den Weg zu bringen. Seither jedoch herrscht weitgehend Stille.

Zum zweiten hat die öffentliche Diskussion um die Lieferung von Rüstungsgütern und Waffen an dritte Staaten in den vergangenen zwei Jahren eine dramatische Verschiebung erlebt. Von einer sehr skeptischen Haltung der breiteren Öffentlichkeit hin zu einer vor allem auf die moralische Gebotenheit der Waffenlieferungen ausgerichteten Debatte, in der die Konsequenzen einer solchen Exporthaltung ebenso wie die historische Sinnhaftigkeit einer restriktiven Haltung gleichsam missachtet oder diskreditiert werden.

Zum dritten zeugten die Schritte des zuständigen Wirtschaftsministeriums im Spätsommer 2023 auch von der Bereitschaft, Exporte für bestimmte Rüstungsgüter deutlich zu vereinfachen und zu erleichtern. Die Rede ist von den neuen »Allgemeingenehmigungen«. Diese passen sich in ein schon länger erkennbares Exportgebahren ein, in dem die praktizierte »restriktive« Rüstungsexportpolitik zunehmend ausgehöhlt wird (nicht zuletzt durch Lobbydruck der Rüstungsindustrie), z.B. im Rahmen von europäischen Gemeinschaftsprojekten oder bei entsprechend gelagerten geopolitischen Interessen des Staates.

In allen diesen Dimensionen bedarf es der Erinnerung an die Bedingungen und Konsequenzen von Rüstungsproduktion und -export und einer Schärfung der Debatte um Rüstungskontrolle. Damit dies auch gelingen kann, geht der Atlas logisch in drei Schritten vor: Der erste Teil des Atlas zeigt die Bedeutung der Rüstungsproduktion für den Standort Deutschland, seine Verflechtungen, seine Finanzierungen und seine Niederlassungen. Der zweite Teil des Atlas arbeitet dann sowohl Bedingungen für die Exportargumentationen heraus, als auch die ganz konkreten Konsequenzen von Exporten.

Im dritten Teil des Atlas werden die aktuellen strukturellen Bedingungen für Rüstungskontrolle, deren Veränderungs- und Optimierungsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten für Aktions- und Widerstandsformen aufgebracht.

In den vergangenen 30 Jahren sind in Deutschland vielfach kleinere Rüstungsatlanten erschienen. Die zahlreichen Publikationen unter diesem Titel sind bislang ausschließlich regional orientiert gewesen (u.a. Thüringen, Hessen, Bodensee, Nordrhein-Wesfalen, Hamburg). Dem gegenüber stehen globale Atlanten, die allerdings schon vor vielen Jahren erschienen sind und keinen spezifischen Fokus auf die Verwicklung deutscher Unternehmen, Standorte und Exporte aufweisen.

Der vorliegende Atlas soll diese Lücke zu füllen beginnen und als Grundlage für informierte Gespräche dienen. Wir danken daher unseren Autor*innen, die jeweils mit ihren Beiträgen versucht haben, eine solche Einordnung zu ermöglichen. Nicht zuletzt gilt unser Dank der Heinrich-Böll-Stiftung, durch deren Förderung dieser Atlas überhaupt erst möglich werden konnte.

Eine gewinnbringende Lektüre wünschen,

Marius Pletsch und David Scheuing

1) RÜSTUNG: Definition, Finanzierung, Produktion

Aufrüstung und Kriegswirtschaft als Konsequenz der so genannten „Zeitenwende“?

von Andrea Kolling

Was ist Rüstung? „Alles was schießt und knallt“, so kategorisierte Anfang der 1990er Jahre ein Ministerialbeamter bei einem Gespräch im zuständigen Wirtschaftsministerium das Kriegsgerät salopp. Cyberwar und europäische Weltraumrüstung lagen noch in der Zukunft und der Zusammenbruch der Sowjetunion war gerade erst geschehen. Zur gleichen Zeit wurde über eine Friedensdividende debattiert und die Rüstungsindustrie gab sich verschämt kleinlaut und bangte um ihre Pfründe.

Heute jedoch wird ungeniert über modernstes Kriegsgerät geredet, dessen Wirkmächtigkeit und Sinnhaftigkeit betont und die Notwendigkeit einer so genannten »nachhaltigen«, d.h. im Klartext einer langfristigen und umfassenden waffentechnischen Unterstützung für Staaten nahegelegt – auch jenseits der Ukraine, ob mit oder ohne offizielle NATO-Mitgliedschaft.

Rüstung als Gewaltmittel

Weit gefasst bedeutet sich »zu rüsten«, sich gegen feindliche äußere Bestrebungen unter Sicherung des eigenen Territoriums und der Bevölkerung zur Wehr setzen zu können. Das bedeutet, militärische Maßnahmen und Mittel zur Vorbereitung einer kriegerischen Handlung, sei es Angriff oder Verteidigung, bereitzuhalten, zu produzieren und zu warten. Dazu existieren in Deutschland, wie in allen Staaten mit entsprechenden industriellen Produktionsmöglichkeiten, Regeln und Gesetze, die den Rahmen einer Rüstungsproduktion von privaten oder staatlichen Unternehmen bestimmen. Im Gegensatz zu Frankreich sind es in Deutschland private Unternehmen mit einem unterschiedlichen und schwankenden Anteil an Rüstungsproduktion. Zu den Top-Ten bezogen auf das Umsatzvolumen zählen in Deutschland Airbus, Rheinmetall, Thyssen-Krupp. Unübersichtlich ist die Zahl und Auftragslage mittelständischer Rüstungshersteller und Zulieferer (→ vgl. Seifert).

Ganz eng verstanden beinhaltet Rüstung ausschließlich die Rüstungsgüter, die im Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) erwähnt werden: Raketen aller Art, Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber mit integriertem Waffensystem zur Zielerfassung, Feuerleitsysteme, integrierte elektronische Kampfmittel, Kampfführungssysteme, Kriegsschiffe, Unterseeboote, kleine Wasserfahrzeuge mit Angriffswaffen, jegliche Minenkampfboote: Minenleger, -räumboote, -jagdboote, Landungsboote, -schiffe, Munitionstransporter, Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, gepanzerte kampfunterstützende Fahrzeuge, Türme für Kampfpanzer, Maschinengewehre und Pistolen, voll- und halbautomatische Gewehre, Kanonen, Haubitzen, Mörser jeder Art, rückstoßarme, ungelenkte, tragbare leichte Panzerabwehrwaffen, Minenleg-/Wurfsysteme, Torpedos, Minen und Bomben aller Art, Handgranaten, Sprengladungen, Vollmantelweichkerngeschosse, Gewehrgranaten, Geschosse, Gefechtsköpfe, Zünder, Zielsuchköpfe, Submunition, Dispenser zur systematischen Verteilung von Submunition, auch besondere Laserwaffen. Also alles was fliegt, fährt und schwimmt, gepanzert ist und „schießt und knallt“. Die Liste umfasst den engen Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Von der Liste ausgenommen sind Kriegswaffen, auf deren Herstellung die Bundesrepublik verzichtet hat: Atomwaffen, biologische und chemische Waffen.

Problematisch wird es bei der Frage nach in einem weiteren Sinne verstandenen Rüstungsgütern, bis hin zu dem Bereich der Dual-Use Güter, die sowohl eine zivile als auch eine militärische Verwendung finden können (→ siehe Ferl). Hier lässt der Gesetzgeber auch im Interesse der Industrie bewusst eine breite Grauzone und Spielraum.

Abb 1: Waffengattungen

Wie ist die Herstellung von Gewaltmitteln erlaubt?

In der Bundesrepublik Deutschland steht über allem das Grundgesetz Artikel 26: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Dazu der Abs. 2: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Die im Grundgesetz vorgesehene nähere Regelung sollen zwei Gesetze gewährleisten: das Kriegswaffenkontrollgesetz als das wesentliche Ausführungsgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz für den Export. Zwei gesetzliche Grundlagen plus Regularien, die klar definieren sollen, in welchem Handlungsfeld es den Produzenten erlaubt ist zu handeln.

Für Kriegswaffen muss ein Unternehmen eine Produktionserlaubnis beantragen. Dies kann mit einer Voranfrage geschehen – telefonisch, heute auch per Mail/SMS. Positiv beschiedene Voranfragen könnten zwar nachträglich von der Rüstungsindustrie eingeklagt werden, was sie aber aus eigenem Interesse nicht tun werden, da sie sonst befürchten würden beim nächsten Mal eher bei Aufträgen nicht berücksichtigt zu werden. Voranfragen werden auch nicht im jährlichen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung veröffentlicht. Über die Gespräche, ob eine Genehmigung in Aussicht gestellt werden könnte oder wie das gewünschte Gut gestaltet sein müsste, so dass eine Produktion für ein Unternehmen bzw. ein Export genehmigt werden könnte, oder warum es chancenlos bleiben wird, erfährt die Öffentlichkeit nichts. Im Dunkeln lässt sich gut munkeln, sagt der Volksmund. Doch wird die immer wieder von Parteien in der Oppositionsrolle propagierte und von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen seit Jahrzehnten geforderte »bessere Transparenz« umgesetzt? Nach wie vor gibt es mehr Wirrwarr als Klarheit, zahlreiche Regelungslücken und eine nebulöse Rüstungspolitik mit vielen Fragezeichen.

Das KWKG von 1961 beinhaltet ein grundsätzliches Verbot mit Genehmigungsvorbehalt. Das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) lässt sich dahingegen so lesen, dass der Export von genehmigungspflichtigen Gütern grundsätzlich befürwortet werden kann, aber unter Genehmigungsvorbehalt steht. Dort heißt es: Handlungen können beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten und gemäß dem Grundgesetz eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten, aber auch EU-Projekte zu gewährleisten und zugleich EU-Ratsbeschlüsse über wirtschaftliche Sanktionen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umzusetzen, ebenso UN-Embargos. Zugleich soll aber in die Freiheit der Wirtschaft möglichst wenig eingegriffen werden. Ein Spagat und große Verantwortung in der Abwägung zwischen kapitalistischen, unternehmerischen Exportinteressen und möglicherweise todbringendem Gerät. Gegen einen Export spräche es beispielsweise, wenn bekannt werden sollte, dass der zugesicherte Endverbleib bei einem Empfänger nicht gewährleistet sein könnte (→ siehe Grässlin). Ausführende Behörde ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. Es gilt die Einzelfallprüfung. Als genehmigungspflichtige Güter gelten Waren, die in einer umfangreichen, differenzierten Liste des KWKG und AWG gelistet sind. Schiffsmotoren als Solche sind zivil, keine gelisteten Güter, auch wenn sie später in Schiffe einer ausländischen Marine eingebaut werden. Gelistet sind Komponenten, Bauteile sowie ihre technische Unterstützungsleistung, dafür sind Genehmigungen notwendig. Ebenso für sogenannte Dual-Use-Güter, also Waren, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können. Über die EU-Dual-Use-Verordnung werden diese Exporte innerhalb und außerhalb der EU kontrolliert. Die Federführung bei Exportgenehmigungen liegt im Wirtschaftsministerium. Grundsätzlich greift der EU-Gründungsvertrag von 1957 und der Nationalstaat kann darüber allein bestimmen, welches und wie viel Rüstungsmaterial gewollt ist. Es ist der Kernbereich nationaler Souveränität.

Dem Gesetz nachgeordnet sind Richtlinien als politische Willenserklärung der Bundesregierung, die allerdings nicht rechtlich verbindlich sind. Die ersten Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wurden 1971 formuliert und dreimal überarbeitet: 1982, 2000 unter der ersten Rot-Grünen Bundesregierung und zuletzt 2019 unter Angela Merkels Führung. Sie bedeuten Orientierung für eine Genehmigungspolitik, die laut eigenem Bekunden restriktiv zu gestalten ist, doch ist Restriktivität in der Rüstungsexportpolitik mehr Label als Praxis. Allein die Länderliste, in welche nicht geliefert werden soll, wurde in den letzten 30 Jahren Zug um Zug verringert und der Export insbesondere in so genannte Drittstaaten, d.h. Länder außerhalb von EU und NATO, ausgeweitet. Nach den Grundsätzen sollten die Lieferungen an Drittstaaten nur Ausnahmen sein (→ siehe Bayer und Mutschler). Die deutschen Regelungen gelten zwar als die strengsten der Welt, doch Papier ist geduldig. Anfang 2018 heißt es noch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD „keine Rüstungsexporte in Krisenregionen“ mehr und den Export von Kleinwaffen in so genannte Drittstaaten „grundsätzlich“ nicht mehr genehmigen zu wollen sowie Anträge für Technologieexporte in Drittstaaten künftig stärker zu prüfen, wenn damit ausländische Rüstungsproduktionen aufgebaut werden können.

„Zeitenwende“ bedeutet Aufrüstungsjahrzehnte

Der epochale Bruch mit dem 24.2.2022, der Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen geopolitischen Machtverschiebungen haben erhebliche Auswirkungen auf die Rüstungsentscheidungen, sowohl was den Export und die Beschaffungen für die Bundeswehr betrifft, als auch monetär über das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr und das 2%-NATO-Ziel hinaus. Ein Schub in Quantität und Qualität. Zwar wird noch in der jetzt veröffentlichten »Nationalen Sicherheitsstrategie« der Bundesregierung die „restriktive Rüstungsexportpolitik“ betont, zugleich heißt es, die Bundesregierung werde die Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung neu fassen und das Strategiepapier der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie aktualisieren. Konterkariert wird die restriktive Linie, indem es heißt: „die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen“, sowie eine Stärkung der „sicherheits- und verteidigungsindustriellen Basis befördern“ – dies bei gleichzeitigem Schutz von nationalen und europäischen Schlüsseltechnologien. Bei Beschaffungen soll primär auf europäische Lösungen gesetzt werden – eine bemerkenswerte Verschiebung vom nationalstaatlichen Interesse in Richtung europäischer Union. Zugleich schimmert ein Führungsanspruch in der neuen nationalen Sicherheitsstrategie durch, z.B. als logistische Drehscheibe in Europa mit dem Ausbau militärischer Mobilität. Große Ambitionen der »Fortschrittskoalition« der Ampel-Regierung.

Gleichzeitig zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie gibt das grün geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zum
1. September 2023 neue Regularien zur vereinfachten und schnelleren Lieferung von Rüstungsgütern für Bündnis- und neue Wertepartner heraus. Verkauft wird dies als ein Fortschritt an Effizienz und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, dabei soll die Einzelfallprüfung bei ausgewählten EU- und NATO-Partnern sowie Wertepartnern entfallen (→ siehe Brzoska). Sie werden als Allgemeinverfügung gebündelt, so laut Pressemitteilung von BMWK und BAFA vom 25.7.23. Eine zielgenaue Kontrolle soll vorrangig durch eine vertiefte Einzelfallprüfung bei den sonstigen Drittländern geschehen. Umgesetzt wird eine EU-Dual-Use-Verordnung von 2021 für eine Reihe von Ländern. Im Hinblick auf die neuen Wertepartner bedeutet das, dass keine Einzelanträge mehr gestellt werden müssen.

Als neue Wertepartner werden u.a. die Republik Korea, Singapur, Chile, Uruguay und Argentinien genannt. Die politische Steuerung durch derartige Festlegungen tritt sichtbar heraus: Warum wird beispielsweise nicht Brasilien aufgeführt? Wegen der nicht gelieferten Gepard-Panzer-Munition für die Ukraine? Oder weil Brasilien gerade eine Autoproduktion mit chinesischer Hilfe aufbaut, anstatt auf deutsche VW-Produktion zu setzen? Oder weil Brasilien BRICS-Gründungsmitglied ist? Der kleine Staat Singapur erhält zukünftig noch mehr und einfacher gelistete Güter. Wozu eigentlich? Auch wenn es sich um sogenannte Dual-Use-Güter handelt, eine transparente Rüstungsexportpolitik sieht anders aus.

Über eine weitreichende Verfügung wird Rüstungsexportpolitik gemacht und wo bleibt das im Koalitionsvertrag angekündigte Rüstungsexportkontrollgesetz? Die aktuelle Bestimmung gilt nur bis zum März 2024 und dann wird sie in ein Gesetz überführt oder stillschweigend verlängert. Die neue Allgemeinverfügung zeigt, wohin die Reise geht: in Richtung Priorität auf europäischer Ebene verbunden mit einer stärkeren Liberalisierung nicht nur im Dual-Use-Bereich. Die Positionen innerhalb der Regierung scheinen sich da wenig zu unterscheiden. Exportinteressen gehen verstärkt in Richtung Lateinamerika und Indopazifik. Welche genaue Linie verfolgt die Ampel bezüglich der Rüstungsproduktion, der EU und mit dem Export in Länder außerhalb und innerhalb von NATO, EU, einzelnen Wertepartnern und Drittländern. Wie werden Lieferungen im Einzelnen begründet? In Spannungsgebiete, Krisenregionen? Wurde im Bundessicherheitsrat (→ siehe Infokasten nebenan) als oberstem Entscheidungsgremium darüber gesprochen und sich parteiübergreifend verständigt?

Ob ein angekündigter »Nationaler Sicherheitsrat« im Hinblick auf Transparenz und informierte öffentliche Debatten zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik da Abhilfe schaffen würde, darf bezweifelt werden. Eine umfassende Transparenz, inklusive differenzierter Begründungen, ist erforderlich, wenn die Einbeziehung von Zivilgesellschaft hinter blumigen Worten nicht völlig zur Farce werden soll. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf umfassende Informationen, zumindest nach Rüstungsbeschlüssen der Regierung.

Der Bundessicherheitsrat

Der Bundessicherheitsrat (BSR) ist ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung, ein geheimtagender interministerieller Ausschuss. Die Genehmigung von Rüstungsexporten zählt zu seinen Kernaufgaben, dazu die Koordinierung deutscher Sicherheitspolitik und ihre strategische Ausrichtung. Er tagt in unregelmäßigen Abständen, jedoch wird weder eine Tagesordnung bekannt gegeben, noch über den Zeitpunkt informiert. „Die Protokolle befinden sich als geheime Verschlusssache in der Registratur des Bundeskanzleramts“ heißt es in einer Information der wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages. Ständige Mitglieder sind die Bundesministerinnen bzw. Bundesminister des Auswärtigen, der Finanzen, des Innern, der Justiz, für Wirtschaft, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Chef des Bundeskanzleramts. Der Kanzler führt den Vorsitz und verfügt über die Richtlinienkompetenz. Er kann bei einem Patt entscheiden. Regelmäßiger Teilnehmer ist der Generalinspekteur der Bundeswehr in beratender Funktion. Andere Funktionsträger können ebenfalls zur Beratung hinzugezogen werden, z.B. die Geheimdienste.
Die ständigen Mitglieder des BSR sind verpflichtet, den Rat über geplante Maßnahmen, z.B. Beschaffungen für die Bundeswehr zu unterrichten. Wenn eine Anfrage im BAFA als problematisch eingestuft wird und es kann nicht im Umlaufverfahren zwischen den Ministerien geklärt werden, landet diese letztlich auf dem Tisch des BSR. Ein Vorbereitungsausschuss von Abteilungsleitern aus den beteiligten Ministerien erörtert, koordiniert und unterrichtet die Mitglieder des BSR. Letztlich verantwortlich ist das Gesamtkabinett. Somit sind die Beschlüsse des BSR Empfehlungen, aber seit langem entscheidet der BSR abschließend und damit faktisch bindend über Rüstungsexporte.
Im Zusammenhang mit den Rechten der Parlamentarier*innen hat das Bundesverfassungsgericht zwar der Exekutive die alleinige Verantwortung zugestanden, aber eine umfassendere Unterrichtung nach getroffenen Beschlüssen angemahnt. Eine parlamentarische Kontrolle vergleichbar mit dem parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste gibt es für den BSR nicht.

Wie und wozu genau sollen die Bundeswehr und andere Armeen in Zukunft ertüchtigt und ausgestattet werden? Welche Ziele gibt es und welche roten Linien? Mehr von allem? Worthülsen wie »Sicherheit« und »Verteidigung« sollten detailliert und rechenschaftspflichtig erläutert werden. Wie sollen Entgrenzungen im Hinblick auf zukünftige Konflikte und Kriege verhindert werden? Warum wird »Abschreckung« mit nuklearer Teilhabe manifestiert? Welche Gefechtsführungskapazitäten werden angestrebt? Dies ist umso wichtiger, da die Öffentlichkeit aktiv an diesen Entscheidungen beteiligt sein will und sollte.

Waren in den vergangenen Jahrzehnten nach verschiedenen Umfragen durchgängig 70-80% der deutschen Bevölkerung gegen Rüstungsexporte eingestellt, so hat sich das seit dem 24.2.2022 und dem russischen Einmarsch in die Ukraine scheinbar auf um die 50% in der Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine eingependelt. Auswirkungen solcher Befragungen auf politische Entscheidungsträger*innen sind ohnehin nicht zu erwarten, aber sie verraten etwas über das Verhältnis von breiter Öffentlichkeit und Rüstung – in Zahlen sichtbar gemacht.

Um eine stabile mehrheitliche Zustimmung zu Rüstungslieferungen zu generieren, bewährt sich die »Salamitaktik«, peu à peu immer etwas mehr in Menge und Art der Mandate und Praxis der Bundeswehreinsätze. Sichtbar wird das beispielsweise auch in der Veränderung der »Out-of-Area«- Einsätze der Bundeswehr außerhalb der EU: Von der ersten Feldlazarett-Lieferung im Rahmen eines UN-Mandats nach Kambodscha 1993 über das Brunnenbauen bis zum vorläufigen Ende risikoreicher deutscher Militärambitionen beim desaströsen Abzug aus Kabul im August 2021. Die entsprechende Entwicklung der Zustimmung zu Waffenexporten in die Ukraine ist ein Musterbeispiel für diese Taktik. Hier hieß es zuerst: keine schweren Waffen, dann doch, dann hieß es: keine Panzer, dann wurden sie doch genehmigt und nun die aktuelle Diskussion über die »Taurus«-Lieferung. Was folgt dann?

Absehbare Trends der Aufrüstung

Und allenthalben wird gerüstet: Der Ukraine-Krieg gilt als der erste große Drohnenkrieg und befeuert auch hierzulande erneut Debatten um die Bewaffnung von Drohnen. Auch wenn die Drohnen nicht kriegsentscheidend sein werden, kriegstauglich sind sie schon lange. Noch ist der Abnutzungskrieg mit Mensch und Material klassisch konventionell. Mehr Verdun als Cyberwar. »Warproofed« gilt als Qualitätsausweis bei Rüstungsgütern. In der Ukraine wird die Zukunft des Krieges mit Drohnen, Smartphones, Cyberangriffen, Logistik, Überwachung, Automatisierungen und allen aktuell verfügbaren Informationstechnologien im Gefecht, getestet und verbessert. Die Zeit nach dem Krieg wird sichtbar machen, wohin sich Europa insgesamt und die Staaten rüstungstechnisch entwickeln und protegiert werden.

Erste Trends sind erkennbar: Schwere hochtechnische Präzisionswaffen sollen nach der Nationalen Sicherheitsstrategie erforscht und gefördert werden. Die Zivilklauseln an den Universitäten sind da für manch eine Politiker*in und Hochschulrektor*in ein ärgerliches Hindernis, auch für MdB Willsch (CDU) kürzlich in einer Bundestagsdebatte. Die Schieflage zwischen Zivilschutzmaßnahmen, Entwicklungszusammenarbeit und der Priorisierung von Militär wird nicht nur fortgeschrieben, sie wird erheblich zunehmen. Bedeutet das eine Entwicklung in Richtung einer Militärwirtschaft für den Industriestandort Deutschland und – als ein Gegengewicht zum »Inflation Reduction Act« der USA – ein Vielfaches mehr an europäischen und bilateralen Rüstungskooperationen? Angenehme Zukunftsaussichten für die Rüstungsproduzenten. Die Weichen werden heute gestellt. Jedoch ist nicht zu vergessen: Munition und Bomben sind Verbrauchsgüter, mit dem Blut vieler getränkt.

Schwammige Kategorien für Rüstungsgüter, wie defensiv oder offensiv, sind weniger militärisch klare Kategorien, als politisch ideologische, um Rüstungsproduktion und Exporte breit akzeptabler zu machen. Und trotzdem: Eine Lieferung von Helmen in die Ukraine wurde unisono medial lächerlich gemacht, hatte aber defensiven Charakter. Rein faktisch war es ein genehmigungspflichtiger Rüstungsexport aus Beständen der Bundeswehr, in ein nicht EU- und NATO-Land, das sich zudem im Krieg befand. Dies sollte nicht aus den Augen verloren werden, nur weil die Forderung nach Aufrüstung heute als Mehrheitsmeinung propagiert wird.

Grundsätzlich geht es um die Definition und Umsetzung von menschlicher Sicherheit, letztlich um unser aller Leben in Deutschland und Europa. Immer mehr Rüstung wird nicht zu einem friedlicheren, sicheren, wertebasierten Europa beitragen. Meine Generation, die der Nachkriegskinder mit den kriegstraumatisierten und abwesenden Vätern, wurde im Kalten Krieg der Rüstungsspiralen und Konfrontation sozialisiert. Aus unserer Erfahrung ist klar, dass der aktuelle heiße Krieg in Europa mit Entgrenzungspotential beendet werden muss, bevor sich die Rüstungsspiralen und ihre Eskalationslogik ungehemmt Bahn brechen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der postulierten Zeitenwende sollten nicht das Kriegsmaterial und Produktionskapazitäten priorisieren, sondern das friedliche Zusammenleben befördern.

Andrea Kolling ist langjähriges Mitglied in der GKKE-Fachgruppe Rüstungsexporte, sowie im europäischen Netzwerk gegen Waffenhandel ENAAT – European Network against Arms Trade, ehemalige Vorsitzende der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, und BUKO-Kampagne: Stoppt den Rüstungsexport.

Das Problem mit der KI.

Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist

von Anna-Katharina Ferl

Staaten setzen auf Rüstung als Machtinstrumente, um ihre eigene Sicherheit zu bewahren. Oft meinen sie, dass schon ein kleiner technologischer Vorsprung eine entscheidende Rolle bei der Frage nach Sieg oder Niederlage in bewaffneten Konflikten spielt (Dickow, Hansel und Mutschler 2015). Neue Technologien spielen eine immer wichtigere Rolle in bewaffneten Konflikten, wie der Krieg gegen die Ukraine aktuell zeigt. Gleichzeitig sind diese wenig bis gar nicht reguliert und neue Initiativen bleiben oft erfolglos (Daase et al. 2023). Die stetige Entwicklung und der Einsatz neuer Militärtechnologien macht das Feld der Rüstung komplexer und bringt neue Probleme mit sich. Insbesondere Entwicklungen im digitalen Bereich können weitreichende militärische Potentiale haben, werden aber vor allem im zivilen Bereich entwickelt (sogenannte Dual-Use Technologien). Ab wann zählt eine Technologie dann als Rüstungsgut?

Ein weiterer Faktor, der die Definition von Rüstung erschwert, ist die immaterielle Natur dieser digitalen Entwicklungen. Digitale Technologien, die aus Software bestehen, können ungleich schwerer einer direkten militärischen Nutzung zugeordnet werden als beispielsweise ein Panzer. Die weitreichenden Folgen technologischer Neuerungen im Rüstungsbereich sind aber kein neues Phänomen. Bereits die Entwicklung von Feuerwaffen revolutionierte den Krieg im ausgehenden Mittelalter und leitete eine neue Zeitordnung ein (Müller und Schörnig 2006). Während des Ost-West Konflikts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Vielzahl neuer technologischer Entwicklungen, die ein Wettrüsten nach sich zogen. Diese zeigen, dass die Entwicklung neuer Militärtechnologien schon immer Herausforderungen und Probleme mit sich brachte.

Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen

Abb. 2: Technologische Innovation als Treiber von Rüstungswettläufen im Ost-West Konflikt

Was ist also neu an den aktuellen Entwicklungen? Welche neuen Probleme werfen neue Waffen(-technologien) auf? Dies wird im Folgenden exemplarisch aufgezeigt an den Herausforderungen, die die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) in Rüstungstechnologien mit sich bringt.

Künstliche Intelligenz und digitale Waffen

Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde: Ihr wird bereits jetzt ein revolutionäres Potential zugeschrieben – und das nicht nur in unserem Alltag, sondern insbesondere auch im militärischen Bereich (Horowitz 2018). Allerdings sollten wir davon absehen, KI zu überschätzen. Aktuelle Entwicklungen im KI-Bereich sind vor allem auf eng gefasste Spezialaufgaben ausgerichtet – weit entfernt von Vorstellungen einer künstlichen Superintelligenz. Dennoch bringt der anhaltende technologische Fortschritt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, die sich auch im Rüstungsbereich zeigen.

Dabei ist KI keine eigenständige Technologie wie ein Kampfflugzeug, sondern vielmehr eine Grundlagentechnologie, die bestimmte Anwendungen, auch militärische, ermöglicht. Zu den wichtigsten Anwendungsbereichen von KI zählen autonome Funktionen. Diese können autonomes Fahren im Straßenverkehr ermöglichen, z.B. autonome Taxis, wie sie in San Francisco erprobt werden. KI-gestützte Autonomie kann aber auch militärisch nutzbar gemacht werden, indem z.B. bewaffnete Drohnen nicht mehr durch einen Menschen gesteuert werden, sondern Tätigkeiten selbstständig und ohne menschliche Kontrolle ausführen können (Franke 2016).

Autonome Funktionen bergen das Risiko, die Kriegsführung zu beschleunigen und Eskalationsgefahren zu potenzieren. Außerdem gehen weitreichende völkerrechtliche und ethische Fragen mit Autonomie in Waffensystemen einher, die bisher ungelöst bleiben (Sauer 2022). Dafür ist der Erhalt menschlicher Kontrolle über KI-gesteuerte Waffensysteme, insbesondere über die kritischen Funktionen der Zielauswahl und Zielbekämpfung, entscheidend (Boulanin et al 2020). Im Fall von KI zeigt sich bereits die oben angesprochene essentielle Herausforderung neuer Technologien: sie sind oft prinzipiell doppelt nutzbar, zivil und militärisch, also »Dual-Use«. Diese bergen drei Problematiken: erstens sind Dual-Use Risiken schwerer abschätzbar als reine Rüstungsprojekte, zweitens können Dual-Use Risiken Rüstungsdynamiken antreiben, und drittens müssten bereits während der Forschung und Entwicklung diese Risiken präventiv eingedämmt werden (Riebe und Reuter 2019).

Während die Militärausgaben weltweit steigen (Bales et al. 2021), ist der militärische Anteil an Forschung und Entwicklung seit Ende des Ost-West-Konflikts rückläufig (Altmann 2007). Das bedeutet aber auch, dass vermehrt Forschung im zivilen Bereich stattfindet, die einerseits von Militärs eingekauft oder direkt in Auftrag gegeben wird. Dabei spielen multinationale Konzerne, wie Google, Amazon oder Microsoft eine entscheidende Rolle.

Ein drittes Problem in diesem Feld ist die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung neuer Technologien. Die Politik kann oft gar nicht so schnell nachziehen und Probleme erkennen und regulieren. Daher warnten erst vor Kurzem Expert*innen und namhafte Personen wie Bill Gates in einer öffentlichen Erklärung vor den Risiken von KI.1 Der aktuelle Stand der Forschung und Entwicklung bleibt allerdings oft intransparent, da sowohl im wirtschaftlichen als auch im militärischen Bereich Geheimhaltung an erster Stelle steht. Dass ein Projekt wie »Project Maven« (→ siehe Infokasten nebenan) öffentlich wird, ist eher die Ausnahme als die Regel.

Das Projekt Maven von Google und Pentagon

‚Project Maven‘ ist eines der bekanntesten und umstrittensten KI-Rüstungsprojekte im zivil-militärischen Bereich der letzten Jahre. 2017 gab das US-Verteidigungsministerium den Auftrag an Google, ein KI-Programm zu entwickeln, um Videomaterial von Drohnen effizienter nach relevanten Objekten und Zielen zu durchsuchen. Die schiere Masse an Videomaterial sollte durch die KI schneller und besser durchsucht und relevante Informationen direkt für die militärische Entscheidungsfindung bereitgestellt werden. Das Programm wurde erst 2018 publik und nach anhaltenden Protesten der Belegschaft stellte Google die gesamte Zusammenarbeit mit dem Pentagon 2019 ein. Allerdings arbeitet Google seit 2021 wieder an Projekten für das Pentagon, neben anderen großen Unternehmen, wie Amazon und Microsoft.


Peitz, Dirk (2018): Project Maven. Google wird einfach ersetzt.Zeit online, online verfügbar: https://www.zeit.de/digital/internet/2018-06/maven-militaerprojekt-google-ausstieg-ruestungsexperte-paul-scharre/komplettansicht.

Wakabayashi, Daisuke; Conger, Kate (2021): Google Wants to Work With the Pentagon Again, Despite Employee Concerns. The New York Times, online verfügbar: https://www.nytimes.com/2021/11/03/technology/google-pentagon-artificial-intelligence.html.

Möglichkeiten der Regulierung Künstlicher Intelligenz

Wie kann die Politik diesen Entwicklungen nun entgegenwirken? Welche Maßnahmen gäbe es auch auf internationaler Ebene, um KI-Technologien zu regulieren, die nicht vor Staatsgrenzen Halt machen? Rüstungskontrolle dient dazu, die negativen Effekte von Rüstungsdynamiken zu begrenzen und gegenseitige Sicherheit zu gewährleisten, um die Beziehungen zwischen Staaten zu stabilisieren. Rüstungskontrolle kann dabei entweder quantitativ bestimmte Höchstgrenzen für Waffenkategorien setzen oder qualitativ die Leistung und technologische Weiterentwicklung von Waffensystemen regulieren.

Rüstungskontrolle ist also eine politische Maßnahme, um bestimmte Rüstungsgüter zu regulieren und Rüstungsdynamiken einzudämmen. Allerdings zeigt sich hier auch, dass Rüstungskontrolle einerseits in der Regel den technologischen Entwicklungen hinterherläuft – also oftmals nicht rechtzeitig reguliert. Andererseits stellt die technische Komplexität von KI-Anwendungen die Rüstungskontrolle vor neue definitorische Herausforderungen, da es nicht mehr »nur« ausreicht, physisch z.B. Sprengköpfe zu zählen, sondern die Probleme oft in ein paar Zeilen Softwarecode stecken. Daher ist auch die Verifikation, also die Überprüfung, dass sich alle Mitglieder eines solches Übereinkommens daranhalten würden, im KI-Bereich extrem schwer bis unmöglich, wenn Softwarecode relativ leicht geändert oder versteckt werden kann.

Für »präventive Rüstungskontrolle«, die oft schon in der Phase der Entwicklung ansetzt, scheint es bei KI-Entwicklungen noch nicht zu spät – aber die Zeit läuft (Altmann 2008). Trotz des eigentlich logischen Ansatzes, Rüstung zu regulieren, ehe Staaten enorme Summen dafür ausgegeben haben, und einer Reihe solcher Bemühungen, bleiben Erfolge präventiver Rüstungskontrolle rar. Dies liegt vor allem daran, dass technische Entwicklungen bis dato ungeahnte militärische Relevanz entwickeln könnten und Staaten sich ungern Regelungen unterwerfen, ehe das Potenzial einer Technologie vollständig erkannt wurde. Auch in den aktuellen Diskussionen über Rüstungskontrolle wird eine präventive Kontrolle der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz gefordert, insbesondere solcher Funktionen, die Autonomiesteigerungen in Waffensystemen ermöglichen.

Zentrale Begriffe und Konzepte:

Rüstungskontrolle: Alle Vereinbarungen, die die Verringerung der Kriegsgefahr anstreben durch eine Reihe von Maßnahmen, die Vertrauensbildung und Transparenz stärken, aber auch die konkrete Steuerung von Rüstung und Kontrolle bestimmter Waffen einschließt.

