Next Stop New York 2010

Next Stop New York 2010

Hintergründe zu den NVV-Verhandlungen

von Regina Hagen, Xanthe Hall, Jens Heinrich, Jens-Peter Steffen und Wolfgang Schlupp-Hauck

Beilage zu Wissenschaft und Frieden 2/2010 Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei« und der Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V.

Ist da was?

Eine UNO-Konferenz in New York, weit weg und dann auch noch zu einem Thema, das so sperrig klingt: »nuklearer Nichtverbreitungsvertrag«. Wen interessiert das schon? Konferenzen finden laufend statt, am Ende kommt doch nicht viel raus. Und wenn, werden die Ergebnisse eh nicht umgesetzt. Verschwendete Flugkilometer, Zeit und (Steuer-) Gelder.

Worum es geht, ist außerdem kaum zu verstehen – zu komplex das Thema. Wenn Obama und die Diplomaten das nicht hinkriegen, ich kann da gar nichts tun.

Solche Kommentare hören wir häufig, wenn wir in der Friedensbewegung und unserem privaten, beruflichen und politischen Umfeld dafür werben, sich für die Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zu interessieren, die vom 3. bis 28. Mai in New York im Hauptquartier der Vereinten Nationen abgehalten wird. Doch diese Haltung ist fatal.

Wie bei anderen brennenden Fragen – seien es Klimawandel, gerechte Weltwirtschaft oder Kernenergie – bewegen sich die Regierungen nur dann, wenn sie Druck von den WählerInnen spüren. Druck setzt Aktion voraus. Dazu gehört das Unterschreiben von Appellen ebenso wie eine breite Präsenz der Zivilgesellschaft bei der NVV-Überprüfungskonferenz und kompetente Berichterstattung in den Medien.

Das setzt Hintergrundwissen voraus. Dies wollen wir mit diesem Dossier liefern. Wir wünschen interessante Lektüre – und dann gute Ideen für Berichterstattung und Aktion.

Für die HerausgeberInnen · Regina Hagen

zum Anfang | Zur Geschichte des Nichtverbreitungsvertrags

…und der Rolle der Bundesrepublik Deutschland

von Regina Hagen

Es fehlten nur wenige Tage zum 25. Jahrestag der Kernwaffeneinsätze der USA auf zwei japanische Städte, als 1970 der nukleare Nichtverbreitungsvertrag in Kraft trat. Knapp zehn Jahre zuvor sah der damalige US-Präsident J.F. Kennedy mit Sorge, dass immer mehr Staaten der Zugriff auf »die Bombe« gelang. Innerhalb von 10 bis 20 Jahren könnte es bis zu 30 Kernwaffenstaaten geben, war die Prognose. Einer davon könnte Westdeutschland sein. Die Bemühungen um eine völkerrechtliche Vereinbarung zur Nichtverbreitung waren schwierig, und Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle.

Der Versuch der Völkergemeinschaft, die Verbreitung von Kernwaffen einzudämmen, begann noch unter dem frischen Eindruck des Einsatzes von Kernwaffen auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945. Die allererste Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) beschloss kurz nach Gründung des Staatenbundes am 24. Januar 1946 die Schaffung einer »Kommission zur Befassung mit den Problemen, die sich aus der Entdeckung der Atomenergie ergeben«.

Die Kommission erhielt den Auftrag, Empfehlungen für den Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse zur friedlichen Nutzung von Kernenergie auszuarbeiten und zugleich Kontrollmechanismen vorzuschlagen, die einem militärischen »Missbrauch« vorbeugen sollten. Außerdem sollte das Gremium Anregungen geben für die vollständige Abrüstung sämtlicher nationaler Kernwaffenarsenale – zu der Zeit noch auf die USA beschränkt – sowie für Sicherungsmaßnahmen (safeguards).

Damit folgte die UN-Generalversammlung dem Tenor einer gemeinsamen Erklärung von Präsident Truman (USA) und den Premierministern Attlee (Großbritannien) und Mackenzie King (Kanada) – also der drei Länder, die im Manhattan Project zusammen gearbeitet hatten. Sie forderten zwei Monate zuvor, „die Nutzung von Atomenergie für zerstörerische Zwecke zu verhindern“ und „die Nutzung von Atomenergie für friedliche und humanitäre Zwecke … zu fördern“.

Besonders die USA versuchten zu dieser Zeit, die Ausbreitung von Kernwaffen zu stoppen. Dafür ersann die US-Regierung unter Präsident Truman 1946 den so genannten »Baruch-Plan«. Er sah vor, unter Aufsicht des UN-Sicherheitsrats eine Agentur einzurichten, der das weltweite Monopol für Kernexplosionen und –energie sowie für Kontrollinspektionen zukommen sollte. Der Vorschlag hatte einen Pferdefuß: Die USA wollten ihre eigenen Kernwaffen erst dann an die Agentur abgeben, wenn mittels Inspektionen sichergestellt sei, dass die Sowjetunion und andere Länder nicht an Kernwaffen arbeiten. Der Kalte Krieg hatte bereits begonnen, und der Vorschlag wurde von Moskau abgelehnt. Also beugten die USA der Proliferation einseitig vor: Mit dem Atomic Energy Act vom gleichen Jahr untersagte der Kongress die Weitergabe von Nukleartechnologie an andere Staaten – sehr zum Missfallen Großbritanniens und Kanadas.

1949 testete die Sowjetunion ihre erste Kernwaffe. Das Monopol der USA war gebrochen, die militärische Nutzung von Kernenergie durch weitere Länder ließ sich nicht stoppen. 1952 folgte Großbritannien mit einem Kernwaffentest.

Die Zündung der ersten sowjetischen Bombe schockierte US-Präsident Eisenhower sehr. Er gelangte zu dem (fragwürdigen) Schluss, potentielle Proliferationsländer würden vielleicht eher auf militärische Ambitionen verzichten, wenn ihnen der Zugang zu ziviler Kerntechnologie einfach gemacht würde. Das »Atoms for Peace«-Programm war geboren.

Nukleartechnologie wurde in der Folge großzügig exportiert, einschließlich Forschungsreaktoren mit hoch angereichertem Uran – das ist ein Stoff für die Bombe. Die Exporte legten manchen Grundstein für ein militärisches Forschungs- und Entwicklungsprogramm, obwohl der 1957 etablierten Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) nicht nur ein Mandat zur Förderung der zivilen Nutzung von Kernenergie sondern auch zur Überwachung erteilt wurde.

Im selben Jahr wie das IAEO-Statut trat auch der Vertrag zur Gründung der European Atomic Energy Community (EURATOM) in Kraft, einer der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft (heute Europäische Union). EURATOM soll die Forschungsprogramme der Mitgliedstaaten für die zivile Nutzung von Kernenergie koordinieren. Nukleare Sicherungsmaßnahmen der Europäischen Union liegen seitdem in der Zuständigkeit der Europäischen Kommission.

Die Verbreitung von Kernwaffen wurde mit dem großzügigen Zugang zu Nukleartechnologie aber nicht gestoppt: 1960 zündete Frankreich eine Kernexplosion, und ein eigenständiges Kernwaffenprogramm Chinas lag bereits in der Luft; sein erster Test erfolgte 1964. Die Liste möglicher Kernwaffenaspiranten war lang: Australien, Indien, Italien, Japan, Kanada, Schweden, Westdeutschland, später stellte sich heraus sogar die Schweiz. Auf der sowjetischen Liste der Sorgenstaaten standen Westdeutschland und Italien ganz obenan.

Da brachte Irland im Dezember 1960 die Resolution »Verhinderung der weiteren Verbreitung von Kernwaffen« in die UN-Generalversammlung ein. An Kernwaffen- wie kernwaffenfreie Staaten wurde appelliert, bis zum Abschluss eines Vertrags über die Nichtverbreitung vorläufig sämtliche Handlungen zu unterlassen, die zur Verbreitung von Kernwaffen beitragen würden (UN-Res. 1576/XV).

Vorstellungen konkretisieren sich

Ein weiterer irischer Resolutionstext nahm ein Jahr später den Grundtenor der Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages vorweg: Die Staatengemeinschaft solle sich um ein internationales Abkommen bemühen, in dem Kernwaffenstaaten zusagen, weder Kernwaffen noch relevantes Wissen an Nicht-Kernwaffenstaaten weiterzugeben, während die Nicht-Kernwaffenstaaten zusagen, solche Waffen weder herzustellen noch erlangen zu wollen. Der Text wurde einstimmig angenommen (UN-Res. 1665/XVI) und setzte mehrjährige Diskussionen und Verhandlungen in Gang.

1962 wurde in Genf das Eighteen Nation Disarmament Committee (ENDC) eingerichtet, dem fünf westliche, fünf Ostblock- und acht blockfreie Staaten angehörten. Den Vorsitz teilten sich die USA und die Sowjetunion. Das ENDC wurde zu einem wichtigen Forum für die Verhandlungen zum Nichtverbreitungsvertrag, weitere Konsultation fanden im Rahmen der NATO, bilateral und über private Kanäle statt.

Verschiedenste Entwürfe kamen auf den Tisch: separate Erklärungen der Kernwaffen- und Nicht-Kernwaffenstaaten, Vertragsentwürfe nur zum Verzicht auf Kernwaffen, Vertragsentwürfe nur zur Aufgabe vorhandener Kernwaffen, Vertragsentwürfe mit und ohne nukleare Teilhabe, vorübergehende Moratoriumsvorschläge unterschiedlicher Natur. Die einzelnen Versionen spiegelten die vielfältigen historischen Erfahrungen und nationalen Interessen wider:

Die nuklearen »Habenden« sorgten sich um zunehmende Proliferation.

Nukleare »Habenichtse« bezweifelten den Willen der Kernwaffenstaaten zur Abrüstung und befürchteten, deren Arsenale würden perpetuiert, während sie verzichten sollten. Dies schlug sich vor allem in Debatten um eine Befristung des Vertrags, Überprüfungsmöglichkeiten und ein Austrittsrecht nieder.

Nicht-Kernwaffenstaaten äußerten Sorge, was im Fall eines Nuklearangriffs auf ihr Land passiert, wenn sie selbst keine Kernwaffen haben. Neben Indien brachte sich die Bundesrepublik in diesem Punkt zu Gehör. Die drei damaligen Kernwaffenstaaten – USA, Großbritannien und Sowjetunion – reagierten mit parallelen Erklärungen unter Verweis auf die Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrates bei einer Bedrohung des Friedens und sagten als ständige Mitglieder des Gremiums zu, Nicht-Kernwaffenstaaten in einem solchen Fall gemäß der UN-Charta zur Hilfe zu stehen („to provide assistance“). Der Sicherheitsrat bestätigte diese Sicht wenig später (SR-Res. 255 vom 19. Juni 1968).

Die USA wollten sicherstellen, dass die nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO und die damit verbundene Stationierung von Kernwaffen in europäischen Ländern unter amerikanischer Verfügungsgewalt aufrecht erhalten bleibt. Ebenso sollte der Transfer einer damals angedachten Raketenabwehr mit nuklearen Sprengköpfen für die NATO und unter NATO-Kommando nicht eingeschränkt werden. Ersteres gelang durch die Hintertür, das zweite wird durch den NVV ausgeschlossen.

Die USA und Großbritannien wollten die Kooperation in Sachen nuklearer Rüstung aufrecht erhalten. Folglich untersagt der NVV lediglich den Transfer an Nicht-Kernwaffenstaaten.

Gespräche in der NATO über eine Multilateral Force (MLF, Multilaterale Nuklearflotte) blieben der Sowjetunion nicht verborgen. Hintergrund war das Bestreben, europäische Partner in die Kontrolle von Kernwaffen auf U-Booten und Kriegsschiffen der USA einzubinden und so die (nukleare) Hegemonie der USA in der Allianz zu brechen. Für die Sowjetunion und andere Staaten im Warschauer Pakt war die Vorstellung, die Bundesrepublik Deutschland erhalte Verfügungsgewalt über die Bombe, unter keinen Umständen akzeptabel. Das Projekt scheiterte nach drei Jahren ohnehin, weil außer den USA und der BRD kein Bündnisland zur Finanzierung beitragen wollte. Erst dann konzentrierten sich die USA ganz auf Verhandlungen zum NVV.

Die Einbeziehung von Trägersystemen wie Flugzeuge und Raketen in den Vertrag war umstritten und gelang nicht im Vertragstext, sondern nur in der Präambel.

Einige Länder wollten sichergehen, dass der Zugriff auf zivile Kerntechnologie nicht eingeschränkt wird, um sich so die Option auf einen späteren Kernwaffenbesitz offen zu halten. Westdeutschland gehörte zu diesem Kreis, saß in Genf aber nicht mit am Tisch. Dort wurden seine Interessen in diesem Punkt von Italien vertreten, das auf die Option auf die Bombe auch nicht gänzlich verzichten wollte. Andere Länder wollten schlicht den Zugang zu der in den 1960er Jahren viel versprechenden Option auf vorgeblich billige und saubere Kernenergie wahren.

Die USA wiederum hatten aus wirtschaftlichen Gründen Interesse, den Handel mit Nuklearmaterial und –technologie für friedliche Zwecke nicht zu behindern.

Art und Umfang der Inspektionen durch die IAEO blieben bis zuletzt umstritten. Sie wurden schließlich auch nicht im NVV definiert sondern einer „mit der Internationalen Atomenergie-Organisation nach Maßgabe ihrer Satzung und ihres Sicherungssystems auszuhandelnden und zu schließenden Übereinkunft“ überlassen.

Nach mehr als drei Jahren legten die USA im August 1965 dem ENDC zum ersten Mal offiziell einen Vertragstext vor. Dieser sah sowohl Nichtweiterverbreitungs- als auch Nichterwerbsklauseln vor. Der Entwurf war unbefristet, enthielt aber ein Kündigungsrecht – ein Zugeständnis vor allem an Italien, Westdeutschland und andere Staaten, die nicht ohne Garantie der vollständigen nuklearen Abrüstung für immer auf eigene Kernwaffen verzichten wollten.

Zwei Monate später brachten acht blockfreie Staaten eine Resolution in die UN-Generalversammlung ein. Der Text wurde angenommen (UN-Res. 2028/XX) und legte für die weiteren NVV-Verhandlungen fünf Prinzipien fest:

Kernwaffen- und Nichtkernwaffenstaaten verpflichten sich, keine Weiterverbreitung zu betreiben.

Die Pflichten der Kernwaffen- und Nicht-Kernwaffenstaaten müssen sich einigermaßen die Waage halten.

Es sind Schritte zur allgemeinen und vollständigen (konventionellen) Abrüstung vorzusehen.

Die Wirksamkeit des Vertrags ist durch praktische Maßnahmen sicherzustellen.

Vereinbarungen über kernwaffenfreie Zonen müssen möglich sein.

Diese Kernelemente fanden sich im endgültigen Vertragstext wieder (in den Artikeln I, II, VI, III und VII).

Im August 1967 legten die USA und die Sowjetunion jeweils separat einen Textentwurf mit identischem Inhalt vor. Die beiden Supermächte hatten sich geeinigt, jetzt galt es die anderen Staaten zu überzeugen. Die Bundesrepublik Deutschland und Italien machten aber schnell klar, dass ein unbefristeter Vertrag für sie nicht in Frage kommt. Auch die Frage des Rechts auf friedliche Nutzung von Kernenergie und der Forschungsmöglichkeiten war für manche Beteiligte noch nicht zufriedenstellend gelöst. Ebenfalls wurden Änderungen in der Präambel gewünscht.

Am 12. Juni 1968 war es dann so weit: Nach weiteren Änderungen am Entwurf nahm die UN-Generalversammlung Resolution 2373 (XXII) an, in der sie den angehängten Endtext des »Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons« (Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen) lobte und die Verwahrländer um Auslegung des Vertrags zur Unterzeichnung bat.

Am 1. Juli 1968 wurde der NVV in Washington, London und Moskau ausgelegt. Neben den USA, Großbritannien und der Sowjetunion unterzeichneten den Vertrag an dem Tag weitere 59 Staaten. Noch am selben Tag hinterlegte Irland als erstes Land seine Ratifizierungsurkunde.

Die Verhandlungen um die Sicherungsmaßnahmen und Inspektionen der IAEO dauerten noch einige Zeit. Manche Staaten warteten das Ergebnis ab, bevor sie dem Vertrag beitraten: Die Bundesrepublik wollte sichergehen, dass ihre zivilen Nuklearaktivitäten nicht eingeschränkt werden, andere Länder wollten sich zuerst überzeugen, dass auch Westdeutschland wirksamen Kontrollen unterliegt.

Eine Woche nach Auslegung des Vertrags reichte US-Präsident Johnson den NVV beim US-Senat zur Ratifizierung ein. Die sowjetische Invasion in die Tschechoslowakei verzögerte zunächst die amerikanische Ratifizierung, der Vertrag trat aber am 5. März 1970 in Kraft, wie in Artikel IX (3) vorgesehen, „sobald die Staaten, deren Regierungen zu Verwahrern des Vertrags bestimmt worden sind, und vierzig sonstige Unterzeichnerstaaten ihn ratifiziert und ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt haben.“

Indien, Mitgliedsland der ENDC, verweigerte den Beitritt. Es wollte die nukleare Option offen halten, da sein großer Gegner China bereits über Kernwaffen verfügte. Pakistan wiederum blieb dem Vertrag unter Verweis auf den Gegner Indien fern. Auch Israel hatte kein Interesse – zu dieser Zeit war sein Kernwaffenprogramm schon in vollem Gang. China und Frankreich blieben schon den Verhandlungen fern. Als Kernwaffenstaaten hatten sie nichts zu verlieren und traten dem NVV erst später bei (beide 1992).

Deutschland als Hemmschuh und Antriebskraft

Die Bundesrepublik gehörte in den 1960er Jahren weder zum ENDC noch zu den Vereinten Nationen, nahm also an den formellen Verhandlungen zum NVV gar nicht teil. Diskussionen in der NATO sowie mit einzelnen Verbündeten erhielten daher ein hohes Gewicht, um der Bundesrepublik den Weg in das geplante Vertragswerk zu ermöglichen. Dieses Ziel hatte hohe Priorität, gab es in der Bundesrepublik doch bereits einige Kernreaktoren und Pläne für mehr; die BRD hatte so das Potential zum Kernwaffenbau bereits erlangt. Überdies hatte in den Jahren zuvor die Regierungskoalition unter Führung der CDU wiederholt ihr Interesse an Kernwaffen(forschung) geäußert. Berühmt wurde z.B. folgende Einschätzung von Bundeskanzler Adenauer von 1957: „Die taktischen atomaren Waffen sind im Grunde genommen nichts anderes, als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, dass bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik wir nicht darauf verzichten können, dass unsere Truppen auch die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen…“

1966 gab US-Präsident Johnson seinen Verhandlungsführern Anweisung, Bonn die Nichtverbreitungsklausel vorzulegen und zu erläutern. Nach langwierigen Gesprächen mit den USA und anderen NATO-Mitgliedern lenkte Bonn schließlich ein und stimmte dem Nichtverbreitungsartikel im NVV zu. So war eine wichtige Hürde für ein Ja der Sowjetunion zum Vertrag genommen.

Die Bundesregierung wollte aber weiterhin ihre Interessen wahren und hinterlegte bei der Unterzeichnung des NVV 1969 eine Note, die in ähnlichem Wortlauf bei der Ratifizierung 1975 wiederholt wurde. Ihr Inhalt bleibt bis heute politisch interessant. Bonn verwies in der Note darauf, dass die Sicherheit der BRD weiterhin durch die NATO (oder ein entsprechendes Sicherheitssystem) gewährleistet bleibt. Dies ist als Hinweis auf die Beibehaltung der nuklearen Teilhabe zu werten.

Ein langer Abschnitt bekräftigt die Interpretation, dass der NVV Kernenergie für friedliche Zwecke nicht behindere und „dass der Vertrag niemals so ausgelegt oder angewandt werden kann, dass er Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet behindert oder unterbindet“. Die Note verweist auf eine Erklärung des amerikanischen Ständigen Vertreters bei den Vereinten Nationen vom 15. Mai 1968, die lautet: „Dieser Vertrag fordert von keinem Staat einen Status technologischer Abhängigkeit hinzunehmen oder von Entwicklungen in der Kernforschung ausgeschlossen zu sein; … Das gesamte Gebiet der mit der Erzeugung elektrischer Energie verbundenen Kernwissenschaften … wird allen, die es nutzen wollen, nach diesem Vertrag zugänglicher werden. Hierzu gehört nicht nur die gegenwärtige Generation von Kernreaktoren, sondern auch die fortgeschrittene, noch in der Entwicklung befindliche Technologie von Schnellen Brutreaktoren…“ Der Schnelle Brüter erzeugt schneller als ein Reaktor Plutonium, neben hoch angereichertem Uran der zweite Bombenstoff. Klarer lässt sich die Option auf ein Ausbrechen aus dem Vertrag kaum formulieren. Selbst die „friedliche Verwendung von Kernsprengmitteln“ wollte die Bundesregierung durch den NVV nicht behindert sehen.

Die Bundesregierung erklärte des Weiteren:

„Beweislast Im Zusammenhang mit Artikel III Absatz 3 und Artikel IV des Vertrages ist keine nukleare Tätigkeit auf dem Gebiet der Forschung, Entwicklung, Herstellung oder Verwendung zu friedlichen Zwecken untersagt, noch kann die Lieferung von Kenntnissen, Material und Ausrüstungen Nichtkernwaffenstaaten allein auf der Grundlage von Unterstellungen verweigert werden, dass eine derartige Tätigkeit oder eine derartige Lieferung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern verwendet werden kann.“

Im Hinblick auf die unglückliche deutsche Rolle bei den Verhandlungen mit Iran sollte sich Berlin seine eigenen Worte nochmals genau anschauen und eventuell seine Verhandlungsstrategie ändern.

Ein weiterer Satz ist aktuell, gerade im Kontext der Koalitionserklärung von CDU, CSU und FDP vom Oktober 2010, in der der Wunsch nach Beendigung der technischen Teilhabe im Rahmen der NATO geäußert wird. In der Note vom 28.11.1969 heißt es: „Die Bundesrgeriung geht davon aus, […] dass die Vertragsparteien die im Vertrag vorgesehenen Abrüstungsverhandlungen, insbesondere auf dem Gebiet der nuklearen Waffen, alsbald aufnehmen werden.“

Da Abrüstungsverhandlungen mit dem Ziel der atomwaffenfreien Welt alle Parteien umfassen müssen, bietet sich ein Engagement der Bundesregierung für eine Nuklearwaffenkonvention geradezu an.

Die nukleare Teilhabe und der NVV

Nachdem in den Verhandlungen zum NVV die Artikel I (Nicht-Weitergabe) und II (Nicht-Erwerb) abgestimmt waren, blieb für die USA noch ein Problem offen: die nukleare Teilhabe, das heißt die Stationierung von Atomwaffen der USA in europäischen Ländern unter Befehlsführung der USA. Da griffen die USA zu einem Trick.

Sie arbeiteten nach Konsultationen mit einigen NATO-Verbündeten ihre eigene Interpretation der Rechtslage aus und zeigten sie einigen Mitgliedstaaten der ENDC, darunter auch der Sowjetunion. In der Regel werden nationale Interpretationen oder Einschränkungen bei der Unterzeichnung eines Völkerrechtsvertrags für alle zugänglich hinterlegt, wie dies die Bundesrepublik mit ihrer Note tat. Die USA aber enthielten den meisten Ländern, die den NVV damals unterzeichneten, ihre Interpretation der nuklearen Teilhabe unter dem NVV vor und machte sie erst einige Zeit später bei einer Anhörung des US-Senats bekannt. So ist diese wichtige Einschränkung der Verpflichtungen aus dem NVV, die nicht nur die USA sondern auch die fünf Stationierungsländer bis heute für sich in Anspruch nehmen, nicht völkerrechtlich untermauert sondern in einem Protokoll des US-Senats aus den 1960er Jahren vergraben.

Ein Grund mehr, die Aufgabe der nuklearen Teilhabe in der NATO nun rasch und ernsthaft anzugehen und dem Nichtverbreitungsvertrag damit mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Literatur:

Bunn, George: The Nuclear Non-Proliferation Treaty, in: Wisconsin Law Review, Vol. 1968, S.766-785.

Bunn, George und Charles N. Van Doren: Options for Extension of the NPT: the Intention of the Drafters Of Article X.2, in: Bunn, Van Doren & David Fischer: Options & Opportunities: The NPT Extension Conference of 1995, PPNN Study Two, 1991.

Bunn, George: The Nuclear Non-Proliferation Treaty: History and Current Problems, in: Arms Control Today, Dezember 2003; www.armscontrol.org.

Bunn, George und John B. Rhinelander: Looking Back: The Nuclear Nonproliferation Treaty Then and Now, in: Arms Control Today, Juli/August 2008; www.armscontrol.org.

Nassauer, Otfried: Nuclear Sharing in NATO: Is It Legal? in: Science for democratic action, April 2001; www.bits.de/public/articles/sda-05-01.htm.

Note der Bundesregierung an die Regierungen der Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält, aus Anlass der Unterzeichnung des Vertrages vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen am 28. November 1969 (NV-Vertrag).

www.atomwaffena-z.info.

Regina Hagen ist Mitglied der Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei« und Mitglied der W&F-Redaktion. Mit Dank an Götz Neuneck für einige hilfreiche Hinweise.

zum Anfang | Bestimmungen des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen

abgeschlossen am 1. Juli 1968; in Kraft getreten am 5. März 1970; aktuell 189 Vertragsstaaten

Artikel I

Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder die Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.

Artikel II

Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch sonstwie zu erwerben und keine Unterstützung zur Herstellung von Kernwaffen oder sonstigen Kernsprengkörpern zu suchen oder anzunehmen.

Artikel III

(1) Jeder Nichtkernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Sicherungsmaßnahmen anzunehmen, wie sie in einer mit der Internationalen Atomenergie-Organisation nach Maßgabe ihrer Satzung und ihres Sicherungssystems auszuhandelnden und zu schließenden Übereinkunft festgelegt werden, wobei diese Sicherungsmaßnahmen ausschließlich dazu dienen, die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus diesem Vertrag nachzuprüfen, damit verhindert wird, dass Kernenergie von der friedlichen Nutzung abgezweigt und für Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper verwendet wird. Die Verfahren für die nach diesem Artikel erforderlichen Sicherungsmaßnahmen werden in Bezug auf Ausgangs- und besonderes spaltbares Material durchgeführt, gleichviel ob es in einer Hauptkernanlage hergestellt, verarbeitet oder verwendet wird oder sich ausserhalb einer solchen Anlage befindet. Die nach diesem Artikel erforderlichen Sicherungsmaßnahmen finden Anwendung auf alles Ausgangs- und besondere spaltbare Material bei allen friedlichen nuklearen Tätigkeiten, die im Hoheitsgebiet dieses Staates, unter seiner Hoheitsgewalt oder unter seiner Kontrolle an irgendeinem Ort durchgeführt werden.

(2) Jeder Staat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, a) Ausgangs- und besonderes spaltbares Material oder b) Ausrüstungen und Materialien, die eigens für die Verarbeitung, Verwendung oder Herstellung von besonderem spaltbarem Material vorgesehen oder hergerichtet sind, einem Nichtkernwaffenstaat für friedliche Zwecke nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn das Ausgangs- oder besondere spaltbare Material den nach diesem Artikel erforderlichen Sicherungsmaßnahmen unterliegt.

(3) Die nach diesem Artikel erforderlichen Sicherungsmaßnahmen werden so durchgeführt, dass sie mit Artikel IV in Einklang stehen und keine Behinderung darstellen für die wirtschaftliche und technologische Entwicklung der Vertragsparteien oder für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet friedlicher nuklearer Tätigkeiten, einschließlich des internationalen Austausches von Kernmaterial und Ausrüstungen für die Verarbeitung, Verwendung oder Herstellung von Kernmaterial für friedliche Zwecke in Übereinstimmung mit diesem Artikel und dem in der Präambel niedergelegten Grundsatz der Sicherungsüberwachung.

(4) Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, schließen entweder einzeln oder gemeinsam mit anderen Staaten nach Maßgabe der Satzung der Internationalen Atomenergie-Organisation Übereinkünfte mit dieser, um den Erfordernissen dieses Artikels nachzukommen. Verhandlungen über derartige Übereinkünfte werden binnen 180 Tagen nach dem ursprünglichen Inkrafttreten dieses Vertrags aufgenommen. Staaten, die ihre Ratifikations- oder Beitrittsurkunde nach Ablauf der Frist von 180 Tagen hinterlegen, nehmen Verhandlungen über derartige Übereinkünfte spätestens am Tag der Hinterlegung auf. Diese Übereinkünfte treten spätestens achtzehn Monate nach dem Tag des Verhandlungsbeginns in Kraft.

Artikel IV

(1) Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, unter Wahrung der Gleichbehandlung und in Übereinstimmung mit den Artikeln I und II die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln.

(2) Alle Vertragsparteien verpflichten sich, den weitestmöglichen Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern, und sind berechtigt, daran teilzunehmen. Vertragsparteien, die hierzu in der Lage sind, arbeiten ferner zusammen, um allein oder gemeinsam mit anderen Staaten oder internationalen Organisationen zur Weiterentwicklung der Anwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke, besonders im Hoheitsgebiet von Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, unter gebührender Berücksichtigung der Bedürfnisse der Entwicklungsgebiete der Welt beizutragen.

Artikel V

Jede Vertragspartei verpflichtet sich, geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass im Einklang mit diesem Vertrag unter geeigneter internationaler Beobachtung und durch geeignete internationale Verfahren die möglichen Vorteile aus jeglicher friedlichen Anwendung von Kernsprengungen Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, auf der Grundlage der Gleichbehandlung zugänglich gemacht werden und dass die diesen Vertragsparteien für die verwendeten Sprengkörper berechneten Gebühren so niedrig wie möglich sind und keine Kosten für Forschung und Entwicklung enthalten. Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, können diese Vorteile aufgrund einer oder mehrerer internationaler Sonderübereinkünfte durch eine geeignete internationale Organisation erlangen, in der Nichtkernwaffenstaaten angemessen vertreten sind. Verhandlungen hierüber werden so bald wie möglich nach Inkrafttreten dieses Vertrags aufgenommen. Nichtkernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, können diese Vorteile, wenn sie es wünschen, auch aufgrund zweiseitiger Übereinkünfte erlangen.

Artikel VI

Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.

Artikel VII

Dieser Vertrag beeinträchtigt nicht das Recht einer Gruppe von Staaten, regionale Verträge zu schließen, um sicherzustellen, dass ihre Hoheitsgebiete völlig frei von Kernwaffen sind.

Artikel VIII

(1) Jede Vertragspartei kann Änderungen dieses Vertrags vorschlagen. Der Wortlaut jedes Änderungsvorschlags wird den Verwahrregierungen übermittelt, die ihn allen Vertragsparteien zuleiten. Daraufhin berufen die Verwahrregierungen auf Antrag von mindestens einem Drittel der Vertragsparteien zur Prüfung des Änderungsvorschlags eine Konferenz ein, zu der sie alle Vertragsparteien einladen.

(2) Jede Änderung dieses Vertrags bedarf der Genehmigung durch Stimmenmehrheit aller Vertragsparteien einschließlich der Stimmen aller Kernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, und aller sonstigen Vertragsparteien, die im Zeitpunkt der Zuleitung des Änderungsvorschlags Mitglied des Gouverneursrats der Internationalen Atomenergie-Organisation sind. Die Änderung tritt für jede Vertragspartei, die ihre Ratifikationsurkunde zu der Änderung hinterlegt hat, in Kraft mit der Hinterlegung von Ratifikationsurkunden durch die Mehrheit aller Vertragsparteien einschließlich der Ratifikationsurkunden aller Kernwaffenstaaten, die Vertragspartei sind, und aller sonstigen Vertragsparteien, die im Zeitpunkt der Zuleitung des Änderungsvorschlags Mitglied des Gouverneursrats der Internationalen Atomenergie-Organisation sind. Danach tritt die Änderung für jede weitere Vertragspartei mit der Hinterlegung ihrer Ratifikationsurkunde zu der Änderung in Kraft.

(3) Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Vertrags wird in Genf, Schweiz, eine Konferenz der Vertragsparteien zu dem Zweck abgehalten, die Wirkungsweise dieses Vertrags zu überprüfen, um sicherzustellen, dass die Ziele der Präambel und die Bestimmungen des Vertrags verwirklicht werden. Danach kann eine Mehrheit der Vertragsparteien in Abständen von je fünf Jahren die Einberufung weiterer Konferenzen mit demselben Ziel der Überprüfung der Wirkungsweise des Vertrags erreichen, indem sie den Verwahrregierungen einen diesbezüglichen Vorschlag unterbreitet.

Artikel IX

(1) Dieser Vertrag liegt für alle Staaten zur Unterzeichnung auf. Jeder Staat, der den Vertrag nicht vor seinem nach Absatz 3 erfolgten Inkrafttreten unterzeichnet, kann ihm jederzeit beitreten.

(2) Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation durch die Unterzeichnerstaaten. Die Ratifikations- und die Beitrittsurkunden sind bei den Regierungen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie der Vereinigten Staaten von Amerika zu hinterlegen; diese werden hiermit zu Verwahrregierungen bestimmt.

(3) Dieser Vertrag tritt in Kraft, sobald die Staaten, deren Regierungen zu Verwahrern des Vertrags bestimmt worden sind, und vierzig sonstige Unterzeichnerstaaten ihn ratifiziert und ihre Ratifikationsurkunden hinterlegt haben. Für die Zwecke dieses Vertrags gilt als Kernwaffenstaat jeder Staat, der vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe oder einen sonstigen Kernsprengkörper hergestellt und gezündet hat.

(4) Für Staaten, deren Ratifikations- oder Beitrittsurkunde nach dem Inkrafttreten dieses Vertrags hinterlegt wird, tritt er am Tag der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft.

(5) Die Verwahrregierungen unterrichten alle Unterzeichnerstaaten und beitretenden Staaten sogleich vom Zeitpunkt jeder Unterzeichnung und jeder Hinterlegung einer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde, vom Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Vertrags und vom Zeitpunkt des Eingangs von Anträgen auf Einberufung einer Konferenz oder von sonstigen Mitteilungen.

(6) Dieser Vertrag wird von den Verwahrregierungen nach Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen registriert.

Artikel X

(1) Jede Vertragspartei ist in Ausübung ihrer staatlichen Souveränität berechtigt, von diesem Vertrag zurückzutreten, wenn sie entscheidet, dass durch aussergewöhnliche, mit dem Inhalt dieses Vertrags zusammenhängende Ereignisse eine Gefährdung der höchsten Interessen ihres Landes eingetreten ist. Sie teilt diesen Rücktritt allen anderen Vertragsparteien sowie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen drei Monate im Voraus mit. Diese Mitteilung hat eine Darlegung der aussergewöhnlichen Ereignisse zu enthalten, durch die ihrer Ansicht nach eine Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten ist.

(2) Fünfundzwanzig Jahre nach Inkrafttreten dieses Vertrags wird eine Konferenz einberufen, die beschließen soll, ob der Vertrag auf unbegrenzte Zeit in Kraft bleibt oder um eine oder mehrere bestimmte Frist oder Fristen verlängert wird. Dieser Beschluss bedarf der Mehrheit der Vertragsparteien.

Artikel XI

Dieser Vertrag, dessen chinesischer, englischer, französischer, russischer und spanischer Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist, wird in den Archiven der Verwahrregierung hinterlegt. Diese übermitteln den Regierungen der Unterzeichnerstaaten und der beitretenden Staaten gehörig beglaubigte Abschriften.

 

Offizielle deutsche Fassung des Auswärtigen Amtes

Anmerkung

Der Vertragstext wurde hier um die Präambel gekürzt. Der vollständige Text mit Präambel ist unter »www.atomwaffena-z.info« eingestellt.

zum Anfang | Chronologie: 40 Jahre Nichtverbreitungsvertrag

von Jens Heinrich

1968

Die drei im Vertrag benannten Verwahrstaaten USA, Sowjetunion und Großbritannien sowie 59 weitere Staaten unterzeichnen den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) am 1. Juli.

Der UN-Sicherheitsrat nimmt die Resolution 255 an, die sich mit dem Wunsch beitrittswilliger Nicht-Kernwaffenstaaten befasst, vor einem Angriff mit Kernwaffen geschützt zu werden. Die Resolution gewährt aber keine entsprechenden Sicherheitsgarantien.

Die Ratifizierung durch den US-Senat verzögert sich aufgrund des sowjetischen Einmarsches in die Tschechoslowakei.

1969

Ratifizierung durch die Deutsche Demokratische Republik (DDR) am 31. Oktober.

Unterzeichnung durch die Bundesrepublik Deutschland am 28. November. Obwohl es in der (west-) deutschen Regierung Stimmen gibt, die sich für Atomwaffen aussprechen, entscheidet sich Bonn für den Verzicht. Der Beitritt der Bundesrepublik als kernwaffenfreier Staat ist für die Ratifizierung durch die Sowjetunion im März 1970 von zentraler Bedeutung.

1970

Artikel IX legt das Inkrafttreten des Vertrages fest, sobald die drei Verwahrstaaten sowie weitere 40 Staaten das Abkommen ratifizieren. Dies ist am 5. März der Fall.

Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO), 1957 gegründet zur Förderung der friedlichen Nutzung von Kernenergie, bereitet sich darauf vor, die Einhaltung des Vertrags zu überprüfen; dazu wird ein Standardtext für »Safeguards Agreements« (Sicherungsabkommen) mit den Vertragsstaaten erstellt.

1972

Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten treffen zwei Abkommen, um das weitere Wettrüsten einzudämmen: den Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) und ein Abkommen über bestimmte Maßnahmen zur Begrenzung strategischer Angriffswaffen (SALT-I).

1974

Indien zündet eine als »friedlich« deklarierte Kernexplosion. Indien wird vom NVV nicht als Kernwaffenstaat anerkannt und kann dem Vertrag nur als Nicht-Kernwaffenstaat beitreten.

1975

Am 2. Mai hinterlegt die Bundesrepublik Deutschland ihre Ratifizierungsurkunde – gerade noch rechtzeitig vor der ersten Überprüfungskonferenz.

Erste Überprüfungskonferenz gemäß Artikel VII(c), 91 Vertragsstaaten. Bereits jetzt treten Differenzen auf, die bis heute anhalten. Die drei vom NVV anerkannten Atommächte, die bereits Vertragsstaat sind (das sind die drei Verwahrstaaten Sowjetunion, Vereinigtes Königsreich und Vereinigte Staaten) und die meisten west- und osteuropäischen Staaten sprechen sich für eine Universalisierung des Vertrages aus. Viele blockfreie Staaten verlangen allerdings eine fairere Verteilung der Rechte und Pflichten, z.B. im Hinblick auf Inspektionen durch die IAEO. Besonders kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtungen aus Artikel VI (Verhandlungen über nukleare Abrüstung) erfüllen.

In London kommen 15 Staaten zusammen, die über eine nukleare Infrastruktur verfügen. Ziel dieses Treffens ist die Koordinierung von Nuklearexporten. Aus diesem Treffen geht die »Gruppe der nuklearen Lieferländer « (Nuclear Suppliers Group, NSG) hervor, die bis heute eine wichtige Rolle spielt.

1979

Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten unterzeichnen den Vertrag zur Begrenzung ihrer strategischen Angriffswaffen (SALT-II).

1980

Zweite Überprüfungskonferenz, 112 Vertragsstaaten. Die Differenzen der ersten Konferenz ziehen sich auch durch dieses Treffen. Die Vertragsparteien können sich nicht auf ein Schlussdokument einigen – Hauptstreitpunkt ist Artikel VI.

1985

Beitritt Nordkoreas als Nicht-Kernwaffenstaat auf Druck der Sowjetunion.

Dritte Überprüfungskonferenz, 131 Vertragsstaaten. Afrikanische und arabische Staaten kritisieren die Atomprogramme Südafrikas und Israels. Es wird vorgeschlagen, umfassende Sicherungsabkommen mit der IAEO zur Bedingung für die Lieferung von Nukleartechnologie zu machen. Mangelnde Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung werden beklagt. Es kommt zu einer starken Abschlusserklärung, allerdings nur deshalb, weil strittige Themen aus der Erklärung ausgelagert und in ein umfassenderes Abschlussdokument aufgenommen werden.

1986

Die Sunday Times in London berichtet auf der Basis von Informationen des israelischen Nukleartechnikers Mordechai Vanunu über das israelische Kernwaffenprogramm. Israel bestätigt den Besitz von Kernwaffen bis heute nicht. Israel wird vom NVV nicht als Kernwaffenstaat anerkannt und kann dem Vertrag nur als Nicht-Kernwaffenstaat beitreten.

1987

Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion unterzeichnen den Vertrag zur Abschaffung ihrer Mittelstreckenraketen.

Sieben Staaten – darunter Deutschland und die USA – begründen das Missile Technology Control Regime (MTCR), um die unkontrollierte Verbreitung von Raketentechnologie einzudämmen.

1990

Vierte Überprüfungskonferenz, 140 Vertragsparteien. Die Mehrheit der Staaten äußert sich zufrieden mit der gewachsenen Zahl der Vertragsparteien. Streitpunkte bleiben jedoch die unterschiedlichen Interpretationen der Ziele und die Implementierungen dieser Ziele. Differenzen werden besonders bei der Umsetzung von Artikel I, II und VI deutlich.

1991

Zur Befreiung Kuwaits, das im August 1990 von Irak besetzt worden war, beginnt unter der Führung der USA eine Koalition einen Luftkrieg gegen Irak. Im Rahmen des Waffenstillstandes werden von der IAEO Anlagen im Irak inspiziert, die für ein Kernwaffenprogramm taugen könnten. Es stellt sich heraus, dass ein solches Programm weiter fortgeschritten war, als zuvor vermutet.

Südafrika gibt sein Kernwaffenarsenal auf, das unter der Apartheid-Regierung entwickelt worden war, und tritt dem NVV als Nicht-Kernwaffenstaat bei.

Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten unterzeichnen das Abkommen über die Verringerung und Begrenzung strategischer Angriffswaffen (START-I).

Die Sowjetunion löst sich 1991 auf. Russland tritt die völkerrechtliche Nachfolge an; die übrigen Sowjetrepubliken werden selbständige Staaten, Belarus, Kasachstan und die Ukraine mit eigenem Kernwaffenarsenal. Diese drei Länder lösen in der Folge ihre Bestände auf und treten dem NVV als Nicht-Kernwaffenstaaten bei (1993 bzw. 1994).

1992

Beitritt Chinas und Frankreichs. Beide Länder gelten gemäß Artikel IX(3) als »offizielle« Kernwaffenstaaten, da sie bereits vor 1967 eine Kernexplosion durchgeführt hatten.

1993

Im März verweigert Nordkorea einem Inspektionsteam der IAEO den Zugang zu Nuklearanlagen und kündigt unter Berufung auf Artikel X den Austritt aus dem NVV mit drei Monate Frist an. Nach Krisengesprächen mit den USA teilt Nordkorea einen Tag vor Ablauf der Kündigungsfrist mit, dass es seinen Austritt vorläufig aussetzen werde.

1994

Die USA und Nordkorea unterzeichnen ein »Rahmenabkommen«, das die Lieferung von Öl und den Bau von vier Leichtwasserreaktoren vorsieht; im Gegenzug stimmt Nordkorea zu, Vertragstaat des NVV zu bleiben.

1995

Verlängerungs- und fünfte Überprüfungskonferenz; 178 Vertragsparteien. Gemäß den Bestimmungen des NVV müssen die Mitgliedsstaaten darüber entscheiden, ob und für welche Frist der Vertrag verlängert werden soll. Am Ende der Konferenz stehen die unbefristete Verlängerung sowie das Versprechen, Verhandlungen über ein umfassendes Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) und einen Vertrag zu Beendigung der Spaltmaterialproduktion (Fissile Materials Cut-off Treaty, FMCT) aufzunehmen, und eine Resolution zu einer massenvernichtungswaffen-freien Zone im Nahen Osten. (Mehr Details zur Überprüfungskonferenz von 1995 siehe nächste Seite.)

1996

Die UN-Generalversammlung nimmt bei nur drei Gegenstimmen das Umfassende Teststoppabkommen an. Der Vertrag ist bislang wegen fehlender Ratifizierung durch einige Schlüsselstaaten (darunter die USA und China) nicht in Kraft getreten.

1998

Indien und Pakistan testen im Mai mehrere Kernwaffen. Wie Indien wird auch Pakistan vom NVV nicht als Kernwaffenstaat anerkannt und kann dem Vertrag nur als Nicht-Kernwaffenstaat beitreten.

Brasilien tritt dem NVV als Nicht-Kernwaffenstaat bei. Es hatte zwar bereits 1968 den Vertrag von Tlatelolco (Kernwaffenfreie Zone in der Karibik und Lateinamerika) unterzeichnet, unter dem Militärregime aber dennoch ein geheimes Kernwaffenprogramm begonnen. Die 1985 demokratisch gewählte Regierung beendete dieses Programm. Bereits 1991 gründete Brasilien mit Argentinien, das ebenfalls während seiner Militärdiktatur ein geheimes Kernwaffenprogramm betrieb und noch vor dem Übergang in die Demokratie gegen 1980 aufgegeben hatte, eine bilaterale Agentur für die Kontrolle nuklearer Materialien.

33 Staaten gründen das Wassenaar-Abkommen zur Exportkontrolle von konventionellen Waffen und Gütern bzw. Technologien, die für zivile und militärische Zwecke genutzt werden können.

2000

Sechste Überprüfungskonferenz, 187 Vertragsstaaten. Die Konferenzteilnehmer einigen sich auf »13 praktische Schritte«, um „systematische und fortschreitenden Bemühungen“ zur Abrüstung zu fördern. Dazu zählen unter anderem die Unterzeichnung und Ratifizierung des umfassenden Atomteststoppvertrages, die Aufnahme von Verhandlungen für einen Vertrag zur Beendigung der Spaltmaterialproduktion, die zügige Umsetzung des 1993 abgeschlossenen. START-II-Vertrags und eine eindeutige Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur atomaren Abrüstung. (Die »13 praktischen Schritte« sind in diesem Dossier auf Seite  aufgeführt.)

2003

Nordkorea tritt mit einem Tag Frist aus dem NVV aus. Das Land argumentiert, es habe seinen Austritt 1993 nur ausgesetzt, nicht aufgehoben. Die Vertragsstaaten des NVV konnten sich bislang nicht darauf einigen, ob Nordkoreas Austritt Gültigkeit erlangt hat.

2005

Siebte Überprüfungskonferenz, 188 Vertragsstaaten: Die Teilnehmerstaaten können sich erst in der letzten von vier Konferenzwochen auf eine Tagesordnung einigen, so dass keine Zeit für substantielle Diskussionen bleibt. Die Konferenz scheitert, u.a. auf Grund des Verhaltens der Vereinigten Staaten und des Iran. Das Abschlussdokument enthält lediglich organisatorische Details, keine inhaltlichen Aussagen.

2006

Mit Montenegro tritt bislang der letzte Staat dem NVV bei. Die Mitgliedschaft beträgt jetzt 189 Vertragsstaaten. Nicht Mitglied sind die drei faktischen Atomwaffenstaaten Israel, Indien und Pakistan, ungeklärt die Mitgliedschaft von Nordkorea..

Literatur:

Cirincione, Joseph/Wolfsthal, Jon B./Rajkumar, Miriam (2005): Deadly Arsenals. Nuclear, Biological, and Chemical Threats, Second Edition revised and expanded, Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace.

Federation of American Scientists, NPT Chronology; www.fas.org/nuke/control/npt/chron.htm.

Meier, Oliver: Ein Vertrag ohne Freunde? Die Überprüfungskonferenz des NVV steht vor dem Scheitern, in: Internationale Politik, April 2005.

Müller, Harald: Nichtverbreitungsvertrag: Regime kaputt. Bedingungen für die Stabilität von Vertragsregimen, in: Internationale Politik, August 2006.

Perkovich, George (1999): India’s Nuclear Bomb. The Impact on Global Proliferation, Updated Edition with a new Afterword, Berkeley and Los Angeles: University of California Press.

Website der Vereinten Nationen zu den NVV-Überprüfungskonferenzen: http://www.un.org/disarmament/WMD/Nuclear/NPT_Review_ Conferences.shtml.

Website mit aktuellen Infos und allen Dokumenten aus der NVV-Überprüfungskonferenz 2010: www.reachingcriticalwill.org/legal/npt/2010index.html.

Jens Heinrich ist Student der Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Magdeburg.

zum Anfang | Die unbefristete Verlängerung des NVV

Die Überprüfungskonferenz von 1995

Die Mitglieder des NVV, der gemäß Artikel X, Absatz 2 ursprünglich auf eine Vertragslaufzeit von 25 Jahren festgelegt worden war, hatten 1995 zu entscheiden, ob und für wie lange der Vertrag verlängert werden soll. Zur Wahl standen folgende Varianten: keine Verlängerung, Verlängerung um fünf oder fünfundzwanzig Jahre oder Verlängerung ohne zeitliche Begrenzung. Zusätzlich strittig war die Frage, ob die Verlängerung »conditional« sein sollte, also nur dann Bestand hat, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Die Diskussion war heftig und drohte zeitweise die Konferenz zu sprengen.

Ursache wie Wirkung dieser Differenzen waren u.a. unterschiedliche Auffassungen bei den Vertragsbestimmungen zur nuklearen Abrüstung (Artikel VI) und technologischen Kooperation (Artikel IV). Viele der Nicht-Kernwaffenstaaten waren enttäuscht über den mangelhaften Abrüstungswillen der offiziellen Kernwaffenstaaten. Ihrer Ansicht nach hatten sie, die Nicht-Kernwaffenstaaten, ihre Verpflichtungen aus dem NVV eingehalten, die Kernwaffenstaaten aber nicht. Darüber hinaus wollten einige arabische Staaten den Druck auf Israel erhöhen, dem NVV als Nicht-Kernwaffenstaaten beizutreten – bis heute ein höchst sensibles Thema. Die Überprüfungskonferenz machte zudem deutlich, dass der NVV Schwachstellen aufweist, die, um die Ziele des Vertrages zu erreichen, beseitigt werden müssten.

Am Ende wurde vom Konferenzvorsitzenden ein Bündel geschnürt, das alle Vertragsparteien akzeptieren konnten und drei Entscheidungen (Stärkung des Überprüfungsprozesses; Prinzipien und Ziele von Nichtverbreitung und Abrüstung mit einem vordringlichen Maßnahmenkatalog; Verlängerung des Vertrags) umfasste sowie eine Resolution zum Nahen Osten, in der u.a. ein Naher Osten frei von Kern- und anderen Massenvernichtungswaffen sowie der Beitritt der noch außerhalb des Vertrags verbliebenen Länder eingefordert wurde.

Im Nachhinein wird die NVV-Verlängerung zwar überwiegend als positiv bewertet, aber zugleich wird auf die damit verbundenen Probleme hingewiesen. So haben die »offiziellen« Atomwaffenstaaten die Verlängerung als Freibrief für ihren Status verstanden, denn der NVV selbst bleibt an dieser Stelle äußerst vage und ohne bindendes Datum.

Jens Heinrich

zum Anfang | Die »13 praktischen Schritte«

Beschluss der Überprüfungskonferenz 2000

1. Umfassendes Verbot von Nuklearversuchen unterzeichnen:

Die Wichtigkeit und Dringlichkeit der sofortigen und bedingungslosen Unterzeichnung und Ratifizierung in Übereinstimmung mit den verfassungsgemäßen Verfahren, um das baldige Inkrafttreten des umfassenden Verbots von Nuklearversuchen zu erzielen.

2. Tests stoppen:

Ein Moratorium zu Kernwaffentestexplosionen oder anderen Kernexplosionen bis zum Inkrafttreten dieses Vertrags.

3. Verhandlung:

Die Notwendigkeit von Verhandlungen bei der Abrüstungskonferenz [in Genf] über einen nicht diskriminierenden, multilateralen sowie international und effektiv überprüfbaren Vertrag zum Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Kernwaffen oder andere Kernsprengvorrichtungen gemäß des Berichts des speziellen Koordinators [der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz] von 1995 und dem darin enthaltenen Mandat unter Berücksichtigung der beiden Ziele nukleare Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung. Die Abrüstungskonferenz wird dringend aufgefordert, sich auf ein Arbeitsprogramm zu einigen, das die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über einen solchen Vertrag einschließt, die innerhalb von fünf Jahren zum Abschluss gebracht werden sollen.

4. Verhandlung:

Die Notwendigkeit, bei der Abrüstungskonferenz ein entsprechendes Gremium einzurichten mit dem Mandat, sich mit nuklearer Abrüstung zu befassen. Die Abrüstungskonferenz wird dringend aufgefordert, sich auf ein Arbeitsprogramm zu einigen, das die sofortige Einrichtung eines solchen Gremiums einschließt.

5. Kein Zurück:

Das Prinzip der Irreversibilität bezüglich der nuklearen Abrüstung sowie der nuklearen und anderen damit zusammenhängenden Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen.

6. Kernwaffen abschaffen

Die unzweideutige Verpflichtung der Kernwaffenstaaten zur vollständigen Abschaffung ihrer Kernwaffenarsenale mit dem Ziel der nuklearen Abrüstung, zu der sich unter Artikel VI alle Vertragsparteien verpflichtet haben.

7. Vorhandene Verträge umsetzen:

Das baldige Inkrafttreten und die volle Umsetzung des START II-Vertrags und der baldmöglichste Abschluss des START III-Vertrags unter Beibehaltung und Stärkung des Raketenabwehrvertrags [ABM-Vertrags] als ein Grundpfeiler der strategischen Stabilität sowie als Grundlage für die weitere Reduzierung strategischer Angriffswaffen gemäß seinen Bestimmungen.

8. Vorhandene Verträge umsetzen:

Der Abschluss und die Umsetzung der Trilateralen Initiative zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, Russland und der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

9. Schritt für Schritt…:

Schritte aller Kernwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung, und zwar so, dass die internationale Stabilität gefördert wird und dass sie auf dem Prinzip der ungeschmälerten Sicherheit für alle basiert:

Weitere Bemühungen der Kernwaffenstaaten, ihre Kernwaffenarsenale einseitig zu verringern.

Gesteigerte Transparenz seitens der Kernwaffenstaaten hinsichtlich der Kernwaffenfähigkeiten und der Umsetzung von Vereinbarungen gemäß Artikel VI sowie als freiwillige vertrauensbildende Maßnahme zur Unterstützung weiterer Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung.

Die auf einseitige Initiativen gegründete weitere Reduzierung nicht-strategischer Kernwaffen als wesentlicher Bestandteil der nuklearen Abrüstung und des [allgemeinen] Abrüstungsprozesses.

Konkret vereinbarte Maßnahmen, um die Einsatzbereitschaft der Kernwaffensysteme weiter zu verringern.

Eine verminderte Rolle von Kernwaffen in der Sicherheitspolitik, um die Gefahr zu verringern, dass diese Waffen jemals eingesetzt werden, und um den Prozess ihrer völligen Abschaffung zu erleichtern.

Die möglichst rasche Beteiligung aller Kernwaffenstaaten an dem Prozess, der zur völligen Abschaffung ihrer Kernwaffen führt.

10. Die Produktion von Plutonium beenden:

Sobald praktisch möglich Vorkehrungen aller Kernwaffenstaaten, um ihr spaltbares Material, das von ihnen jeweils als nicht länger für militärische Zwecke benötigt ausgewiesen wurde, den Verifikationsmechanismen der IAEO und anderer internationaler Abkommen zu unterstellen, und Vorkehrungen, um diese Materialien für friedliche Zwecke zur Verfügung zu stellen, um sicherzustellen, dass dieses Material dauerhaft außerhalb der Reichweite militärischer Programme bliebt.

11. Allgemeine und vollständige Abrüstung:

Erneute Zusicherung, dass die Anstrengungen der Staaten im Abrüstungsprozess letztlich die allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle zum Ziel hat.

12. Berichterstattung:

Im Rahmen des gestärkten Überprüfungsprozesses des NVV regelmäßige Berichte aller Vertragsstaaten über die Umsetzung von Artikel VI und von Paragraf 4(c) der Entscheidung [der Überprüfungskonferenz] von 1995 über »Prinzipien und Zielsetzungen zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung«; auch unter Verweis auf das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 8. Juli 1996.

13. Überprüfung:

Die weitere Entwicklung von Verifikationsverfahren, die nötig sind, um das Vertrauen in die Einhaltung nuklearer Abrüstungsvereinbarungen zu wecken, das Voraussetzung ist, um die kernwaffenfreie Welt zu erreichen und beizubehalten.

Übersetzt von Regina Hagen

zum Anfang | Wenn Worten nicht die richtigen Taten folgen

Vorraussetzungen für den Erfolg der Überprüfungskonferenz in New York

von Xanthe Hall und Jens-Peter Steffen

Vom 3. bis 28. Mai 2010 versammeln sich Delegierte aus fast 190 Staaten zur 8. Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags in New York. Ein Anfangserfolg ist, dass die Vertragsstaaten im Konsens eine Tagesordnung für das vierwöchige Treffen vorschlugen – die natürlich vor Ort bestätigt werden muss. Während der letzten Überprüfungskonferenz 2005 – und das war symptomatisch für das Scheitern der Konferenz insgesamt – konnten sich die Unterzeichnerstaaten erst in der vierten Woche auf eine Tagesordnung einigen und hatten dementsprechend kaum noch Zeit für substantielle Verhandlungen.

Die Frage ist, ob Barack Obamas Zielsetzung einer atomwaffenfreien Welt vom April 2009 in Prag die Verhandlungsatmosphäre heute günstiger als zu Zeiten von George W. Bush gestaltet. Seit kurzem gibt es außerdem den neuen START-Vertrag, der die Zahl der Atomsprengköpfe gegenüber dem letzten Vertrag von 2002 um ein Drittel senkt. Und die neue Atomwaffendoktrin der USA verringert im Vergleich zur Bush-Regierung die Rolle der Atomwaffen für die USA. Obama hat mit dem internationalen Atomsicherheitsgipfel in Washington noch eine weitere Maßnahme vorgelegt, die sein Streben für eine atomwaffenfreie Welt belegen soll. Steht die Überprüfungskonferenz 2010 damit unter einem günstigeren Stern als 2005?

Leider ist der Glanz der Prager Stunde bereits sehr verblichen, denn Präsident Obama bläst bei jedem versprochenen Schritt ein heftiger Gegenwind ins Gesicht. Und die nach langen Verhandlungen erreichten Ergebnisse des neuen START-Vertrags, der neuen Atomwaffendoktrin und des Washingtoner Sicherheitsgipfels reichen nicht aus, um die Erwartungen der atomwaffenfreien Staaten und Abrüstungsbefürworter zu befriedigen.

Die angeblich leichte Übung, mit Russland einen neuen Vertrag über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen auszuhandeln, entwickelte sich wider Erwarten zu einer längeren Auseinandersetzung. Und selbst die Ratifizierung des Vertrages bleibt fraglich, denn mehr als 40 US-Senatoren kündigten bereits ihren Widerstand an, falls mit dem Vertrag nicht eine massive Modernisierung des eigenen Arsenals gekoppelt wird. Der US-Kongress muss dem Vertrag mit zwei Drittel Mehrheit zustimmen und es bedarf einiger Stimmen aus dieser Gruppe, damit der Vertrag Rechtskraft erlangt. Die lang ersehnte Ratifizierung des Umfassenden Atomteststoppvertrags leidet ebenfalls unter diesem Streit. Da der neue START-Vertrag ausdrücklich keine Einschränkung für eine Raketenabwehr vorsieht, könnten die entsprechenden US-Pläne auch zum Problem für die Ratifizierung des Vertrags in Russland werden.

Überdies ist Obama mit seiner Strategie der »ausgestreckten Hand« in Richtung des Iran nicht viel weiter gekommen, und das allgemeine Misstrauen gegenüber dem Land ist eher gewachsen. Es gibt also noch einige Hürden vor und während der Überprüfungskonferenz zu überwinden.

Abrüstung vorantreiben – und was im Wege steht

Artikel VI des Atomwaffensperrvertrages enthält u.a. für alle Staaten – nicht nur für die Atomwaffenstaaten – die Verpflichtung, die allgemeine und vollständige (nukleare) Abrüstung anzustreben. Mit Abrüstung ist die nukleare Entwaffnung (dis-armament) gemeint und nicht nur eine Reduzierung der Atomwaffen. Dies machte 1996 der Internationale Gerichtshof (IGH) deutlich, als er in einem Rechtsgutachten einstimmig erklärte:

„Es besteht eine Verpflichtung, Verhandlungen in gutem Glauben fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“ 1

Auch wenn alle offiziellen Atomwaffenstaaten außer China ihre Arsenale reduziert haben, befriedigt dies nicht die atomwaffenfreien Staaten. Vierzig Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags erwarten viele Staaten endlich einen konkreten Fahrplan zur Abrüstung, zum Beispiel in Form einer Nuklearwaffenkonvention, ähnlich derer für chemische und biologische Massenvernichtungswaffen, oder den Abschluss eines »Rahmenvertrags«, der Abkommen und rechtsverbindliche Einigungen und Erklärungen mit dem Ziel der vollständigen Abrüstung verbindlich zusammenfasst.

Auf der Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wurde mit den »13 praktischen Schritten« eine erste Abrüstungsagenda verabschiedet. Diese Agenda ist noch kein Fahrplan, sondern sie umfasst erste Schritte auf dem Weg zur atomwaffenfreien Welt. Leider sind einige dieser Schritte bereits Makulatur, so z.B. die Stärkung des Raketenabwehrvertrags, den die USA 2001 aufkündigten, um ihre Raketenabwehr entwickeln zu können. Im Gegenzug ließ Russland dann den START-II-Vertrag fallen. Grundsätzlich hatten die USA aufgrund der »neuen Sicherheitslage« nach dem 11. September 2001 die Schritte von 2000 ebenso wie völkerrechtlich bindende Abrüstungsvereinbarungen generell in Frage gestellt. Diese Einschätzung wurde aber längst nicht von allen NVV-Unterzeichnerstaaten geteilt, und somit bleiben für die meisten Staaten auch dieses Jahr die »13 praktischen Schritte« Grundlage für die Verhandlungen in New York. (Die »13 praktischen Schritte« sind in diesem Dossier auf Seite  im Wortlaut zitiert.)

Nicht nur die Reduzierung der Atomwaffen und Trägersysteme ist für die Abrüstung wichtig, sondern auch die Frage, wann und wie sie eingesetzt werden können. Dabei kommen die Doktrinen der Atomwaffenstaaten zum Tragen: Aus ihnen leiten sich die Zielpläne ab. Die jüngst vorgelegte neue Strategie der USA, nachzulesen im »Nuclear Posture Review Report«, schränkt die Strategie des »präventiven« Ersteinsatzes von US-Atomwaffen gegen atomwaffenfreie Staaten, die sich den Auflagen des NVV unterwerfen, ein und dokumentiert eine Verringerung der Rolle der Atomwaffen in der militärischen Gesamtstrategie. Doch der von RüstungskontrollexpertInnen gemachte Vorschlag, die US-Atomwaffen sollten zukünftig nur noch der Abschreckung eines Einsatzes von Atomwaffen dienen und nicht mehr in konventionellen Konflikten, selbst bei Verdacht, dass C- oder B-Waffen gegen die USA eingesetzt werden könnten, zum Einsatz kommen, wurde nicht umgesetzt.

Russland veröffentlichte im Februar 2010 seine neue Militärstrategie, die zwar noch Atomwaffeneinsätze als Antwort auf konventionelle Angriffe erlaubt, jedoch nur, wenn diese „die Existenz des Staates gefährden“.2

Mit dieser Formulierung übernimmt Russland die Formulierung des IGH im Rechtsgutachten zur „Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen“ aus dem Jahre 1996. Damals kam der IGH zum Schluss:

„[…] dass die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts stehen würde.

Der Gerichtshof kann jedoch in Anbetracht des gegenwärtigen Völkerrechtsstatus und der ihm zur Verfügung stehenden grundlegenden Fakten nicht definitiv entscheiden, ob die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen in einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stehen würde, rechtmäßig oder unrechtmäßig sein würde[…]“ 3

Zurzeit wird auch die NATO-Strategie diskutiert, speziell die Rolle der Atomwaffen darin. Obwohl das neue Strategische Konzept der NATO nicht vor der Überprüfungskonferenz im Mai sondern erst beim NATO-Gipfel in Lissabon Ende 2010 verabschiedet werden soll, hat die Debatte erhebliche Auswirkung auf die Verhandlungen in New York. Das berührt vor allem die »nukleare Teilhabe« in der NATO, eine Praxis, die von den blockfreien Staaten (NAM = Non-Aligned Movement) als Verbreitung von Atomwaffen und damit als ein Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag angesehen wird.

Fünf europäische Außenminister haben eingefordert, dass die Rolle der Atomwaffen in der NATO-Strategie beim NATO-Außenministertreffen in Tallinn/Estland am 22./23. April 2010 auf die Tagesordnung kommt.4 Die deutschen und belgischen Parlamente haben bereits beschlossen, sich für den Abzug der US-Atomwaffen aus ihren Ländern einzusetzen, und die deutsche Bundesregierung hat die gleiche Absicht in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben.5

Andere Sicherheitsstrukturen schaffen

Artikel I und II des NVV-Vertrages regeln die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Sie verpflichten die Atomwaffenstaaten, ihre Atomwaffen nicht weiter zu geben, und die atomwaffenfreien Staaten, keine Atomwaffen anzunehmen oder zu erwerben. Ohne deutliche Fortschritte im Bereich der Abrüstung bleibt es schwierig, mit der Frage der Nichtverbreitung voran zu kommen. Von zentraler Bedeutung ist dabei, ob es andere Sicherheitskonzepte zum Schutz vor bzw. zur Vermeidung einer atomaren Bedrohung geben kann als nukleare Abschreckung. Ein Weg ist die verifizierbare Abschaffung aller Atomwaffen. Begleitend müssten verbesserte regionale Sicherheitsstrukturen und Sicherheitsgarantien geschaffen werden.

Damit rückt die »Universalität« des Vertrags ins Blickfeld; was meint, dass die drei Atommächte Israel, Indien und Pakistan dem Vertrag beitreten – was sie gemäß Vertragstext nur als Nichtatomwaffenstaaten können – und Nordkorea in die Vertragsgemeinschaft zurückkehrt.

Antworten auf die Sicherheitsprobleme der Staaten außerhalb des Vertrags (z.B. die Palästina-Frage oder den Kaschmir-Konflikt) werden sicherlich nicht in New York gegeben, aber hilfreich wäre ein Fortschritt in zwei Punkten: erstens, die Resolution der Überprüfungskonferenz 1995 über eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Mittleren Osten umzusetzen,6 und zweitens, einen Vorbereitungsprozess für eine Nuklearwaffenkonvention oder einen ähnlichen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen zu beginnen.

Artikel V des NATO-Vertrags (kollektive Verteidigung) enthält eine »positive« Sicherheitsgarantie, laut der ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat als Angriff auf das gesamte Bündnis verstanden wird und mit Atomwaffen aus den USA, Großbritannien und neuerdings auch Frankreich beantwortet werden kann. Die USA bieten darüber hinaus ihren Bündnispartnern weltweit eine »erweiterte Abschreckung« an, auch bekannt als »nuklearer Schutzschirm«. Weil sich u.a. Südkorea und Japan auf diese »positive« Sicherheitsgarantie verlassen, wird in den USA argumentiert, man dürfe die Bündnispartner nicht im Stich lassen, sonst könnten diese Länder versucht sein, selbst Atomwaffen zu entwickeln.

Atomwaffenfreie Zonen bieten bereits für 114 Staaten Sicherheitsstrukturen und die Garantie, nicht mit Atomwaffen angegriffen zu werden. Diese »negativen« Sicherheitsgarantien in einem Vertrag über eine atomwaffenfreie Zone können »positive« nukleare Sicherheitsgarantien ersetzen. Der Verhandlungsprozess zu einer atomwaffenfreien Zone kann zudem den Dialog über regionale Sicherheitsprobleme fördern. Im Mittleren Osten könnte ein solcher Prozess dazu führen, dass Staaten wie Iran, Syrien, Saudi-Arabien, Ägypten und weitere nicht an die Entwicklung eigener Atomwaffen denken, sondern aktiv daran mitarbeiten, dass Israel in die Lage versetzt wird, seine Atomwaffen aufzugeben. Auch in Südostasien (Indien und Pakistan) oder Nordostasien (Nord- und Südkorea, Japan, Taiwan und China) könnte sich die Bildung einer atomwaffenfreien Zone auf die Abrüstung und Sicherheit der teilnehmenden Staaten sehr günstig auswirken.