Abrüstung: Bezeichnet solche rüstungskontrollpolitischen Maßnahmen, die auf die Verringerung oder komplette Abschaffung militärischer Fähigkeiten und Rüstungsgütern abzielen.

Nichtverbreitung: Verhinderung der Verbreitung (Proliferation) bestimmter Rüstungsgüter auf immer mehr Staaten.

Verifikation: Die Überprüfung, ob die Mitgliedsstaaten einer Rüstungskontrollvereinbarung diese auch einhalten und somit Betrug zu verhindern oder aufzudecken.


Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Eine kurze Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle, https://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m7/articles/m7-01.

Schörnig, Niklas (2017): Rüstung, Rüstungskontrolle und internationale Politik. In: Sauer, Frank; Masala, Carlo (Hrsg.): Handbuch internationale Beziehungen.
Wiesbaden: Springer VS, S. 959–990.

Der Handlungsbedarf im Bereich der präventiven Rüstungskontrolle künstlicher Intelligenz ist aber nicht nur auf autonome Waffensysteme begrenzt. Militärische KI-Anwendungen zeigen sich nicht nur im klassischen Waffentypus, sondern gerade in weniger durchsichtigen Bereichen der militärischen Entscheidungsfindung (Welchen Einfluss haben Vorurteile in der KI-gestützten Zielauswahl?, vgl. Villasenor 2019) oder der Verschränkung mit Nuklearwaffen und deren Kontrolle (Baldus 2022). Allerdings sollte künstliche Intelligenz weder über- noch unterschätzt werden. Die Risiken und Potentiale müssen sorgfältig abgeschätzt werden, damit eine Regulierung möglicher problematischer Anwendungen schnell und umfassend gelingen kann. Außerdem müssen international dringend Regeln für die verantwortungsvolle Forschung und Innovation aufgestellt werden (Boulanin, Brockmann und Richards 2020).

Stop »Killer Robots«: Autonome Waffensysteme und der Versuch einer präventiven Regulierung

Seit 2014 treffen sich Staatenvertreter*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und wissenschaftliche Expert*innen im Rahmen der Waffenkonvention der Vereinten Nationen (CCW) zu einem möglichen Verbot autonomer Waffensysteme, bevor diese militärisch entwickelt und genutzt werden. Trotz der anfänglichen Fortschritte und der breiten internationalen Bereitschaft, Gespräche über die präventive Regulierung autonomer Funktionen in Waffensystemen zu führen, ist der Prozess ins Stocken geraten. Dies liegt einerseits im politischen Interesse einiger Staaten, keine Einschränkungen in der Entwicklung von Technologien hinzunehmen, die ihnen in Zukunft militärische Vorteile verschaffen könnten.

Andererseits sehen Beobachter*innen, wie Rosert und Sauer (2021), das Problem auch in einer suboptimalen Strategie der Kampagne »Stop Killer Robots«. Die Kampagne war zwar maßgeblich daran beteiligt, das Thema auf die Agenda der internationalen Staatengemeinschaft zu setzen, die Ausrichtung an früheren humanitären Rüstungskontrollmaßnahmen, wie blendende Laserwaffen und Antipersonenminen war jedoch weniger erfolgreich. Dies liegt einerseits daran, dass autonome Waffensysteme wesentlich abstraktere und komplexere Technologien sind, andererseits die völkerrechtlichen Probleme weniger eindeutig als bei vorherigen Waffengattungen sind. Auch der Begriff »Killerroboter« für autonome Waffensysteme ist eher kontraproduktiv. In der Debatte hat sich auch das Prinzip menschlicher Kontrolle über solche autonomen Systeme als zentrales Ergebnis herauskristallisiert, dass als positive Verpflichtung auf mehr Rückhalt als die Forderung eines Verbots stoßen könnte.

Viele Beobachter*innen sind insgesamt aber dennoch pessimistisch, was die Aussichten auf eine präventive Regulierung oder gar eines Verbots autonomer Waffensysteme in naher Zukunft angeht. Allerdings gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen, den Prozess auch außerhalb der CCW weiterzuführen. So haben 70 Staaten 2022 in der VN-Generalversammlung eine gemeinsame Erklärung zu autonomen Waffensystemen eingebracht. Im November 2023 wurde eine Resolution im Ersten Komitee der Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit angenommen, in der der VN-Generalsekretär aufgerufen wird, die Herausforderungen autonomer Waffensysteme zu untersuchen.


Rosert, Elvira; Sauer, Frank (2021): How (not) to stop the killer robots: A comparative analysis of humanitarian disarmament campaign strategies. Contemporary Security Policy 42 (1), 4-29.

Altmann, Jürgen; Brahms, Renke; Dahlmann, Anja; Ferl, Anna-Katharina; Küchenmeister, Thomas; Trittenbacher, Johanna; Weber, Jutta (2020): Autonome Waffensysteme – auf dem Vormarsch? Wissenschaft und Frieden W&F Dossier 90.

Anmerkung

1) Center for AI Safety (2023) Statement on AI Risk, online verfügbar: https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk.

Anna-Katharina Ferl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) und forscht zu Fragen der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz, autonomen Waffensystemen und der Kontrolle und Regulierung von Militärtechnologien. Sie ist außerdem Mitglied in PRIFs Forschungsgruppe »Emerging Disruptive Technologies« und promoviert an der Goethe Universität Frankfurt.

Deutsche Rüstungsschmieden:

Spezialisiert, vernetzt, internationale Akteure

von Andreas Seifert

Es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen dem von der Industrie reproduzierten Selbstbild einer leistungsfähigen, zu technologischen Spitzenleistungen fähigen Rüstungsindustrie in Deutschland und den Verzögerungen in der Beschaffung und den Mängeln an Waffensystemen – der schwarze Peter wird dabei vielleicht zu leicht dem Beschaffungswesen der Bundeswehr zugeschoben. Doch wer ist damit gemeint, wenn von »der deutschen Rüstungsindustrie« gesprochen wird, welches sind die großen und die kleinen Firmen, die dazu gezählt werden müssten?

Es gibt nur wenige systematische Erhebungen zur Rüstungsindustrie in diesem Land – das liegt unter anderem auch daran, dass sie – volkswirtschaftlich betrachtet – nicht mehr relevant ist. Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln waren in der Rüstungsindustrie 2020, also vor dem Beginn des Ukrainekrieges, rund 55.000 Menschen beschäftigt und sie erzeugte einen Umsatz von 11 Mrd. € (vgl. IDW 2022) – zum Vergleich betrug allein der Inlandsumsatz der deutschen Automobilindustrie im gleichen Jahr rund 153 Mrd. € und der Gesamtumsatz deutscher Autohersteller sogar 506 Mrd. €, bei rund 774.000 Beschäftigten (Statista 2023). 2013 veröffentlichte der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) eine Studie in der der Kernbereich der Rüstungsindustrie (also Unternehmen, die direkt in der Waffenproduktion tätig sind) gerade einmal 17.220 Beschäftigte zählt und rund 80.000 weitere im erweiterten Bereich der Sicherheitsindustrie zu verorten sind (Schubert et al. 2012). Erst mit sogenannten indirekten und induzierten Beschäftigungseffekten wurde diese Zahl auf 316.000 Menschen in Deutschland hochgerechnet, die von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie profitieren. Die Studie spricht von einem Produktionswert von 22,6 Mrd. € für die Branche und einem überdurchschnittlichen Wachstum im Vergleich zur Gesamtwirtschaft und einer hohen Exportquote (vgl. ebd.). Die Diskrepanz der Zahlen mag erstaunen und erklärt sich nur teilweise aus den unterschiedlichen methodischen Ansätzen. Aktuelle Statistiken erfassen nur unzureichend, welche Güter und Umsätze mit welchen Beschäftigten zusammenhängen und wo die Grenzen zwischen Sicherheit, Verteidigung oder Waffen und Rüstungsgütern verlaufen.

Der Blick in die Mitgliedsverzeichnisse der großen Lobbyvereinigungen wie dem Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT) und dem Anwenderforum für Fernmeldetechnik, Computer, Elektronik und Automatisierung (AFCEA) zeigt ein sehr viel differenzierteres Bild der Branche. Es sind Unternehmen engagiert, die in der überwiegenden Zahl auch, wenn nicht sogar mehrheitlich in zivilen Bereichen tätig sind und bei denen das »Rüstungsgeschäft« ein weiteres Betätigungsfeld unter vielen darstellt (vgl. IMI 2022). Würde man alle Beschäftigten und Umsätze pauschal der Rüstung zuschlagen, würde die Rüstung in Deutschland groß erscheinen. Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) selbst spricht mit Blick auf die kleineren Firmen von einem „Wehrtechnischen Mittelstand“ dem rund 1.350 Unternehmen in Deutschland zuzurechnen sind und sich dadurch charakterisieren, dass sie nicht mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen und einen Umsatz unter 300 Mio. € aufweisen.

In einer der vielen Aufstellungen zu den größten Rüstungsunternehmen Deutschlands wurden vom Portal »Technik und Wirtschaft für die Deutsche Industrie – Produktion« 2018 genannt:

Abb. 3: Die 10 größten deutschen Rüstungsunternehmen

Die Aufstellung in der Abb. 3 suggeriert eine Klarheit, die sich bei genauerem Besehen auflöst, da die Verbindungen zwischen den Unternehmen nicht sichtbar sind. Auch die Dynamik der Branche hat in den Jahren seit 2019 zugenommen. Sie zeigt die großen Firmen, wie sie in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte eine Rolle spielen – allen voran die Platzhirsche Airbus und Rheinmetall. Im internationalen Vergleich sind die großen deutschen Unternehmen eher klein. Das Stockholmer Friedenforschungsinstitut SIPRI veröffentlicht jährlich eine Liste der 100 größten Unternehmen im Bereich Waffenproduktion und militärischer Services – Lockheed Martin aus den USA führt diese Liste an: mit über 60 Mrd. US$ Umsatz – also einem mehrfachen der gesamten Branche in Deutschland. Dieser Liste nach findet sich das erste deutsche Unternehmen auf Platz 31(Abb. 4). Als trans-europäisch werden weitere Unternehmen gelistet, die in Deutschland substanziell produzieren (Abb.5).

Abb. 4 „Deutsche Unternehmen“ nach SIPRI

Abb. 5 Trans-Europäische Unternehmen“ nach SIPRI

Der Blick auf die Umsätze und Beschäftigtenzahlen allein blendet aber andere Aspekte aus, die zur Bewertung der Unternehmen wesentlich sind. Der Aktivist Jürgen Grässlin spricht mit Blick auf den Handfeuerwaffenproduzenten Heckler & Koch aus Oberndorf nicht ohne Begründung von dem „tödlichsten Unternehmen“ Deutschlands (Grässlin 2013). Tatsächlich sind nicht wenige auch der kleinen Unternehmen Spezialisten, ggf. sogar Weltmarktführer für bestimmte Bauteile, die in Waffensystemen weltweit ihren Einsatz finden – sie sind so gesehen »wesentliche Akteure« auch wenn ihr Umsatz (oder ihr Umsatz im Rüstungsbereich) vergleichsweise gering ausfällt. Hier ist es wichtig in den Blick zu nehmen, dass Großwaffensysteme wie Panzer, Kampfflugzeuge oder Kampfschiffe nicht von einem einzigen Unternehmen gebaut werden, sondern sich aus Baugruppen und Teilen unterschiedlicher Hersteller zusammensetzen. Unternehmen bilden daher Konsortien, um solche Aufträge überhaupt bearbeiten zu können.

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

Zehn ausgewählte Standorte deutscher Rüstungsschmieden

Abb. 6: Ausgewählte Standorte Baden-Württemberg und Bayern

1) Airbus

Airbus ist nach BAE-Systems (GB) und Leonardo (IT) der drittgrößte europäische Luft- und Raumfahrtkonzern und erwirtschaftete 2021 18% seiner Umsätze mit Wehrtechnik. Der Konzern gilt als Trans-Europäisch und hat sein Hauptquartier in den Niederlanden und Werke und Niederlassungen in nahezu allen europäischen Ländern und darüber hinaus. In den beiden Divisionen Airbus Helicopters und Airbus Defence&Space wird der Großteil der militärischen Geschäfte abgewickelt – Airbus unterhält Standorte an vielen deutschen Städten. Airbus ist unter anderem in der Produktion des Eurofighter Typhoon, dem Transportflugzeug A 400 M, dem Tank-Transportflugzeug MRTT (auf der Basis des
A 330) und dem Kampfhubschrauber Tiger aktiv. Darüber hinaus produziert Airbus in seiner Tochterfirma NH-Industries (zusammen mit dem Leonardo-Konzern) den Transporthubschrauber NH90. Airbus ist über seine Beteiligung an MBDA auch direkt an der Produktion von Lenkwaffen beteiligt. Der Konzern wird einer der Hauptauftragnehmer des FCAS (Future Combat Air Systems) sein. Alle Produkte des Konzerns sind von vornherein auf einen Export in Länder außerhalb Europas konzipiert – die Struktur als trans-europäisches Unternehmen gibt dabei Möglichkeiten, ggf. national vorhandene politische Widerstände oder Exportbeschränkungen zu umgehen.

2) Hensoldt Germany

Die erst 2017 gegründete Firma ist ein Konglomerat aus einstmals unabhängiger Unternehmen, die hier über verschiedene Wege (vor allem aus dem Firmenbestand des Airbuskonzerns) zusammengefasst wurden. Das Unternehmen ist ein Sensorspezialist, der plattformunabhängig verschiedenste Waffenhersteller beliefert. Mit Hensoldt ist ein deutscher Anbieter entstanden, der das breite Feld spezieller militärischer Elektronik anbietet – er ist in diesem Punkt vergleichbar mit anderen Technologie- und Rüstungskonzernen wie Thales oder Leonardo (der 2021 ein Anteilspaket von 25,1% an Hensoldt erworben hat). Weiterer Eigentümer ist der deutsche Staat, der in der Pandemie 2020 ein Aktienpaket im Wert von 450 Mio. € erworben hat. Im SIPRI- Ranking ist Hensoldt von 2020 auf 2021 von Platz 79 auf 69 vorgerückt. In jüngerer Zeit ist die Belieferung türkischer Drohnenhersteller mit Sensoren negativ aufgefallen.

3) Heckler & Koch

Der Umsatz von Schusswaffenherstellern wie Heckler & Koch fällt im Vergleich zu Schiffsbauern nahezu gering aus – die tödliche Wirkung ihrer Waffen jedoch ist eine wesentlich höhere. Das Unternehmen knüpfte nach 1955 nahezu bruchlos an die deutsche Waffenbauertradition an und fertigt bis heute immer neue Handfeuerwaffen. Die Standardgewehre der Bundeswehr G3 (1959-1997) und G36 (1997-) sind weltweit im Einsatz und werden auch im Ausland in Lizenz gefertigt. Exportiert wurden also nicht nur die Gewehre an sich, sondern auch komplette Waffenfabriken. Neben Heckler & Koch stehen auch die Firmen Carl Walther, SIG Sauer und Haenel für deutsche Kleinwaffenproduktion und ihren internationalen Einsatz.

4) Diehl-Defense

Diehl steht, wie auch Rheinmetall, auf einem zivilen und einem militärischem Bein – 870 Mio. US$ der knapp 3,7 Mrd. US$ Gesamtumsatz von Diehl 2021 entfielen auf die Defense Sparte mit Hauptsitz in Überlingen am Bodensee. Diehl hat einen Fokus auf Lenkflugkörper und fertigt an verschiedenen Standorten Komponenten und entwickelt Technologien hierzu – die teilweise auch in Lenkflugkörperserien anderer Hersteller verbaut werden. Diehl ist in einer Reihe von Kooperationen aktiv, wie mit MBDA, Elbit, Thales oder Rheinmetall. Von Diehl stammt die IRIS-T, die als Luft-Luft und Boden-Luft-Lenkflugkörper in verschiedenen Streitkräften eingesetzt wird und im Kontext des Ukrainekriegs bekannter geworden ist.

5) Northrop Grumman LITEF

Die Trägheitsnavigationssysteme und Sensoren der Freiburger Firma LITEF sind Bestandteil von Waffensystemen und Verkehrsflugzeugen und -hubschraubern weltweit – auch andere Maschinen werden mit ihnen bestückt. Es ist einer der »hidden champions« mit Sitz in Deutschland, der, obwohl er den Namen des viertgrößten Waffenproduzenten der Welt trägt, explizit Technik verkauft, die nicht den US-Regulatorien unterliegt und damit unabhängig von einer Genehmigung durch die USA-Behörden verkauft/exportiert werden kann (ITAR-frei).

Abb. 7: Ausgewählte Standorte Niedersachsen, NRW, Hessen und Bayern

6) Naval Vessels Lürssen – ThyssenKrupp Marine Systems

Die Umsätze in der Marineindustrie sind gigantisch – Kriegsschiffe kosten viel Geld, dass in der Regel erst fließt, wenn ein Schiff an der Kaimauer festmacht, weshalb Schiffsbauer schnell in den oberen Rängen von SIPRI ankommen, aber ebenso schnell wieder verschwinden können. Das kapitalintensive Geschäft wird nicht selten von Korruption begleitet – die technologische Komplexität und die langen Beschaffungszyklen lassen die Projekte schnell zu Millionengräbern gedeihen. Von der einstmals großen und erfolgreichen Marineindustrie in Deutschland ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die »Reste« wurden und werden immer wieder mal verkauft oder umfirmiert, wobei jedes neue Unternehmen für sich reklamiert, in der großen Tradition des Marineschiffbaus in Deutschland zu stehen. Die hier genannten Unternehmen NVL und TKMS bilden zusammen die Spitze davon. Die U-Boote aus Deutschland kosten rund 400 Mio. € das Stück und sind vor allem Exportschlager.

7) Rheinmetall

Der Düsseldorfer Mischkonzern rangierte 2021 mit einem Umsatz von fast 4,45 Mrd. US$ im Rüstungsgeschäft auf Platz 31 der weltweit größten Rüstungsunternehmen und ist damit Deutschlands größte Rüstungsschmiede. Neben der im Vordergrund stehenden Produktion schwerer Waffensysteme wie Leopard 2, Lynx, Marder, Puma etc. bietet der Konzern auch kleinere Waffensysteme an, die als Ergänzung oder zusätzliche Ausrüstung zu haben sind. Durch Zukäufe in den vergangen 20 Jahren ist Rheinmetall zu einem »Vollanbieter« des militärischen Bedarfs geworden, der von Patronen über Granaten und Drohnen bishin zu Feldlagern alles im Programm hat. Der Konzern ist international breit vernetzt und betreibt Fabriken auch in Ländern, die keinen oder anderen Exportbeschränkungen unterliegen. Der Konzern ist einer der exponiertesten Lobbyisten für eine Aufweichung von Exportbeschränkungen und der Erhöhung von Rüstungsbeschaffungen.

8) KMW-Nexter (KNDS) – Krauss-Maffei Wegmann

Der »europäische Champion« unter den Panzerbauern besteht aus dem größten französische Panzerbauer (im Besitz des französischen Staates) und dem größten deutschen Panzerbauer (im Besitz der Familie Bode/Wegmann) und hat seinen Sitz in den Niederlanden … und ist hierzulande kaum als Firma bekannt. Hier kennt man KMW als deutsches Unternehmen, das an der Produktion von Leopard-Panzern, Panzerhaubitzen und weiteren gepanzerten Fahrzeugen beteiligt ist. Die Fusion mit Nexter sollte nicht nur technologische Synergien, sondern auch gemeinsame Produktions- und Exportkapazitäten schaffen – denn, anders als das landläufige Bild, ist Panzerproduktion in Europa nach 1990 mehr Manufaktur, denn Industrie.

9) Dynamit Nobel Defence

Versteckt im Siegerland auf der Grenze zwischen NRW und Hessen befinden sich die Produktionsanlagen von Dynamit Nobel Defence (DND) – es ist ein historischer Standort: Produktionsstätten von Munition und Sprengstoff wurden weitab größerer Siedlungen gebaut. DND fertigt Schulterwaffen für die Bundeswehr und andere Armeen. Als »Panzerfaust« bekannt sind diese Schulterwaffen kleine Flugkörper, die von Soldaten am Boden abgefeuert werden können. Darüber hinaus baut DND reaktive, explodierende Schutzpanzerungen für gepanzerte Fahrzeuge. DND ist in einer Kooperation mit General Dynamics Ordnance and Tactical Systems auch auf dem US-Markt mit seinen Produkten vertreten. Das Unternehmen gehört zum israelischen Rüstungskonzern Rafael Advanced Defence Systems – einem der Schwergewichte im internationalen Waffenhandel: es rangiert auf Platz 45 bei SIPRI.

10) MBDA Deutschland

Mit nationalen Gesellschaften in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien ist die MBDA heute einer der größten Anbieter von Lenkflugkörpern weltweit – und der deutsche Ableger ist technologisch gesehen ein wesentlicher Baustein in diesem Konstrukt. Das Unternehmen beliefert 90 Armeen rund um den Globus und ist in Deutschland an drei Standorten mit Produktion und Entwicklung vertreten. MBDA ist auf vielfache Weise mit anderen Unternehmen verbunden und ist im Besitz von Airbus (37,5%), BAE Systems (37,5%) und dem Leonardo-Konzern (25%). Mit dem Tochterunternehmen Bayern-Chemie ist das Unternehmen auch in der Raumfahrt und bei Hyperschallflugkörpern aktiv, mit TDW (Gesellschaft für verteidigungstechnische Wirksysteme mbH) werden Gefechtsköpfe und anderer Komponenten für die Lenkwaffen von MBDA und die anderer Hersteller wie Raytheon, Lockheed Martin, Saab und Kongsberg Defence & Aerospace entwickelt.

Wer finanziert die deutsche Rüstungsindustrie – und wie?

Ein Überblick von Facing Finance e.V.

von Julius-Anton Bussenius und Luca Schiewe

Ohne Bankkredite, ohne Exportkredite, ohne Versicherungen von Rückversicherern, ohne Risikenübernahme von Investmentbanken, ohne Investitionen von Fonds und ohne Anleihenverkäufe an der Börse ist es auch für deutsche Rüstungskonzerne schwer, auf den (internationalen) Markt zu gelangen und sich dort zu halten. Doch über welche Strukturen und Wege erhalten deutsche Rüstungsunternehmen konkret Gelder?

Die Umschreibung »deutsche Rüstungsindustrie« kann unterschiedlich weit gefasst werden und bedarf einer Spezifizierung (→ vgl. Seifert). Nach der Mitgliederliste des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) umfasst die »deutsche Rüstungsindustrie« aktuell 221 Mitgliedsunternehmen, von denen 187 namentlich genannt werden. Nach Angaben des BDSV betätigen sich seine Mitgliedsunternehmen in Deutschland auf dem Gebiet der Ausrüstung von Organen der Landesverteidigung und inneren Sicherheit in der Wehr-, oder Sicherheitstechnik mit industriellen oder digitalen Wertschöpfungsketten. Die Mitgliedschaft ist unabhängig von der Unternehmensgröße und bietet damit eine gute Annäherung an ein breites Verständnis der deutschen Rüstungsindustrie.

Finanzierungswege der Rüstungsindustrie

Die deutsche Rüstungsindustrie ist bezüglich Eigentümerstruktur, Ort des Unternehmenssitzes, Mitarbeiter*innenzahl und Jahresumsatz sehr heterogen. Je nach Unternehmensstruktur nutzen deutsche Rüstungsfirmen auch sehr unterschiedliche Finanzierungswege. Um einen Überblick zu bekommen, lohnt es sich, die Unternehmen zunächst anhand der zentralen Faktoren Eigentümerstruktur und Ort des Unternehmenssitzes zu kategorisieren (vgl. Abb. 8 und 9). Unter den BDSV-Mitgliedsunternehmen haben 129 ihren Hauptsitz in Deutschland, während 58 ihren Hauptsitz im Ausland haben oder deutsche Tochterunternehmen von ausländischen Konzernen sind. Bezüglich der Eigentümerstruktur befinden sich 95 Unternehmen in privatem Besitz, meist mittelständische Familienunternehmen, die eher kleinere Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze aufweisen; Sechs gehören Finanzinvestoren, die das Ziel verfolgen, diese Unternehmen profitabler zu machen und anschließend weiterzuverkaufen oder an die Börse zu bringen; 28 sind Tochterfirmen von Konzerngruppen in Privathand oder Staatshand, meist Großkonzerne; Neun sind börsennotiert und in der Regel charakterisiert durch große Mitarbeiter*innenzahlen und Jahresumsätze; und 41 sind Tochterunternehmen oder Joint Ventures von börsennotierten Konzernen, die meisten davon mit Sitz im Ausland. Zu acht Unternehmen konnten keine Informationen zur Unternehmensstruktur gefunden werden.

Abb. 8: Sitz der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Die Unternehmensstruktur beeinflusst, auf welche Weise sich eine Rüstungsfirma finanziert. Für alle Firmen gilt, dass sie ihre Operationen und Investitionen teilweise selbst über einbehaltene Gewinne finanzieren. Daneben lassen sich für jede Unternehmensstruktur verschiedene Finanzierungswege erkennen.

Erstens: Unternehmen in privatem Besitz finanzieren sich hauptsächlich über Kredite deutscher Banken. Dabei handelt es sich in der Regel um konventionelle Banken und nicht um Nachhaltigkeitsbanken. Der Fair Finance Guide Deutschland zeigt, welche deutschen Banken die Rüstungsindustrie finanzieren und welche nicht.

Zweitens: Unternehmen, die Teil einer Konzerngruppe sind, finanzieren sich in der Regel über ihren Mutterkonzern. Einige deutsche BDSV-Mitgliedsfirmen gehören zu großen und internationalen Konzernen, meist Rüstungskonzernen, und finanzieren sich über diese. Ein paar dieser ausländischen Mutterkonzerne sind in Staats- oder Privathand, aber die meisten sind börsennotiert: Airbus, Atos, BAE Systems, Bruker, CAE, Capgemini, Caterpillar, CGI, Chart Industries, Cohort, Dassault Aviation, Elbit Systems, Engie, Frequentis, General Atomics, General Dynamics, Huber+Suhner, IBM, Kennametal, Leonardo, Melrose Industries, Moog, Northrop Grumman, Oerlikon, Palantir, QinetiQ, Rolls-Royce, RTX, Saab, Safran, Solvay und Thales.

Abb. 9: Eigentümerstruktur der BDSV-Mitgliedsunternehmen

Drittens: Unternehmen, die an der Börse gelistet sind, finanzieren sich häufig über Konsortialkredite (große Kredite, die von mehreren nationalen und internationalen Banken gemeinsam vergeben werden) oder direkt über die Ausgabe neuer Aktien und Anleihen am Kapitalmarkt. Wenn eine deutsche Rüstungsfirma eine Anleihe ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Fremdkapital am Finanzmarkt auf. Wenn sie neue Aktien ausgibt, dann nimmt sie dabei frisches Eigenkapital am Finanzmarkt auf. Dabei übernehmen ein paar ausgewählte Investmentbanken die neuen Aktien und verkaufen sie dann an Anleger*innen, insbesondere Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds. Wenn diese Anleger*innen neu ausgegebene Aktien oder Anleihen eines deutschen Rüstungsunternehmens kaufen (Primärmarkt), dann finanzieren sie dieses Unternehmen. Wenn dahingegen alte Aktien eines Rüstungsunternehmens zwischen Investor*innen gehandelt werden (Sekundärmarkt), erhält dieses Unternehmen dabei kein Geld. Trotzdem unterstützen auch Käufer*innen von Rüstungsaktien am Sekundärmarkt indirekt die jeweiligen Rüstungsfirmen, da sie zu einer höheren Nachfrage beitragen, die den Aktienpreis stützt und die Firma von einem höheren Aktienpreis finanziell profitiert. Das ist z.B. der Fall, wenn die Firma neue Aktien ausgibt und dabei dann einen höheren Preis erzielen kann.

Viertens: Ein paar deutsche Rüstungsfirmen wurden von Finanzinvestoren, meist Private Equity Fonds, aufgekauft und werden von diesen teilweise finanziert. Zu diesen Finanzinvestoren zählen aktuell Capital Management Partners, Mimir Group, Perusa Partners, Rantum Capital, Star Capital Partnership LLP, Triton Capital Partners und bald auch KKR.

Investoren und Kreditgeber der deutschen Rüstungsindustrie

Im Folgenden wird analysiert, wer die börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen finanziert. Die größten Aktionäre der deutschen Rüstungsindustrie können unterschieden werden zwischen strategischen Anteilseignern (Staaten, Partnerkonzerne, Stiftungen, Gründerfamilien) und Investoren, die mit ihren Aktieninvestments in erster Linie Gewinne erzielen wollen. Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 der deutsche Staat (mit Aktienbeteiligungen in Höhe von 12,95 Mrd. US$); der französische Staat (12,44 Mrd. US$); der Autokonzern Mercedes Benz (8,71 Mrd. US$); der spanische Staat (4,68 Mrd. US$); die Luxemburger Finanzholding CDE (2,38 Mrd. US$); der chinesische Autokonzern BAIC (1,62 Mrd. US$); der Staatsfonds Kuwaits (1,24 Mrd. US$); der Sicherheitstechnologie-Konzern Giesecke+Devrient (1,04 Mrd. US$); die Krupp-Stiftung (0,98 Mrd. US$); der italienische Rüstungskonzern Leonardo (0,62 Mrd. US$); die Software AG Stiftung (0,6 Mrd. US$); und die Fuchs-Familienstiftung (0,56 Mrd. US$).

Abb. 10: Größte Investoren börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Die größten Investoren der börsennotierten BDSV-Mitgliedsfirmen sind Stand August 2023 die US-amerikanische Investmentgesellschaft Capital Group (12,67 Mrd. US$); der weltweit größte Vermögensverwalter Blackrock (9,52 Mrd. US$); der weltweit zweitgrößte Vermögensverwalter Vanguard (4,04 Mrd. US$); der britische Hedge-fond TCI (2,55 Mrd. US$); der weltweit drittgrößte Vermögensverwalter Fidelity (2,16 Mrd. US$); Europas größter Fondsanbieter Amundi (2,07 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Wellington (1,79 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (1,41 Mrd. US$); das Fondshaus der Deutschen Bank, die DWS (1,23 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Invesco (1,22 Mrd. US$); die US-Investmentgesellschaft Harris Associates (1,21 Mrd. US$); und das Fondshaus der deutschen Sparkassen, die Deka (1,07 Mrd. US$). Es zeigt sich, dass die wichtigsten Investoren der börsennotierten deutschen Rüstungsfirmen die großen US-amerikanischen Finanzinstitute sind, die die globalen Kapitalmärkte dominieren. Dahinter kommen Finanzinstitute aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich.

Wenn wir die Konsortialkredite betrachten, die die börsennotierten BDSV-Mitglieder seit dem Jahr 2020 erhalten haben, sehen wir, dass die größten Kreditgeber allesamt Großbanken sind: Die größte französische Bank BNP Paribas (4 Mrd. US$); die zweitgrößte italienische Bank Unicredit (3,97 Mrd. US$); die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan (3,71 Mrd. US$); die zweitgrößte französische Bank Crédit Agricole (3,60 Mrd. US$); die größte britische Bank HSBC (3,51 Mrd. US$); die französische Bank Société Générale (3,39 Mrd. US$); die Investmentbank der französischen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis (3,33 Mrd. US$); die größte spanische Bank Santander (3,33 Mrd. US$); die größte deutsche Privatbank Deutsche Bank (1,70 Mrd. US$); die zweitgrößte spanische Bank BBVA (1,42 Mrd. US$); die zweitgrößte britische Bank Barclays (1,32 Mrd. US$); die US-Bank Citi; die größte kanadische Bank RBC; die japanischen Banken Mizuho und Sumitomo (alle 1,26 Mrd. US$); und die zweitgrößte deutsche Privatbank Commerzbank (0,59 Mrd. US$).

Hinzu kommen weitere Banken, die sich mit Summen unterhalb der Milliardenmarke an diesen Konsortialkrediten beteiligt haben. Das sind unter anderem die deutsche staatliche Förderbank KfW; die Kreissparkasse Biberach; die Kreissparkasse Ostalb; die Stadtsparkasse Düsseldorf; die Landesbank Baden-Württemberg; die Landesbank Hessen-Thüringen; die Bayerische Landesbank; das Zentralinstitut der deutschen Volks- und Genossenschaftsbanken, die DZ Bank; die größte chinesische Bank Industrial & Commercial Bank of China; die US-Investmentbank Goldman Sachs; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; die größte holländische Bank ING; die größte schwedische Bank SEB; die britische Bank Standard Chartered; die größte Singapurer Bank DBS; die französische Genossenschaftsbank Crédit Mutuel; die australische Bank ANZ; die größte Schweizer Bank UBS; und die kürzlich untergegangene Credit Suisse.

Wer finanziert kontroverse Waffen?

Im Finanzsektor werden Rüstungsunternehmen häufig danach unterschieden, ob sie kontroverse Waffen entwickeln, produzieren und verkaufen oder dies nicht tun. Bei kontroversen Waffen handelt es sich um Kampfmittel, deren Einsatz umstritten ist und die meist in internationalen Verträgen von einer Vielzahl an Staaten geächtet werden. Dazu werden meist Streumunition, Nuklearwaffen, Anti-Personen-Minen, biologische Waffen, chemische Waffen, Waffen mit weißem Phosphor und abgereichertes Uran gezählt. Insgesamt sechs BDSV-Mitgliedsfirmen sind Teil von ausländischen, börsennotierten Rüstungsunternehmen, die an der Herstellung kontroverser Waffen beteiligt sind. Folglich finanzieren sich die deutschen Rüstungsfirmen, die Teil eines Herstellers kontroverser Waffen sind, über diese ausländischen Mutterkonzerne: Airbus, General Dynamics, Northrop Grumman, Safran, Thales, Elbit Systems. Weitere sieben ausländische Rüstungskonzerne, die nicht Mitglieder des BDSV sind, produzieren kontroverse Waffen und haben Niederlassungen oder Produktionsstätten in Deutschland. Diese deutschen Produktionsstätten finanzieren sich ebenfalls über die ausländischen Konzerne, zu denen sie gehören: Boeing, Fluor, Honeywell International, Jacobs Engineering, Leonardo, Dassault Aviation, Rolls-Royce.

Abb. 11: Größte strategische Anteilseigner börsennotierter BDSV-Mitgliedsfirmen

Wer liefert Waffen an kriegführende Staaten?

In der Datenbank exitarms.org, einem Projekt von Facing Finance e.V., unterscheiden wir zwischen Unternehmen, die Waffen an kriegführende Staaten liefern und Unternehmen, die das nicht tun. Aus diesen Daten geht hervor, dass zwischen 2016 und 2021 insgesamt 48 Unternehmen mit Sitz in Deutschland an Rüstungsexporten in Kriegsgebiete beteiligt waren. Zudem haben im selben Zeitraum 65 Unternehmen – teilweise mit Hauptsitz im Ausland – aus Deutschland heraus Waffen in Kriegsgebiete geliefert. Wenn wir von diesen Rüstungsexporteuren diejenigen betrachten, die börsennotiert sind, sehen wir, dass einige der größten Anteilseigner auch bereits unter den größten Aktionären der BDSV-Mitgliedsfirmen waren: Die Investoren Amundi, Blackrock, Capital Group, DWS, Fidelity, Harris Associates, Invesco, TCI, Vanguard und Wellington sowie die strategischen Anteilseigner BAIC, Kuwaits Staatsfonds und der französische Staat.