Allerdings reicht es nicht, nur regionale Zonen frei von Atom- oder Massenvernichtungswaffen zu bilden, sondern es muss zusätzlich Klarheit darüber bestehen, dass Atomwaffen global abgeschafft werden. Die zentrale Belastung für den Atomwaffensperrvertrag ist die bröckelnde Glaubwürdigkeit der in Artikel VI formulierten »redlichen Absicht«, mit der die Atomwaffenstaaten ihrer Abrüstungsverpflichtung nachkommen sollen. Der Vertrag schreibt nicht fest, wie diese Absicht in Zahlen oder Zeit gemessen werden kann. In der Amtszeit von George W. Bush war die Glaubwürdigkeit dieser Verpflichtung auf einen Tiefpunkt gesunken. Obamas Bekenntnis zu einer atomwaffenfreien Welt in Prag hat zwar geholfen, sie leicht zu heben, die atomwaffenfreien Staaten erwarten jedoch deutlichere und konkretere Zeichen als nur eine »Vision«, die nicht mal zu Lebzeiten des relativ jungen Präsidenten erreichbar sein soll.

Vorschläge für die atomwaffenfreie Welt

Deshalb ist der Fünf-Punkte-Plan von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sehr hilfreich. Er schlägt vor, die Abrüstung der Atomwaffen „… entweder durch eine neue Konvention oder eine Reihe sich wechselseitig verstärkender Instrumente auf Grundlage eines glaubwürdigen Kontrollsystems“ anzugehen.7 (siehe S. )

Von der Zivilgesellschaft gibt es seit 1997 einen Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention zur Umsetzung der Abrüstungsverpflichtung gemäß Artikel VI. Der Entwurf wurde 2007 überarbeitet und beide Mal von Costa Rica bei den Vereinten Nationen eingereicht.8

Die australisch-japanische Kommission für Nichtverbreitung und Abrüstung (ICNND) schlug kürzlich in ihrem Bericht »Eliminating Nuclear Threats«9 vor, künftige Verhandlungen zu einer Konvention unter Rückgriff auf diesen Modellentwurf vorzubereiten. Praktisch könnte das so aussehen: Mit der Unterstützung von Regierungen sollte sofort damit begonnen werden, die Konzepte zu verbessern und weiterzuentwickeln, die in dem Modellentwurf der Konvention enthalten sind. Das würde bedeuten, dass die Bestimmungen so praktikabel und realistisch wie möglich formuliert werden. Ziel müsste sein, zu Beginn der geforderten Abrüstungsverhandlungen einen überarbeiteten Entwurf vorzulegen, der als Wegweiser für die Verhandlungen dienen kann.

Nichtverbreitung fördern

Abrüstung kann die Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht alleine stoppen, obwohl sie deren Ursache bekämpft. Weiter notwendig ist die verstärkte Kontrolle der Technologien und Materialien zur Entwicklung von Atomwaffen, die momentan noch lückenhaft ist und durch die »Renaissance« der Atomenergie erheblich anspruchsvoller wird.

Oft ist die Rede von den drei »Säulen«, die den Atomwaffensperrvertrag stabil halten würden. Gemeint sind die Abrüstung, die Nichtverbreitung und das Recht auf die zivile Nutzung der Atomenergie. So sichert Artikel IV den Vertragsstaaten das Recht zu, „die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln “.

Dennoch ist es nicht korrekt, von drei Säulen zu sprechen. Bei den ursprünglichen Vertragsverhandlungen war das zentrale Arrangement seitens der atomwaffenfreien Staaten ihre Bereitschaft, auf Atomwaffen zu verzichten, und seitens der Atomwaffenstaaten die Verpflichtung, abzurüsten. Das Recht aller auf Atomenergie war nur ein zusätzlicher Anreiz in einer Zeit, in der andere Energiequellen begrenzt und Atomreaktoren unproblematisch schienen. Heute – wo nicht nur erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, sondern wir auch um die Gefährlichkeit der Atomenergie wissen – sollte dieser Köder nicht mehr attraktiv sein. Hier stellt sich die Frage: Warum beharren so viele Staaten noch auf diesem Recht? Die Antwort liegt auf der Hand: Mit der zivilen Atomenergie verfügt ein Staat über die Bausteine für den Bau von Atomwaffen. Hier spielt nicht nur Iran mit verdeckten Karten, sondern viele weitere Länder tun dies auch.

Überdies dürfen die Interessen der Atomindustrie nicht außer Acht gelassen werden. Die 44 Staaten, die als nukleare »Lieferländer« bekannt sind,10 haben ein kommerzielles Interesse, die zivile Nutzung von Atomenergie weltweit auszubauen. Also verteidigen Liefer- und Empfängerstaaten dieses Recht, obwohl es ein unlösbares Hindernis für die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist. Die Antwort der Lieferländer auf die Problematik ist der Vorschlag einer internationalen Nuklearbrennstoff-Bank. Ihre Einrichtung würde es erlauben, Atomreaktoren zu betreiben und gleichzeitig zu vermeiden, dass die Empfängerstaaten die Materialien zur Entwicklung von Atomwaffen – durch Urananreicherung oder Wiederaufarbeitung – selbst erzeugen. Der Streit mit Iran über das Recht, im eigenen Land Uran anzureichern, zeigt, dass die Idee einer Brennstoffbank nur dann funktioniert, wenn der fragliche Staat ein gewisses Maß an Vertrauen gegenüber den Betreibern einer solchen Bank hätte. Dies ist momentan nicht der Fall, weil Iran immer wieder mit Krieg bedroht wird.

Die erfolgreiche Nichtverbreitung bedarf auch einer Regelung zur Produktion spaltbarer Materialien. Ein Herstellungsstopp (Cut-Off) von hoch angereichertem Uran und Plutonium für Waffenzwecke wird seit langem verhandelt und könnte als nächster multilateraler Schritt aus den »13 praktischen Schritten« realisierbar sein. Selbst ein Produktionsstopp löst aber nicht die Frage der bestehenden Vorräte an spaltbaren Materialien. Pakistan weist darauf hin, dass ein Einfrieren des jetzigen Vorratsstands ungerecht sei. Staaten mit mehr Materialien – Pakistan zielt dabei vor allem auf Indien – könnten daraus künftig mehr Atomwaffen bauen als solche mit kleineren Materialvorräten. Angesichts des Wettrüstens in Südostasien ist Pakistans Position durchaus verständlich.

Das Kontrollsystem muss sowohl für die Nichtverbreitung als auch für die Verifizierung einer atomwaffenfreien Welt verstärkt werden. Artikel III des Atomwaffensperrvertrags legt diese Kontrolle in die Hände der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu so genannten »Safeguards«. Das sind Sicherheitsmaßnahmen wie z.B. die Berichterstattung über nukleare Anlagen und Materialbestände sowie Inspektionen, um den Wahrheitsgehalt der Angaben zu überprüfen. Durch u.a. solche Maßnahmen sind in Iran und Nordkorea Unstimmigkeiten aufgedeckt worden.

Allerdings hat die Geschichte gezeigt – vor allem im Fall Irak – dass Safeguards alleine nicht ausreichen. Daher wurde von der IAEO ein Zusatzprotokoll zum Safeguards-Abkommen ausgearbeitet. Seit 1997 sollen die Staaten freiwillig das Protokoll unterschreiben, das unangemeldete und noch eingehendere Inspektionen ermöglicht. Bis März 2010 haben 139 Staaten das Zusatzprotokoll angenommen.11 Iran hat das Protokoll zwar unterschrieben aber wegen des Konflikts über seine Urananreicherung nicht in Kraft gesetzt. Argentinien und Brasilien haben das Protokoll noch nicht einmal angenommen, obwohl sie beide Urananreicherung betreiben.

Das Vertragsumfeld verbessern

Artikel X des Atomwaffensperrvertrags regelt die Kündigung des Vertrags. Kündigen – das hat das Beispiel Nordkoreas gezeigt – ist erstaunlich einfach. Eine Regierung kann mit einer Frist von drei Monaten aus dem Vertrag austreten, „wenn sie entscheidet, dass durch außergewöhnliche, mit dem Inhalt dieses Vertrags zusammenhängende Ereignisse, eine Gefährdung der höchsten Interessen ihres Landes eingetreten ist“. Seit Nordkoreas Austritt im Jahre 2003 wird diskutiert, wie einer Kündigung vorgebeugt bzw. der Austritt und die Entwicklung von Atomwaffen sanktioniert werden können. Deutschland hat sich dieses Themas angenommen und will, dass vor dem Austritt ein verstärkter Dialog zwingend wird, in dem die Konsequenzen des Austritts diskutiert sowie Hilfestellungen zur Lösung der Sicherheitskrise des Staates gegeben werden können.

Der Atomwaffensperrvertrag leidet darüber hinaus an grundsätzlichen strukturellen Defiziten, wie z.B. dem Fehlen eines Sekretariats oder eines Exekutivorgans. So informieren sich die Konferenzdelegierten über das Geschehen auf der Konferenz oftmals mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen, deren täglicher Konferenzzeitung oder Webseiten, auf denen die Zivilgesellschaft alle Dokumente der Konferenz zur Verfügung stellt.

Was tun?

Der Ausblick auf die Konferenz in New York ist nicht gerade positiv. Ohne dass den Worten entsprechende Taten folgen, kann sie kein Erfolg werden. Solche Taten könnten der folgenden Agenda entstammen:

Die Atomwaffenstaaten werden sich einig, das Atomwaffen – bis zu ihrer endgültigen Abschaffung – ausschließlich der atomaren Abschreckung dienen.

Die US-Atomwaffen werden aus Europa abgezogen und die nukleare Teilhabe in der NATO beendet.

Eine Konferenz zur Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone im Mittleren Osten wird einberufen.

Die Atomwaffenstaaten vereinbaren rechtsverbindliche »negative« Sicherheitsgarantien für atomwaffenfreie Staaten.

Weitere bilaterale Verhandlungen zur Reduzierung von strategischen und taktischen Atomwaffen werden angekündigt.

Die strategischen Atomwaffen werden aus der höchsten Einsatzbereitschaft genommen, so dass sie nicht mehr auf Knopfdruck gestartet werden können.

Die Transparenz über die Anzahl der Atomwaffen und die Menge an Materialien wird durch verbindliche Berichte erhöht.

Ein Vorbereitungsprozess für eine Nuklearwaffenkonvention wird verabredet.

Bestehende Verträge (Atomteststoppvertrag, neuer START-Vertrag) werden ratifiziert, so dass sie in Kraft treten können.

Die Verhandlungen über einen Herstellungsstopp spaltbarer Materialien werden vorangetrieben und eine Lösung für bestehende Vorräte gesucht.

Das gegenseitige Vertrauen wird so weit ausgebildet, dass Staaten einer internationalen Brennstoffbank zustimmen können. Daher werden jegliche Kriegsandrohungen oder -handlungen unterlassen. (Ein Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie wäre langfristig die bessere Lösung.)

Der Atomwaffensperrvertrag bekommt eine eigene Infrastruktur.

Diese Liste ist nicht vollständig. Es gibt viele weitere wichtige Schritte, um die Welt vor der atomaren Bedrohung zu schützen. Doch nur wenn die Unterzeichnerstaaten oben genannte Maßnahmen aufgreifen, würde die Überprüfungskonferenz in New York einen signifikanten Fortschritt bei der Umsetzung des Vertrages bedeuten. Darauf würden wir uns für die Sicherheit aller Menschen unseres Planeten freuen.

Anmerkungen

1) Rechtsgutachten des Internationaler Gerichtshofes zur Legalität der Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen vom 8. Juli 1996; deutsche Übersetzung des Bundespresseamtes zitiert nach: IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, Münster: LIT Verlag, S.68.

2) Podvig, Pavel: New Russian military doctrine, 5. Februar 2010, http://russianforces.org/blog/2010/02/new_russian_military_doctrine. shtml.

3) IGH, op.cit., S.67.

4) Brief an NATO-Generalsekretär Rasmussen der fünf Außenminister von Belgien, Deutschland, Luxemburg, Niederlande und Norwegen, 26. Februar 2010, www.minbuza.nl/dsresource?objectid=buzabeheer:200281&type= org.

5) Auszug aus dem Koalitionsvertrag der CDU/CSU und FDP, 23. Oktober 2009, http://www.atomwaffenfrei.de/aktionsphase- bundestagswahl/koalitionsverhandlungen/ artikel/wortlaut-des-koalitionsvertrages.html.

6) NPT/CONF.1995/32 (Part I), Annex, Resolution on the Middle East, www.un.org/ disarmament/WMD/Nuclear/1995-NPT/pdf/Resolution_MiddleEast.pdf.

7) Ban Ki-moon: Mein Plan zur Entsorgung der Bombe, 31. Juli 2009, www.project-syndicate. org/commentary/kimoon8/German.

8) IALANA, INESAP, IPPNW (2007): Securing our Survival. Das Buch in englischer Sprache steht auf http://icanw.org/securing-our-survival. Der Vertragstext auf Deutsch (Version 1997): www.atomwaffena-z.info/fileadmin/user_upload/pdf/nwc.pdf. Siehe auch Jürgen Scheffran: Transformation in die atomwaffenfreie Welt. Die Nuklearwaffenkonvention, Wissenschaft & Frieden 1/2008.

9) ICNND: Eliminating Nuclear Threats, 15. Dezember 2009, http://www.icnnd.org/ reference/reports/ent/pdf/ICNND_Report- EliminatingNuclearThreats.pdf.

10) Die Liste der Mitgliedsstaaten der Nuclear Suppliers Group und ihre Leitlinien siehe www.nuclearsuppliersgroup.org.

11) IAEO: Safeguards – current status, 3. März 2010, www.iaea.org/OurWork/SV/Safeguards/sir_table.pdf.

Xanthe Hall (Abrüstungsexpertin) und Dr. Jens-Peter Steffen (Friedensreferent) arbeiten für die Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) in Berlin.

zum Anfang | Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei«

Vor der Überprüfungskonferenz fast am Ziel?

von Wolfgang Schlupp-Hauck

Von einer atomwaffenfreien Welt sind wir sicher noch ein ganzes Stück entfernt, ein atomwaffenfreies Deutschland dagegen könnte in der nächsten Zeit Realität werden. CDU/CSU und FDP haben in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2009 festgehalten: „Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.“ Vertritt Außenminister Guido Westerwelle bei der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages in New York diese Forderung offensiv, so wäre das ein wichtiger Schritt, um die USA zum Abzug ihrer Atomwaffen aus Büchel zu drängen, was wiederum ein wichtiges Signal wäre für weitere Schritte in Richtung atomwaffenfreie Welt.

Ein atomwaffenfreies Deutschland war das Ziel der Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei«, die vor drei Jahren von einem Dutzend Aktiven aus dem Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!« gegründet wurde. Ihre Kernübereinkunft lautete: „Wir fordern als deutschen Beitrag für eine atomwaffenfreie Welt:

den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland

keine Mitarbeit an der Planung und dem Einsatz von Atomwaffen.“

Kommt es zum Abzug der amerikanischen Atomwaffen, so hat die Kampagne schneller ihr Ziel erreicht als viele erwartet haben.

Positionswechsel der Bundesregierungen

Bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Jahr 2005 war die nukleare Teilhabe noch kein Thema der rot-grünen Regierungspolitik. Die Regierungsparteien hatten zwar im Vorfeld einen Antrag vorgelegt mit dem Titel „Die Verbreitung der Kernwaffen verhindern und die nukleare Abrüstung stärken“, in ihm fehlte aber jegliche Aussage zu den Atomwaffen in Deutschland. Dieses Manko griff damals der FDP-Abgeordnete Harald Leibrecht auf. Unter seiner Federführung wurde der Antrag „Glaubwürdigkeit des nuklearen Nichtverbreitungsregimes stärken – US-Nuklearwaffen aus Deutschland abziehen“ eingereicht. Er wurde vom Bundestag nicht verabschiedet, sondern an den Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle verwiesen.

Dennoch bekam das Thema damit einen höheren Stellwert. Außenminister Josef Fischer forderte dann am 2. Mai 2005 in New York auf der Überprüfungskonferenz den vollständigen Abbau der »substrategischen Atomwaffen« – unter Verweis auf die Diskussion in Deutschland.

Deutlicher wurde drei Tage später Verteidigungsminister Peter Struck: „Ich bin mir mit Außenminister Fischer einig, dass wir in den Gremien der NATO dieses Thema ansprechen werden.“ Er wolle dies gemeinsam mit anderen europäischen Verbündeten tun. Doch NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer stellte fest: „Die Atomwaffen bleiben, wo sie sind.“ Erst wenn die Bundesregierung „klar und deutlich einen Abzug der Waffen fordern würde, wäre das ein Thema für die NATO.“ Mit Bundeskanzler Gerhard Schröders Ankündigung von Neuwahlen verschwand kurz danach das Thema wieder von der politischen Tagesordnung.

2006 beim Ringen der großen Koalition um das »Weißbuch« für die Bundeswehr entbrannte über die technische nukleare Teilhabe zwischen den beiden Regierungsparteien ein Streit. Verteidigungsminister Jung (CDU) wollte auch „in Zukunft die deutsche Teilhabe an den nuklearen Aufgaben der NATO“, einschließlich der Bereitstellung von Trägersystemen. Die SPD wollte das nicht. In SPD-Kreisen wurde ein verstecktes Ausstiegsszenario favorisiert. Deren verteidigungspolitischer Sprecher, Rainer Arnold, verwies darauf, dass die nukleare technische Teilhabe ohnehin beendet sei, wenn die Tornados ausgemustert und durch Eurofighter ersetzt werden. Die Bundeswehr besitze dann kein Trägersystem mehr, das Atomwaffen ins Ziel tragen könne.

Die Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei«

Vom Trägerkreis zum Kampagnenrat

Der Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen« ist der deutsche Zweig des weltweiten Zusammenschlusses »Abolition 2000 – Global Network to Eliminate Nuclear Weapons«. Der Trägerkreis setzt sich auf internationaler Ebene für nukleare Abrüstung, insbesondere für den Beginn von Verhandlungen zur einer Nuklearwaffenkonvention ein. Zu den Mitgliedern gehören 50 Gruppierungen, kleine Friedensgruppen und große Friedensverbände wie etwa die IPPNW. Nukleare Abrüstung ist in den Gruppen selbst nicht unbedingt das alleinige Thema, sondern meist nur eines von mehren. Die Aktiven aus dem Trägerkreis gründeten deshalb den Kampagnenrat, dem auch Hannover (für die »Mayors for Peace« – Bürgermeister für den Frieden) und Greenpeace beitraten. So entstand ein kleines und arbeitsfähiges Gremium.

Vor diesem Hintergrund beschloss die Kampagne »unsere zukunft – atomwaffenfrei«, dass es nicht reicht, das Ende der nuklearen Teilhabe heimlich nur auf der technischen Ebene zu vollziehen, sie müsse als politischer Schritt deutlich werden. Nach Vorstellung der Kampagne sollte die Bundesregierung auf der Überprüfungskonferenz 2010 erklären: „Deutschland wird atomwaffenfrei als Schritt hin zu einer atomwaffenfreien Welt“.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurde festgelegt, die Kampagne auf zwei Ebenen durchzuführen. Einerseits soll die Kampagne durch Aktionen informieren und mobilisieren; andererseits durch Lobbyarbeit politischen Druck erzeugen. Es sollten Politiker der damaligen Oppositionsparteien und der SPD gestärkt werden, die für ein atomwaffenfreies Deutschland eintraten, sowie Politiker der CDU/CSU für dieses Ziel gewonnen werden.

Fokussiert sollte die Kampagne auf Angela Merkel werden, also auf die Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzende der CDU. Jede Phase sollte zwei Mobilisierungsphasen beinhalten: eine für eine zentrale Aktion und eine für zeitgleiche lokale Aktivitäten.

Begleitend wurden Postkartenaktionen angeboten, welche ein atomwaffenfreies Deutschland forderten:

»Yes, you can!« (zur Wahl des US-Präsidenten Barack Obama in die USA),

»Angela, Du kannst es auch!« (an Bundeskanzlerin Angela Merkel),

„Ich wähle atomwaffenfrei« (an Bundeskanzlerin Angela Merkel),

»Do it now!« (über die deutsche US- Botschaft an US-Präsident Barack Obama).

Drei einjährige Phasen wurden für die Kampagne geplant:

»Hands up« August 2007 bis August 2008,

»Vor der eigenen Tür kehren« August 2008 bis April 2009,

»An der eigenen Nase fassen« Mai 2009 bis Oktober 2009.

Die erste Phase galt als Mobilisierungsphase, sie wurde eingeleitet mit im Internet veröffentlichten Fotos unter dem Motto »Hand hoch für nukleare Abrüstung«.

In der zweiten Phase wurden Kehraktionen vor der CDU-Zentrale sowie vor Abgeordnetenbüros in Berlin und in Wahlkreisen organisiert. Außerdem wurde zusammen mit dem örtlichen Initiativkreis zu einer Großaktion am Stationierungsort der US-Atomwaffen in Deutschland, dem Fliegerhorst Büchel, aufgerufen. Mit über 2.000 Teilnehmern wurde es die größte Aktion, die jemals am letzten Atomwaffenstandort in Deutschland statt fand.

In der dritten Phase richtete sich der Blick auf den Bundestagswahlkampf:

Zur Wahl: Einmischung in den Wahlkampf durch Gespräche mit Kandidaten, Besuch von Wahlkampfveranstaltungen und eine Postkartenaktion.

Nach der Wahl: Lobbyarbeit für die Festschreibung des Atomwaffenabzugs im Koalitionsvertrag.

Während des Wahlkampfs wurden die Bundestagskandidaten gebeten, eine Erklärung »In redlicher Absicht« abzugeben – in Anspielung auf Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages zur Abrüstungsverpflichtung der Atomwaffenstaaten. Die Ergebnisse wurden auf der Kampagnen-Homepage dokumentiert. Die Pressehütte Mutlangen organisierte über ihr Magazin »FreiRaum« öffentliche Telefonkonferenzen mit den verteidigungspolitischen Sprechern aller Bundestagsparteien. Für Friedensgruppen gab es Aktionsvorschläge zur Einmischung in Wahlkampfveranstaltungen und Beratung für Gespräche mit Abgeordneten.

Wichtig für das Gelingen der Kampagne war die Zusammenarbeit mit den Mayors for Peace. Da in den Mayors for Peace Kommunalpolitiker aller Parteien vertreten sind, konnte über deren Engagement auch ein Faden in Richtung Unionsparteien gesponnen werden. Hieraus entstand

das Mutlanger Manifest, unterzeichnet zum 15. Jahrestag des Mittelstrecken-Vertrages (www.pressehuette.de),

eine internationale Erklärung von Bürgermeistern aller Stationierungsorte im Rahmen der nuklearen Teilhabe,

eine Unterschriftenübergabe im Bundeskanzleramt,

eine Erklärung von CDU-Bürgermeistern zur Wahl,

ein Schreiben von CDU-Bürgermeistern zu den Koalitionsverhandlungen,

die Teilnahme von Mayors for Peace an der Großaktion in Büchel.

Nach der Bundestagswahl wurde der Fokus stärker auf die FDP und den designierten Außenminister Guido Westerwelle gelegt, da er sich im Wahlkampf für den Abzug der Atomwaffen stark gemacht hatte.

Das Ziel unserer Einmischung in den Wahlkampf und der Lobbyarbeit zu den Koalitionsverhandlungen wurde erreicht: Erstmalig seit dem Ende des Kalten Krieges spricht eine Bundesregierung konkret von einem atomwaffenfreien Deutschland. In der Koalitionsvereinbarung steht: „Die Überprüfungskonferenz im Jahre 2010 wollen wir dafür nutzen, um eine neue Dynamik für vertragsbasierte Regelungen in Gang zu setzen. In diesem Zusammenhang sowie im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen Konzeptes der NATO werden wir uns im Bündnis sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.“

So konnte die nächste Phase gestartet werden: »Next Stop New York 2010«. Wir fordern die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung und unterstreichen das mit zahlreichen Aktionen im Vorfeld der Überprüfungskonferenz in New York.

Ende März wurde die Koalitionsvereinbarung im Bundestag in dem interfraktioneller Antrag „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“ bekräftigt.

Deutschland atomwaffenfrei – ein erster Schritt

Die Kampagne geht mit ihrer Forderung »Deutschland atomwaffenfrei« auf die Zielgerade. Es beginnt der Endspurt: In den letzten Wochen vor der Überprüfungskonferenz in New York mobilisiert die Kampagne nochmals mit Radtouren zu Orten mit Bürgermeistern für den Frieden. Fotos der Bürgermeister-Empfänge mit den radelnden AktivistInnen und die Unterzeichung des Appells »Für eine Zukunft ohne Atomwaffen« schaffen zumindest lokale Öffentlichkeit für das Kampagnenziel.

Wir hoffen, dass sich die beim Gründungstreffen der Kampagne gefundene Formulierung »Deutschland wird atomwaffenfrei als Schritt zu einer Welt ohne Atomwaffen«, Anfang Mai in der Rede des Außenministers in New York wiederfindet. Damit nach der Konferenz den Worten Taten folgen, wird die Kampagne noch vor der NATO-Strategietagung im Herbst weitere Aktionen planen.

Werden die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen, wäre das ein Anlass für eine Siegesfeier der Kampagne in Büchel und für die Diskussion des nächsten Schwerpunktes: Kampagne für ein atomwaffenfreies Europa oder für Verhandlungen zu einer Nuklearwaffenkonvention.

Anmerkung

Informationen zu den Aktivitäten der Kampagne finden sich auf www.atomwaffenfrei.de und www.mayorsforpeace.de.

Wissen und Hintergrundinformationen zur Kampagne steht auf www.atomwaffenlernen.info und www.atomwaffena-z.info.

Der Autor dieses Artikels wird mit seiner Frau ab Juli auf einer Tandemtour von Mutlangen nach Teheran an vielen Orten unterwegs die Ergebnisse der Überprüfungskonferenz diskutieren: www.global-zero-now.de.

Wolfgang Schlupp-Hauck ist Vorsitzender der Friedenswerkstatt Mutlangen e.V. und ein Sprecher der Kampgne »unsere zukunft – atomwaffenfrei«.

zum Anfang | Einige wichtige Begriffe

zusammengestellt von Regina Hagen

NVV = (nuklearer) Nichtverbreitungsvertrag; engl. Non-Proliferation Treaty = NPT

Wurde am 1. Juli 1968 zur Unterzeichnung ausgelegt; trat am 5. März 1970 in Kraft. 188 (bzw. mit Nordkorea 189) Mitgliedstaaten. Text siehe Seite  in diesem Dossier.

Überprüfungskonferenz

Die Umsetzung und Wirksamkeit des NVV wird alle fünf Jahre auf einer vierwöchigen Konferenz überprüft (Überprüfungskonferenz, engl. Review Conference oder RevCon). In den Jahren zuvor wird die Überprüfungskonferenz auf (meist drei) zweiwöchigen Vorbereitungskonferenzen (engl. Preparatory Committee meeting = PrepCom) vorbereitet, die im Idealfall bereits konkrete Empfehlungen an die Überprüfungskonferenz geben.

Unterzeichnung

Die Unterzeichnung eines Vertrags ist ein Akt, durch den der Staat sein Interesse an dem Vertrag und seine Absicht, Vertragspartei zu werden, bekundet. Die Unterzeichnung allein ist noch nicht bindend. Er hat jedoch die Verpflichtung, dem Sinn und Zweck des Vertrags nicht zuwiderzuhandeln, solange er nicht ausdrücklich erklärt hat, doch nicht Vertragspartei werden zu wollen (vgl. Artikel 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge).

Ratifizierung

Der Akt, mit dem ein Staat sich endgültig und verbindlich bereit erklärt, sich an einen Vertrag halten zu wollen, z.B. durch Parlamentsbeschluss. Der Vertragsstaat muss von dem Zeitpunkt der Ratifizierung an die Vertragsbestimmungen beachten und umsetzen.

Implementierung

Umsetzung eines Vertrags.

Kernwaffe = Nuklearwaffe = Atomwaffe

Die drei Begriffe sind gleichermaßen korrekt: Bei einer Kernexplosion wird der Kern, lateinisch nucleus, eines Atoms gespalten.

Zu den Kernwaffen gehören alle Waffen, die ihre Explosionsenergie durch Kernspaltung oder Kernfusion gewinnen. Trifft ein Neutron auf einen spaltbaren Kern, so zerfällt dieser unter Freisetzung von großen Mengen Energie. Spaltbare Kerne sind z.B. diejenigen von Uran-235 oder Plutonium-239. Die Zündung der Reaktion erfolgt durch Zusammenschießen des Sprengstoffs zur kritischen Masse.

Kernwaffen rufen durch Freisetzung von Kernenergie sehr große zerstörende Wirkung hervor. Von herkömmlichen Waffen unterscheiden sie sich dadurch, dass sie:

die bis zu einmilliarden-fache Sprengkraft herkömmlicher Waffen besitzen,

bei der Explosion wesentlich höhere Temperaturen entwickeln (Lichtblitz, Hitzestrahlung),

durch die Explosion radioaktive Strahlung freisetzen.

Außerdem entstehen radioaktive Spaltprodukte, die zu einer Verseuchung der Umgebung führen.

Kernwaffen können z.B. in Form von Bomben, Geschossen, Raketensprengköpfen oder Torpedogefechtsköpfen eingesetzt werden.

Strategische Kernwaffe

Strategische Atomwaffen sind für den Einsatz in großer Reichweite vorgesehen. Trägersysteme für strategische Einsätze sind Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote. Die Zahl der strategischen Atomwaffen, die tatsächlich eingesetzt werden können, hängt von der Art und Anzahl der Trägersysteme ab.

Taktische = substrategische Kernwaffe = nukleare Gefechtsfeldwaffe

Ist für den Einsatz gegen (militärische) Ziele auf einem begrenzten Gefechtsfeld gedacht. Taktische Kernwaffen sind nicht zwingend klein, sondern können durchaus die vielfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe aufweisen.

Trägersystem

Einsatzmittel für Kernwaffen. Trägersysteme für strategische Einsätze sind Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote. Trägersysteme für taktische Einsätze sind ballistische Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite, Kurzstreckenbomber, U-Boote, Marschflugkörper und Artilleriegeschosse.

Kernwaffenstaat

Der NVV erkennt fünf Kernwaffenstaaten an, die deshalb oft als »offizielle« Kernwaffenstaaten gelten. Dabei handelt es sich um folgende Länder:

China: knapp 200 Sprengköpfe; Trägersysteme sind Raketen und Flugzeuge.

Frankreich: ca. 300 Sprengköpfe; Trägersysteme sind U-Boote und Flugzeuge.

Großbritannien: ca. 160 Sprengköpfe. Trägersysteme sind vier U-Boote, von denen jeweils nur eines auf Patrouille ist.

Russland: ca. 4.800 einsatzbereite Kernsprengköpfe, davon knapp 2.800 strategische. Trägersysteme sind Raketen, Bomber, und U-Boote.

USA: ca. 5.200 Sprengköpfe, davon sind etwa 2.200 strategische und 500 taktische einsatzbereit; weitere 4.200 Sprengköpfe warten in Lagern auf Abrüstung. Trägersysteme sind Raketen, Bomber und U-Boote. Ca. 250 der taktischen Waffen lagern in fünf europäischen Ländern.

Nicht-offizieller Kernwaffenstaat

Nach dem NVV gelten die Länder als Kernwaffenstaaten, die vor dem 1.1.1967 eine Kernexplosion gezündet haben. Die »nicht-offiziellen« Kernwaffenstaaten haben erst später (oder im Falle Israels vermutlich gar nicht) getestet.

Indien: 60-70 Sprengköpfe. Trägersysteme sind Flugzeuge und Raketen.

Israel: hat sein Kernwaffenarsenal nie zugegeben sondern pflegt die bewusste »Ambiguität«. Vermutlich ca. 100 Sprengköpfe. Trägersysteme sind Raketen und Flugzeuge, wahrscheinlich auch umgerüstete, von Deutschland gelieferte U-Boote.

Pakistan: Mindestens 60 Sprengköpfe. Trägersysteme sind Flugzeuge und Raketen.

Nordkorea. 0-4 Sprengköpfe. Trägersysteme sind Raketen, vermutlich sind (sofern überhaupt) vorhandene Sprengköpfe aber noch zu groß und zu schwer dafür. Der Status von Nordkorea im NVV ist nicht geklärt. Das Land ist 2003 aus dem NVV ausgetreten, dies wird von vielen Ländern aber nicht akzeptiert.

Universalität

Seit der ersten Überprüfungskonferenz 1975 wird von den Vertragsstaaten die »Universalität« des NVV eingefordert. Damit ist gemeint, dass sämtliche Staaten beitreten sollen, also auch Indien, Israel und Pakistan. Da sie dies nur als Nicht-Kernwaffenstaaten tun können (siehe oben), ist Universalität im NVV kaum erreichbar. Als Alternative werden von zahlreichen offiziellen Stellen und Nicht-Regierungsorganisationen daher Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention vorgeschlagen, bei denen alle faktischen Kernwaffenstaaten gleichberechtigt am Tisch sitzen.

Fünf-Punkte-Plan zur Abrüstung des UN-Generalsekretärs

Am 24. Oktober 2008 hielt Ban Ki-moon am East-West-Institute in New York eine Rede, in der er einen Fünf-Punkte-Plan zur Abrüstung vorschlug. Die fünf Punkte lauten stark gekürzt:

„Erstens dränge ich alle Mitgliedstaaten des NVV, insbesondere die Kernwaffenstaaten, ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag zu erfüllen und in Verhandlungen über effektive Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung einzutreten.

Sie könnten dieses Ziel mit einer Rahmenvereinbarung über separate, sich gegenseitig verstärkende Instrumente verfolgen. Oder sie könnten Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention erwägen […]

Zweitens sollten die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates […] Diskussionen beginnen über Sicherheitsfragen, die während der nuklearen Abrüstung aufkommen. Sie könnten den Nicht-Kernwaffenstaaten unzweideutig zusichern, sie weder mit dem Einsatz von Kernwaffen zu bedrohen noch Kernwaffen gegen sie einzusetzen. […]

Meine dritte Initiative bezieht sich auf die »Rechtstaatlichkeit«. Einseitige Moratoria zu Kernwaffentests und zur Produktion von Spaltmaterialien reichen nicht aus. Wir brauchen neue Anstrengungen, das Umfassende Teststoppabkommen in Kraft zu setzen, und die Abrüstungskonferenz [in Genf] muss unverzüglich bedingungslose Verhandlungen über einen Spaltstoffvertrag aufnehmen. […] Ich unterstütze stark Bemühungen zur Einrichtung einer solchen [kernwaffenfreien] Zone im Nahen Osten. Und ich fordere alle NVV-Mitgliedstaaten dringend auf, mit der Internationalen Atomenergiebehörde Sicherungsabkommen einzugehen und freiwillig ein Zusatzprotokoll über striktere Sicherungsmaßnahmen abzuschließen. […]

In meinem vierten Vorschlag geht es um Rechenschaftspflicht und Transparenz. Die Kernwaffenstaaten bringen häufig Beschreibungen in Umlauf, was sie tun, um diese Ziele zu erreichen, aber die Berichte erreichen selten die Öffentlichkeit. […] Die Kernwaffenmächte könnten auch mehr Informationen über die Größe ihrer Arsenale, über ihre Vorräte an Spaltmaterialien und spezielle Abrüstungserfolge veröffentlichen. Das Fehlen verbindlicher Schätzungen über die Gesamtzahl an Atomwaffen beweist, dass mehr Transparenz nötig ist.

Und fünftens schließlich sind einige ergänzende Maßnahmen nötig. Dazu gehören die Vernichtung anderer Massenvernichtungswaffen, neue Anstrengungen gegen die Nutzung von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen, Beschränkungen der Produktion von und des Handels mit konventionellen Rüstungsgütern sowie neue Waffenverbote, einschließlich solcher für Raketen und Weltraumwaffen. […]“ (Übersetzung R.H.)

Der gesamte Wortlaut der Rede von Ban Ki-moon kann abgerufen werden unter www.un.org/News/Press/docs/2008/sgsm11881.doc.htm.

Sicherheitsgarantien

Politische, rechtlich aber nicht bindende Erklärungen der Kernwaffenmächte gegenüber Nicht-Kernwaffenstaaten.

Negative Sicherheitsgarantien sind Erklärungen der Kernwaffenmächte, den Einsatz von Kernwaffen weder anzudrohen noch – selbst im Fall kriegerischer Auseinandersetzungen – die Waffen einzusetzen. Anderes gilt nur, wenn der Staat zusammen mit einem Kernwaffenstaat einen Angriff verübt oder sich mit einem Kernwaffenstaat verbündet. Alle fünf offiziellen Nuklearmächte haben solche negativen Sicherheitsgarantien im Jahr 1995 im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des NVV abgegeben. Im Rahmen der Einrichtung von kernwaffenfreien Zonen haben sich einzel3ne Kernwaffenstaaten zum Nichteinsatz von Kernwaffen gegenüber den Mitgliedstaaten der kernwaffenfreien Zonen verpflichtet.

Positive Sicherheitsgarantien sind hingegen Erklärungen, die darauf zielen, dass ein Kernwaffenstaat garantiert, im Fall eines angedrohten oder tatsächlichen Angriffs mit Kernwaffen Maßnahmen zur Unterstützung eines Nicht-Kernwaffenstaats zu unternehmen.

Nukleare Teilhabe

Einige NATO-Staaten, die selbst nicht über Kernwaffen verfügen, stellen Trägerflugzeuge und besonders geschulte Piloten, um im Kriegsfall amerikanische Kernwaffen abwerfen zu können. Die Waffen selbst bleiben bis dahin unter Kontrolle der USA. Der amerikanische Präsident muss ihren Einsatz freigeben. Erst dann können amerikanische Spezialisten sie per Code frei schalten. Rollt der Jagdbomber mit der Bombe an Bord aber zum Start, so übernehmen z. B. die deutschen Piloten die Kontrolle über die Kernwaffe. Außer Deutschland (20 US-Kernwaffen in Büchel) beteiligen sich Belgien, die Niederlande, Italien und die Türkei derzeit noch an der nuklearen Teilhabe.

Viele Experten halten die nukleare Teilhabe für einen Verstoß gegen Artikel II des NVV, in dem sich die Nicht-Kernwaffenstaaten verpflichten, Kernwaffen von niemandem anzunehmen.

Literatur

Atomwaffen A-Z; www.atomwaffena-z.info.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN), Glossar zum Themenschwerpunkt Abrüstung; www.dgvn.de.

East-West Institute; www.ewi.info.

Europarat, Glossar Europaratsverträge; http://conventions.coe.int.

Otfried Nassauer, Nach dem Abzug der US-Atomwaffen aus Ramstein; www.bits.de.

SIPRI Yearbook 2009; www.sipri.org.

Abrüstung und Konversion: Eine Problemskizze

Abrüstung und Konversion: Eine Problemskizze

von Paul Schäfer, Burkhardt J. Huck, Peter Barth, Olaf Achilles und Kristina Steenbock

Die in diesem Dossier zusammengefassten Beiträge handeln von Abrüstung & Konversion. Die international vereinbarte und die einseitig eingeleitete Abrüstung sind die logische Vorbedingung für eine größere Umstellung rüstungsorientierter Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Prozeß hat mit den ersten Abkommen über die nukleare Abrüstung (INF, START) und dem ersten Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) gerade erst begonnen. Gerade der VKSE-Vertrag bringt im wesentlichen eine starke Abrüstung in den osteuropäischen Ländern, allen voran in der UdSSR – also dort, wo sie ohnehin stattfindet. Eine spürbare Demilitarisierung setzt sich ferner im vereinigten Deutschland infolge der 2+4-Verhandlungen durch.

Grundsätzlich gilt:

  1. den jetzigen Verträgen über eine Rüstungsminderung müssen weiterreichende folgen, wenn eine substantielle, nur schwer reversible »Zivilisierung« der internationalen Beziehungen erreicht werden soll.
  2. ohne einschneidende Strukturveränderungen der Streitkräfte wird schwerlich mehr Sicherheit zu erreichen sein. Das ungebremste qualitative Wettrüsten wird die quantitativen Reduzierungen nahezu problemlos kompensieren. In künftigen Vereinbarungen sind vernünftige Beschränkungen der qualitativen Rüstungsdynamik ebenso fällig, wie Übereinkünfte hinsichtlich der Militärdoktrinen und Armeestrukturen.

Konversion als Ressourcentransfer

In diesem Prozeß geht es also um eine erhebliche Umorientierung personeller und materieller Ressourcen, die bislang im militärischen Sektor gebunden waren, auf zivil-nützliche Zwecke. Dieser möglichst effektiv zu organisierende Ressourcentransfer kann mit dem Begriff »Konversion« erfasst werden. »Personelle Konversion« hat im Anschluß an Kriege in diesem Jahrhundert mehrfach in großem Umfang stattgefunden. Dabei geht es um die möglichst reibungslose Wiedereingliederung der Soldaten und Zivilbeschäftigten im Rüstungsbereich in das zivile Berufsleben. Beispiele »betrieblicher Konversion« gibt es weniger – wenn darunter die direkte Nutzbarmachung der personellen und materiell-technischen Kapazitäten eines Betriebes für andere Zwecke verstanden wird. In den meisten Fällen haben betreffende Unternehmen auf versiegende Rüstungsaufträge mit Entlassungen und Schließungen reagiert. Die eingeleitete Ausweitung der Produktionspalette wurde oft durch den Wiedereinstieg in das privilegierte und einträgliche Rüstungsgeschäft zurückgedrängt. Wenig Erfahrung gibt es auch in der »regionalen bzw. lokalen Konversion«. Zwar wurden in früheren Jahren – z.B. in den USA – aufgelöste Truppenstandorte in Geschäftszentren oder Freizeitparks umgewandelt, aber die Umstrukturierung ganzer Regionen, die hochgradig militärisch abhängig waren, wurde bislang nicht versucht.

Die neue Dimension des Problems

Wir haben daher heute eine neuartige Situation, die dadurch charakterisiert ist, daß uns mehr und mehr die Gesamtdimension des Problems erst jetzt bewußt wird.

  1. das gesamte Ausmaß militärischer Belastung der Kalten-Kriegs-Konfrontation schält sich erst langsam heraus. Dazu sind in erster Linie die Umweltbelastungen durch das Militär zu rechnen.
  2. bestimmte Regionen und Wirtschaftszweige sind vom militärischen Faktor besonders abhängig geworden.
  3. die wissenschaftlich-technische Entwicklung ist besonders von der militärischen Mittel- und Auftragsvergabe, von rüstungsorientierten Industrien geprägt worden. Dies gilt für die verschiedenen Länder sicherlich in unterschiedlichem Maße (in den USA werden über 50% der staatlichen Mittel für Forschung & Entwicklung vom Pentagon vergeben, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland ist der Anteil des BMVg im letzten Jahrzehnt auf über 20% gebracht worden). Auch disziplinär sind große Unterschiede feststellbar. Aber dennoch hat der militärische High-Tech-Komplex auch die Entwicklung »ziviler« Technologielinien geprägt.

Die Analysen der Belastung der Gesellschaft durch den militärischen Faktor haben nachhaltig die lange Zeit gängige These von der »Rüstung als Fortschrittsmotor« erschüttert. Erst jüngst hat eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (s. FAZ v. 6.10.90, S. 13) belegt, daß von einer innovations- und wachstumsfördernden Rolle der Rüstung keine Rede sein kann. Der Entzug wirtschaftlicher und geistiger Ressourcen ist dagegen heute von allergrößtem Gewicht. Die neuen globalen Herausforderungen verlangen gebieterisch nach einer Konversion der bisher im Rüstungssektor vergeudeten Mittel.

Heute wird immer klarer, daß die durch die Abrüstung freiwerdenden Mittel, die sog. Friedensdividende, in absehbarer Zeit kaum für anderweitige Aufgaben zur Verfügung stehen werden.

  • Die Krise der Staatsfinanzen, in den USA und in der UdSSR durch den ruinösen Rüstungswettlauf bedingt, in Deutschland durch die Kosten der Vereinigung, bindet in den nächsten Jahren einen erheblichen Teil der Mittel. Horrende Summen müssen aufgebracht werden, allein um die Schulden zu tilgen.
  • Die teure Beseitigung der erwähnten ökologischen Schäden muß in Angriff genommen werden.
  • Um die Demilitarisierung »sozial verträglich« zu gestalten, sind große Geldsummen für sozial abfedernde Unterstützungen, für Umschulungen und Weiterbildung, für regionale Strukturmaßnahmen aufzubringen.

Definitionsprobleme

Der im Zuge der Abrüstung nötige wirtschaftliche Übergangsprozeß kann auf verschiedene Art gemanagt werden. Der US-amerikanische Wissenschaftler Lloyd J. Dumas unterscheidet drei verschiedene Ansätze: Konversion, Diversifikation, staatlich gestützte ökonomische Anpassung. (L.J.Dumas, Economic Conversion: From Vision to Reality, Paper präsentiert auf einer Konferenz des Internationalen Instituts für den Frieden, Wien, Nov. 1990) Unter Diversifikation ist die Ausweitung der Produktpalette rüstungsinvolvierter Unternehmen zu verstehen. Sie ist daher ein Mittel, um die Abhängigkeit von staatlichen Rüstungsaufträgen zu verringern. Während im »monopolistischen« Rüstungsgeschäft der Zwang marktwirtschaftlicher Behauptung weitgehend entfällt, sind die Unternehmen durch Diversifikation gehalten, mehr Flexibilität und Kosteneffektivität zu erreichen. Diese Form der Umstellung ist die bisher gängige und erweist sich in bestimmten rüstungsbezogenen Branchen als wenig problematisch – z. B. in der Elektronik- und in der Luft- und Raumfahrtindustrie.

Unter »staatlicher Ordnungspolitik« (community economic adjustment) versteht Dumas die Bereitstellung öffentlicher Mittel zur Unterstützung militärabhängiger Städte und Gemeinden. Eine solche finanzielle Hilfe ist in den USA bisher vornehmlich gewährt worden. Die Städte und Gemeinden konnten dadurch die Schließung von Basen oder den Rückgang von Rüstungsaufträgen besser verkraften.

Diese beiden Ansätze, wiewohl nicht direkt im Gegensatz zur Konversion stehend, hält Dumas für unzureichend. Nur der Konversionsansatz stelle die Frage der Umschulung in den Mittelpunkt und betrachte sie als notwendigen Bestandteil des ökonomischen Wandels. Konversion ist für ihn ein „menschenzentrierter Prozeß“, nur mit ihr würden die Fertigkeiten und Fähigkeiten der im Rüstungssektor Tätigen nicht einfach abgeschrieben.

Ein vernünftiger Umstellungsprozeß verlangt daher in der Tat eine genaue Bestandsaufnahme der vorhandenen technischen und geistigen Ressourcen. Im zweiten Schritt sind konkrete Pläne für alternative, zivil orientierte Nutzbarmachung zu entwickeln. Die öffentlichen Einrichtungen müssen vor allem die erforderlichen Prozese der Um- und Weiterqualifizierung unterstützen. Ein anderes wesentliches Thema ist die Umorientierung der staatlichen Nachfrage, ist der Staat doch im Rüstungsgeschäft der Monopolnachfrager. Eine Ausweitung der staatlichen Aufträge im Umweltschutz-, Energie- und Verkehrsbereich könnte eine Neuorientierung der rüstungsorientierten Industrie erleichtern.

Bei der Konversion geht es – dies haben die Erfahrungen in den Staaten des Warschauer Pakts gezeigt – nicht nur um die technischen Möglichkeiten der Betriebe zur Umstellung. Die ökonomische Effizienz ist ein unverzichtbares Kriterium. Die Stillegung »überspezialisierter« oder hochriskanter (z.B. Plutoniumproduktion) Betriebe wird sich unter dieser Prämisse nicht immer vermeiden lassen.

Nicht jede beliebige Umstellung ist wünschenswert. Ein Schlüsselelement der alternativen Einsatzpläne ist die Orientierung an ökologischen Erfordernissen. So hat die Luft- und Raumfahrtindustrie keine allzugroßen Probleme, sich auf zivile Projekte einzustellen. Doch wird hier immer die Frage gestellt werden müssen: Sind bspw. neue Hyperschallflugzeuge mit ökologischen Geboten zu vereinbaren, sind sie gesellschaftlich nützlich? Das Kriterium umweltorientierter Regionalentwicklung gilt auch bei der Neugestaltung bisheriger Militärstandorte.

Der Abrüstungsprozeß wird nur dann letztlich erfolgreich sein, wenn es gelingt, dem rüstungsinteressierten Machtkomplex sukzessive die Basis zu entziehen. Dabei ist die Unterstützung durch die Betroffenen in den Betrieben oder rüstungsabhängigen Regionen wichtig. Diese ist nur zu erreichen, wenn realisierbare Pläne vorgelegt werden, wie sie ihre Arbeit behalten und ihren Lebensstandard sichern können. Die Ausgaben der öffentlichen Hand v.a. für Qualifizierungsmaßnahmen werden dazu kräftig aufgestockt werden müssen.

Schließlich erfordert die Konversion eine Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten »von unten«: durch die Beschäftigten, die Gewerkschaften, die Gemeinderäte usw. usf.

Offene Fragen

  1. In den USA und einigen anderen Ländern ist staatliche Industriepolitik offiziell verpönt. Die Umstellung der Rüstungsindustrie wird daher ausschließlich als Aufgabe der betreffenden Unternehmen angesehen. Auch die Bundesregierung steht bisher auf diesem Standpunkt. In der Tat kann die Frage gestellt werden, sollen die Unternehmen, die bisher am staatlichen Rüstungstropf hingen, weiter durch öffentliche Aufträge privilegiert werden? Soll ihre einseitige Abhängigkeit konserviert werden? In welchem Verhältnis also sollen privatwirtschaftliche und staatliche Instrumente im Konversionsprozess stehen? Dabei ist weniger an einen starren Gegensatz staatlich-planerischer und marktwirtschaftlicher Maßnahmen zu denken. Ohne staatliche Intervention sind die sozialen, die infrastrukturellen und ökologischen Probleme der Gesellschaft nicht zu bewältigen. Konkret erörtert werden muß die Frage nach den adäquaten Instrumenten. Reichen z.B. die hierzulande gegebenen Möglichkeiten regionaler Struktur- und Arbeitsmarktpolitik aus? Stehen genügend Geldmittel zur Verfügung? Und: Wie müsste die staatliche Nachfrage nach zivilen Gütern und Dienstleistungen erhöht werden? Dabei ist die besondere Situation in den neuen Bundesländern zu beachten. Für die dortigen Betriebe ist die massive staatliche Unterstützung (z.B. bei der Entschuldung! ) z.T. unverzichtbar, wenn sie Zukunftsperspektiven haben sollen.
  2. Eine Schlüsselrolle bei der Zivilisierung der hochindustrialisierten Gesellschaften spielt m.E. die Forschungs- und Entwicklungspolitik. Die Frage lautet also: Wie könnte eine vorausschauende öffentliche Wissenschaftspolitik den Weg für umweltverträglichere Technologie-Entwicklungslinien öffnen, die auch die privaten Firmen zu einer Abwendung von rüstungsinduzierter High-Tech zwingt? Wie wären die Prioritäten neu zu setzen? Ein diskutierenswertes Beispiel hat Hermann Scheer (SPD-MdB) für den Jäger `90 entwickelt. (s. Kasten)
  3. Staatliche Planung kann sich effektiv und demokratisch nur dezentral vollziehen. Dies gilt gerade für die regional und lokal zu gestaltenden Konversionsprozesse. Dennoch müssen gesamtstaatliche und regionale Infrastrukturpolitik ineinandergreifen. Wie diese Abstimmung zwischen zentralen und dezentralen Prozessen institutionell gesichert werden kann, bedarf noch genauerer Klärung. Wie können die Entscheidungsprozesse staatlicher Politik transparent gemacht und demokratisiert werden? Die Priorität sollte in jedem Fall bei der Formulierung regionaler, bzw. lokaler Entwicklungsbedürfnisse liegen. Auf diesen Punkt sollte auch die Forschungs- und Technologiepolitik hinorientiert werden. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang stellt das Augsburger Projekt PUR dar. (s. Kasten S. III)

Anstösse zum Weiterdenken

Das vorliegende Dossier versteht sich in erster Linie als Arbeitsmaterial. Daher haben wir darauf verzichtet, eine möglichst einhellige Meinung der Autoren in Sachen Konversion herzustellen und zu vermitteln. Diese Übereinstimmung ist auch nicht gegeben. Dies tut der Sache, nämlich einen möglichst kompakten Überblick über die Ausgangs- und Problemlage zu eröffnen, keinen Abbruch. Es ist sozusagen eine Art Zwischenbericht, der weiteres Nachdenken bzw. konzeptionelles Vordenken unterstützen soll.

zum Anfang | Abrüstung und Konversion: Abrüstung und Konversion in Deutschland

von Burkhardt J. Huck

1. Vereinbarte und angekündigte Streitkräftereduzierungen:

Mit der Regelung der Wiedervereinigung Deutschlands durch die 2+4 Vereinbarungen und den bevorstehenden Ergebnissen der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa verbessert sich die sicherheitspolitische Situation Deutschlands deutlich. Die Wiedervereinigung Deutschlands wird begleitet von vertraglich vereinbarten multilateralen Abrüstungsschritten. Das konventionelle Potential der Warschauer Vertragsorganisation in Europa wird drastisch beschnitten, das Potential der Bündnispartner Deutschlands in der NATO durch Obergrenzen auf geringerem Niveau eingefroren. Mit der Ratifizierung der 2+4 Vereinbarungen wird Deutschland als Mitglied der NATO auch sicherheitspolitisch souverän. Diese Souveränität geht mit einem drastischen Abbau der auf dem Staatsgebiet der früheren zwei deutschen Staaten massierten Potentiale der beiden Bündnisse und der Streitkräfte des vereinten Deutschlands einher. Die Nachbarstaaten Deutschlands in Osteuropa können dadurch die einseitigen Abrüstungsschritte des letzten Jahres durch weitere Reduzierungen fortsetzen und leiten tiefgreifende Veränderung der Streitkräftestrukturen ein. In dem Maß, in dem die Kooperation zwischen den Staaten der Bündnisse die Konfrontation der Bündnisse abzulösen beginnt, verändert sich auch die strategische Doktrin für die Verteidigung der Staaten Osteuropas. Mit dem Verblassen des Feindbilds des kalten Krieges werden der Verteidigung neue Ziele gesetzt wie etwa die Rundumverteidigung gegen jeden möglichen Aggressor auf möglichst niedrigem militärischem Niveau.

Reduzierung der deutschen Streitkräfte

Die einschneidensten Reduzierungen werden jedoch in Deutschland vorgenommen. Seit der überraschenden Übereinkunft zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem sowjetischen Staatspräsidenten vom Juli 1990 über den Verbleib Deutschlands in der NATO und einen gesamtdeutschen Streitkräfteumfang von 370.000 Soldaten, beginnt die künftige Bundeswehrplanung Struktur anzunehmen. Als erster Schritt wurde die Kürzung des Grundwehrdienstes auf 12 Monate beschlossen. Der inzwischen von der Regierung wieder zurückgezogene Entwurf für den Verteidigungshaushalt für 1991 sah eine Reduzierung um 35.000 Soldaten der Bundeswehr vor. Außerdem ist die Reduzierung der früheren Nationalen Volksarmee auf 30 bis 40.000 Soldaten im Bereich des Kommandos Ost beabsichtigt; mithin also eine reale Kürzung um etwa 80.000 Soldaten im Jahre 1991.

Abzug alliierter Streitkräfte

In welchen Einzelschritten der Rückzug der allierten und sowjetischen Streitkräfte in den nächsten Jahren sich vollzieht, ist noch nicht bekannt. Wenn die geplanten bzw. vereinbarten Ziele erreicht werden sollen, kann mit dem Abzug von durchschnittlich 150.000 Soldaten jährlich gerechnet werden. Das würde einen geschätzten durchschnittlichen Verlust von 20.000 Zivilbeschäftigten der Bundeswehr und etwa 6.000 bis 7.500 Zivilbeschäftigten bei den Alliierten bzw. sowjetischen Streitkräften mit sich bringen.

Haushaltsplanung hinfällig

Mit solch drastischen Reduzierungen konnte im Frühsommer dieses Jahres noch nicht gerechnet werden. Der Entwurf für den Verteidigungshaushalt wurde dadurch ebenso hinfällig wie die Absichtserklärungen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers, durch Abrüstung freiwerdende Mittel aus dem Verteidigungshaushalt in die Entwicklungshilfe umzulenken. Abrüstung und Umstrukturierung in Folge der Wiedervereinigung und der strategischen Umorientierung der NATO werden den Haushalt mittelfristig eher be- als entlasten.

Dazu bedarf es keiner Rechnungen, die die Höhe des Verteidigungsetats auf Grund der Vergößerung des Verteidigungsgebietes durch die neuen Bundesländer mit dem Anteil am Bruttosozialprodukt in Beziehung setzen, um einen Anstieg der Verteidigungsausgaben zu rechtfertigen. Mit dem dritten Nachtrag zum Bundeshaushalt 1990 kommt das Verteidigungsministerium ohnehin auf ein Ausgabenvolumen für die vereinigten deutschen Streitkräfte von 57,5 Mrd. DM. Wenn die Folgekosten von Abrüstung und Konversion sachgerecht im Einzelplan 14 ausgewiesen würden, müßte dieser Etat auf der Grundlage der jetzigen Planung bei gleichzeitig sinkendem Streitkräfteumfang noch weiter ansteigen. In den USA sind im Verteidigungshaushalt für 1991 Kosten und Nutzen der Veränderungen der Streitkräftestruktur genau berechnet. Für die Außerdienstsetzung von zwei Heeresdivisionen sind etwa 1,2 Mrd. Dollar veranschlagt. 817 Mio. Dollar sind für die Beseitigung von Umweltschäden vorgesehen1.

Tabelle 1: Angekündigte und erwartete Reduzierungen der Streitkräfte
und Zivilbeschäftigten in Deutschland
   1990 1994
Deutschland:    
Bundeswehr (gesamt) 635.000 370.000
Zivil (gesamt) 230.000 150.000(4)
Bundeswehr 465.000 325.000
Zivil 180.000 130.000
frühere NVA 170.000(1) 45.000
Zivil 50.000(2) 20.000
USA 237.000 100.000(3)
Zivil USA 41.000 20.000
Zivil Deutsch 65.000 30.000
Sowjetunion 360.000 —.—
Zivil SU ?  
Zivil Deutsch 4.000 —.—
Großbritannien 65.000 32.000
Zivil GB 4.000 2.000
Zivil Deutsch 17.000 10.000
Frankreich 52.000 25.000(5)
Zivil F 2.500 1.000(5)
Zivil Deutsch 6.000 3.000
Belgien 26.000 15.000 ?
Zivil Deutsch 1.200 0.800 ?
Niederlande 7.000 3.000 ?
Kanada 8.000 6.400
Zivil Deutsch 1.000 0.800
Gesamt: 1 761.700 768.000
Militärisch 1 390.000 551.400
Zivil 371.700 217.600
Zivil Deutsch 330.200 197.600
davon ausl. finanz. 94.200 44.600
Zivil ausl. 47.500 23.000
Rüstungsindustrie:
Bundesrepublik 1989 200.000 120.000 ?
DDR 1989 50.000 20.000 ?
Gesamt: 2 015.700 908.000
1) Diese Zahl kann auf etwa real unter 100.000 angesetzt werden

2) Dürfte inzwischen unter 50.000 liegen
3) Angekündigt ist eine Reduzierung um 60.000 in Europa; im Kongress werden 100.000 gefordert
4) Die Bundesregierung geht von einem nichtproportionalen Rückgang aus.
5) Setzt voraus, daß Frankreich den vollständigen Rückzug auf deutschen Wunsch nicht realisiert.
Dazu kommen 331.500 Familienangehörige der alliierten Streitkräfte. Wieviele der insgesamt 240.000 nichtmilitärischen Mitglieder der sowjetischen Streitkräfte Zivilangestellte bzw. Familienangehörige sind, ist unbekannt. Daten sind zu erwarten, wenn Ende November der Zeitplan für die erste Etappe des Rückzugs der sowjetischen Streitkräfte vorgelegt wird.
Reduzierung von Waffen der Bundeswehr nach Abkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa
  Bundeswehr 1990 ehem. NVA 1990 künftige Obergrenze anstehende Reduzierung
Panzer 5.110 2.250 4.166 3,194
Gepanzerte Kampffahrzeuge 3.400 5.420 3.446 5.373
Artilleriesysteme 2.500 2.500 2.705 2.295
Kampfhubschrauber 306 87 309 87
Kampfflugzeuge 687 394 900 151
Zusammengestellt nach Presseinformationen vom 20. und 21.11.90

2. Kosten von Abrüstung und Konversion:

2.1 Reduzierung des deutschen Streitkräfteumfanges und Kosten der Stationierung ausländischer Streitkräfte

Ein Großteil der durch Abrüstung und Konversion ausgelösten Kosten sind indirekte Kosten. Der Personalabbau lässt sich auf den ersten Blick zum größten Teil durch Ausnutzung der natürlichen Fluktuation, Ruhestandsregelungen, einen Einstellungsstopp und die Verringerung der Wehrdienstzeiten einfach lösen und führt auch zu Haushaltsentlastungen. Zugleich bringt diese einfache Lösung aber eine ganze Reihe von Folgeproblemen mit sich, die aus anderen Einzelhaushalten finanziert werden müssen. Der Bundesminister für Wirtschaft hat in seiner Antwort vom 20.6.90 auf die große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Rüstungs- und Standortekonversion2 bereits daraufhin gewiesen, daß der größte Teil der Standorte, die nicht in strukturstarken Verdichtungsräumen liegen, zum Fördergebiet der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« und der Strukturhilfe gehören. Der größte Kostenanteil wird jedoch den Sozialhaushalt belasten, aus dem Vorruhestand und die Folgen der Beschäftigungseinbrüche in besonders betroffenen Regionen zu finanzieren sind. Besonders betroffen sind Regionen, die von Kaufkraft und Steuereinnahmen durch alliierte Streitkräfte profitierten und zumeist strukturschwach sind wie etwa Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Nordbayern, Osthessen, die nordöstlichen Regionen Baden-Württembergs, insbesondere aber alle fünf neuen Bundesländer.

Der Personalabbau wird zwar über vier Jahre gestreckt ablaufen und generell soll das Prinzip der Ausdünnung Vorrang vor Schließungen haben. Dennoch sind Friktionen unvermeidlich. Das zeigt sich schon an der bevorstehenden Stillegung von insgesamt 87 Bataillonen des Heeres, mit dem die Heeresführung ab Sommer 1991 auf die Verkürzung des Wehrdienstes und damit die Verringerung der Zahl der Wehrpflichtigen um 30.000 im Jahre 1991 reagiert. Das Heer will nämlich zugleich auch die Materialdepots von 76 Bataillonen auflösen, um die Kosten für den Materialerhalt zu senken. Durch das »Kalbungsprinzip«, d.h. der Stillegung von jeweils einem Bataillon von zwei Bataillonen eines Standortes bleibt zwar der Standort selbst erhalten. Wenn nach dieem Prinzip jedoch vier weitere Jahre verfahren wird, ist die Stillegung vieler Standorte schon aus Kostengründen unvermeidlich.

Stationierungskosten

Zudem wird der Haushalt bis 1994 durch die im Überleitungsabkommen mit der Sowjetunion vereinbarten Zuschüsse von 12 Milliarden DM und mit Zinsen für den zinslosen Kredit von 3 Mrd. DM für die Sowjetunion belastet. Da diese vereinbarten Zuschüsse auch die Deckung der Hälfte der Aufenthaltskosten der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland von jährlich 1 Mrd. DM bis 1994 beinhalten, kann damit gerechnet werden, daß auch andere Entsendungsländer den Abzug bzw. den Verbleib von Kontingenten an ähnliche Konditionen knüpfen werden. Das heißt, daß auch der vom Verteidigungsminister angestrebte Verbleib von 170.000 Soldaten der Bündnispartner in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach nur gesichert ist, wenn die Bundesrepublik einen Teil der Stationierungskosten dieser Kontingente übernimmt.

2.2 Umwandlung militärischer Anlagen und Liegenschaften für zivile Nutzung

Analog dürfte auch dieser Vorgang nicht kostenneutral abzuwickeln sein. Die im Überleitungsvertrag mit der Sowjetunion vereinbarten Konditionen werden sicherlich auch die Begehrlichkeit der Bündnispartner wecken. Nach den Vereinbarungen mit der Sowjetunion sollen Grundstücke und Anlagen in Deutschland von einer gemeinsamen Kommission geschätzt werden, die Vermögenswerte mit den Kosten für die Beseitigung von Umweltschäden verrechnet werden. Die bisher aus der CSFR bekannt gewordenen Zahlen für die Kosten der Beseitigung der durch sowjetische Truppen verursachten Umweltschäden3 von jährlich fast 300 Mio. DM geben Anlaß zu der Vermutung, daß diese Zahl für das Gebiet der DDR, auf dem fast fünf Mal soviele Soldaten stationiert waren, entsprechend höher sein dürfte. Inzwischen sind durch einen Bericht der Los Angeles Times Ende Juni 1990 Inhalte eines geheimen Berichts des Pentagons über Umweltschäden auf Stützpunkten der USA in der Bundesrepublik bekannt geworden. Danach sind 300 Stützpunkte, darunter 30, die demnächst aufgegeben werden sollen, mit Schadstoffen aller Art verseucht, 25 davon so sehr, daß langwierige Sanierungsmaßnahmen erforderlich sind (FR, 29.6.90; Der Spiegel, 1.10.90). Es darf angenommen werden, daß auch hier nach dem Modell des Überleitungsvertrages freiwerdende Vermögenswerte mit den Kosten der Sanierungsmaßnahmen verrechnet werden dürften.

Da es mit den Anlagen und Bauten der ehemaligen NVA nicht viel besser bestellt ist, muß auch hier mit langfristigen Haushaltsbelastungen gerechnet werden. Weitere Kosten dürften sich aus den Aufwendungen für die Umwandlungen militärischer Anlagen und Bauten für zivile Zwecke ergeben, auch dann, wenn etwa Truppenübungsplätze in Naturschutzparks umgewandelt werden sollen4. Dazu kommt der Sanierungsaufwand an einigen hundert Standorten, die in den Jahren vor 1945 verseucht und noch immer nicht saniert wurden wie ehemalige Produktionsstandorte der Rüstungsindustrie, Munitionslager, Sprengplätze und Lagerstätten für chemische Kampfmittel. Für die Beseitigung dieser durch Korrosion und chemische Zersetzung hochgefährlichen Zeitbomben bezahlt der Bund 1990 nur 56 Mio. DM für Kriegsfolgelasten an die Länder. Durch die inzwischen bekanntgewordenen Daten über das Ausmaß zu entsorgender Altlasten auf dem Gebiet der DDR (Blick durch die Wirtschaft, 28.9.90; Der Spiegel, 1.10.90) kann ein Kostenanstieg auf 2-3 Mrd. DM jährlich erwartet werden.