Abb. 12: Größte Kreditgeber von Konsortialkrediten für börsennotierte BDSV-Mitgliedsfirmen

Daneben gibt es ein paar neue Großaktionäre: Die größten strategischen Anteilseigner der börsennotierten Firmen, die Waffen in Kriegsgebiete exportiert haben, sind das Land Niedersachsen; die Holding der Milliardärsfamilie Porsche-Piëch; der Staatsfonds Katars; der Autokonzern Volkswagen; der italienische Staat; die französische Milliardärsfamilie Dassault; die Holding des israelischen Milliardärs Federmann; und der Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus. Die größten Investoren sind der norwegische Staatsfonds sowie – allesamt mit Sitz in den USA – der Vermögensverwalter Artisan Partners; die nach Börsenwert weltweit zweitgrößte Bank Bank of America; der Vermögensverwalter Columbia Threadneedle; der Fondsanbieter DFA; der Vermögensverwalter Geode; die nach Börsenwert weltweit größte Bank JP Morgan; der Vermögensverwalter Longview Asset Management; die Finanzberatungsfirma Managed Account Advisors; der Vermögensverwalter MFS; die Investmentbank Morgan Stanley; der Pensionsfonds Newport; die Investmentgesellschaft Sanders Capital; der Versicherungskonzern State Farm; die Großbank State Street; und der Vermögensverwalter T. Rowe Price.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich deutsche Rüstungsfirmen hauptsächlich über folgende Wege finanzieren: selbst einbehaltene Gewinne; Kredite lokaler, nationaler und internationaler Banken; die Investitionen ihrer Mutterkonzerne, häufig ausländische, börsennotierte Rüstungskonzerne, sowie die Finanzierung über den Verkauf neuer Aktien und Anleihen an den Kapitalmärkten, meist an Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, Kreditinstitute, Vermögensverwalter und Investmentfonds.

Julius-Anton Bussenius studiert Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Praktikant bei der Nichtregierungsorganisation Facing Finance e.V.

Luca Schiewe hat einen finanzwissenschaftlichen Background, ist bei Facing Finance e.V. für Engagement- und Divestmentstrategien zu Rüstungsexporteuren zuständig und koordiniert die ExitArms-Datenbank.

Rüstung findet nebenan statt:

Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

von Andreas Seifert

Der Blick auf die aktuelle Karte mit Rüstungsstandorten in Deutschland offenbart einige Schwerpunkte und auch Leerstellen, vor allem aber eine breite Verteilung über ganz Deutschland. Es sind heute viele kleine, oftmals sogar unscheinbare Standorte: die ganz großen Zentren, wie es sie noch in den 1970er Jahren gab, sind weniger und kleiner geworden. Um die Dynamik dahinter zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte.

Die Höhepunkte der Rüstungsindustrie in Deutschland lagen im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in der Hochphase des Kalten Krieges in den 1970er Jahren. Bereits Ende der 1970er Jahre, vor allem aber in den 1980er Jahren begann ihr relatives und absolutes Gewicht zu sinken. Von rund 400.000 Beschäftigten in diesem Bereich in den 1980ern, fiel die Zahl nach 1991 immer weiter ab und betrug je nach Zählmethode und Ansatz Anfang der 2000er Jahre nur noch rund 60.000 bis 90.000 Beschäftigte. Bundesländer wie beispielsweise Bremen versuchten, diesen Strukturwandel mit einer staatlich geförderten »Konversion« zu flankieren, die negativen Effekte abzufedern, anderswo wurde auf Fusionen gesetzt und wieder andere Unternehmen stellten Teile ihrer Produktion auf zivile Güter um.

Neben dieser allgemeinen Reduktion der schieren Anzahl von Beschäftigten beeinflusste auch die technologische Entwicklung und die geografische Lage den Zuschnitt der Industrie. Sind einzelne Standorte, wie Schönebeck südlich von Magdeburg seit 1832, schon immer und auch heute noch Standorte von Rüstung, so verschwanden doch andere von der Karte und es traten neue hinzu.

Grob formuliert trug die Abkehr von der Schwerindustrie (Stahlbau, Panzer) zur Leichtindustrie (z.B. im Flugzeugbau, Drohnen), aber auch die verstärkte Nutzung von Elektronik bzw. digitalen Technologien wesentlich zur Veränderung geografischer Schwerpunkte in der Rüstung bei. Trotz allem lassen sich geografische Kontinuitäten ortsbezogen beobachten und werden sich mit der rüstungsbezogenen »Zeitenwende« weiter vertiefen.

Nach 1989 wurde im Osten Deutschlands kaum etwas von der dort vorhandenen Rüstungsindustrie fortgeführt – z.B. Suhl mit der Firma Haenel. Jedoch sehen heute Unternehmen wie z.B. Rheinmetall durchaus eine Chance, in den östlichen Bundesländern erneut Rüstung anzusiedeln. Sie folgen hier einem Standortauswahlprinzip, das die Rüstungsindustrie schon immer verfolgte: besonders gefährliche Produktionen, z.B. Sprengstoffe, werden in eher dünner besiedelten, strukturarmen Regionen angesiedelt. Beispiele wie Burbach, Aschau am Inn, Schrobenhausen oder auch Oberndorf am Neckar sind Beispiele hierfür auch im deutschen Westen – selbst kleinere Firmen können so regional gesehen eine große Bedeutung für Arbeitsplätze, Sozialräume und Standortattraktivität erlangen.

Große Cluster in Deutschland, die ihre Kontinuität bis heute bewahrt haben, sind beispielsweise:

Abb. 13: Cluster 2 | Bremen-Hamburg-Kiel

(1) Die Bodenseeregion, die ausgehend von der mit den Zeppelinen verbundenen Rüstungsindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts über den Flugzeug- und Motorenbau bis heute einen produktionstechnisch hoch relevanten Cluster bildet. Mit Diehl in Überlingen (früher einmal Bodensee Geräte Technik), über MTU Friedrichshafen (heute Rolls Royce) bis hin zu Hensoldt (vor kurzem noch Airbus) sind große Namen aus der Rüstungsindustrie direkt am See vertreten. Diese Firmen produzieren neben Motoren – heute mehr Schiffs- als Flugzeugmotoren – auch Getriebe für Panzerfahrzeuge, Sensoren und Lenkwaffen. Aber auch für die digitale Steuerung von Panzern und ganzen Schiffssystemen gibt es Anbieter.

(2) Ein anderer Cluster mit einer hohen Kontinuität ist der Bremen-Hamburg-Kiel Cluster. Dieser war einmal Hauptstandort der Marinerüstung in Deutschland. Heute spielt die Marinerüstung immer noch eine Rolle, aber sie ist deutlich kleiner und wird flankiert von Sensorik, Luft- und Raumfahrt. Mit Kiel, wo nicht nur die Produktion von U-Booten ihre Heimat gefunden hat, bilden Hamburg und Bremen eine Gruppe, die das gesamte Drumherum um die komplexer gewordenen maritimen Systeme entwickelt und produziert. Bremen ist heute einer der Schwerpunktstandorte nicht nur der Raumfahrt an sich, sondern auch ihrer militärischen Nutzung – große Firmen wie OHB entwickeln und bauen Satelliten fürs Militär. Schätzungen zufolge sind heute mit rund 8.000 Arbeitsplätzen in diesem Cluster wieder ähnlich viele Menschen in der Rüstung beschäftigt, wie zuletzt in den 1980er Jahren.

(3) Der zweite süddeutsche Cluster liegt um München. Panzer werden heute vor allem in Kassel und München gebaut. Mit dem Großraum München ist der größte Rüstungscluster benannt, den Deutschland aufzuweisen hat. Dabei ist es nicht einmal der Panzerbauer KMW, der hier hervorsticht, auch Rheinmetall und Rhode & Schwarz sind vertreten und alles was im Bereich militärischer Luftfahrt Rang und Namen hat: MTU Aeroengines, Europrop, Airbus und Hensoldt. Ebenfalls in München ist auch ein Teil der Forschung und Entwicklung für die Bereiche Luftfahrt und Militär anzutreffen – nirgendwo in Deutschland gibt es eine höhere Massierung.

(4) Rund um die Behördenstandorte Berlin (Regierung), Bonn (BMVg) und Koblenz (Beschaffungsamt) häufen sich die Verbindungs- und Lobbybüros der Rüstungsindustrie. Rund um Bonn herum hat sich zudem der wichtiger gewordene Bereich der Digitalindustrie angesiedelt. Diese formt einen eigenen Cluster, der sich in den letzten Jahren nahezu unbemerkt und abseits der auf schweres Gerät fixierten medialen

Rüstungsdebatten entwickelt hat. Kern der Entwicklung ist hier der AFCEA-Verband, der Militär, Behörden und Politiker*innen mit der Industrie zusammenbringt: kein scheinbar ziviler Technologiekonzern, der nicht vertreten ist. In Bonn sind die Übergänge zwischen dem Cyberkommando der Bundeswehr, dem BSI und anderen zivilen Akteuren fließend – eine jährliche Rüstungsmesse für den digitalen Kampf ist das Sahnehäubchen.

Abb. 14: Ausgewählte Standorte und Cluster der Rüstungsproduktion

Andreas Seifert ist Politikwissenschaftler und ist als Vorstand bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in den Themenfeldern Sicherheitspolitik in Ostasien und Rüstungsindustrie aktiv.

2) EXPORT: Struktur, Empfänger, Konsequenzen

Mehr oder weniger Sicherheit?

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten aus der sicherheitspolitischen Perspektive

von Simone Wisotzki

Deutsche Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter geraten immer wieder in die Schlagzeilen, wenn sie etwa in Konfliktregionen gelangen. Meist fehlt es von politischer Seite an Begründungen, weshalb in die Regionen oder in das jeweilige Land geliefert worden ist (→ vgl. Kolling). Allerdings finden sich auch in strategischen Dokumenten, wie Weißbüchern oder außenpolitischen Strategiepapieren selten konkrete Hinweise darauf, dass Rüstungsexporte als Teil des außen- und sicherheitspolitischen Selbstverständnisses angesehen werden. Zu finden sind solche Argumente vor allem bei Vertreter*innen von strategischen Sicherheitsstudien, bei Bundestagsabgeordneten oder natürlich auch bei Industrievertreter*innen. Wie lauten diese Argumente?

Prinzipiell lassen sich verschiedene Argumentationsstränge der Befürworter*innen einer außen- und sicherheitspolitisch verstandenen Strategie identifizieren. Wichtig sind dabei vor allem drei Debatten: 1. Die regionale Stabilität und Sicherheit; 2. Ertüchtigung von Drittstaaten; 3. Bündnispolitische Argumente. Die Debatten um die Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für die Ukraine sind inzwischen so umfangreich, dass sie einen eigenen Beitrag wert sein sollten (GKKE 2022). Das Folgeargument der zunehmenden weltweiten Militarisierung und Aufrüstung in Folge der »Zeitenwende« leitet diesen Beitrag jedoch zentral an. Das führt gerade auch im Hinblick auf die bündnispolitischen Argumente zu eigenen, neuen Entwicklungen, speziell bei der Intensivierung von europäischen Rüstungskooperationen. Die weltweite sicherheitspolitische Krise hat nicht nur Folgen für die deutsche Rüstungsexportpolitik, sondern zeigte sich schon lange vor dem neuerlichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Ganz deutlich wurde sie auch schon in den vorangegangenen Jahren im Hinblick auf die multilaterale bzw. strategische nukleare und die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wisotzki und Kühn 2021).

Die Ambivalenz von Rüstungsexporten

Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter sind keine Handelsware wie jede andere. Eigentlich ist allen klar, dass der Umgang, die Genehmigung, der Transfer und der Export einer ganz besonderen Sorgfaltspflicht bedürfen. Dennoch gelangen solche Waffen, die Munition oder auch die Spionagesoftware in die Hände von kriegführenden Staaten, von nicht-staatlichen Akteuren oder auch von menschenrechtsverachtenden Diktaturen, sind damit also oftmals konfliktverschärfend wirksam. Auf der anderen Seite steht das in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (VN) verbriefte Recht auf Selbstverteidigung, über das alle Staaten im Falle eines Angriffs auf ihr Territorium verfügen. Gemäß dem kollektiven Recht auf Selbstverteidigung können andere Staaten das angegriffene Land mit Waffen und Munition unterstützen. In jedem Fall müssen nach Artikel 51 Absatz 2 der VN-Charta alle Maßnahmen der Selbstverteidigung gegenüber dem Sicherheitsrat angezeigt werden. In den Verhandlungen zum internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) haben nahezu alle Staaten darauf gedrungen, dass mit dem Recht auf Selbstverteidigung auch das Recht eines jeden Staates zur Herstellung, zum Import, zum Transfer und zum Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern verbunden ist. Eine solche Formulierung findet sich deshalb auch in der Präambel des ATT.

Der ATT betont wiederum, dass Waffen und Rüstungsgüter zwar Frieden und Sicherheit garantieren können, andererseits aber auch genau diesen beiden Zielen abträglich sein können – dies unterstreicht einmal mehr die Ambivalenz, die mit der Problematik von Rüstungsexporten verbunden ist.

Rüstungsproduzierende Staaten haben unterschiedliche Gründe, weshalb sie auf den Export von Rüstungsgütern nicht verzichten wollen. Ganz oben stehen außenpolitische und sicherheits- und verteidigungspolitische Argumente, aber auch wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Gründe werden oftmals genannt. Dabei findet sich in den Politischen Grundsätzen in Artikel III.2 der Hinweis, dass beschäftigungspolitische Gründe keine ausschlaggebende Rolle bei der Genehmigungsentscheidung von Rüstungsexporten an Drittstaaten spielen dürfen.

Sicherheitspolitische Begründungen für Rüstungsexporte

Alle Bundesregierungen haben sich stets zur »restriktiven« deutschen Rüstungsexportpolitik bekannt. Dennoch finden sich mannigfaltige Beispiele und Belege dafür, dass Kriegswaffen, sonstige Rüstungsgüter aber beispielsweise auch Dual-Use-Güter in Kriegs- und Krisengebiete gelangt sind (Wisotzki 2020; → siehe auch Grässlin). Selten werden Genehmigungen öffentlich begründet, doch häufig finden sich Hinweise darauf, dass Politiker*innen sicherheits- und verteidigungspolitische Überlegungen zugrunde legen, um ihre Positionierungen zu rechtfertigen (beispielsweise in den Debatten des Bundestages; vgl. Wisotzki 2021).

Abb. 15: Deutsche Rüstungsexporte weltweit

Datenquelle: BICC/ruestungsexport.info; Bezugsjahr 2021

Rüstungsexporte als Beitrag zu regionaler Stabilität und Sicherheit

Als häufiges sicherheitspolitisches Argument ist zu vernehmen, dass Rüstungsexporte zu regionaler Stabilität und Sicherheit beitragen. Aus Sicht der Befürworter*innen von Rüstungsexporten sind es vor allem zwei Regionen in der Welt, in der deutsche Sicherheits- und Stabilitätsinteressen zum Tragen kommen – die Region rund um den Persischen Golf sowie die regionale Stabilität Ostasiens, insbesondere auch rund um das Südchinesische Meer. So sollen „Rüstungsexporte als Instrument im Rahmen einer interessengeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik auch dann in Frage kommen, wenn nicht alle Aspekte (Menschenrechte, mangelnde Kontrolle über den Verbleib und die Verwendung der Waffen, etc.) dabei in idealtypischer Weise berücksichtigt werden“ (Schilling 2015, S. 33). Die Stabilität der Region des Nahen und Mittleren Ostens (MENA) sowie die Ostasiens müsse als Teil deutscher Sicherheitsinteressen verstanden und diese Staaten beim »Aufbau ihrer Verteidigungskapazität« unterstützt werden.

EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, haben an alle Konfliktparteien rund um das Südchinesische Meer Kriegswaffen, Rüstungsgüter und Technologien geliefert – vor allem auch Kriegsschiffe im maritimen Sektor (Duchâtel und Bromley 2017, S. 7). Daneben gibt es in der Region Asiens eine ganze Reihe weiterer ungeklärter Territorialkonflikte und ungelöster Konflikte. Selbst wenn eine gewisse strategische Stabilität durch Aufrüstung angenommen werden könnte, so dokumentieren zahlreiche Zwischenfälle auf See das hohe Risiko einer gewalthaften Eskalation (Abb et al. 2021, S. 34ff.; Boemcken und Grebe 2013).

Die Gefahr von Rüstungswettläufen durch Rüstungsexporte für spezifische Regionen sollte nicht unterschätzt werden. Blickt man auf die MENA-Region, so verdeutlichen die jährlichen Zahlen des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) die beträchtliche Aufrüstung und die Rüstungswettläufe gerade in dieser Region. So ist Saudi-Arabien direkt hinter Indien der zweitgrößte Rüstungsimporteur, Katar nimmt Platz 3 ein. Unter den Top-20 der größten Rüstungsimporteure (gemittelt über die Jahre 2018-2022) liegt Ägypten auf Platz 6 und die Vereinigten Arabischen Emirate auf Platz 11. In der Region Ostasien liegt Südkorea auf Platz 7 und Japan auf Platz 9 der weltweit größten Rüstungsexporteure. 41 Prozent der weltweiten Waffenimporte verfielen auf die Regionen Asien und Ozeanien, dicht gefolgt von den MENA-Staaten mit 31 Prozent (vgl. Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Aufrüstung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Konfliktgeschehens in beiden Regionen und unterstreicht einmal mehr den Zusammenhang zwischen Konfliktgeschehen und Rüstungswettläufen (vgl. Barakat et al. 2021). Wissenschaftler*innen sehen einen Wandel zu einer proaktiveren und militarisierten Außenpolitik arabischer Empfängerstaaten deutscher Rüstungsexporte. Die gelieferten Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgüter kämen tatsächlich auch in den Kriegen in der Region zum Einsatz oder würden an beteiligte Konfliktakteur*innen weitergegeben (vgl. Hüllinghorst und Roll 2020). Das Argument der regionalen Stabilität wird oftmals auch mit der Möglichkeit der Einflussnahme durch Rüstungsexporte verknüpft, um in diesen Ländern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu realisieren (vgl. Durm 2021). Eine Studie zeigt anhand der britischen Exportpolitik, dass diese Vorstellung von Einflussnahme im Fall Saudi-Arabiens illusorisch sei, das Königreich vielmehr umgekehrt Einfluss auf die britische Politik nehme (vgl. Van Rij und Wilkinson 2018).

Rüstungsexporte zur Ertüchtigung und Stabilisierung von Drittstaaten

Demokratien scheuen oftmals davor zurück, eigene Soldat*innen in entfernte Konfliktregionen zu entsenden. Grund dafür ist die öffentliche Meinung, die sich schnell gegen solche Einsätze wendet, sobald die eigenen Soldat*innen Opfer von Kämpfen vor Ort werden – dies dokumentieren wissenschaftliche Untersuchungen (Geis et al. 2013). Als Ausweg aus dem Dilemma hat sich die sogenannte »Ertüchtigungspolitik« für fragile Staaten entwickelt: Militär und Polizei werden ausgebildet und mit Waffen ausgestattet. In Deutschland entbrannte darum eine Debatte in Folge der »Merkel-Doktrin« ab 2011, in der es auch darum ging, zu begründen, dass Rüstungsexporte künftig Teil des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentenkastens werden sollten (Bundesregierung 2012).

Vom »Paradigmenwechsel« sprachen viele dann aber, als Deutschland sich 2014 entschloss, Waffen- und Ausstattungshilfe aus den Beständen der Bundeswehr zu leisten, um damit die kurdischen Peschmerga im Nordirak zu unterstützen. Hartnäckig hält sich bis heute das Narrativ, dass diese Entscheidung in einer Notlage gefällt wurde, damit die Peschmerga die von den Milizen des »Islamischen Staates« (IS) im Sindschar-Gebirge eingekesselten Jesid*innen befreien konnten. Allerdings wurden sie letztlich von PKK-nahen Milizen befreit, noch bevor die deutschen Waffenlieferungen im Nordirak angekommen waren. Diese Waffen wurden dann im Kampf gegen den IS eingesetzt und die Bundeswehr beteiligte sich an einer Ausbildungsmission im Nordirak. Doch gab es auch Berichte über die Missachtung internationaler Menschenrechtsstandards durch die Peschmerga und die kurdische Regionalregierung, so etwa die Vertreibung der arabischstämmigen Bevölkerung aus eroberten Gebieten. 2017 geriet die Mission endgültig in die Kritik, als die kurdische Regionalregierung nach einer Volksabstimmung die Autonomie gegenüber der irakischen Regionalregierung verkündete und sich beim Vormarsch auf die ölreiche Stadt Kirkuk in gewaltsamer Konfrontation mit irakischen Truppen vorfand.

Neben diesem Beispiel gibt es zahlreiche andere Fälle, die zeigen, dass eine Ertüchtigung von Polizei und Armee sowie Ausstattungshilfe und Waffenexporte nicht zur Stabilisierung von fragilen Staaten beiträgt und vielmehr Konflikte gewaltsam eskalieren lassen kann. Dies unterstreichen auch die zahlreichen Putsche und Militärregierungen in Mali oder Niger, in denen verschiedene Missionen ebenfalls Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe geleistet hatten (vgl. Eckert 2020). Auch die neuere quantitative Kriegsursachenforschung kommt zu ähnlichen Ergebnissen im Hinblick auf den Zusammenhang von Aufrüstung und Kriegswahrscheinlichkeit. Studien zu Bürgerkriegen belegen, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Konflikteskalation durch konventionelle Rüstungsimporte deutlich erhöht (vgl. Pamp et al. 2018). Rüstungstransfers an nicht-staatliche Akteure erhöhen die Gefahr des gewaltsamen Konfliktaustrages und lassen die Konflikte auch im Hinblick auf Opferzahlen tödlicher werden. Schließlich führen Waffenimporte an Regierungen dazu, dass die Konflikte länger anhalten. Waffen sind das „gewaltspezifische Kapitel“, das notwendig ist, damit bewaffnete Rebellionen überhaupt stattfinden können (vgl. Collier und Hoeffler 2004).

Rüstungsexporte und Bündnisfähigkeit

Die Notwendigkeit von Rüstungsexporten – auch an Drittstaaten – wird häufig auch mit der Erwartungsverlässlichkeit vonseiten der Bündnis- und Kooperationspartner begründet. Übergeordnetes Ziel ist dabei, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit den Bündnispartnern – NATO oder EU – zu gestalten. Rüstungskooperationen haben in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und werden weiter ausgebaut. So betonten die von der Ampel-Koalition 2022 vorgelegten Eckpunkte für das künftige Rüstungsexportkontrollgesetz die Notwendigkeit einer verstärkten Rüstungskooperation innerhalb der EU-Partnerstaaten. Die gemeinsame Beschaffung soll durch das neue Programm EDIRPA realisiert werden. Ziel ist es, neue Rüstungssysteme gemeinsam herzustellen, was durchaus sinnvoll sein kann, um beispielsweise auch Kosten zu sparen (vgl. Europäisches Parlament 2023).

Was das aber auch bedeuten kann, wenn einzelne Staaten nur Teile oder Komponenten zuliefern, zeigt die de-minimis-Regel zwischen Deutschland und Frankreich, die 2019 als Teil der Aachener Verträge verhandelt wurde. Danach kann Deutschland als Komponentenzulieferer bei einem Anteil von bis zu 20 Prozent am jeweiligen Rüstungsgut so gut wie keine Einwände gegen das Exportvorhaben erheben (vgl. GKKE 2019). Tatsächlich sind auf diese Weise selbst während des deutschen Exportmoratoriums nach der Ermordung des saudi-arabischen Journalisten Jamal Khashoggi Rüstungsexporte durch Sammelausfuhrgenehmigungen und Re-Exportgenehmigungen über Frankreich nach Saudi-Arabien gelangt (vgl. GKKE 2022), obwohl das Land sich zu diesem Zeitpunkt im Krieg gegen die Houthi-Milizen im Jemen befand (vgl. Disclose 2021). An diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass die EU-Staaten die Regeln zum Umgang mit Rüstungsexporten, wie den internationalen Waffenhandelsvertrag ATT oder den »Gemeinsamen Standpunkt« von 2008, sehr unterschiedlich auslegen. Für europäische Rüstungskooperationen braucht es klare Governancestrukturen, die sich an den vorhandenen Instrumenten der Rüstungsexportkontrolle orientieren und diese auch einheitlich umsetzen.

Hin zu einer restriktiven Exportpolitik

Rüstungsexporte zeichnet die Ambivalenz aus, in der staatlichen Logik für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols notwendig zu sein, gleichzeitig aber eben auch Konflikte gewaltsam eskalieren zu lassen, als Instrumente zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung missbraucht zu werden und Rüstungsspiralen zwischen Staaten oder in Regionen in Gang zu setzen. Die »Zeitenwende« in Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verleiht den Befürworter*innen einer Sicherheitspolitik, in der Rüstungsexporte zum Teil des strategischen Instrumentenkastens werden, neuen Aufwind. Ein solcher Trend lässt sich schon seit längerem auch auf Ebene der Europäischen Union und hier konkret an verstärkten Initiativen gemeinsamer Rüstungskooperationen feststellen. Leider klafft zwischen dem Trend verstärkter Verteidigungskooperation und einer institutionalisierten und vor allem auch tatsächlich implementierten europäischen Rüstungsexportpolitik eine gewaltige Lücke.

Rüstungsexporte sollten prinzipiell begründungspflichtig sein und es sollte von den Verantwortlichen der Nachweis erbracht werden müssen, dass sie in ihren Entscheidungen im Sinne einer restriktiven Rüstungsexportpolitik zuallererst den Erfordernissen von Frieden, menschlicher Sicherheit, der Wahrung der Menschenrechte und der Aufrechterhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung nachkommen. Statt sich einer sicherheitspolitischen Logik zu verschreiben, die allein auf staatliche Sicherheitsinteressen und auf das Recht zur Selbstverteidigung setzt, sollte die deutsche Rüstungsexportpolitik den Blick vor allem auch auf menschliche Sicherheit und auf ein friedenspolitisches Primat richten, das auch im Grundgesetz verankert ist.

Simone Wisotzki ist Projektleiterin am Leibniz-Institut Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) und arbeitet dort zu Fragen der humanitären Rüstungskontrolle, der Rüstungsexportkontrolle und der geschlechtersensiblen Friedens- und Konfliktforschung.

Todbringende Kleinwaffen

Auswirkungen von Exporten aus Deutschland

von Jürgen Grässlin

Zu den Kleinwaffen zählen Handgranaten, Landminen, Faustfeuerwaffen (wie Pistolen und Revolver), Maschinenpistolen und allen voran Sturm-, Maschinen- und Scharfschützengewehre. Sie können von einem Menschen getragen und eingesetzt werden. Leichte Waffen umfassen u.a. schwere Maschinengewehre, tragbare Raketenwerfer, Granatwerfer, Panzerabwehrkanonen und Mörser bis zu einem Kaliber von 100mm. Um sie zu tragen und zu bedienen, müssen zwei Menschen, ein Packtier oder Fahrzeug verwendet werden. Mit Ausnahme von Granaten benötigen Klein- und Leichtwaffen (Small Arms and Light Weapons, SALW) Munition (bpb o.J.).

Kleinwaffenopfer und Kleinwaffenbesitz

Anders als gemeinhin angenommen, sterben die allermeisten Menschen in Kriegen und Bürgerkriegen nicht durch den Beschuss mit Granaten, Bomben oder anderen Geschossen, abgefeuert von Kampfpanzern, Militärhelikoptern, Kampfjets oder Kriegsschiffen. Vielmehr sind die Opferzahlen beim Beschuss mit Klein- und Leichtwaffen mit Abstand am höchsten. Sie sind die Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts. Bei ihren Recherchen kamen 2006 das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, und das Internationale Forschungszentrum für Rüstungskonversion, BICC, zu dem Ergebnis, dass in jedem Jahr bis zu 500.000 Menschen ihr Leben durch den Einsatz von SALW verlieren (Tagesspiegel 2006).

Laut Studien des Genfer Forschungsinstituts »Small Arms Survey« (SAS), das sich auf die Analyse der Produktion, des Exports und des Einsatzes von Kleinwaffen spezialisiert hat, wuchs die Zahl von Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit von 650 Mio. im Jahr 2006 auf 857 Mio. im Jahr 2017 an.

SAS schätzt, dass sich rund 85% dieser Kleinwaffen im zivilen Besitz befinden. Hinzu kommen 133 Mio. (13%) im militärischen und 23 Mio. (2%) im behördlichen Gebrauch bei Polizei und Sicherheitskräften. Es sind demnach aktuell mehr als eine Milliarde Feuerwaffen rund um den Globus im Umlauf (SAS 2020).2

Der größte Anteil ziviler Abnehmer*innen ist in den Vereinigten Staaten von Amerika mit 393 Mio. Kleinwaffen zu verzeichnen. Obwohl die USA lediglich einen Anteil von vier Prozent der Erdbevölkerung ausmachen, finden sich dort rund 40% aller Feuerwaffen (SAS 2018).

Die Staaten mit dem größten militärischen Feuerwaffenpotential sind Russland (mit 30,3 Mio. Stück), China (27,5 Mio.), Nordkorea (8,4 Mio.), die Ukraine (6,6 Mio.) und die USA (4,5 Mio.). Diese umfassen die Kategorien der modernen selbstladenden Gewehre (72%), Pistolen (13%), Maschinengewehre (6%) und andere (9%) (Karp 2018, S. 3f., S. 8).

Abb. 16: Kleinwaffen in Händen von Zivilist*innen weltweit

… und seine dramatischen Folgen

Diese unglaubliche Hochrüstung im zivilen, militärischen und behördlichen Bereich zeitigt weltweit dramatische Folgen, wie das aktuelle Update des SAS in der Datenbank »Global Violent Deaths« (GVD) dokumentiert. Allein 2020 starben laut GVD 531.000 Menschen durch Feuerwaffen, davon 88.000 Mädchen und Frauen. Im Jahr 2020 galt der Krieg in Afghanistan noch als der tödlichste Konflikt, in dem für diesen Zeitraum 31.000 Menschen ihr Leben durch Kleinwaffen verloren. Allein auf dem afrikanischen Kontinent starben 2020 rund 35.000 Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen, u.a. im Kongo, in Äthiopien und Nigeria sowie in der Sahelzone (Hideg und Boo 2022).

Abb. 17: Verteilung des Besitzes von Schusswaffen (insgesamt mehr als 1 Mrd.)

Der Fluch der Gewehre

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Kalaschnikow in ihren verschiedenen Versionen mit rund 70 bis 120 Millionen Exemplaren unangefochten an der Spitze im Ranking der meistproduzierten, -exportierten und -eingesetzten Gewehre. Bis heute waren und sind die in Russland entwickelten und in mehr als zehn Lizenzstätten nachgebauten Sturmgewehre die Nummer 1 auf dem Weltmarkt der Kleinwaffen (Control Arms Campaign 2006).

Mit deutlichem Abstand folgte die Heckler & Koch-»Waffenfamilie«, so die H&K-interne Bezeichnung, mit – gleichsam geschätzt – 10 bis 15 Millionen G3-Schnellfeuergewehren. Damit rangierte das im schwäbischen Oberndorf entwickelte G3-Gewehr lange Jahre auf Platz 2 im globalen Ranking. Nicht wesentlich geringer war die Verbreitung der Uzi der Israel Weapons Industries Ltd. (IWI), der M16 der Colt Defence LLC aus den USA und die FN-Gewehre der belgischen FN Herstal SA. Vielfach wurden und werden diese Gewehrtypen in europäischen, asiatischen oder amerikanischen Lizenzstätten nachgebaut (Grässlin 2014, S. 106ff.).

Die Genehmigungspraxis von Kleinwaffenexporten aus Deutschland

Besonders dramatisch hatten sich die 15 Lizenzvergaben für das G3-Gewehr an Staaten wie die Türkei, Pakistan, Mexiko oder Saudi-Arabien in den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts durch die jeweiligen Bundesregierungen ausgewirkt. Nach zurückhaltenden Schätzungen des Autors verloren mehr als zwei Millionen Menschen ihr Leben durch den Einsatz der G3-Schnellfeuergewehre, weitaus mehr wurden verstümmelt und verkrüppelt. Berechnet auf die vergangenen Jahrzehnte starben somit durchschnittlich 114 Menschen am Tag durch ein G3-Gewehr (Grässlin 2013, S. 408ff.).

Die zahlreichen Kampagnen der Friedensbewegung, wie die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, zeitigen mittlerweile jedoch Wirkung (→ vgl. von Gall). Um 2007 vergab die Bundesregierung die letzte Lizenz zum Nachbau von Kleinwaffen, die für das H&K-Sturmgewehr G36 an Saudi-Arabien. In den Jahren danach errichteten H&K-Ingenieure allerdings eine komplette Produktionsanlage nahe Riad (Grässlin 2013, S. 491f.).

Seither aber hat sich bei den wechselnden Bundesregierungen die Erkenntnis durchgesetzt, welch katastrophale Folgen Kleinwaffenexporte und Lizenzvergaben, allen voran in Krisen- und Kriegsgebiete bewirken. Durch die 2015 verabschiedeten »Grundsätze der Bundesregierung für die Ausfuhrgenehmigungspolitik bei der Lieferung von Kleinen und Leichten Waffen, dazugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung in Drittländer«, kurz Kleinwaffengrundsätze, soll aus Regierungssicht „das Risiko (…) der unkontrollierten Weiterverbreitung von Kleinwaffen noch weiter gesenkt werden“ (BMWK o.J.).

Im gleichen Jahr beschloss die Große Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CSU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) eine Pilotphase für »Post-Shipment-Kontrollen«, die inzwischen verbindlich festgeschrieben sind. Seither können deutsche Behörden nach der Ausfuhr von Rüstungsgütern im jeweiligen Empfängerland Vor-Ort-Kontrollen des Endverbleibs durchführen. Allerdings fanden seit 2017 lediglich neun solcher Überprüfungen statt, und zwar in Indien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Südkorea, Indonesien, Malaysia, Brasilien, Jordanien, Trinidad und Tobago sowie im Oman. Laut den deutschen Kontrollbehörden verliefen diese beanstandungsfrei.

Mit der »Schärfung« der »Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport« sollte im Sommer 2019 eine strengere Genehmigungspraxis für die Ausfuhr von Kriegswaffen in Drittländer (außerhalb der EU, NATO und NATO-assoziierten Staaten) erzielt werden. Nunmehr darf der Transfer von Kleinwaffen in Drittländer „grundsätzlich nicht mehr genehmigt werden“ (Bundesregierung 2019, S. 6). Das Problem Nr. 1: Politische Grundsätze sind Absichtserklärungen ohne jegliche rechtliche Verbindlichkeit. Problem Nr. 2: Auch Exporte an NATO-Staaten sind je nach Einsatz der Waffen ausgesprochen bedenklich, wie die massenhafte Verwendung dieser Waffen in Einsätzen weltweit belegt.

Die Ampelkoalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP setzte sich seit November 2021 zur Aufgabe, die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung „durch eine sorgfältige Einzelfallprüfung“ weiterzuentwickeln. Eine zahlenbasierte Pauschalbetrachtung allein auf Basis der Genehmigungswerte eines Berichtszeitraumes sei „kein tauglicher Gradmesser“ bei der Beurteilung der Frage der Restriktivität. Zukünftig bedürfe es „einer einzelfallorientierten Beurteilung von Genehmigungsentscheidungen“ (Bundesregierung 2022a, S. 8) – bezogen auf die Art des Rüstungsgutes, das jeweilige Empfängerland und den vorgesehenen Verwendungszweck der Güter.

Das Ergebnis dieser Neuorientierung ließ sich gleich im Rüstungsexportbericht 2022, dem ersten Gesamtjahr der Ampelkoalition, ablesen. Dementsprechend wurde der Gesamtwert der Genehmigungen für Kleinwaffen und Kleinwaffenteile im Jahr 2021 auf 43,9 Mio. € leicht gesteigert gegenüber den 37,6 Mio. € 2020. Rund 99% des Genehmigungswertes entfielen auf EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder, lediglich etwa 1% auf Drittländer. Bei den Leichtwaffen und Leichtwaffenteilen lag dieser Anteil allerdings noch bei 7% des Genehmigungswertes (Bundesregierung 2022a, S. 8, S. 10).