2.3 Außerdienststellung, Verschrottung bzw. Vernichtung von Waffen und Gerät

Mit der Reduzierung der Sollstärke der Bundeswehr und im Gefolge der Vereinbarungen der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa wird auch eine noch nicht genau feststellbare Zahl von Waffen, Gerät und Munition obsolet. Die am dringendsten zu lösenden Probleme ergeben sich aber bereits im nächsten Jahr durch die Außerdienststellung, Verschrottung bzw. Vernichtung der Ausrüstungen der NVA. Der Staatsekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der DDR, Frank Marczinek hat auf der UNO-Konferenz über Konversion Mitte August in Moskau den Bestand der NVA im Beschaffungswert von 86 Mrd. Mark aufgelistet:

80.000 Radfahrzeuge

7.000 gepanzerte Fahrzeuge

2.600 Panzer

2.500 Artilleriesysteme

2.000 Panzerabwehrsysteme

3.000 Luftabwehrsysteme

450 Kampf-, Trainings- und Transportflugzeuge

180 Kampf- und Transporthubschrauber

70 Schiffe

290.000 Tonnen Munition

2.300.000 Einheiten an Kleidung und Ausrüstung

Nach einem inzwischen bestätigten Bericht des Spiegels vom 24.9.90 will die Bundesregierung einen Teil ihrer Verpflichtungen zur Unterstützung der Truppen der USA im Golfgebiet mit der Lieferung von Lastwagen, Wassertransportern und Gasmasken aus NVA-Beständen einlösen. Panzer, Flugzeuge und Artilleriegeschütze aus diesen Beständen sollen ebenso wie ein Teil des Bundeswehrgeräts, das nach den VKSE-Vereinbarungen ausgesondert werden muß, im Rahmen der Rüstungshilfe an die Türkei geliefert werden. Trotz aller Schlupflöcher, die die Rüstungshilfe für die Türkei, Griechenland und Portugal bietet, wird ein beträchtlicher Teil dieser Ausrüstungen beseitigt werden müssen. Besonders die Beseitigung der immensen Munitionsvorräte der NVA und zusätzlicher 70.000 Tonnen Altlasten dürfte sehr kostenintensiv werden, da diese Munition aus 400 verschiedenen Arten besteht. Zudem wird damit gerechnet, daß die Sowjetunion nach ihrem Abzug bis zu 1 Million Tonnen Munition in der DDR zurücklassen wird. Auch die Kosten für die Zerlegung gepanzerter Fahrzeuge und Panzer sind nicht zu unterschätzen: Mindestens 32.000 DM werden für die Zerlegung eines Panzers angesetzt, wobei die Erlöse aus dem gewonnenen Schrott gegen Null sinken. Die Rüstungsindustrie hat inzwischen die neue Chance erkannt und bietet sich wie Diehl, Thyssen oder Buck an, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge oder Munition industriell wiederaufzuarbeiten.

2.4 Umstrukturierung und Verifikation

Schließlich wird auch der Übergang zu einer neuen militärischen Struktur in Deutschland nicht kostenneutral verlaufen. Die Auflösung des Korpsgürtels entlang der früheren Ostgrenze der Bundesrepublik wird dabei der geringere Kostenfaktor sein. Die Umrüstung der Bundeswehr im Rahmen der neuen »reconstitution strategy« der NATO und die Integration des neuen Bundeswehrkommandos Ost machen vorerst Einsparungen im Bereich der militärischen Beschaffungen unwahrscheinlich. Das gilt besonders für die neuen operativen Konzepte für das Heer, die auf hohe Mobilität durch Luftbeweglichkeit zielen. Die Entscheidung vom September dieses Jahres für die Entwicklung des NATO-Hubschraubers für die 90er Jahre (NH 90) ist nur ein Beispiel dafür, daß auch in den kommenden Jahren mit kostspieligen Beschaffungsvorhaben gerechnet werden muß. Die Entwicklung und Beschaffung von 272 NH-90, über die 1993 entschieden wird, wird bis 1998 an die 10 Mrd. DM kosten. Da kaum zu erwarten ist, daß im Rahmen der neuen Strategie Konzepte wie Air-Land-Battle oder Battlefield 2000 Makulatur werden, ist kaum damit zu rechnen, daß es zu drastischen Abstrichen bei den verteidigungsintensiven Ausgaben kommen wird. Das zudem auch in Hinblick auf die Beschaffung von Systemen zur Verifikation der Abrüstungsvereinbarungen. So werden etwa die Kosten für das Höhen-Aufklärungsprogramm Lapas voraussichtlich bei 1,6 Mrd. DM liegen, ein Aufklärungssatellit wird gar 3 Mrd. DM kosten.

2.5 Schrumpfung und Umstrukturierung der Rüstungsindustrie

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn den Wehrtechnikunternehmen Zukunftsprognosen schwerfallen (FAZ, 30.8.90). Während der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Aerospace erneut ankündigt, daß sein Unternehmen den Rüstungsanteil in den nächsten Jahren von 45% auf 25% senken will, erwartet man sich bei Rheinmetall im Bereich Wehrtechnik für 1990 einen Ausgleich der Umsatzlücke des letzten Jahres und verzeichnet eine Umsatzsteigerung von über 40% auf etwa 1 Mrd. für dieses Jahr. Insgesamt jedoch rechnet die Industrie mit einem Rückgang, der sich nicht nur in der wenig aussagekräftigen Relation des Umsatzanteils von ziviler zu militärischer Produktion, sondern in realen Umsatzeinbußen in den wehrtechnischen Geschäftsbereichen niederschlägt. Die Industrie steht vor der bisher wohl einschneidendsten Umstrukturierung. Munitions- und Sprengstoffhersteller wie Diehl oder Dynamit Nobel, Produzenten von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen wie Thyssen-Henschel, Krauss-Maffei, Wegmann oder Krupp MaK sind davon stärker betroffen als die Luft- und Raumfahrtindustrie. Überhaupt nicht betroffen zeigt sich bisher die Elektronikindustrie, allen voran der Branchenführer Siemens. Selbst von den Werften kommen keine Klagen, sondern die Kapazitäten sind wie bei Blohm + Voss oder bei Howaldtswerke-Deutsche Werft bis Mitte der neunziger Jahre ausgelastet. Die Industrie selbst spricht nur selten von Rüstungskonversion und bevorzugt den Begriff Substitution. Es ist bisher noch kein Fall bekannt, daß in einem Betrieb der wehrtechnische Bereich für zivile Produktion umgestellt wurde. Die Industrie scheint sich insgesamt auf einen leichten Rückgang der staatlichen Nachfrage von etwa 10% im nächsten Jahr einzustellen und rechnet sich steigende Absatzchancen im Bereich Aufklärungstechnik, flexible Waffensysteme und elektronische Kampfführung aus. Es sieht insgesamt so aus, als ob die Industrie die Maxime der in der Regierung vertretenen Parteien akzeptiert, daß sie die Umorientierung auf zivile Produktion ohne staatliche Unterstützung lösen muß. Die Konversion von Rüstungs- in Umwelttechnologie, wie sie etwa von der Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Adam-Schwaetzer während der Moskauer UNO-Konferenz vorgeschlagen wurde, hat vor solchem Hintergrund allenfalls deklaratorischen Stellenwert. Da mit einer drastischen Reduzierung der Rüstungsnachfrage und einer gesteigerten Nachfrage nach entsprechenden Produkten vorerst nicht zu rechnen ist, wird sich die Industrie vor solchen Abenteuern hüten.

Ansätze zur Umorientierung

Andererseits ist eine steigende Bereitschaft der Industrie zu verzeichnen, technologisches Know-How aus dem Rüstungsbereich in zivile Bereiche wie Verkehrs-, Energie- und Umwelttechnik zu transferieren und entsprechende neue Produkte zu entwickeln und zu produzieren. (Etwa bei der Deutschen Aerospace, FAZ, 30.8.90) Solange dieser Bereitschaft aber nicht durch eine Umorientierung der Nachfrage des Staates, der auch in diesen Bereichen als Nachfrager dominiert, erwidert wird, bleibt Rüstungskonversion in Deutschland ein Desideratum. Das betrifft auch die Situation im ehemaligen Gebiet der DDR, wo in den meisten Unternehmen die insgesamt 50.000 direkt in der Rüstungsindustrie Beschäftigten zum größten Teil kurzarbeiten und mit Betriebsschließungen zu rechnen ist5. Als Folge solcher Politik muß auch in diesem Bereich mit Kosten gerechnet werden, etwa in Form von Sozialleistungen, Steuer- und Sozialabgabenausfällen. Dazu dürften langfristig die Kosten für Kompensationszahlungen für nicht erfüllte Verpflichtungen kommen, denn vor dem Hintergrund der oben genannten anderen Kostenfaktoren dürften größere Abstriche, als sie bisher kalkuliert wurden, auch am Beschaffungshaushalt wohl unvermeidlich werden. Für Ausgleichszahlungen für die Stornierung von Aufträgen der NVA hat der Bundesfinanzminister eben 400 Mio. DM in den 3. Nachtragshaushalt eingestellt.

3. Schwerpunkte der Konversionsdebatte in Deutschland:

Angesichts solcher vielfältiger Kostenfaktoren, die sich zudem regional und sektoral unterschiedlich auswirken, ist es nicht verwunderlich, wenn Konzepte oder gar ein Gesamtkonzept fehlen. Konnte noch im letzten Jahr die Problematik allenfalls in Szenarios verdeutlicht werden, so hat die Dynamik der Ereignisse des Jahres 1990 jedes Szenario übertroffen. Seit dem Gipfeltreffen im Kaukasus zeigt sich zudem klar, daß mit allen Kostenfaktoren parallel und nicht nur sequentiell gerechnet werden muß. Im Hinblick auf jährliche Kosten, die im ungünstigsten Fall selbst drastische Einsparungen im EP 14 aufzehren können, wird ein Gesamtkonzept für Abrüstung und Konversion unausweichlich. Dazu bedarf es zuallererst klarer politischer Vorgaben.

Impulse aus dem Auswärtigen Amt

Die bisher kräftigsten Impulse von Seiten der Regierungsparteien kommen aus dem Auswärtigen Amt. In Reden über “Rüstungskonversion als Beitrag zur Schaffung friedensstabilisierender Strukturen” bzw. über “Konversion: Ökonomische Anpassung im Zeitalter der Abrüstung” haben sowohl der Außenminister, wie die Staatsministerin im Auswärtigen Amt klar festgestellt, daß ohne irreversible und verifizierbare Konversion auch Abrüstung nicht irreversibel und verifizierbar sein wird.

Allerdings fehlt in beiden Reden der deutliche Hinweise darauf, daß Konversionskonzepte, die lediglich eine Reduzierung des militärischen zugunsten des zivilen Produktionsanteils anstreben, wohl kaum ein Klima des Vertrauens und der Kooperation schaffen können, wenn diese Konzepte nicht von weiteren Maßnahmen flankiert werden. Die in beiden Reden vorgeschlagenen Maßnahmen wie etwa eine von beiden Bündnissen gebildete Studiengruppe Konversionsforschung, die Einbeziehung der Konversionsproblematik in die Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und die Konferenz über Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (Korb 2), werden den Einstieg ganz sicher erleichtern. Aber all das wird wenig effizient sein, wenn nicht beide Bündnisse, sofern man bei der WVO noch davon sprechen kann, damit beginnen, ihre rüstungsbezogenen Bündnisstrukturen ebenfalls zum Ziel von Konversion zu machen. Nationale Konzepte können allenfalls Umstellungsprobleme lindern; ob sie zu irreversibler und verifizierbarer Abrüstung und einer neuen europäischen Friedensordnung beitragen, die die bisherigen bündnisbezogenen Sicherheitsstrukturen ablöst, wird jedoch vor allem davon abhängen, wieweit sich die Bündnisse selbst dem Umbau öffnen. Wenn die vielfältigen institutionellen und organisatorischen Strukturen der Bündnisse, die in vierzig Jahren auch friedlichen wirtschaftlichen und technologischen Interessensausgleich zwischen den Bündnispartnern ermöglichten, nicht selbst zum Gegenstand von Konversion werden, bleibt unklar, wann und wie sich der Übergang der Bündnisse von militärischen zu politischen Aufgaben eigentlich vollziehen soll.

Debatten in der Öffentlichkeit

Die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion über die nationalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Abrüstung und die Möglichkeiten, den Umstellungsprozess mit wirtschaftspolitischen Instrumenten zu steuern, ist seit dem Fall der Mauer sehr lebhaft geworden. Bis in den Herbst des letzten Jahres galt das Interesse fast ausschließlich der Konversion der Rüstungsindustrie. Der mit dem Fall der Mauer einsetzende Abbau der Nationalen Volksarmee und die Ankündigung der USA und der Sowjetunion vom Februar 1990, ihre Streitkräfte in Deutschland auf 195.000 Mann zu reduzieren, belebte denn auch die Diskussion über die regionalen und strukturellen Folgen des Truppenabbaus in Deutschland. Noch im Dezember 1989 sah die Bundeswehrplanung ja lediglich eine Reduzierung des Friedensumfanges der Bundeswehr von 495.000 auf 420.000 aktive Soldaten, 10.000 ständige und 40.000 kurzfristig einzuberufende Reservisten im Jahre 1995 vor. Jetzt steht im selben Zeitraum eine Reduzierung um 170.000 Soldaten der Bundeswehr und etwa 50.000 der ehemaligen NVA bevor.

Parlamentarische Aktivitäten

Seit Beginn des Jahres ging eine Flut von Anfragen zu Fragen der Rüstungs- und Standortekonversion an die Regierungen der Länder und des Bundes. In kurzer Zeit wurden Daten verfügbar, die die durch mühselige Kleinarbeit ermittelten Ergebnisse der Konversionsforschung bestätigten und durch viele neue Details ergänzen. So wurden nicht nur endlich offizielle Daten über Anzahl und Verteilung der deutschen und ausländischen Streitkräfte z.B. für Rheinland-Pfalz, Bayern oder Baden-Württemberg verfügbar, sondern etwa auch über Anzahl und Verteilung der von diesen Streitkräften und ihren zivilen Beschäftigten genutzten Wohungen oder die ausbezahlten Gehaltssummen an einzelnen Standorten6. Über die bei den zivilen Beschäftigten am stärksten vertretene Gewerkschaft ÖTV wurden z.B. Qualifikationsprofile der zivilen Beschäftigten bei den US-Streitkräften in Rheinland-Pfalz erstellt7. Die bereits zitierte Antwort des BMWi auf die große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion enthält eine seit längerem von der Konversionsforschung eingeforderte Auflistung der Aufträge des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung nach Raumordnungsregionen.

Strukturpolitische Steuerung notwendig

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das bekannt gewordene Datenmaterial die bisher von der Konversionsforschung erarbeiteten Ergebnisse8 vor allem in einem Punkt bestätigt: Abrüstung kann in Deutschland vor allem in strukturschwachen oder monostrukturierten Regionen bereits vorhandene Strukturkrisen verschärfen. Ohne strukturpolitische Steuerung kann mittelfristig mit einem nicht unbeträchtlichen Rückgang der regionalen Wirtschaftsentwicklung gerechnet werden. Dieser Befund gilt sowohl für die Standorte- wie für die Rüstungskonversion.

Die Bundesregierung und die in ihr vertretenen Parteien verweisen wie oben schon gesagt in Sachen Standortekonversion vor allem auf die Handhabung der vorhandenen Instrumente wie die GA »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« oder Strukturhilfe. Die FDP fordert zudem, den Truppenabbau vornehmlich auf Ballungszentren und industrielle Verdichtungsräume zu konzentrieren9. Dem Problem der Rüstungskonversion wird ein insgesamt geringer Stellenwert zuerkannt. In der oben zitierten Antwort des BMWi wird nochmals die bisherige Haltung der Bundesregierung bekräftigt, daß die Umstellung von militärischer auf zivile Produktion vor allem Aufgabe der betroffenen Unternehmen sei. Nur im Falle “größerer Schwierigkeiten beim industriellen Umstellungsprozeß ist die Bundesregierung bestrebt, durch geeignete Maßnahmen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bruchartige Entwicklungen zu vermeiden.”

Verknüpfung von Regional- und Bundespolitik

Eine Verknüpfung von Standorte-, Rüstungskonversion und Regionalpolitik zu einem Programm ist hier nicht zu erkennen. Global konzipierte flankierende Maßnahmen werden zwar zu Gunsten regionalspezifischer Lösungen abgelehnt, die regionalspezifischen Lösungen aber letztendlich den betroffenen Ländern überlassen. Der Bund bietet lediglich die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes und das Beratungsangebot der Bundesanstalt für Arbeit an. Schließlich erwartet sich das BMWi eine Lösung des Problems vor allem durch die “günstige Wirtschaftslage und die zusätzlichen Wachstumschancen, die sich aus der Vollendung des Europäischen Binnenmarktes und der deutsch-deutschen Entwicklung ergeben.” Eine Anpassung der Strukturhilfe bzw. einer Erhöhung der erst 1988 mit dem »Gesetz zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft« beschlossenen Mittel wurde bisher noch nicht in Erwägung gezogen. Das Gesetz aus dem Jahre 1988 sieht vor, daß der Bund den Ländern über einen Zeitraum von 10 Jahren jährlich 2,45 Mrd. DM zur Verfügung stellt, um die Infrastruktur zu verbessern, Forschung und Technologie, berufliche Aus- und Fortbildung oder städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen zu fördern10. Durch eine beträchtliche Aufstockung dieser Mittel könnte den betroffenen Regionen am gezieltesten geholfen werden. Das setzt allerdings auch entsprechende Harmonisierungen der Regionalhilfe innerhalb der EG voraus.

Die SPD setzt wesentlich stärker auf Steuerung der Strukturpolitik auf politischer Ebene. Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft soll durch aktive Strukturpolitik vorangetrieben werden. Rüstungs- und Standortekonversion erhalten in diesem Zusammenhang einen besonderen Stellenwert.

Rüstungskonversion soll aktiv in die geplante ökologische Umorientierung der Verkehrs-, Energie- , Forschungs- und Technologiepolitik einbezogen und als Pilotmodell genutzt werden. Da inzwischen in der Industrie und den Großforschungseinrichtungen eine ähnliche Umorientierung zu beobachten ist, ist zu erwarten, daß Konversion in Deutschland in den nächsten Jahren vor allem durch eine Umlenkung der staatlichen Nachfrage in die o.g. Bereiche gesteuert wird.

Das Umdenken hat begonnen

Wieweit das Umdenken schon vorangekommen ist, zeigt die Eröffnungsrede von Heinz Häberle, Vorstandsmitglied der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt vor der Gründungsversammlung der Umweltakademie am 18.10.90: “Die Wissenschaft hat sich in breiter Front der Umweltforschung angenommen. So ist z.B. heute unter den Großforschungseinrichtungen die Gesellschaft für Strahlenforschung völlig auf Umweltforschung ausgerichtet. Ebenso das GKSS-Forschungszentrum und das Alfred-Wegner-Institut. Auch die Kernforschungsanlage Jülich und das Kernforschungszentrum Karlsruhe betreiben nur noch mit 20% ihrer Kapazitäten Kernforschung. Auch viele Institute der Fraunhofer Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft haben sich der Umweltforschung angenommen. Das gleiche gilt für eine ganze Reihe von Universitäts- und Hochschulinstituten. Auch die DLR hat sich in den letzten Jahren der Anwendung der Luft- und Raumfahrt für die Umweltproblematik verschrieben.” Diese Liste läßt sich noch weiter fortführen, denn auch die Industrie folgt diesem unausweichlichen Trend. Das gilt auch für die Rüstungsindustrie, die in zunehmenden Maße die zivilen Anwendungsmöglichkeiten etwa von bisher vor allem militärisch genutzten Systemen etwa zur Luft- und Wasserüberwachung anpreist oder ihr Potential im Bereich alternativer Energieanlagen, neuer Antriebs-, Verkehrs- oder Umwelttechnologien. Die Aussicht auf einen Rückgang militärischer Aufträge hat inzwischen auch in der Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft ebenso wie in der FEG-Gesellschaft für Logistik zu Grundsatzdebatten über die Zukunft dieser Unternehmen geführt. Beide Gesellschaften unterstehen dem Bundesminister für Verteidigung und werden aus dessen Haushalt mit zusammen fast 400 Millionen DM jährlich alimentiert.

Ein Gesamtprogramm für die neunziger Jahre

Es bietet sich geradezu an, die vorhandenen Ressourcen in einem Programm für die neunziger Jahre neu zu bündeln und damit auch eine ressort- und unternehmensbezogene Organisationsreform durchzuführen. Weitere Privatisierungen von Teilen bisher in staatlicher Alleinregie geführten Unternehmen sind damit nicht ausgeschlossen. Die vielfältigen Beteiligungen des Bundes und der Länder sind ein vorzügliches Instrument, um marktwirtschaftliche Industriepolitik zu betreiben. Vor allem in den zentralen Bereichen Verkehr, Energie und Umweltbündelung geht es ja um eine Neugestaltung der Rahmenbedingungen, in denen sich Wettbewerb auf neuen Märkten entfaltet und der Ausgleich von Angebot und Nachfrage in einem freien Markt stattfinden kann11. Aber solange die Zuständigkeiten der Ressorts bei Bund und Ländern zersplittert sind, verhindert diese Zersplitterung nicht nur “zukunftsgerichtete Planung durch bürokratische Verzögerung”, sondern auch die Neugestaltung der Rahmenbedingungen durch eine koordinierte Forschungs- und Entwicklungspolitik. Das Versagen der bisherigen Planung und Koordination vor allem in der Energie- und Verkehrspolitik wird sich in den nächsten Jahren noch krasser zeigen.

Das enorme technologische Potential der Industrie und der staatlichen Großforschungsanlagen bieten ein gutes Instrument, um durch aktive Konversionspolitik auch Beschäftigung in den vom Personalabbau betroffenen Regionen und den neuen Bundesländern zu schaffen. Da der Staat als Kunde im Bereich Verkehr, Energie, Kommunikation und Umwelttechnologie ohnehin dominiert, kann dies durch eine Umlenkung der Staatsnachfrage und Ansiedlungsanreize in den betroffenen Regionen geschehen. Diese Anreize könnten denen entsprechen, die der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium für Investitionen in den fünf neuen Bundesländern in einem am 4. November vorgestellten Gutachten empfahl:

Abschreibungserleichterungen, Investitionszulage von 12% zusätzlich zur bestehenden Regionalförderung, Einkommensentwicklung gekoppelt an die Arbeitsproduktivität, dafür Steuersenkungen in besonders betroffenen Regionen.

Langfristige Finanzplanung

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, daß Konversion in Deutschland nicht nur ein Problem langfristig angelegter sektoraler und regionaler Wirtschafts- und Umweltpolitik, sondern auch der langfristigen Finanzplanung ist. Die Probleme der Rüstungs- und Standortkonversion werden sich fast von selbst lösen, wenn es gelingt, durch eine konzertierte Aktionen über diese Pfade neue Arbeitsplätze dort zu schaffen, wo die Beschäftigungssituation sich durch Abrüstung verschlechtert. Da dies nun einmal ohnehin die Regionen sind, die schon seit längerem strukturschwach sind, kann Abrüstung somit zu einer Renaissance der regionalen Strukturpolitik führen. Es ist höchste Zeit, denn mit dem Europäischen Binnenmarkt und der deutsch-deutschen Einigung drohen diese Regionen im Gegensatz zur Auffassung des BMWi auf Grund des Wettbewerbs der strukturstarken Regionen weiter ins Abseits zu geraten.

zum Anfang | Abrüstung und Konversion: Konversion in den Streitkräften

von Peter Barth

Mit der deutschen Wiedervereinigung geht das Ende der NATO-Vorneverteidigung und ein massiver Abbau fremder Truppenpräsenz einher. Die amerikanische Restpräsenz dürfte am Schluß der Reduktion nicht mehr als ein Armeekorps umfassen, während andere NATO-Kontingente noch erheblich weiter zusammenschrumpfen und die Franzosen voraussichtlich vollständig von deutschem Boden abziehen werden. Welche neue Doktrin anstelle jener der »flexible response« treten, welche geschrumpften, verstärkt auf Kaderung und Mobilmachungsfähigkeit abstellenden Einheiten in den bisherigen Korpsstreifen die jetzigen Verbände der Deutschen, Amerikaner, Briten, Niederländer und Belgier ablösen werden und was mit den französischen Truppen im zweiten Glied sowie mit dem kleinen kanadischen Kontingent geschehen wird, zeichnet sich nur sehr fragmentarisch in vagen Umrissen ab.

Deutlich zu erkennen ist vorerst allein ein durchwegs drastischer Abbau der deutschen wie auch der alliierten Streitkräfte. Vertraglich vereinbart ist zudem der Abzug aller 380.000 Mann sowjetischer Truppen von deutschem Boden bis spätestens 1994. Verteidigungsminister Stoltenberg rechnete vor, daß in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts in Deutschland insgesamt nur noch etwa eine halbe Million Mann deutscher und westalliierter Soldaten stationiert sein werden gegenüber bisher rund anderthalb Millionen.

Deutschland als bisherige »Waffenkammer der NATO«

Allein in Deutschland, West und Ost, standen rund 1,5 Millionen Soldaten ständig unter Waffen; auf 54 Einwohner kam ein Soldat. Selbst in gewaltträchtigen Krisengebieten, z. B. dem Nahen Osten, war die Truppendichte vor der Golf-Krise geringer gewesen.

In keinem Land der NATO waren mehr Streitkräfte stationiert, als in der mit 280 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Bundesrepublik Deutschland, das in der militär-strategischen Planung als »Kampfzone« (Combat-Zone) bezeichnet wird. Mit 820.000 Soldaten und ca. 10.000 Panzern auf dem Boden der Bundesrepublik war die Truppendichte damit 26mal so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Der Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, bezeichnete 1985 die Bundesrepublik als die »Waffenkammer der NATO«.

Die Zukunft der Bundeswehr

Was aber wird nun aus der Bundeswehr? Ein rational geplanter Krieg in Europa ist nicht mehr vorstellbar, weil es nichts zu gewinnen gibt. Die Legitimation einer Streitmacht der »Heimatverteidigung« also liegt darin, andere Staaten von einer Politik des Abenteuers abzuhalten, zu der Regierungen Zuflucht suchen können, wenn sie innenpolitisch in einer Malaise stecken.

Die Form von »Bedrohung« ist viel weniger konkret als jene, die in den ersten 30 NATO-Jahren von der Sowjetunion ausging. Weil das so ist, braucht Deutschland in Zukunft auch nicht mehr präsente Streitkräfte in dem Ausmaße wie früher.

Die Bundeswehr muß kleiner, internationaler und spezialisierter werden. Es besteht nicht mehr die Notwendigkeit, ganze Jahrgänge unter den Helm zu zwingen; es reicht aus, eine mobile Armee von länger Dienenden und parallel dazu eine Territorialorganisation zu schaffen, ein Modell, angelehnt etwa an das britische oder amerikanische Wehrsystem. »Internationaler« bedeutet dabei eine Verklammerung nationaler Teileinheiten, etwa in Form von gemischten Brigaden (dies wäre auch eine Art Kontrolle der deutschen Streitkräfte). Und Spezialisierung schließlich heißt, bewußt auf die Armee zu verzichten, die »alles« können soll: Verteidigung und Gegenangriff zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Im Vordergrund muß der Schutz des Territoriums und seiner Küsten stehen, das heißt, das Heer und eine entsprechende Marine. Dies ist nun kein Grund, Deutschland ganz zu entmilitarisieren. Solange Gewalt in der Weltpolitik eine immer noch dominierende Rolle spielt, solange es Staaten gibt, die ihre Interessen mit Panzern und Flugzeugen durchsetzen, muß auch der Friedliche für den Notfall Soldaten bereithalten. Freiheit und Wohlstand sind Güter, die der Verteidigung wert sind, und letztlich kann nur eine präsente Armee die Bereitschaft dazu glaubwürdig demonstrieren.

Eine Berufsarmee ist ausreichend

Aber: Staaten, die schon demokratisch waren, als in Deutschland noch nicht einmal Wilhelm I. regierte, haben keine Armee von Wehrpflichtigen. Sie greifen notfalls auf die Bürger zurück, die nach Scharnhorst die »geborenen Verteidiger« ihres Landes sind. In den ganz normalen Zeiten aber, in denen die Nation nicht bedroht ist, wohl aber immer wieder Präsidenten und Premierminister militärische Einsätze beschließen, reicht eine Berufsarmee völlig aus.

Mehr als das: Eine Berufsarmee ist militärisch besser, sie ist effizienter, weil ihre Angehörigen mehr Zeit und Motivation für Ausbildung und Training haben. Je stärker auch das Militär von Arbeitsteilung und Spezialistentum geprägt wird, desto anachronistischer wird es, junge Männer, in der Mehrzahl unwillig, für zwölf oder evtl. in Zukunft nur noch 9 Monate unter den Stahlhelm zu zwingen. Dazu kommt, daß ein mögliches Kriegsbild der Zukunft nicht mehr die Millionenheere verlangt, sondern vielmehr kleine, mobile und technisierte Einheiten.

Die Kriterien, nach denen Deutschland teilabgerüstet wird, sind sehr willkürlich gewählt. Es ist nicht zu erkennen, warum ein künftiges deutsches Heer nun 370.000 Soldaten haben soll, warum nicht 200.000 oder gar nur 100.000 Mann. So gibt es beispielsweise aus Großbritannien vom Vorsitzenden der Liberalen Partei, Paddy Ashdown, den Vorschlag, in Deutschland nicht ein Militär im herkömmlichen Sinne beizubehalten, sondern nur eine Art Peace-Keeping-Force. Diese könnte unter 100.000 Mann stark sein, in Ausrüstung und Aufbau dem Bundesgrenzschutz gleichen – ohne schwere Waffen und ohne Luftwaffe.

Abrüstung in ganz Europa

Wir sollten daher diese einmalige Chance nutzen, mit einer Entmilitarisierungskampagne zu versuchen, nicht nur Deutschland in großen Teilen zu entmilitarisieren, sondern damit auch eine Abrüstungsdynamik in ganz Europa freizusetzen. Es geht in dieser einmaligen Situation darum, die Entmilitarisierung des Denkens und Handelns sowie den Wegfall des Militärs radikal zu vertreten, um den Stopp des Wettrüstens und der Rüstungsdynamik zu erreichen. Man muß in Zukunft grundsätzlich auf das Mittel des Krieges in der Politik verzichten und sich fragen, ob nicht eine Art »Friedenstruppe« ausreicht, die gering bewaffnet für Sicherheit zu sorgen hat.

Deutsche Blauhelme?

Und was – so hört man fragen – ist am Golf? Soll die Bundeswehr dort eingesetzt werden? Manches geht in der inländischen Diskussion durcheinander. Entsendung deutscher Soldaten an ferne Konfliktherde in nationaler Verantwortung; Entsendung im Rahmen kollektiver Selbstverteidigung unter der Fahne der NATO, der WEU und, eines Tages, der Europäischen Gemeinschaft oder neuer KSZE-Institutionen; Entsendung zu Friedensmissionen unter den Blauhelmen der Vereinten Nationen – das sind ganz verschiedene Dinge. Man sollte sie nicht durcheinanderbringen. Hier hilft die rein juristische Betrachtung nicht weiter. Das Grundgesetz sagt uns, was wir dürfen, und dies höchst undeutlich, ja zweideutig. Die politische Debatte jedoch muß klären, was wir wollen sollen. Dann erst kann es darum gehen, ob das Grundgesetz geändert werden muß.

Es kann nicht darum gehen, einfach im amerikanischen Kielwasser zu schwimmen; dafür haben schon zu viele US-Präsidenten mit ihrem Urteil daneben gelegen: Wenn schon in den Golf, dann nur unter UN-Flagge. Es geht vielleicht auch darum, sich kollektiven Aktionen der UNO nicht länger im Prinzip zu entziehen.

Die Welt der Staaten ist kein Kinderspielplatz: Kranker Ehrgeiz, böse Absichten und ein Überfluß an gefährlichen Waffen können bedrohliche Situationen heraufbeschwören. Sie meistern zu helfen, darf sich das neue Deutschland wohl nicht zu schade oder zu fein sein.

Bedrohungen und Risiken

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hält heute wohl die Armee grundsätzlich für überflüssig, betrachtet andererseits aber auch mit relativer Gleichgültigkeit, was »die« in Bonn und Berlin mit den Soldaten vorhaben. Verkündete man jetzt die bevorstehende Auflösung der Bundeswehr, gäbe es wahrscheinlich kaum mehr Resonanz in der Bevölkerung, als bei der Verkürzung der Wehrpflicht auf zwölf Monate. Die einzig stichhaltige Begründung für das Weiterbestehen der Bundeswehr ist schwer an den Mann zu bringen: Es könnte sein, daß als Folge des innenpolitischen Verfalls der Sowjetunion irgendwann wieder eine militärische Bedrohung erwächst. Aber die alten NATO-Kriegsziele und Kriegsgegner sind wohl in Frage gestellt, auch wenn die Sowjetunion aufgrund ihres Kernwaffenpotentials eine militärisch eindrucksvolle Macht darstellt. Aber von Bedrohung kann man wohl nicht mehr sprechen, eher von eventuellem Risiko.

Armee ohne Auftrag

Wie sich damit heute die sicherheitspolitische Lage darstellt, wird die deutsche Armee der Zukunft den vagen Auftrag haben, präsent zu sein, eine Wehrhaftigkeit zu demonstrieren, die in der Gesellschaft keine Entsprechung mehr findet, Pläne zur Verteidigung eines möglichen Gegners zu wälzen, der – wenn überhaupt jemand – am wahrscheinlichsten sich selbst angreift. Mit Gorbatschows Reformpolitik und dem Zerfall des Warschauer Pakts hat die Bundeswehr die Existenzgrundlage verloren, auf der sie seit 1956 lebt. Sie ist in diesem Sinne zu einer Armee ohne Auftrag geworden.

Dasselbe gilt im verschärften Sinne für die Nationale Volksarmee. Sie wurde gegründet als die Verteidigerin eines Staates, dessen Volk ebenso sehnsüchtig wie hastig nichts anderes wollte, als sich in jene Gesellschaft einzugliedern, die noch vor Jahresfrist den NVA-Rekruten als hassenswerter Klassenfeind dargestellt wurde. Mit dem Ende des Staates, den die SED nach ihren Vorstellungen zu formen bemüht war, ist auch das Ende dieser Armee gekommen.

Man räumt selbst den gutwilligen Offizieren der NVA keine Chance ein, die NVA nach westdeutschem Muster zu demokratisieren:

  1. westdeutsche Bundeswehr-Offiziere wurden der NVA vor die Nase gesetzt,
  2. westdeutsche Bundeswehr-Offiziere und Beamte werden die Übernahmeausschüsse besetzen und die Bewerber der NVA auswählen,
  3. ein Selbstreinigungsprozeß der NVA wird damit verhindert (was für die preußische Armee nach Jena und Auerstedt vor fast 200 Jahren unter feudalaristokratischen Strukturen möglich war, ist für die NVA tabu).

    Damit wird eine kleine, hochspezialisierte Intelligenzschicht stigmatisiert. Schon jetzt kann man in der NVA Denk- und Verhaltensmuster beobachten, die einmal für die ganze DDR-Bevölkerung typisch werden könnten. Die beginnende Kolonialisierung der DDR muß aber nicht in Anpassung, sie kann auch in Rebellion umschlagen.

Vielleicht wäre es im militärischen Bereich möglich, wenigstens eines aus der ehemaligen DDR zu übernehmen, nämlich die Erfahrung mit der Konversion der NVA. Vollständige Konversion meint im konkreten Fall der NVA allmähliche Überführung praktisch des gesamten Personalbestandes sowie aller Liegenschaften der NVA in zivile Bereiche bzw. Verwendung und parallele Abrüstung aller Waffen und sonstigen militärischen Ausrüstungen.

Ein solcher Prozeß muß dabei so gestaltet werden, daß er:

  • nach innen und außen politisch stabilisierend wirkt;
  • sozial verträglich ist, vor allem für die Armeeangehörigen und ihre Familien, aber nicht weniger für die Gesellschaft insgesamt;
  • marktwirtschaftlich, d.h. ökonomisch effektiv und stimulierend ausfällt und
  • ökologische Gesichtspunkte im notwendigen Maße mit berücksichtigt.

Konversion der NVA

Die vollständige Konversion der NVA stellt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar und wird vermutlich eine Zeitspanne von 5 bis 10 Jahren in Anspruch nehmen. Nicht nur, daß die meisten Berufskader der Armee der DDR keine ohne weiteres in zivilen Berufen verwendbaren Qualifikationen haben, wodurch umfangreiche Umschulungs- und Neuausbildungsprogramme erforderlich sind. Auch die geregelte Abrüstung der immensen Waffenberge in der ehemaligen DDR läßt einen kürzeren Zeithorizont nicht als mit Verantwortung vertretbar erscheinen.

Noch bevor die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR Mitte April 1990 ihre Tätigkeit aufnahm, belegten Untersuchungsergebnisse aus der DDR folgende sich zuspitzende Situation:

  • Während bisherige internationale Erfahrungen besagen, daß sich positive Effekte der Konversion nur erreichen lassen, wenn die entsprechenden Maßnahmen gründlich und längerfristig vorbereitet werden, fehlten für diese Prozesse unter den komplizierten Existenzbedingungen der DDR Zeit und konzeptioneller Vorlauf. Die tatsächliche Reduzierung der Streitkräfte, der Grenztruppen und der Produktion von militärischen Gütern begann in hohem Tempo und beträchtlichem Ausmaß ohne diese Vorbereitungen.
  • Konversionsprozesse dürfen – darin sind sich Experten international einig – nicht allein den Marktgesetzen überlassen werden. Sie erfordern die aktive Einschaltung und Steuerung durch den Staat und die aktive Mitwirkung der tragenden gesellschaftlichen Kräfte. Sie müssen in ein wirtschafts- und sozialpolitisches Gesamtkonzept eingebettet sein, was jedoch in der DDR nicht der Fall war. Initiativen mußten oft von den Betrieben allein entwickelt werden.
  • Je günstiger die Gesamtheit der Rahmenbedingungen, um so effektiver die Konversion. In der DDR begannen diese Prozesse unter Bedingungen einer tiefen ökonomischen Krise, also unter ungünstigsten ökonomischen und sozialen Voraussetzungen.
  • Klare Vorgaben entscheiden über den Verlauf solcher komplizierten Prozesse, so in der DDR über den künftigen Streitkräfteumfang, den materiellen Bedarf sowie hinsichtlich Verpflichtungen gegenüber der WVO. Hier fehlten entsprechende Entscheidungen.

Nationaler Konversionsplan nötig

Wie könnte nun eine vollständige Umgestaltung der NVA praktisch in Angriff genommen werden, was könnten, ja müßten grundlegende Schritte sein:

Notwendig wäre die unverzügliche Erarbeitung eines Nationalen Konversionsplanes, der alle sozialen, ökonomischen und budgetären, technologischen, ökologischen sowie sonstigen Aspekte in ihrem Zusammenhang erfaßt und in alternativer Weise Grundlinien und Möglichkeiten ihrer Bewältigung aufzeigt. Besonderes Schwergewicht müßte hierbei u.a. gelegt werden auf ein Berufsbildungsprogramm für NVA-Kader, das an künftigen marktwirtschaftlichen Erfordernissen orientiert ist; auf der Suche nach industriellen und anderen effektiven Technologien und Methoden der Abrüstung; auf das Problem der ökologischen Altlasten der NVA – wie etwa überalterte Treibstofflager u.ä. – und nicht zuletzt auf Standortgebiete, die in ihrer sozialen Lebensfähigkeit heute hochgradig vom Militär abhängen. Das könnte eine Hauptaufgabe für ein innerministeriales Amt für Rüstungskontrolle und Abrüstung sein.

Das Problem der Standorte und Liegenschaften

So positiv die beginnende Abrüstung ist, so bringt sie auch eine Reihe von Problemen mit sich, beispielsweise für München, die Stadt in der Bundesrepublik, in die bisher rund 40 Prozent aller Rüstungsaufträge flossen, in der rund 30.000 Arbeitsplätze direkt von der Rüstung abhängen. Hierzu kommt der geplante Abzug der amerikanischen Streitkräfte, die einerseits neue Perspektiven für die Stadtplanung und Stadtentwicklung eröffnet, andererseits aber auch viele Arbeitsplätze gefährdet.

Oberbürgermeister und Stadträte in den Ballungsgebieten verplanen bereits die Liegenschaften der Army. Und alle wollen die Flächen entweder »günstig« wie Frankfurts Oberbürgermeister Volker Hauff, oder gar, wie sein Wiesbadener Kollege Achim Exner, »entgeltlos« übernehmen.

Daraus wird vermutlich nichts. Denn der Bundesfinanzminister muß, so verlangt es die Bundeshaushaltsordnung, die an den Bund zurückfallenden Flächen »zum Verkehrswert« veräußern.

Wenn beispielsweise die Amerikaner einen Stützpunkt verlassen, fällt dieser zunächst der NATO zu. Die entscheidet, ob sie den Stützpunkt »einmottet« – er bleibt dann für Krisenfälle und Manöver weiterhin nutzbar – oder ob sie ihn an die Streitkräfte eines NATO-Landes vergibt. Gelangt der Stützpunkt dann in die Verfügung der Bundeswehr, muß sich der Verteidigungsminister mit dem Finanzminister verständigen, ob daraus ziviles Bundeseigentum werden soll. Dann erst kann die Landesregierung oder die Kommune das Gelände vom Bund erwerben. Solche Vorgänge dauern oft Jahre, so z. B. in Zweibrücken. 1977 zogen die Franzosen ihre Garnison aus der Stadt ab und hinterließen mitten in der Stadt ein Casino. Zwölf Jahre vergingen, ehe die Stadt über das Gebäude verfügen durfte: Mittlerweile war es weitgehend verfallen.

Der Finanzminister kann in den nächsten Jahren mit Einnahmen in vielfacher Milliarden-Höhe rechnen. Für den Bund wird der Transfer eines der besten Geschäfte der Nachkriegszeit. Nach US-Schätzungen beträgt der Liegenschaftswert der derzeitigen sechs »Besatzungsmächte« in der BRD rund 28 Milliarden DM.

Denn nicht nur die Amerikaner ziehen Truppen aus Deutschland ab. Das belgische Kontingent (26.000 Mann) plant, seine Kasernen und Übungsplätze in Nordrhein-Westfalen und Hessen zu verlassen, die gesamte französische Streitmacht (53.000 Mann) bereitet den Rückzug aus Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg vor. Auch die britische Rheinarmee (56.000 Mann) wird ausgedünnt.

In Frankfurt etwa, wo 25.000 Anwärter auf Sozialwohnungen ohne feste Bleibe sind, rechnen die Kommunalpolitiker mit Entlastung schon durch einen Teilabzug der Amerikaner. Denn mit 1072,57 Hektar – das entspricht einem Areal von mehr als 2.000 Fußballplätzen – belegen die US-Einrichtungen, ähnlich wie in Mannheim oder Heidelberg, satte 20 Prozent der bebauten Fläche in der Stadt.

Doch ob die Kommunen von dieser Konversion tatsächlich profitieren, ist längst nicht ausgemacht. Die Flächen und Gebäude werden den Städten womöglich gar nicht oder nur zum Teil angeboten.

Die Finanzbehörden müssen nach dem Haushaltsrecht nämlich erst prüfen, ob »weiterer Bundesbedarf« besteht, etwa für »preiswerte Dienstwohnungen«. Bedienstete des zuständigen Frankfurter Bundesvermögensamtes weisen zum Beispiel schon jetzt darauf hin, daß einige hundert Zöllner und Grenzschützer, die von der aufgelösten innerdeutschen Grenze an den Main versetzt wurden, »die örtlichen Mieten nicht zahlen können«.

Hinzu kommt, daß die Kommunen mit den saftigen Preisen für ehemalige US-Areale überfordert sind. Der »jüngste Preis«, den das Bundesvermögensamt für ein Staatsgrundstück in Frankfurt erzielte, lag bei 1.700 DM pro Quadratmeter. Zwar darf der Bonner Finanzminister nach der Haushaltsordnung einen Abschlag von 15 Prozent zulassen, wenn auf der Fläche Sozialwohnungen entstehen sollen. Der Endpreis liegt aber dann immer noch so hoch, daß an preiswerten Wohnungsbau gar nicht zu denken ist.

Zudem hat sich das Pentagon schon 1971, in einem deutsch-amerikanischen Verwaltungsabkommen, über die Rückgabe von militärischen Einrichtungen für den Fall eines Truppenrückzuges abgesichert.

Danach müssen die amerikanischen Milliarden-Investitionen für Neubauten in den Stützpunkten von Army und Air Force an Washington zurückfließen. Diese hohen Kosten muß sich der Bund von einem Käufer ebenfalls erstatten lassen.

Wie teuer bei solcher Berechnungsweise die US-Grundstücke werden können, hat die Stadt Mannheim schon vor zwölf Jahren erfahren. Die Kommune wollte ein marodes GI-Depot, die Spinelli-Barracks im Vorort Freudenheim, für den Wohnungsbau übernehmen.

Aus dem Handel wurde nichts. Nach einer »geschätzten Wertermittlung« verlangten die amerikanischen Streitkräfte schon damals für die heruntergekommenen Hallen den stolzen Betrag von 155 Millionen – den Bodenwert gar nicht gerechnet.

Bis zur zivilen Nutzung der vormals militärischen Liegenschaften ist also noch ein langer Weg.

Die Erfahrungen der NVA-Konversion nutzen

Von der DDR wird – auch im militärischen Bereich – nicht sehr viel übrig bleiben. Vielleicht ist die Erfahrung mit der Konversion der NVA das einzige, was in das neue, vereinigte Deutschland übernommen wird. Es steht zu hoffen, daß dieser Prozeß vernünftig geregelt wird und diese Erfahrungen auf die Bundeswehr angewendet werden. Vergleichbare Probleme, wie sie mit einer Konversion der NVA entstehen, kommen im Zuge der Wiener Abrüstungsprozesse früher oder später auf alle Teilnehmerstaaten der Warschauer Vertrags-Organisation und der NATO zu.

Ein zweiter Punkt muß sein, eine rechtzeitige Erhebung aller Daten der militärischen Liegenschaften einschließlich militärischer Altlasten zu erstellen, damit rechtzeitige Planungen für die Zukunft durchgeführt werden können.

Eine dritte Überlegung wäre, ob man den Anregungen der GRÜNEN im Landtag von Rheinland-Pfalz folgen sollte, die vorschlagen, die »Pfründe des Friedens«, die bei einer Freigabe militärischer Nutzung von Liegenschaften entstehen, in eine »Stiftung Ökologischer Land- und Bodennutzung Rheinland-Pfalz« einzubringen. Ähnlich würde man in allen Bundesländern verfahren.

All dies sollte mit vollständiger Transparenz nach innen und außen realisiert werden. Zugleich müssen alle Fragen, die sich damit stellen, in internationaler Kooperation gelöst werden.

zum Anfang | Abrüstung und Konversion: Regionale Konversion

von Olaf Achilles

Im Frühjahr 1990 war ein Wort in aller Munde, daß vorher noch kaum Politiker kannten oder bewußt aus ihrem Sprachgebrauch ausgegrenzt hatten: »Konversion.« Primär ging es in den betroffenen Gebieten und Ländern um den geplanten Truppenabzug vor allem durch die Amerikaner und die Auflösung ganzer Standorte. In Ost-Deutschland ging die Diskussion um den Abbau der (ehemaligen) NVA und den Rückzug der Truppen der UdSSR. Diese Standortkonversion (auch Regionale Konversion genannt) wurde außer durch einige Friedensarbeiter und Friedensforscher bisher nirgends in Deutschland thematisiert.

Die Gemeinden setzten auf Militär als Wirtschaftsfaktor und die Landespolitik wurde ebenso militärfreundlich ausgerichtet. Schlichtweg wurden Weisungen aus Bonn, Washington, Paris etc. empfangen bzw. zur Kenntnis genommen. In der ehemaligen DDR gab es keine Widerspruchsmöglichkeiten. Bundes- und Landesregierungen haben inzwischen (gemeinsame) Arbeitsgruppen eingerichtet, Parteien erarbeiteten Argumentationspapiere, auch wurden ein paar Anhörungen und Podiumsgespräche durchgeführt. Länderchefs gingen auf Auslandreisen (zumeist nach Washington) und Bürgermeister versuchten vergeblich, Informationen über Truppenbewegungen einzuklagen. Die Bevölkerung denkt, daß eine Abrüstung in schnellen Schritten nun erfolgen wird und deplaziert sie von der Liste der wahlbestimmenden Themen. Doch in dieser Zeit wurde noch keine einzige Militär-Liegenschaft zur zivilen Nutzung freigeben. Lediglich das Giftgas-Depot in Clausen ist nach einer Verfügung des BMVg für die zivile Nutzung frei. Ein Kommission habe keine »Restlasten« gefunden (FR 18.10.90). Bis diese Liegenschaft wirklich zivil genutzt werden kann, wird allerdings noch einige Zeit vergehen, denn das BMVg kann nur auf eine »Anschlußnutzung« dieser alliierten Liegenschaft verzichten. Zuständig wäre dann der Bundesminister der Finanzen. Erst er könnte dann die Liegenschaft freigeben. Ob sie den betroffenen Gemeinden zurückgegeben oder meistbietend verkauft wird, ist bis heute politisch noch nicht entschieden worden. Die Bundeswehr annektiert zur Zeit alle Militärflächen in Deutschland-Ost, um sie dann vor allem als Übungsgebiete – mit weniger als der Hälfte aller Soldaten in Deutschland – weiter zu nutzen.

Rationalisierung oder Reduzierung

Der gesamte Konversionsprozeß, die gesamte Diskussion auf allen politischen Ebenen muß aufmerksam begleitet werden. Momentan handelt es sich eher um Truppenbewegungen. Wir haben es hier mit einer Rationalisierung und Modernisierung der Militärapparate zu tun. Es wird weitergebaut wie bisher. Die Bundesregierung versucht dieses zu vertuschen. So steht in einem Beschluß der Landesmitgliederversammlung der GRÜNEN in Hessen v. 26.8.90: „Das Ergebnis (der Abrüstung O.A.) für Hessen ist nicht Entmilitarisierung sondern Umgruppierung und Verdichtung militärischer Einrichtungen (…). Die derzeitige Landesregierung (…) bekennt sich ungebrochen zu Hessen als strategischen Militärstandort. (…)(Sie) betreibt die Verlagerung von US-Einrichtungen aus dem Rhein-Main-Gebiet in strukturschwächere Regionen innerhalb wie außerhalb Hessens, deren Abhängigkeit vom Militär damit zementiert wird. Über militärische Belastungen durch die Bundeswehr schweigt sie 'in Treue fest'. Sie überläßt die Initiative zum Abbau den Militärs selbst und läßt die Betroffenen im Stich.“

Diese Analyse gilt auch für andere Bundesländer! Auf Anfrage der SPD erklärte die Bundesregierung, daß das Militär bereits aus Umweltgründen die Zurückstellung des Baus von Sperren, Sperrmittelhäuser und Ersatzübergangsstellen angeordnet habe (Vgl. Bt-Drs. 11/7826). Dies ist natürlich eine politische Maßnahme, da dieser Bau

  • von der Bevölkerung nicht mehr geduldet und
  • in Herleshausen in Hessen dies gerichtlich vom Verwaltungsgericht in Kassel sogar untersagt wurde.

In Wirklichkeit waren von den ca. 1.7 Milliarden DM für große Baumaßnahmen 1990 im Juni des Jahres nach einer Information von der Hardthöhe ca. 1.6 Milliarden bereits bewilligt gewesen! Konversion kann nur unsere Unterstützung finden, wenn sie in einen unumkehrbaren Abrüstungsprozeß eingebunden ist, der ökologisch, partizipatorisch und »von unten« durchgeführt wird. Eine Abrüstung »von oben« berücksichtigt die Interessen der Militärs und nicht die der betroffenen Bevölkerung. Ohne Beteiligung aller wichtigen lokalen politischen Gruppen, wie z.B. insbesondere der Wirtschaft und ihrer verschiedenen Verbände, der Gewerkschaften, der Parteien, der Kirchen, der Bürgerinitiativen und Umweltverbänden etc. wird die Chance eines ökologischen Umbaus von Teilen der Gesellschaft nicht genutzt werden. »Abrüstung von unten« ist das Gebot der Stunde.

Regionale Abrüstungskonferenzen

In ganz Deutschland gibt es ca. 1500 Gemeinden mit mehr als 5000 militärischen Anlagen. Sie alle stehen, wie auch immer, in einem Abrüstungsprozeß zur Disposition. Die Idee der regionalen Konversion beinhaltet, (militärdominierte) Städte, Dörfer, Gemeinden und Regionen mit möglichst vielen kommunalen Ressourcen zu einem ausglichenen, entmilitarisierten Mensch-Natur-Gefüge zu entwickeln. Initiativen hatten sich in der Bundesrepublik bisher ausschließlich um die GRÜNEN etabliert. Als erstes ist das »Projekt Regionale Konversion« in Kaiserlautern (Rheinland-Pfalz) zu nennen, welches von Roland Vogt initiiert wurde. Die Idee wurde aus der Notwendigkeit geboren, daß ganze Regionen, und einzelne Gemeinden sozusagen vom Militär besetzt gehalten werden und es darum ging, Lösungen für einen zivilen Umbau aufzuzeigen. Dabei spielte nicht nur die ökonomische Abhängigkeit sondern gerade auch die ökologische Belastung eine wichtige Rolle in der Argumentation betroffener Akteure.

Ein erster Schritt zur Umsetzung wäre die ständige Einrichtung einer »regionalen Abrüstungskonferenz« (Abrüstungs-o. Konversionsratschlag), der den Prozeß des notwendig gewordenen »zivilen Umbaus« der Region beratend begleitet. An der Konferenz sollten Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aus dem Kreis insbesondere der Wirtschaft und ihrer verschiedenen Verbände, der Gewerkschaften, der Parteien, der Kirchen, der Bürgerinitiativen und Umweltverbänden etc. teilnehmen. Die Konferenz müßte in Abstimmung mit den kommunalen Parlamenten insbesondere des Kreistages Forderungen für die Region v.a. an das Land und den Bund erarbeiten. Alle Maßnahmen in der Region sind auf eine nicht-militärische Zukunft auszurichten. Für die einzelnen Gebieten der Region sind gemeinsam Zukunftsmodelle erarbeiten. Dabei steht vor allem die Frage nach alternativen Arbeitsplätzen und einer »eigenständigen Regionalentwicklung« im Vordergrund. „Wir brauchen eine Antwort auf die Frage: Wie kann der Wegfall bestimmter bestehender Beschränkungen und Belastungen des Kreises durch das Militär möglichst schnell in einen Standortvorteil umgesetzt werden?“

Das Institut für Regionale Konversion hat in seinem Gründungsdokument im März dieses Jahres in Berlin zu diesem Komplex folgende Sätze aufgeschrieben:

„Parallel zur Schaffung von internationalen und nationalen Rahmenbedingungen ist dieser Prozeß vor allem auf lokaler und regionaler Ebene zu realisieren. Wird diese Regionale Konversion nicht demokratisch gestaltet, drohen die Gefahr von neuer Arbeitslosigkeit in erheblichem Ausmaß, das Aufbrechen sozialer

Konfliktpotentiale, die Einschränkung demokratischer Rechte, die Verschärfung von regionalen Strukturproblemen sowie die Fortentwicklung und Erhöhung ökologischer Belastung. Deshalb müssen die verschiedenen betroffenen Interessengruppen in einem partizipatorischen Diskussions- und Arbeitsprozeß den Umbau ihrer Region ökonomisch, ökologisch und sozial verträglich herbeiführen.

Sie müssen dafür ihr eigenes gestalterisches Potential erkennen und entfalten. Nur eine »Abrüstung von unten« kann den anstehenden demokratischen und ökologischen Zukunftsanforderungen für unsere Gesellschaften gerecht werden.“

Militärische Belastung

Alle militärische Anlagen haben ein Belastungspotential. Es gibt mehrere Kreise und Gemeinden, für deren Gebiet bereits eine »militärische Belastungsanalyse« durchgeführt wurde. Diese Erfassung ist sehr wichtig, da sie Daten und Aussagen gerade auch für eine potentielle Standortkonversion bereitstellt. Militärische Belastungsanalysen entwickelten sich parallel zur kommunalen Friedensarbeit. Sie haben die Auswirkungen des mobilen und stationierten Militärapparates in einer bestimmten Region zum Untersuchungsgegenstand. Dabei kommen, je nach Autor, Anlaß und nicht zuletzt Auftraggeber die sozialen, politischen, kulturellen, juristischen, ökologischen und ökonomischen Belastungen zur Diskussion. Militärische Belastungsanalysen dienen vor allem als Argumentations- und Abwägungsmaterial und sind auch für die Bauleitplanung relevant (Beispiele sind in der Studie »Militärische Belastungsanalysen und Regionale Konversion« genannt; Achilles 1990). In der jetzigen Diskussion taucht z.B. immer wieder auf, daß die Liegenschaften »altlastenfrei« zurückgegeben werden müssen. Dabei definiert die Bundesregierung Altlasten zumeist als Rüstungsaltlasten. „Erkenntnisse über gravierende Altlasten-Fälle auf den ausländischen Streitkräften überlassenen Liegenschaften liegen nicht vor“ (Bt.Drs. 11/7441). Neue Altlasten, also Belastungen und Verseuchungen durch den (Übungs-)Betrieb der Militärapparate werden, zumindestens für das Gebiet der BRD vor der Wiedervereinigung nicht wahrgenommen. „Von den überlassenen Liegenschaften möglicherweise ausgehende Umweltbelastungen kann ich nicht quantifizieren. Die ausländischen Streitkräfte erfüllen jedoch im Einklang mit ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung die Anforderungen, die das deutsche Umweltrecht stellt“ (Bt.-Drs. 11/7826). Diese Aussage ist nicht beschönigend sondern schlicht falsch. Zu dieser Thematik hat die MÖP e.V. zahlreiche Publikationen erarbeitet. Eine Stellungnahme zu der genannten Anfrage existiert (Achilles 1990b); eine Kritik der neuesten internen Bundeswehr-Umweltstudie ebenfalls (Achilles 1990c).

Rüstungsaltlasten

Der Begriff Rüstungsaltlasten wurde von den Initiativen gegen Rüstungsaltlasten, die sich im November 1987 auf Initiative der Altlastengruppe im BUND im Harz zu einem bundesweiten Dachverband zusammengeschlossen haben, geprägt. Erst 45 Jahre nach dem 2. Weltkrieg fangen die Behörden langsam an, sich diesen gefährlichen Kriegsfolgen zu widmen. In ganz Deutschland gibt es einige Hundert Rüstungsaltlasten. Dazu zählen ehemalige Sprengstoff-, Pulver-, Kampfstoff- und Nebelstofffabriken, Füllstellen und MUNA's ebenso wie Plätze in denen nach dem 2. Weltkrieg Munition gelagert, gesprengt oder vergraben wurde. Aktuelles Beispiel ist die vollständige Sperrung des Truppenübungsplatzes Munster-Nord (113 qkm!) Anfang des Jahres wegen Arsenbelastung durch alte Kampfstoffe.

Die USA streben an, die Sanierung ihrer NATO-Liegenschaften durch das NATO-Infrastrukturprogram zu finanzieren. Die Bundesregierung unterstützt diese Forderung mit dem Ziel, entsprechende Liegenschaften anderer Gaststreitkräfte miteinzubeziehen (Wimmer 1990). In verschiedenen US-Papieren werden mehrere Milliarden DM an Kosten genannt. Andrea Hoops, von den GRÜNEN in Niedersachsen, machte mit einer Anfrage an den Landtag (deren Beantwortung ungewöhnlich lang dauert und noch aussteht) darauf aufmerksam, wie wichtig schon heute die Erfassung der Umweltschäden auf den einzelnen Liegenschaften ist. In einem Papier heißt es dazu, daß gemäß Art. 41 NATO-Truppenstatut Zusatzabkommen ein vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Schaden ausgemacht werden muß. „Da vorhandene Schäden bei Rückgabe der Liegenschaften mit dem Restwert von Investitionen, die aus eigenen Mitteln des Entsendestaates finanziert worden sind, abgegolten werden (Art. 52 Abs. 1 ZA-NTS), sollte eine Schadensregulierung zu diesem Zeitpunkt einvernehmlich erzielt sein“. Für eine sinnvolle kommunale Planung ist die zügige Rückgabe der Flächen wichtig (Die GRÜNEN Niedersachsen 1990b). So hat die Landesregierung in Rheinland-Pfalz im Juli des Jahres bekanntgegeben, daß von 33 überprüften US-Standorten 19 als sanierungsbedürftig erscheinen. Dennoch hat sie, wie aus internen Papieren hervorgeht, keine Datengrundlage bisher erstellt. Andere Landesregierungen haben ebenfalls zu diesem Punkt keine oder nur wenige Informationen. Inzwischen fordert die rheinland-pfälzische Landesregierung, daß der Bund eine Kontaminations-Analyse mit anschließender Sanierung für alliierte Liegenschaften veranlassen muß (FAZ 21.9.90).

In den USA wird seit Jahren praktiziert, daß zu jeder zu schließenden militärischen Anlage ein »Draft Environmental Impact Statement Proposed Closure« durchgeführt wird. In einer Studie vom November 1989 wird z.B. der Umwelt-Schaden bei 15 Anlagen auf 661 Millionen US-Dollar geschätzt, die das Pentagon als Verursacher zu zahlen habe und die nicht in die Schließungskosten miteingerechnet werden dürfen. Einzelne Umweltstudien sollen erstellt werden (GAO 1989).

Umwandlung der Übungsplätze in Naturschutzgebiete

Für die Bundesrepublik ist es dringend geboten, daß der Rat für Umweltfragen der Bundesregierung ein Sondergutachten zur militär-ökologischen Gesamtbelastung der Bundesrepublik erstellt, was von den Ländern in den einzelnen Standorten ergänzt werden muß. Während Umweltschützer und einige Politiker fordern, daß die Übungsgebiete zu Naturschutzgebieten werden, begutachtet die Bundeswehr alle Manöverplätze in der ehemaligen DDR zwecks Übernahme. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang Weng, verlangte von der Bundeswehr Zurückhaltung und warnte davor, die einmalige Chance zu vergeben, großräumige Naturreservate zu schaffen (SZ 25.9.90). Die Teilnehmer des 10. internationalen Wattenmeertages in Bremen haben das Vordringen der Bundeswehr in Naturschutzgebiete (!) der DDR protestiert. Es wurden 34.000 Unterschriften gegen die Nutzung des Truppenübungsplatz in Colwitz durch die Bundeswehr gesammelt (FR 18.9.90). Mehrere Tausend Menschen demonstrierten bereits für die Entmilitarisierung des sowjetischen Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger-Heide (taz 25.9.90).

Vier Studien werden erarbeitet

Vier offizielle Studien wurden uns durch die Recherche bekannt:

  • Die Hessische Landestreuhandgesellschaft (HLT) arbeitet im Auftrag der Landesregierung an einer Studie über militärische Abhängigkeiten in strukturschwachen Gebieten.
  • Die Forschungsstelle für nationale und internationale Finanzordnung des Lorenz-vom Stein-Instituts für Verwaltungswissenschaften an der Universität Kiel hat eine umfangreiche Untersuchung über die Folgen des geplanten Truppenabbaus in Schleswig-Holstein vorgelegt.
  • Die Bundesregierung läßt mit einer (!) Studie die Auswirkungen von Veränderungen der Rüstungsplanung (!) erfassen. Im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft wird diese vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München unter dem Titel „Die Produktion von Wehrgütern in der Bundesrepublik Deutschland“ erstellt. „Spätestens nach Vorliegen der Ergebnisse der oben genannten Ifo-Studie wird die Frage eines zusätzlichen Forschungsbedarfs, insbesondere zu regionalwirtschaftlichen Aspekten, erneut geprüft“! Über Standort-Konversion gibt es also bei der Bundesregierung anscheinend keinen Forschungsbedarf (Anmerkung: Die Studie wurde vor ca. zwei Jahren in Auftrag gegeben und sollte lediglich ein »Branchenbild« der Rüstungsindustrie erstellen. Konversion, so war auf Anfrage in München zu erfahren, war und blieb ein Randkapitel. Die ersten Kapitel sind seit Mitte Oktober in Bonn. Ein Abschluß der Studie kann sich aber noch hinziehen.)
  • Das Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, Rheinland-Pfalz legte eine Kurzstudie mit dem Titel „Die wirtschaftliche Bedeutung des militärischen Sektors für die Städte und Kreise in Rheinland-Pfalz“ am 28.September 1990 vor.

Arbeitsgruppen

Auf Bundesebene besteht seit Februar 1990 eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums mit Ressorts aus dem Auswärtigem Amt, Bundesministerium der Finanzen, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bundesministerium für Forschung und Technologie sowie das Bundeskanzleramt.

Es gibt ebenfalls eine Arbeitsgruppe der Länderwirtschaftsministerkonferenz.

Der Unterausschuß für Gemeinschaftsaufgabe, an dessen Sitzungen neben Vertretern der Bundesministerien und der Wirtschaftsministerien der Länder auch Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit, der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, des Deutschen Städtetags, des Deutschen Landkreistags und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes teilnehmen, gibt „breite Informationsgrundlage für die Behandlung der mit Truppenreduzierungen und Abrüstungsmaßnahmen zusammenhängenden strukturpolitische Fragen“.

Die CSU-Landesregierung in Bayern hat eine interministerielle Arbeitsgruppe auf Beamtenebene unter Beteiligung des Staatskanzlei sowie der Staatsministerien des Innern, der Finanzen, für Wirtschaft und Verkehr, für Arbeit und Sozialordnung und für Landesentwicklung und Umweltfragen eingerichtet.

Die SPD-Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird aufgefordert, bis zum 1.12.90 ein Bericht zu erstellen.

Die SPD-GRÜNEN-Landesregierung in Niedersachsen konzipierte im April 1990 eine interministerielle Arbeitsgruppe „Auswirkungen von Strukturveränderungen von Streitkräften“, die im September eine Kabinettsvorlage erarbeitet hat, die allerdings zur Zeit noch einmal ergänzt werden muß.

Die SPD-Landesregierung in Schleswig-Holstein hat am 26.1.90 eine Interministerielle Arbeitsgruppe zur Begutachtung der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung eingesetzt. Im Mai gab es einen umfangreichen Zwischenbericht. Es wurde bereits ein Papier „Eckpunkte für ein Landesprogramm 'Perspektiven zur Um-

strukturierung bisheriger Militärstandorte'“ erstellt und im einzelnen mit der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Landesverbände, der Arbeitsverwaltung, den Gewerkschaften, Unternehmensverbänden, Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern erörtert.

In Hessen hat die CDU-Landesregierung eine interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt.

Der Ausschuß für Wirtschaft und Europäischer Binnenmarkt des Deutschen Städtetages in Köln hat ebenfalls eine Arbeitsgruppe eingerichtet.

In Rheinland-Pfalz werden verschiedene Arbeitsgruppen genannt.

Außer einzelnen kleinen Zwischenergebnissen wurde von Seiten dieser Gruppen nichts bekannt oder gar veröffentlicht. Papiere werden sehr diskret gehandhabt (s.o.).

Umfrage bei den Landtagsfraktionen

Die Arbeits-und Forschungsstelle »Militär, Ökologie und Planung« (MÖP) e.V. begleitet in Zusammenarbeit mit dem Institut für Regionale Konversion e.V., Büro Bonn, den Konversionsprozeß für das Gebiet der ehemaligen BRD. Neben der Auswertung von Zeitungs-und Archivdokumenten wurde eine Umfrage an alle Fraktionen in den Länderparlamenten und eine weitere Umfrage an alle kommunalen Spitzenverbände durchgeführt. Bei den Umfragen ging es darum zu erfassen, wie die Kommune, als letztendlich Betroffener, aber auch das jeweilige Bundesland in die gesamte Truppenabbaudiskussion miteinbezogen wird und wie die Parteien im Ganzen den Prozeß gestalten und ausrichten wollen. Folgende Fragen wurden an alle Parteien in allen Länderparlamenten gerichtet:

„Welche Aufgabe hat die Landespolitik im Zuge des Abbaus der Militärapparate in Europa?

Wie sehen Sie die Rolle der Kommunen innerhalb dieses Prozesses? Gibt es bereits Detailinformationen über den Umfang der betroffenen Standorte sowie einzelne, detailierte Konversionsprojekte?“

Bei den kommunalen Spitzenverbänden sollte geklärt werden, wo sie bereits in die Diskussion integriert wurden und ob sie in diesem Zusammenhang neue Arbeitsstrukturen geschaffen haben, und welche Aufgaben und Kompetenzen den Ländern und den Kommunen übernehmen sollen. Die Auswertung der Parteienumfrage ist mit diesem Beitrag abgeschlossen worden. Die Umfrage bei den Kommunalen Spitzenverbänden dauert noch an. Sie wird ebenfalls öffentlich ausgewertet.

Von den Parteien haben geantwortet:

Baden-Württemberg FDP; Bayern SPD/ Die GRÜNEN: Bremen CDU / SPD / Die GRÜNEN/FDP: Hessen CDU/Die GRÜNEN; Nordrhein-Westfalen SPD / FDP / CDU / DIE GRÜNEN; Niedersachsen Die GRÜNEN; Rheinland-Pfalz SPD / Die GRÜNEN; Schleswig-Holstein CDU; Saarland?