Was bei der Erfassung des Gesamtwertes noch halbwegs verträglich klingt, hat einen beträchtlichen Haken, auf den die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) in ihrem Jahresbericht 2022 nachdrücklich hinweist: Erwähnt werden müsse, „dass die von der Bundesregierung angegebenen Werte für die Genehmigung der Ausfuhren von Kleinwaffen weder Gewehre ohne Kriegswaffenlisten (KWL)-Nummer, noch Revolver und Pistolen sowie Jagd- und Sportwaffen einschließen“ (GKKE 2022, S. 52). Die GKKE betrachtet dementsprechend den Genehmigungswert für den Gesamtbereich der Ausfuhrliste für Handfeuerwaffen. Dieser liegt für das Jahr 2021 realiter bei immens hohen 234,14 Mio. € gegenüber 170,62 Mio. € noch im Jahr 2020. Mit erfasst in diesem Wert ist auch das entsprechende Zubehör, beispielsweise Schalldämpfer oder Zielfernrohre. Im Rüstungsexportbericht 2021 sind erstmals auch Genehmigungszahlen zu Leichtwaffen veröffentlicht. So sind 2021 Leichtwaffen in Höhe von 15,58 Mio. € (2020: 37,94 Mio. €) genehmigt worden.

Hilfreich bei der Analyse der tatsächlich erfolgten Exporte von Klein- und Leichtwaffen ist der Blick in die Information der Bundesregierung an das Waffenregister der Vereinten Nationen. Demnach wurden Kleinwaffen bzw. deren Bestandteile in eine Reihe von Drittländern exportiert. Unter anderem wurde in den Kosovo (Sturmgewehre und Leichte Maschinengewehre) und nach Jordanien (Maschinenpistolen und leichte Maschinengewehre) exportiert. Leichtwaffen erhielten Singapur (rückstoßfreie Gewehre), der Kosovo (in Handfeuerwaffen integrierte oder einzeln aufgebaute Granatwerfer) und Israel (tragbare Abschussgeräte für Panzerabwehrraketen und Raketensysteme) (GKKE 2022, S. 52ff.).

Definitionen sind von entscheidender Bedeutung

Entscheidend bei der Erfassung und Transparenz der Rüstungsexportgenehmigungen sind die jeweils zugrunde gelegten Definitionen. Hier besteht zum einen das Problem der Unterscheidung zwischen Kriegswaffen und Rüstungsgütern. Zwar ist die mittlerweile geänderte Berichtspraxis der Bundesregierung über Rüstungsexporte grundsätzlich transparenter.3 Es bleibt aber unerklärlich, weshalb sich die Bundesregierung im Rahmen der nationalstaatlichen Auskunfts- und Berichtspflicht nicht an ihren eigenen Berichten an das United Nations Office for Disarmament Affairs (UNODA) orientiert. Die Folge: Es gibt bisweilen große Abweichungen in den Berichten. Mit einer einfachen Anpassung der zugrunde gelegten Definitionen könnte die Bundesregierung die Dopplung der bestehenden Berichte einsparen. Leider scheint es jedoch keinen entsprechenden Willen in der Regierungspolitik zu geben, die unterschiedlichen Definitionen von Kriegswaffen und Rüstungsgütern anzugleichen.

Zum anderen folgt daraus, dass ohne eine Übernahme der Definition der Vereinten Nationen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter auch in Zukunft Sturmgewehre als Rüstungsgüter der Kriegswaffenkontrolle und den entsprechenden Nationalen Berichten unterliegen, während eine Faustfeuerwaffe (Pistolen und Revolver) als sonstiges Rüstungsgut lediglich in den Exportberichten der UNROCA-Datenbank der UNODA aufgeführt wird (vgl. Möhrle 2021, S. 54ff.).

Abb. 18: Unterschiedliche Definitionen

Das Ergebnis dieser Rüstungsexportpraxis ist äußerst problematisch: Noch immer erfassen die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung nur einen vergleichsweise überschaubaren Bereich der Kleinwaffen. Dies ist umso seltsamer, als dass die Bundesregierung in ihrer Genehmigungspolitik Klein- und Leichtwaffen voneinander getrennt behandelt hat, obwohl diese in der geltenden OSZE-Definition stets zusammen genannt werden.

Daher fordert die GKKE die Bundesregierung dazu auf, endlich auch die Daten zu den tatsächlichen Exporten von Rüstungsgütern zu veröffentlichen. Das Fehlen einer solchen Statistik ist ein erhebliches Transparenzdefizit. Das Bundesstatistikgesetz sollte dementsprechend verändert werden. Des Weiteren fordert die GKKE, dass neben den Genehmigungswerten für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Leichtwaffen auch die Genehmigungswerte für Gewehre ohne KWL-Nummer, Revolver und Pistolen, Jagd- und Sportwaffen sowie für die entsprechende Munition gesondert angegeben werden. Problematisch ist auch das Fehlen von Angaben zu den Transfers von gelisteten Dual-Use-Gütern, deren Risikopotential für Frieden und Sicherheit nicht unterschätzt werden sollte. Sie sind nach EU-Vorgaben ebenfalls genehmigungspflichtig.

Illegale Exporte und ihre Auswirkungen – zwei Fallstudien

In den Jahren nach 2006 bzw. nach 2009 machten die bis dato führenden deutschen Kleinwaffenproduzenten H&K und SIG Sauer durch widerrechtliche Waffengeschäfte auf sich aufmerksam. Die beiden Exportskandale, die jeweils 2021 mit der Verurteilung durch den Bundesgerichtshof ihr Ende fanden, seien hier kurz skizziert.4

Fall 1: Illegale Gewehrexporte von Heckler & Koch in Mexiko

Abb. 19: Route Mexiko (Fall H&K)

Eigene Darstellung in Anlehnung an Rosa-Luxemburg-Stiftung

Auf der Basis vertraulicher Informationen eines Whistleblowers aus dem Unternehmen Heckler & Koch erstattete der Autor für das RüstungsInformationsBüro über seinen Rechtsanwalt Holger Rothbauer im Jahr 2010 Strafanzeige. Dank der umfassenden Insiderinformationen konnte belegt werden, dass 4.702 H&K-Sturmgewehre des Typs G36 von 2006 bis 2009 widerrechtlich – d.h. unter Missachtung unterzeichneter Endverbleibserklärungen (EVE) – von Mexiko-City in vier Unruheprovinzen verbracht worden waren. Dort morden seither korrupte Sicherheitskräfte und Mitglieder der Drogenmafia mit G36. Während des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die zeitweilig auch durch das von H&K eingesetzte Wirtschafts- und Beratungsunternehmen KPMG geführt wurden, verschwanden abertausende E-Mails zum unternehmensinternen Infoaustausch zwischen den H&K-Verantwortlichen in Mexiko und der H&K-Führungsebene in Oberndorf. Im Februar 2019 sprach das Landgericht Stuttgart daraufhin zwei angeschuldigte H&K-Geschäftsführer frei. Verurteilt wurden dagegen zwei vormalige Beschäftige zu Haftstrafen auf Bewährung und das Unternehmen zu einer Geldstrafe in Höhe von 3,7 Mio. €. Erstmals in der mehr als 70-jährigen Firmengeschichte konnte dem Unternehmen illegaler Waffenhandel nachgewiesen werden. Der Bundesgerichtshof bestätigte im März 2021 das Stuttgarter Urteil in entscheidenden Punkten.

Gemäß Grundgesetz Artikel 26 (2) verantwortet die Bundesregierung die Rüstungsexportpolitik. Die G36-Exportgenehmigungen nach Mexiko waren ein Testfall für eine völlig neue Form des Waffenhandels mit Regierungsgenehmigung. Das Experiment der von Angela Merkel (CDU) und Franz Müntefering bzw. ab November 2007 von Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) geführten Bundesregierung sah Folgendes vor: Wie auch in Indien wurde erstmals getestet, ob ein für die Waffenlieferung verbotenes Land wie Mexiko doch partiell mit Kriegswaffen ausgerüstet werden kann. Die Endverbleibserklärungen, die der Empfänger unterzeichnen muss, sollten den Verbleib der H&K-Waffen in vermeintlich ruhigen Provinzen gewährleisten. Doch das Ergebnis war todbringend: Unzählige Menschen wurden nach der illegalen Weiterlieferung der mehr als viertausend G36-Gewehre in die vier für Lieferungen verbotenen Unruheprovinzen Chiapas, Guerrero, Jalisco und Chihuahua erschossen.

Fall 2: Illegale Pistolenexporte von SIG Sauer nach Kolumbien

Abb. 20: Route Kolumbien (Fall SIG Sauer)

Eigene Darstellung

Der in Eckernförde ansässige Kleinwaffenhersteller SIG Sauer exportierte von April 2009 bis April 2011 zehntausende Pistolen des Typs SP 2022 von Deutschland über die USA ins Bürgerkriegsland Kolumbien. SIG Sauer hatte bei den Rüstungsexport-Kontrollbehörden lediglich die Lieferung in das US-Werk in New Hampshire beantragt. Ein Genehmigungsantrag für Kolumbien wäre aufgrund der dortigen Menschenrechtslage nicht gestattet worden.

Nachdem ein Whistleblower aus dem Unternehmen der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« umfassendes Beweismaterial übergeben hatte, stellten Paul Russmann und der Autor als Kampagnensprecher erneut über den Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen verantwortliche Rüstungsmanager von SIG Sauer bei der Staatsanwaltschaft.

Wenige Tage danach intensivierte die Kieler Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG). Sie erteilte ein staatliches Rüstungsexportverbot gegenüber SIG Sauer.

Gezwungenermaßen verkündete das Unternehmen mit der Verwaltungszentrale in Emsdetten im Oktober 2014, dass in Deutschland schwerpunktmäßig nur noch Sportwaffen hergestellt werden würden. Vorerst verblieben lediglich rund 50 Arbeitsplätze in Eckernförde. Zugleich verlagerte das Management die Militärproduktion endgültig ins SIG-Sauer-Werk in New Hampshire, USA.

Am 3. April 2019 verurteilte das Landgericht Kiel Michael Lüke und Robert Lackermeier von SIG Sauer Deutschland und Ron Judah Cohen, Chief Executive Officer der SIG Sauer Inc. in den USA, wegen Verstoßes gegen das AWG zu Haftstrafen – wenn auch nur zur Bewährung. Immerhin mussten die Verurteilten Geldstrafen in Höhe von bis zu 600.000 € entrichten. Dieses Geld kam auch Menschenrechtsorganisationen zugute, die in Kolumbien Hilfsprojekte durchführen.

Von der Firmengruppe SIG Sauer Beteiligungs GmbH sollten mit dem Kieler Urteil 11,1 Mio. € eingezogen werden, was dem Gesamtumsatz des Waffendeals mit Kolumbien entsprach. Grundlage dieses Urteils war ein Rechtsparagraph, der sich hauptsächlich gegen die organisierte Kriminalität richtete. Dagegen legte SIG Sauer Revision ein. Mit Urteil vom 1. Juli 2021 bestätigte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe jedoch das Kieler Urteil weitgehend.

Die Folgen dieses widerrechtlichen Waffendeals sind bis heute todbringend: Im Empfängerland schießt die kolumbianische Nationalpolizei, die »Policia National«, mit SIG-Sauer-Pistolen. Erfahrungsgemäß zirkulieren die SP 2022 als Beutewaffen auch bei anderen Konfliktparteien. Unbekannt ist die – zweifelsohne hohe – Anzahl der bislang durch die Pistolen aus Deutschland verletzten und getöteten Menschen.

Durch Vor-Ort-Recherchen konnte das Kinderhilfswerk terre des hommes (tdh) belegen, dass SIG-Sauer-Waffen in Kolumbien immensen Schaden anrichten. Die Pistolen werden von Drogenbanden, Paramilitärs und Guerillagruppen bei Verbrechen eingesetzt und Kindersoldat*innen aufgezwungen. Auch kriminelle Polizist*innen und Militärs haben sie bei Straftaten und schweren Menschenrechtsverletzungen benutzt, berichtete Ralf Willinger von tdh.5

SIG Sauer zog Konsequenzen – wenn auch die falschen. Mit der fortgeführten und letztlich vollständig umgesetzten Auslandsverlagerung der Produktion ins US-Werk in New Hampshire entzieht sich der vormals zweitgrößte deutsche Kleinwaffenhersteller dem Zugriff der Kontrollbehörden hierzulande. Allerdings verblieb der zentrale SIG-Sauer-Firmensitz, die L&O-Holding, weiterhin in Emsdetten. Somit kommen die in den USA erwirtschafteten Gewinne der Firmenholding im Münsterland zugute (→ vgl. Bussenius und Schiewe).

Legale Exporte – dennoch tödlich: Kleinwaffenexporte an die Ukraine

Doch keineswegs sind nur illegale Rüstungsexporte mit Sorge zu betrachten. Bezogen auf die Ankündigung restriktiver Exportpolitik, gab der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für das erste Halbjahr 2022 wenig Anlass zur Entwarnung. So wurde der Genehmigungswert für die Ausfuhr von Kleinwaffen und Kleinwaffenteilen von Januar bis Juni von rund 22,45 Mio. € (2021) auf 71,5 Mio. € (2022) mehr als verdreifacht. Noch drastischer war das Exportvolumen im Bereich der Lieferung von Leichtwaffen und deren Waffenteile. Vom Gesamtwert von rund 154 Mio. € betraf lediglich ein Anteil von rund 20 Mio. € EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Staaten. Dagegen gingen Leichtwaffen im Umfang von etwa 134 Mio. € in die Ukraine als einziges Drittland.

Noch exorbitanter wurde der Anteil der Munitionstransfers für Kleinwaffen im ersten Halbjahr 2022 in die Ukraine gesteigert. Hatte der Drittlandanteil 2021 noch bei knapp 264.000 € gelegen, so wurde von Januar bis Juni 2022 mit 11,9 Mio. € mehr als das Einundvierzigfache an Munitionsausfuhren genehmigt. Davon lag der Ukraine-Anteil bei Munition und deren Teile für Kleinwaffen bei knapp 11,8 Mio. €. Hinzu kamen weitere 9,6 Mio. € für die Genehmigung des Exports von Munition von Panzerabwehrwaffen an die Ukraine (Bundesregierung 2022b, S. 5, Anlagen 4, 6 und 9).

Insgesamt hat die Bundesregierung der Ukraine seit Kriegsbeginn im Februar 2022 Waffen im Volumen von rund 18 Mrd. € geliefert bzw. zugesagt. Im Übrigen verlangt sie dafür keine Bezahlung. Diese militärischen Unterstützungsleistungen sind „nicht rückerstattungspflichtig“, so die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen für Die Linke (taz 2023).

Auch wenn der Wert der SALW-Exporte vergleichsweise gering klingt, ist deren Wirkung immens. Tagtäglich sterben russische Soldaten durch Kugeln aus dem Lauf der aus Deutschland gelieferten Klein- und Leichtwaffen. Krieg ist bekanntlich gut fürs Geschäft der Rüstungsindustrie, national wie auch international. Die Perspektive des Krieges in der Ukraine ist eine ungute. In den – nach der völkerrechtswidrigen Intervention Russlands – seit eineinhalb Jahren tobenden Abnutzungsschlachten ist derzeit kein Ende absehbar. Bezogen auf den Einsatz aller Waffensysteme musste im August 2023 bilanziert werden: Nahezu 500.000 Menschen verloren im Ukraine-Russland-Krieg bislang ihr Leben oder wurden verwundet, wie die New York Times auf der Grundlage US-offizieller Aussagen meldete (Cooper et al. 2023).

Droht ein Rüstungsexportförderungsgesetz?

Die Bundesregierung plant in dieser Legislaturperiode ein »Rüstungsexportkontrollgesetz« zu verabschieden, das im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP festgeschrieben wurde. Bereits im Oktober 2022 legte das von der Partei Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundeswirtschaftsministerium Eckpunkte für das neue Kontrollgesetz vor, die weit hinter den vormals geweckten Erwartungen zurückblieben und die von uns in der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« dementsprechend scharf kritisiert wurden. Aus NGO-Kreisen wurden 30 differenzierte Änderungs- und Ergänzungsvorschläge unterbreitet. Dabei forderte die Kampagne »Aufschrei« eine real und nicht nur verbal praktizierte restriktive Rüstungsexportpolitik. Im Bereich der Kleinwaffen forderte sie weitgehende Verbote von Exporten und Lizenzvergaben, um die Beihilfe zum Morden mit deutschen Waffen in Krisen- und Kriegsgebieten zu stoppen.

Nach dem monatelangen intensiven Meinungsaustausch sollte die Vorlage für das spätere Rüstungsexportkontrollgesetz in den mitverantwortlichen Ministerien und in den Gremien der drei Ampelparteien beraten werden. Der Entscheidungsprozess zog sich unerwartet in die Länge. Währenddessen teilte das Wirtschaftsministerium zusammen mit dem ihm untergeordneten Bundesausfuhramt (BAFA) – wohlgemerkt ohne jegliche Rücksprache mit den vormals intensiv angehörten Expert*innen der Friedensbewegung und Friedensforschung – neue Allgemeingenehmigungen (AGG) zum Export von Rüstungsgütern mit (→ siehe Brzoska).

Aktion Aufschrei kritisierte die Gesetzesänderung in Wort und Tat vehement. Sie zeige „ganz deutlich, dass auch diese Bundesregierung wirtschaftliche Interessen vor Exportkontrolle, Transparenz und vor allem menschliche Sicherheit stellt“ (Aktion Aufschrei 2023). Das neue Rüstungsexportkontrollgesetz mit seinem ursprünglichen zentralen Transparenz- und Kontrollansatz droht zu einem Rüstungsexportförderungsgesetz zu verkommen. Das so dringend notwendige Verbandsklagerecht wird verweigert, desgleichen Exportverbote im Kleinwaffenbereich – trotz der immens hohen Opferzahlen.

Anmerkungen

2) Die reale Zahl ist laut SAS vermutlich noch höher. Denn von den mehr als hundert Regierungen, die dem SAS Daten liefern sollten, legten
lediglich acht ihre Informationen zum jeweiligen Kleinwaffenarsenal umfassend offen. SAS publiziert die aufwändig zu ermittelnden Daten der
Kleinwaffenanalysen in der Regel mehrere Jahre rückwirkend, in diesem Fall bezogen auf das Jahr 2017.

3) Nachdem sich die Bundesregierung bezüglich ihrer Genehmigungspraxis lange hinter dem Privileg des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung
versteckt hatte, konnten wir seitens des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) und unserer Partnerorganisationen gemeinsam mit den damaligen
Bundestagsabgordneten Jan van Aken und Hans-Christian Ströbele im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht das Informationsrecht
des Parlamentes und der Öffentlichkeit stärken. Siehe hierzu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 2014 (Az. 2 BvE 5/11).

4) Auch wenn die heutigen Fortschritte noch lange nicht ausreichend sind, so haben die Strafanzeigen gegen H&K und SIG Sauer doch viel Positives
bewirkt. Umfassende Falldarstellungen finden sich auf der Website des »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE (GN-STAT)« (www.gn-stat.org).

5) CASE 07 des GN-STAT liefert Analysen, Antworten und Forderungen zur Problematik »Kindersoldat*innen und Waffenhandel«, vor allem dem
Handel mit Kleinwaffen. Ehemalige Kindersoldat*innen aus vielen Ländern kommen zu Wort, mit denen der Autor Ralf Willinger von terre des
hommes gesprochen hat. Er setzt sich für ein Ende der Rekrutierung von Kindersoldat*innen und den Stopp von Waffenexporten ein, siehe
https://gn-stat.org/?p=3204.

Jürgen Grässlin ist Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!«, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Aktivist der Kritischen Aktionär*innen Daimler und Heckler & Koch sowie Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) mit dem »GLOBAL NET – STOP THE ARMS TRADE« (GN-STAT). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller.

3) KONTROLLE: Herausforderungen, Verantwortlichkeiten, Reformbedarf

Status Quo der Rüstungsexportkontrolle

Etablierte Mechanismen und ihre Optimierbarkeit

von Markus Bayer und Max Mutschler

Deutschland zählt zu den führenden Rüstungsexporteuren weltweit. Nach den jüngsten Erhebungen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) liegt Deutschland für den Zeitraum von 2018 bis 2022 mit einem Anteil von 4,2% auf Platz fünf der Liste der weltweit führenden Waffenexporteure, hinter den USA, Russland, Frankreich und China (Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). Die Genehmigung von Rüstungsexporten obliegt dabei allein der Bundesregierung. Im Jahr 2021 erteilte sie 11.197 Einzelausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter mit einem Rekordwert von 9,35 Mrd. € (der Durchschnittswert für die zehn Jahre 2012-2021 liegt bei 6,35 Mrd. €).6 Zu diesen addieren sich 2021 zusätzlich Sammelausfuhrgenehmigungen im Wert von über vier Milliarden Euro. Letztere sind Genehmigungen, die meist im Rahmen von Rüstungskooperationen mit anderen Ländern erteilt werden und bei denen die betreffenden Rüstungsgüter häufiger ein- und ausgeführt werden.

Abb. 21:Deutscher Anteil an Rüstungsexporten im internationalen Vergleich 2022

(Quelle: SIPRI 2023)

Regelwerke, Akteure und Verfahren

Das gegenwärtige System zur Rüstungsexportkontrolle in Deutschland basiert auf einer Reihe unterschiedlicher Regelwerke. Manche davon sind rechtsverbindlich, wie etwa das Kriegswaffenkontroll- oder auch das Außenwirtschaftsgesetz; andere hingegen entfalten nur eine politische Verbindlichkeit, wie etwa die »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport« (→ vgl. Kolling, Grässlin). Hinzu kommen internationale Regelwerke, wie der »Gemeinsame Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten« und der Internationale Waffenhandelsvertrag (→ vgl. Wisotzki). Diese Regularien geben verschiedene Kriterien für die deutsche Rüstungsexportkontrolle vor. So schreiben sowohl der Waffenhandelsvertrag als auch der Gemeinsame Standpunkt vor, dass bestehende Sanktionen beim Export von Waffen zu befolgen und die Beachtung der Menschenrechtssituation im Empfängerland sicherzustellen ist. Der Gemeinsame Standpunkt verpflichtet Deutschland zudem, dafür Sorge zu tragen, dass Rüstungsexporte Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region und Alliierte nicht gefährden und dass die Entwicklung des Empfängerlandes nicht negativ durch unangemessene Militärausgaben beeinflusst wird. Hierzu muss die Bundesregierung eine Risikoeinschätzung vornehmen. Sie muss etwa prüfen, ob ein »eindeutiges Risiko« besteht, dass das betreffende Rüstungsgut im Empfängerland zur internen Repression eingesetzt wird. Objektive Indikatoren für derartige Risikoabschätzungen sind nicht vorgegeben. Letztendlich obliegt es einzig und allein der Bundesregierung und der zuständigen Verwaltungsbürokratie, diese Kriterien im Hinblick auf konkrete Rüstungsgüter für das entsprechende Empfängerland zu prüfen und auf Grundlage dieser Prüfung über den Export oder die Lieferung von Rüstungsgütern zu entscheiden. Die Bundesregierung hat deshalb hier einen sehr großen Entscheidungsspielraum.

Je nach Typ des zum Export beantragten Gutes unterscheidet sich der Entscheidungs- bzw. Bewilligungsprozess: Handelt es sich bei den betreffenden Rüstungsgütern um Kriegswaffen, also zum Beispiel Panzer oder Maschinengewehre, und handelt es sich beim Empfängerland um ein Mitgliedsland der NATO bzw. der EU, entscheidet das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) überwiegend selbstständig und beantwortet auch ggf. gestellte Voranfragen. Handelt es sich um ein Empfängerland außerhalb der NATO bzw. der EU, ist das Auswärtige Amt (AA) für die Beantwortung von Voranfragen zuständig. Die Exportentscheidung fällt dann zumeist in Abstimmung zwischen AA, dem BMWK und dem Verteidigungsministerium (BMVg). Über besonders bedeutsame oder umstrittene Rüstungsexporte entscheidet der Bundessicherheitsrat (BSR) (→ siehe Infokasten, S. 8): ein geheim tagender Kabinettsausschuss unter Vorsitz des Bundeskanzlers mit Beteiligung der Ressorts Bundeskanzleramt, Auswärtiges, Verteidigung, Finanzen, Inneres, Justiz, Wirtschaft und Klimaschutz sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Bei sonstigen Rüstungsgütern, also etwa bei Panzermotoren oder Helmen, ist das dem BMWK unterstellte Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) die zuständige Genehmigungsbehörde. Auch hier können kritische Fälle an das federführende Ministerium – also das BMWK – oder den Bundessicherheitsrat zur Entscheidung weitergeleitet werden.

Abb. 22: Schematische Darstellung Rüstungsexportentscheidung

Zentrale Probleme: Mangelnde Kontrolle und Intransparenz

Wie aus der obenstehenden Beschreibung der Genehmigungsverfahren hervorgeht, ist die Bundesregierung bei Rüstungsexporten weder einer politischen Kontrolle durch das Parlament noch einer gerichtlichen Kontrolle ihrer Entscheidungen über Rüstungsexporte unterworfen. Immerhin unterrichtet die Bundesregierung seit 2015 den Bundestag über abschließende Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrats und informiert dabei in der Regel über Art und Anzahl der genehmigten Rüstungsgüter, das Empfängerland, die beteiligten deutschen Unternehmen und das Gesamtvolumen des Geschäfts. Da der Bundessicherheitsrat jedoch nur in Ausnahmefällen über die Rüstungsexporte entscheidet, erfahren sowohl die Parlamentarier*innen als auch die Öffentlichkeit über den allergrößten Teil der deutschen Rüstungsexporte lediglich, was aus den Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen sowie aus den halbjährlich vorgelegten Rüstungsexportberichten der Bundesregierung hervorgeht. Die Informationen, die dort zur Verfügung gestellt werden, sind weniger detailliert als die Informationen der Unterrichtung des Bundestages über Genehmigungen des Bundessicherheitsrats. Aufgelistet nach Empfängerland informiert die Bundesregierung dort in der Regel lediglich über das Empfängerland (nicht jedoch über den tatsächlichen Endempfänger, also z.B. Armee, Polizei, Geheimdienst etc.), die Anzahl der Genehmigungen, deren finanzielles Gesamtvolumen sowie darüber, wie sich dieses auf die unterschiedlichen Positionen der sogenannten Ausfuhrliste aufschlüsselt. Bei Drittländern (Länder, die weder EU noch Nato angehören, noch der Nato gleichgestellt sind) erfolgen zwar noch weitere Angaben zur Art der Rüstungsgüter, etwa dass es sich bei 35% des genehmigten Volumens um Teile für gepanzerte Fahrzeuge handelt. Wie viel Stück von welchem Rüstungsgut bzw. Hersteller für wen genau genehmigt wurden, kann man den Berichten und auch den meisten Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen jedoch nicht entnehmen.

Für zivilgesellschaftliche Akteure und auch für die Opposition ist es schwierig, auf dieser mageren Informationsgrundlage eine Bewertung der Einzelfallentscheidungen der Bundesregierung vorzunehmen. Denn sie kennen den Einzelfall in der Regel nicht. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung ihre Entscheidungen in diesem Politikfeld nur in ganz besonderen Fällen überhaupt öffentlich begründet. Meist nur dann, wenn es sich um die Lieferung von Waffen aus Bundeswehrbeständen an direkte Kriegsparteien handelt, so wie jüngst bei der Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine, oder zuvor im Jahr 2014 bei den Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga (→ vgl. Wisotzki). Bei den allermeisten kommerziellen Rüstungsexporten, die den Großteil der deutschen Rüstungsexporte ausmachen, werden Parlament und Öffentlichkeit weder über die betreffenden Rüstungsgüter noch über die Begründung der Bundesregierung für ihren Export informiert.

Angesichts dieser Intransparenz sowie des Mangels an politischer und richterlicher Kontrolle ist es wenig verwunderlich, dass die deutsche Rüstungsexportpolitik überwiegend von wirtschaftspolitischen Interessen geleitet wird (→ vgl. Wisotzki, Brzoska). Nach einer Analyse deutscher Exporte von konventionellen Großwaffensystemen zwischen 1992 und 2013 spielt dabei die Menschenrechtslage in den Empfängerländern nur eine untergeordnete Rolle. Statt klaren sicherheitspolitischen Interessen, sei die deutsche Rüstungsexportpolitik in diesen Jahren eher einer liberalen, marktorientierten Agenda gefolgt (Platte und Leuffen 2016). Eine Bestandsaufnahme der deutschen Rüstungsexportpolitik der letzten 30 Jahre kommt zu dem Schluss, dass Exporte in Drittländer, die eigentlich eine Ausnahme sein sollten, in manchen Jahren mit Genehmigungsquoten von rund 60% zur Regel geworden sind (Wisotzki 2020). Eine Tatsache, die auch in den jährlich erscheinenden Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) kritisiert wird. Zwar sind nicht alle Drittstaaten problematische Empfängerländer, viele hingegen schon. Nach Auswertung des Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte an 52 Staaten genehmigt, deren Menschenrechtssituation als sehr schlecht eingestuft wird. In 30 Empfängerländern gab es interne Gewaltkonflikte. Insgesamt hat die Bundesregierung 2021 Rüstungsexporte mit einem Gesamtwert von 4,6 Mrd. € an 19 Länder genehmigt, die mindestens hinsichtlich vier der acht Kriterien des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu Rüstungsexporten als problematisch eingestuft werden können (siehe Abb. 23, linke Seite).

Abb. 23: Deutsche Rüstungsexporte 2021 an problematische Empfängerländer

Verbesserungsmöglichkeiten

Wie oben dargelegt, ist die bisherige Berichterstattung über deutsche Rüstungsexporte immer noch zu intransparent. Um dem zu begegnen, sollte die Bundesregierung sich dazu verpflichten, für jede Ausfuhrgenehmigung, die sie erteilt, darzulegen, um welche Rüstungsgüter es geht (also nicht nur die Ausfuhrlistenposition, sondern die exakte Bezeichnung und Stückzahl) und wer der vorgesehene Endempfänger ist (also nicht nur das jeweilige Land, sondern z.B. auch ob Polizei, Armee, Geheimdienst oder andere Akteure Empfänger sind). Da dies angesichts der großen Anzahl der jährlichen Einzelausfuhrgenehmigungen das bisherige Berichtsformat überfordern würde, wäre hierzu eine Online-Datenbank sinnvoll. Aber die Bundesregierung sollte nicht nur transparenter über die Rüstungsgüter und Endempfänger berichten, sondern ihre Entscheidungen für (und eventuell auch gegen) Rüstungsexporte ausführlich begründen.

Im bisherigen System der Rüstungsexportkon-trolle in Deutschland liegt die Begründungspflicht bei den Kritiker*innen von Rüstungsexporten – egal ob sie aus der Zivilgesellschaft kommen, im Bundestag oder sogar in der Regierung sitzen. Sie sind es, die zeigen müssen, dass etwa bei einem Rüstungsexport an ein autoritäres Regime ein eindeutiges Risiko besteht, dass das betreffenden Rüstungsgut z.B. im Empfängerland zur internen Repression benutzt wird. Angesichts des Informationsmangels ist dies aber faktisch oft kaum leistbar. Zumindest beim Export von Rüstungsgütern an Drittländer sollte daher die »Beweislast« von den Kritiker*innen hin zu den Befürworter*innen des jeweiligen Rüstungsexports verschoben werden. In der Praxis ließe sich eine solche Beweislastumkehr etwa dergestalt umsetzen, dass die Bundesregierung bei einer Entscheidung für einen Rüstungsexport an ein Drittland – derartige Exporte sollen ja eine Ausnahme darstellen – gegenüber dem Bundestag in öffentlicher Sitzung begründet, warum sie der Ansicht ist, dass in diesem Fall alle Kriterien für eine positive Exportentscheidung erfüllt sind und weshalb der betreffende Export im außen- und sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands ist (vgl. GKKE 2022, S. 70ff.).

Abb. 24: Weltkarte von Staaten mit Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter

Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter 2021 und Darstellung privilegierter Gruppen (Stand November 2023)

Zusätzlich zu einer Erhöhung der Transparenz und der damit einhergehenden Verbesserung der politischen Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit bedarf es auch der Möglichkeit, das Regierungshandeln seitens der Zivilgesellschaft gerichtlich überprüfen zu lassen. Hierfür ist die Schaffung eines Verbandsklagerechts unerlässlich. Seit 2002 besteht in Deutschland die Möglichkeit für bestimmte gemeinwohlorientierte Verbände, bei Verletzungen von Rechten der Allgemeinheit eine Popularklage einzureichen. Etabliert wurde das sogenannte Verbandsklagerecht zuerst im Bereich des Naturschutzes, wo es im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) und dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) geregelt ist. Letzteres gibt anerkannten lokalen oder national tätigen Umweltverbänden, wie beispielsweise dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) e. V., aber auch ausländischen bzw. internationalen Verbände die Möglichkeit, einen sogenannten »Umwelt-Rechtsbehelf« einzulegen und damit zu erwirken, dass behördliche Entscheidungen richterlich auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden müssen. Dabei muss der betreffende Verband darlegen, dass die entsprechende Entscheidung gegen eine Rechtsvorschrift verstößt und überdies die in der Satzung des Verbandes bzw. Vereins dargelegten Tätigkeitsfelder tangiert. Zuständig für die Bearbeitung dieser Verfahren sind dann die Verwaltungsgerichte. Das Verbandsklagerecht ist inzwischen in Deutschland nicht nur im Bereich des Umweltschutzes, sondern auch in Bereichen anderer kollektiver Rechte, wie dem Datenschutz oder der Gleichstellung, fest verankert und nicht mehr wegzudenken. In keinem der genannten Bereiche hat es, wie von Kritiker*innen vielfach befürchtet, zu einer Überlastung der Justiz oder einer Handlungsunfähigkeit der Legislative geführt. Im Gegenteil, oft bildeten Verbandsklagen die einzige Möglichkeit, Chancengleichheit zwischen mächtigen Konzernen und Betroffenen herzustellen.

Ein Verbandsklagerecht im Bereich der Rüstungsexportkontrolle würde deutschen – in einer weiterreichenden Variante ggf. auch internationalen – anerkannten, gemeinwohlorientierten Verbänden wie Brot für die Welt und Misereor oder Amnesty International die Möglichkeit geben, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob Exportentscheidungen der Bundesregierung den festgelegten Kriterien widersprechen bzw. ob die Regierung die Kriterien in angemessener Weise geprüft und abgewogen hat. Dies bedeutet mitnichten ein Veto-Recht für zivilgesellschaftliche Akteure oder einen Eingriff in die Entscheidungshoheit von Bundesregierung und Bundessicherheitsrat, wie von den Kritiker*innen eines solchen Verbandsklagerechts behauptet wird. Es soll vielmehr die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden, indem eine Möglichkeit geschaffen wird, gerichtlich zu prüfen, ob und inwieweit sich die Regierung bei der Genehmigung von Rüstungsexporten an existierende Gesetze und Regelungen hält.

Umzusetzen sind diese und andere Verbesserungen der deutschen Rüstungsexportkontrolle am sinnvollsten in Form eines neuen Rüstungsexportkontrollgesetzes. Ein solches wird schon seit längerem von verschiedenen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen gefordert. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag für die Jahre 2021-2025 dazu verpflichtet, ein solches Rüstungsexportkontrollgesetz auszuarbeiten. Im Herbst 2023 liegt bislang jedoch nur ein Eckpunkte-Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium dafür vor (→ vgl. Brzoska).

Anmerkung

6) Alle in diesem Beitrag verwendeten Angaben zu den deutschen Rüstungsexporten stammen, sofern nicht anders angegeben, aus den Berichten
der Bundesregierung über ihre Rüstungsexportpolitik. Die vom Bundeswirtschaftsministerium erstellten Berichte sind zugänglich unter: https://
www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/ruestungsexportkontrolle.html.

Markus Bayer ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das Projekt »Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte«. Er ist zudem Mitglied der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Neben Fragen der Rüstungskontrolle interessieren ihn insbesondere friedliche Transformationsprozesse, fragen der politischen Agency, Versöhnung in postkolonialen Kontexten und Zivil-Militärische Beziehungen.

Max Mutschler ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) und leitet dort das DFG-Projekt »Verflüchtigt sich der Krieg? Die Folgen der Proliferation moderner Militärtechnologie für die Kriegführung autokratischer Staaten und nicht-staatlicher Gewaltakteure«. Er ist Co-Vorsitzender der Fachgruppe Rüstungsexporte der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Seine Forschungsinteressen liegen vor allem im Bereich Rüstung und Rüstungskontrolle. Neben der deutschen Rüstungsexportpolitik zählen dazu insbesondere die Folgen militärtechnologischer Entwicklungen auf die Kriegführung.

Möglichkeiten der Eindämmung von Waffenhandel

Strukturelle Faktoren und Spielräume eines neuen deutschen Rüstungsexportgesetzes

von Michael Brzoska

Der internationale Handel mit Rüstungsgütern wird von zwei Faktoren getrieben: der Nachfrage nach Waffen und dem Angebot von Waffen. Wie auch in anderen Märkten ist die Nachfrage nicht unabhängig vom Angebot. Anbieter betreiben aktives Marketing. Was ein Land kauft, weckt auch in Nachbarländern Bedürfnisse.

Eine Besonderheit des internationalen Waffenhandels ist die zentrale Bedeutung von Staaten, auf der Nachfrage- und insbesondere der Angebotsseite. Drei Dimensionen sind für das Verständnis von deren Handlungen besonders hervorzuheben.

Staat und Rüstungsindustrie sind eng verflochten

Nationale Rüstungsproduktion ist weit überwiegend Herstellung für die eigenen Streitkräfte, weniger als ein Viertel der globalen Rüstungsproduktion wird international gehandelt.7 Rüstungsproduzenten sind daher in der Regel wirtschaftlich stark von den Beschlüssen der Regierungen abhängig, die ihre größten Kunden sind. Gleichzeitig begründet das enge wirtschaftliche Verhältnis Staat ↔ nationale Rüstungsindustrie aber auch ein staatliches Interesse an Rüstungsexporten, zumindest insoweit Rüstungsexporte Vorteile für nationale Rüstungsbeschaffung bringen. Dies kann bestehen in Kostensenkungen durch größere Stückzahlen einzelner Waffensysteme, das Überleben nationaler Rüstungsfirmen, auch wenn keine nationalen Beschaffungsvorhaben bestehen, oder durch den Rüstungsexport als Teil gemeinsamer Waffenproduktion mit anderen Staaten.

Rahmensetzungen für Rüstungsexportkontrolle in Deutschland

Die zweite Dimension betrifft die staatliche Kon-trolle über Waffenproduktion und Rüstungshandel. Es liegt in unmittelbarem staatlichen Interesse, dass Gewaltmittel nicht für Zwecke genutzt werden können, die dieser Staat nicht billigt. In Deutschland regelt das Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) Herstellung, Transport („Verbringung“) und Besitz von Kriegswaffen, als Ausführungsgesetz zum Artikel 26 des Grundgesetzes. Jede nicht für die Bundeswehr vorgesehene Herstellung und Verbringung von Kriegswaffen, sowohl innerhalb Deutschlands als auch ins Ausland, muss von der Bundesregierung genehmigt werden (→ vgl. Kolling).

Der Kreis der Kriegswaffen ist relativ begrenzt. Nicht dazu gehören Schusswaffen, die auch für nicht-militärische Zwecke verwendet werden, wie Pistolen und Jagdgewehre, deren innerstaatliche Kontrolle durch das Waffengesetz (WaffenG) erfolgt. Auch ein Großteil der weiteren Güter, die für Kriegführung wichtig sind, fallen nicht unter das KWKG. Deren Export beschränkt das Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Es enthält Genehmigungspflichten für den Export von Rüstungsgütern und auch von Gütern mit doppelter Verwendungsmöglichkeit (»Dual use«).

Über nationale Vorschriften hinaus müssen die Genehmigungsbehörden auch internationales Recht beachten. So sind Waffenembargos, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) oder der Europäische Rat verhängt, für die deutschen Genehmigungsbehörden verbindlich. Das gilt auch für den Internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) dem Deutschland beigetreten ist (→ vgl. Bayer und Mutschler, sowie Wisotzki).

Keinen rechtsverbindlichen Charakter hingegen haben die erstmals 1967 formulierten und seitdem mehrfach geänderten »Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport«.8 Seit 2017 sind neben den allgemeinen auch eigene Grundsätze für den Export von Kleinwaffen formuliert und veröffentlicht worden (→ vgl. Grässlin). Die Grundsätze sind aber für Entscheidungen von Bundesregierung und nachgeordneten Behörden, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), von hoher Bedeutung. Denn in ihnen hat die Bundesregierung fixiert, wie sie in der Praxis mit Genehmigungsanträgen umgehen will. Sie stellen damit sowohl eine Art Richtlinie für diejenigen da, die in Bundesregierung und BAFA über die Masse der Anträge zu entscheiden haben, als auch, da sie zumindest seit den frühen 1970er Jahren auch öffentlich sind, eine Selbstbindung der Bundesregierung, da in der Öffentlichkeit Entscheidungen des Bundessicherheitsrat (BSR), der bei wichtigen oder kontroversen Fällen befasst wird, mit den Politischen Grundsätzen abgeglichen werden können (→ siehe Infokasten S. 8).

Ebenfalls von Bedeutung für die Exportpraxis ist der »Gemeinsame Standpunkt« der EU zum Rüstungsexport vom 8. Dezember 2008. Er enthält acht Kriterien, auf deren Beachtung sich die Mitgliedsstaaten der EU geeinigt haben. In Deutschland ist er bisher nicht unmittelbar rechtsverbindlich sondern nur Teil der Politischen Grundsätze, obwohl im Gemeinsamen Standpunkt die Aufforderung enthalten ist, ihn in nationales Recht umzusetzen.

Abb. 25:Regionale wirtschaftliche Bedeutung von Rüstungsexporten

Unterschiede in der regionalen wirtschaftlichen Bedeutung von Rüstungsexporten (Gesamtwerte Exportgenehmigungen Januar-August 2022); Quelle: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage (Drucksache 20/3354, 7.9.2022)

Rüstungsexportpolitik in der politischen Auseinandersetzung

Drittens eröffnet das enge Verhältnis Staat ↔ Rüstungsproduktion Regierungen die Möglichkeit, Waffenexporte als politisches Instrument zu nutzen (→ vgl. Wisotzki), aber für die demokratische Öffentlichkeit auch die Chance, Regierungshandeln im Sinne der eigenen politischen Vorstellungen zu beeinflussen (→ vgl. von Gall). Dabei stehen sich sowohl in Regierung wie Öffentlichkeit regelmäßig unterschiedliche Interessen gegenüber.
Rüstungsexporte sind nicht nur für Rüstungshersteller wirtschaftlich attraktiv, sie finanzieren auch Arbeitsplätze. Zudem lässt sich mit ihnen, zumindest in kleinem Maßstab, Wirtschaftspolitik betreiben. Insbesondere Abgeordnete aus Wahlkreisen mit vielen Rüstungsindustriebetrieben sind daran interessiert. Mit Rüstungsexporten lässt sich auch Außen- und Allianzpolitik betreiben. Allerdings ist gegenüber anderen Staaten oft eher die Versagung, als die Genehmigung von Rüstungsexporten ein außenpolitisches Problem, so wenn etwa Saudi Arabien die Verweigerung der Genehmigung der Lieferung von Panzern als Affront bezeichnet, oder wenn Frankreich und Großbritannien es als unfreundlichen Akt unter Verbündeten ansehen, wenn ihre Firmen Produkte aus gemeinsamen Rüstungsproduktionsvorhaben mit Deutschland, wie etwa den Eurofighter, auf Grund deutscher staatlicher Bedenken nicht überall hin exportieren dürfen, wohin es ihnen ihre eigenen Regierungen erlauben würden (→ vgl. Wisotzki).

In der Öffentlichkeit werden hingegen vor allem besonders heikle Exportgenehmigungen thematisiert, diskutiert und vor allem kritisiert. Wesentlicher Anlass für letzteres ist vor allem eine immer wieder deutlich werdende Diskrepanz zwischen allgemeiner politischer Rhetorik und Rüstungsexportpraxis.

Rüstungsexporte berühren für den politischen Diskurs zentrale Werte wie Frieden und Menschenrechte. In den politischen Grundsätzen wird dem seit Jahrzehnten Rechnung getragen, indem dort angekündigt wird, der Beachtung der Menschenrechte im Bestimmungs- und Endverbleibsland von Rüstungsgütern bei den Entscheidungen über Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern besonderes Gewicht beizumessen.

Ein besonderes Problem stellen Exporte im Rahmen von gemeinsamen Rüstungsvorhaben mit anderen Staaten, vor allem Frankreich und Großbritannien dar. Schon in den frühen 1990er Jahren wurden, lange nicht öffentlich verfügbare, Abkommen geschlossen, in denen die Bundesregierung weitgehend auf die Umsetzung der eigenen Grundsätze verzichtete. Sie verpflichtete sich, nur in Ausnahmefällen Weiterexporte von Waffensystemen mit deutschen Komponenten auch in problematische Staaten zu behindern. Diese Sonderbehandlung wurde mit dem Interesse an der Stärkung einer europäischen Rüstungsindustrie begründet.

Rüstungsexportpolitik in der Praxis

Den Ankündigungen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen seit den späten 1960er Jahren steht die Genehmigungspraxis gegenüber. Deutschland gehört seit den 1970er Jahren durchgängig zu den größten Rüstungsexporteuren weltweit. Immer wieder wurden Genehmigungen, insbesondere für Kriegsschiffe, damit begründet, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten wurden. Das BICC in Bonn prüft seit den frühen 2000er Jahren ob und inwieweit die Empfänger deutscher Rüstungsgüter sich an internationale Vereinbarungen zu Menschenrechten halten, und mussten regelmäßig Lieferungen an hochproblematische Länder verzeichnen.9 Besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden immer wieder einzelne, einer restriktiven Rüstungsexportpolitik widersprechende Genehmigungen.10

Die öffentliche Kritik an der Genehmigungspraxis führte durchaus zu Änderungen der Rüstungsexportpolitik. Besonders wirkungsvoll war sie im Bereich von Kleinwaffen (→ vgl. Grässlin). Auch in anderen Bereichen führte öffentliche Kritik zu Änderungen in der Genehmigungspraxis. So wurden ab 2019 keine Genehmigungen, einschließlich solcher für Gemeinschaftsvorhaben mit anderen Ländern, mehr nach Saudi-Arabien erteilt. Anlass war der Mord am Regimekritiker Jamal Khashoggi. Zudem intervenierte das Land militärisch im Jemen und hatte sich dabei schwerer Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht schuldig gemacht.

Verschärfungen der Kontrolle stehen Erleichterungen für Antragsteller für Exporte von Rüstungsgütern gegenüber. So war es bis in die 1990er Jahre Praxis, den Export von gepanzerten Fahrzeugen in Länder des Nahen Ostens nicht zu erlauben. Diese Beschränkung wurde im Zuge der deutschen Unterstützung der am Golfkrieg Beteiligten 1991 aufgegeben. Inzwischen hat eine Reihe arabischer Staaten gepanzerte Fahrzeuge aus Deutschland erhalten. Auch im Bereich der Exporte für Koproduktionen wurde das Kontrollniveau gesenkt (→ vgl. Wisotzki).

Diese Beispiele machen deutlich, dass Rüstungsexportpolitik Ausdruck des Gewichtes von Interessen ist. Für eine Lockerung der Rüstungsexportpolitik stehen vor allem die Rüstungsindustrie, aber auch lokale Wirtschaftsinteressen, Politiker*innen mit Interesse an der Stärkung der deutschen Rüstungsindustrie und solche mit starkem Interesse an der Nutzung von Rüstungsexporten für Bündnis- und Außenpolitik. Ihnen gegenüber stehen vor allem eine Reihe von Fachorganisationen aus der Zivilgesellschaft, die versuchen die Öffentlichkeit auf die Probleme und Widersprüche der Rüstungsexportpolitik aufmerksam zu machen (→ vgl. von Gall), sowie Politiker*innen, die an einer stärker werteorientierten Außenpolitik interessiert sind.

In dieser Konstellation ist Transparenz ein wichtiges Instrument für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten (→ vgl. Bayer und Mutschler). Um mehr Restriktivität zu erreichen, sind kritische Organisationen vor allem auf Druck aus der Öffentlichkeit angewiesen, die mehrheitlich für mehr Zurückhaltung bei Rüstungsexporten ist (Greenpeace 2020). Der Umfang der von der Bundesregierung veröffentlichten Daten ist zwar in den letzten Jahrzehnten gewachsen, aber weiterhin bleiben zentrale Informationen der Öffentlichkeit verschlossen, etwa welche Kriterien wie abgewogen, warum Exporte genehmigt wurden, oder, um die Formulierung aus den Politischen Grundsätzen aufzunehmen, welche sicherheitspolitischen Interessen für einen Export gesprochen haben.

Auf dem Weg zu einem Rüstungsexportkontrollgesetz

Weil die Genehmigungspolitik so stark von Interessen und damit verbundenem Lobbyismus beeinflusst wird, drängen viele zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren auf ein Rüstungsexportgesetz, in dem Zurückhaltung rechtlich verbindlicher gemacht wird, wobei die Erwartungen der Organisationen von einem generellen Verbot bis hin zu einer Festschreibung des aktuellen Status quo von Politischen Grundsätzen und EU-Standpunkt reichen.11

In den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Spätherbst 2021 einigten sich die Parteien darauf, in der folgenden Legislaturperiode ein neues nationales Rüstungsexportkontrollgesetz zu verabschieden. Ziel ist eine rechtlich verbindliche Erweiterung und Schärfung der Kriterien für Entscheidungen über den Export aller Rüstungsgüter, über die Bestimmungen in KWKG, AWG und Gemeinsamem Standpunkt der EU hinaus. Der Koalitionsvertrag enthält den Satz: „Nur im begründeten Einzelfall, der öffentlich nachvollziehbar dokumentiert werden muss, kann es Ausnahmen geben“. Neben stärkerer Restriktivität wird dort auch mehr Transparenz über Entscheidungen zu Rüstungsexporten ankündigt (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021).

Federführend für die Umsetzung dieser Ankündigungen ist das von Bündnis 90/Die Grünen geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), das im Frühjahr 2022 in Konsultationen mit Expert*innen die Erwartungen an ein neues Rüstungsexportgesetz einholte. Im Herbst 2022 legte der zuständige Staatssekretär Sven Giegold Eckpunkte für ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor. Daran schlossen sich Fachgespräche mit Vertreter*innen aus der Indus-trie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an.12 Die Eckpunkte bauen auf den geltenden Politischen Grundsätzen und den Kleinwaffengrundsätzen auf, enthalten aber weitergehende Konkretisierungen, insbesondere zur Beurteilung der Menschenrechtslage. Zudem wird angekündigt, Defizite in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als weiteres Kriterium in das Gesetz einführen zu wollen.

Während Vertreter*innen aus der Industrie die Eckpunkte grundsätzlich als überflüssig kritisierten, begrüßten die Vertreter*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft weitgehend die Grundlinien des Papiers. Allerdings gab es auch von dieser Seite Kritik und Enttäuschung über die fehlende Bereitschaft des BMWK, weiterreichende Schritte in Richtung Begrenzung der deutschen Rüstungsexporte zu gehen. Einige Teilnehmende forderten das generelle Verbot von Rüstungsexporten während andere auf Regelungslücken etwa bei der Kontrolle international agierender Rüstungsunternehmen sowie das Fehlen effektiver politischer und rechtlicher Kontrollmöglichkeiten des Regierungshandelns hinwiesen, was sich durch ein Klagerecht für fachlich ausgewiesene zivilgesellschaftliche Verbände bei problematischen Rüstungsexportentscheidungen beheben ließe. Auch wurde die in den Eckpunkten festgehaltene Privilegierung von Exporten aus Kooperationsvorhaben kritisiert.

Die in den Fachgesprächen angekündigte Überarbeitung der Eckpunkte wurde bis zum Herbst 2023 nicht öffentlich. Auch wurde öffentlich nicht bekannt, welche Gesichtspunkte andere Ministerien im Konsultationsprozess innerhalb der Bundesregierung einbrachten.

Der Werdegang eines Rüstungsexportgesetzes steht im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In der Öffentlichkeit wurde das anfängliche Zögern der Bundesregierung bei Waffenlieferungen an die Ukraine vielfach als Ausdruck der restriktiven deutschen Rüstungsexportpolitik angesehen – und die dann folgende schrittweise Ausweitung der Lieferungen als Ausweis einer generellen Aufweichung der Restriktivität. Tatsächlich aber wären nach den bestehenden rechtlichen Vorschriften als auch nach den Politischen Grundsätzen weitgehende Exporte von Rüstungsgütern an die Ukraine möglich gewesen, die Zurückhaltung der Bundesregierung hatte vorrangig andere Gründe. Das zeigt nicht zuletzt eine ähnliche Zurückhaltung auch anderer Staaten, wie den USA und Frankreich, mit deutlich offensiverer Rüstungsexportpolitik.

Abb. 26: Die neuen Allgemeingenehmigungen als Exportbeschleuniger

Trotzdem hat der russische Krieg in der Ukraine die Stimmungslage zum Rüstungsexport beeinflusst. Ein Ausdruck davon sind relevante Passagen in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Dort wird angekündigt, zwar bei einer restriktiven Grundlinie bleiben zu wollen, aber gleichzeitig „Bündnis- und Sicherheitsinteressen, die geo-strategische Lage und die Anforderungen einer verstärkten europäischen Rüstungskooperation“ berücksichtigen zu wollen (Bundesregierung 2023, S. 9). Zu einer Aufweichung der Restriktivität dürfte auch die im Juli 2023 veröffentlichte Ankündigung des BMWK, weitere Erleichterungen für Rüstungsexporte in Mitgliedsstaaten der EU und der NATO sowie ausgewählte weitere Staaten einzuführen. Über die bereits geltenden Verfahrensregelungen können nun auch für sonstige Rüstungsgüter außerhalb von Gemeinschaftsprojekten Allgemeingenehmigungen beantragt werden.

Rüstungsexportpolitik bleibt ein Feld der Auseinandersetzung widerstrebender Interessen. Es ist momentan offen, wie sich die Gewichtungen verschieben, wie stark etwa der Lobbyismus einer wachsenden Rüstungsindustrie ist. Denn rein nach wirtschaftlicher Logik wäre diese, aufgrund der durch das Sondervermögen für die Bundeswehr deutlich verbesserten Auftragslage, weniger auf Rüstungsexporte angewiesen, um gute Geschäfte zu machen. Ebenso offen ist, wie sehr in der öffentlichen Meinung die weitverbreitete Skepsis gegenüber Rüstungsexporten angesichts eines veränderten Diskurses über Militär und Rüstung für die Landes- und Bündnisverteidigung bestehen bleibt. Das dürfte auch dafür entscheidend sein, wie ein neues Rüstungsexportkontrollgesetz aussieht, ob es, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, mehr Transparenz und Restriktivität rechtlich verbindlich festschreibt oder das Vorhaben der Eindämmung des Exports von Rüstungsgütern aus Deutschland in problematische Staaten misslingt.

Anmerkungen

7) Eigene Schätzung auf der Grundlage von Angaben zu Militärausgaben und internationalem Waffenhandel in entsprechenden Datenbanken
des SIPRI.

8) Die Fassungen seit 1971 sind unter anderem zu finden unter: http://ruestungsexport-info.de/ruestung-recht/politische-grundsaetze.html und
https://www.waffenexporte.org/category/gesetze-normen/politische-grundsaetze/.

9) Die Prüfungen des BICC umfassen weitere Aspekte einer restriktiven Rüstungsexportpolitik. Kurzfassungen finden sich in den jährlichen Rüstungsexportberichten der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungspolitik (GKKE).

10) In den jährlichen Exportberichten der GKKE finden sich zahlreiche Beispiele, auch bei Wisotzki 2020.

11) Dies wurde in den zahlreichen Stellungnahmen deutlich, die in mehreren Anhörungen zu diesem Vorhaben abgegeben wurden,
siehe https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Service/Gesetzesvorhaben/erarbeitung-eines-rustungsexportkontrollgesetzes.htm.

12) Die Dokumente sind auf der Homepage des BMWK verfügbar. Weitergehende Informationen zu den Konsultationen des BMWK finden sich
unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Parlamentarische-Anfragen/2022/10/20-3368.pdf.

Michael Brzoska ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und Senior Research Associate beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und forscht zu ökonomischen Aspekten von Rüstung, Sicherheit, Krieg und Frieden.

Widerstehen – Kritisieren – Verändern

Wie Friedensaktivismus Rüstungsexportpolitik verändern kann

von Anna von Gall

Wenn man heute in Deutschland über die Friedensbewegung spricht, stößt man oft auf zwei gängige Vorurteile. Einerseits wird sie oft als naiv, idealistisch oder fernab der Realität abgestempelt. Andererseits weckt sie ein nostalgisches Gefühl: Man denkt an die Friedensbewegung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Europa entwickelte und Persönlichkeiten wie John Lennon oder Bob Dylan hervorbrachte, die mit ihrer Musik die Stimme eine ganze Generation prägten. Unter Aufrufen wie »Make Love Not War« oder »Schwerter zu Pflugscharen«, dem Slogan einer staatsunabhängigen Abrüstungsinitiative in der DDR, organisierten sich Menschen in unterschiedlichen Ländern für Frieden und gegen das konventionelle und atomare Wettrüsten des Kalten Krieges.

Doch eine aktuellere, modernere Friedensbewegung ist heute notwendiger denn je. Auch und gerade heute ist eine kritische Betrachtung der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung. Die deutsche Rüstungsexportpolitik verdeutlicht, wie effektiv eine aktive Friedensbewegung sein kann, und betont die Bedeutung des wachsamen Blicks der Zivilgesellschaft in Zeiten von Polykrisen und wachsenden Militärausgaben. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Schwerpunkte der deutschen Sicherheitspolitik in einer Weise verlagert, dass Sicherheit – in einem umfassenden Begriff definiert – dadurch nicht gesteigert, sondern geschwächt wird. Die Rüstungsausgaben steigen global, immer mehr Bereiche des Alltags werden versicherheitlicht (Energiewirtschaft u.a.), drängende friedenspolitische, entwicklungspolitische und menschenrechtliche Fragen geraten unter die Räder dieser Politik zunehmender globaler Konkurrenz.

Was können wir also dafür tun, um die Narrative der militärischen Sicherheit und den Rüstungsexportkomplex aufzubrechen, und warum braucht es dafür aktivistisches Engagement?

Aktionen und Widerstandsmöglichkeiten in Deutschland

Ein wichtiges Beispiel für aktuellen Aktivismus gegen die Narrative der militärischen Sicherheit ist das Engagement für eine restriktive Rüstungsexportkontrollpolitik. Deutsche Rüstungs- und Waffenexporte werden als legitimes Instrumentarium einer staatlichen Sicherheitspolitik verstanden, insbesondere zur Abschreckung, und als wichtiges Mittel zur Selbstverteidigung. Rüstungsexporten an staatliche Strukturen kann aber im Sinne eines umfassenden Sicherheitsverständnisses nicht per se eine stabilisierende Streitkräfteentwicklung sowie die Förderung von Stabilität und Sicherheit auf regionaler und globaler Ebene zugeschrieben werden. Rüstungsexporte in Länder, in denen eine konventionelle Aufrüstung zu einem militärischen Ungleichgewicht führt und sogar noch konfliktverschärfende Wirkung auf regionaler oder globaler Ebene hat (vgl. Bundesregierung 2016, S. 40, Bundesregierung 2017, S. 88), sind mit dem Konzept der menschlichen Sicherheit nicht zu vereinen. Das derzeitige Rüstungsexportregime besteht aus mehreren Regelwerken, die aber nicht verbindlich sind (→ vgl. Wisotzki; Bayer und Mutschler). Letztendlich obliegt es der Bundesregierung zu entscheiden, wann an welche Länder was geliefert wird. Aufgrund des intransparenten Entscheidungsprozesses ist nicht nachzuvollziehen, ob die Bundesregierung das in der Nationalen Sicherheitsstrategie zugrunde gelegte umfassende Sicherheitsverständnis hierfür heranziehen wird und wie diese Entscheidungen in der Vergangenheit getroffen wurden.

Der Widerstand gegen Exporte von deutschen Waffen ist in Deutschland seit den 2000er Jahren ein großer Teil des friedenspolitischen Engagements. Und das auch aus einem weiteren Grund: Deutschland gehört zu den fünf weltweit größten Waffenexporteuren der letzten zehn Jahre (→ vgl. Bayer und Mutschler; siehe auch Wezeman, Gadon und Wezeman 2023). 2011 wurde die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« ins Leben gerufen. In dieser Kampagne engagieren sich mittlerweile über einhundert Organisationen aus dem umwelt-, friedens- und entwicklungspolitischen Bereich sowie den Kirchen gegen die bisherige, weitgehend uneingeschränkte Exportpolitik mit deutschen Waffen.

Allem Protest zum Trotz boomen deutsche Waffenexporte. Die Ursache dafür sind die zahlreichen Lücken, Schlupflöcher und Ausnahmen in den gesetzlichen Regelungen für Rüstungsexporte. Zwar gibt es diverse weitere Gesetze und Selbstverpflichtungen, die den Rüstungsexport regeln sollten, doch sind sie derart unverbindlich, dass auch Lieferungen in Krisengebiete oder in Länder, in denen Menschenrechte wenig geachtet werden, möglich sind. So ist es nicht verwunderlich, dass sehr viele Kriege und Konflikte in der Welt auch mit deutschen Waffen geführt werden (→ vgl. Grässlin).

Eine Möglichkeit hiergegen vorzugehen ist die öffentlichkeitswirksame Sichtbarmachung dieser Exporte. Dafür steht das Mittel der Strafanzeige zur Verfügung. Erst kürzlich hat Greenpeace gemeinsam mit dem Anwalt Holger Rothbauer eine Strafanzeige eingereicht: Die Firma MAN Energy Solutions (MAN ES) soll Motoren und Technologie für ein Kriegsschiff an die brutale Militärjunta in Myanmar geliefert haben. Im Vordergrund der Vorwürfe stehen sogenannte Dual-Use-Güter: Produkte oder Technologien, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. Wenn der Kunde dieser Güter das Militär ist, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie militärisch verwendet werden – der Export solcher Güter ist genehmigungspflichtig. Bisher bestreitet die Firma MAN ES jedoch, dass es sich bei der Lieferung der Motoren um militärisches Material oder um Dual-Use-Güter handele.13

Auch der Konflikt um die Region Karabach kann nicht ganz ohne deutsche Rüstungsgüter gedacht werden. So konnte die aserbaidschanische Führung ihre Streitkräfte mit türkischen Drohnen des Typs Bayraktar TB2, israelischen Drohnen der Typen Harop, Orbiter und SkyStriker, Raketenartilleriesystemen aus der Türkei (TRG-300) und Belarus (Polonez), aber auch mit Daimler-Militär-LKW mit israelischen CARDOM-Mörsern ausstatten, wie Greenpeace aufdeckte.14 Der Umstand, dass solche Güter dennoch in Ländern wie Myanmar oder Aserbaidschan landen, zeigt, wie groß die Lücken in der deutschen Rüstungsexportkontrolle sind.

Bis zum brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine sprach sich die Mehrheit der deutschen Wähler*innen gegen einen Export deutscher Rüstungsgüter in militärische Krisenregionen aus. Doch auch damals folgte die Politik diesem Willen bestenfalls halbherzig. Ein besonders prägnantes Beispiel ist der Krieg im Jemen. Bereits 2016 hatte ein breites europäisches Bündnis den Exportstopp von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien gefordert (ENAAT 2016). Aber erst im Oktober 2018 wurde zumindest in Deutschland ein lückenhaftes Waffenexportembargo gegen Saudi-Arabien erlassen – Anlass war die öffentliche Empörung nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi durch das saudische Königshaus in der Botschaft in Istanbul.15 Gemeinschaftsprojekte, wie der Eurofighter oder auch Dual-Use-Güter, waren nicht Teil des Embargos (→ vgl. Wisotzki und Bayer und Mutschler). Andere Kriegsparteien konnten in Deutschland weiterhin problemlos ihre Waffen bestellen:

Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gab es zum Beispiel kein Embargo und so konnte von der Bundesregierung der Kauf deutscher Rüstungsgüter an die VAE (2020: 50,1 Mio. €) genehmigt werden. Im Verlauf des Krieges (seit Beginn 2015) wurden insgesamt über 8 Mrd. € an Rüstungsexporten an die saudisch geführte Kriegskoalition genehmigt.

Die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung zu Rüstungsexporten hielt währenddessen an. Eine Umfrage im Jahr 2021 zeigte, dass 70% aller Bundesbürger*innen der Ansicht waren, dass deutsche Waffen weder an kriegführende Staaten, Krisengebiete oder in Länder außerhalb der EU geliefert werden sollten.16 Als Reaktion darauf – und als eine weitere Protest- und Widerstandsmöglichkeit – hat Greenpeace einen Gesetzesentwurf17 vorgelegt, der Rüstungsexporte aus Deutschland in Drittländer vollständig verbieten soll und Technologietransfer, Unternehmensbeteiligungen und Lizenzvergaben von Rüstungsgütern an Drittländer ausschließt. Ausgenommen waren lediglich Staaten, die von einem Angriffskrieg betroffen sind. Rüstungsexporte würden dabei auf Exporte in solche Staaten reduziert werden, die nicht in völkerrechtswidrige Kriege involviert sind, die stabile Demokratien und Rechtsstaaten sind und die die Menschenrechte achten und wahren. Diese Staaten würden auf eine vom Bundestag verabschiedete Liste aufgenommen werden, die dann EU-Staaten sowie EU-gleichgestellte Staaten umfassen würde. Diese Liste würde Klarheit schaffen: Für alle Staaten, die sich aus Deutschland mit Rüstungsgütern und Kriegsmaterial beliefern lassen wollen, sowie für die Industrie, die zweifelsfrei wüsste, welche Staaten nicht belieferbar wären. Und für die aktuelle und kommende Bundesregierungen, die gar nicht erst der Versuchung ausgesetzt wären, kurzfristige Zweckmäßigkeit über langfristig denkende und verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen. Darüber hinaus fordert Greenpeace eine starke Berichtspflicht über die Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung. Dabei sollte die Bundesregierung insbesondere dokumentieren, wenn sie Exportgenehmigungen aufgrund von rassistischen, religiösen, kulturellen oder geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen versagt.

Interventionistischer Widerstand

Nicht zuletzt die Skrupellosigkeit der Konzernführung rund um Rheinmetall-Chef Armin Pappberger führte zur Gründung der Protestgruppen rund um die Aktivist*innen von »Rheinmetall Entwaffnen«. Von einem jährlichen Protestcamp neben dem Fabrikgelände im niedersächsischen Unterlüss bis zu Blockadeaktionen bei Werken in Kassel skandalisierte die antimilitaristische Gruppe in kreativen Protestformen das Treiben des deutschen Rüstungskonzerns. Im September 2019 protestierten ebenso Greenpeace Aktivist*innen an der Fassade der Zentrale des Rüstungskonzerns in Düsseldorf. Mit der Aktion richtete sich die Friedens- und Umweltschutzorganisation auch direkt an die Exportpraxis der Bundesregierung, die jedem Rüstungsexport zustimmen muss.

Auch der Tag der Aktionärs-Hauptversammlung der Rheinmetall AG hat sich in den letzten Jahren zunehmend zum Ort öffentlichen Protests mit neuer Dynamik entwickelt (siehe ORL 2022). Aktivist*innen der Kritischen Aktionär*innen stürmten in den Jahren immer wieder die Bühne der Aktionärsversammlung und konfrontierten die Verantwortlichen – was zur zwischenzeitlichen Unterbrechung der Veranstaltung führte – oder demonstrierten vor der Lobbyzentrale von Rheinmetall in Berlin (wie hier auf einer Aktion von Greenpeace-Aktivist*innen, siehe Greenpeace 2021).

Auch international nahmen gerade im Fall der Jemen-Kriegs-Koalition die Proteste zu. Greenpeace-Aktivist*innen blockierten im spanischen Balboa einen Frachter der illegal Waffen exportieren sollte (Greenpeace Espana 2018), während in anderen Häfen (Antwerpen, Genua, Marseille) gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen das Be- und Entladen von Frachtschiffen mit Rüstungsgütern verhinderten.

Gemeinsam mit anderen Akteur*innen konnte Greenpeace Deutschland mit »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« und »urgewald« während der Koalitionsverhandlungen der Ampelregierung im Jahr 2021 derart großen Druck aufbauen, dass diese in ihrem Koalitionsvertrag die Verabschiedung eines Rüstungsexportkon-trollgesetzes vereinbart hat (vgl. Winkler 2022). Neben zahlreichen Protesten vor den Orten der Koalitionsverhandlungen, hatten im Oktober 2021 43 Organisationen einen Appell für ein Rüstungsexportkontrollgesetz und für die Fortsetzung des Embargos gegen die Jemen-Koalition an SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterzeichnet.18

Auch Studien können helfen, entsprechenden Widerstand auszudrücken: So konnte gezeigt werden, dass es Rüstungsexporte in Drittländer weder zum Überleben der Rüstungsindustrie noch für eine nachhaltige Sicherheitspolitik braucht (vgl. Zschoche 2021). Damit konnten die gängigsten Argumente der Rüstungslobby für Exporte in Drittländer entkräftet werden – und nebenbei einer faktenorientierten Debatte geholfen werden.

Nicht zuletzt auf internationaler Ebene konnte zivilgesellschaftlicher Druck Erfolge verzeichnen: So gelang es »controlarms«, einer Initiative von über 300 Nichtregierungsorganisationen, auf die Verabschiedung des »Arms Trade Treaty« (ATT) hinzuwirken – den ersten internationalen Vertrag über den internationalen Waffenhandel. Mit der »One Million Faces«-Kampagne übergaben sie 2006 eine Petition an den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, für die sich über eine Millionen Menschen aus 160 Ländern hatten fotografieren lassen. Auch hier wurde ein weiterer Meilenstein erreicht: Geschlechtsspezifische Gewalt wird im Vertragswerk zum ersten Mal als Ausschlussgrund für Waffenexporte festgeschrieben. Der ATT trat 2013 in Kraft und wurde bisher von 113 Staaten ratifiziert.

Ausblick: Wohin mit dem Protest

Derzeit gibt es global eine Vielzahl von Auseinandersetzungen und Konflikten, die auf den ersten Blick ausschließlich militärisch zu lösen sind. Die Annahme, dass sie eine weitere Aufrüstung erfordern, ist folglich nicht überraschend. Doch wird dabei oftmals vergessen, dass sich die Welt in einer Epoche von Polykrisen befindet und nachhaltiger Frieden notwendiger ist denn je. Der fehlende Zugang zu essentiellen Infrastrukturen und Versorgungssystemen, wie Trinkwasser- und Energieversorgung, zu Bildung und einem Gesundheitssystem oder einem funktionierenden Rechtsstaat, hat massive Auswirkungen auf die Menschen. Ein derartig mangelhafter Zugang nimmt ihnen jegliches Gefühl von Sicherheit und Vertrauen und erodiert somit die Basis für einen nachhaltigen Frieden.