Nach Sichtung des Materials lassen sich einige Schlüsse ziehen. Militär ist weiterhin ein Tabuthema in Deutschland. Für viele Politiker schien es selbstverständlich, daß kaum Daten vorlagen. Immerhin ist die Datenerhebung für eine umfassende Diskussion in Gang gesetzt worden, wird aber den Ansprüchen und den Folgen des zu erwartenden Konversionsprozesses nicht gerecht. Außerdem dient der Hinweis auf Arbeitsgruppen und Datenerhebung als »Vertröstungsargument«. Die meisten Parteien haben noch keine Konzepte oder vertrauen auf althergebrachte »Wirtschafts-Weisheiten«, Militär mit Großindustrie zu ersetzen etc. Die Rolle der Betroffenen wird klein geschrieben. Die Kommunen und die Ökologie tauchen zum großen Teil am Rande und/oder als Schlagwort auf. Konzeptionelle Einbindungen oder das Aufzeigen von Zusammenhängen unterblieben entsprechend. Auch auf die Informationen der Friedensforschung wird selten zurückgegriffen. Kollegen von der HSFK machten z.B. wichtige Angaben für die Diskussion auf Landesebene: obwohl die US-Truppen in Hessen demnächst um ein Viertel geschmälert sind, werden lediglich 50 ha Fläche aufgegeben (FR v.27.8.90). (Dies führt zu einer ganz einfachen aber wichtigen Forderung: In Relation zum Truppenabbau muß der Übungsbetrieb abnehmen und entsprechende Militärfläche zivilisiert werden!) Auch bei den Konzepten der GRÜNEN gab es Hilfestellung aus der Friedensforschung.

Allein das Militär nutzt die Zeit, um sich selbst abzurüsten. Das dies nichts mit Konversion sondern mit Truppenbewegung zu tun hat, wurde schon erwähnt.

Im Folgenden wurden die wichtigsten Aussagen der uns zugeschickten Papiere zitiert und zusammengefasst.

Einzelne Aussagen

Detailierte Angaben über das »wie« des Vorgehens bei der Abrüstung gibt es wahrlich wenig. Die Meinung der Bundesregierung kann man einzelnen Antworten auf parlamentarische Anfragen im Bundestag entnehmen. Auf die gezielt gestellten Fragen ist bei der Beantwortung der Umfrage seitens der Parteien selten eingegangen worden. Deshalb mußte für einzelne Parteien auf Anfragen, Anträge und Redebeiträge zurückgegriffen werden. Es gilt das gesprochene (geschriebene) Wort.

Die Bundesregierung antwortete auf die Frage der GRÜNEN nach Konzepten für die Regionale Konversion:

„Die Erarbeitung von Programmen zur regionalen Konversion ist Aufgabe der Bundesländer und der Gemeinden. Der Bund kann – erforderlichenfalls – nur flankierend tätig werden“ (Wimmer 1990). Aus der Beantwortung einer Anfrage der SPD zur Rüstungs-und Standortkonversion (Bt. Drs. 11/7441 v. 20.6.90) geht hervor, daß die Bundesregierung ehemals militärische »wirtschaftliche Ressourcen« in Umweltschutzmaßnahmen fließen lassen möchte. Zwar könnte es durch Abrüstung regionale und sektorale Anpassungsschwierigkeiten geben, doch läßt sich mangels Daten noch nichts sagen. Die Sozialverträglichkeit bei der Umstrukturierung wird geprüft, wobei Abrüstung vor allem in Ballungsgebieten stattfinden soll. Für die Region: „Flankierende Maßnahmen können nicht global konzipiert werden. Sie müssen konkret bei den jeweiligen Regionen ansetzen. Da die betroffenen Regionen und der Anpassungsbedarf gegenwärtig noch nicht bekannt sind, gilt es rechtzeitig Vorbereitungen für eventuell notwendig werdende Maßnahmen zu treffen“. Und weiter: „Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß die notwendige Anpassung in manchen Regionen, oder bei einzelnen Unternehmen besonderer Anstrengungen bedarf. Hier sind alle gefordert, Unternehmen ebenso wie Arbeitnehmer und politisch Verantwortliche auf allen Ebenen“. Es werden mögliche, wirtschaftliche Hilfen genannt, aber immer wieder darauf verwiesen, daß es keine Daten gibt. „Der wirtschaftliche Verlust, der als Folge von Standortauflösung oder Verkleinerungen zu erwarten ist, kann jeweils nur im konkreten Einzelfall ermittelt werden.“

  • Die Bundesregierung will die Konversionsproblematik und die Vereinbarkeit von national flankierenden Maßnahmen mit EG-rechtlichen Vorschriften mit der Kommission der Europäischen Gemeinschaften erörtern.
  • Die Raumwirksamkeit der militärischen Anlagen ist zu berücksichtigen. Die »Gemeinschaftsaufgabe 'Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur' nach Artikel 91 a GG« soll herangezogen werden.
  • Finanzhilfen nach dem auf Artikel 104 a Abs. 4 GG beruhenden Strukturhilfegesetz sind ebenfalls denkbar. Für 10 Jahre sind lediglich 2,45 Mrd. DM veranschlagt.
  • Das Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes steht zur Verfügung.
  • Die Bundesregierung geht weiter davon aus, daß „ein Großteil“ der durch militärische Standorte geprägten Regionen zum „Fördergebiet der Gemeinschaftsaufgabe“ gehört. Verplanbar jährlich nur 1,5 Mrd DM. Es sei aber Sache der Länder beim Einsatz der Bundesmittel „zusammen mit den Gemeinden eine sachliche und regionale Schwerpunktsetzung vorzunehmen“. Gravierende Altlastenfälle auf alliierten Liegenschaften sind der Bundesregierung jedoch nicht bekannt und die Sanierung müßten die Alliierten selbst tragen!

Es besteht seit Februar 1990 eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundeswirtschaftsministerium mit Ressorts aus dem Auswärtigem Amt, Bundesministerium der Finanzen, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bundesministerium für Forschung und Technologie sowie das Bundeskanzleramt. Diese Arbeitsgruppe trägt (wahrscheinlich) den Namen »Konversion«. Erst am 24.4.1990 wurde beschlossen, Ländervertreter zur nächsten Sitzung einzuladen. Dies war jedoch bis zum 16.7.90 nicht der Fall gewesen, wie die schleswig-holsteinische SPD-Landesregierung bedauerte (Lt.-Drs Sch.-H. 12/941). BundestagsAbgeordneter Nolting (SPD) fragte nach, ob in der Arbeitsgruppe „neben den Ländern auch die Spitzenverbände der Kommunen teilnehmen sollten“, was am 18. Mai mit Beantwortung der Frage noch vonder Bundesregierung geprüft wurde (Vgl. Bt-Drs. 11/7229 Frage 26).

Zum Thema wissenschaftliche Begleitung des Abrüstungsprozeßes: Die Bundesregierung läßt mit einer Studie die Auswirkungen von Veränderungen der Rüstungsplanung erfassen. Sollten Flächen freiwerden, prüft der Bundesminister der Verteidigung, „ob für die Liegenschaften militärischer Anschlußbedarf der Bundeswehr oder anderer alliierter Streitkräfte besteht“. Erst dann gehen sie eventuell an den Eigentümer oder in das Bundesvermögen über.

Bayern

In Bayern fordern die Gewerkschaften „runde Tische auf allen Ebenen“. Die Landesregierung verweist in einer Antwort auf eine Interpellation der SPD »Truppenreduzierung« (Pl.-Pr. 11/130 Anl. 3 v. 16.5.90) ebenfalls auf das Instrumentarium der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur«. Falls das Gebiet noch gar nicht förderungswürdig ist, kann es zur Ausweisung als Sonderförderungsgebiet vorgeschlagen werden. Eine »regionalpolitische Flankierung« des Truppenabbaus sollte jedoch in allen Bundesländern nach gleichen Maßstäben verlaufen. Strukturpolitisch findet sie einen Abzug in Ballungsgebieten sinnvoller als in strukturschwachen Räumen. Auf Initiative Bayerns hat sich eine Arbeitsgruppe der Länderwirtschaftsministerkonferenz gebildet. Breite Informationsgrundlage für die Behandlung der mit Truppenreduzierungen und Abrüstungsmaßnahmen zusammenhängenden strukturpolitische Fragen erhält die Staatsregierung aus dem Unterausschuß für Gemeinschaftsaufgabe, an dessen Sitzungen neben Vertretern der Bundesministerien und der Wirtschaftsministerien der Länder auch Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit, der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, des Deutschen Städtetags, des Deutschen Landkreistags und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes teilnehmen. Weiterhin wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe auf Beamtenebene unter Beteiligung des Staatskanzlei sowie der Staatsministerien des Innern, der Finanzen, für Wirtschaft und Verkehr, für Arbeit und Sozialordnung und für Landesentwicklung und Umweltfragen eingerichtet. Es gäbe keinen Anlaß ein Gremium (Kommission) für Abrüstungsfolgen einzurichten. Kein Bundesland hat, so die Landesregierung, bisher soviel Information herausgegeben, wie in der Antwort auf die Interpellation. Selbstverständlich sei die Staatsregierung bereit, bei der Entwicklung von Konzepten (die noch ausstehen wegen fehlender Daten), „auch regionale Vorstellungen zu berücksichtigen“ (S.8). Verläßliche Daten für Konzeptionen sieht sie allerdings erst im Jahre 1991 gewährleistet (S.7). Regionale Vorstellungen können im Rahmen der bestehenden Verwaltungsstrukturen „ggf. unter Einschluß der regionalen Planungsverbände“ aufgenommen werden. „Sollten sich gegenwärtig noch nicht absehbare regionale Belastungen ergeben, ist die Staatsregierung bereit zu prüfen, ob hierfür (…) besondere administrative Vorkehrungen getroffen werden müssen“ (S.11).

„Systematische Untersuchungen von militärisch genutztem Gelände auf Altlasten sind nach Kenntnis des Staatministeriums des Innern nicht vorgenommen worden“ (S.11).

Die GRÜNEN glauben, daß man mit diesen Arbeitgruppen der Flächenkonversion, die jetzt im Mittelpunkt steht, nicht gerecht werde. Der neuen Entwicklung werden sie nach ihren Worten gerecht durch einen Antrag auf einen »ökologischen Land- und Bodennutzungsfond«. Echte Abrüstung unterscheidet sich von Pseudoabrüstung anhand der Freigabe der Liegenschaften für zivile Zwecke. Träger des Bodennutzungsfonds sind das Land, die Kommunen und die Verbände umweltschützender Belange, Arbeitsämter, die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern und die Gewerkschaften. Aufgabe ist die Vergabe der Liegenschaften für die ökologisch sinnvollste Nutzung. Dies können sowohl Naturschutzgebiete als auch umweltschonende Industrien sein. Es wird ein Sonderfond „Umbau militärisch belasteter in zivile Regionen“ gefordert, der dezentral verfügt und verwaltet werden kann. Ein landesweites Programm zur „eigenständigen Regionalentwicklung“ soll ebenfalls entwickelt werden. Der Bund soll Geld für wissenschaftliche Militärbelastungsstudien zur Verfügung stellen. Weiterhin soll es ein Sofortprogramm zur Finanzierung von Arbeit und subsidäre Beschäftigungsgarantien geben. Aus lokalen Initiativen müssen lokale Planungsgruppen erwachsen.

Die SPD bemängelt die Kriterienlosigkeit der Staatsregierung. Auch gäbe es keine Listen über Verkehrs- oder Umweltbelastung oder Wohnungssituation einzelner Standorte. Es wird gefragt, warum noch keine Gespräche mit Oberbürgermeistern, Landräten, Gewerkschafter etc, geführt wurden. Bei der Erarbeitung von Kriterien darf es nicht nur danach gehen, wo der Abbau am geringsten soziale, wirtschaftlich und politische Schwierigkeiten verursache. Kriterien der Belastung sind ebenfalls zu berücksichtigen. Die Kommissionen müßen durch Runde Tische auf allen Ebenen ergänzt werden, an denen Oberbürgermeister, Landräte, Gewerkschaften, Kammern „und was man sich sonst noch vorstellen kann“, zusammenkommen.

Hessen

In Hessen gab es bereits am 8.2.90 eine Debatte zur Konversion.Das Anliegen der CDU-Landesregierung ist es, vorrangig in Ballungsgebieten Truppen zu reduzieren. Ministerpräsident Wallmann hat den Staatsminister für Finanzen beauftragt, „sich in Verhandlungen mit dem Bund für eine Abgaberegelung einzusetzen, die den Interessen der Kommunen gerecht wird. (…) Die Landesregierung hat aber stets deutlich gemacht, daß freiwerdende Flächen in erster Linie für Kommunale Aufgaben, insbesondere für den Wohnungsbau, zur Verfügung stehen müssen“ (Wallmann 1990 S.2). In einem gemeinsamen Eilantrag mit der FDP „Entlastungen von Verteidigungsmaßnahmen auf der Grundlage der Erfolge der Abrüstungspolitik und der Revolution in Osteuropa“ v. 5.2.90 werden einige bemerkenswerte Forderungen aufgestellt. Auszüge: „6. Abschluß von Überlassungsvereinbarungen für alle den ausländischen Streitkräften überlassenen Liegenschaften.(…) 9. Benennung von Ländervertretern durch den Bund, denen im Rahmen der Vorschriften des Zusatzabkommens (Art.6 des Unterzeichnungsprotokolls zu Art. 53 Zusatzabkommen) Zutritt zu den Liegenschaften zu gewähren ist.(…) 11. Das Einräumen der Möglichkeit für die betroffenen Kommunen, möglichst frühzeitig an der Abstimmung und Vereinbarung von Programmen für die notwendigen Bauvorhaben ausländischer Truppen teilzuhaben (Art. 49 Abs. 1 und II ZA). (…) 14. Die Einführung des »Benehmens« mit dem betroffenen Land und der Gemeinde bei Landbeschaffungsmaßnahmen für ausländische Truppena“.

Allerdings handelt es sich anscheinend nur um Maßnahmen für eine demokratisierte Aufrüstung.

Die GRÜNEN bescheinigen in der Debatte zu diesem Antrag der Landesregierung „zögerliche Reduzierungsforderungen“ und halten z.B. den Abschluß von Überlassungsvereinbarungen für „historisch restlos überholt“.

Die FDP fragt im gleichen Zusammenhang, warum es bisher keine vertraglich fixierten Möglichkeiten gab, „daß Vertreter der Länder regelmäßig Zutritt zu den Liegenschaften haben, (…) daß Gemeinden möglichst frühzeit an der Abstimmung und Vereinbarung von Programmen für die notwendigen Bauvorhaben der ausländischen Truppen beteiligt werden?“

Die SPD nennt neun Baumaßnahmen, die sofort gestoppt werden sollten.

Weiteren Dokumenten und Anträgen der GRÜNEN kann man ein umfassendes Konversionskonzept entnehmen. In Ihrem Antrag »Sofortprogramm zur Entmilitarisierung und Rüstungskonversion« (Lt-Drs. 12/6582 v. 3.5.90) heißt es u.a.: „2. Die Landesregierung wird aufgefordert, im Bundesrat auf ein Gesetz zur zivilen Neunutzung militärischer Liegenschaften hinzuwirken. Militärische Liegenschaften sollen in einen Land- und Bodennutzungsfond eingebracht werden. Hierzu ist den Kommunen Vorkaufsrecht einzuräumen. 3. (…) Möglichkeiten einer sinnvollen Umnutzung sind in den betroffenen Kommunen und Regionen durch Einrichtung von Runden Tischen öffentlich zu erörtern. 4. Die Beschäftigungsprobleme der Entmilitarisierung sollen nicht durch Förderung von Arbeitsplätzen „um jeden Preis“, sondern vielmehr unter Berücksichtigung ökologischer un sozialer Aufgabenstellungen gelöst werden. Daher soll die Landesregierung unter finanzieller Beteiligung des Bundes ein landesweites Förderprogramm »Eigenständige Regionalentwicklung« auflegen (…). 5. Die Landesregierung setzt sich über den Bundesrat für die Schaffung eines blockübergreifenden europäischen Entwicklungsfond ein, dessen Aufgabe besonders der Umbau militärisch belasteter in zivil genutzte Regionen ist.(…) 7. Die Landesregierung wird aufgefordert, eine Kommission für Entmilitarisierung und Konversion unter Einbeziehung der Landkreise und Kommunen einzurichten, der die erforderlichen Schritte und Maßnahmen laufend berät.“ (Die GRÜNEN Hessen 1990b)

In dem Programm „Ein militärfreies Hessen in einem entmilitarisierten Deutschland“ (Die GRÜNEN Hessen 1990c) verlangen sie eine umfangreiche Bestandsaufnahme (landesweite militärische Belastungsanalyse). Es soll eine öffentliche Erörterung in ständigen Gesprächskreisen (runden Tischen) „auf Ebene der Kommunen und Kreise erfolgen“. Eine Stiftung auf Landesebene soll den geforderten Bodennutzungsfond verwalten. Träger wären Land, Kommune, Kreise, Umweltverbände etc. „Die betroffenen Kommunen sollen Vorschläge zur Nutzung machen und bei Nutzungsentscheidungen nicht überstimmt werden können“. Weiterhin soll ein Sofortprogramm Regionale Konversion zur Neuorientierung der Wirtschaftsstrukturen in den betroffenen Gebieten eingerichtet werden. „Zur Abwicklung des Programms und zur Beratung von Kommunen, Landkreisen, Betrieben und Arbeitsämtern ist auf Landesebene ein Konversionsbeirat einzurichten, in dem betroffene Unternehmen, Gewerkschaften, Wissenschaftler, Verbände und Initiativen vertreten sind. Konversion ist als Teil einer alternativen Regionalentwicklung zu sehen. (…)“

Niedersachsen

In Niedersachsen haben Die GRÜNEN ein umfangreiches Konversionskonzept erstellt. Eine Reduzierung in Ballungsgebieten, wie sie sich z.B. der niedersächsische Innenminister Glogowski (SPD) vorstellt, sei „abrüstungstechnisch nicht möglich“. Die GRÜNEN verweisen in ihrem Papier (Die GRÜNEN Niedersachsen 1990b) darauf, daß die Übergabe der Liegenschaften ein äußert komplexer Vorgang ist. Deswegen müssten schon heute notwendige Sanierungsmaßnahmen geprüft werden. Dabei gilt es gemäß Art. 41 NATO-Truppenstatut Zusatzabkommen einen vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Schaden auszumachen. „Da vorhandene Schäden bei Rückgabe der Liegenschaften mit dem Restwert von Investitionen, die aus eigenen Mitteln des Entsendestaates finanziert worden sind, abgegolten werden (Art. 52 Abs. 1 ZANTS), sollte eine Schadensregulierung zu diesem Zeitpunkt einvernehmlich erzielt sein“. Für eine Planung ist die zügige Rückgabe der Flächen wichtig. „Eine Änderung der Verwaltungsvorschriften zur Bundeshaushaltsordnung, wonach der Bund in seinem Besitz befindliche Flächen nur zum vollen Verkehrswert mit einem maximalen Abschlag von 15% veräußern darf“ ist ebenfalls erforderlich, um sie den Kommunen als „Ausgleich für die jahrelang durch die militärische Nutzung getragenen Belastungen“ kostengünstig übergeben zu können. Der Finanzausgleich gemäß Art. 114 Grundgesetz an die betroffenen Kommunen muß mindestens drei Jahre weitergezahlt werden. Mit der Umstrukturierung des NATO-Infrastrukturprogramms und anderen Maßnahmen soll ein Sonderprogramm »Abrüstungsfolgen« im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« eingerichtet werden, welches aufgrund der in dem Papier gemachten Rechnungen auf Landesebene 900 Millionen und auf Bundesebene insgesamt 4,5 Milliarden DM betragen muß.

Die FDP fordert in Ihrem Antrag „Abbau der militärischen Belastung in Niedersachsen“ (Lt-Drs. 12/11 v.13.6.90) ein Mitspracherecht der Länder beim Truppenabzug. Auch sollen die betroffenen Gemeinden möglichst frühzeitig an der geplanten Schließung von Militärstandorten beteiligt werden. Sie sollen auch möglichst frühzeitig bei der Aufstellung von Bauprogrammen beteiligt werden. Eine weitere Gesetzesänderung soll beim Landbeschaffungsgesetz ergehen: „Die Landbeschaffungsmaßnahmen der ausländischen Truppe sind von der Herstellung des 'Benehmens' mit dem Land bzw. mit der Gemeinde abhängig zu machen. Von der Landesregierung erwarten sie ein Konzept“ zur Verwendung bisher militärisch genutzter Flächen für Zwecke des Umwelt- und Naturschutzes, des Fremdenverkehrs oder der Gewerbeansiedlung. „Insbesondere ist verstärkt auf die Rückgabe von Liegenschaften bei fehlendem Bedarf oder einseitig überwiegenden deutschem Interesse zu dringen (Art. 48 Nato-Truppenstatut-Zusatzabkommen Abs. 5).“. Im Plenum ermahnte der FDP-Abgeordnete Rehkopf, „die Veränderungen planerisch und demokratisch zu begleiten. Dies erfordert ein Mitspracherecht der Länder und der Gemeinden. Dies ist sowohl aus ökologischen und raumordnerischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen geboten“.

Die SPD-GRÜNEN-Landesregierung konzipierte im April 1990 eine interministerielle Arbeitsgruppe »Auswirkungen von Strukturveränderungen von Streitkräften« die im September eine Kabinettsvorlage erarbeitet hat, die allerdings zur Zeit noch einmal ergänzt werden muß. In dem Koalitionsregierungspapier wurde dieser Arbeitsgruppe ein detailierter Arbeitsauftrag gegeben, der weit über eine normale Bestandsaufnahme hinaus geht. Auch wurde unter einem eigenen Punkt die zivile Rückführung Alliierter Liegenschaften geregelt: „Die Landesregierung wird die Bundesregierung auffordern, bei den Alliierten auf eine Freigabe militärisch genutzter Liegenschaften zu drängen und zwar auf Grundlage

der laufenden Überprüfung (Art. 48 Abs. 5 lit a.S. 1 ZA-NTS)

  • einer Überprüfung auf Verlangen der deutschen Behörden (Art. 48 Abs. 5 lit. a. S.2 ZA-NTS)
  • eines eindeutig überwiegenden deutschen Interesses an der Nutzung (Art. 48 Abs. 5 lit. b. ZA-NTS). Die Voraussetzung für eine Auswahl nach (lit.) c) erfolgt auf Grundlage der Ergebnisse der Interministeriellen Arbeitsgruppe“.

„Das Land erwartet vom Bund auch finanzielle Unterstützung bei der Standortkonversion. Soweit notwendig wird durch Weiterzahlung der Schlüsselzuweisungen für eine näher zu bestimmende Übergangszeit und durch gezielte Strukturhilfen ein eigener Beitrag geleistet“.

Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen schrieb die SPD in der Antwort auf die Umfrage: „Land und Gemeinden müssen jetzt, in einem sehr frühen Stadium des Entscheidungsprozesses, deutlich machen, wie die Truppenreduzierung aus ihrer Sicht sinnvoll ablaufen sollte. Möglichst frühzeitig müssen das Land, die Gemeinden und nicht zuletzt auch die betroffenen Arbeitnehmer informiert werden, damit sie sich rechtzeitig auf die neue Situation einstellen können. Informationen über den Umfang der betroffenen Standorte, oder gar über einzelne Konversionsprojekte liegen noch nicht vor“ (SPD-NRW 24.9.1990). In einem Antrag „Folgen und Chancen des Truppenabbaus in NRW“ (Lt-Drs. 11/165) v. 14.8.90 heißt es u.a., daß die durch den Truppenumbau freiwerdenden Kapazitäten und Ressourcen „zu einem ökologischen und ökonomischen Umbau der betroffenen Regionen genutzt werden (können). Dazu müssen die bisher militärisch genutzten Liegenschaften in eine zivile und umweltverträgliche Nutzung unter Beteiligung der Verantwortlichen in den Regionen überführt werden“. Die SPD-Landesregierung wird aufgefordert „Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Stellen in den betroffenen Regionen zu ergreifen (…).“ Weiterhin wird die Landesregierung gebeten darauf hinzuwirken, daß

  • unbeschadet einer notwendigen Änderung des NATO-Truppenstatuts die deutschen Behörden und kommunalen Instanzen an Truppenstandorten rechtzeitig über Veränderungen informiert und in den Entscheidungsprozeß miteinbezogen werden;
  • der Bund ehemals militärisch genutzte Gelände und die dazu errichteten Wohnanlagen den Kommunen zu angemessenen Bedingungen zur Verfügugn stellt.“

Die SPD-Landesregierung hat eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird aufgefordert, bis zum 1.12.90 ein Bericht zu erstellen. In der Debatte zum Antrag am 23.8.90 sagte der Abgeordnete Homberg (SPD): „Wir müssen die Abrüstung sozial, ökologisch, arbeitsmarktpolitisch, strukturpolitisch und städtebaulich begleiten“.

Die FDP will, daß die Landesregierung über „die Folgewirkungen des Truppenabbaus berichten und auch ein Konzept über landespolitische Maßnahmen vorlegen soll“. Bei den freiwerdenden Flächen sieht sie neuen Wohnraum für Asylbewerber und Naturschutzgebiete als eine der Alternativen.

Die CDU fordert in ihrem Antrag „Strukturhilfeprogarmm für die künftige Nutzung bisheriger Militärstandorte“ (Lt-Drs. 11/221 v. 22.8.90) für einen „ausreichenden zeitlichen Vorlauf“ eine enge Abstimmung zwischen Landes- und Bundesregierung mit den Streitkträften. Es soll eine gemeinsame Arbeitsgruppe »Truppenabbau« mit Vertretern der Länder, des Bundes und der alliierten Streitkräfte gebildet werden. Im Rahmen eines Nutzungsprogrammes sollen „alle derzeit militärisch genutzten Grundstücke im Hinblick auf künftige Folgenutzungen“ erfasst und überprüft werden. „Hierbei sind Truppenübungsplätze vorrangig einer ökologischen Nutzung zuzuführen“.

Die Landesregierung wird aufgefordert, die landeseigenen Investitions- und Förderprogramme dahingehend umzuändern, daß vom Truppenabbau betroffene Kommunen vorrangig bedacht werden“.

Die GRÜNEN fordern in ihrem umfassenden Antrag v. 22.8.90 u.a. „die Regionalförderung (…) auch auf Entmilitarisierungs- und Konversionsaufgaben auszurichten“ sowie auf Landesebene „ein Institut für Friedensforschung, Entmilitarisierung und Rüstungskonversion“ einzurichten. Freiwerdendes Gelände soll zivilisiert bzw. der Natur zurückgegeben werden. „Der Bund soll diese Gelände den Ländern (…) zu finanziell tragbaren Konditionen übereignen; hierzu wird ein ökologischer Land- und Bodennutzungsfond eingerichtet, dessen Träger jeweils die Landesregierungen, Kommunen und Umweltschutzverbände sind“ (Die GRÜNEN Nordrhein-Westfalen 1990).

Rheinland-Pfalz

Rheinland-Pfalz ist das Konversionsland. Hier begann die Diskussion um den Abzug der US-Truppen und hier wurden bereits weit vor dieser Diskussion einzelne Konzepte der Reginalen Konversion erarbeitet.

Die GRÜNEN reichten am 26.4.90 einen umfassenden Antrag mit dem Titel „Entmilitarisierung und Konversion in Rheinland-Pfalz“ (Lt-Drs. 11/4014) in den Landtag ein, der für alle GRÜNEN Anträge bundesweit als Argumentationshilfe bzw. als Vorlage für Anträge in anderen Landesparlamenten genutzt wird. „I.2.(…) Die durch eine Entmilitarisierung freiwerdenden Kapazitäten und Ressourcen könnten zu einem ökologischen und demokratischen Umbau der Regionen in Rheinland-Pfalz genutzt werden. 3. Der Landtag Rheinland-Pfalz stellt fest, daß eine solche zivile und ökologische Umgestaltung nur dann möglich ist, wenn die bisher militärisch genutzten Liegenschaften in eine zivile und umweltverträgliche Nutzung überführt werden (…). (…) II.5. Die Landesregierung wird aufgefordert, einen Gesetzentwurf im Bundesrat einzubringen, der die Überführung von Liegenschaften, die bisher zum Zwecke der Verteidigung genutzt wurden, in die zivile Nutzung regelt.

In diesem 'Gesetz zur zivilen Neunutzung' sollen die Verfügungsberechtigung über die bislang militärisch genutzten Liegenschaften, ihre Sanierung und die spezifischen ökologischen Bedingungen für eine zivile Neunutzung geregelt werden. 6. Damit sichergestellt wird, daß die 'Pfründe des Friedens', die bei einer Freigabe militärischer Nutzung entstehen, nicht verschleudert werden, sollen die Liegenschaften in eine 'Stiftung Ökologische Land- und Bodennutzung Rheinland-Pfalz' eingebracht werden. (…) Träger dieser Stiftung sind das Land, die Kommunen, die Verbände umweltschützender Belange und die Gewerkschaften. Aufgabe dieser Stiftung (ist) die Vergabe und die Sicherstellung der ökologisch sinnvollsten Nutzung der Liegenschaften. 7. Unter finanzieller Beteiligung des Bundes legt die Landesregierung ein landesweites Förderungsprogramm `Eigenständige Regionalentwicklung'auf. (…) (Es) soll schwerpunktmäßig in den militärisch belasteten Regionen in Rheinland-Pfalz zum Zuge kommen. (…) 11. Die Landesregierung setzt sich für die Schaffung eines blockübergreifenden Europäischen Entwicklungsfond ein, dessen Aufgabe speziell der Umbau militärisch belasteter in zivile Regionen ist. (…) 13. Die Landesregierung setzt sich im Bundesrat dafür ein, daß die Bundesregierung einen Finanztopf einrichtet, aus dem die von der Militarisierung betroffenen Gemeinden und Kreise wissenschaftliche Militär-Belastungs-Studien und kleinräumige Entwicklungsgutachten in Auftrag geben und finanzieren können. 14. Die Landesregierung wird aufgefordert,

  • ein Amt für Entmilitarisierung und Konversion zur Abwicklung der erforderlichen Schritte und Maßnahmen einzurichten und
  • darüber hinaus den Aufbau eines unabhängigen rheinland-pfälzischen Friedensforschungs-Institutes finanziell zu stützen.“

Die SPD legte am 25.1.90 ein Konzept „Umbau in militärisch geprägten Regionen“ (SPD-Rheinland-Pfalz 1990a) vor, welches am 14.3.1990 in einer Anhörung im Landtag erörtert wurde (Vgl. SPD-Rheinland-Pfalz 1990b). Der Bund wird in dem Konzept aufgefordert, die Verantwortung zu übernehmen und in den nächsten 10 Jahren jährlich min. 500 Mio DM bereitzustellen. Ein Flughafen muß geräumt werden und als Fracht- und Charterflughafen genutzt werden. „Dessen Attraktivität steigt, wenn sein Standort mit dem Bau der geplanten Schnellbahntrasse verbunden wird“. Weiter soll eine große Industrieansiedlung im Raum Trier/Eifel mit Siemens, Daimler u.a. vereinbahrt werden. Es soll eine „Abrüstungsagentur“ geschaffen werden und die Verkehrsinfrastruktur ausgebaut werden. Bundeswehreinrichtungen seien aus den Städten (z.B. entlang des Rheins) herauszunehmen. „Damit soll die Bundeswehr aufs Land gehen (! O.A.) und Wohnungen und Grundstücke in den Ballungsgebieten räumen. Damit wird zusätzliche Kaufkraft aufs Land gebracht(…)“.  Es wird eine landesweite Konferenz mit Kommunalpolitikern und Vertretern der Wirtschaft und der Arbeitnehmer der Städte und Gemeinden mit den militärischen Einrichtungen in Rheinland-Pfalz gefordert. Die Datenlage soll verbessert werden und die Konzepte sollen vorort vertieft werden, um „örtlichen Sachverstand zu erschließen“.

Die CDU-Landesregierung erarbeitete geheimgehaltene Papiere, aus denen hervorgeht, wie wenig Sachkenntnis über Art und Umfang der militärischen Nutzung des Landes bekannt ist. Sie entwickelte und veröffentlichte ein „18 Punkte Sofortprogramm zur wirtschaftlichen Entwicklung bisheriger Militärstandorte“ (Landesregierung Rheinland-Pfalz 1990). Darin fordert sie ein Mitspracherecht bei der Festlegung der zu schließenden Standorte. Sie will Standorte auf Umnutzung überprüfen. Sie fordert ein „Militärstandorte Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe 'Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur'(GA)“ mit jährlichen Mitteln von 50 Mio DM über einen Fünfjahres-Zeitraum. Weiterhin soll es ein Regionales Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur wirtschaftlichen Umstrukturierung der militärisch besonders belasteten Gebiete mit einem Volumen von ebenfalls 50 Mio. DM geben. Die Gelände sollen den Kommunen altlastenfrei übergeben werden. Industrie- und Gewerbeparks sollen angesiedelt werden, die Verkehrsinfrastruktur ausgebaut und Flughäfen zivil genutzt werden. „Die Planungshoheit von Gemeinden bei der Umwandlung von bisher militärisch genutzten Liegenschaften ist in besonderer Weise gefordert. Die Landesregierung wird die betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften bei der Aufstellung kommunaler Entwicklungskonzepte unterstützen“. Es soll weiterhin eine Beratungs- und Betreuungsgruppe vor Ort eingesetzt werden, „die die Kommunen über Möglichkeiten zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze im Rahmen des Abbaus militärischer Einrichtungen berät und in der späteren Phase betreut“.

Der CDU-Landesvorsitzende Wilhelm forderte am 26.9.90, „freiwerdende militärische Liegenschaften (…) den Kommunen kosten- und altlastenfrei zurückzugeben“.

Schleswig-Holstein

In Schleswig-Holstein antwortete die CDU, daß auch die jeweilige Kommune im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbstverständlich Verantwortung dafür trägt, die Folgen der Truppenreduzierung möglichst sozialverträglich und wachstumsfördernd zu gestalten (CDU-Sch-H. 1990).

Die Landesregierung hat am 26.1.90 eine Interministerielle Arbeitsgruppe zur Begutachtung der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung eingesetzt. Im Mai gab es einen umfangreichen Zwischenbericht. Die Landesregierung hat beschlossen „Eckpunkte für ein Landesprogramm 'Perspektiven zur Umstrukturierung bisheriger Militärstandorte' demnächst im einzelnen mit der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Landesverbände, der Arbeitsverwaltung, den Gewerkschaften, Unternehmensverbänden, Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern im Lande zu erörtern“, wie sie auf Anfrage der CDU bekanntgab. (Lt-Drs. 12/941).

Literatur

Achilles, Olaf: Militärische Belastungsanalyse und Regionale Konversion; köf-Reihe Bd. 2; Verlagshaus Riedmühle; Alheim 1990
ders./MÖP e.V.: Stellungnahme zu der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD „Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorhaben im Frieden“ (Bt-Drs. 11/7826 v. 10.9.90) v. 11.10.90 (1990b)
ders./MÖP e.V.: „Verschwiegene Umweltbilanz der Bundeswehr“; in: Ökologische Briefe 42/90
Bayrische Staatsregierung: Antwort auf die Interpellation der Abg. … und der Fraktion der SPD »Truppenreduzierung« (Lt-Drs. 15 659) in: Plenar-Protokoll 11/130 Anlage 3 v. 16.5.90)
Bundesregierung: Antwort auf die Große Anfrage der SPD „Rüstungs- und Standortkonversion – Maßnahmen zum Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung in strukturschwachen Regionen“ (Bt-Drs. 11/7441 v. 20.6.90)
dies.: Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD „Zivilisationsverträglichkeit von Verteidigungsvorhaben im Frieden“ (Bt-Drs. 11/7826 v. 10.9.90)
CDU-NRW: „Strukturhilfeprogarmm für die künftige Nutzung bisheriger Militärstandorte“ (Lt-Drs. 11/221 v. 22.8.90)
CDU-Schleswig-Holstein: Brief an die MÖP e.V. v. 25.9.90
Die GRÜNEN-Hessen: Brief an die MÖP e.V. vom 16.10.90 (Die GRÜNEN Hessen 1990a)
dies.: „Sofortprogramm zur Entmilitarisierung und Rüstungskonversion“ (Lt-Drs. 12/6582 v. 3.5.90) (Die GRÜNEN Hessen 1990b)
dies.: „Ein militärfreies Hessen in einem entmilitarisierten Deutschland“; Landesdelegiertenversammlung v. 26.8.90 (Die GRÜNEN Hessen 1990c)
Die GRÜNEN Niedersachsen: „Ohne Rüstung ins nächste Jahrtausend“,; Hannover 10.4.90 (1990a)
dies.: „Sozialverträgliche Gestaltung der Abrüstung in Niedersachsen“; Hannover 20.8.90 (1990b)
Die GRÜNEN-Nordrhein-Westfalen: „Änderungsantrag der Fraktion die GRÜNEN zum Antrag der Fraktion der SPD Folgen und Chancen des Truppenabbaus in NRW“ 11/222 v. 22.8.90
Die GRÜNEN Rheinland-Pfalz: „Entmilitarisierung und Konversion in Rheinland-Pfalz“ (Lt-Drs. 11/4014 v. 26.4.90)
FDP-Niedersachsen: „Abbau der militärischen Belastung in Niedersachsen“ (Lt-Drs. 12/11 v.13.6.90)
Frankfurter Rundschau: „Potsdam lehnt Exerzierplätze ab“ 13.10.90
dies.: „Friedensforscher: Army müßte mehr Fläche räumen“ 27.8.90
dies.:„Gilftgas-Depot zivil nutzbar“ v. 18.10.90
GAO: „Military Bases – An Analysis of the Commission's Realignment and Closure Recommendations“
Landesregierung von Baden-Württemberg : Stellungnahme auf den Antrag der FDP: „Strukturpolitische Auswirkungen der geplanten Truppenreduzierung verbündeter Streitkräfte“ (Lt-Drs. 10/2971)
Landesregierung Rheinland-Pfalz: „18 Punkte Sofortprogarmm zur wirtschaftlichen Entwicklung bisheriger Militärstandorte“; (Mai 1990)
dies./Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, Rheinland-Pfalz: „Die wirtschaftliche Bedeutung des militärischen Sektors für die Städte und Kreise in Rheinland-Pfalz“; Mainz 28.September 1990
SPD-NRW: „Folgen und Chancen des Truppenabbaus in NRW“ (Lt-Drs. 11/165) v. 14.8.90
SPD-Rheinland-Pfalz: „Umbau in militärisch geprägten Regionen“ v. 25.1.90 (SPD-Rheinland-Pfalz 1990a)
dies.: „Umbau militärisch geprägter Regionen – Anhörung der SPD-Landtagsfraktion am 14.3.90 im Plenarsaal des Landtages Rheinland-Pfalz. Behandlung des Ideenkonzepts der SPD-Landtagsfraktion vom Januar 1990 (SPD-Rheinland-Pfalz 1990b).
Wimmer, W., PStS d. BMVg.: Brief an Gertrud Schilling MdB v. 13.9.90

zum Anfang | Abrüstung und Konversion: Die Vorstellungen von Bundesregierung und SPD

von Kristina Steenbock

Die Neuvermessung der militärischen Kräftebalance in Mitteleuropa im Zuge der deutschen Vereinigung wird für den deutschen Raum bereits jetzt absehbar über die VKSE-Ergebnisse hinausgehende Truppenreduzierungen bei den alliierten Streitkräften mit sich bringen. Zumindest die Ergebnisse der Wiener Verhandlungen sind seit 1 1/2 Jahren abzusehen gewesen. Haben sich die beiden großen Blöcke, Bundesregierung (CDU/CSU, FDP) und SPD, auf diese neue Situation politisch-programmatisch eingestellt? Es gibt bereits in nahezu allen Bundesländern Anfragen von Kommunen und Gemeinden, welche Kaserne, welcher Standort geschlossen wird, welche Liegenschaft in Zukunft frei wird etc.. Und es gibt, natürlich vor allem in den besonders stark von der militärischen Präsenz alliierter Truppen abhängigen Regionen, wie z. B. Rheinland-Pfalz, wo die US-Armee der drittgrößte Arbeitgeber ist, erschrockenes Erwachen der Verantwortlichen in Kommunen und Land.

Der Abzug der alliierten Truppen hinterläßt Verwüstungen: Liegenschaften mit vergiftetem Boden und zerstörter Natur, Arbeitslose, ehemalige Zivilangestellte der Armee, in zum Teil hoffnungslos strukturschwachen Gebieten, gescheiterte Existenzen kleiner und mittlerer Betriebe, die der Armee als Zulieferer, Gastwirte usw. gedient haben. Nach Auskunft der Bundesregierung betrug in den Jahren 1987-89 der Auftragswert der Beschaffung der Stationierungsstreitkräfte in deutschen Unternehmen 8,246 Milliarden DM. – Eine Größenordnung, die noch nicht den Kaufkraftverlust durch die abziehenden Soldaten und ihre Familienangehörigen beschreibt12.

Probleme der regionalen Konversion dürften mithin in unmittelbar nächster Zeit vorrangige Aufgabenstellung von Verantwortlichen in Bund, Ländern, Gemeinden und den politischen Parteien sein. Struktur- und regionale Förderprogramme und neue Überlegungen für ihre Finanzierung sind notwendig, um die Folgen militärischer Präsenz in der Bundesrepublik und der ehem. DDR sozial, ökonomisch und ökologisch aufzufangen.

Probleme der industriellen Konversion, die Umwandlung industrieller Potentiale und Ressourcen inklusive der damit verbundenen Arbeitsplätze in zivile Nutzung, werden dem nachgeordnet und zu einem großen Teil in die regionale Konversion eingeordnet sein müssen. Die Rüstungsindustrie, in der Vergangenheit Schwerpunkt makro-ökonomischer Überlegungen einerseits und gewerkschaftlicher Beschäftigungsinitiativen andererseits, beginnt, trotz konservativer Grundstrukturen in den Führungsetagen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nachdenken über Produktionszweige jenseits der rüstungsrelevanten Güter gibt es in diesem Bereich allenthalben.13

Bei den beiden großen Parteien noch bei der FDP sind allerdings weder Umfang noch Intensität der Beschäftigung mit

Rüstungskonversion der Lage angepaßt. Man könnte den Eindruck gewinnen, niemand glaube so recht an die neuen Zeiten.

Die Bundesregierung

Am 2. August 1990 ließ Außenminister Genscher eine mehrseitige Pressemitteilung veröffentlichen, die den Titel hatte „Rüstungskonversion als Beitrag zur Schaffung friedensstabilisierender Strukturen“. Seine Staatssekretärin Adam-Schwaetzer hielt knapp zwei Wochen später auf der UNO-Konferenz zur Rüstungskonversion in Moskau eine entsprechende Rede14.

Für wie gehaltvoll man diese Initiativen im einzelnen auch beurteilt, interessant ist, daß sich hier das erste Mal Regierungsvertreter, noch dazu ranghohe, bemüßigt fühlen, das Thema Rüstungskonversion aufzugreifen. Bisher gab es seitens der Bundesregierung nur das Reagieren auf entsprechende Anfragen oder Anträge der SPD oder der GRÜNEN. Ausschlaggebend für beide Äußerungen wird aber wohl eher die Situation in der UdSSR als die zu erwartenden Probleme in der Bundesrepublik Deutschland gewesen sein. Offenbar in großer Sorge darüber, daß das ambitionierte Konversionsprogramm Gorbatschows, immerhin eines der größten Wirtschaftsprogramme der Perestroika, an den Hindernissen in der Sowjetunion scheitert, bemüht sich Genscher, die bundesdeutsche Wirtschaft zur Beteiligung am sowjetischen Konversionsprogramm zu motivieren. „Konversionskooperation mit der Sowjetunion ist ein wirtschaftliches, politisches und sicherheitspolitisches Gebot. Hier sind unternehmerische und staatliche Initiativen und Kreativität gefordert“. Genscher schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, um der Sowjetunion bei ihren Konversions-Anstrengungen unter die Arme zu greifen. So z. B. die Gründung eines deutsch-sowjetischen Instituts zur Umschulung von Militärpersonal, „in das die großen Erfahrungen der Bundeswehr eingebracht werden“(??); Kredite für den Wohnungsbau in der Sowjetunion für aus Deutschland heimkehrende Armeeangehörige, ein europäisches Konversionsinstitut und andere Einrichtungen europäischer Informationsvermittlung zum Thema Konversion.

Presseerklärung und Rede enthalten neben den erfreulichen (und vom Außenminister gewohnten) Aussagen über Möglichkeiten für die stabile Entfaltung kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa und Distanzierung von Waffenexporten in Dritte-Welt Länder, leider vor allem potemkinsche Dörfer: Sinnvolle Vorhaben (z.B. eine europäische »Studiengruppe Konversionsforschung«, ein europäisches Konversionsforschungsinstitut, eine Kooperationsbörse für Konversionsunternehmen) bleiben vage im Konjunktiv und machen mehr den Eindruck, Ergebnis eines schnellen brainstormings im Außenministerium zu sein, als durchdachte Vorschläge; eine „deutsch-sowjetische Expertengruppe, die sich mit Fragen der Konversion von Rüstungsgütern von Militärtechnik und Beschäftigung“ befassen soll, entpuppt sich bei Nachfragen als die Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion; die aufgeführte Ausstellung »Konversion '90« hat nicht die deutschen sondern die sowjetischen Konversionsbemühungen dargestellt usw.

Laut Aussage des Bundesministeriums der Verteidigung15 hat die Bundesregierung ein einziges Forschungsvorhaben, das sich mit Konversionsfragen der wehrtechnischen Industrie beschäftigt, in Auftrag gegeben.

Genscher führt eine weitere Pilotstudie an, „in der konkrete Felder vertiefter deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit in der Betriebskonversion ausgelotet werden sollen“. Skepsis ist allerdings angebracht, ob es diese Studie wirklich gibt oder vielleicht auch hier die Arbeitsgruppe der SPD »beliehen« wurde. Es ist nie mehr von ihr die Rede.

Bei freundlicher Betrachtung könnte man meinen, daß hier offenbar die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Richtiger ist wohl eher: Es gibt zur Zeit keine eigenen Vorstellungen der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien zu Konversionsfragen.

Eine vom Bundesforschungsminister Riesenhuber angekündigte und von der UNO von allen beteiligten Ländern angeforderte Untersuchung zum Thema nationale Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland mit Rüstungskonversion für die UNO-Konferenz in Moskau lag dort nicht vor (auch dieserart Peinlichkeiten erklären wohl mit das plötzlichen Auftauchen von Staatssekretärin Adam-Schwaetzer in Moskau). Darüberhinaus bestätigen die Antworten der Bundesregierung auf verschiedene Anfragen der SPD und Grüne, daß es keine wesentlichen eigenen Anstrengungen gibt:

a. Die Bundesregierung verweist z.B. auf die Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung, die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, universitäre Forschungen usw., um zu folgern, es gebe angesichts „breitgefächerten und international-verzahnten wissenschaftlichen Aktivitäten in der Bundesrepublik“ „gegenwärtig keinen thematisch definierten Bedarf für zusätzliche staatliche Forschungsförderungsmaßnahmen“. „Die Gründung eines Instituts oder einer Stiftung für Konversionsforschung wird nicht für zweckmäßig gehalten.“ 16

b. Eine im Februar 1990 von der Bundesregierung eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesministeriums für Wirtschaft, die „rechtzeitig Vorbereitungen für eventuell notwendig werdende Maßnahmen“ zur Unterstützung der Regionen treffen soll 17, die von Truppenreduzierungen und Abzug ausländischer Streitkräfte betroffen sind, hat offenbar noch nie getagt. Niemand hat bisher von Planungen, Diskussionen – geschweige denn vom Eingreifen dieser Arbeitsgruppe gehört.

c. Stereotype in verschiedenen Antworten auf Anfragen der Opposition: Wenn es soweit ist, werden wir uns mit den anstehenden Fragen befassen. Staatssekretär Riedl vom Bundesministerium für Wirtschaft: „Programme der Bundesregierung zur Förderung der Konversion gibt es nicht“ 18. Bezüglich der Aufgaben des Bundes bei einer Umstellung von Rüstungsproduktion in zivile Bereiche zieht sich die Bundesregierung auf die Aussage zurück, dies sei Aufgabe der Unternehmen selbst19. In einem Stadium größerer Konkretion von Konversionsmaßnahmen würden hierbei sicherlich Differenzierungen zu erwarten sein.

Was bleibt seitens der Bundesregierung, CDU/CSU und FDP in Sachen Konversion? Neben ersten schüchternen verbalen Gehversuchen Genschers in diesem Bereich (auf dem FDP-Parteitag forderte er die „Konversion von Rüstungsindustrien in Friedenswirtschaften“, (FAZ vom 1. Oktober 1990) so gut wie nichts. Bis heute gibt es vom Bundesverteidigungsministerium keine Angaben darüber, wo Bundeswehrstandorte im Zuge der Reduzierung geschlossen werden. Entscheidungen mit abrüstender Wirkung werden von der Bundesregierung offenbar nicht als Abrüstungsentscheidungen verstanden und konsequenterweise dann auch nicht mit Konversionsinitiativen begleitet. Reflexhaft, sich um das »Unaussprechliche« herumdrückend, wird auf personelle und finanzielle Engpässe und Legitimationsverlust der Streitkräfte reagiert: Die Reduzierung von Bundeswehrhöchstgrenzen und Wehrpflicht sind Resultate der demographischen Entwicklung und darüberhinaus Preis für die Wiedererlangung der Souveränität Deutschlands20. Eine radikale Umstellung und Neuorientierung der Militärdoktorin gibt es nicht. Selbst Großprojekte wie der Jäger 90 bleiben nach wie vor auf der Tagesordnung. Bis heute hat sich die Bundesregierung als abrüstungsunfähig erwiesen.

SPD und Rüstungskonversion

Eine systematische Beschäftigung mit dem Thema Rüstungskonversion gibt es bei der Bundestagsfraktion der SPD seit auf Initiative des Abgeordneten Gert Weisskirchen die Arbeitsgruppe Rüstungskonversion eingerichtet wurde, in der Abgeordnete, Mitarbeiter der Fraktion, Wissenschaftler und Gewerkschaftsvertreter mitarbeiten.

Die Einrichtung der Arbeitsgruppe ist Zeichen für den realpolitischen Stellenwert, den die Fraktion, besser: Teile derselben, dem Thema inzwischen beimißt. Auch wenn die Stellung der Arbeitsgruppe nach wie vor nicht unumstritten ist, signalisiert ihre Existenz, daß die SPD-Fraktion parlamentarische Initiativen in diesem Bereich für nötig hält. Man kann wohl davon ausgehen, daß die Bedeutung dieser zentralen Stelle in der kommenden Legislaturperiode wachsen wird:

Mit Ankündigung der Verringerung der gesamtdeutschen Streitkräfte, mit Verkündung des bevorstehenden VKSE-Abschlusses und dem Rückzug der alliierten Truppen gibt es in den Wahlkreisen, in denen sich Standorte, Liegenschaften usw. von Bundeswehr und alliierten Truppen befinden, Unsicherheiten bei Kommunen und Gemeinden, Anfragen bei den entsprechenden Abgeordneten, die Forderung nach Aufklärung über bevorstehende Reduzierungen und hohen Bedarf nach Handlungsperspektiven, um die Veränderungen sozialverträglich zu gestalten. Die Arbeitsschwerpunkte der Fraktionsarbeitsgruppe haben sich im Laufe der Zeit stark verändert:

In der Phase der Problemsichtung konzentrierte sich die Anhörung, die die Arbeitsgruppe im März 1989 veranstaltete, v.a. auf das Problem der industriellen Konversion, der abrüstungsdisponiblen Arbeitsplätze dort, wo direkt militärisch verwendete Produkte in Auftrag gegeben und hergestellt wurden.

Zusammengefaßt hatte die Diskussion folgende Ergebnisse:

1. Es gibt für die Rüstungsindustrie selbst bereits absehbar durch die veränderte politische Lage eine Zwangssituation, mittelfristig die Konzentration auf Rüstungsproduktion aufzubrechen und neue Produktionslinien und Märkte zu erschließen.

Rüstungsunternehmen wie die DASA-Töchter MBB und MTU, Diehl, Krauss-Maffei und andere planen bereits den »Ernstfall« der ausbleibenden Rüstungsaufträge. Finanzmanager Broschwitz (MBB) will „bis 1994 die Abhängigkeit vom Rüstungsgeschäft um mindestens 2,7 Milliarden DM reduzieren“ 21. MTU-Geschäftsführer Dunkler: „Ich bin Realist. Ich gehe fest davon aus, daß der Rüstungsbedarf weiter sinkt“ 22

Osteuropa, insbesondere die UdSSR, bietet sich bei diesen Überlegungen sowohl als Kooperationsfeld bei konversionsbedingten Produktionsumstellungen als auch als Markt für zivile Produkte an23. Einzelne Kontakte zwischen bundesdeutschen und sowjetischen Unternehmen sind durch die SPD-Arbeitsgruppe zum Teil vermittelt worden. Zentrale Voraussetzungen, um Initiativen seitens der Rüstungsindustrie zu befördern, stehen allerdings aus: Weder ist die sowjetische Industrie ökonomisch und finanziell in der Lage, westliche Investoren und Kooperationspartner zu befriedigen, noch sind wichtige Handelsbeschränkungen, allen voran die COCOM-Liste, bisher aufgehoben.

2. „Die rechtzeitige Umstellung der Rüstungsunternehmen auf zivile Produktion ist ureigenste Aufgabe der Unternehmen“ hieß es noch im Entwurf des SPD-Regierungsprogramm »Fortschritt 90«. Staatliche Hilfen bei der Umstellung werden von den Konversionspolitikern der SPD abgelehnt, um zu erreichen, daß es zu einer tatsächlichen Konversion auch der Finanzmittel kommt und um einen Problemdruck, der in Richtung Umstellung wirkt, herzustellen.

Wieweit die von Industriestandortschließung in Zukunft betroffenen Länder und Gemeinden und die von Arbeitsplatzverlusten betroffenen Gewerkschaften, vor allem die IG Metall, dies mittragen werden, bleibt dahingestellt.

Kleine, monostrukturierte Unternehmen werden auf jeden Fall mit dieser Linie in große Schwierigkeiten kommen. Die nach wie vor verbreitete unflexible Unternehmensstruktur im Zusammenspiel mit dem Gestus der Bundesregierung »weitermachen wie bisher« läßt darüber hinaus erahnen, daß in Zukunft Adhoc-Hilfestellungen unter dem Druck von Massenentlassungen von der Industrie erpreßt werden. Entsprechend schwankt dann auch die SPD zwischen rigoroser Ablehnung staatlicher Hilfen und vorsichtigeren Formulierungen, wie in der beschlossenen Fassung von »Fortschritt 90«: „Die rechtzeitige Umstellung der Rüstungsunternehmen auf zivile Produktion ist vorrangige Aufgabe der Unternehmen. Die Rüstungskonversion soll auch durch staatliche Industrie-, Struktur- und Arbeitsmarktpolitik gefördert werden.“ 24

3. Es gibt für die Umstellung keine gravierenden technischen Probleme. Auch die Qualifikation der Beschäftigten in Rüstungsbetrieben erleichtert die Umstellung.

Als denkbar werden folgende Maßnahmen zur Unterstützung der Konversionsmaßnahmen u. a. vorgeschlagen:

  • Bildung eines Konversionsfonds, der durch eine Besteuerung der Rüstungsumsätze und der Rüstungsexporte gespeist wird;
  • schrittweise Umstellung der öffentlich geförderten militärischen Forschung und Entwicklung auf die Entwicklung alternativer Produkte;
  • Auftragsvergabe eines Rüstungsproduktes mit der Auflage, einen Konversionsplan vorzulegen;
  • Bildung von Beschäftigungsgesellschaften bzw. die Entwicklung von Beschäftigungsplänen;
  • Einrichtung eines Bundesamtes für Konversion, u. a. zur Strukturanalyse, Vergabe von Mitteln aus dem Konversionsfonds und anderes;
  • öffentliche Förderung von regionalen, lokalen, betrieblichen Konversionsarbeitsgruppen, in denen Konversionsmodelle erarbeitet werden.

Spätestens seit Ende des Jahres 1989 verlagerte sich der Schwerpunkt der Fraktionsarbeit auf das Problem der regionalen Konversion.

Neben Initiativen einzelner Abgeordneter, z.B. Alternativen zur Herstellung des Jäger 90 zu entwickeln25, gibt es seit Beginn 1990 eine Reihe parlamentarischer Initiativen der Sozialdemokratie, die sich mit regionaler Konversion beschäftigen26. Z.T. auch unabhängig von der AG – ein Hinweis auf wachsenden Problemdruck an der Basis.

Zentralen Stellenwert hat dabei der Antrag „Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen in strukturschwachen Regionen“ vom Mai 1990, zu dem die parlamentarische Debatte noch aussteht.

Der Antrag ist ein Papier der ersten Schritte, v.a. auf praktische Maßnahmen orientiert.

Ausgehend von der „Überwindung der Blöcke in Europa“, dem damit einhergehendem Truppenabzug und den zu erwartenden Ergebnissen der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte, wird in dem Antrag gefordert,

  1. die Vorlage einer differenzierten Bestandsaufnahme und Analyse der militärischen Standorte der Bundeswehr und der ausländischen Streitkräfte durch die Bundesregierung,
  2. die Vorlage eines Planes über Zahl und Ort der Reduzierungen bei Bundeswehr und alliierten Truppen und der Vorstellungen der Bundesregierung, „wie und nach welchen Plänen die Folgen für die Beschäftigten sowie für die betroffenen Regionen aufgefangen werden sollen“…,
  3. die Vorlage eines nationalen Konversionsprogramms. Die Vorstellungen der SPD für ein solches Programm werden genauer skizziert:
    1. Standortauflösungen sollen vorrangig zunächst außerhalb strukturschwacher Regionen stattfinden. Ein Herangehen, das nicht ausschließlich nach sicherheitspolitischen sondern auch nach wirtschaftspolitischen Kriterien vorgeht, sei angesichts der politischen Entwicklungen in Osteuropa möglich, heißt es in den Erläuterungen des Antrags für die Fraktion.
    2. die Erarbeitung eines Sozialplans für die betroffenen Arbeitnehmer, der Umschulungen, Weiterqualifizierungsmöglichkeiten, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Abfindungsangebote für ausscheidende Soldaten, Frühverrentung, Übernahmen in den Öffentlichen Dienst vorsieht.
    3. die Durchführung von regionalen Sonderprogrammen zur Schaffung von „Ersatzarbeitsplätzen außerhalb des militärischen Bereiches und zur Verbesserung der regionalen Infrastruktur“. Dabei sollen „die betroffenen Regionen beteiligt und alle berührten Politikbereiche einbezogen werden“. Bezüglich des Verhältnisses der Probleme von Regionen und Unternehmen wird in den Erläuterungen betont:„Wir wollen mit unseren Maßnahmen immer bei den Regionen ansetzen – unabhängig davon, ob eine Ursache die Schließung eines Rüstungsbetriebes oder die Schließung einer Kaserne ist. Die Unternehmen sollen keine direkte Förderung erhalten“<5> .

Weitere Maßnahmen im Antrag:

  • Bildung eines Unterausschusses des Bundestagswirtschaftsausschusses für Rüstungskonversion
  • Finanzierung des Konversionsprogramms aus den durch Abrüstung freiwerdenden Verteidigungshaushaltsmitteln und durch Verringerung des Einsatzbereitschaftsgrades und Rationalisierung bei der Bundeswehr
  • die Altlastensanierung bisher militärisch genutzter Liegenschaften nach dem Verursacherprinzip
  • Liegenschaften sollen zu günstigen Bedingungen für zivile Verwendung zur Verfügung gestellt werden und Wiederherstellung der Planungshoheit der Gemeinden für die vom Bund belegten Flächen, soweit sie bisher der kommunalen Planung entzogen sind
  • die Aufgabe des Flugplatzes Zweibrücken, Rheinland-Pfalz, durch die US-Armee soll zum Modellfall für künftige Bemühungen werden, wie für die betroffene Region ein angemessener Ausgleich geschaffen weren kann. Dafür soll eine Initiativgruppe gebildet werden, in der alle Ministerien, kommunale Behörden und Ämter, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen vertreten sind, die von der Schließung betroffen sind. „Diese Initiativgruppe soll ein Programm vorlegen, das u.a. aufzeigt, wie die militärischen Liegenschaften verwendet und wie zukunftsorientiert Arbeitsplätze geschaffen werden können.“

Der Antrag ist in seinen Maßnahmen, würde er angenommen und umgesetzt werden, ein erster Schritt, um Voraussetzungen zu schaffen, das Konversionsproblem in den Regionen zu erfassen und eingreifen zu können.

Der Antrag leistet allerdings kaum programmatische Arbeit: es ist zwar davon die Rede, daß wir „die bisher für Rüstung und Militär aufgewandten Mittel dringend für andere, den Menschen dienenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zwecken“ benötigen. Ein Allgemeinplatz inzwischen. Es gibt im Antrag aber keine dezidiert aufgefächerten Kriterien für die Zielrichtung der Konversionsbemühungen, außer derjenigen, daß sie sozialverträglich sein und die Regionen nicht ruinieren soll.

Ökologische Verträglichkeit, keine neuen Lärm- oder Schmutzbelastungen für die Bevölkerung sind Kriterien, die zumindestens in dieser Frage bei den Wirtschaftspolitikern der SPD wohl nur schwer durchsetzbar sind.

So wird zu den Konversionsvorstellungen der SPD weiterhin gehören die „Umwandlung eines stillgelegten Militärflugplatzes in einen zivil nutzbaren regionalen Luftverkehrslandeplatz“27, statt umgekehrt programmatische Voraussetzungen dafür zu schaffen, in erster Linie nach wirtschaftlich, sozial und ökologisch orientierten Lösungen zu suchen.

Darüberhinaus ist die politische Praxis der SPD in den Ländern, in denen sie die Regierung stellt bzgl. Konversionsbemühungen unbefriedigend. Lediglich in Schleswig-Holstein gibt es, seit die Landesregierung SPD-geführt wird, planerische Bemühungen, Rüstungskonversion in der Region vorzubereiten: das interdisziplinäre Friedensforschungsprojekt an der Uni Kiel hat sich die Erarbeitung einer Regionalentwicklungsstudie vorgenommen. Dafür wurden entsprechende personelle Kapazitäten geschaffen. Dagegen unterstützt die Bremer SPD zwar die »Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung«, ist aber als Senatstragende Partei nicht bereit, eine Senatorische Stabsstelle einzurichten – wie die Stiftung es fordert – die planerische und koordinierende Aufgaben für Konversion übernehmen könnte. Trotz des »Vorlaufes« durch die Arbeit der Bundestagsfraktions-AG kann nicht davon die Rede sein, die Partei sei darauf eingestellt, sich in den Ländern ernsthaft, über Propagandistisches hinausgehend, mit Konversionsfragen zu beschäftigen.28

Dokument: Die SPD im deutschen Bundestag, 24. Juli 1990

Ausstieg aus dem Jagdflugzeug 90 durch Einstieg in die Entwicklung umweltverträglicher ziviler Luftfahrttechnologien

Zur Veröffentlichung des »Berichts über den Entwicklungsstand des Jagdflugzeugs 90« erklärt der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Abrüstung und Rüstungskontrolle der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Hermann Scheer:

Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht Kosten in Höhe von 4,5 Mrd. DM für einen Abbruch der Entwicklung des Jagdflugzeugs 90 angegeben. Der deutsche Kostenanteil für das Programm beläuft sich auf 6,4 Mrd. DM; da davon bereits etwa 20% ausgegeben sind, würde demnach der Ausstieg aus der Entwicklung fast so viel kosten wie die Weiterführung. Außerdem betonte die Bundesregierung erneut das prinzipielle Erfordernis der internationalen Vertragstreue mit den Partnerländern (Großbritannien trägt wie die Bundesrepublik 33% der Entwicklungskosten, Italien 21%, Spanien 13%). Damit soll offenbar suggeriert werden: ein Ausstieg stiftet auch noch politischen Schaden.

Die Argumente der Bundesregierung überzeugen nicht. Sie sind Ausdruck mangelnder politischer Phantasie und unzureichender Einstellung auf die wirklichen Zukunftsprobleme. Die Fortführung der Entwicklung soll der Erhaltung der deutschen Luftfahrtindustrien dienen, die zweifellos eine der modernsten technologischen Sektoren unserer Volkswirtschaft sind. Dieses Ziel läßt sich aber auch erreichen, indem der Ausstieg aus dem Jäger 90-Programm verbunden wird mit dem Einstieg in eine umweltverträglichere technologische Entwicklung der Zivilluftfahrt.

Die Notwendigkeit dafür ergibt sich angesichts des zunehmenden Anteils der Luftfahrt an der Entstehung des Treibhauseffektes: Besonders die Strahlenflugzeuge sind in der für den international üblichen Luftverkehr in Luftschichten von 10.000 bis 12.000 m Höhe, im Falle von Überschallflugzeugen sogar darüber, der einzige Emittent von Stickoxiden (NOx), die zum Abbau der Ozonschicht beitragen. Die Wasserdampfausstöße in dieser Höhe führen zu Eisbildungen, die zum Treibhauseffekt beitragen, Hinzu kommen die CO2- und die CO-Emissionen, die treibhausfördernd sind und in Flughafenregionen neben der Lärmbelästigung zu regionalen Klimaveränderungen führen. Angesichts der drastischen internationalen Zunahme des Flugverkehrs ist es von hoher Dringlichkeit, mit einem öffentlich kräftig geförderten technologischen Sofortprogramm umweltverträgliche Technologien für die Zivilluftfahrt zu entwickeln. Die Luftfahrtindustrie kann hier eine auch in ihrer wissenschaftlichen Perspektive zukunftsweisendere Aufgabe erfüllen als mit der Weiterführung von Rüstungsprojekten.

Im einzelnen schlage ich folgendes Konzept vor:

  1. Die Bundesregierung steigt aus dem Jäger 90-Projekt aus und verbindet dies mit einem Kompensationsauftrag für die Entwicklung umweltverträglicher ziviler Luftfahrttechnologien auf folgenden Gebieten:
    • die Förderung der Entwicklung von Wasserstoffantrieben für Strahlenflugzeuge und Propellerflugzeuge – um damit einen CO2-freien Treibstoff im Flugverkehr nutzen zu können und einen Beitrag gegen den Treibhauseffekt zu leisten;
    • die Entwicklung von (nachrüstbaren) „Low-NOx«-Brennkammern und neuen »Ultra-Low-NOx«-Brennkammern für konventionelle Strahlenflugzeuge – um damit die Stickoxid-Emissionen zu reduzieren und dem Abbau der Ozonschicht entgegenzuwirken;
    • die Entwicklung eines internationalen Flugleitsystems für Flüge unter 8000 m – um damit die durch die Wasserdampfausstöße hervorgerufenen treibhausfördernden Eisbildungen in der Tropopause und der Stratosphäre zu vermeiden.
  2. Die Bundesregierung schlägt den Jäger 90-Partnerländern Großbritannien, Italien und Spanien vor, dieses Alternativprojekt ebenfalls gemeinsam zu tragen. Allein die Bundesrepublik würde dann etwa 5 Mrd. DM alternativ einsetzen können, alle Partnerländer zusammen 15 Mrd. DM.
  3. Ergänzend dazu ist die Bundesregierung aufgefordert, dieses Zukunftsprojekt gemeinsam mit der Sowietunion durchzuführen, die bereits 1988 ein Versuchsflugzeug mit Wasserstoffantrieb erstmals gestartet hat. Grundlage dafür ist die von der Deutschen Airbus GmbH ohnehin schon getroffene Vereinbarung für eine entsprechende Kooperation.
  4. Die Haushaltsmittel für dieses zivile Kooperationsprogramm könnten zeitlich gestreckt werden, weil in der Anlaufphase für diese Entwicklung nicht so viele Mittel gebraucht werden.
  5. Parallel zu diesem Entwicklungsprojekt fördert die Bundesregierung mit ihren europäischen Partnerländern die Herstellung von Wasserstoff mit billiger Wasserkraft in Skandinavien einschließlich der dazu erforderlichen Transportsysteme. Dies ist der gegenwärtig kostengünstigste Weg zur Erzeugung von Wasserstoff mit Hilfe des aus erneuerbaren Energien gewonnenen Stroms. Sie kann sich dabei auf Vorarbeiten des Forschungsinstituts der Europäischen Gemeinschaften in Ispra, der Ludwig-Bölkow-Stiftung und des Vereins zur Einführung des Wasserstoffs in die Energiewirtschaft in Hamburg stützen.