Die nachhaltige Friedensbewegung von heute umfasst Menschen, die mit allen Mitteln ihre Demokratie, diesen Planeten und Menschenrechte verteidigen. Sie verstehen, dass wir diese Welt nicht primär mit Waffen sicherer machen können. Das zivilgesellschaftliche Engagement für eine effektive Rüstungsexportkontrolle – durch Gesetzesinitiativen, Lobbyismus, durch die Schaffung von Kontrollverträgen, Skandalisierung und durch Strafanzeigen – hat gezeigt, wie viel mit Aktivismus erreicht werden kann. Nur mit vereinten Kräften und gemeinsamem Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit können wir den vielen Krisen gleichzeitig trotzen. Dafür bedarf es auch weiterhin der Proteste und des Widerstands gegen Waffenexporte und der dauerhaften kritischen Begleitung der Versuche, Exportkontrollmaßnahmen zu verwässern und gleichzeitig immer weiterer Bereiche unseres Lebens zu versicherheitlichen.

Anmerkungen

13) Mehr zum Fall findet sich auf der Homepage von Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/frieden/deutsche-firma-liefert-technik-
kriegsschiff-myanmar.

14) Mehr zu diesem Fall bei Greenpeace Deutschland: https://www.greenpeace.de/ueber-uns/leitbild/exporte-embargo.

15) Dies bildet auch den Willen der deutschen Bevölkerung ab. So gaben 2019 in einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Greenpeace 81%
der Bundesbürger*innen an, gegen Waffenexporte von Deutschland an alle am Jemen-Krieg beteiligten Länder zu sein. Auch 74% der Unionswähler*
innen sowie 82% der SPD-Wähler*innen unter den Befragten waren dagegen.

16) Zu dieser Umfrage siehe: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

17) Dieser Gesetzentwurf findet sich hier: https://www.greenpeace.de/frieden/regeln-ruestungsexporte.

18) Der offene Brief ist unter anderem dokumentiert bei der Aktion gegen den Hunger, https://www.aktiongegendenhunger.de/presse/40-organisationen-fordern-ruestungsexportstopp-jemen-kriegsparteien.

Anna von Gall ist Campaignerin bei Greenpeace Deutschland und leitet das europäische Projekt »Climate for Peace«. Sie ist Volljuristin und hat über zehn Jahre an (juristischen) Strategien gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen und an der Überwindung tief verwurzelter Geschlechterungleichheiten gearbeitet. Seit September 2019 arbeitet Anna bei Greenpeace zu den Themen Frieden und Waffenexporte, feministische Außenpolitik und menschliche Sicherheit.

Literatur

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Das Problem mit der KI. Oder: Warum Rüstung mitunter schwer greifbar ist | Seite 11

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Mehr Abrüstung wagen!

Mehr Abrüstung wagen!

von Sabina Galic

Die neue Bundesregierung hat sich für die nächsten Jahre viel vorgenommen. Im Koalitionsvertrag finden sich unter dem selbsterklärten Ziel »mehr Fortschritt wagen«, notwendige Impulse u.a. zum Klimaschutz, einer feministischen Außenpolitik und allem voran Ziele zur Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen.

Die Ankündigung der Bundesregierung, an der ersten Staatenkonferenz zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Wien als Beobachterin teilzunehmen, ist gewiss ein wichtiger Schritt für zukünftige Abrüstungsbemühungen. Der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen ist im Januar 2021 in Kraft getreten und 59 Staaten sind bereits beigetreten, 86 haben unterzeichnet.

Deutschland wird nach Norwegen der zweite NATO-Staat und das erste Land sein, in dem Atomwaffen stationiert sind, das die Staatenkonferenz beobachtet. Zudem haben die NATO-Partnerstaaten Finnland, Schweiz und Schweden ebenfalls ihren Beobachtungsstatus bei der Konferenz angekündigt. Der Widerstand gegen den AVV sinkt innerhalb der NATO bereits spürbar.

Dies ist auch ein Erfolg für den UN-Atomwaffenverbotsvertrag sowie für die Staaten, die sich bereits entschlossen für Abrüstung einsetzen. Auf der Konferenz wird es nun konkreter um die Umsetzung des Vertrages gehen. Außerdem werden Vertragsstaaten über nationale Maßnahmen beraten, sowie Schritte bezüglich der Anerkennung von Opfern der Atomwaffentests und -einsätze, Umwelthilfe und der internationalen Kooperation beschließen. Insgesamt bietet der AVV somit einen völkerrechtlichen Rahmen für eine vollständige nukleare Abrüstung. Deutschland hat mit seinem Beobachtungsstatus die Chance, das Verfahren zu verfolgen, Stellungnahmen abzugeben und somit auch Unterstützung für den Vertrag zu signalisieren.

Nichtsdestotrotz scheint die neue Bundesregierung hinsichtlich ihrer Abrüstungsbemühungen in ihrem eigenen Widerspruch gefangen zu sein. Laut Koalitionsvertrag will sie sich zwar einerseits für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, andererseits weiterhin an der nuklearen Abschreckung sowie an der nuklearen Teilhabe festhalten. Obwohl der Beobachtungsstatus bei der Staatenkonferenz eine willkommene Annäherung an das Verbot von Atomwaffen signalisiert, verkündete Verteidigungsministerin Lambrecht gleichzeitig die Beschaffung eines Nachfolgesystems für atomwaffenfähige Tornadoflugzeuge.

Des Weiteren bekennt sich die neue Bundesregierung insbesondere zu einer Aufrechterhaltung eines »glaubwürdigen Abschreckungspotentials«. Die Stationierung von neuen US-Atomwaffen in Büchel ist dafür bereits vorgesehen. Jedoch sind diese laut Expert*innenmeinung militärisch kaum nutzbar und daher auch nicht glaubwürdig. Zudem erfordert die Modernisierung und Instandhaltung dieser Waffensysteme Milliarden­investitionen, jedoch bieten sie gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts wie etwa Cyberangriffe, Klimakrise und Pandemien überhaupt keine Sicherheit. Diese nukleare Aufrüstung passt auch nicht mit Deutschlands Ziel zusammen, eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Bei der UN-Vollversammlung stimmte Deutschland 2021 zudem erneut gegen den UN-Atomwaffenverbotsvertrag. Ein weiterer (Fort-)Schritt der Bundesregierung sollte somit auch darin liegen, bei dieser jährlichen Abstimmung in Zukunft eine andere Position einzunehmen, da der Atomwaffenverbotsvertrag momentan die einzige echte Abrüstungsinitiative darstellt.

In Anbetracht der Tatsache, dass internationale Rüstungskontrollverträge bereits gekündigt wurden und weitere Gespräche über die Abrüstung von Atomwaffen durch die Spannungen zwischen Russland und der NATO ohnehin immer schwieriger werden, sollte auch keine zusätzliche nukleare Aufrüstung erfolgen, die die Konflikte nur weiter befeuern.

Die Bundesregierung sollte vielmehr Deutschlands Rolle in der nuklearen Teilhabe der NATO dringend überdenken, denn der sogenannte nukleare Schutzschirm bietet keinen Schutz. Der Atomwaffenverbotsvertrag bietet hingegen einen Weg zur Abschaffung aller Atomwaffen – und nur dadurch können wir uns selbst und die Welt vor einem Atomkrieg schützen. Deswegen sollte die Bundesregierung dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, die Beschaffung neuer Atomwaffen-Trägerflugzeuge stoppen und sich für den Abzug aller US-Atombomben aus Deutschland einsetzen.

Die neue Bundesregierung lässt im Koalitionsvertrag insgesamt Spielraum für einen Paradigmenwechsel in der künftigen Außen- und Sicherheitspolitik, auch wenn einige Stellen sich bisher widersprechen oder vage bleiben. Die Frage ist nur: Wie viel Fortschritt wird sie darin wagen?

Sabina Galic ist Vorstandsmitglied bei ICAN Deutschland und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdientsgegnerInnen

Neues atomares Wettrüsten?


Neues atomares Wettrüsten?

Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung am Scheideweg

von Götz Neuneck

In einer Zeit, in der die Covid-19-Pandemie das alles beherrschende Thema ist, scheinen Fragen von kooperativer Sicherheit, Frieden und Abrüstung sowie ihre völkerrechtliche Verankerung in den Hintergrund gerückt zu sein. Dabei benötigen existenzielle Risiken wie Pandemien oder die Klimaproblematik zusätzliche Ressourcen und Finanzen, um neue Gefahren für die menschliche Sicherheit abzuwenden. Stattdessen droht das Völkerrecht durch Blockrivalitäten, neue Rüstungskonkurrenz und Vertragskündigungen weiter zerrieben zu werden.

UN-Generalsekretär Guterres hat angesichts der Pandemie vergeblich zu einer weltweiten Waffenruhe aufgerufen, obwohl es offensichtlich geworden sein sollte, dass die alten, militärischen Instrumente nichts zur Lösung der aktuellen Herausforderungen beitragen. Vielmehr braucht es mehr Engagement für humanitäre Sicherheit (vgl. Brzoska et al. 2021). Stattdessen wachsen die Militärhaushalte, neue Waffensysteme werden angekündigt und getestet, und ein neuer Rüstungswettbewerb zeichnet sich ab (vgl. Wulf 2021). Begrenzende Rüstungskontrollverträge wie der INF-Vertrag oder das Open-Skies Abkommen wurden fahrlässig gekündigt.

Das zeigt die Grenzen der klassischen Rüstungskontrolle auf, die am Ende des Kalten Krieges so erfolgreich hohe Waffenstände verringert, eine Verifikationskultur geschaffen und konkret zur Risikoreduzierung beigetragen hatte. Mit dem Inkrafttreten des Atomverbotsvertrages und der Verlängerung des New-START-Vertrages in letzter Minute sind dennoch Hoffnungen auf weitere nukleare Abrüstungsschritte verbunden. Wie sind diese Entwicklungen zu deuten und welche Schritte zur Reaktivierung von Rüstungskontrolle und Abrüstung gibt es?

Unverzichtbares Instrument für Ordnungspolitik?

Die Internationalen Beziehungen sind volatiler, unvorhersehbarer und komplexer als in den letzten 30 Jahren. Die Bindekraft von völkerrechtlichen Normen und Institutionen erodiert sichtbar. Der ökonomische und technologische Wettbewerb zwischen den USA und China verschärft sich und ist längst auch auf den militärischen und technologischen Sektor übergesprungen. Die Konkurrenz um Position und Einfluss in der künftigen Weltordnung zwischen den USA, China und Russland hat begonnen. Domänen wie die Arktis, die Cybersphäre oder der Weltraum werden hiervon nicht ausgenommen. Sanktionen, hybride Kriegsführung und Cyber­operationen sind zu neuen Instrumenten der Außenpolitik geworden. Die USA geben dreimal so viel Geld für ihr Militär aus wie ihre Rivalen China und Russland, bleiben militärische Weltmacht und konzentrieren sich zuallererst auf den ökonomischen und technologischen Wettbewerb mit China, das sein Militärbudget in der letzten Dekade verdoppelt hat und insbesondere regional militärisch aktiv wird. Es setzt aber auch mit seiner »Belt and Road Initiative« global Akzente bis hin nach Afrika.

Russland möchte mit seiner nuklearen Erneuerung insbesondere militärisch punkten und ist auch im Mittleren Osten (z.B. Syrien) oder im ­Kaukasus militärisch tätig. Die NATO, das stärkste Militärbündnis der Welt, verkündet stolz, dass ihre Militärausgaben das sechste Jahr in Folge wachsen, und die Europäische Union strebt nach »strategischer Autonomie«. Sie wird immer stärker in den Wettbewerb zwischen China und den USA hineingezogen (Lodgaard 2020). Staaten wie die Türkei und Saudi-Arabien sind in lokale Kriege verwickelt. Mit der Abwahl von US-Präsident Trump ist zwar die Hoffnung verbunden, dass die neue Biden-Administration Völkerrecht und den »liberalen Multilateralismus« wieder stärkt sowie Rüstungskontrolle (New-START), Abrüstung und Nichtverbreitung (Nichtverbreitungsvertrag NVV, Iran-Abkommen JCPoA) aktiv wiederbelebt, aber dafür sind enorme Anstrengungen nötig. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob dies gelingt und ob Rüstungskontrolle ein „unverzichtbares Instrument internationaler Ordnungspolitik“ (Müller und Schörnig 2006, S. 15) bleibt.

Hybris auf vielen Ebenen?

Die problemlose Verlängerung des New-START-Vertrages nach dem Amtswechsel in Washington schenkt den beiden führenden Atommächten etwas Zeit, einen Nachfolgevertrag zur Reduzierung der strategischen Nukleararsenale auszuhandeln. Die Rückkehr der USA an den Verhandlungstisch und die Wiederbelebung des Iran-Abkommens wären wichtige Signale für die Gültigkeit des globalen Nichtverbreitungsregimes und damit für die nächste 10. NVV-Überprüfungskonferenz. Mit dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) am 22. Januar 2021 sind große Hoffnungen auf eine weitere Delegitimierung der Nuklearwaffen verbunden. Doch die Ankündigung Großbritanniens vom 16. März 2021, im Rahmen seiner außenpolitischen Neuorientierung »Global Britain« die Obergrenze seines Nuklearpotentials um 44 % zu erhöhen und seine Nukleardoktrin zu revidieren, verkompliziert die Abrüstungsdebatte, entfernt sich damit doch ein Nuklearwaffenstaat sichtbar von dem im Nichtverbreitungsregime akzeptierten Ziel, die nuklearwaffenfreie Welt anzustreben (vgl. Deep Cuts Commission 2021). Oft wird vergessen, dass der »International Court of Justice« 1996 in einem Gutachten bereits festgestellt hat, dass die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen im Allgemeinen gegen das Völkerrecht verstößt (ICJ Advisory Opinion 1996).1

Die Krise der Rüstungskontrolle wurde im Wesentlichen durch Lethargie, Unkenntnis und die geschichtliche Kurzsichtigkeit von Führungseliten ausgelöst (vgl. Arbatov 2020). Ihr „ordnungspolitischer Wert ist nicht mehr anerkannt bzw. geschätzt“ (Staack 2019, S. 167) und so werden zentrale Institutionen und Regelungen der Rüstungskontrolle sich selbst überlassen oder erodieren. Die dafür vorgebrachten Argumente sind: Zunahme der Akteure, Vertragsverletzungen der Gegenseite und die regionale Komplexität der Bedrohungslagen. Auch besteht die Tendenz dazu, die wahrgenommene Bedrohung technologisch zu lösen. Ein Offensiv-Defensiv-Wettrüsten ist die Folge. Übersehen wird, dass nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung eine Überlebensfrage der Menschheit sind. Prominente Stimmen aus der Politik verweisen darauf, dass die nuklearen Kriegsgefahren größer sind als während des Kalten Krieges, mit potentiell drastischen Folgen. Würde nur ein Prozent des militärischen Nukleararsenals in Städten zum Einsatz kommen, hätte dies neben den unmittelbaren katastrophalen regionalen Konsequenzen auch unabsehbare globale Folgen für Ernährung und Umwelt (vgl. Toon et al. 2017).

Es ist also an der Zeit, Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime zu stärken, denn die Geschichte der Rüstungskontrolle zeigt, welche großen Abrüstungserfolge möglich sind. Dazu braucht es jedoch weniger einseitige Rüstung und Hybris der verantwortlichen Politik allerorts, sondern energisches, kooperatives Handeln, bei dem sich auch das Rüstungsverhalten des Gegners ändert. Erfolgreiche Rüstungskontrolle trägt unmittelbar zur Kriegsverhütung, Eskalationskontrolle und Konfliktlösung bei. Sie schafft Berechenbarkeit, verändert politische Beziehungen und ermöglicht weitere Abrüstung. Dies verlangt hohe politische Aufmerksamkeit, Reziprozität beim Gegenüber, ein Minimalverständnis für den Verhandlungspartner und ressortübergreifende Expertise (Neuneck 2019).

Neue Hoffnungen, neue Verhandlungen?

Mit dem Antritt der Biden-Administration ist neue Hoffnung auf die Rückkehr effektiver Rüstungskontrolle verbunden. Die Verlängerung des New-START-Vertrages ermöglicht den Beginn eines kontinuierlichen Dialogs zur strategischen Stabilität zwischen den beiden Supermächten USA und Russland. Dies findet vor dem Hintergrund fortgesetzter Sanktionen gegen Russland und einem an Rüstungskontrolle kaum interessierten US-Kongress statt. Dennoch sind Verhandlungen für ein Nachfolgeregime New-START II notwendig, denn es müssen geerbte Probleme des New-START Regimes aber auch diverse neue und komplexe Probleme gelöst werden. Diese reichen von der weiterhin von Russland kritisierten strategischen Raketenabwehr über neue Trägersysteme, wie Hyperschallflugkörper, nuklearbestückte Marschflugkörper oder Unterwassertorpedos, bis hin zu Fragen neuer disruptiver Zukunftstechnologien aus den Bereichen Cybersphäre, Weltraum und Künstlicher Intelligenz, die eine strategische Wirkung entfalten könnten. Die Bedrohung durch Präzisionsangriffe mittels konventionell bestückter Trägersysteme (»Prompt Global Strike«) für einen Erstschlag stellen eine weitere zu regelnde Problematik dar.

Diese Faktoren werden nicht auf einmal gelöst werden können; deshalb ist ein kontinuierlicher Dialog zwischen den USA und Russland nötig, an dem aber auch die anderen Nuklearmächte beteiligt werden sollten, um ein möglichst umfassendes Kontrollregime zu schaffen. Dies betrifft vor allem China. Der ständig wiederholte Ruf in den USA, auch das Arsenal Chinas einzubeziehen, ist insofern berechtigt, als die Zahl der Atomsprengköpfe und das geplante Maximum des chinesischen Arsenals nicht bekannt sind und z.B. der Aufbau von ballistischen Mittelstreckensystemen im Indo-Pazifik drastisch zunimmt.2 Unbedachte Forderungen nach trilateraler Rüstungskontrolle verkennen aber die ungelösten Probleme multilateraler Abschreckung, z.B. wie strategische Stabilität zwischen drei Partnern überhaupt funktionieren kann.

Vorschläge für künftige Regelungen

Eine deklaratorische »No-First-Use«-Regel aller Nuklearmächte wäre ein wichtiger Schritt hin zur Begrenzung vorhandener Arsenale, die heute eher eine deutliche Kehrtwende in Richtung nuklearer Kriegsführung zeigen. Eine solche Erklärung der amerikanischen und russischen Präsidenten, beide Staaten würden Nuklearwaffen nicht im Erstschlag einsetzen, hätte erhebliche Konsequenzen für die Zahl, die Einsatzprofile und Doktrinen beider Kontrahenten (Pifer 2020). Ein Beispiel ist die gegenteilige Entwicklung in Richtung Kriegsführungsoptionen, z.B. von neuen nuklear bestückbaren Marschflugkörpern und zielgenauen ballistischen Raketen mit kleiner Sprengladung (low-yield ­nuclear weapons). Biden hat als US-Vizepräsident 2017 eine »No-First-Use«-Erklärung ins Spiel gebracht und Präsident Putin hat 2020 erklärt, dass Russland Nuklearwaffen nur bei einem Nuklearwaffeneinsatz gegen Russland einsetzen werde. Die Kündigung des INF-Vertrages kann zu einem Wettrüsten von neuen Mittelstreckensystemen gerade in und um Europa aber auch in Asien führen. Solch ein Stationierungswettlauf wie in den 1980er Jahren sollte unter allen Umständen verhindert werden, denn er würde seinerseits die Debatte um die Raketenabwehr neu entfachen.

Ein erster vertrauensbildender Schritt hin zu einer solchen Regelung wäre zunächst ein Moratorium für die Stationierung von neuen nuklearbestückten Trägersystemen in Europa zwischen der NATO und Russland. Mögliche Maßnahmen zur Deklaration von INF-relevanten Systemen und die Überprüfung und Verifikation der Einhaltung von deren Nichtstationierung könnten zwischen Russland und der NATO diskutiert und implementiert werden. Eine Studiengruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) hat jüngst vertrauensbildende Maßnahmen wie Besuche oder Inspektionen von umstrittenen Militärbasen vorgeschlagen, um die gegenseitigen Vorwürfe bezüglich der Stationierung von INF-Systemen zu klären (VDW 2020). Die konventionelle und die humanitäre Rüstungskontrolle sind mit den Themenbereichen nuklearer Rüstungskontrolle verbunden und bedürfen dringend der Erneuerung. Vorschläge dazu liegen vor (Zellner et al. 2020, Richter 2019). Sowohl die Wiener Dokumente im Rahmen der OSZE als auch die NATO-Russland Grundlagenakte bieten ein Potential dazu, werden aber weitgehend links liegengelassen.

Ein möglicher Ansatz für künftige nukleare Rüstungskontrolle wäre die stärkere Hinwendung zur Verifikation des Abzuges, der Lagerung und der Zerlegung vertragskonform abzurüstender Nuklearsprengköpfe auch im Rahmen eines völkerrechtsverbindlichen Regimes. Für eine solche nukleare Rüstungskontrollverifikation wären auch neue Initiativen der NATO erforderlich. Die Initiative der »International Partnership for Nuclear Disarmament Verification« (IPNDV) hat dazu eine erste Grundlage geschaffen, die ausgebaut und durch weitere wissenschaftliche Expertise ergänzt werden kann. In Bezug auf die Verifikation einer atomwaffenfreien Welt gibt es hier auch eine Überschneidung mit dem jüngst in Kraft getretenen AVV. Auch die Europäische Union könnte hier initiativ werden.

Der AVV ist eine ernste Erinnerung einer großen Zahl von Staaten, der im NVV-Vertrag vor über 50 Jahren festgeschriebenen Abrüstungsverpflichtung der Präambel und des Artikel 6 gerecht zu werden. Völkerrechtlich ist der Vertrag von großer Bedeutung, und er stärkt das Tabu eines Einsatzes von Nuklearwaffen. Die Bundesregierung sollte ihre ablehnende Haltung gegenüber dem AVV aufgeben und auf die Befürworter*innen des AVV zugehen. Sie könnte beispielsweise am Treffen der Vertragsstaaten im kommenden Jahr als Beobachterstaat teilnehmen oder einen Workshop zur Verifikation der Denuklearisierung abhalten.

In Deutschland stehen Wahlen an, und dies bietet Gelegenheit die Positionierungen der Parteien in Bezug auf Frieden, Völkerrecht und Rüstungskontrolle zu studieren, erkennbare Sackgassen zu hinterfragen und begehbare Pfade für die Umsetzung aufzuzeigen. An positiven Formulierungen in den Entwürfen der Wahlprogramme fehlt es nicht: Die Grünen sprechen sich für einen neuen Schub für Abrüstung und die Stärkung des Völkerrechts aus, die Sozialdemokraten wollen sich für Diplomatie und Dialog, zivile Krisenprävention und Friedensförderung einsetzen, die Liberalen sprechen sich für neue Impulse zur Erneuerung von Rüstungskontrolle und Abrüstung aus und die Linke fordert ein neues Friedenssicherungssystem. Interessant wird die Debatte, wenn nachgefragt wird, wie die Stärkung des Völkerrechts und eine atomwaffenfreie Welt konkret erreicht werden sollen. Die Problematik der nuklearen Bedrohung und der Gefahr durch konventionelle Kriege ist jedenfalls für Deutschland und Europa von zentraler und existenzieller Bedeutung.

Anmerkungen

1) Leider konnte der Weltgerichtshof nicht abschließend feststellen, ob der Einsatz von Atomwaffen im Falle eines „extremen Umstandes der Selbstverteidigung, bei dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht“, rechtmäßig oder unrechtmäßig wäre.

2) Ein Vorschlag der USA für diese Region lässt allerdings auf sich warten. Bezüglich China wäre ein eigenständiger, gut strukturierter strategischer Dialog mit den USA über mehr Transparenz und Risikoreduzierung im Indo-Pazifik ein Schritt vorwärts. Dabei könnten auch Regeln für nuklear-bestückbare ballistische Träger mittlerer Reichweite (Intermediate-Range Nuclear Forces, INF) für die Region vorgeschlagen werden.

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Zellner, W.; Pifer, S.; Oliker, O. (2020): A little of the old, a little of the new: A fresh approach to conventional arms control (CAC) in Europe, Deep Cuts Issue Brief #11, 2020.

Prof. Dr. Götz Neuneck war bis 2019 stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und ist deutscher Pugwash-Beauftragter der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.

Die iranische Atomvereinbarung


Die iranische Atomvereinbarung

Erfolg und Misserfolg europäischer Außenpolitik

von Azadeh Zamirirad

Die Atomvereinbarung ist eine der größten Errungenschaften europäischer Außenpolitik. Doch das europäische Prestigeprojekt verfiel in einen Krisenmodus, als sich die US-Regierung unter Donald Trump 2018 einseitig von ihren Verpflichtungen zurückzog und fortan eine Politik des »maximalen Drucks« gegenüber Iran verfolgte. Es kann als bemerkenswerter Erfolg der Europäer gelten, dass sie es trotz des US-amerikanischen Sanktionsdrucks geschafft haben, ein unmittelbares Scheitern der Vereinbarung zu verhindern. Zugleich zeigte sich jedoch, dass die EU nicht die notwendigen Kapazitäten besitzt, um ihre eigenen sicherheitspolitischen Interessen gegebenenfalls auch gegen den Willen der USA durchzusetzen.

Die Atomvereinbarung, der sogenannte »Joint Comprehensive Plan of Action« (JCPOA, siehe Kasten), ist in erster Linie ein Erfolg europäischer Diplomatie. Die Europäer legten 2003 den Grundstein für Verhandlungen mit Iran, als die Außenminister der E3 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) erstmals zu Nukleargesprächen nach Teheran reisten. Berlin, Paris und London setzten auf einen politischen Dialog, um offene Fragen hinsichtlich des iranischen Atomprogramms auf friedlichem Wege beilegen zu können.

Europa als Wegbereiterin der Atomvereinbarung

Die Initiative folgte vornehmlich sicherheitspolitischen Erwägungen. Angesichts der US-Intervention im Irak zielten die Europäer darauf, zum einen eine weitere militärische Eskalation in ihrer Nachbarschaft zu verhindern und zum anderen einer zusätzlichen Proliferationskrise zuvorzukommen, nachdem bereits Nordkorea zu Beginn des Jahres aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag ausgestiegen war.

Die EU schloss sich 2004 formal den Konsultationen an und wurde von der Hohen Vertreter*in für Außen- und Sicherheitspolitik vertreten. Dies bot nicht nur zusätzliche Möglichkeiten, Iran im Namen der gesamten Europäischen Union wirtschaftliche Anreize für einen Kompromiss zu setzen und damit den europäischen Verhandlungsspielraum zu erweitern. Durch die Einbeziehung der Hohen Vertreter*in konnte auch der Informationsfluss zwischen den E3 und den übrigen EU-Mitgliedsstaaten verbessert und entstandener Unmut gegenüber Alleingängen der E3 reduziert werden (Bassiri Tabrizi und Kienzle 2020, S. 327).

Trotz des größeren europäischen Rahmens und anfänglicher Verhandlungserfolge erwies sich das Gesprächsformat ohne explizite politische Unterstützung der USA und ohne Hinzuziehung weiterer permanenter Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auf Dauer nicht als aussichtsreich. Im Jahr 2006 schlossen sich neben den USA auch Russland und China den Gesprächen an. Mit dem neuen Verhandlungsformat wandelte sich zugleich die Rolle der europäischen Staaten. Während diese 2003 als autonome Akteure mit eigenständigen Positionen auftraten, übernahmen sie kaum zehn Jahre später vor allem eine Vermittlerfunktion zwischen Washington und Teheran (Cronberg 2017, S. 246). Damit trug der erweiterte Verhandlungskreis der Atomgespräche zwar einerseits zum Einigungserfolg von 2015 bei, bedeutete andererseits aber auch, dass den europäischen Parteien nur noch eine nachrangige Rolle zukam.

Europa als Verteidigerin der Atomvereinbarung

Obwohl die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) mehrfach verifizierte, dass die Islamische Republik die Vereinbarung vollständig umsetze, verkündete die US-Regierung unter Donald Trump im Mai 2018, von ihren Verpflichtungen zurückzutreten. Der Rückzug hatte nicht nur das weitreichendste Sanktionsregime zur Folge, das die USA je gegen Iran verhängten. Die Adminis­tration unternahm auch gezielte Schritte, um die verbliebenen JCPOA-Parteien von der Fortführung der Vereinbarung abzuhalten. Insbesondere die Ausweitung US-amerikanischer Jurisdiktion mittels extraterritorialer Sanktionen erwies sich für europäische Staaten als enorme Herausforderung.

Die EU ergriff daher eine Reihe von Maßnahmen, die den Fortbestand der Vereinbarung sicherstellen sollten. Zu diesem Zweck aktualisierte die EU-Kommission eine Abwehrgesetzgebung aus dem Jahr 1996, die es europäischen Unternehmen untersagt, der US-amerikanischen Rechtsprechung zu folgen, und ihnen ermöglicht, dadurch entstandene finanzielle Schäden vor europäischen Gerichten einzuklagen. Darüber hinaus stellte sie auch finanzielle Hilfen bereit, darunter 50 Mio. € zur Unterstützung der wirtschaftlichen Kooperation mit dem iranischen Privatsektor. Den bedeutendsten Schritt unternahmen die E3 jedoch im Januar 2019 mit der Gründung eines vom US-Dollar unabhängigen Finanzmechanismus. Das sogenannte »Instrument in Support of Trade Exchanges« (INSTEX) sollte den Warenaustausch zwischen Iran und seinen Handelspartnern ermöglichen, ohne auf direkte Finanztransaktionen angewiesen zu sein, die durch US-Sanktionen behindert wurden. Mit der Einrichtung dieser Zweckgesellschaft sollten ursprünglich iranische Öl- und Gasexporte nach Europa abgesichert werden, doch um INSTEX aus dem Schussfeld amerikanischer Sanktionspolitik zu nehmen, wurde der Handel auf den humanitären Warenverkehr beschränkt. Ein substanzieller Beitrag zur wirtschaftlichen Kooperation mit Iran konnte damit nicht erzielt werden.

Während die Europäer den JCPOA nicht davor bewahren konnten, von US-amerikanischen Sanktionen wirtschaftlich untergraben zu werden, gelang es ihnen, die Abmachung zumindest politisch abzuschirmen. Im August 2020 verwehrten sie der US-Administration Unterstützung im UN-Sicherheitsrat (UNSR) bei deren Versuch, einen sogenannten »Snapback« in der UNSR-Resolution 2231 (siehe Kasten) auszulösen, mit dem der JCPOA außer Kraft gesetzt worden wäre. Zuvor hatten es die E3 bereits abgelehnt, sich einer Resolutionsinitiative aus Washington anzuschließen, mit der ein UN-Waffenembargo gegen Iran auf unbestimmte Zeit verlängert werden sollte – ein Vorhaben, das gegen die Abmachung verstoßen hätte. Mit ihrer klaren Haltung im Sicherheitsrat bekräftigten die Europäer glaubhaft ihre Absicht, an der Vereinbarung festzuhalten und zeigten, dass sie zur Aufrechterhaltung des JCPOA nicht davor zurückzu­schrecken, sich auch im Rahmen der Vereinten Nationen gegen den transatlantischen Bündnispartner zu positionieren.

Der Blick aus Teheran

Die europäischen Bemühungen wurden in Teheran jedoch als unzureichend angesehen. Nach dem einseitigen Rückzug Washingtons aus der Atomvereinbarung 2018 hatte die Islamische Republik zunächst darauf gesetzt, dass die verbliebenen Vereinbarungsparteien effektive Maßnahmen ergreifen würden, um die Wirtschaftskooperation trotz des US-amerikanischen Sanktionsdrucks aufrechtzuerhalten. Doch die Maßnah­men blieben weit hinter Teherans Erwartungen zurück. Insbesondere die Beschränkung von ­INSTEX auf den humanitären Warenverkehr stieß in allen politischen Lagern auf Kritik, die sich von der Zweckgesellschaft vor allem die Absicherung von Energieexporten versprochen hatten. Derweil weitete die Trump-Administration das Sanktionsregime gegen Iran sukzessive aus. Vor diesem Hintergrund setzte die Islamische Republik ab Mai 2019 Teile der Übereinkunft schrittweise aus und verkündete schließlich, keine der im JCPOA festgelegten technischen Beschränkungen des Atomprogramms mehr anzuerkennen. Die iranische Kehrtwende ist somit nicht nur die direkte Folge des US-amerikanischen Sanktionsdrucks, sondern zugleich Resultat des mangelnden Vermögens europäischer Akteure, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Damit wurden zwei grundlegende Annahmen der iranischen Atomdebatte bestätigt. Kritiker*innen eines Nuklearkompromisses hatten stets argumentiert, dass eine Vereinbarung mit westlichen Staaten keine nachhaltige Lösung im Atomkonflikt zur Folge haben würde, da es den USA am politischen Willen und den Europäern an grundlegenden Kapazitäten fehle. Durch die Erfahrung mit dem JCPOA wurde die Position jener politischen Kräfte in Iran untergraben, die sich für eine kooperative Haltung in der Atompolitik ausgesprochen hatten, darunter die Regierung von Präsident Hassan Rohani. Dies ist umso mehr der Fall, seit es Iran gelungen ist, durch eine regionale Eskalationsstrategie sowie die Steigerung nuklearer Aktivitäten, die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Derweil ist auch die Unterstützung der iranischen Bevölkerung für den JCPOA rapide gesunken (CISSM/IranPoll 2019, S. 4).

Europäische Versuche, Iran im Rahmen eines im JCPOA festgelegten Konfliktregulierungsmechanismus wieder zu einer vollständigen Implementierung der Vereinbarung zu bewegen, blieben daher ohne Erfolg. Teheran erklärte unmissverständlich, die Vereinbarung erst dann wieder in vollem Umfang umsetzen zu wollen, wenn auch die USA ihren Verpflichtungen wieder nachkämen.

Aussichten unter der Biden-Administration

Iran setzt die Übereinkunft nur noch in Teilen um und hat seine nuklearen Aktivitäten kontinuierlich ausgeweitet. Infolge des Attentats auf den Atomwissenschaftler Mohsen Fakhrizadeh im November 2020 verabschiedete das iranische Parlament ein bereits Monate zuvor erarbeitetes Gesetz, das die Regierung dazu anhält, den Zugang von IAEO-Inspekteur*innen zu iranischen Atomanlagen zu beschränken und Uran auf bis zu 20 % anzureichern, sollte es nicht zu kurzfristigen Sanktionserleichterungen kommen. Eine weitere Eskalation ließe sich unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden jedoch verhindern, der bereits im Wahlkampf seine Absicht erklärte, in die Vereinbarung zurückkehren zu wollen. Europäische Akteure könnten diesen Prozess unterstützen, indem sie sich mit Iran, Russland und China auf ein Verfahren für einen Wiedereinstieg der USA verständigen. Eine Verständigung auf eine schrittweise Implementierung auf US-amerikanischer und iranischer Seite wird jedoch auch unter einer Biden-Administration eine Herausforderung darstellen, nicht zuletzt, da Washington beabsichtigt auch in weiteren sensiblen Themenfeldern wie der iranischen Regionalpolitik oder dem ballistischen Raketenprogramm Folgevereinbarungen zu erzielen. Sollte es Biden versäumen, frühzeitig erste Sanktionserleichterungen zu erlassen, könnte Teheran beschließen, sein Atomprogramm auf Grundlage des Parlamentsbeschlusses erheblich auszuweiten. Damit wäre der JCPOA auf absehbare Zeit hinfällig.

Europas strategische Autonomie

Doch auch im Falle einer erfolgreichen Rückkehr der USA in die Vereinbarung wird die EU nicht umhinkommen, ihre strukturellen Defizite aufarbeiten zu müssen. Denn trotz zahlreicher Versuche ist es ihr nicht gelungen, europäischen Unternehmen die politische und rechtliche Sicherheit zu geben, den Handel mit Iran gegen anhaltenden Sanktionsdruck aus Washington fortsetzen zu können. Die Erfahrung mit dem JCPOA hat damit einmal mehr die Notwendigkeit für eine strategische Autonomie der Europäischen Union offenbart. Strategisch autonom wäre die EU dann, wenn sie imstande wäre, nicht nur eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sondern auch die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen zu erfüllen, um diese gegebenenfalls auch eigenständig umsetzen zu können (Lippert, von Ondarza und Perthes 2019, S. 5). Die Ausweitung von INSTEX zu einem gesamteuropäischen alternativen Finanzinstrument, das unabhängig vom US-Dollar operiert, könnte hier wichtige Impulse setzen.

Nach vier Jahren transatlantischer Spannungen stellt die Wahl Joe Bidens für viele europäische Mitgliedsstaaten einen willkommenen Machtwechsel im Weißen Haus dar. Zugleich läuft die EU jedoch Gefahr, nunmehr in gewohnte Bündnismuster zurückzufallen und Bemühungen um größere Souveränität hintanzustellen. Die Atomvereinbarung hat jedoch aufgezeigt, dass Europas Anspruch, internationale Normen und Vereinbarungen aufrechtzuerhalten, Konflikte auf diplomatischem Wege beizulegen und Nichtverbreitungsinstrumente zu stärken, an enge Grenzen stößt, solange die Europäer extraterritorialen Sanktionen nichts entgegensetzen können. Intensive Bemühungen um strategische Autonomie bleiben daher auch unter Biden unabdingbar für die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.

Dieser Artikel spiegelt den Stand der Entwicklungen bis Mitte Dezember 2020 wider.

Der »Joint Comprehensive Plan of Action« (JCPOA) (2015)

  • Der JCPOA wurde am 14.07.2015 zwischen der Islamischen Republik Iran und der Staatengruppe P5+1 (die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und Deutschland) sowie der EU in Wien getroffen. Die Vereinbarung wurde mit der Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 2231 (s.u.) völkerrechtlich verbindlich.
  • Der Text umfasst die Übereinkunft an sich und fünf weitere Anhänge (I-V), die genauer ausbuchstabieren, wie in den einzelnen Bereichen vorgegangen wird. Anhang V legt dafür den Zeitplan vor.
  • Im JCPOA bekräftigt Iran, niemals Atomwaffen besitzen oder beschaffen zu wollen (Präambel).
  • In der Vereinbarung verpflichtet sich Iran, bis 2030 maximal 300kg niedrig angereichertes Uran zu lagern und den Anreicherungsgrad auf maximal 3,67 % zu beschränken; ausreichend für zivile Nutzung, aber nicht für die Produktion einer Atombombe. Zudem sieht die Übereinkunft vor, dass Iran die Zahl verfügbarer Zentrifugen begrenzt und umfangreiche Modernisierungen am Schwerwasserreaktor vornimmt, die eine potenzielle militärische Nutzung verhindern sollen.
  • Im JCPOA unterwirft sich Iran einem umfangreichen und strengen Inspektionsregime durch die IAEO. Für den Fall von Unstimmigkeiten hinsichtlich der Umsetzung ist ein Disputregulierungsmechanismus vorgesehen. Wird der Disput unter den Vereinbarungsparteien innerhalb einer festgelegten Frist nicht beigelegt, wird der UN-Sicherheitsrat mit dem Konflikt befasst. Dieser hat 30 Tage Zeit, über eine Fortführung des JCPOA zu entscheiden, andernfalls treten alle zuvor ausgesetzten nuklearbezogenen UN-Sanktionen gegen Iran automatisch wieder in Kraft.

Die UN-Sicherheitsratsresolution 2231 (2015)

Nach dem Abschluss der Verhandlungen verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig Resolution 2231, in der die internationale Staatengemeinschaft die Übereinkunft begrüßt und unter anderem folgendes festlegt:

  • Die Aufhebung der nuklearbezogenen UN-Sanktionen gegen Iran nach der positiven Einschätzung eines Umsetzungsberichtes der IAEO (Paragraph 5-7). Dieser Bericht wurde am 16.01.2016 eingereicht und damit der Umsetzungsplan im JCPOA ausgelöst.
  • Bei Verstößen gegen die Übereinkunft können die Sicherheitsratsmitglieder den sogenannten »Snapback-Mechanismus« auslösen, der zu einer sofortigen Wiederanwendung der zuvor aufgehobenen UN-Sanktionen führen würde (Paragraph 11 und 12).
  • Die Resolution hält auch fest, dass Iran eine Wiedereinsetzung von Sanktionen wie in Paragraph 11 und 12 als Bruch des JCPOA betrachtet und sich in einem derartigen Fall nicht länger an die Übereinkunft gebunden sieht (Paragraph 13). Hierauf beruft sich die Islamische Republik, nachdem die USA sich im Mai 2018 einseitig von ihren Verpflichtungen im JCPOA zurückzogen und fortan gegen Resolution 2231 verstießen.

Literatur

Bassiri Tabrizi, A.; Kienzle, B. (2020): The High Representative and Directories in European Foreign Policy. The Case of the Nuclear Negotiations with Iran. European Security 29(3), S. 320-336.

Center for International and Security Studies at Maryland (CISSM)/IranPoll (2019): Iranian Public Opinion Under »Maximum Pressure«, Oktober 2019.

Cronberg, T. (2017): No EU, no Iran Deal. The EU‘s Choice Between Multilateralism and the Transatlantic Link. The Nonproliferation Review 24(3-4), S. 243-259.

Lippert, B.; von Ondarza, N.; Perthes, V. (Hrsg.) (2019): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte. SWP-Studie 2019/S 02, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik.

Dr. Azadeh Zamirirad, Irananalystin und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten & Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.

Verboten – und nun?

Verboten – und nun?

von Regina Hagen

Honduras wählte ein symbolträchtiges Datum, um seine Ratifizierungsurkunde für den »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) in New York zu hinterlegen: Der 24.10. erinnert als »Tag der Vereinten Nationen« an den Tag, an dem die UN-Charta nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Kraft trat und die Weltgemeinschaft auf eine friedlichere Zukunft einschwor.

Mit Honduras haben nun 50 Staaten den TPNW ratifiziert; 90 Tage danach tritt der Vertrag vereinbarungsgemäß in Kraft, das wird am 22.1.21 sein. Der TPNW verpflichtet die Vertragsparteien u.a. dazu, „unter keinen Umständen jemals […] Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu besitzen oder zu lagern“, diese „anzunehmen […,] einzusetzen oder mit dem Einsatz zu drohen“, jemanden bei solch verbotenen Tätigkeiten „zu unterstützen“ oder
„Kernwaffen […] in seinem Hoheitsgebiet […] zu gestatten“.

Der TPNW schließt eine Lücke im Völkerrecht. Einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs von 1996 zufolge widersprechen zwar der Einsatz und die Drohung mit dem Einsatz – und somit auch die Doktrin der Abschreckung, die auf dieser Drohung beruht – aus humanitären Gründen ohnehin dem Völkerrecht. Atomwaffen sind bislang aber nicht ausdrücklich verboten. Das wird sich ab 22. Januar ändern. Weitere Vertragsbeitritte sind zu erwarten, wenngleich vielleicht nicht alle 122 an den Vertragsverhandlungen beteiligte Staaten diesen Schritt bald wagen werden. Denn der Gegenwind
ist scharf, mutet allerdings auch panisch an.

So schrieben die USA noch wenige Tage vor Honduras‘ Ratifizierung alle bereits beigetretenen Staaten an und legten ihnen nahe, ihre Ratifizierung zu widerrufen, damit der Vertrag nicht in Kraft treten kann – ein beispielloser Vorgang im Völkerrecht. Die USA betonten laut der Nachrichtenagentur AP in dem Brief ausdrücklich, mit ihnen stünden Russland, China, Frankreich und Großbritannien sowie die NATO-Verbündeten „geschlossen in ihrem Widerstand gegen die möglichen Auswirkungen“ des TPNW.

Es ist nicht schwer zu verstehen, was die Atomwaffenstaaten verschreckt: Der Vertrag erlangt zwar nur für seine Mitgliedsstaaten Gültigkeit, markiert aber eine weit über diesen Kreis hinausreichende völkerrechtliche Norm gegen nukleare Rüstung. Einige Beispiele:

  • Die USA selbst wiesen vor etlichen Jahren auf die Konsequenzen für ihre Schiffs- und U-Boot-Flotte hin. Die US-Regierung legt grundsätzlich nicht offen, welche Schiffe und Boote Atomwaffen an Bord haben. TPNW-Mitgliedsstaaten müssten aber die Durchfahrt von Booten mit Atomwaffen durch ihre Hoheitsgewässer untersagen, um jegliche, auch unbeabsichtigte, Beihilfe zu verbotenen Aktivitäten auszuschließen. Für die USA wären diese Gewässer damit indirekt gesperrt.
  • NATO-Verbündete, wie die Nieder­lande, Belgien oder Deutschland, müssten dem TPNW eigentlich beitreten, um ihrem multilateralen Anspruch gerecht zu werden. Nur dann wären sie beteiligt an der Fortentwicklung des Völkerrechts und nur dann könnten sie die praktische Ausgestaltung des Vertrags beeinflussen. Dazu müssten sie allerdings auf jegliche Form der nukleare Teilhabe verzichten und von den USA den Abzug ihrer Atomwaffen verlangen. In ihrem Koalitionsvertrag schrieb die neue belgische Regierung immerhin fest, sie wolle
    „prüfen […,] wie der UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen neue Impulse für multilaterale nukleare Abrüstung geben kann“ – eine deutliche Ablehnung des Vertrags klingt anders.
  • Bereits in den vergangenen Jahren zogen sich aufgrund öffentlichen Drucks etliche Banken und Versicherungen aus der Finanzierung des Nuklearwaffenkomplexes zurück; es wurde schwieriger für Produzenten von Atomwaffen oder Trägersystemen, neue Investitionen oder Kredite zu bekommen. Die völkerrecht­liche Ächtung der Atomwaffen wird diesen Prozess beschleunigen. Ebenso werden sich Firmen künftig genauer überlegen, ob ihre Gewinne aus Atomwaffengeschäften (z.B. Airbus am französischen Nukleararsenal) den Boykott durch Konsument*innen und Finanz­institutionen wirklich aufwiegen.

Es stimmt, der TPNW wird nicht unmittelbar zur Verschrottung von Atomwaffen führen. Er ist aber eine wichtige Ergänzung des Völkerrechts und könnte mittelbar den Weg bahnen für eine umfassendere Nuklearwaffen­konvention unter Einbindung der Atomwaffenstaaten, wie dies bei den Chemie- und Biowaffen der Fall war. Sobald der TPNW in Kraft getreten ist, müssen die Vertragsstaaten und die sie unterstützenden Nichtregierungsorganisationen und Friedensbewegten ohnehin darüber nachdenken, wie sie der in der Präambel des Vertrags konstatierten
„Dringlichkeit der Herbeiführung und Erhaltung einer kernwaffenfreien Welt, die ein globales öffentliches Gut höchsten Ranges ist und nationalen wie kollektiven Sicherheitsinteressen dient,“ zusätzlich Schwung verleihen können. Der Beitritt weiterer Nichtatomwaffenstaaten, darunter Deutschland, ist dafür wichtig. Ohne Mitwirkung der Atomwaffenstaaten sind entsprechenden Bemühungen aber enge Grenzen gesetzt.

Ihre Regina Hagen

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Wie werden Kernwaffen zerstört?

Eine Abschätzung von Abrüstungsraten

von Moritz Kütt

Der 2017 verhandelte »Vertrag über das Verbot von Kernwaffen« sieht zwei Möglichkeiten vor, wie Staaten, die im Besitz von Kernwaffen sind, Vertragsmitglieder werden können: Entweder rüsten sie zuerst ab und treten dann dem Vertrag bei. Oder sie treten zunächst bei und zerstören anschließend Kernwaffen und ihr Kernwaffenprogramm in einem zeitlich begrenzten Prozess, der mit den anderen Mitgliedsstaaten vereinbart wurde. Die Art und Dauer dieses Prozesses ist im Vertrag noch nicht festgelegt, und bislang wurde diese Frage in der öffentlichen Diskussion nur selten
aufgeworfen.

Dieser Text diskutiert die notwendigen Schritte zur Zerstörung von Kernwaffen und gibt einen Überblick über die mögliche Dauer des Prozesses.1 Dieses Wissen ist relevant für die Vertragsstaaten, da sie innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrags2 ein gemeinsames Treffen abhalten und eine allgemeingültige Frist für die Zerstörung von Kernwaffen festlegen müssen. Dieses Wissen ist aber auch von Bedeutung, wenn sich die Kernwaffenstaaten anderweitig auf die Beseitigung ihrer
Kernwaffen einigen. Unabhängig vom Weg in die kernwaffenfreie Welt wird nach einer politischen Einigung immer die überprüfbare Abrüstung von Kernwaffen und die Zerstörung der verwendeten Komponenten nötig sein. Genaue Kenntnisse des dafür erforderlichen Abrüstungsprozesses und der zeitlichen und räumlichen Limits sind überdies schon während entsprechender Verhandlungen hilfreich.

Jüngste Schätzungen beziffern die Anzahl existierender Kernwaffen auf 13.890 (Kristensen und Korda 2019). Neun Länder besitzen Kernwaffen. Die USA und Russland haben mit ca. 90 % den weitaus größten Anteil an der Gesamtzahl. Neben einsatzbereiten Kernwaffen gibt es in den Arsenalen der beiden Staaten Tausende Waffen, die nicht mehr operativ eingesetzt werden und auf baldige Abrüstung warten. Die anderen Staaten (China, Frankreich, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan und Vereinigtes Königreich) besitzen Arsenale im Umfang von wenigen Dutzend bis hin zu einigen Hundert Kernwaffen. Es wird
angenommen, dass diese Staaten derzeit keine Waffen besitzen, die nicht einsatzbereit bzw. zur Abrüstung vorgesehen sind.

Für eine erste Abschätzung der Dauer von Abrüstung kann folgende Rechnung dienen: Insgesamt 125.000 Kernwaffen wurden zwischen 1945 und 2013 produziert (Kristensen und Norris 2013). Etwa 2.050 Kernwaffen wurden für Kernwaffentests genutzt. Bezogen auf die aktuell knapp 14.000 Kernwaffen wurden in den 75 Jahren seit Bau der ersten Kernwaffen ca. 109.000 Kernwaffen abgerüstet oder vernichtet, im historischen Durchschnitt etwa 1.450 pro Jahr. Mit dieser Geschwindigkeit könnte der heutige Bestand an Kernwaffen in knapp einem Jahrzehnt vollständig abgerüstet werden.

Wie wird eine Kernwaffe abgerüstet?

Die Mehrzahl der Waffen in heutigen Arsenalen sind thermonukleare Waffen, d.h. sie sind zweistufig aufgebaut. Die erste Stufe (primary) ist eine Spaltwaffe. Sie besteht aus einem »pit«, einer Hohlkugel aus Spaltmaterial (hochangereichertes Uran/HEU oder Plutonium). Diese ist umhüllt von einem neutronenreflektierenden Dämpfer und konventionellem Sprengstoff, um die Explosion auszulösen und die Hohlkugel zu komprimieren. Daneben enthält die erste Stufe einen Neutronengenerator, der zu Beginn der Explosion die Spaltungskettenreaktion (fission) startet, sowie einen Behälter mit
Deuterium-Tritium-Gas. Dieses wird ins Innere der Hohlkugel geleitet und verstärkt die Sprengkraft der ersten Stufe (boosting). Die zweite Stufe (secondary) besteht aus Lithium-Deuterid als Material für die Kernschmelze (fusion) und zusätzlichem Spaltmaterial. Dieses Spaltmaterial dient als Dämpfer sowie zur Zündung der zweiten Stufe (spark-plug). Ausgelöst wird diese Zündung durch die Energie der ersten Stufe (Feiveson et al. 2014) (siehe Abb. S. 38).

Die nuklearen Komponenten einer Kernwaffe werden oft als »physics package« bezeichnet. Neben den nuklearen Komponenten sind weitere, nicht-nukleare Bauteile in Kernwaffen vorhanden. Der Behälter des Deuterium-Tritium-Gases lässt sich vergleichsweise leicht austauschen. Tritium hat eine Halbwertszeit von 12,3 Jahren und muss daher regelmäßig ersetzt werden. Der Zündungsmechanismus von Kernwaffen (arming, fusing and firing mechanism) stellt die notwendige Technik zur synchronen Zündung des konventionellen Sprengstoffes zur Verfügung; über ihn wird die Komprimierung der ersten Stufe
eingeleitet. Ein weiteres Element ist ein Sicherheitsmechanismus, der die Kernwaffe vor einer Zündung bei unberechtigtem Zugriff schützt. Weitere Bauteile sind von den verwendeten Trägersystemen abhängig: Kernwaffen auf Interkontinentalraketen werden durch ein Hitzeschild vor Schäden beim Wiedereintritt in die Atmosphäre geschützt. Bomben, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, haben teilweise Fallschirme, die den Fall bremsen, sowie Navigationssysteme und steuerbare Finnen, um die Zielgenauigkeit zu verbessern.

Das Office of Technology Assessment der USA beschrieb 1993 in einem öffentlich zugänglichen Bericht zentrale Abrüstungsschritte (OTA 1993): In einem ersten Schritt wird die abzurüstende Kernwaffe mit verschiedenen Verfahren untersucht, um u.a. einen Überblick über eventuelle Veränderungen seit der Produktion zu erhalten. Diese Untersuchungen dienen vor allem der Sicherheit bei der Abrüstung, könnten aber in Zukunft auch als Verifikationsinstrument genutzt werden. Früh im Abrüstungsprozess wird der Zündungsmechanismus deaktiviert bzw. der im vorigen Absatz beschriebene Sicherheitsmechanismus
der Zündung aktiviert. Anschließend werden die einzelnen Komponenten voneinander getrennt. Das »physics package« wird von den nicht-nuklearen Komponenten separiert, danach werden die einzelnen Stufen der Waffe zerlegt. In der ersten Stufe wird die Spaltmaterialhohlkugel vom Sprengstoff getrennt, in der zweiten Stufe das Lithium-Deuterid von den Spaltmaterialien.

Kernwaffenstaaten nutzen für den Abrüstungsprozess spezielle Anlagen. In den meisten Fällen werden die selben Anlagen auch für den Zusammenbau und die Wartung von Kernwaffen genutzt. Kernwaffenstaaten haben nur wenige, oft nur eine einzige solche Anlage. Einzelne Arbeitsschritte werden in speziellen Sicherheitszellen und besonders gebauten Räumen (dismantlement bay) durchgeführt. Die Zahl der Anlagen, Zellen und Spezialräume ist der größte technische Flaschenhals für eine rasche Abrüstung von Kernwaffen. Sofern die Abrüstung mit einem Verzicht auf Modernisierung und Wartung einhergeht,
können die dadurch freiwerdenden Kapazitäten ebenfalls für Abrüstungszwecke genutzt werden.

Wann ist eine Kernwaffe zerstört?

Weder der nukleare Nichtverbreitungsvertrag noch der Kernwaffenverbotsvertrag definieren, was eine Kernwaffe ist. Eine der ältesten Definitionen findet sich im Brüsseler Vertrag (Protokoll I, Anlage II von 1954), der den Bau von Kernwaffen für Deutschland verbot, dann aber 1991 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst wurde. Weitere Definitionen finden sich in den Verträgen zu nuklearwaffenfreien Zonen. All diese Definitionen basieren auf der Funktion als Waffe und der Schadenswirkung durch die Explosion bzw. die Spaltmaterialien. Diese Charakteristika lassen sich allerdings nur schwer
verifizieren, insbesondere, wenn wenig Informationen über einen Waffentyp bereitgestellt werden. Im Falle des Kernwaffenverbotsvertrages besteht die Möglichkeit der Beweisumkehr: Für die Kernwaffenzerstörung könnten einfach alle Objekte als Kernwaffen gelten, die von den besitzenden Staaten als solche definiert werden, da im Verlauf des gesamten Abrüstungsprozesses außer der Zerstörung der Kernwaffen selbst auch die Beendigung des kompletten Kernwaffenprogramms überprüft wird.

Die Definition der Zerstörung von Kernwaffen ist konzeptionell etwas einfacher. Nach einer US-amerikanischen Definition hört eine Kernwaffe auf zu existieren (ceases to exist), sobald die Spaltmaterialhohlkugel vom Rest getrennt ist (DOE 1997). Gleichzeitig bewahren die Vereinigten Staaten jedoch mehrere Millionen nicht-nukleare Komponenten und mehrere Tausend Spaltmaterialhohlkugeln in speziellen Lagern auf. Daher ist diese Definition nicht besonders weitgehend. Ein erneuter Zusammenbau der Komponenten wäre
vergleichsweise einfach und in wenigen Tagen zu bewerkstelligen.

Zusammen mit meinem Kollegen Zia Mian schlug ich kürzlich eine Definition für die Zerstörung von Kernwaffen vor, die darüber hinaus geht (Kütt und Mian 2019):

„Eine Kernwaffe gilt als zerstört, wenn alle der folgenden Schritte durchgeführt wurden: Die nicht-nuklearen Komponenten wurden von den nuklearen Komponenten (physics package) getrennt, der konventionelle Sprengstoff wurde vom Spaltmaterial getrennt, und sämtliche nuklearen und elektronischen Komponenten wurden mechanisch oder chemisch unwiederbringlich so verändert, dass sie nicht ohne erhebliche zusätzlichen Bearbeitungsaufwand für eine Waffe verwendet werden können.

Diese Definition verhindert den schnellen Wiederzusammenbau nach der Abrüstung und führt damit zu einer höheren Irreversibilität der Zerstörung. Die erforderliche Abtrennung der Komponenten wurde oben beschrieben. Eine mechanische oder chemische Veränderung ist in vielen Fällen leicht möglich. Die Spaltmaterialhohlkugel kann relativ einfach verformt oder mit Draht gefüllt werden. Beides ist relativ schnell durchzuführen, aber schwierig rückgängig zu machen. Wird die Hohlkugel verformt, ist die Deformierung nicht rückgängig zu machen, sondern das Spaltmaterial muss neu in Hohlkugelform
gebracht werden.

Anschließend müssen die Spaltmaterialien aus der Hohlkugel sowie aus der zweiten Stufe beseitigt werden. Hochangereichertes Uran kann mit natürlichem Uran gemischt und anschließend in zivilen Kernreaktoren eingesetzt werden. Auch Plutonium kann in Form von Mischoxid-Brennstoffen (MOX) in Reaktoren eingesetzt werden. Alternativ kann es als Zugriffsbarriere mit stark strahlendem Abfall vermischt und endgelagert werden. Bei Plutonium sind die Erfahrungen begrenzt. Weder Russland noch die USA haben, obwohl in den späten 1990er Jahren vereinbart, signifikante Mengen von überschüssigem
Waffenplutonium beseitigt. Daneben gibt es auch große Mengen an separiertem zivilen Plutonium, u.a. in Großbritannien und Japan, für welches bisher ebenso keine Beseitigungslösung existiert.

Tritium aus Kernwaffen kann entweder bis zum Zerfall gelagert oder mit Sauerstoff in Wasser umgewandelt werden. Dieses Wasser ist weiterhin radioaktiv und kann erst nach ausreichender Verdünnung entsorgt werden. Lithium-Deuterid-Komponenten können separiert werden, und sowohl Lithium als auch Deuterium lassen sich zivilen Zwecken zuführen. Der konventionelle Sprengstoff wird in der Regel einfach abgebrannt und damit vernichtet. Früher geschah dies oft unter freiem Himmel; aus Emissionsgründen ist eine geschlossene Verbrennung mit Filteranlage vorzuziehen.

Die weiteren Komponenten können ebenfalls vernichtet werden, insbesondere die Elektronik. Dabei ist zum einen darauf zu achten, dass die Bestandteile durch Zerschneiden oder ähnliche Bearbeitung für die militärische Nutzung unbrauchbar gemacht werden (demilitarizing). Zusätzlich sind die Bestandteile so zu behandeln, dass etwaige sensitive Informationen zum Bau von Kernwaffen nicht mehr erkennbar sind (sanitizing). Anschließend können sie wie andere Abfälle entsorgt oder ggf. auch recycelt werden.

Wie schnell ist Abrüstung möglich?

Der historische Blick auf vergangene Abrüstung ermöglicht für einzelne Staaten eine Abschätzung möglicher Abrüstungsraten. Die Vereinigten Staaten waren hier in der Vergangenheit am transparentesten. Sie machten Abrüstungsraten von 1980 bis 2017 öffentlich, genauso wie die Zahl der in den gleichen Jahren zusammengebauten Kernwaffen. Mit einer Ausnahme wurden dabei jährlich über 500 Kernwaffen zusammengesetzt und/oder zerlegt. In den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, wurden allerdings deutlich höhere Abrüstungsraten erreicht, durchschnittlich 1.500 Waffen pro Jahr. Das in den
USA für Kernwaffen zuständige Energieministerium fasste 1997 in einer Studie auch die benötigten Zeiten für die Abrüstung von unterschiedlichen Kernwaffentypen zusammen. Bei achtstündigen Arbeitsschichten benötigen die USA für ihre existierenden Waffentypen zwischen 1,5 und neun Schichten für die Abrüstung einer Kernwaffe. Parallele Abrüstung ist möglich, sofern die entsprechenden Zellen und Sicherheitsräume verfügbar sind (DOE 1997). Mit neun parallelen Arbeitsschritten und je einer Schicht an fünf Tagen pro Woche könnte das derzeitige US-Arsenal in rund neun Jahren abgerüstet werden. Dabei
ist die spezifische Zusammensetzung des Arsenals bereits berücksichtigt.

Für andere Staaten ist die Einschätzung schwieriger. Es gibt mehrere Quellen, die Russlands Abrüstungskapazitäten in den 1990er Jahren auf 1.000-3.000 Sprengköpfe jährlich schätzten. Neuere Schätzungen gehen von 400-500 Sprengköpfen pro Jahr aus (IPFM 2007). Im Vereingten Königreich wurden zwischen 1954 und 2013 insgesamt 1.250 Kernwaffen produziert (Kristensen und Norris 2013). Heute hat Großbritannien weniger als 250 Waffen, damit also rund 1.000 Waffen in 60 Jahren abgerüstet – eine Rate von mehr als 160 Waffen pro Jahrzehnt. Frankreich baute 1.260 Waffen in dem etwas kürzeren
Zeitraum 1960-2012. Nach Aussagen des ehemaligen Präsidenten Hollande in 2015 hatte Frankreich zu dieser Zeit 300 Kernwaffen. Die französische Regierung teilte in der Vergangenheit außerdem mit, keine nicht-einsatzbereiten Kernwaffen zu besitzen, also keine Bestände noch abzurüstender Kernwaffen zu haben. Daraus lässt sich eine durchschnittliche Abrüstungsrate von rund 200 Sprengköpfen pro Jahrzehnt schließen.

Chinas Bestände an Kernwaffen wachsen derzeit langsam weiter an, eine Schätzung der Abrüstungskapazitäten ist daher schwierig. Es kann aber angenommen werden, dass chinesische Kernwaffen mindestens ähnlich schnell abzurüsten sind wie die zeitaufwändigste Waffe der USA. Nach den Zahlen des US-Energieministeriums sollte die Abrüstung einer B53 (Außerbetriebnahme nach Ende des kalten Krieges) rund neun Arbeitsschichten dauern. Bei gleicher Zeitdauer sollte es möglich sein, alle chinesischen Waffen in rund zehn Jahren abzurüsten.

In den neueren Kernwaffenstaaten ist eine ähnliche Annahme möglich. Bei neun Arbeitstagen pro Waffe sollte es möglich sein, die indischen und pakistanischen Bestände in je fünf Jahren zu beseitigen, die israelischen Bestände in zweieinhalb Jahren und die nordkoreanischen Waffen noch deutlich schneller.

Zusammenfassung

Der Beitrag beschrieb die notwendigen Schritte und Anlagen für die technische Abrüstung von Kernwaffen. Langfristig wichtig ist dabei eine vollständige Zerstörung von Kernwaffenkomponenten, um einen raschen Wiederzusammenbau zu vermeiden. Es zeigt sich, dass eigentlich alle Staaten ihre Arsenale in rund zehn Jahren vollständig abrüsten könnten. Auch eine schnellere Abrüstung kann möglich sein, erfordert aber zusätzliches Engagement der Staaten über den Status quo hinaus, wie z.B. Mehrschichtbetrieb existierender Anlagen oder den Bau neuer Abrüstungsanlagen. Daher kann die technische
Abrüstung nicht der limitierende Faktor auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt sein. Wenn nach einer politischen Einigung die Wartung und Modernisierung von Kernwaffen eingestellt wird, können diese Kapazitäten ebenfalls für Abrüstung genutzt werden. Beim Design von Verifikationsregimen sollte darauf geachtet werden, dass die Zeiträume nicht unnötig lang veranschlagt werden.

Auch wenn bisher noch kein Kernwaffenstaat dem Kernwaffenverbotsvertrag beigetreten ist, könnten sie in Bezug auf vergangene Abrüstungsbemühungen transparenter sein. Diese Informationen könnten als Verhandlungsgrundlage für neue Abkommen dienen. Ein Austausch von Erfahrungen bezüglich sicherer Abrüstung und Zerstörung würde daneben allen beteiligten Staaten sowie ihren Nachbarn helfen, die Abrüstungsprozesse sicherer zu gestalten.

Anmerkung

1) Dieser Text basiert auf einem kürzlich veröffentlichten Artikel von Moritz Kütt und Zia Mian (Kütt und Mian 2019). Der Artikel ist kostenfrei unter https://t1p.de/deadline verfügbar (englische Sprache).

2) Der Vertrag tritt drei Monate nach Hinterlegung der 50. Ratifizierungsurkunde in Kraft.

Literatur

Feiveson, H.A.; Glaser, A.; Mian, Z.; von Hippel, F. (2014): Unmaking the Bomb – A Fissile Material Approach. Cambridge: MIT Press.

International Panel on Fissile Materials (IPFM) (2007): Global Fissile Material Report 2007. Princeton: Princeton University.

Kristensen, H.M.; Korda, M. (2019): Status of World Nuclear Forces. Washington, D.C.: Federation of American Scientists; fas.org.

Kristensen, H.M.; R.S. Norris (2013): Global Nuclear Weapons Inventories, 1945-2013. Bulletin of the Atomic Scientists, Vol. 69, Nr. 5, S. 75-81.

Kütt, M.; Mian, Z. (2019): Setting the Deadline for Nuclear Weapon Destruction under the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. Journal for Peace and Nuclear Disarmament, Vol. 2, Nr. 2, S. 410-430.

Office of Technology Assessment (OTA) (1993): Dismantling the Bomb and Managing the ­Nuclear Materials. Washington, D.C.: United States Congress.

United States Department of Energy (DOE) (1997): Transparency and Verification Options – An Initial Analysis of Approaches for Monitoring Warhead Dismantlement. United States Department of Energy – Office of Arms Control and Nonproliferation.

Vereinte Nationen – Generalversammlung (2017): Vertrag über das Verbot von Kernwaffen (vom 7.7.2017). Die Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen steht unter un.org/Depts/german/conf/a-conf-229-17-8.pdf.

Moritz Kütt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich »Rüstungskontrolle und Neue Technologien« des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Und wenn der Druckkessel platzt?

Und wenn der Druckkessel platzt?

von Regina Hagen

Fünf Monate nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die sich 2020 zum 75. Mal jähren, nahm die Generalversammlung der neu geschaffenen Vereinten Nationen ihre allererste Resolution an: »Einrichtung einer Kommission, die sich mit den Problemen im Zusammenhang mit der ­Entdeckung von Atomenergie befasst« (Res. I(1) vom 26.1.1946). Der Auftrag lautete u.a., einen Vorschlag auszuarbeiten „für die Beseitigung von Atomwaffen und aller anderen Massenvernichtungswaffen aus den nationalen Rüstungsarsenalen“ (Absatz 5c).

Bio- und Chemiewaffen wurden seither geächtet; die entsprechenden Verträge gehören zum anerkannten Kanon des Völkerrechts. Für Atomwaffen wurde der Nichtverbreitungsvertrag abgeschlossen. Er ist jetzt seit 50 Jahren in Kraft, verbietet den fünf damals schon existenten Atomwaffenstaaten aber nicht den Besitz und konnte auch nicht verhindern, dass vier weitere Staaten Atomwaffen besitzen. Es gibt seit 2017 auch einen Vertrag, der Atomwaffen ganz verbietet, mehrere Artikel in diesem Heft beziehen sich darauf. Allerdings ist er noch nicht in Kraft, und die neun Atomwaffenstaaten lehnen den
Vertragsbeitritt ab.

Es stimmt schon, die Zahl der Atomwaffen ist seit der Hochrüstung im Kalten Krieg deutlich gesunken, auf knapp 13.500, wobei die meisten die vielfache Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe haben. Außerdem hat sich der nukleare Rüstungswettlauf wieder beschleunigt. In manchen Atomwaffenländern wird das Arsenal weiter ausgebaut, in allen wird quantitativ aufgerüstet. Am offenkundigsten ist dies bei den Vereinigten Staaten: Die US-Regierung legte gerade ihren Haushaltsentwurf für das Finanzjahr 2021 vor. Dort sind für den Atomwaffenkomplex zwanzig Prozent mehr Gelder als bisher vorgesehen, in
Summe horrende 46 Milliarden US$. Weitere 20 Milliarden US$ sind für Raketenabwehr reserviert. Zur Erinnerung: Der gesamte russische Verteidigungshaushalt liegt bei ca. 60 Milliarden US$. Die US-Journalistin Nahal Toosi bezeichnete Trumps Vorhaben als „Flirt mit neuen Atomwaffen“.

Damit nicht genug, wird Atomwaffen auch an anderer Stelle ein hoher militärischer Macht- oder Statuswert eingeräumt. Der türkische Präsident Erdogan beschwerte sich vergangenen Herbst öffentlich, es sei „inakzeptabel, dass manche Länder über Atomraketen verfügen und die Türkei nicht“. Das Nordatlantische Bündnis beharrt auf »nuklearer Abschreckung«. Beim Gipfel zum 70-jährigen NATO-Jubiläum vergangenen Dezember betonten die Staats- und Regierungschefs erneut: Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die NATO ein nukleares Bündnis.

Auch in Deutschland ist der Wunsch nach dem Zugriff auf die Bombe ein ewiger Wiedergänger. Schon seit Jahren melden sich immer wieder Journalisten und Politikwissenschaftler (ja, lauter Männer!) zu Wort und drängen auf eine deutsche Atombombe, da die »Teilhabe« an den US-Atomwaffen in Büchel nicht auf immer gewährleistet sei. So weit ging Johann Wadephul, Abgeordneter der CDU im Bundestag, nicht. Aber er plädierte am 3. Februar in einem »Tagesspiegel«-Interview für eine deutsche Teilhabe am französischen Atomarsenal. Wir müssen eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei
den Nuklearwaffen ins Auge
fassen. Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen.

Das wirkt wie aus der Zeit gefallen. Die Weltgemeinschaft muss sich auf einen gravierenden Klimawandel einstellen und diesen so gut wie möglich eindämmen. Dafür werden viel zu wenig Mittel bereitgestellt. Stattdessen stecken reiche ebenso wie arme Staaten Geld in ihre Atombewaffnung. Die Lobbygruppe Global Zero berechnete, dass 2011 weltweit 105 Milliarden US$ für Atomstreitkräfte ausgegeben wurden – das waren knapp 300 Millionen US$ am Tag oder 12 Millionen US$ pro Stunde!

Die Expert*innen des Bulletin of the Atomic Scientists, die die »Doomsday Clock« verwalten, rückten den Zeiger der Uhr in den vergangenen zehn Jahren fünf Mal näher an den »doomsday«, den »Jüngsten Tag«, zuletzt am 23. Januar dieses Jahres: von 10 Minuten vor 12 im Jahr 2010 auf nur noch 100 Sekunden vor 12 heute. Sie begründeten dies mit dem Klimawandel, der Rüstungskontroll- und Wissenschaftsignoranz vieler Machthaber und den Risiken aus der Nuklearrüstung, die durch neue Gefahren im Informations- und Cyberraum verstärkt würden. In seinem Statement bei der Vorstellung des neuen Uhrstands
sagte der Militärexperte Robert Latiff: „Es scheint, die Welt ist ein ­Druckkessel. Sie ist ein Hochenergiesystem, und es braucht nur einen einfachen Fehler, irgendwo in einer waffenstrotzenden Welt, dass ein Krieg startet und katastrophal eskaliert.