Auf diesem Weg könnte aus dem teuersten Rüstungsprojekt der europäischen Nachkriegszeit das umfangreichste Konversionsprojekt werden, das je durchgeführt wurde. Es wäre ein Signal in eine bessere ökologische Zukunft, das auch erhebliche ökonomische Vorteile bringt: der Markt für neue Jagdflugzeuge ist kleiner als für ökologisch verträgliche Zivilflugzeuge.

Anmerkungen

1 Administration's Defense Budget.
Hearing./ Committee on the Budget / House of Representatives, 101st Congress – GPO: Washington, 7.2.1990 Zurück

2 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordenten Weisskirchen, Blunck u.a. und der Fraktion der SPD. Rüstungs- und Standortkonversion – Maßnahmen zum
Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung in strukturschwachen Regionen. /
Deutscher Bundestag – Drucksache 11/7441 – Bonn 20.6.90 Zurück

3 Jiri Pehe: The Ecological Damage Caused by Soviet Troops. – In:
RFE – Report on Eastern Europe, 3.8.1990, S.28-31 Zurück

4 Vgl. zum Umfang militärisch genutzter Flächen und die Auswirkungen
und Belastungen für Regionen und Kommunen z.B. G. Richter, H. Biehler, D. Sträter:
Regionale Konversionsforschung. – In: Abrüstung und Konversion. / L. Köllner; B.J.
Huck (Hrsg.) – Frankfurt/Main : Campus 1990, S.435-490 Zurück

5 Vgl. Werner Hänsel: Zur Rüstungskonversion in der DDR. /
Berghof-Stiftung für Konfliktforschung – Berlin 1990=Materialien und Dokumente zur
Friedens- und Konfliktforschung Nr. 5; sowie Erny Hildebrand : Chaotische Abwicklung.
– In: highTech 11, 1990, S.64-66 Zurück

6 So etwa in der Antwort der Bayerischen Staatregierung auf die
Interpellation von Abgeordenten und Fraktion der SPD »Truppenreduzierung«, Bayerischer
Landtag Drucksache 11/15 659, Anlage 2 Zurück

7 Etwa für Baumholder und Bad Kreuznach Zurück

8 Vgl. dazu die Aufsätze, Literaturhinweise und Bibliographie in:
Abrüstung und Konversion. Politische Voraussetzungen und wirtschaftliche Folgen in der
Bundesrepublik. Zurück

9 Vgl.Freie Demokratische Partei: Positionspapier. Entwurf der
Arbeitsgruppe »Wirtschaftliche Folgen des Truppenabzuges«.- Bonn 1.10.90 Zurück

10 Vgl. dazu: Eva Henning-Bekka: Regionale Aspekte von
Rüstungsausgaben. – In: Abrüstung und Konversion, S.414-431 Zurück

11 Vgl. dazu: Otto May; Gerhard Wollnitz: Ein Miti ist noch keine
Sünde. FAZ, 3.11.90  Zurück

12) Bundestagsdrucksache 11/7441:
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD „Rüstungs- und
Standortekonversion“
, S.10 Zurück

13) Hightech, 3/90, S. 77 ff Zurück

14) Der Bundesminister des Auswärtigen: Mitteilung für
die Presse Nr. 1162/90 vom 2.Aug.1990, Mitteilung für die Presse Nr. 1169/90 vom
13.Aug.1990 Zurück

15) Staatssekretärin Hürland-Büning in
Bundestagsdrucksache 11/7373. Die Untersuchung wird vom Ifo-Institut in München
durchgeführt und hat den Titel „Die Produktion von Wehrgütern in der
Bundesrepublik Deutschland“
. Von einer Konversionsuntersuchung zu sprechen
scheint allerdings übertrieben: Forschungsminister Riesenhuber spricht etwas bescheidener
davon, die Untersuchung werde „auch ein gesondertes Kapitel zur
Konversionsforschung enthalten“
(Brief vom 25.4.1990) Zurück

16) Bundestagsdrucksache 11/7373, S. 25 Zurück

17) Bundestagsdrucksache 11/7441 vom 20.6.90, S. 3 Zurück

18) Bundestagsdrucksache 11/7794 vom 5.9.90, 5. 2 Zurück

19) ebenda, S. 3 Zurück

20) siehe auch: Friedensgutachten 1990, S. 258 Zurück

21) Hightech, 3/90, S.78 Zurück

22) ebenda S.91 Zurück

23) siehe auch: Gorbatschow-Rede in der Industrie- und
Handelskammer Köln, in: Sondernummer der SU-heute, 6/89 Zurück

24) Der neue Weg. Regierungsprogramm der SPD. Beschlossen
vom SPDParteitag in Berlin am 28.September 1990. S. 22 Zurück

25) Presseerklärung Dr. Hermann Scheer, MdB, vom 24.Juli
1990 Zurück

26) Drucksache 11/5720 „Zivile Arbeitnehmer bei den
Stationierungsstreitkräften“
, Große Anfrage; Ors.11/6518 „Rüstungs-
und Standortekonversion“,
Große Anfrage; Drs.11/7167 „Ausgleich der
wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und Standortauflösungen in
strukturschwachen Regionen“
; Ors.11/7975 „Altlasten auf Liegenschaften
der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte“
, Kleine Anfrage. Zurück

27) Antrag „Rüstungs- und
Standortekonversion…“
des SPD-Landesvorstands Rheinland-Pfalz an den
Landesparteitag am 15.5.1990 Zurück

28) Die Vorstellungen der GRÜNEN sind v.a. im Abschnitt
»Regionale Konversion« abgehandelt. Zurück

Paul Schäfer, Soziologe, Redakteur des Informationsdienstes Wissenschaft & Frieden;
Burhardt J. Huck befasst sich insbesondere mir Fragen der Rüstungsökonomie;
Olaf Achilles, wiss. Mitarbeiter an der Arbeits- und Forschungsstelle Militär, Ökologie, Planung (MÖP), Bonn;
Dr. Peter Barth, Friedensforscher, Mitarbeiter am European Center for International Security (EUCIS), Feldafing;
Kristina Steenbock
, Historikerin, wiss Mitarbeiterin im Dt. Bundestag

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE)

Vom Atlantik bis zum Ural. Kann Europa abrüsten?

von Ingo Arend und Michael Kalman

In Wien verhandeln seit dem 9. März 1989 die Mitgliedsstaaten von Warschauer Pakt und NATO in der seit langem aussichtsreichsten Abrüstungskonferenz zwischen Ost und West über die Reduzierung konventioneller Rüstung in Europa. Zusammen mit dem INF-Abkommen könnten diese »Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa« (VKSE) einen Wendepunkt markieren, steht doch erstmals nahezu das gesamte Militärpotential in Europa zur Verhandlung an. Für Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat deshalb “das Jahr 1989 gute Aussichten, ein entscheidendes Jahr der Abrüstung zu werden” (WDR-Interview vom 16.1.1989). Selbst NATO-Oberbefehlshaber General John Galvin betrachtet die Wiener Verhandlungen als “die wichtigsten für Europa”. (FAZ vom 21.1.1989)
Trotz der neuen Aufrüstungsversuche seitens der NATO durch die sogenannte »Modernisierung« scheint nämlich nicht nur die politische, sondern auch die militärische Rivalität in Europa ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Für den sowjetischen Außenminister Schewardnadse geht es denn auch bei den Abrüstungsverhandlungen “nicht nur um die Beseitigung von Waffen, sondern um die Überwindung der Teilung Europas”. (Rede auf der Schlußberatung der Wiener KSZE-Folgekonferenz am 19. Januar 1989) Fortgesetzten, konsequenten öffentlichen Druck auf den weiteren Abrüstungsprozeß vorausgesetzt, könnte sich aus dieser chancenreichen politischen Situation des alten Kontinents das Modell einer anderen Entwicklungslogik in den internationalen Beziehungen herausbilden: Echte Abrüstung und die Ersetzung des Abschreckungssystems. Wird es gelingen, die militärische Konfrontation zu beenden, Kriege und militärische Angriffe in Europa unmöglich zu machen, die europäische Nachkriegsordnung in eine entmilitarisierte europäische Friedensordnung umzugestalten und die Periode des Kalten Krieges endgültig hinter sich zu lassen?

I. Konventionelle Abrüstung und die Sicherheit in Europa

Pulverfass Europa – Glacis Bundesrepublik

Militärische Rivalität und Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt haben die in Friedenszeiten größte militärische Konzentration in der Geschichte hervorgebracht. Europa gleicht einem Waffenlager ohnegleichen. Rund 14 Millionen aktive Soldaten und Reservisten stehen im Dienst auf beiden Seiten unter Waffen. Dazu kommen über 200 stehende Divisionen Bodentruppen und über einhundert Reserve-Divisionen. Zu den ständig in Europa stationierten Truppen zählen: ca. 75.000 schwere Kampfpanzer, 60.000 Artilleriegeschütze, 30.000 Schützenpanzer und 12.000 Kampfflugzeuge. Dazu kommen noch ca. 1000 Kriegsschiffe und U-Boote. Zählt man die Ausgaben beider Bündnisse zusammen, verzehrt die militärische Konfrontation in Europa ungefähr zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für Streitkräfte von einer Billion Dollar jährlich. Die Verteidigungsausgaben verschlingen ca. 5 Prozent des Bruttosozialproduktes der NATO-Staaten und ca. 10 Prozent desjenigen der Warschauer-Pakt-Staaten.(vgl.: Götz Neuneck: Strukturelle Angriffsunfähigkeit und konventionelle Rüstungskontrolle. Wege zur Entmilitarisierung des Ost-West-Verhältnisses. Heft 35 der Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, IFSH, Dezember 1988, S. 1-7)

Allein in der mit 280 Einwohnern pro Quadratkilometer dicht besiedelten Bundesrepublik – die gerade mal so groß ist wie der US-Bundesstaat Oregon – sind etwa 900.000 Soldaten und 10.000 Panzer stationiert. Mit insgesamt über vier Millionen Flügen pro Jahr hat die Bundesrepublik den dichtesten Luftverkehr der Welt. 580.000 davon sind militärisch. Mehr als zwei Drittel der Fläche der Bundesrepublik sind Tieffluggebiete. Denkt man sich den Besatz an Kernkraftwerken und chemischer Industrie hinzu, wird deutlich, daß bereits ein mit wenig aufwendigen Mitteln konventionell geführter Krieg das Ende ganz Europas und insbesondere der Bundesrepublik bedeuten würde. Die liberale Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« resümiert die waffenstarrende Situation: “Dies ist absurd in einer Zeit, in der die Spannung zwischen den Blöcken nachgelassen hat.” (Theo Sommer: Raketen – wider deutschen Willen?, Die Zeit, Nr. 18 vom 28.4.1989).

Ziele konventioneller Abrüstung

Diese Zahlen und die geschilderte Situation machen nicht nur die Dringlichkeit des Problems konventioneller Abrüstung, sondern auch seine Komplexität deutlich. Die bisherigen Ansätze, etwa im Bereich der MBFR-Verhandlungen, haben sich jedoch als untauglich erwiesen, dieser Problemstellung gerecht zu werden. Sie scheiterten am mangelnden politischen Interesse beider Seiten und an der Datenfrage. (Vgl. ausführlich Kapitel II. – MBFR)

In den von der Bundeswehr und NATO vorgelegten Kräftevergleichen wird in der Regel nur mit der Zahl der Divisionen gearbeitet. Das Weißbuch 1985 und die 1988 von der Hardthöhe präsentierten Zahlen beharren auf einer Drei-zu-Eins-Überlegenheit des Warschauer-Paktes bei Waffen und Divisionen und wurden selbst von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als unnötige Gruselstory abgetan, deren “Waffenzählen nicht gerade nach Adam Riese” gestrickt worden sei (FAZ vom 23.2.1988). Ein bis auf drei Stellen hinter dem Komma exakter Kräftevergleich ist im übrigen auch gar nicht so wichtig, solange man die Datenfrage nicht zur alles entscheidenden Voraussetzung macht. Dahinter steckte bislang in der Regel das Bemühen, den fehlenden politischen Willen zur Abrüstung zu verschleiern. Allerdings ist die prinzipielle Offenheit in der Datenfrage eine wichtige Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsabsichten. Und bis Anfang 1989 trug auch die Warschauer-Pakt-Seite mit ihrer traditionellen Geheimniskrämerei dazu nicht gerade bei.

Im Gegensatz zur atomaren Abrüstung mit der klaren Zielstellung der restlosen Beseitigung atomarer und natürlich auch chemischer Massenvernichtungsmittel auf Null, kurz: Denuklearisierung, läßt sich angesichts der Größenordnung und Vielschichtigkeit des Übermaßes an konventionellen Rüstungen und Streitkräften für diesen Bereich der Abrüstung als konkretes Verhandlungsziel nicht so ohne weiteres die Forderung vollständiger Demilitarisierung West- und Osteuropas aufstellen.

Ein umsetzbarer Ansatz für die Einleitung eines Prozesses konventioneller Abrüstung, an dessen Ende die Demilitarisierung stehen könnte, wird erst sichtbar, wenn man sich die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien einer neuen europäischen Sicherheitspolitik vergegenwärtigt. Diese basieren auf der Annahme, daß Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam mit politischen Mitteln erreicht werden kann. Eigene Sicherheit muß dabei stets auch die Sicherheit des Nachbarn oder des Gegenüber berücksichtigen, zumal auch Gefahren und Krisen wie Umweltverschmutzung, zivile Reaktorunfälle, von den Folgen eines Atomkrieges ganz zu schweigen, nicht vor Grenzen haltmachen. Die Grundprinzipien einer so verstandenen Sicherheitspolitik müssen demnach lauten:

  • Beseitigung des militärischen Faktors als Mittel der Politik durch Abrüstung auf allen Ebenen
  • Schaffung kriegsverhindernder, vertrauensbildender und entspannungsfreundlicher Strukturen
  • Abrüstung muß Mittel zum Zweck, das heißt zur Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes und die Umformung dieser Systemauseinandersetzung in einen friedlichen Wettbwerb sein
  • Durchsetzung umfassender und systemübergreifender Kooperation zur Lösung der globalen Probleme (Abrüstung, Entwicklung, Ökosphäre, Ressourcen, Menschenrechte)

Daraus lassen sich dann drei Hauptziele für den militärischen Bereich ableiten:

Überwindung der atomaren Abschreckung, das heißt Abschaffung der Massenvernichtungswaffen und C-Waffen Herstellung konventioneller Stabilität durch nichtoffensive Verteidigung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit dauerhafte Senkung der Rüstungsausgaben

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und konventionelle Abrüstung

Auch in dem Mandat über die VKSE-Verhandlungen (siehe Kapitel III.) kehrt der Begriff der »konventionellen Stabilität» wieder. Was er schließlich konkret bedeuten, wie er in konkrete gegenseitige Schritte der Abrüstung und Umstrukturierung umgesetzt werden soll, darüber wird in den nächsten Jahren zäh verhandelt werden.

Militärexperten, Friedensforscher und Sicherheitspolitiker haben in den letzten Jahren eine Fülle von Konzepten zur konventionellen Stabilisierung entwickelt. (Ein Überblick bei: Karsten D. Voigt, Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte.In: aus politik und zeitgeschichte B 18/1988). Diese Vorschläge stellen vor allem militärische Lösungsansätze dar. Ihre Einordnung in übergreifende politische Konzeptionen wie in die Konturen einer Neuen Europäischen Friedensordnung oder dem Gemeinsamen Haus Europa geschieht allerdings selten. Ihre Wirksamkeit ergibt sich also erst im Rahmen des geschilderten politischen Gesamtkonzepts. Gleichwohl haben sich um den Begriff »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit» (StruNa), der Anfang der achtziger Jahre aufkam (vgl. Hans-Peter Dürr, Albrecht A.C. von Müller, NATO am Scheideweg. In: Frankfurter Rundschau, 1.+ 3.7.1983) Konzepte gruppiert, die aus realpolitischer Sicht sinnvolle Vorschläge enthalten. Sie stellen sozusagen die verteidigungs- und militärstrategische Ebene der politischen Konzeption Gemeinsame Sicherheit dar.

In diesem Zusammenhang von Militärstrategie und Politik soll das Stabilitätsziel durch die Orientierung an folgenden Kriterien erreicht werden:

  • Angriffsunfähigkeit: alle offensiven Optionen (sei es die Fähigkeit zu raumbesetzenden Operationen oder zu tiefen Schlägen – deep strikes – in gegnerisches Hinterland) müssen unmöglich gemacht werden. Damit würde ein signifikanter Abbau von Bedrohungen und Bedrohungsvorstellungen einhergehen.
  • Verteidigungsfähigkeit durch ein Potential zur strikten und effizienten Abhaltung eines gegnerischen Angriffs verlangt gegenseitige Verteidigerüberlegenheit. Die defensiven Mittel der beiden Kontrahenten müssen ihre Angriffspotentiale bei weitem übertreffen.
  • Abrüstung: aus der konzeptionellen Funktionslosigkeit von Offensivpotentialen ergeben sich weitreichende Perspektiven der Abrüstung.
  • Strukturveränderung: Streitkräfte und Bewaffnung müssen so angeordnet und gestaffelt sein, daß ihr defensiver Charakter deutlich wird.

(vgl.: E. Bahr / D. S. Lutz (Hg.), Gemeinsame Sicherheit Dimensionen u. Disziplinen, Baden Baden 1986-1987, Band I-III).

Dementsprechend definieren der ehemalige NATO-General Gerd Schmückle und der Starnberger Militärexperte Albrecht A.C. von Müller konventionelle Stabilität als “den Zustand einer robusten, wechselseitigen Verteidigerdominanz. Hier geht es also um ein militärisches Kräfteverhältnis, bei dem die nicht durch Überraschungsschläge zu gefährdende Verteidigungsfähigkeit beider Seiten deutlich größer ist als die Angriffsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers. Die Verwirklichung eines derartigen Zustandes setzt die bewußte Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitigem Abbau von Angriffsfähigkeit in Ost und West voraus.” (Schmückle/von Müller: Das Konzept der “Stabilen Abhaltung”, Manuskript, Starnberg, April 1988)

Schwachpunkt der »StruNa«-Konzepte ist die Nuklearfrage. StruNa strebt zunächst keine vollständige Denuklearisierung an. Das verwandte Konzept der »stabilen Abhaltung« will eine nukleare Minimalabschreckung durch einige hundert Sprengköpfe mit politischem Demonstrationscharakter. Außerdem birgt StruNa die Gefahr der Verlagerung eines Rüstungswettlaufs auf den Bereich defensiver Waffensysteme.

Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit ist, und hier wird die gemeinsame Sicherheit sozusagen »sinnfällig«, dann gegeben, wenn alle darin übereinstimmen, daß sie gegeben ist. Mit ihr werden die materiellen Voraussetzungen für Blockauflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung geschaffen.

In dieser Perspektive hat sie bereits Eingang in konkrete Politik gefunden. Vordenkerarbeit in dieser Hinsicht haben die SPD und die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) geleistet. Mit der Vorlage des gemeinsamen Papiers für vertrauensschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa hatten die Sozialdemokraten den Rahmen ihrer “zweiten Phase der Entspannungspolitik” nach den gemeinsamen Erklärungen mit der KPdSU und der SED um ein weiteres Stück vervollständigt. Diese Positionen finden sich inzwischen großenteils in den offiziellen Verhandlungszielen wieder.

Das Papier knüpft an die Warschauer-Pakt-Vorschläge von 1986 (Budapest) und 1987 (Ost-Berlin) sowie an den Jaruzelski-Plan von 1987 an (vgl. Teil II des Dossiers). Die Thesen fassen Vorschläge, “Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa” zusammen.

Aus ihm lassen sich Kriterien für eine solche Umorientierung ableiten:

  • gleiche Obergrenzen für Waffen, Verbände und Soldaten
  • drastische Reduzierung der Truppenstärken
  • Reduzierung durch weitgehende Abrüstung von Waffen und Verbänden auf ein niedrigeres Niveau als vorher
  • Beseitigung der Offensivfähigkeiten
  • Durchsetzung vertrauensbildender Maßnahmen und Verfikationsmodelle
  • Verbote und Beseitigungen bestimmter Waffen und Technologien
  • beidseitiges Vorgehen unter Einschluß eigenständiger Initiativen
  • paralleles Vorgehen auf allen Feldern mit Vorrang bei den atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen. (Gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe SPD/PVAP über Kriterien und Maßnahmen für vertrauenschaffende Sicherheitsstrukturen in Europa, Bonn 1988).
  • Bündnisimmanenz des Prozesses. Die existierenden Militärbündnisse, sind eine unausweichbare Realität, die nur aus den Bündnissen heraus überwunden werden kann. Statt der isolierten und sterilen Diskussionen über die Frage einer abstrakten Blockzugehörigkeit, geht es beim Konzept Gemeinsamer Sicherheit auch darum, “die Bündnisse auf der Grundlage eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu einem aktiven Faktor beim Umbau der Ost-West-Beziehungen zu machen”, wie es der Starnberger Friedensforscher Albrecht von Müller (auf dessen Forschungen das Wortungetüm Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit zurückgeht) und der ehemalige Bundeswehr- und NATO-General Gerd Schmückle forderten.

Nach Ansicht der Sicherheitsexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, Katrin Fuchs, sind Abrüstung und Beseitigung besonders der offensivfähigen Waffen die Voraussetzung, um eine wirklich einschneidende Reduzierung der Militärausgaben zu erreichen, die wiederum dringend gebraucht wird, wenn der Menschheit ihre vielfältigen Probleme nicht endgültig über den Kopf wachsen sollen. Dies hatte schon der Nürnberger SPD-Parteitag gefordert.(Parteitag der SPD in Nürnberg, 25.-29.8.1986, Beschlüsse, S. 861-897).

Konventionelle und nukleare Abrüstung hängen in diesem Prozeß eng zusammen. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht darum die Auseinandersetzung über die nuklearen Kurzstreckenraketen. An dieser Frage scheinen alle Widersprüche der nuklearen Abschreckungsstrategie wie in einem Brennglas auf. Aufgrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen und deren Rückwirkungen auf die NATO-Strategie sieht der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer die NATO in einer “Existenzkrise”. (Rede im Deutschen Bundestag, 28.4.1989) Zugleich werden – im Lichte der Erfahrungen von Reykjavik, als “die Supermächte bereit waren, die Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit einzureißen und über die Köpfe ihrer Verbündeten hinweg die nukleare Abschreckung zur Disposition zu stellen” (Günther Nonnenmacher, FAZ vom 29.4.1989) – die Befürchtungen über eine unkontrollierbare Veränderung des sicherheitspolitischen status quo zu Lasten Europas und der Deutschen laut, die zu einer psychologischen Hemmschwelle für den Abrüstungsprozeß werden könnten.

Insgesamt steht fest, daß mit den Wiener Verhandlungen aufgrund ihres Zusammenhanges in die bevorstehende Entscheidung über das NATO-Gesamtkonzept der Gesamtzusammenhang aller Fragen von Abrüstung, Rüstungskontrolle und politischer Kooperation auf der Tagesordnung steht. Für die realistischen Konservativen stellt sich folgerichtig die Frage einer “verläßlichen Ordnung für einen zerbrechlichen Kontinent”, in der die militärische Sicherheitskomponente “nicht mehr allein das gestaltende Element sein” kann. (Michael Stürmer, FAZ vom 29.4.1989). Sie warnen deshalb davor, Chancen zu verpassen: “Die NATO muß dort auf Gorbatschow eingehen, wo es für eine Neuordnung der europäischen Sicherheit nötig ist. Sie muß begreifen, daß die Nachkriegszeit zu Ende ist und die im kalten Krieg erstarrten Fronten in Bewegung geraten sind.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 18.4.1989)

Im Unterschied zu den INF-Verhandlungen ist die Bundesrepublik diesmal bei den VKSE-Verhandlungen als direkt beteiligter Verhandlungspartner gefordert. Damit wird ihre Schlüsselrolle an der Nahtstelle der Systeme noch deutlicher. Hier wird sich besonders klar zeigen, ob die Bundesregierung dafür sorgen wird, daß einschneidende konventionelle Abrüstungsschritte möglich werden, damit ein weitergehender Abrüstungsprozeß ermöglicht wird.

II. Die Entwicklung der Positionen zur konventionellen Abrüstung 1986-1989.

Der Gorbatschow-Plan

Am 15.1.1986 legte KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau einen Plan zur phasenweisen Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vor, den sogenannten Gorbatschow-Plan.

Den Beginn dieser Entwicklung sollte die 50prozentige Reduzierung aller strategischen Waffen machen. Gleichzeitig sollten USA und Sowjetunion auf die Entwicklung von Weltraumwaffen und weitere Atomwaffenversuche verzichten.

Als weitere Vorschläge enthielt der Gorbatschow-Plan die Bereitschaft der UdSSR, alle Abkommen, auch vor Ort, der Verifikation (Kontrolle) zu unterwerfen. Gorbatschow sprach sich darin in sehr allgemeiner Form auch für Fortschritte bei der konventionellen Rüstungskontrolle aus. Er erklärt außerdem die Bereitschaft, durch Abrüstung die Entwicklung der Dritten Welt zu fördern.

Mit diesem Vorschlag – man mag es drehen und wenden wie man es will – hatte die Sowjetunion auch ganz offiziell als erste konsequent mit der atomaren Abschreckungsideologie gebrochen und ihre Bereitschaft verkündet, einen Umwandlungsprozeß analog zu den genannten Kriterien Gemeinsamer Sicherheit einzuleiten.

Bewegung in die Frage konventioneller Abrüstung kam erst durch eine neue Initiative des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow auf dem SED-Parteitag am 18. April 1986 in Ost-Berlin. In seinem Vorstoß schlug er “bedeutende Reduzierungen aller Komponenten der Landstreitkräfte und der taktischen Fliegerkräfte bei Auflösung der jeweiligen reduzierten Truppenteile und Vernichtung oder nationaler Lagerung der Rüstungen” vor. Diese sollten verknüpft werden mit dem “Abbau nuklearer Rüstungen operativ-taktischer Bestimmung”. Die Reduzierungen sollten in einer von beiden Seiten kontrollierten Weise vorgenommen werden. Dazu zählte Gorbatschow auch internationale Überprüfungsformen, z.B. Vor-Ort-Inspektionen. Als Reduzierungsraum schlug Gorbatschow erstmals – und damit verließ er den Ansatz der bisherigen MBFR-Gespräche – das Gebiet “vom Atlantik bis zum Ural”, also ganz Europa unter Einbeziehung der westlichen UdSSR-Militärbezirke. vor. Gorbatschow begründete seine Initiative darüberhinaus mit dem Wunsch, westliche Einwände gegen weitergehende Schritte auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung aus dem Weg zu räumen.

Die NATO reagierte auf diesen Vorschlag und die neue Situation, die durch ihn entstanden war auf ihrer Frühjahrstagung im Mai 1986 im kanadischen Halifax mit der Einsetzung einer »High Level Task Force« (HLTF), die die Vorschläge überprüfen sollte. (Arms Control Reporter, 1/1989, 407.A.3; FAZ vom 30.6.1986)

Budapester Appell – Brüsseler Erklärung

Gorbatschows Vorschlag wurde auf der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschußes des Warschauer-Paktes am 11. Juni 1986 in Budapest aufgenommen und als »Budapester Appell» verkündet. In ihm näherte sich der Warschauer Pakt noch weiter an die westlichen Vorstellungen an.

Der Appell sah als ersten Schritt vor, “eine einmalige Reduzierung der Truppenstärken der Staaten der beiden einander gegenüberstehenden militärpolitischen Bündnisse innerhalb von ein bis zwei Jahren um 100.000 bis 150.000 Mann auf jeder Seite vorzunehmen… Bei entsprechender Bereitschaft der Länder des nordatlantischen Bündnisses würden dadurch Anfang der 90er Jahre die Landstreitkräfte beider Bündnisse in Europa um ca. 25 Prozent des heutigen Niveaus reduziert werden.” Es handelte sich also um einen Vorschlag, der symmetrische Reduzierungen in beiderseits gleichem Umfang und den prozentualen Abbau von einem gegebenen Niveau vorsah und mit diesem Element noch keine wesentliche Neuerung bedeutete.

Außerdem wurde die Notwendigkeit der Umstellung der Militärdoktrinen auf “Verteidigungsprinzipien” festgestellt. Maßnahmen zur Vermeidung eines Überraschungsschlages und von Offensivoperationen sollten eingeleitet werden. Zur weiteren Erörterung der Vorschläge zur konventionellen Rüstung sollte ein “spezielles Forum” oder eine erweiterte MBFR-Runde diskutieren.

Im Appell heißt es weiter: “Die durch entsprechende Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen freiwerdenden Mittel dürfen nicht für die Schaffung neuer Waffenarten oder für andere militärische Zwecke eingesetzt, sondern müssen für die ökonomische und soziale Entwicklung verwendet werden.” (Appell der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages an die Mitgliedstaaten der NATO, an alle europäischen Länder zur Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa. TASS-APN, Dokumente, Nr. 54/86, Köln 12.6.1986)

In Reaktion auf diese Entwicklung verabschiedeten die NATO-Außenminister am 12. Dezember 1986 die »Brüsseler Erklärung», in der sie dem Warschauer Pakt vorschlugen im Rahmen und unter dem Dach des KSZE-Prozesses neue Verhandlungen über ein Mandat für Verhandlungen über die Konventionelle Rüstungskontrolle (KRK) neben den weiterzuführenden MBFR– und KVAE-Verhandlungen aufzunehmen und deren Geltungsbereich ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural umfassen sollte. Die Brüsseler Erklärung verlangte weiter den einseitigen Abbau des von des NATO wahrgenommenen Übergewichts des Warschauer-Paktes im konventionellen Bereich. Die vorgeschlagenen Mandatsverhandlungen begannen schließlich am 17. Februar 1987 im Rahmen des KSZE-Folgetreffens in Wien. (FAZ, 12.12.1986; vgl. auch: Sigurd Boysen: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural. In: aus politik und zeitgeschichte, B 44/87, S. 24ff)

Asymmetrie-Zugeständnis in Prag

Ein weiteres Einschwenken auf westliche Forderungen zeigte sich schließlich erneut in einer Rede Gorbatschows am 10. April 1987 in Prag, als er erstmals existierende Ungleichgewichte im konventionellen Bereich des Ostens zugab und asymmetrische Reduzierungen akzeptierte. Gorbatschow erklärte, die Sowjetunion sei für “die Beseitigung irgendwelcher Elemente der Ungleichheit, der Asymmetrie, wenn es diese bei diesen Waffen tatsächlich gibt.”

In dem wiederum dieser Rede folgenden Beschlüssen des Warschauer Paktes von Ostberlin vom 28./29. Mai 1987 wurden “Konsultationen über entstandene Ungleichgewichte bei einzelnen Arten von Rüstungen und Streitkräften sowie die Suche nach ihrer Beseitigung”, also Verhandlungen zur “Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt.” Damit war quasi vorgeschlagen, gemeinsam auf die Herstellung einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit hinzuwirken. Wiederum wird die Auflösung von WVO und NATO im Falle der Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit vorgeschlagen und zum ersten Mal werden Konsultationen zu Fragen der Militärdoktrinen vorgeschlagen. Die Konferenzteilnehmer erteilten jedem militärischem Angriff gegen ein Staatenbündnis eine Absage.

Zusätzliche Zielstellungen tauchten in Form der Schaffung von “Zonen verringerter Rüstungskonzentration” auf, an deren Frontlinie an der Nahtstelle der Bündnissysteme die Rüstungs- und Streitkräftekonzentration verringert werden solle. (Europa-Archiv, 1987, 14, S. D 392-394)

Vorausgegangen war diesem Vorschlag am 8. Mai 1987 die Präsentation des sogenannten Jaruzelski-Plans, der, auf den polnischen Plänen für eine nuklearwaffenfreie Zone und das Einfrieren der atomaren Rüstungen aufbauenden Vorschläge zur atomaren und konventionellen Rüstungsverminderung im MBFR-Gebiet machte und vorschlug, die Waffen allmählich abzuziehen, die für einen Überraschungsangriff besonders gut geeignet sind. Außerdem sieht der Jaruzelski-Plan blockübergreifende Gespräche über den Charakter der Militärdoktrinen vor.

Die NATO reagiert auf die östlichen Vorschläge auf ihrer Außenministertagung in Reykjavik am 12. Juni 1987 mit der Forderung nach der “Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung” (Europa-Archiv, Nr. 14/1988, S. D 382f.).

Ende 1987 einigten sich die 23 Verhandlungspartner bei den KRK-Mandatsverhandlungen auf eine Liste der künftigen Verhandlungsgegenstände, die sich im wesentlichen an der Brüsseler Erklärung der NATO von 1986 orientierte und

  • die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts bei den konventionellen Truppen und Waffensystemen,
  • den Abbau der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zu großräumigen Offensiven,
  • die Beseitigung von Disparitäten, die sich nachteilig auf die Stabilität und Sicherheit auswirken
  • sowie regionale Differenzierungen hinsichtlich der Obergrenzen der verbleibenden Potentiale umfasste. (Arms Control Reporter, 1-89, 407.A.3/Mutz, in: Friedensgutachten 1988, S. 124)

Brüsseler Erklärung: “Der Weg nach vorn”

Im März 1988 versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO erneut in Brüssel zu einem Gipfeltreffen, um die Ergebnisse der Wiener Mandatsverhandlungen zu würdigen. Die NATO-Führer erklärten in ihrer Deklaration “Der Weg nach vorn” ihre Bereitschaft zu Gesprächen über konventionelle Rüstungsreduzierung, allerdings nur im Rahmen eines noch auszuarbeitenden Gesamtkonzeptes für Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Gespräche sollen der “Herstellung eines stabilen und sicheren Niveaus konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten in ganz Europa” dienen. Die NATO wandte sich wegen der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes in Europa gegen jede Denuklearisierung. Eine gesonderte Erklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle wiederholt die Ziele der NATO bei den VKSE-Mandatsverhandlungen Ende 1987.

Die Erklärung stellte fest: “Das Bestehen eines konventionellen Ungleichgewichts zugunsten des Warschauer Paktes ist nicht der einzige Grund für die Anwesenheit von Kernwaffen in Europa. Die Bündnisstaaten sind und werden von sowjetischen nuklearen Streitkräften verschiedener Reichweiten bedroht. Obwohl ein konventionelles Gleichgewicht für die (Gesamt-)Stabilität wichtige Vorteile schaffen würde, kann nur die nukleare Komponente einen Angreifer vor unannehmbare Risiken stellen. Deshalb benötigt die Abschreckung für die übersehbare Zukunft eine zureichende Mischung von nuklearen und konventionellen Streitkräften.”

Die NATO verlangte, einen “hohen, asymmetrischen Abbau des Ostens, der beispielsweise den Abzug von Zehntausenden von Waffen des Warschauer Paktes beinhaltet, die für Überraschungsangriffe dienen können.”(Europa-Archiv, Nr. 7/1988, D201-208)

Auf seiner Außenministertagung am 6.4.1988 in Sofia ließ der Warschauer Pakt die Forderung nach einer Koppelung von VKSE-Verhandlungen mit Gesprächen über die taktischen Nuklearwaffen und Systemen mit doppelter Verwendungsfähigkeit fallen und befürwortet separate Verhandlungen.

Warschau: Drei-Stufen-Plan

Am 8. Juni 1988 stellte der sowjetische Außenminister Schewardnadse vor der UN-Generalversammlung in New York einen Drei-Stufen-Plan zur konventionellen Abrüstung in Europa vor, der auf einer Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer-Paktes am 15. und 16. Juli 1988 in Warschau konkretisiert und verkündet wurde. Ziel dieses Plans war es, einen solchen “Zustand herbeizuführen, bei dem die Länder der NATO und des Warschauer Vertrages Kräfte und Mittel behalten, die für die Verteidigung erforderlich sind, jedoch für einen Überraschungsangriff und für Angriffsoptionen nicht ausreichen.”

In der ersten Etappe dieses Plans soll die “beiderseitige Liquidierung der Ungleichgewichte und Asymmetrien” und die Herbeiführung gleicher niedrigerer Obergrenzen erreicht werden. In der zweiten Etappe “würden die Streitkräfte jeder Seite um ungefähr 25 Prozent (ca. 500.000 Mann) mit ihrer strukturmäßigen Bewaffnung reduziert”, in der dritten Phase schließlich “würden weitere Reduzierungen der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen erfolgen und die Streitkräfte beider Seiten strikten Verteidigungscharakter annehmen.” Dazu gehört auch der Austausch von Ausgangsdaten über das Ausmaß der konventionellen Rüstung noch vor Verhandlungsbeginn. Außerdem sollen entlang der Berührungslinie der beiden militärisch-politischen Bündnisse Zonen verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden. Mit dieser Tagung hatte der Warschauer Pakt offiziell und eindeutig die Position eingenommen, daß zuerst die Asymmetrien zwischen den Paktsystemen abgebaut und die weiteren Reduktionen dann in gleich großen Schritten unternommen werden müssen. (Europa-Archiv, Nr. 15, D420-429)

UNO-Initiative Gorbatschows

Am 7. Dezember 1988 legte Michail Gorbatschow auf der 43. UNO-Vollversammlung noch einmal nach und verkündete einen weitreichenden einseitigen Rüstungsschnitt. Danach wird in den Jahren 1989 und 1990 der Personalbestand der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann verringert, zugleich werden aus der DDR, der CSSR und Ungarn 50.000 Mann, 10.000 Panzer 8.500 Systeme der Artillerie, 800 Kampfflugzeuge abgezogen, sechs sowjetische Panzerdivisionen aufgelöst. Die verbliebenen Truppen im europäischen Teil der Sowjetunion werden erheblich verringert und die bei den Verbündeten verbliebenen Truppen werden neu, d.h. defensiv umstrukturiert. Von bloß symbolischer Effekthascherei konnte bei diesem Vorschlag eigentlich keine Rede sein: “Gorbatschows Vorschlag kommt einer Reduzierung der besten und modernsten sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa und in den westlichen Militärbezirken Rußlands um ein Drittel gleich.” (Jan Reifenberg, FAZ vom 9.12.1988).

(Rede Michail Gorbatschows vor der UNO in New York, Sowjetunion heute, Nr. 1, Januar 1989).

Genau einen Tag später reagierte die NATO: Am 8.12.1988 legten die Außenminister noch vor der Verabschiedung des von der High-Level-Task-Force erarbeiteten Dokuments für das Verhandlungsmandat in Wien eine Erklärung mit eigenen Abrüstungseckdaten vor. Kernpunkt der Forderung des westlichen Bündnisses blieb die Forderung nach asymmetrischer Abrüstung. Nach ihrem Vorschlag soll kein Staat zwischen Atlantik und Ural mehr als 12.000 Kampfpanzer unterhalten dürfen. Die Gesamtzahl der Panzer auf beiden Seiten soll eine Obergrenze von 40.000 nicht überschreiten. “Dies würde eine Reduzierung für den Warschauer Pakt um mehr als 60 Prozent bedeuten, die NATO müßte zehn Prozent abbauen… Diese Forderung hat vor allen Dingen für die Sowjetunion und ihre großen Panzerbestände Bedeutung. Ihr blieben, wie allen anderen Staaten auch, nur höchstens 12.000 Panzer. Einschränkungen sollen vor allem für die außerhalb des eigenen Landes stationierten Streitkräfte wirksam werden. Dabei sollen auch Untergrenzen eingeführt werden, damit die Streitkräfte-Konzentration in Schlüsselregionen Europas unmöglich werde.” (Jan Reifenberg in: FAZ vom 9.12.1988)

Auf der Sitzung des Komitees der Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages im Januar 1989 gibt der Warschauer Pakt – noch vor Beginn der Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa – einen offiziellen Kräftevergleich der konventionellen Streitkräfte in Europa heraus.

Darin gibt er “eine Überlegenheit bei Panzern, Startrampen für taktische Raketen, Kampf-Abfangflugzeugen der Truppen der Luftverteidigung sowie bei Schützenpanzern, Schützenpanzerwagen und Artillerie” zu. (vgl. FAZ vom 31.1.1989; Süddeutsche Zeitung vom 8.2.1989).

III. Mandat und Ausgangslage bei den Wiener Verhandlungen

Das Mandat

Am 15. Januar 1989 wurde in Wien das Abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, das am 4. November 1986 begonnen hatte und am 19. Januar 1989 beendet worden ist, verabschiedet. Es enthält im Anhang u.a. auch das Mandat für die “Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa”, auf das sich die Verhandlungsdelegationen am 16. Januar 1989 im Wiener Palais Liechtenstein nach fast 23monatiger Verhandlungsdauer geeinigt hatten.

Die VKSE-Runden, die im Rahmen der Verhandlungen der 35 KSZE-Mitgliedsstaaten und parallel zu den Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Verifikation (KVAE) stattfinden, sollen die nach 15jähriger Verhandlungsdauer nahezu ergebnislos verlaufenden MBFR-“Verhandlungen über einen beiderseitigen, ausgewogenen Truppenabbau” in Europa ersetzen. Die VKSE-Verhandlungen der 23 und die KSZE-Folgekonferenzen sollen durch »eine enge bilaterale Kooperation und Information« gekoppelt werden. Das schließt eine Pflicht der Unterrichtung der 23 am KSZE-Prozeß Teilnehmenden gegenüber den Neutralen und Nichtpaktgebundenen Staaten durch die Vertreter der 23 ein. Die VKSE-Verhandlungen bleiben jedoch nach den gemeinsamen Verfahrensregeln eine selbstständige Konferenz: “Die Ergebnisse der Verhandlungen werden nur von den Teilnehmern bestimmt.”

Verhandelt werden soll über die Abrüstung konventioneller Waffen und Streitkräfte in dem “gesamten Landterritorium der Teilnehmer in Europa vom Atlantik bis zum Ural.” Ziel der Verhandlungen ist

  • “die Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte…auf niedrigerem Niveau”
  • “die Beseitigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für Stabilität und Sicherheit sind” und “als vorrangige Angelegenheit”
  • “die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung grossangelegter offensiver Handlungen”.

Als Methoden zur Erreichung dieser Ziele nennt das Mandat “Reduzierungen, Begrenzungen, Bestimmungen zu Umdislozierungen, gleiche Obergrenzen” und auch “regionale Differenzierungen, um Ungleichgewichte innerhalb des Anwendungsgebietes zu beseitigen.”

Als Verhandlungsgegenstand werden ausschließlich “die auf Land stationierten konventionellen Streitkräfte” benannt. Damit sind die Luftstreitkräfte von NATO und Warschauer Pakt grundsätzlich im Mandat enthalten. Kernwaffen, Seestreitkräfte und chemische Waffen sind von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Ein wichtiger strittiger Punkt der Vorverhandlungen waren die doppelt verwendbaren Waffensysteme. Der Warschauer Pakt hatte auf einer Einbeziehung bestanden, Frankreich dagegen war von Anfang an dagegen, um seinen Atomstatus nicht zu gefährden und indirekt in den NATO-Zusammenhang hineingezogen zu werden. Das Mandat sieht einen Kompromiß vor. Es bestimmt: “Keine konventionelle Bewaffnung oder Ausrüstung wird als Verhandlungsgegenstand ausgeschlossen, weil sie neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben kann. Solche Bewaffnung oder Ausrüstung wird nicht als gesonderte Kategorie herausgestellt.” Mit diesem auf den bundesdeutschen Außenminister Genscher zurückgehenden Kompromiß, diese Systeme nicht zu erwähnen, sollte zunächst gesichert werden, daß die Verhandlungen überhaupt aufgenommen werden können. Später soll dann konkret entschieden werden, welche Waffen zu welcher Zeit behandelt werden. (Der Spiegel, 40/1988, S. 22). Damit behält sich aber jede Seite das Recht vor, zu gegebener Zeit einzelne Waffensysteme und Streitpunkte solcher Art zu benennen. Für den Westen wären das dann Truppenstärken, Panzer und Kanonen, bei denen die NATO den Warschauer Pakt überlegen wähnt. Erst wenn diese “so weit abgebaut wären, daß sie nur noch Verteidigungszwecken dienen könnten” (FAZ vom 19.7.1988) könnte es dann für den Osten möglich sein die Kampfflugzeuge, bei denen er ein westliches Übergewicht sieht, einzubringen.

Darüberhinaus fordert das gemeinsame Mandat ein “wirksames und striktes Verifikationsregime” sowie das “Recht auf Vor-Ort-Inspektionen”. Jede Veränderung des Verhandlungsmandats kann nur mit Übereinstimmung aller Teilnehmer erfolgen: “Die erzielten Abkommen sollen international verbindlich sein. Über die Art ihres Inkrafttretens wird während der Verhandlung entschieden.”

Insgesamt gesehen ist das Mandat ein Erfolg der USA, da die Frage der taktischen Nuklearwaffen, die die Sowjetunion in die Verhandlungen einbezogen wissen wollte, nicht im Mandat enthalten sind. Wann parallele Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollen, ist derzeit noch unklar. In einer Verlautbarung der NATO in Brüssel im April wurde betont, daß für die NATO die Wiener Verhandlungen Vorrang vor möglichen Verhandlungen über die taktischen Nuklearwaffen haben. “Der Westen habe trotz der Aufforderung der Außenminister des Warschauer Pakts in Ost-Berlin, gleichzeitig über Kurzstreckenwaffen zu verhandeln, keinen Anlaß, von dem Ziel abzugehen, die Invasionsfähigkeit des Ostens und damit die unmittelbare Gefährdung Westeuropas zu beseitigen und Stabilität zwischen Atlantik und Ural herzustellen.” Damit will sich die NATO eine Modernisierungsoption vor allem deshalb offenhalten, um der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr der Denuklearisierung Europas zu entgehen, also nicht von der nuklearen Abschreckungsdoktrin abgehen zu müssen. (FAZ vom 14.4.1988).

Der westliche Verhandlungsvorschlag

In der Substanz umfasst der westliche Verhandlungsvorschlag nur die drei Waffensysteme, in denen er die Ungleichgewichte zugunsten des Ostens vermutet: Kampfpanzer, Artillerie, und gepanzerte Infanterie-Kampffahrzeuge. Hier sollen vor allem durch Vereinbarung gemeinsamer Obergrenzen Reduzierungen auf ca. 90% der Waffenbestände der NATO erreicht werden. Vorschläge für die Kampfflugzeuge liegen keine vor. Ihre Einbeziehung wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Der Westen will sie erst später in die Verhandlungen einbeziehen und darüber “erst nach Abschluß der ersten Verhandlungsphase mit der Verringerung der drei Hauptwaffenkategorien der konventionellen Rüstung reden.” (dpa, 6.3.1989).

Nach dem Willen des Westens soll

  • der Gesamtbestand im Vertragsgebiet zwischen Atlantik und Ural auf 40.000 Panzer, 33.000 Artilleriegeschütze und 56.000 Infanterie-Kampffahrzeuge reduziert werden. Das hieße, daß der Warschauer Pakt wie die NATO jeweils 20.000 Kampfpanzer, 16.500 Artilleriegeschütze und 28.000 Infanterie-Kampffahrzeuge besitzen dürfe.
  • kein Land soll – im Sinne der “Hinlänglichkeit (Suffizienz)” – dann in Europa mehr als dreißig Prozent dieser Gesamtzahl dieser drei Kategorien beibehalten, d.h. jeweils 12.000 Kampfpanzer, 10.000 Artilleriegeschütze und 16.800 Infanterie-Kampffahrzeuge.
  • bei den Bündnisstaaten, die Streitkräfte auf dem Territorium von Partnern unterhalten, soll bei den aktiven Verbänden die Zahl 3200 Panzer, 1700 Geschütze und 6000 Infanterie-Kampffahrzeuge nicht übersteigen.

Im Vorschlag der NATO ist der Gesamtraum der Reduzierungen in verschiedene ineinander verschachtelte Unterzonen untergliedert, in denen sukzessive die Verminderungen vorgenommen werden sollen. Es handelt sich um die Gebiete:

  • In der Zone 1: Vom Atlantik bis zum Ural sollen beide Pakt-Systeme in aktiven Verbänden nicht mehr als 11.300 Panzer, 9000 Artilleriegeschütze und 20.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten.
  • Die Zone 2: von Frankreich bis Weißrußland sollen in aktiven Einheiten nicht mehr als 10.300 Panzer, 7600 Artilleriegeschütze und 18.000 Infanterie-Kampffahrzeuge vorhanden sein.
  • Die Zone 3: umfasst nach NATO-Vorstellung die alte MBFR-Zone Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg, die Niederlande, die DDR, Polen und die CSSR. Hier sollen in den aktiven Einheiten nicht mehr als 8.000 Kampfpanzer, 4.500 Artilleriegeschütze und 11.000 Infanterie-Kampffahrzeuge unterhalten werden.

(Quelle: NATO-Vorschlag zu Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), Stichworte zur Sicherheitspolitik des Bundespresseamtes, Bonn, März 1989).

Darüberhinaus enthält der westliche Vorschlag weitere “Maßnahmen im Hinblick auf Stabilität, Verifikation und den Ausschluß einer Umgehung von Reduzierungsmaßnahmen” für notwendig: Transparenz-, Notifizierungs- und Beschränkungsmaßnahmen für die Dislozierung konventioneller Streitkräfte; Verifikationen und Vor-Ort-Inspektionen. Als “längerfristige Perspektive” der Verhandlungen nennt er

  • weitere Reduzierungen oder Begrenzungen konventioneller Waffen und Ausrüstung sowie
  • die Umstrukturierung von Streitkräften mit dem Ziel, ihre defensiven Fähigkeiten zu stärken und die offensiven Fähigkeiten weiter zu verringern.

Der Verhandlungsvorschlag des Ostens

Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse legte auf der Eröffnungssitzung der Wiener Konferenz für den Warschauer Pakt ein »Arbeitspapier» mit dem Titel “Konzeptioneller Ansatz zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa” vor. Nach diesem Vorschlag soll die Abrüstung in Europa in drei Etappen vor sich gehen:

  • Erste Etappe: (1991-94): Hier sollen die Asymmetrien zwischen den beiden Bündnissen, sowohl hinsichtlich der zahlenmäßigen Stärke, als auch der wichtigsten Rüstungsarten beseitigt werden. Außerdem soll mit dem Abbau der Offensivwaffen begonnen werden: Kampfflugzeuge, Panzer, Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und Artillerie. In dieser Etappe sollen die Streitkräfte auf gleiche gemeinsame Höchstgrenzen reduziert werden, die bei jeder Waffenart um 10 bis 15 Prozent niedriger liegen als das jetzige niedrigste Niveau eines der beiden Bündnisse.
    Dabei sollen auch Berechnungsregeln für einen einheitlichen Datenaustausch festgelegt werden. Ebenfalls in dieser ersten Etappe sollen entlang der Berührungslinie der beiden Bündnisse Gebiete eines verringerten Rüstungsniveaus geschaffen werden, aus denen die gefährlichsten Waffenarten entweder abgezogen oder begrenzt werden. Der Umfang, die Tiefe dieser Gebiete soll unter der Berücksichtigung geostrategischer und andere Faktoren erfolgen.
  • Zweite Etappe (1994-97): Darin sollen auf der Grundlage der dann bereits erreichten gleichen Höchstgrenzen beider Bündnisse weitere Reduzierungen vorgenommen werden. Die Streitkräfte mit ihrer Bewaffnung sollen um etwa 25 Prozent, das wären auf jeder Seite ca. 500.000 Mann verringert werden. Der Abbau der Offensivpotentiale soll in dieser Etappe weitergeführt werden und z.B. die im Mandat nicht genannten Rüstungskategorien, wie Seestreitkräfte erfasst werden. Gleichzeitig sollen Schritte auf eine defensive Umorientierung der Streitkräfte eingeleitet werden.
  • Dritte Etappe (1997-2000): Hier werden die Reduzierungen fortgesetzt bis zu dem Stand, wo keine Seite mehr die Mittel für einen Angriff besitzt. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch alle Rüstungskategorien von der Abrüstung erfasst sein. Zur Kontrolle der Vereinbarungen schlägt die Sowjetunion ein umfassendes System vor, einschließlich von Inspektionen vor Ort, auf dem Land und in der Luft und zwar ohne ein Recht auf Verweigerung. Kontrollpunkte sollen innerhalb der Reduzierungszone geschaffen werden, außerdem eine internationale Kontrollkommission mit umfassenden Vollmachten, der Vertreter aller Teilnehmerstaaten angehören.

Der sowjetische Vorschlag ist von Offenheit und Flexibilität geprägt. Während der Westen mit genauen numerischen Höchstgrenzen und einem detaillierten Regionalkonzept operiert, nennt der Osten nur Prozentzahlen, bekundete aber im Prinzip auch die Bereitschaft, Höchstgrenzen zuzustimmen. Generell ist der Vorschlag der Sowjetunion auch deutlich offener für tiefere Rüstungsschnitte, während die NATO nur unwesentlich (95%) unter ihr derzeitiges Niveau gehen möchte. Der SPD-Politiker Andreas von Bülow nennt den NATO-Ansatz deswegen “timide”. Er wolle Abrüstung nur in Form »homöopathischer Dosen» verabreichen. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Indem der Osten die Nennung konkreter Zahlen zunächst umging, weigerte er sich implizit einem rein quantitativen Kräftevergleich zuzustimmen und brachte damit die technologische Überlegenheit des Westens auf die Agenda der Konferenz in Wien. Die FAZ urteilt:“ Als besonders auffallend wertet man in westlichen Verhandlungskreisen die Tatsache, daß der Osten seinen Vorschlag so allgemein formuliert hat. Man zögert, dies als einen Mangel zu bewerten, sondern hält es für möglich, daß dahinter die Absicht steht, sich die Möglichkeit des Eingehens auf konkrete Vorschläge der anderen Seite zu belassen.” (FAZ vom 11.3.1989) Damit hält sich die sowjetische Seite offensichtlich auch die Möglichkeit offen, im kommenden Verhandlungs- und Diskussionsverlauf den Gang der Auseinandersetzung mit weiteren einseitigen Aktionen zu begleiten. Das Interesse der UdSSR nach einem dynamischen Verhandlungsprozeß wird auch daran deutlich, daß der sowjetische Außenminister Schewardnadse vorgeschlagen hat, zweimal im Jahr eine Außenministerkonferenz in den Verhandlungsprozeß zu integrieren, damit das “Feuer” der Verhandlungsführung erhalten bleibe.

(Quelle: Monitor-Dienst, Stimme der DDR, 10.3.1989; FAZ vom 11.3.1989; Kurier (Wien), vom 9.3.1989, Süddeutsche Zeitung vom 7.3.1989).

Nach dem Ende der ersten Verhandlungsperiode wird die sowjetische Absicht deutlich, nun bereits die Kampfflugzeuge, bei denen der Osten eine Überlegenheit der NATO vermutet, in ein erstes Abkommen mit einbeziehen zu wollen. Die westlichen Staaten befürworten dies erst nach erfolgter Einigung bei der Abrüstung der übrigen Kategorien: “Die sowjetischen Sprecher, der Verhandlungsführer Grinevski und sein militärischer Berater, General Tatarnikov, machten in Wien deutlich, daß ihre Regierung auf die Einbeziehung bestimmter Kategorien von Kampfflugzeugen, nämlich von Jagdbombern, in ein erstes Abkommen dringt.” Der Westen bezweifelte die östlichen Zahlenangaben in dieser Kategorie und lehnt außerdem die von der UdSSR bevorzugte Ausklammerung der der Heimatverteidigung dienenden sowjetischen Kampfflugzeuge ab. Die indirekte Einbeziehung dieser Kategorie in die Verhandlungen dadurch, daß sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden, war ein Kompromiß innerhalb der westlichen Staaten. Zwar bleibt, wie die FAZ berichtet, (auf westlicher Seite unbestritten, daß die Flugzeuge, obwohl deren hohe Beweglichkeit sie zu einer Sonderkategorie macht, die nicht zur direkten »Invasionsfähigkeit« beider Seiten zählt, auf die Dauer nicht aus den VKSE-Verhandlungen ausgeschlossen werden können.” (Jan Reifenberg: Ernsthafte Abrüstungsgespräche in Wien, FAZ vom 25.3.1989) Die sowjetische Absicht wird hier nun aber als Versuch gewertet, die Einigkeit des Bündnisses zu erproben und so die Verhandlungen früh zu gefährden, wiewohl unbestritten ist, daß Kampfflugzeuge eindeutig ebenso offensive Fähigkeiten besitzen wie Panzer usw. (Karl Feldmeyer: Moskau hat den Hebel angesetzt, in: FAZ vom 7.4.1989).

In der letzten Verhandlungsrunde Anfang Mai in Wien hat der Warschauer Pakt ein eigenes Regionalkonzept vorgelegt. Darin spricht er von einer Verhandlungszone mit einem nördlichen und südlichen Teil, in dem jeweils eigene Teilobergrenzen der Reduzierung gelten sollen. Die Zone erstreckt sich vom Nordkap bis zum Kaukasus.

Würden nur einige der Ziele der Verhandlungen erreicht und Angriffshandlungen unmöglich gemacht, würde erstmals ein qualitativer Übergang von der konventionellen Rüstungskontrolle zur konventionellen Abrüstung erreicht. Wenn also auch die verkündete “Hoffnung auf ein neues Zeitalter” (Christoph Bertram in: Die Zeit, Nr. 11 vom 10.3.1989) ein wenig verfrüht erscheinen mag, so sehen doch selbst konservative Interpreten die Chancen dieser Entwicklung. Für sie bestehe sie immerhin darin, einen “Prozeß einzuleiten, der zu Vereinbarungen in Gestalt eines Sicherheitssystems auf Gegenseitigkeit führt.” (Wolfram von Raven in: Europäische Wehrkunde, 2/1989, S. 94). Der Bonner Verhandlungsleiter bei der VKSE-Runde Heydrich ergänzt: “Der Westen hat noch gar nicht richtig verstanden, was in Wien wirklich geschieht. Bisher haben wir alles unter Konfrontations-Aspekten gesehen. Hier aber entsteht ein gemeinsames Kooperations- und Kontrollsystem, das alle Voraussetzungen der politischen Arbeit verändert.” (Bonner Generalanzeiger, 23. 3. 1989). Das wäre dann in der Tat ein wichtiger Schritt hin auf ein “Neues Europa”, wie es der sowjetische Außenminister Schewardnadse zur Eröffnung der VKSE beschwor. (Die Welt vom 6.3.1989)

Es wäre angesichts der fast unentwirrbaren Menge von Streitkräften, Ausrüstungen und Waffensystemen in Europa aber illusionär zu glauben, daß sich die 23 Delegationen in Wien bald zu konkreten Abrüstungsschritten einigen könnten. Bei allen Annäherungen gibt es nach wie vor außerordentlich schwer zu überbrückende Differenzen, die sich vor allem auf die gegenseitige Gesamtbeurteilung des Kräfteverhältnisses, unterschiedliche Perzeptionen der geostrategischen Lage, verschiedene Einschätzungen der Reduzierungsankündigungen des Warschauer Paktes, der Militärdoktrinen und vor allem der taktischen Nuklearwaffen beziehen. Bonn, aber auch offensichtlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse rechnen mit ersten notifizierbaren Erfolgen wohl frühestens in drei Jahren. (FAZ vom 2.3.1989; SZ vom 7.3.1989).

IV. Probleme konventioneller Rüstung in Europa

NATO-Strategie und Rolle der Nuklearwaffen

Die taktischen Nuklearwaffen in Europa sind nicht Verhandlungsgegenstand in Wien, werden aber in besonderer Weise Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz mitbestimmen.

Die NATO sieht in der Existenz von taktischen Nuklearwaffen auch für die absehbare Zukunft einen Garanten westlicher Sicherheit. Deshalb plädierte auch NATO-Generalsekretär Manfred Wörner dafür, ständig “ein Minimum” an Nuklearwaffen “auf dem neuesten Stand” zu halten. (Süddeutsche Zeitung vom 8.3.1989)

Ein ständiger Modernisierungsbedarf ist also auch weiterhin programmiert.

Die NATO verfolgt mit ihren atomaren Systemen in Europa mindestens zwei zentrale (Abschreckungs-)Ziele:

  1. “Ankopplung” an den “Schutzschild” des nuklearstrategischen Potentials der USA durch einen lückenlosen “Eskalationsverbund”.
  2. Kompensation der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes durch Androhung nuklearen Ersteinsatzes im Krisenfall, Schläge gegen hohe gegnerische Truppenkonzentrationen und nukleare “Warnschläge”.

Die nukleare Abschreckungsdoktrin der NATO hat jedoch zu einem überdimensionierten Atomwaffenarsenal geführt, das strukturell und technisch in einer unentwirrbaren Weise mit der konventionellen Rüstung verkoppelt ist. Beides – die zahlreichen doppelt (atomar und konventionell) verwendungsfähigen (dual capable) Trägersysteme wie Flugzeuge, Artillerie und Raketen und die laufenden Modernisierungen werden die Perspektiven konventioneller Abrüstung beeinträchtigen:

  1. Die Verifikation der doppelt verwendbaren Systeme wird erschwert, wenn nur eine Kategorie abgerüstet werden soll.
  2. Die NATO hat ein zusätzliches Interesse, Flugzeuge und Raketen als atomare Trägersysteme möglichst lange aus den Wiener Gesprächen herauszuhalten. Das führt zu einer unfruchtbaren Verhandlungsposition, wenn zunächst nur die überlegenen Landstreitkräfte des WP, die offensiven Optionen der NATO hingegen erst später behandelt werden sollen. Wie soll den WP-Staaten plausibel gemacht werden, daß prioritär ihre Panzer abzubauen seien, die dann einer atomar aufgerüsteten NATO gegenüberstünden, deren Luftflotte um keinen Deut vermindert wäre.
  3. Atomare “Modernisierungen” und Aufrüstungsvorhaben, die durch die “dual-capables” auch konventionelle Systeme betreffen würden, wirken lähmend auf den gesamten Abrüstungsprozeß.

Dennoch verstärkt sich innerhalb der NATO der Druck der Modernisierungsbefürworter. Ende April drang aus militärischen Kreisen um den NATO-Oberbefehlshaber Europa, Galvin, drohend durch, daß die Vereinigten Staaten ihre Truppen in der Bundesrepublik nur dann belassen werde, “wenn ihnen das gesamte Spektrum zur Abschreckung notwendiger Waffen, also auch atomare Kurzstreckenwaffen, zur Verfügung stünde.” (FAZ, 29.4.89) Man sieht in Brüssel und Washington die Gefahr einer Demontierung der gültigen Strategien “Vorneverteidigung” und “flexible response”, die solange gültig bleiben müßten, bis die “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Paktes beseitigt sei. Ein solch zähes Festhalten an nuklearen Angriffsoptionen, die mit angeblichen Verteidigungserfordernissen begründet werden, dokumentiert den “überproportionalen Einfluß des Denkens der U.S. Army, die eine starke Neigung zu offensiven, siegorientierten Optionen zeigt.” (HSFK, Modernisierung und kein Ende?, HSFK-Report 1-2/1989, April 1989, S. 52). Der Verdacht liegt heute näher denn je, daß Nuklearsysteme ganz konkrete Kriegsführungsoptionen wahrnehmen sollen. Selbst der Chef des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr, Flottillenadmiral Schmähling räumt angesichts der jüngsten Erfahrung mit der Wintex-Cimex-Übung ein: “Der Widerspruch zwischen militärischer und politischer Rollenzuweisung an Nuklearwaffen tritt in Europa immer deutlicher zutage.” (Der Spiegel, 1. Mai 1989)

Angesichts solcher Gefahren unterstrich der sowjetische Außenminister Schewardnadse auf der Wiener KSZE-Schlußberatung am 19. Januar 1989 und ähnlich auf der Eröffnung der Wiener VKSE-Konferenz die seit langem bekannte sowjetische Position mit den Worten: “Wir gehen eindeutig von der Prämisse aus, daß Nuklearraketenmodernisierung einen Schritt rückwärts und nicht nach vorne darstellt. … und ich bekräftige: die Sowjetunion ist nicht dabei, ihre taktischen Nuklearraketen zu modernisieren”, (zitiert nach: Frieden und Abrüstung Nr. 1/1989).

Unterschiedliche Perzeption des konventionellen Kräfteverhältnisses

Ein weiterer Stolperstein: Die gravierenden Unterschiede in der Einschätzung des konventionellen Kräfteverhältnisses.

Im November 1988 und Januar 1989 legten NATO und Warschauer Pakt ihre offiziellen Versionen des konventionellen Kräfteverhältnisses in Europa vor.

Anhand der beiden Kräftevergleiche lassen sich Möglichkeiten und Grenzen der Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle bereits erahnen.

Die NATO zählt aussschließlich Land- und Luftstreitkräfte, was durchaus in Einklang mit dem Wiener Mandat steht. Der Warschauer Pakt betont in seiner Gegenüberstellung hingegen die Bedeutung der westlichen Seestreitkräfte für die Nachschublinien aus den USA. Dies ist aus seiner geostrategischen Perspektive verständlich; gleichwohl bleibt die maritime Komponente aus den Wiener Verhandlungen ausgeklammert.

Durch diese unterschiedliche Sichtweise kommt es etwa bei der Einschätzung der Streitkräfte-Personalstärke auch zu differierenden Zahlen. Während der WP hier von einer Parität ausgeht (WP: 3,57 Mio. / NATO: 3,66 Mio.), konstatiert die NATO ein deutliches Übergewicht von 1,4 : 1 zugunsten des Warschauer Pakts (WP: 3,09 Mio. / NATO: 2,21 Mio.). Noch extremer liegen die Werte bei den Kampfflugzeugen auseinander. Die WVO sieht sich hier nur minimal im Vorteil (WP: 7876 / NATO: 7130, Verhältnis 1,1: 1). Die NATO hingegen ermittelt eine doppelte Überlegenheit des östlichen Bündnisses (WP: 8250 / NATO: 3977).

Die meisten anderen Vergleichswerte mit extrem unterschiedlicher Ausprägung resultieren aus differierenden Zählkriterien – Beispiel: (Kampf-)Panzer. Die NATO kommt hier zu einer dreieinhalbfachen WP-überlegenheit (WP: 51500 / NATO: 16424). Der Warschauer Pakt subsummiert unter die unspezifischere Kategorie “Panzer” lediglich ein Verhältnis 1,9 : 1 (WP: 59470 / NATO: 30690). Ähnliches gilt für die Artillerie; die NATO zählt hier nur schwere Geschütze und Mörser über 100mm Kaliber, der WP hingegen berechnet auch Geschütze ab 75mm und Mörser ab 50mm. So nimmt es nicht wunder, daß verschiedene Werte deklariert werden NATO: WP 43400 / NATO 14458 (3 : 1): WP: WP 71560 / NATO 57060 (1,3 : 1). Gleichwohl fällt hier auf, daß die extreme Spanne der auseinanderliegenden Zahlen dennoch nicht erklärbar ist. Auch einige andere Differenzen entziehen sich der Deutung. In der ersten VKSE-Runde wird es daher eine Menge zu tun geben, alle Daten kontrolliert und exakt zu ermitteln. Insgesamt erweist es sich, daß der Warschauer Pakt mit seinem Kräftevergleich die alte These von einer generellen Parität mit der NATO stützen wollte. Dies hat das westliche Bündnis immer bestritten (SZ, 1.2.89).

Zweierlei bleibt aber positiv anzumerken:

  1. Der Warschauer Pakt hat erstmals einen Kräftevergleich der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Dies ist eine glaubwürdige Geste im Rahmen von Glasnost auch in den Streitkräften.
  2. Dieser Kräftevergleich ist durchaus ernstzunehmen und gibt ein konstruktives politisches Signal, weil er spezifische Überlegenheiten des Warschauer Paktes zugibt. Bei 11 von den 26 Zählkategorien konzediert der WP Asymmetrien zu seinen Gunsten. Aus westlicher Sicht besonders erfreulich sind die Zahlen zu den “Startrampen für taktische Raketen” (WP: 1608 / NATO: 136, Verhältnis 11,8 : 1).
  3. Auch bei den zentralen Großkampfgeräten wie Panzern und Artillerie sieht sich die WVO vorn (siehe SZ, 8.2.89)

Die Kompliziertheit der militärischen Materie endet natürlich nicht bei numerischen Zahlenverhältnissen, dem berüchtigten und politisch mißbrauchbaren “Erbsenzählen”. Qualitative, strukturelle, geographische und geostrategische Dimensionen vielfältigster Art und Bezugspunkte kommen hinzu, um die Kampfkraft von Streitkräften zu beurteilen. Je nach Gewichtung solcher Faktoren können im Extremfall numerische Relationen auf den Kopf gestellt werden.

Beispiel: Kampfpanzer. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Warschauer Paktes ist mittlerweile in Ost wie West unstrittig (siehe oben). Man braucht jedoch aus den vielen zusätzlichen und notwendigen Beurteilungskriterien nur eines herauszunehmen, um zu völlig veränderten Ergebnissen zu kommen. Beispiel: Herstellungsjahr der Panzer. Über 90% aller WP-Panzer sind vor 1975 erbaut worden, sie sind also nach dem neuesten technischen Stand völlig überaltert. Von den Panzern, die seit 1975 erbaut wurden, besitzt die NATO eine dreifache Überlegenheit (9095 zu 2950) (siehe Carl Levin, Beyond the Bean Count, Bericht an den Vorsitzenden des Streitkräfteausschusses des U.S. Senats, Sam Nunn, 1988, zit. nach “Frieden und Abrüstung”, Nr. 28, Schluß mit der Erbsenzählerei, S. 52)

Auch wenn die SU-Panzer nachgebessert werden, bleibt aber zwischen einem hochmodernen NATO-Kampfpanzer und einem lediglich modernisierten WP-“Veteran” nicht zuletzt auf Grund westlicher technologischer Überlegenheit ein riesiger Unterschied. Zwei renommierte Verteidigungsexperten, Malcolm Chalmers und Lutz Unterseher kamen bereits 1987 in der Studie “Is there a tank gap?” unter Berücksichtigung sehr vieler qualitativer, szenariengebundener Aspekte gar zum Schluß, daß die NATO eine leichte Kampfpanzerüberlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt in Mitteleuropa hat (Siehe: Chalmers, Unterseher, Is there a tank gap? A comparative assessment of the tank fleets of NATO and the Warsaw Pact, Oktober 1987)!

Auch wer dieses Ergebnis für unrealistisch hält, muß zugestehen, daß bei der Gegenüberstellung von Kräfteverhältnissen immer wieder die falsche Vergleichsgrundlage gewählt wird; so ist es allemal fragwürdig Kampfpanzer mit Kampfpanzer aufzurechnen. Das offensive Kampfsystem des WP sollte man zunächst nur in Beziehung setzen zu dem entsprechenden Defensivsystem der NATO. Gerade bei den Panzerabwehrwaffen, deren panzerbrechende Fähigkeiten selbst das modernste Kettenfahrzeug des Warschauer Pakts fürchten muß, erfreut sich das westliche Bündnis aber einer beachtlichen (nicht nur technischen) Überlegenheit (Siehe z.B. Admiral (ret.) Antoine Sanguinetti, Einseitiges Übergewicht oder Gleichgewicht der beiden Blöcke im Konventionellen Bereich, Occasional Papers Nr. 3, Generals for Peace and Disarmament, 1987/88 S.3f.).

Diese Diskussion könnte man bis in die entlegensten militärischen Details im Für und Wider weiterführen. Dies wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß es kein Monopol für die Beurteilung militärischer Kräfteverhältnisse gibt. Dieses können weder die NATO noch die WP-spezialisten für sich in Anspruch nehmen. Die konkrete zahlenmäßige Gestalt von militärischen Stärkerelationen ist immer auf die Interessengebundenheit ihrer Urheber, sowie ihrer politischen Zielsetzungen hin zu analysieren. Wichtig ist es, daß in Wien gemeinsame Zählkriterien vereinbart werden können.

Invasionsfähigkeit?

Die WP-Fähigkeit zu großangelegten Offensiven – in der Bundesrepublik hat sogar der Begriff “Invasionsfähigkeit” Karriere gemacht – scheint von maßgeblichen NATO-Kreisen hingegen vielfach überschätzt zu werden. Denn der Zeitfaktor spielt hier eine andere Rolle als beim Überraschungsangriff. Je länger eine WP-Offensive dauerte, desto stärker würden sich die überlegenen Eigenschaften der NATO-Streitkräfte wie Einsatzfähigkeit, Ausbildungsstand und Qualität der Waffensysteme auswirken. (Es erscheint daher überzogen, von einer “Invasionsfähigkeit” des Warschauer Pakts zu sprechen. Denn dieser Begriff entstammt nicht etwa dem militärischen Vokabular, sondern wurde vor einigen Jahren aus Bonner Regierungskreisen politisch lanciert (siehe die Studie des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung von Wulf Lapins, Besitzt der Warschauer Pakt eine “Invasionsfähigkeit”?, Bonn 1987). Er überhöht die konventionelle Bedrohung durch den Warschauer Pakt. Mit einer “Invasion” verbindet man das feindliche Einrücken von Truppen in fremdes Gebiet (als raumbesetzende Operation); damit weckt dieser Terminus auch Vorstellungen einer irreversiblen Okkupation.

Einseitige SU-Reduzierungen

Von den 5300 Panzern, die Gorbatschow unilateral aus Ostmitteleuropa abziehen will, müßten nach Auflösung von sechs Panzerdivisionen und Rückverlegung von fünf Panzerausbildungsregimentern immerhin 2860 Panzer durch die Defensivstrukturierung der übrigen 24 sowjetischen Divisionen (10 Panzer- und 14 Mot-Schützendivisionen) frei werden. General Batenin konkretisierte dies im Februar 1989 gegenüber einer SPD-Delegation in Moskau. Nach einem bestimmten Modus sollen in den Mot. Schützendivisionen und Panzerdivisionen Panzerregimenter mit 95 Panzern durch Mot. Schützenregimenter mit 40 Panzern ersetzt werden. Zusammen mit dem Austausch bestimmter Panzerbataillone durch Mot. Schützenbataillone in ausgewählten Panzerregimentern der Panzerdivisionen ergibt sich in der Tat die von Gorbatschow angekündigte Gesamtgrößenordnung von 5300 Panzern (FR, 24.2.89, sowie antimilitarismus information, ami, Nr. 5/89, S. 5).

Zu diesen sowjetischen Maßnahmen kommen die Ankündigungen einseitiger Reduzierungen aus den meisten anderen WVO-Staaten. Die DDR z.B. baut ihre Streitkräfte um 10.000 Mann ab, löst 6 Panzerregimenter auf, reduziert 600 Panzer, 50 Kampfflugzeuge und ihren Verteidigungsetat um 10%.

Diese Initiativen werden im Westen zwar fast durchweg positiv, gleichwohl unterschiedlich bewertet. Es ist strittig, ob die sowjetischen Maßnahmen allein einen signifikanten Verlust an Offensivfähigkeit bedeuten oder nur eine “notwendige Anpassung an die veränderten Gefechtsfeldrahmenbedingungen” (FAZ, 6.3.89) darstellen. Nicht wenige Experten argumentieren, daß der Kampfkraftverlust der Streitkräfte auf dem Territorium der Sowjetunion eher gering ist.

Hans-Joachim Schmidt von der HSFK kommt aber insgesamt zum Schluß, daß die “Fähigkeit (des Warschauer Paktes) zum Angriff nach kurzer Vorbereitungszeit … weiter signifikant abgebaut und die Zeitdauer für die Mobilisierung erhöht” worden ist. Das östliche konventionelle Übergewicht sei zwar noch nicht abgebaut, aber “bedeutsam reduziert” (FR 24.2.89). Aber die NATO will nicht wahrhaben, was sich ändert.

Militärdoktrinen und Defensivität

“Die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes hat ausschließlich Verteidigungscharakter” – so steht es in einem Dokument des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes vom 28./29. Mai 1987. An anderer Stelle heißt es: “Die Streitkräfte der verbündeten Staaten werden in einer Gefechtsbereitschaft gehalten, die ausreicht, um nicht überrascht zu werden. Falls dennoch ein Angriff gegen sie verübt wird, werden sie dem Aggressor eine vernichtende Abfuhr erteilen.” In welcher Form? Durch Gegenangriffe auf feindliches Territorium? Offensive Optionen innerhalb seines Verteidigungskonzepts schien der Warschauer Pakt nicht auszuschließen, wenn man u.a. liest: “Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages werden niemals und unter keinen Umständen militärische Handlungen gegen einen beliebigen Staat oder ein Staatenbündnis beginnen, wenn sie nicht selbst einem bewaffneten Überfall ausgesetzt sind.” Diese Formulierung ließ zumindest offen, ob nicht auch offensive Operationen gegen feindliches Territorium durchgeführt werden sollen. Pauschale westliche Stellungnahmen, an dem offensiven Charakter der sowjetischen Militärdoktrin habe sich nichts geändert, reflektieren allerdings nicht die Implikationen der “eigenen” Doktrin und übersehen zudem die beachtlichen östlichen Zugeständnisse im militärischen Denken; denn die Sowjetunion hat in den letzten zwei Jahren viel unternommen, um ihrer Doktrin einen strikteren Defensivcharakter zu verleihen.

  1. Erstmals wurde die östliche Militärdoktrin vom Warschauer Pakt offiziell festgeschrieben (am 28./29. Mai 1987 auf der Tagung des Politschen Beratenden Ausschusses in Berlin).
  2. Zusätzlich wurden der NATO Gespräche über den Vergleich beider Doktrinen vorgeschlagen. Dabei soll gemeinsam der Charakter der Doktrinen und ihre zukünftige Ausrichtung erörtert werden. Der WP sieht seinen Vorstoß als vertrauensbildende Maßnahme, indem er zu einem besseren Verständnis der beiderseitigen Absichten beitragen und gewährleisten könnte, daß die Militärkonzeptionen und -doktrinen beider Militärblöcke und ihrer Teilnehmer auf Verteidigungsprinzipien beruhen. Ein Treffen der Verteidigungsminister Carlucci und Jasow im März 1988 in Bern diente diesem Zweck.
  3. Die qualitativen Veränderungen im sowjetischen militärischen Denken in den letzten Jahren sind beträchtlich. Zwei Punkte seien herausgegriffen:
  4. Die Führung von Präventivschlägen, um einem Angreifer zuvorzukommen, wird nicht mehr gefordert.
  5. Neue Definition des Begriffes »Aggression«; darunter wird nicht mehr die “Absicht zu einem Überfall” verstanden, was ja erhebliche Interpretationsspielräume zuließe, sondern nur noch der reale Beginn der feindlichen Operationen.

Neuerdings soll eine Verteidigung aufgebaut werden, die einen Angriff auf das Territorium der Warschauer-Vertrags-Staaten lediglich abwehrt und die nicht über Paktgrenzen hinausgeht. Auch die Lehrmittel und Instruktionen für die Ausbildung der Offiziere sind bereits im Hinblick auf eine defensive Ausrichtung der Doktrin umgestellt worden (Erklärung der SPD-Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs und Gernot Erler vom 14. Februar 1989 nach einer Informationsreise in die Sowjetunion). Die Tatsache, daß die östliche Dialogbereitschaft nun auch das Thema Militärdoktrinen nicht ausklammert, sollte vom Westen entschlossen genutzt werden.

Denn auch die NATO hat genügend Grund ihre eigenen offensiven Optionen zu reflektieren. Die Bundeswehr-Strategie der Vorneverteidigung, die amerikanische Heeresdoktrin Air Land Battle (ALB) und die NATO-Strategie Follow-on-Forces-Attack (FOFA) sehen im Fall eines WP-Angriffs innerhalb der “flexible response” massive Schläge gegen feindliches Hinterland und andere Formen offensiver Kriegsführung vor. Im Weißbuch 1985 steht der auch heute gültige Grundsatz: “Verteidigung kann nicht bedeuten, daß der Angreifer sein Territorium als Sanktuarium betrachten und das Schadensrisiko allein dem Angegriffenen aufbürden kann. Die Fähigkeit zur Bekämpfung des Gegners mit Waffenwirkung in der Tiefe ist schon seit langem Bestandteil der Strategie der Flexiblen Reaktion.” (BMVG, Weißbuch 1985, S. 28f.).

Hemmnisse: altes Denken, neues Denken

Die vielfach zu beobachtende Skepsis und Zurückhaltung westlicher Fachleute über die deklarierte Defensivorientierung der sowjetischen Militärdoktrin (siehe z.B. Gerhard Wettig in Aussenpolitik II/1988, S. 172ff.) nährt sich aus nicht überwundenem Mißtrauen gegenüber einer angeblich ungebrochenen aggressiven Tendenz des Kommunismus.

Der »Leitfaden« des Hardthöhen-Generalinspekteurs Wellershoff nimmt hier eine Extremposition ein. Dieses Kompendium war als interne militärpolitische Argumentationshilfe gedacht und ging Mitte März 1989 an alle Kommandeure der Bundeswehr. Dort heißt es zum Beispiel: “Es zeichnet sich keine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik ab. Geändert haben sich vor allem Stil, Taktik und Klima der politischen Auseinandersetzung” (zit. nach Stuttgarter Zeitung, 16. März 1989). “Auch »Friedliche Koexistenz« und Abrüstungsverhandlungen bedeuten nicht etwa Stillstand oder Abbruch der Auseinandersetzung, sondern lediglich eine Phase, die zur Schwächung des Gegners genutzt werden soll, z.B. durch verstärkten ideologischen Kampf.” (zitiert nach Süddeutsche Zeitung, 15.3.1989). Wellershoff kommt zum Schluß, “daß sich am grundlegenden Ziel, dem “Sieg des Kommunismus” im Weltmaßstab nichts geändert habe (siehe auch taz, Express v. 15.3.89).

Gegen eine solche Sichtweise sprechen die programmatisch-ideologischen Neuerungen der »Perestroika» für die Außenpolitk:

  1. Verzicht auf eine finale geschichtsphilosophische Perspektive, die von Lenin bis Breschnew das östliche staatskommunistische Denken prägte. Die Geschichte ist offen. Die Behauptung eines Sieges des Kommunismus im Weltmaßstab wird nicht mehr weiter aufrechterhalten.
  2. Damit verliert auch die »Friedliche Koexistenz« ihren “janusköpfigen Charakter”. Dieses Prinzip ist nicht mehr einem geschichtsnotwendigen “Meisterplan zur Weltrevolution” verpflichtet, ist nicht mehr lediglich eine “Atempause” im mörderischen Kampf mit dem “kapitalistischen Lager”. “Die Konzeption der Friedlichen Koexistenz wird im »Neuen Denken« vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck weiterentwickelt”, der sich nur noch der friedlichen Gestaltung der Gegenwart verpflichtet ist. Sie wird zu einer den Status quo achtenden “neuen Theorie des Friedens” (Karsten Voigt in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 4/1989, S. 308f.).
  3. Betonung und Begrüßung der Vielfalt der Welt. Damit verbunden eine Absage an Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Das gilt auch für die eigenen Verbündeten: der auch früher zumindest deklaratorisch geltende Grundsatz von den “verschiedenen Wegen des/zum Sozialismus” wird heute voll umgesetzt. Moskau läßt den ungarischen Kurs hin zu einem demokratischen Mehrparteiensystem ebenso gewähren wie den dogmatischen Kurs der DDR. Nie war das alte Wort vom Polyzentrismus zutreffender als heute.
  4. Verzicht auf “Revolutionsexport”. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan ist das spektakulärste Beleg dafür, daß Moskau nicht mehr in alten Kategorien des Bipolarismus denkt. Infiltrationen, Okkupationen und Stellvertreterkriege in der »Dritten Welt« für zweifelhafte Geländegewinne im Ost-West-Konflikt gehören der Vergangenheit an.
  5. Ebenso die Vorstellung von der Weltpolitik als globalisierter Klassenkampf. Im Neuen Denken ist der zentrale Bezugspunkt nicht mehr eine Klasse, sondern die Menschheit als Ganzes. “Der weitere Friedensprozeß ist jetzt nur über den Weg eines allgemeinmenschlichen Konsenses zur Schaffung einer neuen Weltordnung möglich”, sagte Gorbatschow in seiner UN-Rede vom 7. Dezember 1988.

Diese zentralen Aspekte des außenpolitischen Credos der Perestroika werden in überzeugender Weise durch die bahnbrechenden innersowjetischen Reform- und Demokratisierungsprozesse beglaubigt.

Wer diese gravierenden und komplexen Entwicklungen in der UdSSR ignoriert, verrät einen erschreckenden Mangel an (real)politischer Phantasie und Konzeptlosigkeit. Er flüchtet in (irreale) rückwärtsgewandte Negativutopien des hochgerüsteten Blockantagonismus aus Zeiten des Kalten Krieges. “Zum ersten Mal in der Geschichte des (NATO) Bündnisses droht sein potentieller Gegner oder Feind, die Bedrohung wegzunehmen.” (Egon Bahr auf der 26. Wehrkundetagung in München, zit. nach Manuskript, 12.1.89). Das kann doch nun nicht heißen, das die derzeitige militärische Gestalt der NATO quasi zeitlos gültig und unangetastet bleibt.

Die Perestroika ist ein Angebot, gemeinsam mit dem Westen das internationale Staatensystem zu reformieren. Diese Offerte sollte nach eingehender Prüfung energisch genutzt werden. Eine Voraussetzung hierfür aber ist die Bereitschaft der NATO, sich auf die antizipierte Logik neuer kooperativer Formen der Weltpolitik einzulassen.

V. Die Diskussion und der politische Prozess in der Bundesrepublik

Abrüstung-Militär-Akzeptanz-Öffentlichkeit

Die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik und die Diskussion, die um die konventionelle wie die weitere nukleare Abrüstung geführt werden, unterscheiden sich wesentlich von der Stimmungslage, wie sie die Auseinandersetzung um die Pershing II und die Cruise Missiles kennzeichnete. 1988/1989 ist nicht 1983. Es gibt heute neue Ideen, veränderte Kräfteverhältnisse, drängende globale Notwendigkeiten und durch die Friedensbewegung eine neue Form der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Friedens- und Sicherheitspolitik. Die Politik von Glasnost und Perestroika hat zu einem Schwinden der Bedrohungsgefühle gegenüber den osteuropäischen Staaten geführt. Das alte Feindbild schwindet, gleichzeitig verliert die Politik der militärischen Stärke und der Androhung wechselseitiger nuklearer Selbstvernichtung an Akzeptanz. In Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verstärken sich angesichts der Perzeption einer zunehmenden Verwundbarkeit unserer hochindustrialisierten Zivilisation die Zweifel an jeder Art von militärischer Verteidigungspolitik. Fast alle Entscheidungen der Bonner Regierungskoalition in Sachen Militär, Abrüstung und Rüstungskontrolle waren von diesen Rahmenbedingungen geprägt. Das gilt für die halbherzige Kanzlerentscheidung zum Verzicht auf die Pershing IA wie für die Rücknahme der umstrittenen Wehrdienstverlängerung auf 18 Monate. Die Dominanz einer antinuklearen Stimmung in der Bevölkerung ist offensichtlich und schafft andere Voraussetzungen für die Zuspitzung der Diskussion um die anstehenden Abrüstungsperspektiven.

Auch die innenpolitischepolitische Diskussion in der Bundesrepublik um die konventionelle Abrüstung spiegelt diese veränderten Bedingungen. Sie oszilliert zwischen atavistischen Rückfällen in nukleares Stärkedenken, Versuchen durch symbolische Akte dem antinuklearen und antimilitaristischen Trend die Spitze zu nehmen und kompromißhafter Hilflosigkeit im Hinblick auf die eigenständige Formulierung von Abrüstungsinteressen der Bundesrepublik vor allem gegenüber den USA in einer Phase tiefgreifenden europäischen Wandels. Die Rangeleien um den jüngsten Koalitionskompromiß zur Frage der Bonner Haltung in der »Modernisierungs“frage vor dem Brüsseler NATO-Gipfel sind ein Beispiel dafür. Dem Umbruch in der Sowjetunion steht noch kein gleichwertiges Äquivalent im Westen oder in der Bundesrepublik gegenüber. Die innenpolitische Situation zeigt zudem eine große Asymmetrie der treibenden Kräfte für ein Konzept konventioneller Abrüstung. Um heute jedoch – im Gegensatz zu dem Ziel der Verhinderung einer qualitativ hochwertigen Aufrüstungsmaßnahme – das anspruchsvollere positive Ziel einer weitergehenden und tiefergreifenden konventionellen Abrüstung in ganz Europa durchzusetzen bedarf es aber eines umfassenderen gesellschaftlichen Konsenses (Wolfgang Zellner, Das Mandat von Wien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/1989).

Die weitestgehende Position in der Bundesrepublik vertritt die

SPD: Überwindung der Abschreckung…

In ihrem Parteitagsbeschluß von Münster fordert sie im Rahmen ihres Willens zur Überwindung der Abschreckung, “in Europa einen Zustand des gesicherten Friedens durch strukturelle Angriffsunfähigkeit beider Seiten auf möglichst niedrigem Niveau der Streitkräfte zu schaffen”. Gleichzeitig fordert sie explizit einen über das Genfer Mandat hinausgehenden Verhandlungsbereich: “Die Verhandlungen…sollten das Ziel haben, die Streitkräfte so zu vermindern, daß sie verteidigungsfähig, aber strukturell zu einem Angriff unfähig sind. Dabei müssen selbstverständlich auch die Luftstreitkräfte von Anfang an einbezogen werden.” Die Sozialdemokraten fordern “die Halbierung der heutigen NATO-Streitkräfte und eine darüber hinausgehende Verminderung der offensiven Waffensysteme, verbunden mit Stationierungsbeschränkungen zur Verhinderung angriffsfähiger Konzentrationen” als “Maßstab gleicher Obergrenzen mit den Streitkräften des Warschauer Paktes”. Diese gleichen Obergrenzen in Höhe von etwa 50 Prozent der heutigen NATO-Bestände sollen für schwere Kampfpanzer und Artilleriesysteme (Geschütze und Werfer) gelten, verbunden mit einer Dichtebeschränkung, die angriffsgeeignete Truppenkonzentrationen verhindert. Gleiche Obergrenzen von ca. 50 Prozent sollen auch für die NATO-Bestände für Kampfflugzeuge und für Kampfhubschrauber gelten. Diese Reduzierung um 50% ist als Übergang zu weiterer Abrüstung gedacht. Zusätzlich sollen Munitionsvorräte und offensiv nutzbares Brückengerät beschränkt werden. Die SPD verlangt zudem “eine Reichweitenbeschränkung auf ca. 50 km für alle unbemannten Flugkörper mit konventionellen Sprengköpfen”. In dem vom Parteitag angenommenen Leitantrag wird die Einsetzung einer gemeinsamen “High Level Task Force” von NATO und Warschauer Pakt empfohlen, “die den Auftrag erhält, innerhalb eines Jahres die Details für ein Kräfteverhältnis struktureller Angriffsunfähigkeit zu erarbeiten und die Militärdoktrin und Strategien aufeinander abzustimmen.” Außerdem wird die Entfernung aller schweren angriffsfähigen Waffen aus dem von der Palme-Kommission vorgeschlagenen Korridor entlang der Blockgrenzen vorgeschlagen.

(Parteitag der SPD in Münster, 30.8.-2.9.1988, Beschlüsse, Antrag A1, Parteivorstand, Frieden und Abrüstung in Europa, S. 695ff.) Ferner sprechen sich die Sozialdemokraten für drei weitere Null-Lösungen bei atomaren Gefechtsfeldwaffen (Artillerie) Kurzstreckenraketen und luftgestützten atomaren Mittelsystemen aus.

…und dritte Null-Lösung

Zu Beginn der Wiener Abrüstungsverhandlungen präzisierte SPD-Präsidiumsmitglied Egon Bahr die Haltung seiner Partei und forderte, “parallel zu den konventionellen Verhandlungen möglichst noch in diesem Jahr Verhandlungen über Atomwaffen mit der Reichweite von weniger als 500 Kilometer” aufzunehmen. Es sei “unakzeptabel”, so Bahr, “eine neue Grauzone zu schaffen, auf die sich neue Aufrüstungsbemühungen der Beteiligten konzentrieren, sei es durch eine neue Rakete als Lance-Nachfolger oder eine sowjetische Antwort darauf…Das Ziel der Verhandlungen sollte ein niedriges Niveau der konventionellen Streitkräfte sein, etwa die Hälfte dessen, was die NATO heute hat, bei Vorteilen für den Verteidiger.” Mit diesen Verhandlungszielen seien aber für die SPD im Hinblick auf die Ausrichtung der NATO-Strategie weitergehende Zielvorstellungen verknüpft, da diese Reduktionen notwendig “Strukturveränderungen” zur Folge hätten, “also Ausdünnungen mit unausweichlichen Änderungen der bisherigen strategischen Überlegungen.

Zwischen Modernisierungsverhinderung…

Auf der außerparlamentarischen Seite der Opposition, auf Seiten der Friedensbewegung gibt es außer einem ganz allgemein gehaltenen Bekenntnis zur konventionellen Abrüstung und zu “tiefgreifenden, einseitigen Abrüstungsschritten auf Seiten der NATO” (Aufruf zur Demonstration der Friedensbewegung am 10. Juni in Berlin: Das Denken modernisieren – Gerechtigkeit und Frieden brauchen Abrüstung, Flugblatt, Bonn 1989) keine weitergehende Befassung mit der Problematik. Die Friedensbewegung richtet ihre Aktionen fast nur gegen die »Modernisierung« der NATO.

und einseitigen Abrüstungsforderungen…

Auch die GRÜNEN haben bislang außer einem abstrakten Bekenntnis zur vollständigen Entmilitarisierung, Demobilisierungsforderungen und dem Verlangen nach einseitiger Abrüstung keine umfassende Gesamtkonzeption von Entmilitarisierung und Denuklearisierung aufzubieten, die – unter Einschluß einseitiger Schritte – darauf orientiert – die beiden Blöcke in einem wechselseitig aufeinanderbezogenen Prozeß zu einer neuen Friedensstruktur kommen zu lassen.

Die sozialdemokratischen Konzepte zur konventionellen Abrüstung und zur defensiven Umorientierung stammen in der Regel aus den Reihen der Friedensforschung. Hervorgetreten im Vorfeld der Wiener Verhandlungen sind erneut der ehemalige Bundeswehr-General Gerd Schmückle und der Starnberger Forscher Albrecht von Müller, die in einem neuen Abrüstungskonzept für die NATO zu der Auffassung gelangt sind, daß eine Obergrenze von 10.000 Panzern auf beiden Seiten und 5000 Artilleriegeschütze eine ausreichende Bewaffnung darstellen. Dabei soll jeweils nur die Hälfte dieser Systeme im zentraleuropäischen Raum stationiert sein.

Der SPD-Politiker Andreas von Bülow hatte bereits für die Minimalmarge von 5.000 Panzern pro Bündnissystem plädiert. (Interview in »frontal«-Magazin, April 1988) Dieser klaren abrüstungspolitischen Orientierung auf Seiten der Sozialdemokraten steht ein schwankendes und uneinheitliches Bild der die Bundesregierung tragenden Kräfte gegenüber.

Bundeskanzler Kohl sprach noch zu Beginn der VKSE-Konferenz – ohne weitere konkrete Perspektiven aufzuzeigen – ungenau von einer historischen Chance und einem “Markstein” zu einer Friedensordnung, warnte aber zugleich vor zu großen Erwartungen (Bonner Generalanzeiger vom 6.3.1989).

Die Kontrahenten: Genscher – Scholz

Die eigentlichen Kontrahenten im Regierungslager waren jedoch bis zur Kabinettsumbildung im April 1989 Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und der damalige Verteidigungsminister Prof. Rupert Scholz (CDU). Der Außenminister ist seit einigen Jahren nicht müde, die Veränderungen der Positionen und der Taten in der UdSSR zu loben. Genscher beharrt auf der Position, die “neue sowjetische Offenheit beherzt und entschlossen nutzen” (FAZ vom 29.4.1989). Für die Umbruchperiode im Ost-West-Verhältnis hatte er immer wieder zum Ärger der Unionsrechten den Begriff »Gezeitenwechsel» gefunden. Genscher lobte die Perestroika, die eine “Vertrauensbildung und eine Stabilisierung der internationalen Beziehungen auf kooperativer Grundlage” bei gleichzeitigem Abschied von dem Kampf der Systeme und einer Absage an die Ideologisierung der sowjetischen Außenpolitik gebracht habe. Die Vorgänge in der Sowjetunion nannte er “unumkehrbar”. Genscher mit Blick auf seinen sicherheitspolitischen Widersacher: “Diese Entwicklung liegt in unserem Interesse. Wir sollten ihr mit einer konstruktiven Grundhaltung begegnen. Abwarten und Skepsis würden unsere eigenen Interessen schädigen, würden uns zum Statisten der Weltgeschichte machen, anstatt uns in die Lage zu versetzen, die historische Chance einer durchgreifenden Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses beherzt zu nutzen (Süddeutsche Zeitung vom29. 7. 1988).

Abschreckung erhalten

Scholz dagegen sprach in der Regel von Hoffnungen, denen Realitäten erst noch folgen müssten. Gorbatschows Politik müsse in “ihren tatsächlichen Auswirkungen und ihren Entwicklungsperspektiven für das Ost-West-Verhältnis noch sehr genau und sehr sorgfältig beobachtet und untersucht werden …dieser Weg ist noch mit vielen Ungewißheiten und offenen Fragen gepflastert.” (Rede auf der 6. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für die NATO nahm er ohne jede Abstriche in Anspruch, sowohl strikt defensiv zu sein, als auch “kein Feindbild, das wir nie hatten”, abbauen zu müssen. Scholz beharrte – in deutlichem Gegensatz zu Genschers Formel, daß die Abschreckung zumindest ein zweites Sicherheitsnetz benötige, – klar auf der Abschreckung und qualifizierte die Gorbatschowsche Politik des Ausstiegs aus der Abschreckung groteskerweise als Ziele ab, “die keineswegs einem neuen Denken zu entspringen scheinen.” Trotz der bis dahin überreichlich vorhandenen Vorschläge des Warschauer Paktes zum Abbau von Asymmetrien beharrte er auf der Einschätzung, es sei “offensichtlich daß eine Erfüllung dieser Forderungen die vorhandene militärische Überlegenheit des Warschauer Paktes noch mehr zur Wirkung bringen würde.”

“Das operative Minimum”

In Anlehnung an sozialdemokratische Begriffsbildungen kreierte Scholz zwar das “Konzept gegenseitiger Sicherheit”, daß “von keiner Seite mehr als den Verzicht auf absolute militärische Sicherheit” verlange, mithin “die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit einzuräumen.” Eine Abrüstungsperspektive sucht man aber in diesem Konzept vergeblich, da der Minister für die NATO behauptete, daß im Rahmen der “klassischen Defensivausrichtung ihrer Strategie der Umfang ihrer Streitkräfte für die grenznahe Vorneverteidigung zu gering sei. Schon das notwendige “operative Minimum ist bereits größer, als die NATO heute an präsenten, rasch verfügbaren Kräften bereitstellen kann.” (Sicherheit in Europa, Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung am 12. September 1988, Bulletin der Bundesregierung, Nr.114 vom 15. 9. 1988). Wenig später relativierte er zwar die 95-Prozentorientierung bei den Reduzierungsvorschlägen der NATO für die VKSE-Verhandlungen, die gegebenenfalls “kein Dogma” sein dürften, sprach aber vor Beginn der Verhandlungen wiederum von “dem gigantischen Militärpotential, das die Sowjetunion gerade in Europa aufgetürmt hat” und lehnte mit Blick auf die Gorbatschow-Initiative vor der UNO einseitige Vorleistungen des Westens strikt ab (Zum Beginn der VKSE, Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989).

Demgegenüber verfolgte Außenminister Genscher eine konstruktivere Linie. In einem vielbeachteten Namensartikel in der »Frankfurter Rundschau« vom 7.4.1988 forderte er die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und eine Absage an den Gedanken, konventionelle Ungleichgewichte mit taktischen Nuklearwaffen ausgleichen zu wollen. Genscher verlangte in dem vom Bundessicherheitsrat abgesegneten Gesetz Verhandlungen über den asymmetrischen Abbau der Waffengattungen, die die Sowjetunion begünstigten: Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie mit dem Ziel “gleiche Obergrenzen nur leicht unter dem Niveau der schwächeren Seite durchzusetzen. In einer langfristigen Perspektive sollten dann weitergehende Reduzierungen erfolgen. (Konventionelle Stabilität-Kernproblem europäischer Sicherheit, Frankfurter Rundschau vom 7.4.1989).

Rühe auf SPD-Kurs

Ebenso für ein flexibleres, längerfristig angelegtes Konzept plädierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, mit dem er die im Wettstreit um Konzepte zur konventionellen Abrüstung erklärtermaßen zumindest öffentlich in die Defensive geratene NATO wieder in eine Initiativposition manövrieren wollte. Rühe schlug eine weitere Halbierung des bereits auf gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau (85% des NATO-Niveaus) reduzierten kampfentscheidenden Großgeräts vor und die Überführung des herausgelösten Materials in Depots: “Die Verhandlungsformel für diesen Schritt heißt also: gleiche Obergrenzen minus 50 Prozent”. Dies seien, so Rühe “deutliche Opfer und Einschnitte”. (Als Ziel ein Europa mit weniger Panzern, Süddeutsche Zeitung vom 22.9.1988) Damit war Rühe mit ein paar rhetorischen Verrenkungen und Windungen schließlich bei dem schon skizzierten Konzept des SPD-Parteitages von Münster angekommen. Ein Unterschied freilich bleibt bestehen. Rühe will keinen Verzicht auf die atomare Abschreckung. Voraussetzung bleibt auch für ihn die Aufrechterhaltung der Abschreckung, “die auf einem Mindestmaß an Nuklearwaffen besteht.”

Damit wird der enge Zusammenhang der konventionellen Abrüstung mit der nuklearen »Modernisierungs«-Diskussion deutlich. Da das Kriterium für den Verzicht auf nukleare Kurzstreckensysteme die Herstellung konventioneller Stabilität sei, so der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Lamers, gehe es bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung nicht nur um konventionelle, sondern zugleich um atomare Waffen. Damit markierte er zugleich eine verhaltene Positionsbestimmung zugunsten einer dritten Null-Lösung. (Karl Lamers: Konventionelle Abrüstung in Europa. In: aus politik und zeitgeschichte, B18/1988, 29.4.1988)

An dem damit angesprochenen Punkt der taktischen Nuklearwaffen wird das ganze zerrissene Dilemma der Bonner Politik der “manifesten Panik” (FAZ vom 20.4.1989) zwischen nuklearer Nibelungentreue zum Bündnis, zwischen dem öffentlichen Druck der stärker an Unterstützung gewinnenden politischen Perspektive einer von Atomwaffen befreiten Welt und der Betroffenheit als potentieller Kriegsschauplatz in der Mitte Europas deutlich. Diese halbherzige Position führt im Effekt dazu, daß substantielle Abrüstungsziele auch im konventionellen Bereich entweder nicht formuliert werden können oder nicht formuliert werden wollen.

Dregger: Verminderung der taktischen Nuklearwaffen

Die Interessenlage im konservativen Lager ist dabei alles andere als eindeutig. Selbst Alfred Dregger treibt die Erkenntnis, daß “die dichtbesiedelte Bundesrepublik atomar vernichtet, aber nicht atomar verteidigt werden ” kann. Noch im April 1989 erneuerte Dregger die Forderung, das Gesamtkonzept der NATO mit einer Abrüstungsinitiative des Westens bei atomaren Kurzstreckenraketen zu verbinden. (Alfred Dregger: Entwurf einer Sicherheitspolitik zur Selbstbehauptung Europas. Europäische Wehrkunde, 12/1987, FAZ vom 10.4.1989). Demgegenüber behauptete der Kanzler noch fest: “Eine wirksame Abschreckung ist ohne auf dem zu verteidigenden Territorium stationierte Nuklearsysteme nicht glaubwürdig.” (Die Welt vom 14.12.1988)

Galvin: auf keine Aufrüstung verzichten

Der NATO-Oberkommandierende General Galvin machte denn auch schon deutlich wohin die defensive und alles andere als abrüstungsorientierte Diskussion weist. Nämlich auf eine Erneuerung des taktischen Nuklearpotentials auch dann nicht zu verzichten, wenn die Sowjetunion von ihrem konventionellen Übergewicht entscheidend herabrüste. (Interview in Die Zeit vom 23.9.1988) Welche politischen Ziele hinter dieser Haltung stehen, hatte bereits 1987 der damalige Bundesverteidigungsminister Wörner formuliert: “Die abschreckende Wirkung taktischer Nuklearwaffen ist um so größer, je tiefer diese Waffen in den Warschauer Pakt hineinreichen. Das heißt, zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.” (FAZ vom 30.6.1987)

Der Koalitionskompromiß

Der kurz nach der letzten Kabinettsumbildung gefasste Koalitionskompromiß enthält beide Elemente der widerstrebenden Auffassungen zu diesem Problem: Aufrüstungs- und Abrüstungsbereitschaft. Er erfüllt so hervorragend die Funktion, sich weiterreichende Perspektiven zugunsten einer Abrüstungsoption im nuklearen Kurzstreckenbereich offenzuhalten- dies auch aus Gründen populistischer Anbiederung – offenzuhalten, zugleich aber die Sowjetunion mit dem Offenhalten einer Aufrüstungsoption politisch unter Druck zu halten.

Zwischen diesen Polen schwankt die Bundesregierung. Kanzler Kohl sprach in seiner Regierungserklärung vom 27.4.1989 zwar von der Möglichkeit von “Verhandlungen über die nuklearen Kurzstreckenraketen…mit dem Ziel…die bestehenden Ungleichgewichte durch drastische Reduzierungen und gleiche Obergrenzen abzubauen”, verblieb aber damit ebenfalls im Rahmen der Abschreckung, da er die Formulierung der Null-Lösung vermied. (Bulletin, 28.4.1989) Die unnachgiebige Haltung machte der CSU-Abgeordnete Graf Huyn in der Debatte über die Regierungserklärung deutlich, als er “sich für eine Modernsierung und gegen Verhandlungen vor einem Vollzug konventioneller Abrüstung” aussprach (FAZ vom 29.4.1989) Dahinter steckt die Vorstellung, die Sowjetunion in ihrem Willen nach Abrüstung mit der Ablehnung der Dritten Null-Lösung unter Druck zu halten und so konventionell entwaffnen zu können: “Aus militärischer Sicht ist daher das Ziel von KRK etwas konkreter zu formulieren. Es gilt, die Streitkräfte des Warschauer Paktes unter das Invasionsminimum zu reduzieren, der NATO jedoch das Verteidigungsminimum zu erhalten.” (Karl-Heinz Kamp: Konventionelle Rüstungskontrolle vom Atlantik bis zum Ural – Sachstand und Probleme. aus politik und zeitgeschichte, b8/89 vom 17.2.1989). Wobei ja bereits Verteidigungsminister Scholz festgestellt hatte, das das “operative Minimum” der NATO schon jetzt gefährdet sei. Bewußt offen bleibt dabei natürlich, wie diese Begriffe konkret zu füllen sind.

Da die USA ihre Position aber offenkundig im Bündnis unter allen Umständen durchsetzen wollen, sah die FAZ bereits das Horrorbild einer ihrer nationalen Souveränitäten beraubten Staatenallianz heraufschimmern und prophezeite: “Die Zeichen stehen auf Sturm.” (FAZ vom 20.4.1989) Der Koalitionskompromiß steht auch insofern für gewachsene Konfliktbereitschaft der Bundesregierung nationale Interessen im Bündnis stärker zu vertreten. Hieran gilt es anzuknüpfen.

Im Banne der Abschreckungsparadoxie

Hinter dieser verkeilten Interessenlage steht nichts anderes als die zunehmende Unverantwortbarkeit einer Militärstrategie, die das, was sie zu verteidigen vorgibt, gleichzeitig aber ständig als Verfügungsmasse möglicher Vernichtung kalkuliert.

Eine friedenspolitische Perspektive der Entmilitarisierung und Denuklearisierung vermag und will sich die NATO jedoch trotz der Tatsache, daß sie mit der Abschreckung in die Sackgasse geraten ist, nicht vorstellen. Noch immer windet sie sich in dem nur noch semantisch auflösbaren Dilemma, die Verteidigung der USA mit der Europas verkoppeln zu wollen: Der ausgeschiedene Verteidigungsminister Scholz konnte als Antwort auf die Frage nach der Strategie der Zukunft nur ein “weiter so” formulieren: “Es ist eine permanente Aufgabe der militärstrategischen Konzeption der NATO, die Spannung zwischen den Maximen der Konflikteindämmung und der Risikoausweitung zu überbrücken.” (“Europäische Sicherheit” –Rede auf der 26. Internationalen Wehrkundetagung am 28.1.1989 in München). Für den SPD-Politiker Andreas von Bülow ist die hinter dieser Position stehende Sichtweise, Frieden nur als Resultat nuklearer Abschreckung definieren zu können, ein “Entmündigungsbescheid”, bei dem nur diejenigen, die den nuklearen Schirm spannen, zu bestimmen hätten. (Pressekonferenz am 28.4.1989 in Bonn) Bei diesen Positionen ist es nicht verwunderlich, daß die NATO auch keine eigenständige Antwort jenseits der Abschreckung auf die entscheidende Zukunftsfrage zu formulieren vermag: “Wie sollte sicherheitspolitisch Europa im Jahre 2000 aussehen?…Jetzt könnte erstmalig eine Krise der Glaubwürdigkeit entstehen, wenn nämlich seine Bürger den Eindruck gewinnen würden, das Bündnis sei nicht abrüstungswillig oder -fähig.” (Egon Bahr. Süddeutsche Zeitung vom 6.3.1989)

VI. Druck auf tiefergehende Abrüstungsschnitte

In der Fachdiskussion wie in der öffentlichen Meinung verstärkt sich allerdings der Druck auf ein umfassendes Abrüstungskonzept im konventionellen Bereich. Annäherungen an die von einer fortschrittlichen, europäischen, weiterreichende Abrüstungsschnitte befürwortende Sichtweise war bereits 1987 in den Vereinigten Staaten durch eine Studie des Forschungsdienstes des US-Kongresses zum Ausdruck gekommen. Ein für den demokratischen Abgeordneten Stephen Solarz verfasster Bericht gelangt zu dem Resultat, daß die Aussichten auf eine Stärkung der konventionellen Streitkräfte, wie sie die USA seit langem von den westeuropäischen NATO-Mitgliedern fordern, sehr gering sind.

Als Alternative schlugen sie vor, daß in den anstehenden Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung die NATO zunächst auf die Entfernung und Zerstörung aller amerikanischen und sowjetischen nuklearen, chemischen und konventionellen Kurzstreckenraketen aus dem Reduktionsgebiet dringen solle und auch die Kampfbomber daraus entfernen solle. Damit solle die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf die NATO reduziert werden. Neu an der Studie war, daß die amerikanische Demokratische Partei die atomare Abrüstung offensichtlich nicht weiter mit der konventionellen Rüstungsverstärkung koppeln will. Damit wurden erste Anklänge an das SPD-Konzept der »strukturellen Nichtangriffsfähigkeit« sichtbar. (Congressional Research Service/Library of Congress (CRS): Report for Congress. Conventional Arms Control and Military Stability in Europe. Washington, Oktober 1987)

Bereits Anfang 1988 hatte der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr nach Beratungen der sogenannten „Skandi-Lux-Gruppe» in Bonn, einem informellen Gremium sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien Norwegens, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs für die Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich eine so weitgehende Abrüstung vorgeschlagen, daß die auf beiden Seiten verbleibenden konventionellen Waffen die Anwesenheit landgestützter amerikanischer Atomwaffen in Europa nicht mehr rechtfertigten. (FAZ vom 1.3.1988)

Reduzierung um 50 Prozent

In der Zwischenzeit hat sich der frühere NATO-Oberkommandierende in Europa, US-General Goodpaster in die Diskussion um die konventionelle Abrüstung eingeschaltet und mit einem eigenen Vorschlag den Finger in die Wunde des marginalen NATO-Lösungsansatzes gelegt. Goodpaster “hat auf eine Halbierung der Truppen der NATO und des Warschauer Paktes gedrängt und damit im US-Senat beträchtliches Aufsehen erregt. Beide Bündnisse sollten bis Mitte der 90er Jahre in Europa auf die Hälfte ihrer derzeitigen Stärke abrüsten und eine von schweren Waffen freie Zone schaffen, sagte Goodpaster… vor dem Streitkräfteausschuß des Senats. Die nach einer Halbierung verbleibenden Waffen sollten umgruppiert werden. Das Angebot der NATO, die Zahl ihrer Panzer und Artillerie um bis zu zehn Prozent zu verringern, sei nur als Ausgangspunkt angemessen. Wenn die NATO nicht weiter gehe, würde dies nicht den Interessen der westlichen Länder dienen.” (Kölner Stadt-Anzeiger, 8./9. 4. 1989).

Ein weiterer in dieselbe Richtung zielender Vorschlag wurde kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellt. In einem “Alternativen Gesamtkonzept für Verteidigung und Abrüstung der NATO” schlugen so bekannte Forscher und Politiker wie die früheren SIPRI-Chefs Frank Blackaby und Frank Barnaby, der frühere CIA-Chef William Colby, der deutsche Admiral Elmar Schmähling sowie der ehemalige Chef der US-Abrüstungsbehörde, Paul Warnke am Vorabend der Präsentation des offiziellen Gesamtkonzeptes der NATO zeitgleich in Brüssel, Bonn, Washington und London “langfristig ein Europa (vor), in dem die internationalen Beziehungen demilitarisiert worden sind.” Das vom British-American-Security-Information Council in Verbindung mit der Alternative Security Working Group in Großbritannien und dem Committee of National Security in den USA entwickelte Konzept spricht angesichts des Prozesses in der Sowjetunion im Gegensatz zu dem vor Jahren immer benutzten Begriff vom “Fenster der Verwundbarkeit” von einem “Fenster der Möglichkeiten”. Die Studie schlägt der NATO vor, mit dem Tabu der einseitigen Abrüstung zu brechen und parallel zu den Wiener Verhandlungen mit der Verschrottung der atomaren Artillerie zu beginnen. Ziel der Verhandlungen soll ein System gemeinsamer Sicherheit sein, am Ende des Abrüstungsprozesses müsse eine Umstrukturierung beider Militärblöcke zu Defensivbündnissen stehen. Dazu biete sich auch eine Defensivzone ohne Angriffswaffen entlang der Blockgrenze an. (The »Comprehensive Concept« of Defence and Disarmament for NATO from Flexible Response to Mutual Defensive Superiority, London 1989)

Zu den anstehenden Verhandlungen in Wien hat auch die Sachverständigengruppe Sicherheitspolitik der Deutschen Kommission Justitia et Pax ein ausführliches Gutachten beigesteuert. Die sicherheitspolitischen Berater der katholischen Kirche fassen darin ihre Vorschläge in mehreren Empfehlungen für beiderseitiges kooperatives Vorgehen zusammen, die die Beseitigung der konventionellen Offensivfähigkeiten beinhaltet. Dabei gehe es vorrangig um die Beseitigung von Übergewichten, Reduzierung der Streitkräfte sowie deren Umstrukturierung im Sinne einer wirksamen Einschränkung der Offensivfähigkeiten und nicht um die bloße Herstellung von Parität. Die katholischen Experten fordern gleichzeitig die Reduzierung der nukleartaktischen Potentiale. (Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa, Kommission Justitia et Pax, Bonn 1989)

VII. Schlussfolgerungen

  1. Die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte bieten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa die Chance zu weitreichenden Rüstungsschnitten und zur Einleitung eines Prozesses defensiver Umwandlung der militärischen Blockkonfrontation, an dessen Ende der Aufbau einer politischen Friedensordnung stehen könnte.
  2. Das Verhandlungsmandat läßt eine große Übereinstimmung in den Kriterien und Bereichen für diese Umwandlung und damit politischen Willen für diesen Prozeß erkennen.
  3. Die Staaten des Warschauer Paktes haben bereits einseitig mit Reduzierungen begonnen, beginnen ihre Militärdoktrinen defensiv umzustellen und haben einen Verhandlungsvorschlag vorgelegt, der offen ist für weitergehende Schnitte in allen Rüstungsbereichen.
  4. Mit dem Vorschlag, auf ca.95 Prozent des jetzigen Niveaus der NATO-Streitkräfte herabzurüsten, steht dem ein marginaler, defensiver Lösungsansatz der NATO gegenüber, der im wesentlichen auf dem status quo beharrt. Zudem läßt sie keinerlei kritische Überprüfung und Änderung ihrer bisherigen Militärstruktur erkennen.
  5. Das Konzept der NATO zielt im weiteren auf eine Kombination von Abrüstung (im konventionellen Bereich) und Aufrüstung (im nuklearen Bereich). Ziel ist eine erhebliche konventionelle Entwaffnung der Sowjetunion, gleichzeitig soll auf westlicher Seite die Abschreckung auf qualitativ verbessertem Niveau neu installiert werden. Damit wird der Prozeß konventioneller Abrüstung behindert. Als größtes Hindernis, den Abrüstungsprozeß vertraglich voranzutreiben, stellt sich die Weigerung der NATO dar, auf die Modernisierung ihres taktischen Nuklearpotentials zu verzichten.
  6. Aufgrund der Kompliziertheit der Verhandlungsmaterie, der Vielzahl der beteiligten Interessen und Verhandlungsteilnehmer besteht die Gefahr einer über lange Jahre sich hinziehenden Verzögerung und Verwässerung des Prozesses und eines Erlahmens des öffentlichen Interesses und des politischen Willens an diesem Prozess.
  7. Gleichzeitig gibt es eine sich verschärfende Akzeptanzkrise für die Abschreckungsstrategie der NATO und die Strategie militärischer »Verteidigung« generell. Die Auseinandersetzung um die konventionelle Abrüstung war aber bislang eher ein weißer Fleck im programmatischen Konzept der Friedensbewegung. Die Wiener Verhandlungen sind ebenfalls nicht in ausreichendem Maße im allgemeinen öffentlichen Interesse präsent.
  8. Die Friedensbewegung muß bei ihrer Arbeit, die sich bisher fast ausschließlich gegen die »Modernisierung« richtete, dialektisch vorgehen. Da die (taktischen) Nuklearwaffen und die konventionellen Streitkräfte in der NATO-Strategie unauflöslich zusammenhängen, muß sie gegen die nukleare Aufrüstungsrunde der NATO und für weitergehendere konventionelle Abrüstung, als es das NATO-Konzept vorsieht, eintreten. Sie muß deutlich machen, daß das Festhalten an atomarer Abschreckung die konventionelle Abrüstung behindert und daß ein gesellschaftliches Klima und gesellschaftlicher Druck gegen Atomwaffen auch Erfolge bei der konventionellen Abrüstung wahrscheinlicher machen kann.
  9. Die Friedensbewegung muß Druck auf die Bundesregierung ausüben, bei den Wiener Verhandlungen die Forderung nach einer 50prozentigen Reduzierung des konventionellen Rüstungspotentials als offizieller Forderung der Bundesrepublik im Verhandlungsprozeß zu erheben. Sie muß angesichts der sich ausweitenden Diskussion um konventionelle Abrüstungskonzepte für diese Forderung einen breiteren gesellschaftlichen Konsens zustandebringen. Gleichzeitig sollte sie die sofortige Aufnahme von parallel zu den Wiener Verhandlungen stattfindenden Gesprächen über eine dritte Null-Lösung bei den taktischen Nuklearraketen fordern.
  10. Darüberhinaus sollten zur Verhinderung neuer Aufrüstungsschritte und zur Durchsetzung künftiger abrüstungsfördernder Strukturen die Forderungen nach einem Einfrieren des Rüstungshaushalts und die Durchsetzung einseitiger Abrüstungsschritte der Bundesrepublik erhoben werden: Verzicht auf die atomare Artillerie, Herabsetzung der Bundeswehrstärke beispielsweise durch Auflösung einer Bundeswehrdivision und der Verzicht auf offensive Militärstrategien wie FOFA und ALB-Konzepte.
  11. Der Prozeß der Abrüstung sollte programmatisch mit Forderungen zu ökonomischen Alternativen für einen ökologischen und sozialen Umbau verknüpft werden: Für einen nationalen Rüstungskonversionsplan, Stop neuer Aufrüstungsprogramme, Stop der Entwicklung neuer Waffensysteme. Verhinderung der bundesdeutschen Beteiligung an westeuropäischen Rüstungsprogrammen und -industrie (MBB/Daimler-Benz).

Redaktion: Stillstand bei MBFR – ein warnendes Beispiel

Schon einmal gab es Ost-West-Verhandlungen über konventionelle Rüstung in Europa: MBFR (Mutual Balanced Force Reduction) oder Verhandlungen über “Gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Fragen in Mitteleuropa”. Diese Konferenz begann am 30. Oktober 1973 in Wien noch auf dem Höhepunkt der ersten Phase der Entspannungspolitik und stand unter schlechteren Vorzeichen als die aktuellen VKSE-Verhandlungen. Keines der beiden Bündnisse hatte nämlich ein ernsthaftes Interesse an echter konventioneller Abrüstung.

Der Warschauer Pakt schien nur deswegen in die Aufnahme der Wiener Gespräche einzuwilligen, um ihren Zugang zum KSZE-Prozeß nicht zu verbauen; die NATO hatte zuvor den Beginn der Helsinki-Konferenz von der Eröffnung der MBFR-Verhandlungen abhängig gemacht.

Der Westen hingegen konnte mit MBFR jahrelangen Bestrebungen des US-Senators Mansfield um einen einseitigen Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa entgegenwirken. Denn während der multilateralen Verhandlungsrunden verboten sich unilaterale Maßnahmen von selbst (Ernst Jung, Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa im Licht der MBFR-Erfahrungen, in: Außenpolitik II/1988, S. 154).

Aber auch sonst unterschied sich MBFR in mannigfaltiger Hinsicht von seinem viel ambitionierteren “Nachfolgeprojekt”:

Das Verhandlungsgebiet war nur auf Mitteleuropa beschränkt. Das Gebiet Frankreichs blieb ebenso ausgeklammert wie die westlichen Militärbezirke der UdSSR. Es wurde immer wieder kritisiert, daß dieser Ansatz selbst bei drastischen Reduzierungen in der »Zentralregion« angesichts der kurzen Nachschubwege für sowjetische Truppen und Waffen aus der Ukraine nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bedinge. Das sehr viel größere VKSE-Anwendungsgebiet nimmt solchen geostrategischen Befürchtungen ihre Relevanz.

  • Teilnehmer waren lediglich die Staaten des Verhandlungsgebiets und Länder mit ausländischer Militärpräsenz, also die Sowjetunion, die USA, Kanada und Großbritannien. Frankreich hielt sich abseits. Ganz anders die VKSE-Konferenz, wo sämtliche Mitglieder beider Militärbündnisse unter Einschluß Frankreichs teilnehmen.
  • Das Verhandlungsziel war noch viel unkonkreter formuliert als im VKSE-Mandat: “Die Teilnehmer … kamen überein, während der Verhandlungen die gegenseitige Verminderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen in Mitteleuropa zu erörtern … es (wird) das allgemeine Ziel der Verhandlungen sein …, zu stabileren Beziehungen und zur Festigung von Frieden und Sicherheit in Europa beizutragen.” (Abschlußkommunique der vorbereitenden Konsultationen vom 28. Juni 1973, Europa-Archiv 1973, D 514). De facto verengte sich der Blickwinkel in den folgenden fruchtlosen Verhandlungsjahren nur noch auf die Truppenstärken. Eine Einigung auf ein konkret anzustrebendes Verhandlungsziel konnte hier immerhin Mitte 1978 erzielt werden: Beschränkung der Landstreitkräfte beider Bündnisse auf je 700.00 Mann. Bewaffnung, gar strukturelle Probleme blieben völlig außer Acht. West wie Ost boten immer wieder nur das marginale Ziel einer linearen Reduzierung um 10 bis 15 Prozent an.
  • Nicht einmal unter diesen vereinfachten Bedingungen konnte eine Einigung erzielt werden. Die Datenfrage wurde nämlich zu keinem Zeitpunkt gelöst. Moskau lehnte Vor-Ort-Inspektionen kategorisch ab und trug mit seiner traditionellen Geheimniskrämerei in dieser Frage zum Mißerfolg bei. Die Folge war, daß die Verhandlungen 15 Jahre vor sich hin dümpelten und außer der berühmten Konferenzkrawatte keinerlei Ergebnis erbrachten.
  • Die wechselseitigen Perzeptionen des konventionellen Kräfteverhältnisses gingen extremer auseinander als heute. Da die UdSSR ohne Differenzierungen von einer Parität ausging, forderte sie notorisch symmetrische Reduzierungen und ein Einfrieren der Rüstungen auf einem niedrigeren Niveau von numerischer Parität. Die westliche Seite hingegen konstatierte eine extreme östliche Überlegenheit und forderte dementsprechend starke asymmetrische Verminderungen zu ihren Gunsten.

Am 2. Februar 1989 wurden die MBFR-Verhandlungen nach über 15 Jahren »begraben«. Sie sind für VKSE Warnung und Hoffnung zugleich: Datenstreitigkeiten durch absolute Transparenz ausräumen und nicht zum Vehikel mangelnden politischen Abrüstungswillens zu machen.

Ingo Arend, M.A., Politologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V., (IWIF) und des Informationsdienstes Wissenschaft und Frieden in Bonn. Er ist Mitglied des Bundesvorstandes der Jungsozialisten in der SPD und Mitglied der Kommission für Sicherheitspolitik beim SPD-Parteivorstand.
Michael Kalman, M.A., Politologe, arbeitet als Mitarbeiter der Initiative für Frieden, internationalen Ausgleich und Sicherheit (IFIAS) in Bonn.

Rüstungskontrolle adé?

Rüstungskontrolle adé?

Brüche und Kontinuität in der US-Politik

von Helmut Hugler

Rüstungskontrolle scheint heute ein Nicht-Thema zu sein. In vielen Bereichen scheint sie zu stagnieren: Bei den Verhandlungen um die Verifikation der B-Waffenkonvention gibt es keine Fortschritte; das Regime der nuklearen Nichtverbreitung ist in den letzten Jahren ausgehöhlt worden; die Kontrolle der Kleinwaffenflüsse ist zwar in aller Munde, die Ergebnisse der Verhandlungsdiplomatie stimmen aber eher pessimistisch. Blättert man in den Ausgaben des jährlich erscheinenden Friedensgutachtens, stößt man regelmäßig auf Befunde zur »Krise der Rüstungskontrolle«. Zugespitzt kann man heute fragen, ob die Krise der Rüstungskontrolle nicht bereits vorbei ist, weil das Thema Rüstungskontrolle als kooperativer Politikansatz in der praktischen Politik wesentlicher Staaten, vornehmlich der USA, gegenwärtig keine Rolle mehr spielt. Dieser Befund mag zu pessimistisch sein. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes konnte immerhin ein Großteil der Altlasten des Ost-West-Konfliktes durch Rüstungskontrolle erfolgreich beseitigt werden und im Bereich der humanitären Rüstungskontrolle gelang mit dem Abschluss des Ottawa-Vertrages ein Einstieg in das vollständige Verbot einer gesamten Waffenkategorie, der Anti-Personenminen. Aber genau hier liegt das Problem, die strategische Rüstungskontrolle war in den 90er Jahren rückwärtsgewandt und in den anderen Bereichen der Rüstungskontrolle beteiligten sich die »Großen« nicht konstruktiv. Stagnation und Rückschritte in den verschiedenen Bereichen der Rüstungskontrolle nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes – insbesondere aber in den letzten Jahren – zeugen von einem dramatischen Wandel in der Rüstungskontrollpolitik.
Ziel dieses Artikels ist es zu beleuchten, inwieweit die Vereinigten Staaten zum desolaten Zustand einiger Bereiche der Rüstungskontrolle beigetragen haben. Diese Begrenzung ist gerechtfertigt aufgrund der zentralen Rolle der Vereinigten Staaten für die Rüstungskontrolle, sie haben im Rahmen ihrer Nachkriegshegemonie das Konzept der »arms control« entwickelt und zu einer der tragenden Säulen der internationalen Sicherheitspolitik gemacht. Heute gelten sie als die »einzige Supermacht«. Die Abkehr der gegenwärtigen Administration von der Politik der »arms control« hat daher eine qualitative Bedeutung für die internationale Sicherheitspolitik. Wenn die Vereinigten Staaten Rüstungskontrolle nicht mehr als Teil ihrer Sicherheitspolitik betrachten, dann fällt eine wesentliches Betätigungsfeld für kooperative Sicherheitspolitik aus. Ich beschränke mich aus Platzgründen im wesentlichen auf den Aspekt der nuklearen Rüstungskontrolle, ohne die Relevanz anderer Bereiche – wie konventionelle Rüstungskontrolle und die B- und C-Waffenkonvention – zu bestreiten.

Diese Entwicklung im Bereich der Rüstungskontrolle hat auch Folgen für die Perspektiven von Abrüstung. Wenn auch Rüstungskontrolle in den Zeiten der Bipolarität nicht zur Abrüstung, sondern zur Stabilisierung des strategischen Verhältnisses geführt hat, so könnte doch eine erfolgreiche Rüstungskontrolle die Voraussetzung für den Einstieg in einen Abrüstungsprozess bilden. Für die Perspektive eines stufenweisen Abrüstungsprozesses bleibt Rüstungskontrolle daher unverzichtbar. Am Ende deute ich deshalb in einigen Überlegungen an, wo Auswege aus dem Elend der Rüstungskontrolle gesucht werden könnten. Dies bedürfte einer weiteren Diskussion.

Zur Einordnung der US-Rüstungskontrollpolitik

Wer die Entwicklung der Rüstungskontrolle in den Vereinigten Staaten betrachtet, muss die grundsätzlichen Kontinuitätslinien der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik berücksichtigen, um dann die Rüstungskontrollpolitik darin einordnen zu können. Vor allem zwei Aspekte sind hervorzuheben, die den Rahmen der Außenpolitik der Vereinigten Staaten vorgeben.

  • Erstens ist es das Ziel amerikanischer Außenpolitik, das eigene Umfeld nach den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen zu organisieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich dieses Umfeld seit Gründung der USA dramatisch verändert und vergrößert hat. Im 19. Jahrhundert ging es wesentlich um das Fernhalten der europäischen Mächte von den beiden amerikanischen Teilkontinenten. Die Monroe-Doktrin hatte in den Worten von Zbigniew Brzezinski die Funktion, den Anspruch der Vereinigten Staaten „auf einen Sonderstatus als alleiniger Sicherheitsgarant der westlichen Hemisphäre“ zu verdeutlichen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges stellte sich das erste Mal die Frage der Weltpolitik für die Vereinigten Staaten. Die Bereitschaft in den Eliten war jedoch für ein aktives politisches Engagement noch nicht groß genug. Nach den Erfahrungen mit Japan und Nazi-Deutschland konnte Roosevelt seine Konzeption einer Weltordnungspolitik in den USA durchsetzen. Seitdem umfasst das »Umfeld« der Vereinigten Staaten den Erdball. Das Verständnis der Reichweite der eigenen Interessen und das amerikanische Sicherheitsverständnis haben sich ungeachtet der geografischen Begrenzung unter den Bedingungen des Ost-West-Konfliktes globalisiert. Das heißt, dass sich diese Kontinuität historisch gewandelt hat: es geht um die Sicherung der Dominanz im internationalen System.
  • Auf die Gründungsväter geht zweitens die Tradition zurück, die eigenen Interessen möglichst frei und ungebunden zu vertreten und sich deshalb nicht mehr als notwendig in Bündnissen zu binden. Die Bewahrung der eigenen Handlungsfreiheit war immer ein wesentliches Grundmotiv der amerikanischen Außenpolitik. Strategien, wie Unilateralismus und Multilateralismus, müssen unter diesen Gesichtspunkten bewertet werden. Es gibt in der amerikanischen Elite kaum Vertreter eines grundsätzlichen Multilateralismus. Vielmehr werden multilaterale Strategien dann akzeptiert, wenn die eigenen Interessen damit besser oder wenn sie in anderer Weise nicht durchgesetzt werden können. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Administrationen in der praktischen Politik hängen von der Wahrnehmung des Charakters der internationalen Beziehungen durch die jeweiligen Administrationen ab. Präsident Clintons Außenpolitik folgte ebenfalls der Maxime der eigenen Handlungsfreiheit, auch wenn er multilaterale Instrumente einsetzte. Eine Unterscheidung zwischen Isolationisten und (idealistischen) Internationalisten betrifft daher die Frage der Handlungsfreiheit und der Reichweite der Selbsteinbindung in multilaterale Arrangements, nicht die des internationalen Engagements. Bei allen Unterschieden zwischen den Administrationen sollte diese Kontinuitätslinie nicht unterschätzt werden. Die unilaterale Ausrichtung der Politik der Bush-Administration ist daher kein radikaler Bruch mit der Tradition. Es handelt sich vielmehr um eine extreme Ausprägung im Spektrum der amerikanischen Außenpolitik.

In der amerikanischen Debatte über »arms control« und der Frage, wie mit der gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit umgegangen werden sollte, besteht seit Mitte der fünfziger Jahre ein enger Zusammenhang zwischen der Theorie und Praxis der Rüstungskontrolle und der Entwicklung der nuklearen Strategie und Fähigkeiten. Die Bereitschaft, sich an Rüstungskontrollverhandlungen zu beteiligen, setzte sich durch, weil aus Sicht vieler Vertreter der »security community« ein ungewollter und strategischer Schlagabtausch zwischen den Nuklearmächten verhindert werden musste. Es gab nichts zu gewinnen, im Gegenteil, durch einen atomaren Schlagabtausch wären mit hoher Wahrscheinlichkeit beide Seiten vernichtet worden. Es entstand so etwas wie ein nukleares Tabu, das den Einsatz und den Besitz von Nuklearwaffen beschränkte und »nur« den politischen Gebrauch von Nuklearwaffen zuließ: Drohpolitik und Zusammenhalt des jeweils eigenen Lagers. Der theoretische Krieg und der kontrollierte Rüstungswettlauf ersetzten den realen (Nuklear-)Krieg. Rüstungskontrollpolitik wurde Bestandteil der amerikanischen Sicherheitspolitik.

Zunächst ging es, wie schon erwähnt, um die Verhinderung eines Nuklearkrieges. Um diesem Ziel näher zu kommen, wurden Stabilitätskriterien entwickelt, die speziell auf Nuklearwaffen zugeschnitten waren. Dazu gehörte die zuverlässige technologische und organisatorische Kontrolle des Nukleararsenals, um einen Krieg aus Versehen zu verhindern. Darüber hinaus wurde das Konzept der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit entwickelt, damit keine der Seiten bei einem Erstschlag einen Krieg gewinnen konnte. Das beinhaltete, der jeweiligen Gegenseite die Fähigkeit zum Gegenschlag zuzugestehen. Der ABM-Vertrag ist nach Ansicht der Rüstungskontrolltheorie ein zentraler Pfeiler des nuklearen Rüstungskontrollregimes, da er verhindern sollte, dass eine der beiden Seiten ein Abwehrsystem installiert, das sie unverwundbar macht. Mit anderen Worten: Jede Seite sollte sich aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen verwundbar machen und so die Zweitschlagskapazität als theoretische Möglichkeit offenhalten. Rüstungskontrolle war damit notwendigerweise als kooperative Politik angelegt.

Nach dem Rückzug der Amerikaner aus Vietnam gab es eine kurze Phase der Bereitschaft zum sicherheitspolitischen Pragmatismus und zum Kompromiss, die sich im Abschluss einiger Rüstungskontrollabkommen niederschlug. Seit Mitte der 70er Jahre wurden die Ergebnisse dieser Politik in der sicherheitspolitischen community der USA von konservativer Seite kritisiert. Diese Gruppe, die sich im »comittee on present danger« zusammenschloss und in der auch ehemalige Befürworter der Abschreckungs- und Rüstungskontrollstrategie mitarbeiteten, begann an der Wirksamkeit der Rüstungskontrolle zu zweifeln und trat für eine offensivere Politik gegenüber der UdSSR ein. Mit der Reagan-Administration bekamen die Vertreter dieser Richtung erstmals direkten Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik. Bereits damals wollten die Vereinigten Staaten sich aus der Rüstungskontrolle und damit aus einer kooperativen Sicherheitspolitik verabschieden. Das Programm der strategischen Raketenabwehr im Weltraum sollte eine lückenlose Verteidigung ermöglichen und damit die Abschreckung auf der Basis nuklearer Parität obsolet machen. Paradoxerweise war es dann genau diese Administration, die das Ende des Ost-West-Konfliktes kooperativ einleitete.

Rüstungskontrollpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes begann in den Vereinigten Staaten eine Grundsatzdebatte über die Außenpolitik der letzten Supermacht. In diesem Rahmen wurde die Rolle von Rüstungskontrolle jenseits der Bipolarität thematisiert. Rüstungskontrollspezifischer Hintergrund der Debatte war, dass ein Teil der US-amerikanischen »security-community« die kooperative Rüstungskontrolle immer als Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit betrachtet hat und grundsätzlich nur unter den Bedingungen des nuklearen Patts bereit war, sich auf vertragsgestützte Rüstungskontrolle und damit Selbstbindungen einzulassen. Das Anwachsen des Einflusses der rechtskonservativen Kräfte in den Vereinigten Staaten verschob bereits in den achtziger Jahren die Schwerpunkte der Debatte und versuchte Rüstungskontrolle als Bestandteil eines offensiven Konzeptes um zu interpretieren.

Gleichzeitig wurde das Thema der kooperativen Kontrolle durch das Thema der Proliferation ersetzt. Paradoxerweise begann die Proliferationsproblematik nach der unbefristeten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages im Jahr 1995 erneut akut zu werden. Zunächst wurde die unbefristete Verlängerung des Vertrages eher positiv dargestellt, auch wenn sich die diskriminierende Schieflage des Vertrages zwischen Atomwaffenbesitzern und -nichtbesitzern durch die Verlängerung des Vertrages nicht veränderte. Das »Tabu« (Daase) bezüglich des Besitzes und des Einsatzes von Nuklearwaffen begann sich aufzulösen. Auch die Vereinigten Staaten haben an dieser Entwicklung einen Anteil. An der Ablehnung der Ratifizierung des umfassenden Teststoppabkommens durch den Kongress im Jahr 1999, kann man schließen, dass die konservative Mehrheit sich gegenüber der Clinton-Administration durchsetzte. Da die gegenwärtige Administration das Teststoppabkommen im Gegensatz zur Clinton-Administration ablehnt, wird es in diesem Bereich von amerikanischer Seite her auf absehbare Zeit keine Entwicklung geben.

Bereits die Clinton-Administration hat ihr multilaterales Engagement und die Unterstützung der Rüstungskontrolle zurückgefahren, z.T. aufgrund der konservativen Mehrheiten im Kongress. Dies betraf nicht nur die nukleare Rüstungskontrolle. Die C-Waffen-Konvention wurde im April 1997 vom Kongress unter Auflagen ratifiziert, die die Umsetzung des Vertrages erschweren. Das Ottawa-Abkommen über das Verbot von Anti-Personenminen (1997) wurde nicht unterzeichnet. Grundsätzlich hielt die Clinton-Administration jedoch an Rüstungskontrolle und kooperativer Sicherheitspolitik fest.

George W. Bush jr. trat seine Regierungszeit mit dem Ziel an, eine neue Sicherheitspolitik für die Vereinigten Staaten zu entwickeln, die von den Zwängen des Ost-West-Konfliktes befreit war. Die Zwillinge Rüstungskontrolle und Abschreckung waren in seiner Sicht Strategien des »Kalten Krieges«, geschuldet dem Kooperationszwang der bipolaren Parität. Die Handlungsfreiheit der amerikanischen Außenpolitik wurde durch multilaterale Abkommen eingeschränkt. Dieser Grundzug der amerikanischen Außenpolitik trifft in der gegenwärtigen Administration auf ein übersteigertes Sendungsbewusstsein, das die selbstbindende Qualität von multilateralen Abkommen und Völkerrecht als hinderlich sieht. Die Folge war eine systematische Erosion des Systems der Rüstungskontrollregime. Dabei vermischten sich außen- und innenpolitische Motive. Die Blockade bei den Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll für B-Waffen war zum Teil industriepolitisch, zum Teil durch Geheimhaltungsinteressen des Pentagon begründet.

Die Bush-Administration betreibt eine Aufwertung der Kernwaffen zum Instrument nationaler Sicherheitspolitik. Herrschaftslogisch mag das aus der Sicht der einzigen Supermacht rational erscheinen, da es sich hier um einen Bereich handelt, in dem waffentechnische Überlegenheit in direkte Macht umzusetzen ist. Die neue Nuklearpolitik zielt auf politische Nutzbarkeit in Konfliktfällen und Absicherung der eigenen Machtposition. In diesem Kontext sind Verträge, zu deren Abschluss die Bush-Administration bereit ist, so offen und flexibel formuliert, dass sich daraus keine Bindungswirkung ergibt. So hat der zwischen den Vereinigten Staaten und Russland abgeschlossene Vertrag zur Reduktion des Atomwaffenpotenzials (SORT) mit Rüstungskontrolle nichts mehr zu tun, da er nicht transparent ist und die Reduzierungen auf amerikanischer Seite nicht irreversibel sind.

Die Bush-Administration geht aber noch weiter und bereitet ein einsetzbares Potenzial an Nuklearwaffen vor, u.a. nukleare Gefechtsfeldwaffen. Durch dieses Verhalten verschiebt sich die gesamte Rüstungskontroll- und Proliferationsdebatte, da die Vereinigten Staaten damit de facto aus dem Nichtweiterverbreitungsregime aussteigen, wobei sie aber am Nichtverbreitungsvertrag festhalten wollen, da er sie zu nichts verpflichtet.

Ansätze für eine zukünftige Rüstungskontrollpolitik

Generell lässt sich sagen, dass die Administrationen der Vereinigten Staaten eine Politik verfolgten, die in ein Konzept des instrumentellen Multilateralismus passte. Nicht zu leugnende Unterschiede zwischen den Politiken der jeweiligen Präsidenten wurden, wie im Fall der Ratifizierung des umfassenden Teststopp-Vertrages, durch innenpolitische Blockaden im Senat ausgeglichen. Auch im Bereich der B- und C-Waffen zeigt die amerikanische Politik, dass sie zwar einerseits die Problematik der Proliferation ernst nimmt, sie anderseits aber mit dem Trend zum unilateralistischen Verhalten blockiert.

Zunächst sei davor gewarnt, zu denken, dass die Politik der Vereinigten Staaten, so sehr sie an dieser Stelle auch kritisiert wird, keine Ansatzpunkte für ein positives Herangehen an Rüstungskontrolle bietet. Dies hängt von der jeweiligen Administration und den Kräfteverhältnissen in Kongress ab. Dieses Kräfteverhältnis kann sich ändern und ist keine Konstante. Gleichzeitig darf man sich aufgrund der hinter der Rüstungskontrollpolitik liegenden »Philosophien«, auch der demokratischen Politiker, keine Illusionen machen. Paradoxerweise sind einige Rüstungskontrollabkommen unter republikanischer Präsidentschaft zustande gekommen. Unter anderen historischen Bedingungen hat beispielsweise eine ausgesprochen rüstungskontrollfeindliche Regierung, die Reagan-Administration, ihre Politik geändert und immerhin eine Waffenkategorie, die Mittelstreckenraketen (1987), abgerüstet.

Ziel einer vernünftigen deutschen oder im Idealfall europäischen Politik kann nur sein, auf Zeitgewinn und Lerneffekte zu zielen, die den unilateralistischen Charakter der gegenwärtigen US-Außenpolitik abschwächen helfen. Die gegenwärtige Lage macht es notwendig, über »Sonderwege« nachzudenken, um die kooperative und vertragsgestützte Rüstungskontrolle wieder zu stärken. Im Bereich der Landminen wurde das durch Kooperation von Nichtregierungsorganisationen und willigen Staaten bereits vorgemacht. Die Vorlage des Textes des Vertrages über einen umfassenden Teststopp vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, nachdem sich die Teilnehmer an den Genfer Verhandlungen nicht auf den Text einigen konnten, durch einige Staaten zeigt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, pragmatisch zu handeln. Das Ergebnis sollte auch auf die Gefahr von unterschiedlichen Zonen und Sicherheitsbereichen der Rüstungskontrolle hin weiterentwickelt werden. Dies könnte auch Chancen bieten, da regionale Rüstungskontrolle auch regionale Sicherheitsprobleme ansprechen kann. Generell sollten Rüstungskontrollprozesse so offen organisiert werden, dass jeder Betroffene und Interessierte grundsätzlich auch später – während des Verhandlungsprozesses und nach dem Vertragsabschluss – beitreten kann.

Massenvernichtungswaffen können im Moment rüstungskontrollpolitisch wenig konstruktiv behandelt werden. Hier gilt es, eine internationale Öffentlichkeit zu schaffen, die rüstungskontroll- und abrüstungswillige Kräfte in den Vereinigten Staaten stärkt und einem Wiedereintritt der Vereinigten Staaten in die Prozesse gegenüber offen ist. In diesem Sinne sollten die Europäer gegenüber den USA eine empathische Rüstungskontrollpolitik entwickeln. Dies setzt aber auch von europäischer Seite die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Definition von Sicherheitsinteressen voraus. Verfehlt wäre die Akzeptanz einer Politik des Krieges für Abrüstung, die – wie der Irakkrieg zeigt – scheitert und das System des Multilateralismus und der Vereinten Nationen gefährdet.

Abschließend will ich daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten trotz aller Kritik nicht alleine verantwortlich sind für die Misere der Rüstungskontrolle. Andere Staaten sind seit Jahren ebenso an der Unterminierung der Rüstungskontrollregime beteiligt. Eine Strategie zur Wiederbelebung der Rüstungskontrolle sollte sich daher nicht alleine auf die Vereinigten Staaten konzentrieren, sondern auch andere, regionale Akteure ansprechen. Das heißt, passend zur Ausdifferenzierung der Sicherheitsproblematik nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist es heute nötig, ein differenziertes Konzept der Rüstungskontrolle zu entwickeln und zu verfolgen.

Literatur

Daase, Christopher (2003): Der Anfang vom Ende des nuklearen Tabus. Zur Legitimitätskrise der Weltnuklearordnung, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 10. Jg., Heft 1, S. 7-41.

Friedensgutachten, Münster (jährl.).

Hippler, Jochen (2003): Die unilaterale Versuchung. Veränderte Dominanzformen im internationalen System, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2003: 818-825.

Koch, Jutta (1996): Pax americana forever? Über Wunsch und Vermögen der USA, die Weltpolitik zu führen, in: Meyer, Berthold (Red.): Eine Welt oder Chaos?, Frankfurt/M., S. 153-177.

Medick-Krakau, Monika (1996): Die Außenpolitik der USA, in: Knapp, Manfred; Krell, Gert (Hg.): Einführung in die Internationale Politik, München, Wien, 3. Aufl., S. 54-84.

Nassauer, Otfried (2003): Die Rückkehr der Atomkrieger, in: FriedensForum 2/2003, S. 43-46.

Rudolf, Peter (2002): USA – Sicherheitspolitische Konzeptionen und Kontroversen, in: Ferdowsi, Mir A. (Hg.): Internationale Politik im 21. Jahrhundert, München, S. 147-162.

Schaper, Annette (2003): Die Aufwertung von Kernwaffen durch die Bush-Administration, in: Friedensgutachten 2003, hg. v. Corinna Hauswedell, Christoph Weller, Ulrich Ratsch, Reinhard Mutz und Bruno Schoch, Münster, Hamburg, London, S. 138-147.

Helmut Hugler ist Historiker und Vorstandsmitglied im Institut für Internationale Politik

Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Vereinten Nationen:

Rüstungskontrolle und Abrüstung

von Harald Müller

Der Umgang mit den Mitteln organisierter Gewaltanwendung ist ein zentrales Thema von »global governance«. Da die Vereinten Nationen (VN) deren zentrales institutionelles Element darstellen, fragt sich, welche Rolle sie in der Rüstungskontrolle und Abrüstung spielen können und wollen.1 Im folgenden Artikel wird zunächst die Aufgabenstellung skizziert, die die VN-Charta vorgibt, und sodann die Praxis der Vereinten Nationen betrachtet. Der Umgang mit der Thematik in den verschiedenen Vorschlägen zur VN-Reform wird in den Schlussfolgerungen kurz angerissen.

Die Charta der Vereinten Nationen enthält eine erstaunlich kräftige Sprache zur Abrüstung. In Art. 26 verpflichtet sie den Sicherheitsrat, „für ein System der Regelung der Rüstungen Pläne auszuarbeiten, die den Mitgliedern der Vereinten Nationen vorzulegen sind.“ Damit ist nicht weniger geschaffen als die Autorität der Vereinten Nationen, ihren Mitgliedern vorzuschreiben, wie sie mit ihren Streitkräften und deren Bewaffnung umzugehen haben, und zwar in Friedenszeiten, denn der Sicherheitsrat könnte zu solchen Plänen unter Kapitel VII der VN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) auch Entschließungen fassen. Mit dieser Vorschrift ist ein qualitativer Schritt gegenüber dem klassischen kriegsvölkerrechtlichen Ansatz gemacht, nur die Anwendung der Waffen im Kriegsfall Einschränkungen zu unterwerfen. Die dahinter stehende Idee reflektiert eine doppelte Erkenntnis:

  • Die Möglichkeit zur Aggression setzt eine einsprechende Streitkräftekonstellation und ein vorteilhaftes Kräfteverhältnis voraus; diese Voraussetzungen können durch verbindliche Begrenzungen der Streitkräftekonfigurationen beseitigt werden. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) zugrunde, der die für eine raumgreifende Offensive unerlässlichen Waffensysteme einer Begrenzung unterzieht.
  • Wildwüchsige Rüstung verschärft das Sicherheitsdilemma, treibt in die Überrüstung und kann im schlimmsten Fall präemptive Kriegshandlungen provozieren. Eine international verbindliche Streitkräfteordnung wirkt beruhigend auf das Sicherheitsdilemma ein und ist insofern ein Eckstein für internationale Stabilität und Frieden.

Mit der Ausarbeitung dieses Rüstungskontrollplans betraut die Charta den Generalstabsausschuss des Sicherheitsrates (Art. 26, Art. 47,1). Damit sollte sichergestellt werden, dass es sich nicht um utopische Luftschlösser handeln würde, sondern um einen soliden, von einschlägiger professioneller Expertise geprägten Entwurf.

Die Praxis der Vereinten Nationen

Bekanntlich ist diese Vorschrift nie verwirklicht worden, und der Generalstabsausschuss war nie arbeitsfähig. Der Ost-West-Konflikt gab den Selbsthilfestrategien der beiden Lager den Vorrang, das für die Ausarbeitung des Planes erforderliche normative Einvernehmen gab es zu keiner Zeit.2 Als das Ende des Konflikts die Neuaufnahme des Abrüstungsprojekts hypothetisch möglich machte, war seitens der Supermacht USA der Enthusiasmus für multilaterale Regelungen zumindest im konservativen Lager einer Präferenz für die Nutzung der eigenen Überlegenheit gewichen. Die Erhaltung amerikanischer Handlungsfreiheit im Sicherheitssektor wurde zunehmend nicht nur als Bedingung nationaler Sicherheit, sondern auch internationaler Stabilität verstanden, als deren einziger Garant sich Washington zusehends sah. Einzelne Vereinbarungen waren auf selektiver Basis immer noch möglich (zumindest für das politische Zentrum der USA, wenn auch nicht für die neokonservative Rechte), umfassende Pläne mit lang anhaltenden Konsequenzen kamen jedoch nicht mehr in Frage.3 Statt eines ganzheitlichen Neuanfangs blieb damit nur die bereits existierende Praxis fragmentierter Aktivitäten.

Der Regimeansatz

Der kooperationsstiftende Nutzen der Strategie, Streitfragen in ihre teilbaren Einzelkomponenten zu zerlegen und diese durch je spezifische Sets von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren zu behandeln, ist in der Regimeanalyse ausführlich untersucht und bestätigt worden.4 Genau so verfuhr die internationale Gemeinschaft im Feld der Rüstungskontrolle und Abrüstung. Als »Produkte« liegen eine Reihe von bilateralen, regionalen und globalen Abkommen vor, denen es um die Einhegung der von einzelnen Waffen- oder Operationstypen ausgehenden Gefahren geht und die der Vertrauensbildung innerhalb je spezifischer Sicherheitskomplexe5 dienen.

Die Vereinten Nationen sind nicht die »Eigentümer« dieser Regime. Diese »gehören« vielmehr ihren jeweiligen Vertragsparteien. Die VN spielen jedoch eine gewichtige Rolle beim Zustandekommen, der Erhaltung und Weiterentwicklung vor allem jener Verträge, die der Idee und Absicht nach universal sind, vor allem des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und des Biowaffenregimes. In beiden Fällen, wie auch bei den Gesprächen, die zum Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens führten, bot die Genfer Abrüstungskonferenz (Conference on Disarmament, CD) den Rahmen, in dem die Staaten die schwierigen strittigen Fragen klären konnten: Die CD, die früher verschiedene andere Namen trug, ist das einzige Verhandlungsforum für Abrüstungsfragen der Vereinten Nationen. Sie besteht ausschließlich zum Zwecke von Abrüstungsverhandlungen, ihr gehört eine (über die Jahre gewachsene) Minderheit der VN-Mitgliedsstaaten nach dem Prinzip regionaler Repräsentation an und sie entscheidet nach Einstimmigkeitsregeln. Die CD ist kein Teil des VN-Sekretariats, sondern eine semi-autonome Einrichtung, deren administrative Betreuung gleichwohl im Verantwortungsbereich des VN-Sekretariats (Department for Disarmament Affairs, DDA) liegt.

Seit 1996, dem Abschluss des umfassenden Teststoppvertrages (der aufgrund amerikanischer Resistenz nicht in Kraft trat), konnte sich die CD nicht mehr auf eine Tagesordnung und ein Arbeitsprogramm einigen, denn leider gilt auch für Verfahrensfragen die Einstimmigkeitsregel. Viel wertvolles diplomatisches Kapital liegt also in Genf brach. Eine Änderung ist wohl nur unter zwei Auspizien denkbar: Einer fundamentalen Änderung der amerikanischen Politik, deren Weigerung, über Regelungen für Waffen im Weltraum auch nur zu sprechen und in Verhandlungen über ein Produktionsverbot von Spaltmaterialien die Frage der Überprüfbarkeit einzubeziehen, maßgeblich verantwortlich für die Stagnation ist; oder einer Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in Verfahrensfragen, die es der Mehrheit ermöglichen würde, Verhandlungsforen zu etablieren, in die nach angemessener Zeit wohl auch die widerstrebenden CD-Teilnehmer einziehen würden. Insgesamt sind die direkten Einflussmöglichkeiten der VN hier noch weit begrenzter als im Falle der Überprüfungskonferenzen.

Die zweite wichtige Rolle der Vereinten Nationen besteht nämlich in der Betreuung der Überprüfungskonferenzen jener globaler Verträge, die über keine eigene Vertragsorganisation verfügen, wie das beim Chemiewaffenübereinkommen der Fall ist. Diese Aufgabe nimmt das Department for Disarmament Affairs übrigens auch für den Nichtverbreitungsvertrag wahr, denn die Internationale Atom-Energie-Organisation in Wien unterstützt den Vertrag zwar mit Dienstleistungen für die Verifikation im Rahmen des Artikels III, ist aber nicht eine eigene Vertragsorganisation mit Autorität über den gesamten Umfang des Vertrages. Die Vollversammlung der VN beschließt auf Antrag der Vertragsmitglieder bzw. Depositare die Bereitstellung von Ressourcen (Räumlichkeiten, Sekretariat) für die Überprüfungskonferenzen. Diese Leistung ist nicht gering zu schätzen, sind doch diese Konferenzen, richtig gehandhabt, das entscheidende Mittel für die Stabilisierung, insbesondere aber für die den Umständen angemessene Weiterentwicklung der Regime gegenüber neuen Herausforderungen. Erfolge und Misserfolge dieser Konferenzen sind in einem engen Korridor beeinflussbar durch die mehr oder weniger fähige Stabsarbeit der zugeteilten VN-Beamten, namentlich des jeweiligen Konferenzsekretärs. Dieser Faktor kann jedoch nur wirksam werden, wenn seitens der Mitgliedsstaaten ein Minimum an politischem Willen vorhanden ist, auf eine Einigung hinzuarbeiten. Wo dies fehlt, wie bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2005, kämpft auch ein guter Konferenzsekretär vergeblich.6

Die dritte und wichtigste (potentielle) Funktion der VN im Zusammenhang der globalen Regime ist der Umgang mit Situationen, in denen ein ernster Regelbruch vermutet oder bewiesen wird und Schritte unternommen werden müssen, um die Einhaltung des Vertrages – gegebenenfalls zwangsweise – zu gewährleisten. Für all diese Regime ist der Sicherheitsrat der ultimative Garant ihrer Integrität. Diese Rolle ist im Lichte der Charta angemessen, handelt es sich doch beim Bruch der Regeln, mit denen Massenvernichtungswaffen kontrolliert werden sollen, praktisch immer um eine Gefährdung von internationalem Frieden und Sicherheit, also jener Lage, in der der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta die Aufgabe des universalen Sicherheitsgaranten wahrzunehmen hat; daher hat der Sicherheitsrat durchaus auch die Möglichkeit, sich außerhalb der Regime aus eigener Initiative um diese Problematik zu kümmern, wie etwa nach dem Golfkrieg von 1991, als er mit der Einsetzung der UNSCOM (Sonderkommission), später der UNMOVIC (Überwachungskommission), eigene Instrumente schuf, um die Abrüstung des Irak sicherzustellen.7 Da die Robustheit aller Regime davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder darauf verlassen können, im Krisenfall nicht auf Selbsthilfe angewiesen zu sein, sondern auf einen verlässlichen Mechanismus der Krisenreaktion vertrauen zu können, ist diese Funktion des Sicherheitsrats von herausragender Bedeutung. Es ist um so bedenklicher, dass er dieser Aufgabe bislang unzureichend nachgekommen ist. Die laufenden Krisen im nuklearen Sektor – Nordkorea und Iran – werden anderswo betreut. Im Feld der Chemiewaffen werden zwar Verdachtsmomente gegen Mitgliedsstaaten geäußert, der Sicherheitsrat wird jedoch nicht damit befasst, und das Gleiche gilt für biologische Waffen. Damit fällt der wichtigste Mechanismus für die Stabilisierung der vom Vertragsbruch – oder dem folgenschweren Verdacht, ein solcher liege vor – bedrohten Regime weitgehend aus. Hier sind Schritte notwendig, um eine nicht nur unbefriedigende, sondern direkt gefährliche Situation zu korrigieren.

Dazu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, wobei die Idee, ein neues, großzügig ausgestattetes Verifikationsorgan als unabhängige VN-Behörde einzurichten,8 aus politischen wie aus haushaltlichen Gründen keine Chance hat. Wesentlich zur Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen, und zwar sowohl des Sicherheitsrats wie des Generalsekretärs, ist die Fähigkeit, streitige Datenlagen über den Bruch eines der globalen Abkommen technisch und strategisch beurteilen zu können. Hierzu sollte bei den Vereinten Nationen eine entsprechende Einheit platziert werden, und zwar am besten im Department of Disarmament Affairs, dessen vielfältige Routineaufgaben sicherstellen, dass die Fähigkeiten der neuen Experten auch außerhalb von Krisenzeiten sinnvoll genutzt werden können. Eine solche Einheit könnte dem Sicherheitsrat Entscheidungshilfe leisten und ihn von der einseitigen Abhängigkeit von notorisch unzuverlässigen nationalen Geheimdienstinformationen entlasten. Andererseits würde sie dem Generalsekretär zur Verfügung stehen, der durch seinen Untersuchungsauftrag für das Genfer Protokoll (Einsatz von chemischen und biologischen Waffen) ebenso auf derartige Hilfe angewiesen ist wie durch seine Aufgabe, unter Art. 99 der Charta, friedens- und sicherheitsgefährdende Umstände aus eigener Initiative in die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats zu rücken. Gerade dieses Mandat kann von Nutzen sein, um zwischenzeitlich die Lücke im Biowaffenregime zu schließen: Denn dieses ist nach der amerikanischen Weigerung, sich auf den Entwurf eines Verifikations- und Transparenzprotokolls einzulassen, ohne belastbare Verfahren geblieben, um mit Vertragsbrüchen umzugehen. Der Generalsekretär könnte hier nach Art. 99 einspringen, aber nur, wenn er über entsprechende Ressourcen verfügt, um vorhandene Informationen zu sammeln und zu bewerten.9

Auch die Verfahrensweise des Sicherheitsrats muss überholt werden. Es bedarf formalisierter Prozeduren, um die heikle Frage des Vertragsbruchs und der Antwort darauf angemessen zu entscheiden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Fakten auf den Tisch kommen und von einer übernationalen Warte bewertet werden und dass auch die Sichtweisen der Nachbarstaaten, die sowohl von Massenvernichtungswaffen-Programmen als auch von wirtschaftlichen oder gar militärischen Gegenmaßnahmen am stärksten betroffen sind, angemessen in die Erörterungen einbezogen werden. Nach den irakischen Erfahrungen sind hier grundlegende Revisionen erforderlich.10

Eine neue und umstrittene Rolle der VN – wiederum des Sicherheitsrates – besteht in der »universellen Gesetzgebung«, in der der Rat quasi ersatzweise für das Fehlen weltweit geltender Verträge einspringt. Im Feld der Rüstungskontrolle hat er dies mit der Entschließung 1540 getan. Sie verpflichtet die Staaten, eine Reihe von Maßnahmen im Innern (Umgang mit gefährlichen Stoffen) und Äußeren (Exportkontrollen) zu treffen, um den Zugriff von nichtstaatlichen Akteuren auf Massenvernichtungswaffen, ihre Technologien und Vorprodukte zu verhindern. Viele dieser Maßnahmen sind Teil der globalen Verträge, andere sind in den exklusiveren »Exportkontrollclubs«, d.h. der Gruppe der nuklearen Lieferländer und der Australien-Gruppe, vereinbart worden. Der Sicherheitsrat rechtfertigte diesen ungewöhnlichen und für viele anstößigen Eingriff in die Prärogative der Nationalstaaten mit der Dringlichkeit der Gefahr und der Tatsache, dass die diversen Regime auf absehbare Zeit nicht wirklich universalisierbar sein werden. Gleichwohl bleibt ein Beigeschmack, wenn fünfzehn Staaten über die nationale Souveränität aller übrigen, Verträge zu verhandeln oder ihnen beizutreten, einfach hinwegrollen, wobei klar ist, dass diese »Gesetzgebungsfunktion« des Sicherheitsrats die nationalen Interessen vieler verletzen mag, sicherlich aber nie die jener fünf mit Veto-Macht ausgestatteten permanenten Mitglieder. Es ist anzuraten, von dieser Option möglichst sparsam Gebrauch zu machen und jede zu diesem Zweck verabschiedete Entschließung mit einem Verfallsdatum zu versehen, die den Sicherheitsrat zu einer Neubefassung, d.h. einer Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Maßnahme, nötigt.11

Die Vereinten Nationen als Agenda-Setzer, Deliberator und Verhandlungsort

Eine der wichtigsten Aufgaben der VN ist es, neue Themen der Abrüstung zu identifizieren und für existierende Themen neue Aspekte zu benennen. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Vollversammlung und ihres ersten Ausschusses, der jährlich eine Vielzahl von Entschließungen zu Abrüstungsfragen verhandelt und anschließend die Entwürfe der Vollversammlung unterbreitet, wo über sie abgestimmt wird. Freilich ist festzustellen, dass die Mehrheit dieser Resolutionen nach dem Motto »und ewig grüßt das Murmeltier« Jahr für Jahr neu vorgelegt werden, ohne politische Wirksamkeit zu zeigen. Ein Großteil dieser Aktivitäten scheint der Selbstbefriedigung der Organisationsmitglieder zu dienen (nicht zuletzt der Blockfreien), ohne dass irgendjemand wirkliche politische Funktionen darin sieht. Indes ist die Möglichkeit vorhanden, auf diesem Wege neue Themen in die internationale Abrüstungsdiskussion einzuführen. Von besonderer Wirksamkeit sind in diesem Zusammenhang die Sondervollversammlungen der VN zu Abrüstungsfragen – allerdings hat seit zwei Jahrzehnten keine mehr stattgefunden, auch dies wegen US-amerikanischer Opposition.

Bisweilen setzt die VN nicht nur neue Agendathemen, sondern sorgt für deren Bearbeitung. Ein vorzügliches Beispiel ist das VN-Waffenregister, ein Instrument weltweiter Transparenz, das jährlich Berichte über Exporte und Importe von sieben konventionellen Hauptkampfsystemen auflegt. Das Register wird von einer Mehrzahl der Mitglieder regelmäßig beschickt. Seine bloße Existenz ist eine ständige Mahnung, dass das Prinzip militärischer Transparenz ein entscheidender Faktor globaler wie regionaler Vertrauensbildung ist. Dieses Register wurde innerhalb der Vereinten Nationen »erfunden«, verhandelt und operativ betreut.12

Ähnlich verhält es sich mit dem Kleinwaffenprogramm, dessen Existenz dem gezielten Einsatz verschiedener VN-Instrumente (Expertengruppe, Vollversammlungs-Deliberationen, Sonderkonferenz, Sekretariatsdienste) zu verdanken ist.13 Aus diesem Programm ist gleich die nächste Maßnahme, die Ausarbeitung eines Übereinkommens über die Kennzeichnung und Nachverfolgung von solchen illegalen Waffenströmen hervorgegangen: Hier hat die Vollversammlung unter Schweizer Vorsitz eine offene Verhandlungsgruppe eingesetzt, die es geschafft hat, einen einvernehmlichen Entwurf zu erarbeiten, der demnächst zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

Agenda-setting und Verhandeln ist eine Sache, Problemfelder gründlich zu durchdenken und zu diskutieren, um Lösungen zu entwerfen, ohne unter dem politischen Druck verbindlicher Verhandlungen zu stehen, eine andere. Die VN verfügen über zwei Institutionen für diesen Zweck. Das eine ist die Abrüstungskommission (Disarmament Commission, DC), ein Organ der Vollversammlung, das andere der Abrüstungsbeirat des Generalsekretärs.

Die Abrüstungskommission steht allen Mitgliedern der Vollversammlung offen. Sie tagt jährlich mehrere Wochen, jeweils auf drei Themenblöcke konzentriert. Ihre Teilnehmer sind Vertreter der Regierungen. Damit ist ihr Handicap gekennzeichnet: Alle stehen unter Instruktionen, und statt stressfreier Deliberation herrscht ein Verhandlungsklima mit allen Rigiditäten des diplomatischen Verkehrs. Die DC leidet insoweit unter den Mängeln der Genfer CD, ohne je deren verbindliche Ergebnisse produzieren zu können oder zu sollen. Sie ist in den letzten Jahren nicht in der Lage gewesen, sich auf einen Themenkatalog für ihre Sitzungen zu einigen – gerade wie die CD. Eingerichtet als Placebo für Mitgliedstaaten der VN, die in Genf nicht mittun dürfen, erscheint sie überflüssig, eine Geldverschwendung angesichts knapper Mittel, die weder zum Image der Vereinten Nationen noch zum Erfolg von Abrüstung beitragen kann. Als einziges der VN-Organe wäre ihr Ableben nicht zu bedauern.

Dies gilt um so mehr, als im Abrüstungsbeirat eine Institution zur Verfügung steht, deren Konstruktion geeigneter ist, den Bedingungen von Deliberation zu genügen. Nichts ist perfekt, auch im Beirat halten die Diplomaten die Mehrheit, obgleich alle 22 Mitglieder, die nach einigen Jahren ausgewechselt werden, nach repräsentativen Gesichtspunkten in persönlicher Kapazität berufen werden, also idealiter instruktionsfrei miteinander sprechen können. Realiter sind die Diskussionen des Beirats weitaus weniger vom Stress politischen Drucks gekennzeichnet. Das unverbindliche Setting erlaubt es, andere Meinungen gelten zu lassen. Das Format der jährlichen Berichte, die Sache des Vorsitzenden sind und nicht im Konsens abgestimmt werden, erlaubt freiere Diskussionen. Das setzt voraus, dass der Vorsitzende seine Position nicht missbraucht, eine Norm, die durchweg eingehalten wird. Die Berichtsentwürfe werden unter den Mitgliedern zur Kommentierung zirkuliert, und im Ergebnis kommt etwas heraus, dass keinen vollständigen Konsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, aber eben auch keine fundamentale Konfrontation gegenüber dem »Eingemachten« der Sicherheitsinteressen eines der repräsentierten Staaten darstellt.

Der Beirat tagt halbjährlich für drei volle Tage und konzentriert sich dabei auf zwei, maximal drei Themen, wozu auch jeweils geeignete Experten aus Nichtregierungsorganisationen angehört werden. Im Zusammenhang mit der VN-Reform hat der Beirat es geschafft, einen Bericht mit sehr substantiellen Empfehlungen zustande zu bringen.14 Neuerdings ist der Vorsitzende aufgefordert, die Ergebnisse seiner Arbeit der Vollversammlung zu präsentieren, womit die deliberative Arbeit des Beirats beträchtlich aufgewertet worden ist.

Generalsekretär und Sekretariat

Auf einige Funktionen des Generalsekretärs ist bereits hingewiesen worden. Darüber hinaus erlaubt ihm seine Rolle als Stimme der VN, selbst machtvoll als Agenda-Setter und Mahner aufzutreten. Im Feld der Abrüstung haben Generalsekretäre davon weitaus sparsamer Gebrauch gemacht als in anderen Themenfeldern, etwa Armutsbekämpfung oder humanitäre Intervention. Dies ist um so betrüblicher, als dem Generalsekretär mit dem Abrüstungsbeirat ein kompetentes und durchaus effektives Instrument zugeordnet ist, von dem er weitaus aktiver Gebrauch machen könnte.

Die Abrüstungsabteilung (Deparment of Disarmament Affairs, DDA), geleitet von einem Untergeneralsekretär, ist die kleinste Abteilung der VN. In Unterabteilungen nach den verschiedenen Waffentypen aufgegliedert, verfügt sie über einen multinationalen Stab, der anderen Organen der VN, aber auch den Vertragsregimen in Dienstleistungsfunktionen, zur Verfügung steht. Die DDA versieht auch die Vollversammlung mit Berichten über die komplizierten Abrüstungsfragen. Gerade kleinere und unterentwickelte Mitgliedsstaaten haben auf nationaler Basis kaum die Möglichkeit, selbständig Information zu beschaffen und Analysen zu erstellen. Die Arbeit des DDA ist für sie unerlässliche Voraussetzung, dem Gang der Dinge folgen zu können.

Schließlich sollte die Rolle des VN-Instituts für Abrüstungsforschung (UNIDIR) nicht unerwähnt bleiben. Mit einer minimalen Grundfinanzierung gelingt es dieser Institution unter ihrer gegenwärtigen Direktorin, für das gesamte Spektrum von Abrüstungsfragen Publikationen von hoher Qualität und dichtem Informationsgehalt zu erarbeiten, die gerade für die VN-Mitgliedsstaaten aus der Dritten Welt von großem Nutzen sind.

Schlussfolgerung: VN-Reform und Abrüstung

Die Analyse hat ergeben, dass die Vereinten Nationen für Rüstungskontrolle und Abrüstung zahlreiche Funktionen zu erfüllen haben. Da die VN eben die Vereinigung ihrer Mitgliedsstaaten sind, gelingt dies so gut, wie es der kollektive politische Wille der Staatenwelt zulässt. Ein Überschuss über diesen Vektor kann nur durch das Eigengewicht des Sekretariats und besonders des Generalsekretärs erzielt werden. Diese Variable ist größer als Null und kann beachtlich sein, darf andererseits auch nicht überschätzt werden – ein Generalsekretär, der sich in dieser Rolle überhebt, wäre schnell isoliert.

In der Diskussion wurden etliche Defizite notiert. Um so enttäuschender ist es, dass die offiziellen Vorschläge zur VN-Reform das Thema stiefmütterlich behandeln. Sie enthalten sporadische Vorschläge zur Abrüstung, aber wenig zum Verhältnis Abrüstung-VN. Eine Ausnahme bilden die Vorschläge des Abrüstungsbeirats, die jedoch von Kofi Annans hochrangiger Expertengruppe mangels Expertise in der Gruppe und ihrem Sekretariat weitgehend ignoriert wurden.15 Es ist zu befürchten, dass der Reformschwung, den der Millenium-plus-fünf-Gipfel mit sich bringt, am Feld VN/Abrüstung recht spurlos vorbeigehen wird.

Anmerkungen

1) Tanja Brühl/Volker Rittberger: From international to global governcance: Actors, collective decision-making, and the United Nations in the world of the twenty-first century, in Volker Rittberger (Hrsg.): Global Governance and the United Nations System, Tokio u.a., United Nations University Press 2001, S. 1-47.

2) Dimitris Bourantonis: The United Nations and the quest for nuclear disarmament, Dartmouth, Aldershot 1993.

3) US-Nuklearpolitik nach dem Kalten Krieg, Frankfurt/Main, HSFK-Report 3/2003.

4) Harald Müller: Die Chance der Kooperation. Regime in den Internationalen Beziehungen, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993.

5) Barry Buzan/Ole Waever: Regions and powers. The structure of international security. Cambridge, Cambridge University Press 2003.

6) Harald Müller: Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Frankfurt/M, HSFK-Report 4/2005; www.hsfk.de/downloads/report0405.pdf.

7) Brahma Chellaney: Arms control: The role of the IAEA and UNSCOM, in: Muthiah Alagappa/Takashi Inoguchi (Hrsg.), International Security Management and the United Nations, Tokio u.a., United Nations University Press 1999,S. 375-393.

8) Trevor Findlay: A Standing United Nations WMD Verification Body: Necessary and Feasible. An interim study prepared for the Commission on Weapons of Mass Destruction by the Canadian Centre for Treaty Compliance, Ottawa, Canada in cooperation with VERTIC, London, UK, May 2005; www.vertic.org/assets/Interim%20report%20UN%20WMD%20verification%20mechanism%20FINAL%20May%202005.pdf.

9) Una Becker, Harald Müller, Carmen Wunderlich: Während wir auf das Protokoll warten: Provisorische Wege, mit dem Bruch des Biowaffen-Übereinkommens umzugehen, Frankfurt/M, HSFK-Report 2005 (i.E.).

10) Hans Blix: Disarming Iraq, New York, Pantheon 2004.

11) Multilateral Disarmament and Non-Proliferation Regimes and the Role of the United Nations: An Evaluation. Contribution of the Advisory Board on Disarmament Matters to the High-Level Panel on Threats, Challenges, and Change, United Nations Department on Disarmament Affairs, Occasional Paper 8, New York 2004, S. 55/56.

12) Siemon T. Wezeman: The future of the United Nations register of conventional arms, Solna: SIPRI, 2003 SIPRI Policy Paper No. 4); http://editors.sipri.se/pubs/UNROCA.pdf.

13) Elli Kytömäki/Valerie Yankey-Wayne: Implementing the United Nations Programme of Action, Genf, UNIDIR 2004.

14) Vgl. Anmerkung 11.

15) Ich habe mich hierzu andernorts ausführlich geäußert und will das hier nicht verdoppeln. Vgl. Harald Müller: Multilaterale Abrüstung in der Krise. Die Vorschläge des High-level Panels und des UN-Abrüstungsbeirats zur Verbesserung der Nichtverbreitungsregime, in: Vereinte Nationen, 53 (2), April 2005, S. 41-45.

Prof. Dr. Harald Müller ist Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Vorsitzender des Beratungsausschusses zu Abrüstungsfragen (Abrüstungsbeirat) des Generalsekretärs der Vereinten Nationen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Voraussetzung oder Folge von Deeskalation?

von Herbert Wulf

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind kein zentrales Thema auf der heutigen politischen Agenda.1 Die Hochphase der Rüstungskontrollverhandlungen der 1980er Jahre, die zum Abschluss einiger wichtiger Verträge führte (INF, START I, CWC)2 ist vorüber, ebenso die Phase der Abrüstung unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges. Manche Verhandlungen wurden gestoppt und der Vertrag zum Verzicht auf Nukleartests (Comprehensive Nuclear Test-Ban Treaty, CTBT) ist bis heute nicht in Kraft, auch wenn sich die Atommächte bislang daran halten. Haben Abrüstung und Rüstungskontrolle angesichts der Rüstungskontrollkrise und der Umkehr des Abrüstungsprozesses von Anfang der 1990er Jahre heute keine Chance mehr?

Um Erfolg oder Misserfolg von Abrüstung und Rüstungskontrolle einschätzen zu können, ist es erforderlich, die Messkriterien hierfür zu benennen. Wenn das Ziel die vollständige Abrüstung sein sollte, wie dies in der Gründungsphase der Vereinten Nationen der Fall war, dann muss man tatsächlich von Scheitern sprechen. Sind die Ziele aber niedriger gesteckt, beispielsweise dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Kriegen und Krisen des 21. Jahrhundert eine deeskalierende Rolle spielen können, dann sieht die Bilanz zwar nicht rundum positiv, aber auch nicht völlig negativ aus.

Ziele von Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik

Für die heutige Relevanz von Abrüstung und Rüstungskontrolle lohnt ein Blick auf die Konzeption und Entwicklung dieser Politiken des letzten halben Jahrhunderts. In den 50er Jahren blockierte der Ost-West-Konflikt alle Abrüstungsbemühungen. Angesichts der wachsenden Nuklearwaffenpotenziale und der zunehmenden Zahl der Atomwaffenstaaten, aber auch der steigenden Ausgaben für Militär und Rüstung war das ursprüngliche Ziel der vollständigen Abrüstung offensichtlich nicht durchsetzbar. Ende der 50er Jahre wurde daher, zunächst in der »strategic community« in den USA, dann auch in den dortigen Ministerien und in anderen Ländern über eine Alternative nachgedacht. Das wichtigste Ergebnis war die »arms control«, die Rüstungskontrolle, oder wie der von Wolf Graf von Baudissin im Deutschen geprägte Begriff genauer beschreibt, die »kooperative Rüstungssteuerung«.3 Als »Manifest« der Verfechter der Rüstungskontrolle gilt vielfach ein Aufsatz von Morton Halperin und Thomas Schelling aus dem Jahr 1961. Die Autoren entwickeln drei zentrale Kriterien für erfolgreiche Kontrolle der Rüstung: Die Erhöhung der Stabilität, die Verringerung der Zerstörungsfähigkeit und die Verminderung der Kosten der Waffensysteme bzw. der Militärapparate.4

Um Stabilität zu erzielen, ist kooperatives Verhalten erforderlich – am Besten auf der Grundlage verbindlicher Abmachungen und unter intensiver gegenseitiger Aufsicht; denn, wie es später die »Palme-Kommission«5 formulierte, kann es Sicherheit angesichts der gegenseitigen Zerstörungsfähigkeit nur gemeinsam geben. Alle Beteiligten, so die Grundannahme, haben Interesse an der Erhaltung von Stabilität, um die Kriegsgefahr zu dämpfen, riskantes Verhalten in Krisen zu vermeiden und die Kosten zu senken.

Die Stabilisierung der zerstörungsträchtigsten Waffen wurde in den folgenden drei Jahrzehnten zum zentralen Gegenstand vielfältiger Bemühungen. Auch die Verminderung der Zerstörungswirkung war ein Ziel internationaler Verhandlungen, wenn auch oft mit dem Hintergedanken, damit Nuklearwaffen einsatzfähig zu machen. Kaum eine Rolle spielten hingegen Kostenüberlegungen. Die Rüstungshaushalte wuchsen und die populäre Forderung, Entwicklung statt Abrüstung, blieb ein Ziel, das tatsächlich in immer weitere Ferne rückte. Vielleicht wichtiger noch: In vielen Fällen wurde hingenommen, dass Rüstungskontrolle zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion mit quantitativer und qualitativer Aufrüstung einherging, so in den SALT I und SALT II Abkommen über strategische Nuklearwaffen. Gegenüber den nuklearen Habenichts-Staaten hingegen wurde versucht, den Verzicht auf Atomwaffen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages durchzudrücken.

Es fehlte der Rüstungskontrolle wegen dieses begrenzten Ansatzes nicht an Kritikern. Viele, nicht nur in der Friedensbewegung der späten 70er und 80er Jahre, sahen in der einseitigen Betonung der Stabilität einen Verrat am Ziel der Abrüstung. Einen Abbau der Waffenbestände hatte die Rüstungskontrolle bis in die 80er Jahre hinein nicht erreicht. Andere kritisierten den Gedanken als realitätsfremd, dass miteinander verfeindete Staaten daran interessiert sein könnten, Stabilität, ein Festhalten am status quo, zu vereinbaren. Ein Vertreter der realistischen Schule, Colin Gray, etwa formulierte sinngemäß: Rüstungskontrolle seit unmöglich, wenn sie nötig sei und nicht nötig, wenn sie möglich sei.6

Diese Situation änderte sich erst in der Endphase des Ost-West-Konfliktes. Unter dem Eindruck wachsenden wirtschaftlichen Rückstands gegenüber dem Westen war die Sowjetunion bereit auch Verträge abzuschließen, die man zuvor noch als nachteilig für die strategische Stabilität mit den USA angesehen hatte, wie den Vertrag über die Begrenzung von Mittelstrecken-Nuklearwaffen (INF). Das Tempo der Rüstungskontrolle steigerte sich enorm, und die Abkommen waren nun regelmäßig mit Reduzierungen von Waffensystemen verbunden. Rüstungskontrolle und Abrüstung fanden parallel zueinander statt. Mit dem INF-Vertrag wurde eine bestimmte Klasse nuklearer Waffensysteme abgebaut. Auf START I folgte START II mit tiefen Einschnitten bei den strategischen Nuklearwaffen, obwohl START II nie ratifiziert wurde. Die Chemiewaffenkonvention wurde ausgehandelt, die die Abschaffung einer ganzen Kategorie von Waffen vorsieht. In Europa wurde der Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE) abgeschlossen und die Streitkräfte in Ost und West deutlich reduziert.

Auch in dieser kurzen Hochphase der Rüstungskontrolle blieb das Kriterium der Stabilität vorrangig. Abrüstung war wichtiges Nebenziel und wurde beschränkt auf Fälle, die allgemein als stabilitätsfördernd angesehen wurden. Die Zerstörungswirkung wurde ebenfalls stärker beachtet, etwa bei der Aushandlung der Chemiewaffenkonvention. Das Kriterium der Kostenersparnis blieb weiterhin im Hintergrund, obwohl finanzielle Engpässe viele Abrüstungsschritte beflügelten. Nur am Rande wurden die Kosten der Abrüstung, nämlich die Verschrottung oder Entsorgung der Waffen, bedacht, die in einzelnen Fällen erheblich sein können, so beispielsweise bei den Chemiewaffen, bei der Entsorgung der Atomsprengköpfe oder beim Räumen von Minen.

Eskalation – Stabilität – Deeskalation

Parallel zur Definition des Konzeptes der »arms control« mit dem Hauptziel der Sicherung der Stabilität zwischen gegnerischen Systemen, propagierten die Vertreter der klassischen realistischen Schule, der »strategic studies«, in den USA das Konzept der Eskalation. Die RAND Corporation etwa oder Hermann Kahn,7 bemühten sich um Konzepte, Nuklearwaffen im Krieg einsetzen zu können und dabei selbst Herr der Lage zu bleiben, also die Eskalation zu beherrschen. Auch wenn das Konzept der Eskalationskontrolle im strategischen Denken immer einen Stellenwert behalten hat, so setzte sich doch mit der Entstehung des nuklearen Gleichgewichts, der gegenseitig gesicherten Zerstörung (mutual assured destruction), die Erkenntnis durch, dass die Kontrolle der Eskalation nicht mehr nur von der Dominanz des eigenen militärischen Potenzials abhängig ist, sondern dass die Kategorie von militärischer Überlegenheit oder Unterlegenheit mit der Existenz und Anhäufung der Atomwaffen grundsätzlich in Frage gestellt war. Die Anerkenntnis dieses Zustandes war die Voraussetzung für Rüstungskontrolle und des Konzepts der Gemeinsamen Sicherheit, wie sie sich in den 1970er und 1980er durchsetzten.

Die Frage ist, kann aus diesen Erfahrungen – dass Eskalation auch im engen militärischen Sinne eine fragliche Kategorie geworden ist, dass das Konzept der Erhaltung der Stabilität immerhin auf eine Geschichte zurückblicken kann, in der die Nuklearwaffen nicht eingesetzt und eine direkte kriegerische Konfrontation zwischen Ost und West vermieden werden konnte – für die heutigen Krisen und Konflikte etwas abgleitet werden?

Die Fortentwicklung zu einem Kontinuum Eskalation – Stabilität – Deeskalation scheint logisch. Wenn Rüstungskontrolle in manchen Bereichen Eskalation verhindern und in anderen zur Stabilität beitragen konnte, warum nicht auch zur Deeskalation? Das Paradigma der Deeskalation nimmt – wie in der Vergangenheit das Eskalationskonzept und die Rüstungskontrolle – „konfrontative Zuspitzungen im internationalen System“, nämlich Krisen und Kriege, sowie „vor allem die Konfliktdynamik und ihre Akteure ins Visier“. Anders als die Eskalations- und Stabilitätskonzepte geht Deeskalation davon aus, „einen aktiven politischen Prozess der Konflikttransformation“ bewirken zu können.8 Deeskalation will nicht nur die Krise verhindern, sondern durch Prävention oder Nachsorge positiv beeinflussen. Und die Frage schließt sich an, ob Abrüstung und Rüstungskontrolle dazu beitragen können oder ob sie lediglich Resultat der Deeskalation sind. Simpel ausgedrückt (und nochmals an das oben zitierte Diktum von Colin S. Gray angeknüpft und vom Kopf auf die Füße gestellt): Ist Rüstungskontrolle nötig, um den politischen Prozess zur Kontrolle von Krisen und Schaffung von Frieden zu ermöglichen; oder kann Abrüstung und Rüstungskontrolle nur dem politischen Prozess folgen und ist sie dann überhaupt noch nötig?

Praktische Ergebnisse von Rüstungskontrollverträgen – drei Beispiele

1. Die Ambivalenz der Ergebnisse des Atomwaffensperrvertrags: Die Rüstungskontrolle hat, trotz der Krise seit Mitte der 1990er Jahre, auch Erfolge zu verzeichnen. Der wohl wichtigste war die im Mai 1995 ausgehandelte unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages. Bei Abschluss des Vertrages im Jahr 1968 und der Ratifizierung im Jahr 1970 bestand die Befürchtung, dass innerhalb kurzer Frist mindestens zwei Dutzend Länder über Atomwaffen verfügen würden. Der Atomwaffenvertrag hat, trotz mancher Rückschläge, die Realisierung dieses Szenarios verhindert; eine Eskalation dieses Ausmaßes ist ausgeblieben, obwohl der Bau der Bombe in Israel, Indien und Pakistan sowie möglicherweise jetzt auch Nordkorea zur Sorge Anlass gibt. Der Vertrag sieht aber nicht nur die Begrenzung der Atomwaffenländer vor, sondern auch die Förderung der Entwicklung zivil nutzbarer Atomtechnologie und auch die Verpflichtung der Atomwaffenbesitzer, Verhandlungen zu einem möglichst frühen Termin zur generellen und vollständigen Nuklearabrüstung durchzuführen. Dieser letzte Passus im Vertrag (Artikel 6) wurde bei der Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 noch einmal bestätigt. Aber kein Nuklearwaffenstaat hat diese Verpflichtung jemals ernst genommen oder zeigt sich gewillt, die vollständige Abrüstung der Atomwaffen tatsächlich in Angriff zu nehmen. Die Bemühungen der Atommächte, aber auch vieler anderer Ländern, zielen weiterhin auf Verhinderung der Proliferation von Atomwaffen und der zur Herstellung relevanten Technologien ab. Diese Politik ist zweifellos zu begrüßen. Aber nicht nur die potenziellen Atomwaffen der Möchtegerne wie Nordkorea oder der Verdächtigen wie Iran und der außerhalb des Atomwaffensperrvertrages stehenden Atommächte wie Indien, Israel und Pakistan sind das Problem, sondern ebenso und vor allem die Atomwaffen der völkerrechtlich anerkannten Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA. Mohamed El Baradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), kritisiert die einseitige Forderung der Nuklearstaaten, dass andere Länder keine Nuklearwaffen beschaffen sollen. Mit Blick auf die USA und deren Verhältnis zu Nordkorea sagte er: „In Wahrheit gibt es keine guten oder bösen Nuklearwaffen. Wenn wir nicht aufhören, doppelte Standards anzuwenden, werden wir mit noch mehr Nuklearwaffen rechnen müssen.“ 9 Wenn die Eskalation in diesem Rüstungssegment weiterhin verhindert und zumindest Stabilität erhalten werden soll, muss eine Deeskalation einsetzen. Die Doppelmoral der Atommächte gefährdet die positiven Ergebnisse der Vergangenheit. Um die Atomambitionen heimlicher und potenzieller Atomwaffenländer zu stoppen, muss eine realistische Perspektive der schon 1968 vereinbarten vollständigen Nuklearabrüstung aufgezeigt werden. Angesichts der nach wie vor großen Zahl von Nuklearsprengköpfen können die Atommächte hier deutlich »Flagge zeigen« und durch Abrüstungsmaßnahmen einen Deeskalationsprozess einleiten, der sich dann vertraglich abgesichert verstärken kann. Abrüstung kann also als Basis oder Voraussetzung für Deeskalation genutzt werden.

2. Abrüstung und Rüstungskontrolle als Folge von Deeskalation – der KSE-Vertrag: 1990, kurz vor der Auflösung des Warschauer Vertragsorganisation (WVO), unterzeichneten die NATO und die WVO den für Europa gültigen Vertrag über konventionelle Streitkräfte (KSE), in dem die Vertragsstaaten einem umfassenden Stabilitätssystem aber auch der Ausmusterung von über 50.000 schweren Waffen und einer deutlichen Reduzierung der Zahl der Soldaten zustimmten. Der Vertrag ist die Grundlage für die heute militärisch entspannte Situation in Europa. Dem Vertragsabschluss waren komplizierte und kontroverse Verhandlungen vorausgegangen. Mehr noch: Über mehr als ein Jahrzehnt hatten sich die erfolglosen Verhandlungen über »Mutual Balanced Force Reductions« (MBFR)hinzogen. NATO und WVO nutzten die Verhandlungen, um der anderen Seite Rüstungseinschränkungen abzuringen und damit die eigene Position zu stärken. Vordergründig konnte man sich nicht über die Personal- und Waffenbestände verständigen; jede Seite legte Zahlenmaterial vor, das die andere Seite anzweifelte.

Es bedurfte des KSZE-Prozesses (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der sogenannten Helsinki-Vereinbarung von 1975, in der vage, aber politisch bedeutsame Absprachen über die Achtung der Menschenrechte, wirtschaftliche Kooperation und Sicherheit in Europa getroffen wurden. Dieser politische Vorlauf von zwei Jahrzehnten (1973 fanden Konsultationen zu MBFR statt, 1992 trat der KSE-Vertrag in Kraft) war offensichtlich notwendig, um Vereinbarungen über den Abbau militärischer Potenziale zu treffen. In diesem Falle waren Abrüstung und Rüstungskontrolle die Folge der Deeskalation. Das gesamte Verhältnis zwischen Ost und West musste sich gründlich ändern, vertrauensbildende Maßnahmen mussten erfolgen, bevor beide Seiten bereit waren, Abstriche an der im Zentrum Europas massierten militärischen Macht vorzunehmen. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes waren die Waffenarsenale offensichtlich überdimensioniert. Abrüstung war nicht nur vertraglichen Vereinbarungen zu verdanken sondern vor allem dem verbesserten politischen Klima. Tatsächlich sind in der Laufzeit des KSE-Vertrages erheblich mehr Waffen abgebaut worden (ähnlich wie bei START), als der Vertrag dies erforderte.

3. Deeskalation als Ergebnis von Abrüstung – Anti-Personenminenvertrag und Kleinwaffen: Als in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine ganze Reihe institutionalisierter Rüstungskontrollforen in die Krise kam (einige Verträge sind bis heute blockiert), war dennoch der Abschluss der Landminenvereinbarung möglich. Mit dem Ende des Kalten Krieges und parallel zur Etablierung der USA als einziger Supermacht setzte in vielen Ländern eine Neubewertung militärischer Risiken und damit auch der Bedeutung der Rüstungskontrolle ein. Interventionen in fernen Regionen wurden zahlreicher. Multilaterale Friedensmissionen auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen rückten als neue militärische Aufgabenstellungen in den Mittelpunkt. Das Kriegsgeschehen in vielen Regionen der Welt wurde stärker beachtet und es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, aus humanitären Gründen auf gewaltsam ausgetragene Konflikte deeskalierend einwirken zu müssen.10 Neben der daraus abgeleiteten notwendigen Umstrukturierung der Streitkräfte fanden die in diesen Konflikten vorrangig eingesetzten Waffen, wie Landminen und Kleinwaffen, erhöhtes Interesse der internationalen rüstungspolitischen und rüstungskontrollpolitischen Diskussion.

Die Art der Rüstungskontrolle, wie sie im Kalten Krieg etabliert worden war, erwies sich als nicht angemessen für diese neue Situation. Denn Stabilität war offensichtlich nicht das wesentliche Problem. Wichtiger waren die Verminderung der Zerstörungswirkung von Waffen, konkret der Schutz von Menschenleben, die Reduzierung der Waffenkosten und als neues Ziel kam die Deeskalation von Konflikten hinzu. Der Anti-Personenminenvertrag ist ein gutes Beispiel für die Umorientierung der Rüstungskontrolle. Wichtige Staaten, voran die USA, wollten Schützenminen alter Bauart verbieten, Minen mit modernen Selbstzerstörungsmechanismen aber zulassen. Dieser Ansatz entspricht der klassischen Rüstungskontrolle. Dem Problem, in diesem Fall der Gefährdung von Zivilisten, soll durch moderne Technik begegnet werden. Doch die meisten Vertragsstaaten stimmten der technischen Variante nicht zu. Weil eine Lösung im Forum der traditionellen Rüstungskontrolle (im Rahmen der Abrüstungskonferenz in Genf) nicht erreichbar war, verhandelte eine große Zahl sogenannter »gutwilliger« Staaten erfolgreich in einem neuen Rahmen, dem »Ottawa-Prozess«.

Der Vertrag von Ottawa11 ist weit davon entfernt, das Problem der Landminen gelöst zu haben. Dennoch zeitigte der Vertrag nicht nur Erfolge bei der tatsächlichen Räumung von Minen und der Zustimmung einer Mehrzahl der Länder, in Zukunft keine Anti-Personenminen herzustellen, zu verkaufen oder einzusetzen, sondern darüber hinaus gab es indirekte Folgen. Regierungen, die jahrelang im Rüstungskontrollforum die Verhandlungen blockiert hatten, sahen sich plötzlich mit einem Vertrag konfrontiert, dem sie zwar nicht angehörten, der aber dennoch öffentlichen moralischen Druck auslöst. Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) hatten genügend Druck erzeugt, um den Vertrag zu ermöglichen. Während die NRO sich vornahmen, dieses positive Ergebnis in anderen Bereichen zu wiederholen, bemühten sich viele Regierungen darum, dass ihnen das Rüstungskontrollforum nicht nochmals aus der Hand genommen wurde. Die derzeitigen Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen zur Kontrolle der Kleinwaffen (also Pistolen, Gewehre, Maschinengewehre usw.) sind auch ein Ergebnis des Landminenvertrages. Zunächst widerwillig, inzwischen aber doch ernsthafter, wurden Maßnahmen vereinbart und ein Aktionsprogramm in Angriff genommen, um der Anti-Personenminenplage Herr zu werden.12 Im Falle des Ottawa-Vertrages war es also möglich (in begrenztem Umfange) Abrüstungsmaßnahmen zu vereinbaren, um die Folgen dieser Waffen in den Konflikten einzuschränken. Zwar sind sich die Fachleute darüber einig, dass Minen und Kleinwaffen nicht die Ursache für gewaltsame Auseinandersetzungen sind, aber die leichte Verfügbarkeit der Waffen erhöht das Gewaltniveau. Die Deeskalation ist Ergebnis von Abrüstung und Abrüstung wiederum trägt zur Transformation der Konflikte bei.

Wie weiter?

Was sind die Unterschiede zwischen der »klassischen« Rüstungskontrolle und etwa den Verhandlungen im Rahmen des Ottawa-Prozesses? Zunächst ist hervorzuheben, dass der am Ende des Prozesses stehende Vertrag von Ottawa kein Rüstungskontroll – sondern ein Abrüstungsvertrag ist. Militärische Stabilität spielt keine Rolle, sondern die Verhinderung der Zerstörungswirkung von Waffen und die Schaffung von Voraussetzungen für politische Verständigung zur Entschärfung von Krisen und Beendigung von Kriegen. Allerdings fehlen wichtige Unterschriften von Staaten unter dem Ottawa-Vertrag. Länder wie die USA, Russland, Indien und China wollen aus militärischen Gründen nicht auf Anti-Personenminen verzichten.

Die mit einer Unterzeichnung des Vertrages von Ottawa verbundenen Kosten sind relativ gering und die positiven wirtschaftlichen Folgen der Minenräumung machen die Kosten mehr als wett. Es gibt keine aufwendige Verifikationsmaschinerie, nicht einmal eine Institution (wie im Falle der Chemiewaffen), die das Abkommen überwacht. Die Vertragsstaaten überwachen sich gegenseitig und durch regelmäßige Vertragskonferenzen. Wichtiger aber ist, dass die internationale Szene von NRO, die im Abkommen gar nicht erwähnt ist, die Überwachung übernommen hat und entsprechende Verstöße anprangert. Die Kombination »gutwilliger« Regierungen, vielfältiger national oder international operierender NRO und mobilisierter Öffentlichkeit ist der beste, und im Grunde einzige, Garant für die Einhaltung des Vertrages.

Der Vertrag von Ottawa hat seine Grenzen. Trotzdem war der neue Ansatz im Ottawa-Prozess weit erfolgreicher als die Verhandlungen im Rahmen der traditionellen Rüstungskontrollforen. Der Ottawa-Prozess ist bisher der einzige Fall »humanitärer« Rüstungskontrolle geblieben – der Schutz der Zivilbevölkerung vor diesen Waffen steht im Mittelpunkt. Ansätze hierfür gibt es auch bei den Kleinwaffen. Sie sind die eigentlichen Massenvernichtungswaffen; da die meisten Menschen in Kriegen durch Kleinwaffen und nicht durch konventionelle Großwaffen oder Atomwaffen sterben, ist deren Kontrolle besonders dringlich.

Abrüstung und Rüstungskontrolle können keine Garantie dafür geben, dass Krisen und Konflikte deeskalieren. Es gibt sowohl Situationen, in denen Abrüstung und Rüstungskontrolle die Voraussetzung für Deeskalation sein können als auch umgekehrt, politisch vereinbarte Deeskalation das Herunterfahren der Rüstungsarsenale möglich macht. Rüstungskontrolle und Abrüstung können an beiden Möglichkeiten auch für die Zukunft ansetzen.

Anmerkungen

1) Rüstungskontrolle zielt auf die Stabilität zwischen Gegnern ab und kann auch kontrollierte Aufrüstung bedeuten, während Abrüstung die Reduzierung militärischer Ressourcen (Waffen, Personal, Finanzen) bedeutet.

2) INF = Treaty on the Elimination of Intermediate-Range and Shorter-Range Missiles 1988; START = Treaty on the Reduction and Limitation of Strategic Offensive Arms (START I 1994, START II, unterzeichnet 1993, nicht in Kraft); CWC = Chemical Weapons Convention 1997).

3) Baudissin, Wolf von und Lutz, Dieter S.: Kooperative Rüstungssteuerung. Sicherheitspolitik und strategische Stabilität. Baden-Baden, Nomos, 1981.

4) Halperin, Morton and Thomas Schelling: Strategy and arms control. Washington, DC, Pergamon-Brassey’s, 1975.

5) Der Palme-Bericht: Common Security. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit, Berlin 1982.

6) Colin S. Gray: House of Cards. Why Arms Control Must Fail. Ithaca, N. Y., 1992.

7) Herman Kahn: On Escalation. Metaphors and Scenarios, London: Pall Mall Press 1965 (Hudson Institute Series on International Security and World Order).

8) Siehe den Beitrag von Corinna Hauswedell in dieser W&F Ausgabe, S. 7.

9) El Baradei, Mohamed: U.S. Should Set Nuclear Disarmament Example, Reuters 26. August 2003. Zitiert in Disarmament Diplomacy, Nr. 73, Oktober/November 2003, S. 43.

10) Siehe hierzu jüngst United Nations High-level Panel on Threats, Challenges and Change: A More Secure World. Our Shared Responsibility. New York 2004.

11) Zum Inhalt des Vertrages sowie den Mitgliedsländern siehe SIPRI: SIPRI Yearbook 2004, Oxford University Press, Oxford 2004, S. 803 – 804.

12) Graduate Institute of International Studies: Small Arms Survey 2002. Oxford, Oxford University Press.

Prof. Dr. Herbert Wulf ist ehemaliger Leiter des Bonn International Center for Conversion (BICC). Er ist Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) für Nordkorea und Vorsitzender des Vorstands von Wissenschaft und Frieden.

Demobilisierung ohne Nachhaltigkeit

Demobilisierung ohne Nachhaltigkeit

Die Fallbeispiele Äthiopien und Eritrea

von Francesco Zappatelli und Richard M. Trivelli

Das Jahr 1991 brachte im Horn von Afrika eine Umbruchsituation, in der nach langen Kriegsjahren sich mit dem Sturz der Regime in Äthiopien und Somalia und dem Entstehen neuer politischer und nationalstaatlicher Strukturen (Eritrea und Somaliland) eine Friedensperspektive für das Horn abzuzeichnen schien. International initiierte friedensstiftende bzw. friedenskonsolidierende Maßnahmen betrafen in erster Linie den militärischen Komplex. Sie hatten zum Ziel, die als legitim erachteten Staatsbildungsprozesse (Eritrea) bzw. Staatskonsolidierungsprozesse (Äthiopien, Somalia) zu unterstützen und so eine berechenbare Sicherheitslage zu schaffen. Diese Erwartungen wurden aber nicht erfüllt. In Eritrea und Äthiopien wurde der Demobilisierungsprozess durch einen Remobilisierungsprozess flankiert, der in der Rückschau die Nachkriegszeit in eine Zwischenkriegszeit verwandelte. In Somalia beschleunigte die gescheiterte militärische Intervention der UN den Prozess des Staatszerfalls und leitete über in einen Zustand der permanenten »low-intensity«-Kriegführung. Das beginnende 21. Jahrhundert zeigt keine grundsätzliche Reduzierung des Potenzials für gewaltsamen Konfliktaustrag in der Region, sondern verdeutlicht vielmehr, dass die Zeit nach 1991 von allen Akteuren zu umfassenden militärischen Rekonfigurationen genutzt wurde.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundsätzliche Frage, in welchem Maße – und ob überhaupt – Demobilisierungen als Bestandteil konflikt-deeskalierender und friedenskonsolidierender Prozesse zu verstehen sind.

Demobilisierungen als Forschungsgegenstand

Demobilisierung als institutionalisierter Prozess beinhaltet in Friedenszeiten die Anwendung von rechtlich festgelegten Verfahren zur strukturierten Entlassung von Individuen aus dem Militärapparat. Demobilisierungen nach dem Ende von Kampfhandlungen können, müssen aber nicht, als institutionalisierte strukturierte Prozesse ablaufen. Ihr genauer Verlauf und Inhalt wird wesentlich davon bestimmt, ob sie nach dem Ende von zwischenstaatlichen oder innerstaatlichen Kriegen stattfinden und ob sie nach Sieg oder Niederlage erfolgen.

Demobilisierung ist nicht gleichzusetzen mit Demilitarisierung. Sie kann, muss aber nicht, zwingend Teil eines umfangreicheren Prozesses von Demilitarisierung in dem betreffenden Staat und seiner Gesellschaft sein. Sie führt auch nicht zwangsweise zur Absenkung der Personalstärken von militärischen Verbänden, da sie oft von Prozessen der Neurekrutierung begleitet wird.

Zum Einen beinhaltet Demobilisierung in Friedenszeiten wie nach dem Ende kriegerischer Konflikte den rein mechanischen Prozess der Retransformation militärischen Personals zu zivilen Individuen. Dieser enthält folglich eine starke logistisch-organisatorisch ausgerichtete Komponente. Demobilisierung nach dem Ende von kriegerischen Konflikten ist zweitens aber auch Bestandteil einer komplexen Neuorganisation einer Gesellschaft in einer militär-strategisch veränderten Situation. Von daher beinhaltet sie eine starke sozio-kulturelle, geo-strategische und machtpolitische Dimension. Demobilisierung bedeutet drittens eine komplizierte Veränderung im individuellen und kollektiven Bewusstsein: die »Demobilisierung in den Köpfen« ist also auch als lange währendes psychologisches Phänomen zu betrachten.

In der gegenwärtigen Forschung werden Demobilisierungen primär als Teil von Transformationsprozessen von Krieg zu Frieden angesehen. Die Entwicklung dieser Forschung steht im ursächlichen Zusammenhang mit der Proliferation von kriegerisch ausgetragenen inner- und zwischenstaatlichen Konflikten in den letzten Jahrzehnten und den parallelen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, diese Auseinandersetzungen friedlich beizulegen und in den jeweiligen Konfliktregionen stabile Friedensordnungen zu schaffen. In der Sicht der internationalen Akteure, die in diese Konflikte intervenieren, bieten Demobilisierungen nach der Einstellung der Kampfhandlungen und die Errichtung einer neuen politischen Ordnung in Verbindung mit sozialer Reintegration der Demobilisierten in die Zivilgesellschaft eine gewisse Garantie für Sicherheit und Stabilität einer Nachkriegsgesellschaft und haben von daher unmittelbar friedenskonsolidierende Wirkung.

In diesem Ansatz ist vorrangiges Ziel, Staat und Regierung eines Landes, in dem demobilisiert wurde, zu stabilisieren und zu stützen, um erstens die innere Sicherheit zu garantieren und zweitens einen Rückfall in bewaffnete Konfliktaustragung zu vermeiden. Daher konzentrierten sich entsprechende international geförderte Programme auf die rasche technische Abwicklung der Demobilisierung und der damit einhergehenden Programme der sozialen Reintegration der Demobilisierten in die Zivilgesellschaft.

Entsprechend der aufgezeigten Verengung der international geförderten Demobilisierungspraxis konzentrierte sich die Forschung bislang ebenfalls primär auf die Untersuchung der unmittelbaren Kontexte der Demobilisierung und ihrer praktischen Durchführung sowie der nachfolgenden Programme der sozialen Reintegration von Ex-Kombattanten. Die Untersuchung

  • der historischen Hintergründe für die bewaffneten Konflikte, die Demobilisierungsprozessen vorausgingen,
  • der Rolle von Gewalt und Militär in den betreffenden Gesellschaften und Staaten,
  • der historischen und politischen Kontexte der Demobilisierungsprozesse und
  • der die Fragilität der Demobilisierungsprozesse bedingenden kontemporären politischen Zusammenhänge gerieten demgegenüber in diesen Arbeiten oft zu kurz oder sie fehlten völlig.

Die Defizite in der Herangehensweise an Demobilisierungen seitens der internationalen politischen Akteure wie auch der Forschung wurden im letzten Jahrzehnt wiederholt deutlich, durch das Scheitern von Friedensprozessen in Ländern, in denen eine Demobilisierung technisch erfolgreich durchgeführt worden war. Die Beispiele Eritrea und Äthiopien lassen als wesentliche Ursache hierfür u.a. die Schwäche der politischen Institutionen und der Zivilgesellschaften erkennen, aber auch die ökonomische Fragilität und die sozialen Verwerfungen mit ihren hohen Konfliktpotenzialen.

Äthiopien – Demobilisierung ohne Friedensgewinne

In Äthiopien fanden nach dem Machtwechsel von Mai 1991 umfangreiche Demobilisierungen von Kombattanten der regulären Armee und der verschiedenen Befreiungsbewegungen statt. Gleichzeitig wurden die Militärausgaben erheblich abgesenkt. Die internationale Gemeinschaft begrüßte und unterstützte diese Maßnahmen als Teil einer auf Friedenssicherung gerichteten Politik der neuen äthiopischen Regierung.1 Der als positiver Modellfall wahrgenommene Prozess der Demobilisierung und Reintegration von Ex-Kämpfern bildete in einer kontinentalen Perspektive Teil eines allgemeinen Prozesses der Demobilisierung und Reduktion militärischer Personalstärken sowie der Senkung von Militärausgaben im sub-saharischen Afrika nach Ende des Kalten Krieges.

Der allgemeine politische Kontext und die Zielsetzungen, die die relevanten Akteure mit der Demobilisierung verwirklichen wollten, blieben weitgehend unberücksichtigt. Folglich fehlte auch weitgehend die Erörterung der Bedingungen, die notwendig gewesen wären, um die realisierte Demobilisierung dauerhaft werden und in eine wirkliche Demilitarisierung von Staat, Gesellschaft und Mentalitäten der Individuen einmünden zu lassen.

Die Einlassung der neuen Machthaber, die Armee des gestürzten Regimes werde demobilisiert, weil das Land es sich weder leisten könne, eine solch umfangreiche Armee zu finanzieren noch länger eine solche benötige, wurde blind geglaubt. Die Sicherheitsaspekte des Demobilisierungsprozesses wurden meist nur in Begriffen des Störpotenzials der Mitglieder der Armee des gestürzten Regimes für den Friedensprozess im Lande betrachtet. Diese Fokussierung bildete die Basis für die Analyse, dass unter Friedenssicherungsaspekten die Demobilisierungsprozesse äußerst erfolgreich waren.

Unbeachtet blieb dagegen die Analyse der Demobilisierungsprozesse in ihrer Bedeutung für die Konsolidierung der Alleinherrschaft der »Ethiopian Peoples Revolutionary Democratic Front« (EPRDF). Folglich wurden die der Demobilisierung parallel laufenden Prozesse des Aufbaus neuer Sicherheitsapparate (neue äthiopische Armee, Polizei, Milizen, Sicherheitsdienste) und die damit verbundene umfangreiche Remobilisierung ehemaliger Soldaten und Kämpfer sowie Neurekrutierungen nur begrenzt wahrgenommen und dann nur als Elemente der langfristige Friedenssicherung im Lande gesehen.

Letztlich litten alle ausländischen Äußerungen und Untersuchungen zu den Demobilisierungsprozessen und Friedensfragen in Äthiopien und in der Region an einer ausgeprägten Fehlwahrnehmung der Entwicklungen in Äthiopien und in der Region seit 1991. Diese beruhte auf einer nahezu blinden Akzeptanz des von der EPRDF/TPLF öffentlich projizierten Bildes von sich selbst als einer dem Aufbau eines demokratischen Mehrparteiensystems und einer Zivilgesellschaft verpflichteten Organisation. Daher wurden während der Jahre 1991-98 die militaristische und hegemoniale Politik der »Tigray Peoples Liberation Front« (TPLF) innerhalb Äthiopiens, die Persistenz der inneräthiopischen Konfliktpotenziale, die regionalen hegemonialen Aspirationen Äthiopiens, die ungelösten Fragen zwischen Äthiopien und Eritrea und die langjährigen Spannungen zwischen den neuen Machtträgern in Addis Abeba und Asmara, kaum wahrgenommen oder in unzulässiger Weise in ihrer Bedeutung und Dynamik heruntergespielt.

Das falsche Verständnis der Ideologie und der politischen Zielsetzungen der EPRDF/TPLF führte konsequenterweise zu falschen Analysen der politischen Prozesse in Äthiopien seit 1991 und zum Unvermögen, die Rolle des EPRDF-Militärs korrekt zu begreifen und zu analysieren. Hieraus resultierte auch das Versagen, zu erkennen, dass die Demobilisierung der geschlagenen Derg-Armee und der bewaffneten Verbände anderer Befreiungsbewegungen als der EPRDF sowie die Reduktion der Militärausgaben nicht notwendigerweise mit einer verminderten Bedeutung der Rolle des EPRDF-Militärs in der Politik und der Aufrechterhaltung einer militärisch abgesicherten Dominanz und Herrschaft verbunden war.

Dies verstellte auch den Blick darauf, dass jenseits der primär kontextuell bedingten Reduktion von Militärausgaben und der Demobilisierungen die EPRDF/TPLF bereits unmittelbar nach ihrer Machtübernahme in Addis Abeba begann, ihre Truppen und Sicherheitsienste zu reorganisieren und zu verstärken. In einem mehrjährigen Prozess transformierte sie diese zu den Kernelementen der unter ihrer festen Kontrolle stehenden neuen äthiopischen Militär- und Sicherheitsapparate, die nicht nur die Fortdauer ihrer Herrschaft in Äthiopien garantieren sollen, sondern auch eine militärisch abgesicherte hegemoniale Rolle Äthiopiens in der Region.

Im Gegensatz zu anderen Demobilisierungsprozessen in Afrika traf Demobilisierung in Äthiopien vor allem die Besiegten. Die Demobilisierung von Teilen der EPRDF-Truppen führte nicht zu einer Verringerung der Gesamttruppenstärke der EPRDF-Armee und der aus ihr hervorgehenden neuen äthiopische Armee. Neue Rekruten traten an deren Stelle und nach Abschluss des Prozesses war die neue äthiopische Armee zahlenmäßig stärker und besser gerüstet als die EPRDF-Truppen des Jahres 1991.

Die Betrachtung der politischen Entwicklungen nach 1991 zeigt, dass Demobilisierungen in Verbindung mit Rekonfiguration der bewaffneten Organe der neuen Staatsmacht zentrale Elemente der EPRDF/TPLF Strategie waren, um nach dem militärischen Sieg über den Derg die politische Alleinherrschaft in Äthiopien durch militärisch abgesicherte Ausschaltung aller Konkurrenten zu erlangen und zu behalten.

Heute hat Äthiopien die größte und best ausgerüstete Armee im östlichen Afrika. Obwohl 2000-2002 umfangreiche Demobilisierungen aus der regulären Armee durchgeführt wurden, hat sich seitdem deren Umfang infolge von Neurekrutierungen beachtlich erhöht und dürfte wieder bei wenigstens 250.000 liegen. Zudem wurde 2002 mit dem Aufbau einer etwa 350.000 Mann umfassenden regional gegliederten Nationalen Reservearmee begonnen, deren Angehörige einerseits eine mehrmonatige Grundausbildung erhalten, andererseits wenigstens einmal im Jahr zu einer bis zu dreimonatigen Wehrübung einberufen werden können. Es scheint, dass viele der 2000-2002 demobilisierten jüngeren Soldaten inzwischen in diese Reservearmee rekrutiert wurden.

Gegenüber den Hochwerten aus der Kriegszeit wurden die äthiopischen Militärausgaben nach Kriegsende zwar abgesenkt, haben sich aber dann auf einem Niveau stabilisiert, das dem Doppelten der Vorkriegszeit entspricht.

Eritrea: Rekonfigurationsprozesse und Konfliktdynamiken

Die Situation des Jahres 1991 war in Eritrea – ähnlich wie Äthiopien – von drei großen Transformationsprozessen gekennzeichnet: dem Übergang vom Krieg zum Frieden, der politischen Systemtransformation und der Transformation von Befreiungsfronten in Regierungen.

Im Gegensatz zu Äthiopien liefen diese Transformationen allerdings nicht im Rahmen eines bereits bestehenden Staates ab, sondern waren mit einem Staatsbildungsprozess verbunden.

Für Eritrea lässt sich feststellen, dass die Transformation der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) zunächst in die Provisorische Regierung Eritreas und dann in die Regierung des Staates Eritrea bzw. die People’s Front for Democracy and Justice (PFDJ) als bereits während der Zeit des Unabhängigkeitskrieges geplante Progression in der Machtübernahme und Machtsicherung des militärischen Führungskaders geplant worden war und als solche zunächst auch durchgeführt wurde. Eine demokratische Öffnung durch Partizipation außenstehender Gruppen war allenfalls in einem Maße vorgesehen, das die Machtmonopolstellung der EPLF-Führung nicht gefährden würde. Der grundsätzlich militärische Charakter der Machtausübung wurde dabei niemals ernsthaft in Frage gestellt oder gar angetastet.

Dieser Umstand erwies sich als eine der größten Hypotheken beim Übergang vom Krieg zum Frieden. Dadurch, dass eine mentale Demobilisierung weder im Zirkel der politischen Macht noch bei der siegreichen Gruppe der Kombattanten vonstatten ging, blieb der Rekurs auf die Gewalt ein legitimes Mittel zum innergesellschaftlichen wie zum zwischenstaatlichen Konfliktaustrag.

Auch in Eritrea war der Komplex der militärischen Rekonfiguration ein wesentlicher Bestandteil der EPLF-Machtsicherungsstrategie, und diese Strategie korrespondierte mit den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, durch Demobilisierung und Reintegration von Kombattanten im Rahmen einer Geostrategie der regionalen Konfliktregulierung stabilisierende Maßnahmen in der Region zu initiieren. Ebenso wie die äthiopische Regierung nutzte auch die eritreische diese Chance zur Stärkung und Modernisierung ihrer Militärapparate. In Eritrea führte dies dazu, dass nach offiziellen Angaben zwischen 1993 und 1995 zwar ca. 55.000 von bei Kriegende ca. 95.000 EPLF-Kombattanten demobilisiert wurden, gleichzeitig jedoch durch Professionalisierung (Ausbau der Marine und Neugründung einer Luftwaffe) eine Berufsarmee von etwa 45.000 Personen aufgebaut wurde. Hinzu kommt durch die nationale Wehrpflicht eine stetig wachsende Reservearmee (Mai 1998: etwa 90.000). Hierauf aufbauend und mittels weiterer massiver Einberufungen konnte nach Ausbruch des zweiten Krieges zwischen Eritrea und Äthiopien Eritrea binnen kurzer Frist mit ca. 260.000 Personen die nach Äthiopien zahlenmäßig zweitgrößte Armee Afrikas mobilisieren.

Der Rekonfigurationsphase von 1991 bis 1998 kommen aber neben den militärischen Aspekten noch weitere wichtige Komponenten hinzu: im ökonomischen Bereich erfuhr Eritrea – entgegen der offiziellen Propaganda einer Öffnung zu marktwirtschaftlichen und demokratisch-pluralistische Prinzipien – eine beispiellose Konzentration von Wirtschaftskraft in den Händen der Partei, des Militärs, der Regierung und den ihnen angeschlossenen Institutionen und Organisationen. Die siegreiche EPLF hatte sich im Laufe der 90er Jahre in ein florierendes Wirtschaftsunternehmen transformiert, das nicht nur außerhalb staatlicher Kontrolle agierte, sondern über die spezifischen Verflechtungen zwischen PFDJ und eritreischer Regierung die Möglichkeit bot, letztere über die Strukturen der ersten zu kontrollieren.

Im zivilen Bereich folgte der Umbau der eritreischen Gesellschaft mehr und mehr dem Ideal des heroischen, quasi-egalitären Nationalismus der EPLF.

Die Niederlage des Jahres 2000 offenbarte die Fragilität und Unzulänglichkeit dieses Konzepts der nationalen Entwicklung. Aber erst nach der Niederschlagung der internen Oppositionsbewegung in 2001 wurde offensichtlich, dass durch die Reduktion der Führungsriege auf einen kleinen Kreis innerhalb der alten EPLF-Führung der Kriegsjahre und die starke Anlehnung Issayas Afeworkis an das Militär sich Eritrea zu einem System der verdeckten Militärdiktatur entwickelt hat.

Der gegenwärtige Zustand des »Nicht-Friedens« hat die eritreische Regierung in eine Situation hineinmanövriert, in der eine Reduzierung des militärischen Potenzials ausgeschlossen scheint, in der wirtschaftliche Prosperität noch nicht einmal mittelfristig erreichbar sein wird, in der die Diskreditierung der eritreischen Machtelite schrittweise voranschreitet und in der die eritreische Gesellschaft Gefahr läuft, in einen Fragmentierungsprozess zu gleiten, der nicht nur die gegenwärtige Regierung unter Issayas Afeworki, sondern sogar die territoriale Integrität und Existenz des souveränen Staates Eritrea bedrohen könnte.

Schlussbemerkung

Der Kriegsausbruch zwischen Eritrea und Äthiopien im Jahre 1998 offenbarte, dass die internationale Gemeinschaft mit ihrer Perzeption der beteiligten Regierungen als Teil einer neuen Generation demokratischer afrikanischer Führer einer fundamentalen Fehleinschätzung über den Charakter der Transformationsprozesse und der Absichten der Ex-Befreiungsfronten unterlegen war.

Infolge der genannten Mängel der Betrachtung und Analyse der Entwicklungen seit 1991 in der Region kam der Ausbruch des äthiopisch-eritreischen Kriegs im Mai 1998 für die meisten ausländischen Beobachter völlig überraschend. Binnen weniger Wochen war der putative Friedensbonus der Demobilisierungen der 1990er Jahre dahin. Durch umfangreiche Remobilisierungen ehemaliger Soldaten und Kämpfer sowie Neurekrutierungen in die Armee beider Kontrahenten lag der Umfang ihrer Militärverbände nur wenige Wochen nach Kriegsausbruch bereits erheblich über dem Niveau von 1991. Die Militärausgaben schossen steil in die Höhe.

Nach zwei Jahren Krieg, der die schwersten Kämpfe auf afrikanischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg sah, wurde im Juni 2000 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Ihm folgte im Dezember 2000 die Unterzeichnung eines Friedensabkommens, das jedoch keine der tieferen Konfliktursachen abschließend regelte, sondern nur die Verfahrensweise für die Regelung der Grenzprobleme festschrieb. Da sich Äthiopien im Widerspruch zu den Bestimmungen des Friedensvertrages bis heute weigert, den Entscheid der internationalen Grenzkommission zu akzeptieren, kam es bis 2005 nicht zu einer endgültigen Demarkation der Grenze, geschweige denn der Bearbeitung der anderen Konfliktfelder.

Nach Ende der Kämpfe im Juni 2000 haben sich beide Kriegsparteien gegenüber der internationalen Gemeinschaft auf umfangreiche Demobilisierungen und die Senkung der Militärausgaben festgelegt. Jedoch war keine der beiden Seiten willens, militärische Personalstärken und Ausgaben auf das Vorkriegsniveau zu senken.

Der Krieg 1998-2000 hat die Fragilität der seit 1991 in Äthiopien und Eritrea durchgeführten Demobilisierungsprozesse demonstriert. Auch die jetzige erneute Demobilisierung von Kämpfern nach Ende der militärischen Auseinandersetzung kann ohne Bearbeitung und nachhaltige Reduzierung der Konfliktpotenziale in diesem Raum jederzeit wieder rückgängig gemacht werden.

Eine kritische Beleuchtung der abgelaufenen Demobilisierungsprozesse und der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Äthiopien und im Horn von Afrika insgesamt nach 1991 legt nahe, dass die damit verbundenen Hoffnungen auf Friedenskonsolidierung weithin auf Wunschdenken und nicht auf stringenter Analyse beruhten. Nach 1991 fanden weder in Äthiopien noch in Eritrea tief greifende und nachhaltige Demokratisierungs- und Demilitarisierungsprozesse statt. Nur diese hätten zu einer Reduktion der historisch entstandenen hohen inner- wie zwischenstaatlichen Konfliktpotenziale im Horn von Afrika führen können, die Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der durchgeführten Demobilisierungsprozesse gewesen wäre.

Bedauerlicherweise verfiel die internationale Gemeinschaft nach 2000 in der Bewertung der politischen Intentionen beider Staatsführungen erneut in politisches Wunschdenken und blendete die andauernde Militarisierung von Staat und Gesellschaft aus der Bewertung der Regierungspolitik wieder weitgehend aus. Damit beraubte sie sich aber der Möglichkeit, tragfähige Strategien für langfristige und nachhaltige Friedenssicherung durch Reduktion von Konfliktpotenzialen und Demilitarisierung in Äthiopien und den anderen Staaten der Region zu formulieren. Ohne die Reduktion von Konfliktpotenzialen und die Demilitarisierung der Staaten, Gesellschaften und Köpfe der Menschen werden weiterhin technisch erfolgreiche Demobilisierungen immer nur Stückwerk von begrenzter Dauer ohne relevante Wirkung für die langfristige Friedenssicherung bleiben.

Für die Forschung stellt sich die Aufgabe, die Umbruchsituation von 1991 in den Kontext der vorangegangenen Kriege und bewaffnet ausgetragenen Konflikte einzuordnen und Brüche und Kontinuitäten aufzuzeigen. Die nach 1991 festgestellten militärischen Rekonfigurationen müssen eingebunden werden in eine Analyse des Geflechts lokaler und transnationaler Kommunikationssysteme, ökonomischer Beziehungen und Identitätsstrukturen der Gesellschaften des Horns. In diesem Sinne werden militärische Rekonfigurationen nicht als lokal oder regional begrenzte Umformungen von Gewaltpotenzialen verstanden werden müssen, sondern sowohl als Teil eines lokalen als auch eines internationalen ökonomischen und sozialen Systems, das gewaltsamen Konfliktaustrag integriert und als integralen Bestandteil einer globalisierten Ordnung akzeptiert.

Anmerkungen

1) Am 28. Mai 1991 übernahm nach einem 17-jährigen Bürgerkrieg die von der Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) dominierte Ethiopian Peoples Revolutionary Democratic Front (EPRDF) die Macht in Addis Abeba, die sie bis heute innehält.

Dr. Francesco Zappatelli und Richard M. Trivelli waren im Rahmen internationaler Missionen mehrfach in Äthiopien und Eritrea

Konversion ist tot… es lebe die Konversion

Konversion ist tot… es lebe die Konversion

von Peter Croll und Marc von Boemcken

Im Bereich der Wirtschaft bezeichnet Konversion die Umstellung des Produktionsprogramms eines Unternehmens auf andere Güter. Als vor fast zehn Jahren das Internationale Konversionszentrum in Bonn (BICC – Bonn International Center for Conversion) gegründet wurde, war in diesem Zusammenhang eine ganz bestimmte Art der Umstellung gemeint: Die Umwandlung militärischer Potenziale in zivile. In diesem Prozess soll das BICC – so wurde es bei der Gründung festgelegt – „als operativer Teil der Abrüstung“ wirken, bei der praktischen „Umsetzung von Demilitarisierung den notwendigen Transformationsprozess beschleunigen“ und die „entstehenden Kosten mindern“.
Schwerter zu Pflugscharen, dieses Sinnbild entspricht sicher dem, was man weitläufig unter einer »militärischen Konversion« versteht. Tatsächlich ist das Arbeitsspektrum aber wesentlich breiter. Sechs sich zum Teil überschneidende Aufgabenbereiche lassen sich im Zusammenhang dieser »klassischen« Rüstungskonversion zunächst voneinander unterscheiden:

  • Die Liegenschaftskonversion befasst sich mit der zivilen Verwertbarkeit ehemals militärisch genutzter Flächen, Gebäude und Anlagen.
  • Waffenkonversion ist die – nur in äußerst geringem Maße ökonomisch und ökologisch sinnvolle – zivile Umnutzung von aus Waffen gewonnenem Material.
  • Industriekonversion bezeichnet eine eher strukturelle Umorientierung von Produktionsabläufen.
  • Wissenskonversion ist die zivile Umorientierung militärischer Forschung und Entwicklung.
  • Finanzkonversion beabsichtigt eine Verringerung staatlicher Militärhaushalte und die Übertragung der freiwerdenden Mittel auf zivile Zwecke.
  • Die Humankonversion, auch Demobilisierung oder Reintegration, ist schließlich als Überführung von Menschen – als Arbeitskräfte – von einem militärischen in ein ziviles Umfeld zu verstehen.

Allein die sich bereits hier aus allen sechs Teilbereichen ergebende Vielfältigkeit der Herausforderungen lässt die mit einem umfassenden Konversionsprozess verbundene Komplexität erahnen. Es liegt auf der Hand, dass deren anwendungsorientierte und wissenschaftliche Bearbeitung einen zutiefst multidisziplinären Ansatz verlangt, der sowohl technische und ökonomische als auch politische und soziale Faktoren zu berücksichtigen hat. Als eine im Kern unabhängige Beobachtung und kritische Analyse der oben beschriebenen Konversionsprozesse, erstellt das BICC Empfehlungen für eine möglichst friktionslose Konversionsbewältigung, die verschiedene wissenschaftliche Perspektiven in sich bündeln und zu kombinieren versuchen.

Im populären Sprachgebrauch ist der Begriff der Konversion im Gegensatz zu diesem breiteren Verständnis häufig noch sehr eng einem ganz bestimmten historischem Bezugspunkt verhaftet. Gemeint ist natürlich ein sehr spezielles Konzept der Rüstungskonversion, das als ein vor allem politisches Unternehmen, die bestehenden Abrüstungserfordernisse unmittelbar nach Ende des »Kalten Krieges« möglichst reibungslos abzuwickeln versuchte. Die immer wieder gehörte Hoffnung auf eine »Friedensdividende« bezeichnete hierbei den aus der Freistellung von bisher militärisch genutzten Ressourcen für zivile Zwecke zu erwartenden Gewinn. Konversion war in diesem Sinne also vor allem ein kosten- und nutzungsorientierter Vorgang, eher utilitaristisch als idealistisch motiviert.

Schon bald wurden jedoch, aus den verschiedensten Gründen, die mit den Schlagworten »Schwerter zu Pflugscharen« und »Friedensdividende« umschriebenen Hoffnungen auf einen im großen und ganzen unproblematischen und profitablen Konversionsprozess enttäuscht. Die weltweiten Militärausgaben sind zwar im Zeitraum zwischen 1988 und 1998 um bis zu einem Drittel gesunken, trotzdem hat es aber – insbesondere in Osteuropa und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – nicht unbedingt die vielfach erwartete direkte Verbindung zwischen einem sinkenden Verteidigungshaushalt und einer positiven sozio-ökonomischen Entwicklung gegeben. Im Westen manifestierte sich die Friedensdividende darüber hinaus nicht in der erhofften Steigerung von Sozialausgaben oder, wie im »Bericht zur menschlichen Entwicklung« von den Vereinten Nationen 1994 vorgeschlagen, in einer erhöhten Entwicklungshilfe, sondern in einer Reihe von »unsichtbaren« Bereichen außerhalb des öffentlichen Sektors, z.B. in der Senkung der Netto-Neuverschuldung. Hinzu kommt, dass die direkte Umstellung von Rüstungsproduktionskapazitäten sich häufig als eine zivilwirtschaftliche Fehlallokation erwies. Der zu einer erfolgreichen Konversion nötige immense Kapitaleinsatz wurde vielfach unterschätzt. In Deutschland wurde im Laufe der 90er Jahre, insbesondere nach dem durchaus erfolgreichen Abschluss einer Reihe von nötigen Liegenschaftskonversionen, die Nachfrage nach einer Rüstungskonversion – zumindest in Bezug auf das Erbe des Ost-West Konflikts – immer geringer.

Der folgende Artikel versucht über die sowohl geographischen als auch thematischen Begrenzungen eines derart »engen«, historisch behafteten und rein finanziell ausgerichteten Konversionsverständnisses hinauszudenken. Wird die Konversionsidee den aktuellen sicherheitspolitischen Bedingungen und Erfordernissen angepasst, dann ist sie mitnichten »tot«. Im Gegenteil, der Beginn des neuen Jahrtausends bleibt eine Zeit des unbestreitbaren militärischen und sicherheitspolitischen Umbruchs, der in seiner wissenschaftlichen Begleitung von einer multidisziplinären Herangehensweise an komplexe Transformationsprozesse nur profitieren kann. In diesem Zusammenhang bleibt Konversionsforschung, auch ohne die ursprünglichen Vorgaben seitens der erwünschten »Friedensdividende«, unverzichtbar.

Konversion, Sicherheit und Entwicklung

In Erweiterung des oben skizzierten utilitaristischen Prinzips soll der Konversion, und insbesondere der Konversionsforschung, zunächst eine normative Grundannahme unterstellt werden. Dieser Erweiterung liegt die Einsicht zugrunde, dass Konversion nicht unabhängig von der Frage der Sicherheit behandelt werden darf. Der Wille zur Konversion ist ein implizites Eingeständnis der mit ihrer Erforschung befassten Perspektive. Sie beruht auf der Annahme, dass das Kollektivgut »Sicherheit« nicht mittels Aufrüstung oder Bewaffnung gewonnen wird. Vielmehr erzeugen militärische Mobilisierungsmaßnahmen in der Regel eine erhöhte Unsicherheit – eine paradoxe Logik, die der Politikwissenschaftler John Herz1 während des »Kalten Krieges« als ein im internationalen System fest verankertes Sicherheitsdilemma erkannte. Die Hypothese lautet, dass der Versuch durch steigende Militärinvestitionen ein sowohl subjektiv empfundenes als auch objektiv verifizierbares Sicherheitspotenzial zu produzieren, den gegenteiligen Effekt zur Folge hat, nämlich mehr Instabilität und Unsicherheit.

Hier hinterfragt die Konversionsforschung sowohl die theoretischen Axiome als auch die praktischen Konsequenzen orthodoxer Sicherheitsvorstellungen. Wirkliche Sicherheit kann nämlich in diesem Sinne nur das Ergebnis eines nachhaltigen sozio-ökonomischen Demilitarisierungsprozesses, sprich einer Konversion, sein.

Der Rahmen für eine thematische Erweiterung des Konversionsbegriffes folgert aus dem ihm innewohnenden Imperativ der Demilitarisierung. Konversion erscheint jetzt nicht mehr als die reine Umwandlung ehemals militärisch genutzter Kapazitäten im Interesse eines zivilwirtschaftlichen oder öffentlichen Nutzungsanspruchs. Konversion ist darüber hinaus die Verminderung des Einsatzes militärischer Instrumente gegenüber den Möglichkeiten ziviler Maßnahmen. Neben den anfangs erwähnten sechs »klassischen« Themengebieten lassen sich damit auch eine Reihe weiterer Aufgaben der Konversionsforschung zurechnen. So befasst sie sich mit der

  • Bewältigung und Förderung von Abrüstungs- und Entwaffnungsprozessen,
  • dem Problemfeld der Proliferationskontrolle, also mit der Verringerung und Einschränkung des internationalen Waffenhandels, sowie
  • mit der unabhängigen Beobachtung des Einhaltens einer demokratischen Kontrolle der Streitkräfte, dem so genannten Primat der Politik.

Wenngleich diese Bereiche nicht unbedingt immer auf eine zivile Nutzungsumschichtung abzielen, so sind sie dennoch eine notwendige Vorraussetzung für eine durch Demilitarisierung gewonnene erhöhte Sicherheit. Konversion wird durch diese Erweiterung somit zu einem integralen Bestandteil einer konstruktiven Konfliktbearbeitungs- und -präventionsstrategie.

Wird Konversion in diesem Zusammenhang als Teil einer umfassenden Konfliktprävention verstanden, so muss sie sich des Weiteren an den Referenzpunkten eines sich verändernden Sicherheitsdiskurses orientieren. Auf internationaler Ebene wird Sicherheit zunehmend nicht mehr ausschließlich als das traditionelle »sichern« territorialer Integrität verstanden, sondern auch als der Schutz des Lebens und der Rechte aller Menschen. Als nunmehr vorrangiges Objekt der Sicherheitspolitik besitzt dieses Individuum ein Recht auf körperliche Unversehrtheit (vor direkter Gewalteinwirkung, Krankheiten, Hunger, etc.) und auf die Einbettung in eine stabile ökonomische Struktur als Lebensbasis. Unter dem Stichwort »human security« kann somit, zumindest in der Rhetorik, eine epistemologische Verschiebung des Sicherheitsbegriffes von der Wahrung der Souveränität spezifischer Staatsräume hin zu einem Interesse an dem Wohlergehens der Menschen darin beobachtet werden. Die Kommission der Vereinten Nationen für menschliche Sicherheit unter dem Vorsitz der früheren Hohen Kommissarin der UN für Flüchtlinge, Sadako Ogata, und des Nobelpreisträgers Amartya Sen benutzt diesen Sicherheitsbegriff: „to protect the vital core of all human lives in ways that enhance human freedoms and human fulfilment.“2 Und UN-Generalsekretär Kofi Annan reflektierte: „The demands we face also reflect a growing consensus that collective security can no longer be narrowly defined as the absence of armed conflicts.“3 Die von der UNDP vorgeschlagenen »Millenniums-Entwicklungsziele« zur Beseitigung der menschlichen Armut sind daher auch und vor allem eine Herausforderung an eine verantwortliche Sicherheitspolitik. Eine entsprechend ausgerichtete Konversionsforschung kann sich mitnichten nur auf ein kritisches Studium des politischen Realismus beschränken. Im speziellen Kontext der Verringerung militärischer und der Stärkung ziviler Gesellschaftsstrukturen, haben sie auch Fragen der Armutsbekämpfung und der Ressourcenumverteilung zu interessieren. So sind unverhältnismäßig hohe Militärausgaben noch immer in vielen Entwicklungsländern ein wesentlicher Faktor für weitverbreitete Armut. Dies wurde zum Beispiel besonders im noch nicht weit zurückliegenden Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea, zwei der ärmsten Länder der Welt, sehr deutlich.

Armut selbst kann wiederum zur Quelle von Unsicherheit werden. Arme Menschen leben mit größerer Wahrscheinlichkeit in unsicheren Verhältnissen und sind eher bereit Gewalt anzuwenden, manchmal auch als Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch werden Armut und mangelnde Entwicklung häufig als Rechtfertigung für terroristische Aktivitäten angeführt. Zwar kommen Täter nicht unbedingt aus armen Familien, doch beziehen sie oft aus wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Ausbeutung die Motivation und Rechtfertigung für ihre Taten. Aus Sicht der Konversionsforschung erscheint Armut also zuallererst als ein Sicherheitsproblem. Indem sie sich der Bekämpfung der Armut als eines zentralen Beitrags zur menschlichen Sicherheit annimmt, weist die Konversionsforschung somit eine Reihe von Berührungs- und sogar Überschneidungspunkten mit der Entwicklungspolitik und Entwicklungsforschung auf.

Die zum Teil erheblichen Verschiebungen in der internationalen Staatengemeinschaft nach Ende des »Kalten Krieges« haben, alles in allem, die Grundlage für ein Konversionsverständnis geschaffen, das über ihre »klassischen« Themenbereiche entscheidend hinausgeht. Im zweiten Teil dieses Artikels sollen zunächst die möglichen Aufgabenbereiche einer pro-aktiven, also konfliktverhütenden, Konversion etwas genauer umrissen werden. Vor diesem Hintergrund wird dann eine über das bisher beschriebene Konzept hinausgehende Erweiterung des Konversionsbegriffes auf den Bereich des zivil-militärischen »peace-keeping« diskutiert.

Entwicklungen und Perspektiven

Die 90er Jahre markierten nicht die Geburt einer friedlicheren Weltordnung, sondern eine erneute Verschärfung des sicherheitspolitischen Gefahrendiskurses. Der medienwirksame Zusammenbruch und die Fragmentierung – auch »Balkanisierung« – vieler Staatengebilde, etablierten sich als ein in seinen humanitären Auswirkungen häufig katastrophales Grundproblem der vielbeschworenen »Neuen Weltordnung«. Der hierin zu beobachtende Typus der Kriegsführung hatte sich von Clausewitz’ Idealmodell weit entfernt. Ein innerstaatlicher, asymmetrischer, hochgradig emotionalisierter Krieg rückte plötzlich in den Blickpunkt einer schockierten Öffentlichkeit. Er zeichnete sich besonders durch ein Verschwimmen der »militärischen« und der »zivilen« Domäne beim Treffen taktischer Entscheidungen aus. Die grausame Konsequenz war eine unmittelbare Einbeziehung der Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen. Unsicherheit war überall.

Neue Welt(Un)ordnung – Alte Aufgaben

Mit der verstärkten Wahrnehmung von »Bürgerkriegen« wandelten sich auch Kernthemen der Konversion. Der Beitrag der Konversionsforschung zu interdisziplinären Krisenpräventions- und -bearbeitungsstrategien in den Ländern des Südens rückte immer mehr in den Mittelpunkt der von ihr zu bewältigenden Aufgaben und verdrängte zunehmend die Entsorgung der Altlasten des Ost-West Konfliktes. Damit Konversion pro-aktiv zur Konfliktverhinderung wirken kann, müssen aber auch die Ursachen von Konflikten und die Strategien zu ihrer Überwindung analysiert werden.

Methodologisch lässt sich Forschung für eine pro-aktive Konversion in eine Makro- und eine Mikroebene aufteilen.

Die für die Konversion relevante makro-gesellschaftliche Konfliktanalyse befasst sich zum einen mit den gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die eine nachhaltige Friedensordnung behindern, und zum anderen mit den gewaltfördernden ökonomischen Strukturen, die den Konflikt überlagern.

So werden erstens vor allem staatsinterne Krisen und gewaltsame Auseinandersetzungen durch entweder das Fehlen oder die verfassungswidrige Ausnutzung des staatlichen Gewaltmonopols immer wieder angefacht. Eine die menschliche Sicherheit berücksichtigende pro-aktive Konversion bedeutet hier die strukturelle Reform des Sicherheitssektors von einer »Privatisierung« der Gewalt hin zu einer der demokratischen Kontrolle unterworfenen »öffentlichen« Sicherheitsordnung.

Zweitens sind gerade afrikanische Kriege darüber hinaus häufig in regionale, wenn nicht gar internationale, ökonomische Verflechtungen eingebunden, die das Fortdauern von Kampfhandlungen unabhängig von konfliktinternen Dynamiken selbstständig fördern. Konversion kann hier als das Durchbrechen von – mit den Worten Johan Galtungs – »struktureller Gewalt« hin zu einer den »strukturellen Frieden« schaffenden sozio-ökonomischen Ordnung gedeutet werden.4 Die Konversionsforschung kann auf die meist komplexen Grundstrukturen dieser Konflikte hinweisen und Strategien für deren Überwindung formulieren.

Der »klassische« Aufgabenbereich der Konversion manifestiert sich allerdings weniger in einer strukturellen Konfliktanalyse als vielmehr in der mit ganz spezifischen Problematiken beschäftigten Mikrokonversion. Vor allem hier präsentieren sich viele Regionen – auch zehn Jahre nach Ende des »Kalten Krieges« – als eine große Herausforderung an die Friedensforschung. Pro-aktive Konversion kann insbesondere die im Moment abflauender Kampfintensität anlaufenden Friedensprozesse durch eine nachhaltige Entsorgung des Kriegsmaterials konsolidieren und vorantreiben. In einem Post-Konflikt Szenario fällt ihr zudem die schwierige Aufgabe zu, eine sowohl materiell abgesicherte als auch psychologisch sinnvoll betreute Wiedereingliederung ehemaliger Kombattanten – unter gleicher Berücksichtigung von Männern, Frauen und ganz besonders auch Kindern – in eine funktionierende Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Es bleibt anzumerken, dass die Konversionsforschung – in Ergänzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit – in diesem Zusammenhang einen »consulting service« anbieten, also als eine von den Konfliktparteien unabhängige beratende Instanz für alle gesellschaftlichen Akteure dienen kann.

»Peace-keeping« als Konversionsprozess

Innerhalb des Strategie- und Militärdiskurses westlicher Streitkräfte sind tiefgreifende und andauernde Veränderungen zu beobachten, die einer wissenschaftlichen Begleitung bedürfen. Einerseits haben die Ereignisse des 11. September 2001 die ohnehin schon aggressive und dem Völkerrecht oft gleichgültig gegenüberstehende Sicherheitsstrategie der USA noch weiter verschärft. Andererseits, und ironischerweise häufig als Konsequenz eben dieser neuen Interventionspolitik, gewinnen auch von den Vereinten Nationen getragene militärische Friedenseinsätze zunehmend an Bedeutung. Wie die am 21. Mai 2003 vom Bundesministerium der Verteidigung herausgegebenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« noch einmal in aller Deutlichkeit betonen, werden nicht Kriegseinsätze, sondern friedenssichernde Maßnahmen der »Konfliktverhütung und Krisenbewältigung« die zukünftige Marschrichtung der Bundeswehr bestimmen. Nicht zuletzt die derzeitigen Erfahrungen in Afghanistan zeigen, dass selbst das Unterfangen zivilgesellschaftlicher Rekonstruktion eine militärische Komponente zumindest nicht ausschließen kann. Wie sich bei der Diskussion um die mögliche zivil-militärische Zusammenarbeit in den »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs) herausgestellt hat, ist diese vermeintliche Notwendigkeit militärischer Fähigkeiten bei friedensfördernden Maßnahmen jedoch alles andere als unproblematisch. Bereits während der »peace-keeping« Einsätze auf dem Balkan prägte sich der denkwürdige Satz: „It’s not a job for a soldier, but only a soldier can do the job.“ Eine solche Aussage deutet darauf hin, dass ein fortan hauptsächlich mit »peace-keeping« Aufgaben betreutes Militär sich unter Umständen auf einschneidende Veränderungen einstellen muss. Hier eröffnet sich ein neuer Bereich für die Konversionsforschung. Paul Klemmer hat dies bereits 1995 erkannt: „Konversion [darf] nicht nur mit Transformation des Rüstungskomplexes in einen auf zivile Güter ausgerichteten Produktionskomplex gleichgesetzt werden, sondern kann auch als eine interne Umstrukturierung des Militärkomplexes selbst interpretiert werden.“5

Vor dem Hintergrund der nun plötzlich von der Weltgemeinschaft beachteten Bürgerkriege entstand am Anfang der 90er Jahre nicht nur die moralische Notwendigkeit, ein Konzept für »menschliche Sicherheit« zu entwerfen. Auch die Idee des »peace-keeping« und sogar »peace-enforcement« wurde in bis dato nicht gekannter Klarheit formuliert.6 Seiner alten Feindbilder und Aufgaben beraubt, nahm sich die Nordatlantische Allianz dieser Herausforderung dankbar an (Weißbuch 1994). Das aus dieser Vereinigung geborene Phänomen des »humanitären Krieges«7 entpuppte sich jedoch schnell nicht nur als ein begrifflicher Widerspruch, sondern auch – und vor allem – als ein das Militär selbst durchschneidender Widerspruch seines eigenen, historisch gewachsenen Selbstbildes. Denn erfolgreiches »peace-keeping« setzt, ungleich den Ausbildungserfordernissen des »Kalten Krieges«, ein radikales Umdenken militärischer Aufgaben und militärischer Doktrin voraus. Die notwendige Überwindung eines statischen Freund/Feind Schemas bedarf einer grundlegenden Transformation der strategischen und taktischen Einsatzgrundsätze des Militärs. Auch das mentale Selbstverständnis des »Soldat-sein« muss in den sich verändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Mit Rückblick auf die 90er Jahre und die andauernden Probleme militärischer »Friedenseinsätze« ist festzuhalten, dass sich der Militärkomplex westlicher Streitkräfte als gegenüber den neuen Aufgaben häufig als unflexibel herausgestellt hat. Konversionsforschung kann einen Beitrag dazu leisten, den nötigen inner-militärischen Wandel kritisch und unabhängig zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls, durch anwendungsorientierte Beratung von Entscheidungsträgern und über die Öffentlichkeit, zu forcieren, um neue Perspektiven und Möglichkeiten zukünftiger Friedensoperationen, insbesondere für den Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit, zu entwickeln und auf Schwierigkeiten hinzuweisen. Vor allem muss sie sich aber den inhärenten Widersprüchen der neuen Konzepte stellen, sich mit ihnen sowohl praktisch als auch theoretisch auseinandersetzen, und deren (Un)Möglichkeiten in Bezug auf potenzielle neue Krisenherde ausloten. Ein solches Unterfangen ist alles andere als einfach. Um der neuen Herausforderung des »peace-keeping« gerecht zu werden, muss der notwendige Wandel militärischer Denkmuster nämlich den originären Berechtigungsgrund des Militärischen, sprich die unbedingte Identifikation des Feindes, in Frage stellen.

Problemskizzen

Nachdem auf mögliche Richtungen einer Weiterentwicklung der Konversion, insbesondere in Richtung Entwicklung und Frieden, hingewiesen wurde, sollen abschließend zwei noch immer bestehende Problematiken kurz dargestellt werden. Die erste bezieht sich auf ein spezifisches Problem aktueller Kriege, die zweite auf den nach dem 11. September 2001 intensivierten Militarisierungstrend in den Vereinigten Staaten.

Die »neuen« Kriege der vergangenen Jahre, in Osteuropa und im Süden, weisen nicht nur auf die Dringlichkeit eines andauernden Nachdenkens über Chancen und Möglichkeiten der Konversion hin. Von einer anderen Perspektive aus betrachtet, stellen sie die Konversion selbst in Frage. Das grundlegende Konzept einer Konversion beruht nämlich auf der Annahme einer unproblematischen Existenz zweier klar voneinander zu unterscheidenden Domänen – dem »Militärischen« und dem »Zivilen«. Eine der vielleicht am besorgniserregendsten Charakteristiken vieler aktueller Kriege und Konflikte ist, dass genau diese beiden Kategorien ineinander zu verschwimmen drohen. Als Beispiel sei der Zerfall von Staatsstrukturen und die sich daraus ergebende Privatisierung des Sicherheitsmonopols genannt. Eine sinnvolle Konversion muss also häufig zuerst die Parameter erforschen, auf Grund derer sie überhaupt erst möglich wird. Dies ist zwar kein neues Problem für die Konversionsforschung – es stellt sich zum Beispiel auch durch die Problematik des »dual-use«-Charakters vieler moderner Technologien – aber seine Bedeutung nimmt zu.

Im Rahmen der von »präventiven Interventionen« bestimmten neuen US-Außenpolitik könnte sich der Konversionsforschung ein breites Tätigkeitsfeld unter dem Schlagwort »nation-building« eröffnen. Das Gebot der Stunde lautet Gesellschaftskonversion, der Übergang von Diktatur zu Demokratie. Wobei diese Frage sicherlich von hoher aktueller Brisanz ist, so muss sich die Konversionsforschung sehr hüten, sich nicht als beratendes Element einer aggressiven Interventionspolitik instrumentalisieren zu lassen, die die Welt nach westlichem Muster zu strukturieren versucht. Konversionsforschung ist mehr als nur die praktisch-utilitaristische Beratung zur Effizienzsteigerung bereits bestehender und als unproblematisch empfundener Sicherheitspolitik, sei es im Namen eines nationalen Interesses oder auch der menschlichen Sicherheit. Konversions- und Friedensforschung muss auch die ontologischen Grundlagen, Denkmuster und Diskurse hinterfragen, die eine solche Politik überhaupt erst in Erscheinung treten lassen und sich um die Formulierung realistischer Alternativen und Perspektiven bemühen.

Mit Hinblick auf ihre normative Grundeichung muss die Konversionsforschung – wie auch schon zur Zeit des »Kalten Krieges« – weiterhin eine Kritik orthodoxer Sicherheitsvorstellungen bleiben. Häufig wird der »Feind« erst im Moment seiner Kenntnisnahme und den damit verbundenen Abwehr- sprich Aufrüstungsmaßnahmen überhaupt erschaffen. Die zur Zeit stattfindende Popularisierung eines Weltbildes vom »clash of civilizations« (S. Huntington) – sei es von morgen- oder abendländischer Seite propagiert – hat den Bedarf nach realistischen und vor allem kritischen Antworten seitens der Wissenschaft deutlich erhöht. Eine sich ernst nehmende Konversionsforschung muss auf die einer permanenten Dialektik der (Un)Sicherheit verhafteten populärpolitischen Militarisierungsdiskurse hinweisen und Alternativen aufzeigen können, die stattdessen einen Beitrag zu wirklicher globaler Sicherheit, und somit menschlicher Entwicklung, zu leisten vermögen.

Unter Berücksichtigung der in diesem Artikel angerissenen Perspektiven stellt sich das BICC den vielfältigen neuen Aufgaben der Konversionsforschung mit seinem gewandelten Profil. Nach wie vor verstehen wir Konversion als einen Prozess, der darauf abzielt, Sicherheit und Entwicklung zu unterstützen. Unser Hauptanliegen ist es, die zu diesem Zweck unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Erfordernisse und Entwicklungen durch anwendungsorientierte wissenschaftliche und beratende Arbeit zu untermauern und zu forcieren. Die Notwendigkeit hierzu hat auch lange nach Ende des »Kalten Krieges« nicht abgenommen. Im Gegenteil, insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001 erscheint vielen die Welt unsicherer als jemals zuvor. Das BICC als internationaler Think Tank und Beratungseinheit setzt sich somit verstärkt auf nationaler und internationaler Ebene mit konversionsrelevanten Fragen dieser neuen Unsicherheit auf interdisziplinäre, praxisorientierte und vor allem innovative Weise auseinander.

Anmerkungen

1) John Herz: Das Sicherheitsdilemma im Atomzeitalter. In: Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart, 1950, S. 130-7.

2) Human Security Now, Final Report of the Commission on Human Security, 2003, S. 4.

3) Kofi Annan: Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, General Assembly Official Records Fifty-fifth session Supplement No.1 (A/55/1), New York, United Nations, 2000, p.4.

4) Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln,Leske + Buderich, Opladen, 1998.

5) Paul Klemmer: Konversion – Dimensionen eines komplexen Forschungsfeldes. In: Konversion – Herausforderung für Wissenschaft und Forschung, BICC Report 7, Bonn, 1995, S. 16.

6) Boutros Boutros Ghali: Agenda for Peace, 1993.

7) Adam Roberts: Humanitarian War – military intervention and human rights. In: International Affairs, 69(3), 1993.

Peter Croll ist Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) Marc von Boemcken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am selben Institut

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung

Möglichkeiten und Grenzen in der Politikberatung

von Annette Schaper

Die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung zählt zu den größten deutschen Friedensforschungsinstituten. Während sich die anderen Forschungseinrichtungen in der Regel auf einen oder wenige Schwerpunkte konzentrieren, bearbeiten die Mitarbeiter der HSFK ein sehr breites Themenspektrum. Es enthält Analysen der aktuellen Krisenherde genauso, wie Untersuchungen des Verhältnisses Europa-USA und der neuen Welt(un)ordnung. Schwerpunkt sind sicher die Arbeiten zum Verhältnis »Demokratien und Frieden«. Der Leiter der HSFK, Harald Müller, hat dazu in W&F 2-2003 den Artikel »Die Arroganz der Demokratien – Der demokratische Frieden und sein bleibendes Rätsel« veröffentlicht. In folgendem Beitrag verdeutlicht Annette Schaper die Politik beratende Arbeit der HSFK im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Durch die Erfindung von Kernwaffen entstand zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Gefahr, dass sie sich in einem Krieg selbst auslöschen könnte. Während des Ost-West-Konfliktes gab es einen beispiellosen nuklearen Rüstungswettlauf. Die Zahl der weltweit existierenden Sprengköpfe, die Ende 1945 gerade sechs Sprengköpfe umfasste, war 1952 auf 1.005 auf amerikanischer und fünf auf sowjetischer Seite angestiegen. Der Höchststand war 1986 erreicht, mit rund 23.000 amerikanischen und 40.000 sowjetischen Sprengköpfen. Hinzu kamen je einige hundert in Großbritannien, Frankreich und China. Berühmt wurde der Begriff »Overkill«, der angibt, wie oft sich die Menschheit mit diesem Arsenal auslöschen könnte.

Neben der quantitativen Aufrüstung fand ein qualitativer Rüstungswettlauf statt. Im August 1949 explodierte die erste amerikanische und im August 1953 die erste sowjetische Wasserstoffbombe. Im Gegensatz zu den frühen Kernwaffen, die nur auf Kernspaltung beruhen, findet bei der Explosion einer Wasserstoffbombe auch eine Kernverschmelzung statt. Mit dieser Technik sind noch viel energiereichere Explosionen möglich. Die größte Nuklearexplosion mit 58 Megatonnen, soviel wie ungefähr 30.000 Hiroschima-Bomben, wurde 1961 von der Sowjetunion gezündet. In den Ausbau ihrer Forschung und Entwicklung und in ihre Produktionskomplexe investierten die USA und die Sowjetunion massiv. Bald gab es eine Vielzahl von technischen Variationen. Die Sprengköpfe wurden leichter, so dass sie auf Raketen montiert werden konnten, die elektronischen Kontroll- und Sicherungssysteme wurden komplexer, die Explosionsenergien in den ersten beiden Jahrzehnten des »Kalten Krieges« immer größer.

Strategien und Rüstungskontrolle zielten daher seit Beginn des »Kalten Krieges« darauf ab, den Einsatz dieser Waffen durch Abschreckung zu vermeiden. Tatsächlich ist es zwischen den beiden Machtblöcken während des »Kalten Krieges« niemals zu einem Einsatz gekommen. Ob diese Situation auch auf Dauer stabil geblieben wäre, wenn der »Kalte Krieg« weiter fortgedauert hätte, ist umstritten. Es ist ebenfalls umstritten, ob nach dem Ende des »Kalten Krieges« diese Gefahr bereits gebannt ist, oder ob die Welt nicht sicherer dastünde, wenn alle Kernwaffen von der Erde verschwänden.

Seit Bestehen der HSFK führen wir Forschungsprojekte zur nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle durch. Sie befassen sich sowohl mit der Analyse des aktuellen Geschehens mit dem Ziel der Politikberatung für die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit als auch mit grundsätzlichen Analysen, um die Ursachen der rüstungsdynamischen Prozesse zu verstehen und längerfristige Handlungsoptionen für die internationale Gemeinschaft zu entwickeln. Unsere Arbeit basiert daher auf zwei Pfeilern – Theorie und Praxis. Die Praxisnähe wäre ohne ständigen Kontakt und Austausch mit den Entscheidungsträgern nicht möglich. Diese sind Beamte (v.a. des Auswärtigen Amts, des Verteidigungsministeriums, des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft und des Bundesausfuhramts), Politiker aller demokratischen Parteien und ihre Mitarbeiter, Diplomaten, die in verschiedenen internationalen Foren mit nuklearer Rüstungskontrolle befasst sind, Vertreter von Interessengruppen, z.B. aus der Wirtschaft und auch entsprechende Kollegen und Kolleginnen aus anderen Ländern.

Im Folgenden einige Beispiele für Forschungsfelder und Politikberatung zu nuklearer Abrüstung:

Nukleare Abrüstung: Erste Schritte zur Gefahrenabwendung

Nukleare Abrüstung ist sowohl ein politischer als auch ein technischer Prozess. In einem ersten Schritt muss ein Inventar der abzurüstenden Systeme erstellt werden. Leider gibt es bis heute keine offiziellen Angaben über die Zahl der Sprengköpfe in den Kernwaffenstaaten, es fehlt an internationaler Transparenz und an Verpflichtungen, Zahlen zu Kernwaffenbeständen offen zu legen. Eine Transparenzmaßnahme wäre zum Beispiel das bereits 1993 vom deutschen Außenminister vorgeschlagene Kernwaffenregister bei den Vereinten Nationen. Die nächsten Schritte sind Verminderung der Alarmbereitschaft, Löschen der Zielprogrammierung und Verlängerung der Vorwarnzeiten, z.B. durch Aufschütten von Erde auf Silos. Maßnahmen in diese Richtung finden statt, allerdings nur auf freiwilliger Basis und ohne Verifikation. Die USA und Russland haben Deaktivierungsmaßnahmen angekündigt, der Grad ihrer Implementierung ist jedoch nicht bekannt. Alle diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Gefahr eines versehentlichen Atomkrieges zu verkleinern und sind auch in unserem Sicherheitsinteresse. Daher ist der Bundesregierung zu empfehlen, sich für eine Beschleunigung dieser Abrüstungsmaßnahmen, eine stärkere Verpflichtung und mehr Transparenz über ihre Implementation einzusetzen.

Nukleare Abrüstung: START und SORT

Im nächsten Abrüstungsschritt müsste man die Sprengköpfe von ihren Trägersystemen separieren und die Träger verschrotten. Die Verpflichtung hierzu ist in den START-Verträgen für bestimmte strategische Systeme festgelegt, ebenso umfangreiche Verifikationsmaßnahmen. Die beiden START-Verträge berühren jedoch nicht die Verschrottung von Sprengköpfen und auch nicht den Abbau von taktischen Kernwaffen. Lange bestand die Hoffnung, dass die Verschrottung von Sprengköpfen Gegenstand eines START-III-Vertrages werden würde. Dies hatten die Präsidenten Clinton und Jelzin auf dem Helsinki-Gipfel im März 1997 angekündigt. Obwohl auf freiwilliger Basis auch Sprengköpfe zerlegt werden, würde die Verpflichtung hierzu in einem internationalen Vertrag ihre Irreversibilität erhöhen. Es wäre dann viel schwieriger wieder aufzurüsten.

Es kam jedoch anders: Der Folgevertrag – genannt Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) – den Bush und Putin am 24. Mai 2002 unterzeichneten, umfasst lediglich 475 Worte. Er verpflichtet beide Seiten, ihre stationierten strategischen Systeme bis zum Dezember 2012 auf 1.700 – 2.200 zu reduzieren, aber er enthält keinerlei Bestimmungen darüber, was mit den Trägersystemen oder den Sprengköpfen geschehen soll. Jede Seite kann selbst über die Zusammensetzung ihrer Arsenale bestimmen. Ein bilaterales »Vertragskomitee« wird sich zweimal jährlich treffen, bis der Vertrag 2012 ausläuft. Die Verpflichtungen erlöschen an diesem Datum und im Prinzip können beide Seiten sofort wieder aufrüsten. Darüber hinaus sind keine Transparenz- oder Verifikationsmaßnahmen vorgesehen. Außerdem kann der Vertrag mit kurzer Frist gekündigt werden. Beide Seiten bleiben also in der Vertragserfüllung extrem flexibel.

SORT bleibt weit hinter den Erwartungen zurück, die der Helsinki-Gipfel 1997 geweckt hatte. Die beiden zentralen Anliegen der Helsinki-Erklärung waren Transparenz und Irreversibilität der nuklearen Abrüstung, also eine weitest mögliche Offenlegung des Prozesses mittels intrusiver Verifikation sowie maximale Unumkehrbarkeit. Der SORT-»Vertrag« verzichtet im Gegenteil auf jegliche Transparenzmaßnahmen und erlaubt, nach seinem Auslaufen 2012 oder nach einer kurzfristigen Kündigung sofort wieder aufzurüsten.1

Diese Einschätzung und das Bedauern über diese Entwicklung wird von den meisten deutschen Entscheidungsträgern geteilt. Mit unserer Politikberatung laufen wir daher offene Türen ein. Auf internationalem Parkett finden wir ebenfalls viele Gleichgesinnte. Es ist jedoch – nicht überraschend – nicht gelungen, die amerikanische Regierung zu einer ähnlichen Beurteilung zu bewegen.

Auf der eher theoretischen Ebene befassen wir uns u.a. mit der grundsätzlichen Bedeutung von Transparenz und Irreversibilität in der nuklearen Rüstungskontrolle. Selbst bei gutem Willen hat man das fundamentale Problem, dass bestimmte technische Informationen über Kernsprengköpfe geheim bleiben müssen, um Risiken der Weiterverbreitung zu minimieren.

Nukleare Abrüstung: Entsorgung des Waffenmaterials

Nach der Demontage von Sprengköpfen liegen die Komponenten aus Nuklearmaterial – genannt Pits – zunächst intakt vor. Die Lagerung von intakten Pits darf aber kein Dauerzustand werden, denn damit ist eine Wiederaufrüstung sehr schnell möglich. Richtig irreversibel wird der Abrüstungsprozess erst, wenn das Material in eine Form überführt worden ist, die größere technische Hürden gegen eine Verwendung für Kernwaffen aufbaut. Im Falle hochangereicherten Urans (dies ist eines von zwei möglichen Nuklearmaterialien) gibt es eine technische Lösung, die sogar begrenzt wirtschaftlich ist: Das Uran wird als waffentauglicher Reaktorbrennstoff verwendbar. Im Falle des anderen für Kernwaffen verwendeten Materials, des Plutoniums, ist die Situation schwieriger. Zwei Vorschläge wurden ernsthaft erwogen, die Verarbeitung zu Mischoxid-Brennelementen (MOX) mit anschließender Bestrahlung in Kernreaktoren und die Vermischung mit radioaktivem Abfall mit anschließender Verglasung und Endlagerung.2 Von diesen beiden blieb nach eingehenderen Untersuchungen nur die MOX-Option als einzige realistische übrig.

Das Problem der Abrüstung von Waffenplutonium war relevant für die deutsche Politik, da sich die Frage stellte, ob die nie in Betrieb gegangene Hanauer MOX-Anlage hierfür hätte genutzt werden können. Der Vorschlag aus der HSFK, das russische Plutonium gleich in Hanau zu verarbeiten, hatte – kaum überraschend – keine Realisierungschance, mangels öffentlicher Akzeptanz.3 Ein realistischerer Vorschlag – der Export von Anlagenteilen nach Russland zum Zweck der Abrüstung4 – scheiterte nach längeren Debatten aus dem gleichen Grund. Die Debatte in Deutschland war so polarisiert, dass schließlich sogar die finanzielle Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen Projekt der Industriestaaten zur Entsorgung von Waffenplutonium in Russland scheiterte. Dies stellt das Gelingen des gesamten Projekts in Frage, da der Finanzaufwand enorm und noch nicht gesichert ist. Deutschland beteiligt sich stattdessen an einigen anderen Abrüstungsprojekten. Einige sind wichtig, andere im Vergleich zum Problem der Plutoniumentsorgung weniger relevant.5

Zu diesem Thema haben wir uns aktiv an der deutschen und internationalen Debatte beteiligt. Es war zu beobachten, dass die meisten Entscheidungsträger, die sich intensiv mit dem Thema befasst hatten, zu einer ähnlichen Einschätzung gelangten wie wir, unabhängig von Parteipräferenz. Die Entsorgung des Plutoniums mittels MOX-Technologie bedeutet in diesem Fall nämlich kein Einstieg in die Plutoniumwirtschaft, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so aussieht. Eine solch intensive Beschäftigung blieb jedoch einem kleinen Kreis vorbehalten. Daher war es nicht möglich, für diesen Vorschlag eine breitere Unterstützung zu finden.

Nukleare Abrüstung: Rüstungskontrollverträge

Der einzige Vertrag, der die Kernwaffenstaaten verpflichtet, vollständig abzurüsten, ist der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), früher auch »Atomwaffensperrvertrag« genannt. 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die regelmäßige Überprüfung des Vertrages verstärkt werden und dass dafür eine Liste von Kriterien beachtet werden soll, die so genannten Prinzipien und Ziele der NVV-Überprüfung. Das Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung wird darin bekräftigt und einzelne Maßnahmen, wie z.B. der Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) und ein Vertrag zur Beendigung der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen, genannt »Cutoff«, als förderlich für dieses Ziel benannt.

Die Verhandlungen zum CTBT wurden zwar 1996 erfolgreich abgeschlossen, seine Ratifikation seitens der USA, unabdingbar für das Inkrafttreten, fehlt jedoch. Die Bush-Administration in ihrer Skepsis gegenüber jeder Rüstungskontrolle hat nicht vor, sich noch mal um eine Ratifizierung zu bemühen, im Gegenteil, sie will wieder neue Sprengköpfe entwickeln und schließt längerfristig weitere Nukleartests nicht aus.6 Während der CTBT-Verhandlungen standen wir der deutschen Delegation beratend zur Seite. Dadurch entstand eine wechselseitige Beeinflussung, die einerseits die deutsche Verhandlungsposition zwischenzeitlich beeinflusste, uns andererseits aber ein sehr realistisches Bild vermittelte, wie begrenzt der Spielraum auf internationalem Parkett ist, wenn ein Verhandlungsgegenstand im eigenen Land nur auf schwaches Interesse stößt und daher keine starke Lobby hat.Zum Cutoff haben wir uns ebenfalls stark politikberatend engagiert und sind bei deutschen Partnern nur offene Türen eingerannt. Aber nach 1996 kam es wegen Meinungsverschiedenheiten in der Genfer Abrüstungskonferenz zu keinen Verhandlungen mehr und verschiedene Bemühungen, nicht nur von deutscher Seite, sind wirkungslos verpufft.7

Insbesondere infolge der Ablehnung von internationalen Verpflichtungen, Gremien und nuklearer Rüstungskontrolle seitens der Bush-Administration steht die weitere Zukunft der nuklearen Abrüstung und damit auch die Eindämmung der Nichtverbreitung auf dem Spiel. Die Bundesregierung hat im Gegensatz zur Bush-Regierung das Ziel, die internationalen Verpflichtungen zu stabilisieren und zu stärken. Allerdings hat die nukleare Rüstungskontrolle in der Vielzahl der Politikfelder eine starke Konkurrenz und eine vergleichsweise schwache Lobby. So wird sie oft genug anderen Interessen geopfert. Unsere Politikberatung erreicht zwar die zuständigen Fachleute. Aber deren Einfluss ist begrenzt. Politikberatung ist nicht mit Lobbyarbeit zu verwechseln, da wir keine weiteren Eigeninteressen verfolgen. Um der nuklearen Abrüstung in Deutschland ein stärkeres Gewicht zu verleihen, wäre ein viel stärkeres öffentliches Interesse notwendig.

Anmerkungen

1) A. Schaper: Die Aufwertung von Kernwaffen durch die Bush-Administration, In: Corinna Hauswedell et. Al (Hrsg.): Friedensgutachten 2003, Münster 2003, p.138.

2) National Academy of Sciences (NAS): Committee on International Security and Arms Control (CISAC), Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium, Washington 1994; NAS, CISAC, Management and Disposition of Excess Weapons Plutonium: Reactor Related Options, Washington 1995.

3) Hier ist zu betonen, dass es zwar Vorschläge und Meinungen {u}aus{/u} der HSFK gibt, nicht jedoch {u}der{/u} HSFK. Das Institut als solches gibt keinerlei Stellungnahmen ab, alle geäußerten Meinungen sind die von einzelnen Mitarbeitern. Zu Einzelheiten des Vorschlags siehe: A. Schaper: Using Existing European MOX Fabrication Plants for the Disposal of Plutonium from Dismantled Warheads, in: W.G. Sutcliffe (Ed.): Selected Papers from Global ‘95, UCRL-ID-124105, Livermore, June 1996, p.197.

4) National Academy of Science and German-American Academic Council (GAAC): U.S.-German Co-operation in the Elimination of Excess Weapons Plutonium, July 1995.

5) Vgl. A. Schaper: Deutsche Abrüstungshilfe für russisches Waffenplutonium – Ein Plädoyer, in: Reinhard Mutz, Bruno Schoch, Ulrich Ratsch (Hrsg.): Friedensgutachten 2001, Münster 2001, S.283.

6) A. Schaper: Friedensgutachten 2003, siehe Fußnote 1.

7) Die Vorgänge in der CD sind dokumentiert und analysiert in den Publikationen des Acronym-Instituts. Auf seiner Webseite sind alle Publikationen herunterladbar: www.acronym.org

Dr. Annette Schaper ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Missbrauch von Naturkräften eingrenzen

Missbrauch von Naturkräften eingrenzen

Forschung und Politikberatung für Abrüstung

von Götz Neuneck

Die nunmehr zwanzigjährige Abschlusserklärung des Mainzer Kongresses »Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung«, der am 2. und 3. Juli 1983 mit 3.000 Teilnehmer(inne)n in Mainz stattfand, enthält den programmatischen Satz: „Naturwissenschaftler tragen eine besondere Verantwortung, weil einige ihr Expertenwissen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen missbrauchen ließen und andere dazu geschwiegen haben. Wir haben die Pflicht, über die Grenzen des Missbrauchs von Naturkräften nachzudenken und ihm mit Entschiedenheit entgegenzutreten.“1 Dieses aus der Tradition der Russell-Einstein-Erklärung von 1955 und der Göttinger Erklärung von 1957 stammende Denken muss mit konkreter Arbeit gefüllt und in die Realität umgesetzt werden. In den Zeiten des »Kalten Krieges« haben viele Wissenschaftler/innen dazu beigetragen, dass die Folgen des fortschreitenden Wettrüstens und der Gefahr eines globalen Nuklearkrieges der Öffentlichkeit und den Regierungen deutlich gemacht wurden.2 In den 80er Jahren leisteten viele Gruppen mit