Lenkt US-Präsident Trump nicht ein und nimmt das russische Angebot an, den New-START-Vertrag um fünf Jahre zu verlängern, entfällt in einem Jahr auch noch der letzte Rüstungskontrollvertrag. Die aktuelle Bundesregierung erklärte im Koalitionsvertrag: „Ziel unserer Politik ist eine nuklearwaffenfreie Welt. Sie soll ­endlich mutige Maßnahmen ergreifen, um diesem Ziel näher zu kommen. Ein erster Schritt dorthin könnte sein, wenigstens unser eigenes Land, Deutschland, endlich atomwaffenfrei zu machen. Nukleare Teilhabe passt dazu nicht.

Ihre Regina Hagen

Weitere Eskalation mit Iran vermeiden

Weitere Eskalation mit Iran vermeiden

von Kathrin Vogler

Noch ist es ein Krieg der Wörter. Trump drohte im Mai: Wenn der Iran kämpfen will, wird das das offizielle Ende des Iran sein. Irans ­Präsident Rohani warnte den US-Präsidenten kürzlich vor der „Mutter aller Kriege.

Erleben wir gerade das dramatische Scheitern aller hoffnungsvollen Bestrebungen, den Iran als Verhandlungspartner zu halten und das Pulverfass Mittlerer Osten zu entschärfen? Es ist bekannt, dass der Iran auf der US-amerikanischen Regime-Change-Agenda seit den 1980er Jahren ganz oben steht. Aus dieser Per­spektive hatte das Iran-Abkommen (Joint Comprehensive Plan of Action) den Nebeneffekt, einer drohenden US-Intervention vorzubeugen. Aber die Multilateralismus-Aversion der Trump-Regierung ließ sich auf diesem Weg nicht einhegen. Außenminister Mike Pompeo, der gerade für eine weltweite
Kriegskoalition gegen den Iran wirbt, bezeichnete den JCPoA schon 2015 als „skrupellose Vereinbarung“; sie sei „keine Außenpolitik, sondern eine Kapitulation“.

Jetzt schlägt sich der neue britische Premierminister Boris Johnson auf die Seite der USA und will die Militäraktion »Sentinel« in der Straße von Hormus mit eigenen Kriegsschiffen unterstützen. Dies hat primär wirtschaftspolitische Gründe: Ein Post-Brexit-Großbritannien wird noch mehr als bisher auf gute Handelsbeziehungen mit den USA angewiesen sein. Zugleich zerreißt Johnson damit aber das europäische Bündnis, das sich für das Zustandekommen des JCPoA eingesetzt hatte. Nach jahrelangen Verhandlungen verpflichtete sich der Iran 2015, alles Nuklearmaterial im Land ausschließlich zu
friedlichen Zwecken zu verwenden und nichts zu tun, was dieser Vereinbarung zuwider laufen könnte. Im Gegenzug sollten die Sanktionen gegen den Iran nach und nach aufgehoben werden. Bis Ende 2018 erstellte die IAEA zwölf Quartalsberichte über ihr „weltweit robustestes“ Monitoring und bestätigte, dass der Iran sich an die JCPoA-Vereinbarungen hielt.

Seit die Trump-Regierung im Mai 2018 den JCPoA kündigte und ihre Iran-Sanktionen wieder verschärfte, brach die Wirtschaft im Iran drastisch ein. Das führt zu innenpolitischen Verwerfungen, die die radikalen Kräfte im Iran stärken und die Position des immer noch verhandlungsbereiten Rohani schwächen. Durch den Verfall des Rial werden lebenswichtige Medikamente knapp, sogar Betäubungsmittel für Opera­tionen fehlen. Die Bevölkerung leidet unter Wassermangel, Stromausfällen, überteuerten Lebensmitteln und wachsender Korruption. Der Iran steht kurz vor der Implosion. Inzwischen hat die
iranische Atomindustrie nach eigenen Angaben wieder begonnen, Uran über das JCPoA-Limit von 3,67 Prozent hinaus anzureichern.

Umso frustrierender ist die Schockstarre, mit der die Bundesregierung auf die Trump‘sche Kriegshetze und dessen Strategie des »maximalen Drucks« reagiert. Sie hatte für den JCPoA als wichtiges Instrument der Rüstungskontrolle und Krisenbewältigung im Mittleren Osten geworben und erklärt bis heute, daran festhalten zu wollen. Aber es fehlt die Bereitschaft, den USA mit klaren Worten und Taten in die Parade zu fahren, zum Beispiel durch die längst überfällige Implementierung der Zweckgesellschaft INSTEX zur Aufrechterhaltung des Geld- und Warenhandels zwischen europäischen Unternehmen und dem
Iran. Auch wären deutliche Ansagen nötig, dass im Kriegsfall die US-militärische Infrastruktur in Deutschland, insbesondere die Air Base Ramstein, nicht für Einsätze gegen den Iran genutzt werden darf und der deutsche Luftraum für US-Militärflüge Richtung Iran gesperrt wird. Trump selbst müsste mit maximalem Druck dazu gebracht werden, seine Suche nach einem Kriegsanlass und die verheerende Sanktionspolitik gegen den Iran einzustellen, damit Rohani wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrt und der JCPoA gerettet werden kann. Befremdlich ist, dass diese Option im politischen Diskurs kaum
noch ein Thema ist. Stattdessen fordert Außenminister Maas jetzt eine europäische Beobachtermission zum Schutz der Handelsschiffe im Persischen Golf. Damit wäre die EU, bisher federführend für das Iran-Abkommen, als Friedensstifterin diskreditiert; ein Militäreinsatz vor der iranischen Küste würde die ohnehin völlig überrüstete Region noch näher an den Rand eines Krieges bringen.

Es gibt nur einen wirksamen Schutz für die Handelsschiffe im Golf und für die Bevölkerung im Mittleren Osten: die Wiederaufnahme politischer Verhandlungen und Frieden. Dazu bekennt sich u.a. der Verband Deutscher Reeder, der gerade an die Bundesregierung appelliert: „Bitte alles vermeiden, was zu einer weiteren Eskalation führt, das hilft keinem.

Kathrin Vogler, MdB, ist Friedenspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Obfrau im Unterausschuss Zivile Krisenprävention.

Vintage-Verifikation

Vintage-Verifikation

Retrocomputer für Abrüstungsverifikation und eine kernwaffenfreie Welt

von Moritz Kütt und Alex Glaser

Im Rahmen einer zukünftigen Abrüstung von Kernwaffen müssen Sprengköpfe vor ihrer Zerlegung als authentische Sprengköpfe bestätigt werden. Das erfordert vertrauenswürdige Messsysteme, die diese Identifikation anhand von radio­aktiven Signaturen vornehmen können. Verschiedene solche Systeme existieren, bei allen ist jedoch die vertrauenswürdige Datenverarbeitung problematisch. Eine neuer Vorschlag für ein Messsystem basiert auf der Nutzung von Retrocomputern. »Information Barrier eXperimental II« ist ein Prototyp eines solchen Systems zur Gammaspektroskopie auf Basis eines Apple IIe mit MOS-6502-­Prozessor.1

Kernwaffen sind wieder in aller Munde, und Experten schätzen das weltweite Risiko eines Einsatzes höher ein als in den letzten zwei Jahrzehnten – oder gar seit der Kubakrise vom Oktober 1962. Erst im Januar dieses Jahrs hat das renommierte »Bulletin of the Atomic Scientists« die »Doomsday Clock« auf zwei Minuten vor Mitternacht vorgestellt. Die Uhr beschreibt die Nähe der Welt zu einer globalen Katastrophe. Die neue Zeigerposition reflektiert die wachsende Bedrohung durch ein nuklear bewaffnetes Nordkorea, aber auch die öffentlichen Drohungen eines Kernwaffeneinsatzes durch US-Präsident Trump und die angespannten Beziehungen zwischen Russland und den USA.

Gleichzeitig zeigt die »Doomsday Clock« aber auch Versäumnisse der letzten Jahre auf. Es existieren immer noch rund 15.000 Kernwaffen im Besitz von neun Ländern. Die USA und Russland besitzen mit je rund 7.000 Sprengköpfen den größten Anteil. Die Arsenale der anderen Staaten – Frankreich, Großbritannien, China, Israel, Pakistan, Indien und Nordkorea – sind deutlich kleiner. Es ist jedoch klar, dass auch ein sehr begrenzter Einsatz von Kernwaffen zu einer globalen Katastrophe führen würde, mit massiven klimatischen Auswirkungen durch den Nuklearen Winter und nie dagewesenen humanitären Konsequenzen sowohl für direkt betroffene Regionen als auch den Rest der Welt. Die komplette Abrüstung dieser Waffen ist nötig, vielleicht nötiger denn je.

Bestrebungen zur Rüstungskontrolle und Abrüstung gibt es prinzipiell seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die USA noch über ein Monopol über diese neuartigen Waffen verfügten. Das wichtigste Vertragswerk ist der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), der 1970 in Kraft trat. Er verbietet die Entwicklung von Kernwaffen für Länder, die keine Kernwaffen besitzen (Nichtkernwaffenstaaten). Daneben definiert der Vertrag Kernwaffenstaaten, für die der Besitz von Kernwaffen weiterhin erlaubt bleibt (USA, Großbritannien, China, Frankreich, Russland). Kernwaffenstaaten verpflichten sich aber auch zur nuklearen Abrüstung, wenn auch ohne konkreten Zeitplan. Weitere Verträge sind der noch nicht in Kraft getretene Kernwaffenteststopp-Vertrag sowie bilaterale Vereinbarungen zwischen den USA und Russland.

In den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es eine kurze Periode, in der weitreichende Fortschritte im Bereich der nuklearen Abrüstung möglich schienen. In diesen Jahren haben sowohl Russland als auch die USA Teile ihrer Kernwaffen-Arsenale abgerüstet und auch die Bestände an Waffenmaterialien reduziert. In der jüngeren Vergangenheit hat sich diese Entwicklung jedoch wieder eher umgekehrt. Nordkorea, Indien und Pakistan sind in den letzten 20 Jahren als neue Kernwaffenstaaten hinzugekommen. Aktuell rüstet insbesondere Nordkorea auf, indem es neben Sprengköpfen auch Tests von Langstreckenraketen durchführt, die diese Kernwaffen zu weit entfernten Zielen bringen könnten. Auch alle anderen Kernwaffenstaaten sind weit von ernsthaften Abrüstungsschritten entfernt; vielmehr modernisieren sie ihre aktuellen Arsenale, um sie für die nächsten Jahrzehnte bereit zu machen, und führen neue Waffengattungen ein.

Vor diesem Hintergrund gab es 2017 einen Lichtblick: Ein neuer internationaler Vertrag zum vollständigen Verbot von Kernwaffen (Ban Treaty) ist erfolgreich verhandelt worden. Der Vertrag ist ein Versuch, eine existierende Regelungslücke zu füllen und Kernwaffen als letzte Kategorie von Massenvernichtungswaffen zu verbieten. Die Verhandlungen bauten auf Ergebnissen von drei internationalen Konferenzen auf, bei denen die humanitären Konsequenzen des Einsatzes von Kernwaffen diskutiert wurden. Die Nichtregierungsorganisation ICAN (Internationale Kampagne zur Abrüstung von Kernwaffen) spielte bei den Konferenzen und den Vertragsverhandlungen eine wichtige Rolle. Ihre Arbeit des letzten Jahrzehnts wurde durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Organisation im Dezember 2017 gewürdigt. Derzeit haben 56 Staaten den Verbotsvertrag unterzeichnet, 90 Tage nach der Ratifikation des Vertrags durch den fünfzigsten Staat wird der Vertrag in Kraft treten. Die Staaten, die Kernwaffen besitzen, sind den Vertragsverhandlungen erwartungsgemäß ferngeblieben. Auch fast alle NATO-Mitgliedsstaaten fehlten, Deutschland inklusive.2

Trotz grundsätzlicher Befürwortung von nuklearer Abrüstung sieht Deutschlands Politik aktuell weiterhin eine Rolle für Kernwaffen im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft vor. Das zeigt sich unter anderem durch die Stationierung von 20 amerikanischen taktischen Nuklearwaffen auf einem Bundeswehrstützpunkt in Büchel, Rheinland-Pfalz. In der Vergangenheit forderten Politiker unterschiedlicher Parteien (etwa Guido Westerwelle als Außenminister oder Martin Schulz als Kanzlerkandidat) den Abzug dieser Waffen. Ein solcher Beschluss, möglicherweise verbunden mit dem Beitritt zum Kernwaffenverbotsvertrag, würde ein deutliches Zeichen setzen und könnte auch den Beitritt einiger weiterer Staaten zum Verbotsvertrag einleiten.

Zentrale Komponente für weitere Schritte zur nuklearen Abrüstung ist die Verifikation der einzelnen Schritte. Durch solche Verifikationsmaßnahmen wird die Einhaltung der Verpflichtungen einzelner Staaten im Rahmen von internationalen Verträgen überprüft. Eine solche Überprüfung wird in der Regel durch andere Staaten oder internationale Organisationen vorgenommen, auch eine Überprüfung durch die allgemeine Bevölkerung ist vorstellbar (Societal Verification). Dabei gibt es verschiedene Herausforderungen. Es muss insbesondere sichergestellt werden, dass Staaten, auch solche ohne Kernwaffen, kein kernwaffenfähiges Spaltmaterial für militärische Zwecke erzeugen oder es aus dem zivilen Kernenergiesektor entnehmen. Abzurüstende Sprengköpfe müssen vor ihrer Zerlegung als wirkliche Sprengköpfe authentifiziert werden. Während und nach der eigentlichen Zerlegung muss eine lückenlose Kontrollkette gewährleistet werden, um Rückführungen von Sprengköpfen oder deren Bestandteilen in den militärischen Bereich zu vermeiden.3

Sprengköpfe prüfen

Die von uns vorgestellte Technologie adressiert Probleme bei der Sprengkopf-Authentifizierung. Die Verfahren haben ein grundsätzliches Problem: Durch die Messungen werden Informationen enthüllt, die Kernwaffenstaaten als extrem sensitiv ansehen. Solche Messungen würden insbesondere das Design einer Kernwaffe preisgeben und ggf. auch auf mögliche Schwachstellen hinweisen. Zudem werden bei erweiterten Abrüstungsverträgen in Zukunft weitere Staaten Teil dieser Verifikationsbemühungen werden, im Rahmen des »Ban Treaty« beispielsweise auch Staaten, die selbst keine Kernwaffen besitzen.

Kernwaffen lassen sich eigentlich vergleichsweise leicht anhand der von ihnen emittierten radioaktiven Strahlung identifizieren. Es gibt zwei unterschiedliche Verfahren: Beim Attributverfahren werden vor den Messungen gewisse Eigenschaften vereinbart, die dann durch die Messung ermittelt werden. Ein solches Attribut könnte beispielsweise die Anwesenheit von Plutonium sein; ein weiteres Attribut könnte eine festgelegte Untergrenze bestätigen, beispielsweise: Enthält das inspizierte Objekt mehr als zwei Kilogramm Plutonium? Beim Template-Verfahren findet die Identifizierung durch Vergleich statt. Ein Objekt wird als Muster bestimmt, alle anderen Objekte damit verglichen. Dabei ist wichtig, die Herkunft und Authentizität des Musters zuverlässig zu bestimmen, etwa durch zufällige Auswahl eines Sprengkopfs von stationierten Systemen durch Inspektoren.

Beide Ansätze werden typischerweise durch Informationsbarrieren ergänzt. Das sind Geräte, die komplexe Informationen verarbeiten und anschließend nur limitierte Informationen preisgeben. Eine solche limitierte Information könnte etwa »Sprengkopf/Kein Sprengkopf« sein, häufig dargestellt durch grüne und rote LEDs. Die Analyse der komplexen Informationen erfolgt durch Datenverarbeitungssysteme. Wichtigste Voraussetzung für die Nutzung von Informationsbarrieren ist, dass beide Parteien Vertrauen in die Geräte haben. Die inspizierte Partei (Host) hat dabei ein Interesse daran sicherzustellen, dass keine sensitiven Informationen preisgegeben werden. Das könnte entweder absichtlich (etwa durch einen Nebenkanal) oder durch eine Fehlfunktion des Instruments geschehen. Die inspizierende Partei (Inspektor) fordert, dass die Informationsbarriere keinen Betrug zulässt und dass die angezeigten Ergebnisse die Realität korrekt wiedergeben. So könnte ein »Hidden Switch« nur dann aktiviert werden, wenn das Gerät unter bestimmten Bedingungen verwendet wird; überprüft der Inspektor das Gerät früher oder später an einem anderen Ort, würde es einwandfrei funktionieren.

Einige Gründe erschweren die Entwicklung von Informationsbarrieren: Es sind vorab wenige Informationen über das zu messende Objekt bekannt; der Host hat quasi unendliche Ressourcen, um einen Betrug zu vertuschen; und die Motivation zum Betrug ist hoch, denn bei Erfolg könnte der Host eigentlich abgerüstete Kernwaffen weiter besitzen. Ein weiteres Problem ist, dass nach bisherigem Stand die Hardware nach Messung an Kernwaffen beim Host verbleibt. Das schließt eine nachträgliche Überprüfung der Messelektronik durch Dritte aus.

Einige Prototyp-Informationsbarrieren wurden in den letzten Jahrzehnten entwickelt, die meisten als Forschungsarbeiten von US-amerikanischen Kernwaffenlabors. Teilweise wurden sie in Kooperation mit russischen Experten entwickelt und erprobt. Das erste und bisher einzige System, dass aus einer Kooperation eines Kernwaffenstaats und eines Nichtkernwaffenstaats hervorgegangen ist, wurde von Norwegen und Großbritannien im Rahmen der »UK-Norway Initiative« entwickelt. Die jeweiligen Entwicklungen unterscheiden sich, insbesondere bei verwendeten Mikroprozessoren und den angeschlossenen Detektoren. Trotz der zentralen Rolle solcher Geräte bei der Abrüstung gibt es jedoch bisher keine zufriedenstellenden Lösungen.

Verifikation mit einem Retrocomputer

Wir schlagen daher ein alternatives Messsystem vor, das wir »Vintage Verification« nennen. Dabei werden alle informationsverarbeitenden Teile (wie Mikroprozessoren) durch alte oder klassische Hardware ersetzt (Retrocomputer). Alt in diesem Sinne ist Hardware aus den 1970er und 1980er Jahren, als der Einsatz von integrierten Schaltkreisen und Mikroprozessoren in großem Umfang begann. Solche Hardware wäre deutlich vertrauenswürdiger als moderne Elektronik. Das hat vor allem zwei Gründe. Erstens ist solche Hardware tausendfach (oder gar millionenfach) weniger leistungsfähig. Die Implementierung betrügerischer Funktionen wird dadurch deutlich erschwert, da die Rechenleistung für solche Funktionen gar nicht zur Verfügung steht. Zweitens ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Mikroprozessor, der vor rund 40 Jahren gefertigt wurde, damals schon im Rahmen der Fertigung mit geheimen Betrugsfunktionen ausgestattet wurde, die speziell auf die heutige Anwendung der Abrüstungsverifikation abzielen.

Durch die Entwicklung der im Folgenden vorgestellten »­Information Barrier eXperimental II« (IBX II) wollen wir zeigen, dass es möglich ist, mit Retrocomputern funktionsfähige Informationsbarrieren zu konstruieren. Unser Prototyp basiert auf einem Apple IIe sowie zwei neu entwickelten Erweiterungskarten (siehe Abb. 1).4 Die IBX II kann zwei Objekte mit Hilfe des Template-Verfahrens als identisch oder nicht identisch klassifizieren. Wir nehmen dazu ein Gammaspektrum mit einem Sodium-Iodid-Szintillationskristall und zugehörigem Photomultiplier auf. Das ist seit vielen Jahrzehnten handelsübliche Hardware für solche Messungen. Die vergleichsweise niedrige Messauflösung kommt weiterhin dem Schutz sensitiver Informationen entgegen.

Die Datenverarbeitung der IBX II wird von einem Apple IIe durchgeführt. Dieser Heimcomputer, ursprünglich 1977 auf den Markt gebracht (zunächst in Version Apple II), wurde bis 1993 verkauft. Der Apple II kann als einer der hackerfreundlichsten Massencomputer seiner Zeit angesehen werden und war sicherlich das letzte hackbare Gerät aus dem Hause Apple. Im Rahmen des Designs kam es zu einem Streit zwischen den beiden Unternehmensgründern Steve Jobs und Steve Wozniak. Jobs wollte das System nur mit zwei Erweiterungssteckplätzen ausstatten. Wozniak dagegen plädierte für acht Steckplätze, für möglichst viele von Nutzern gebaute Erweiterungskarten. Er konnte sich durchsetzen, und die Nutzergemeinde entwickelte tatsächlich viele Erweiterungskarten über Modem und Drucker hinaus – bis heute.

Herz des Apple IIe ist der MOS-6502-Mikroprozessor. Dieser 8-Bit-Prozessor wurde 1975 vorgestellt, im Apple IIe läuft er mit 1 MHz. Der Prozessor war schon zu damaliger Zeit deutlich einfacher entworfen als andere Prozessoren (wie der Intel 8080 oder der Z80) und besitzt nur 3.510 Transistoren. Trotz oder gerade wegen des einfachen Layouts und nur 56 Befehlen war er relativ leistungsfähig und robust. Der Prozessor wird bis heute produziert, und der aktuelle Hersteller Western Design Center schätzt, dass weltweit bis zu zehn Milliarden Einheiten dieses Chips produziert wurden. Der Prozessor ist heute quasi »Open Hardware«. Obwohl originale Designentwürfe nicht verfügbar sind, wurde die Struktur in mehreren Reverse-Engineering-Projekten ermittelt. Besonders hervorzuheben ist dabei die Arbeit von Visual 6502,5 die die elektrische Struktur durch hochauflösende Fotografien des Chips bestimmt haben. Monster 6502 hat ein funktionierendes Modell des Prozessors im Maßstab 7.000:1 nachgebaut.6

Funktionsweise der IBX II

Die erste von uns für die IBX II entwickelte Erweiterungskarte versorgt den Photomultiplier mit der benötigten Hochspannung (1.000 V). Sie basiert auf einer einfachen Digital-Analog-Konverter-Schaltung mit R2R-Netzwerk. Damit kann durch Software die Ausgangsspannung gesteuert werden, etwa um sie langsam von 0 auf 1.000 V zu steigern bzw. am Ende wieder abzusenken und so das angeschlossene Gerät zu schonen.

Die zweite Karte (ADC-Karte) dient der Datenaufbereitung und -digitalisierung und nutzt einen 12-Bit Analog-Digital-Konverter (ADC) des Typs AD1674 zur Digitalisierung. Ein Gammaspektrum zeigt die Häufigkeiten, mit denen Gammazerfälle bestimmter Energien gemessen werden (siehe Monitoranzeige in Abb. 2). Einzelne Gammastrahlen, die im Szintillatorkristall detektiert werden, führen zum Aufbau von Ladung am Ausgang des Photomultipliers. Diese Ladung wird von der entwickelten Messkarte in einen Spannungspuls umgewandelt. Die Energie des Gammateilchens ist proportional zur Höhe dieses Pulses. Um daraus ein Gammaspektrum zu erzeugen, wird die Anzahl der Pulse in unterschiedlichen Energiebereichen (Kanälen) über eine gewisse Zeit gezählt. Der Datenaufbereitungsteil der ADC-Karte verstärkt ankommende Pulse und verändert die zeitliche Form der Pulse, um eine bessere Digitalisierung zu ermöglichen. Eine Peak-Detect-And-Hold-Schaltung erkennt neue Pulse und gibt ein Signal an den Analog-Digital-Konverter, um einen Konvertierungsprozess zu starten. Während dieses Prozesses hält die Schaltung die Spannung am Eingang des ADC konstant auf der Höhe der Spitze des Pulses. Nach Abschluss der Konvertierung steht ein digitaler Wert am Ausgang des ADC bereit und lässt sich durch Software auslesen. Software sortiert auch in die Kanäle.

Um die beiden Karten anzusteuern, nutzen wir ein 6502-Assembler-Programm. Eine Inspektion verläuft in vier Schritten: Zunächst wird die Hochspannung eingeschaltet, dann ein Gammaspektrum des Templates aufgenommen. Anschließend kann ein Gammaspektrum eines zu inspizierenden Objekts aufgenommen werden. Im letzten Schritt werden beide Spektren verglichen. Für diesen Vergleich werden die Daten der Spektren in je nur 12 Kanäle zusammengefasst. Die resultierenden Verteilungen werden dann mit einem Chi-Quadrat-Test verglichen. Ist das Resultat kleiner als ein Schwellwert, wird von einer hohen Ähnlichkeit ausgegangen, der Vergleich ist erfolgreich. Ansonsten ist er nicht erfolgreich. Das jeweilige Ergebnis wird entweder am Bildschirm oder über Leuchtdioden ausgegeben. Drei Faktoren beeinflussen die erzielbare Zählrate: Peak-Detect-and-Hold (dauert etwa 10-15 µs), Digitalisierung (10-15 µs) und Verarbeitung mit 6502 (35-50 µs). Nach maximal 100 µs ist das Signal aufgenommen, vom 6502 verarbeitet und in den Speicher geschrieben. Theoretisch sind mit der IBX II also bis zu 10.000 Ereignisse pro Sekunde messbar. Typischerweise betreiben wir die IBX II in einem Bereich von 2.000 Ereignissen pro Sekunde. Ein Spektrum kann in 1-2 Minuten aufgenommen werden.

Als Teil des Entwicklungsprozesses haben wir zu Testzwecken einen existierenden Apple-II-Emulator (LinApple) so erweitert, dass er auch die Funktion der beiden Erweiterungskarten enthält. Damit konnten Programmentwicklung und -tests an einem modernen Rechner durchgeführt werden. Interessierte, die unsere Arbeit testen wollen, aber nicht über die notwendige Hardware verfügen, bietet der Emulator einen guten Startpunkt (siehe Endnote 4).

Durch Entwicklung und Test der beiden Erweiterungskarten konnten wir zeigen, dass die Idee, alte Hardware zu benutzen, grundsätzlich funktionieren kann. Bisher noch als Erweiterungskarten im selbst relativ komplexen Apple IIe lässt sich ein ähnliches Design in Zukunft auch auf ein einfacheres 6502-basiertes System anpassen. So ist eine Informationsbarriere vorstellbar, die neben der Hardware der Erweiterungskarten nur einen 6502, etwas ROM für die Software und ausreichend RAM für das Template enthält. Weitere Schritte in Zukunft sind eine Optimierung des Assembler-Programms, aber auch der entwickelten Hardware. Gleichzeitig sollte versucht werden, möglichst verschiedene Wege zu finden, mit denen Alter bzw. Authentizität des verwendeten Mikroprozessors nachgewiesen werden können. Dafür sind nicht-destruktive Methoden, etwa Röntgenmikroskopie, und destruktive Methoden vorstellbar.

Gerne nehmen wir Ideen und Hinweise von anderen auf. Auch wenn noch einige Schritte zu tun sind, hoffen wir, dass unser hier vorgestelltes Projekt ein kleiner Beitrag auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt ist.

Anmerkungen

1) Inhalte dieses Artikels wurden auf dem 34c3 vorgetragen.

2) Bis zum 26.9.2018 haben 67 Staaten den Vertrag unterzeichnet, 19 ratifiziert. Zu verschiedenen Aspekten des Verbotsvertrags wurde in den vergangenen Ausgaben von W&F ausführlich berichtet. [die Red.]

3) Zu unterschiedlichen Aspekten der Verifikation nuklearer Abrüstung wird W&F 1-2019 ein mit dem Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) gemeinsam realisiertes W&F-Dossier beiliegen. [die Red.]

4) Software, Hardware Design und modifizierter Emulator verfügbar unter vintageverification.org.

5) Siehe visual6502.org.

6) Siehe monster6502.com.

Alex Glaser und Moritz Kütt sind Friedensforscher und Aktivisten für eine Welt ohne Kernwaffen. Beide sind Physiker und arbeiten am Nuclear Futures Laboratory (nuclearfutures.princeton.edu) und dem Program on Science and Global Security (princeton.edu/sgs/) der Princeton University in den USA. Ihre Forschung behandelt Verifikationstechnologien für Rüstungskontrolle und damit zusammenhängende politische Fragen. Aktuelle Projekte sind unter anderem: Nukleare Archäologie, Zero-Knowledge-Protokolle, Virtual Proofs of Reality, Roboterinspektionen, Disco-Verifikation und Open-Source-Informationsbarrieren für Sprengkopf-Authentifizierung. Für viele der Projekte entwickeln sie eigene Software und Hardware und nutzen Ideen aus der Maker-/Hacker-Szene.

Dieser Artikel erschien in FifF-Kommunikation 1/2018. W&F dankt für die Nachdruckrechte.

Zerstörer Trump


Zerstörer Trump

von Jürgen Nieth

Am 22. Oktober 1983 demonstrierte über eine Million Menschen in Bonn, Hamburg und bei der Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in der BRD und die Stationierung sowjetischer SS20 in der DDR. Die Regierung Kohl-Genscher ließ trotzdem stationieren. Mit einem bilateralen Abkommen (dem INF-Vertrag) zwischen den USA und der Sowjetunion – die anderen Atomwaffen besitzenden Staaten waren nicht einbezogen – wurde 1987 vereinbart, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verschrotten und keine neuen zu beschaffen. 1.846 russische und 846 US-amerikanische Trägersysteme wurden zerstört. Das Abkommen galt „als Meilenstein der Rüstungskontrolle im Kalten Krieg“ (Hubert Wetzel, SZ 22.10.18, S. 6).

Fast auf den Tag genau 35 Jahre später, am 20. Oktober 2018, teilte US-Präsident Trump mit, er wolle den INF-Vertrag aufkündigen. Wie bei dem Nuklearabkommen mit dem Iran macht Trump auch hier die Gegenseite verantwortlich.

Schuldzuweisungen

Trump sagt, der russische Präsident Wladimir Putin habe das Abkommen „leider nicht eingehalten. Also werden wir die Vereinbarung beenden und dann werden wir die Waffen entwickeln.“(Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) Es geht um den russischen Marschflugkörper 9M729, NATO-Bezeichnung SS-C-8, der eine Reichweite von 2.600 km haben soll. „Moskau weist diesen Vorwurf zurück mit der Erklärung, dieser Marschflugkörper sei ausschließlich für die Stationierung auf See vorgesehen und falle daher nicht unter das INF-Abkommen. Umgekehrt behauptet Russland die USA würden mit ihren von der Nato unterstützten Raketenabwehrsystem gegen das INF-Abkommen verstoßen – konkret mit der bereits erfolgten Stationierung von Abwehrraketen im rumänischen Deveselu und in Polen.“ (Andreas Zumach, taz 23.10.18, S. 3) Dazu Michael Stabenow und Katharina Wagner in der FAZ (22.10.18, S. 2): „Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik verwenden die Vereinigten Staaten in Rumänien tatsächlich Senkrechtstartanlagen, die geeignet seien, seegestützte Marschflugkörper abzufeuern. Da diese Anlagen sich nun an Land befänden, seien die russischen Anschuldigungen, es handele sich um einen Vertragsbruch seitens Washingtons, ‚aus technischer Sicht schwer zu entkräften‘.“

China im Visier?

Mehrere Kommentator*innen unterstreichen die Rolle von Trumps Sicherheitsberater, John Bolton, bei der geplanten INF-Kündigung. Dazu Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4): „Bolton ist seit jeher ein Gegner dieses und eigentlich aller Abrüstungsabkommen […] [Er] will neue Atomwaffen nicht nur, um Russland abzuschrecken, sondern auch den neuen Rivalen China. Das Land ist kein Partner des INF-Vertrages, und seine Aufrüstung – auch mit Raketen solcher Reichweite – versetzt die USA und Russland gleichermaßen in Sorge.“ Auch für Knut Mellenthin lässt der Kontext der trumpschen „Bemerkungen darauf schließen, dass der US-Präsident zunächst Neuverhandlungen mit Russland erzwingen will, in die auch China hineingezogen werden soll“ (jw 22.10.18, S. 1). Für Hubert Wetzel (SZ 22.10.18, S. 6) ist aber die „Wahrscheinlichkeit, dass auch China dem INF-Vertrag beitritt und das Abkommen so erhalten und erweitert werden könnte, […] gleich null.

Wachsende Kriegsgefahr

In allen hier zitierten Zeitungen wird vor einem Ende des INF-Vertrages gewarnt: „Dieses Abkommen, das auch von Russland schon in Frage gestellt wurde, ist es in jedem Falle wert, verteidigt zu werden. Es bietet einen Rahmen zur gegenseitigen Kontrolle.“ (Reinhard Müller, FAZ 22.10.18, S. 1) Kommt es zur Kündigung des INF-Vertrages „kann es über Nacht um Sein oder Nichtsein gehen. Ballistische Raketen mit Mehrfachsprengköpfen und Cruise Missiles, die dem Gelände folgen, tragen in sich ein Potenzial für Konfrontation, Krieg, Atomkrieg, das man nicht ernst genug nehmen kann.“ (Michael Stürmer, Welt 22.10.18, S. 1) „Großes gerät ins Rutschen. Eine neue Spirale der Aufrüstung mit den verheerendsten jemals entwickelten Waffen droht.“ (Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) „Ein Ende des Vertrages wäre ein Desaster – ganz besonders für die Deutschen.“ (Rainer Pörtner, StZ 23.10.18, S. 1) „Das Thema atomare Abrüstung gehört auf den Verhandlungstisch. Das muss eine der wichtigsten Prioritäten für die Sicherheitspolitik werden. Zu viel steht auf dem Spiel, und zwar nicht nur bei den Mittelstreckenraketen. Auf beiden Seiten laufen längst mit aberwitzigen Kosten Modernisierungsprogramme für die Atomwaffen aller Größen (auch für die 20 Sprengköpfe, die noch in Deutschland stationiert sind), verbunden mit der Entwicklung neuer Trägerwaffen – Raketen, Bomber, U-Boote.“ (Werner Sonne, FR 23.10.18, S. 3) „Mit der Drohung eines Rückzugs aus dem INF-Abkommen zielt Trump auf Russland, meint China – trifft aber vor allem Europa.“ (Marina Kormbaki, FR 23.10.18, S. 11)

Selbständige EU-Außenpolitik

„Trump hat bereits mehrere internationale Abkommen aufgekündigt, ohne etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen […] Die Welt des amerikanischen Präsidenten ist nicht die, die Europa will“, schreibt Rainer Pörtner (StZ 23.10.18, S. 1). Bettina Gaus geht in der taz (23.10.18, S. 1) noch einen Schritt weiter: „Europa kann es sich nicht mehr leisten, alleine auf die USA als Schutzherrin zu vertrauen. Es muss endlich den Weg zu einer eigenen, selbständigen Außenpolitik finden – so verunsichernd das auch sein mag. Wie wäre es mit einem russisch-europäischen Gipfel­treffen?“ Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4) nimmt Bezug auf die Situation der 1980er Jahre: „Heute sollten Politik und Bürger sich einig sein: Neue US-Atomwaffen kommen nicht nach Deutschland.“ Auch Olaf Standke (ND 23.10.18, S. 1) sieht die Bundesregierung gefordert: „So ist der INF-Streit auch eine Aufforderung an die Bundesregierung, sich endlich vom Konzept der nuklearen Teilhabe in der Nato zu verabschieden und auf den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland zu drängen.“

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, ND – Neues Deutschland, StZ – Stuttgarter Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung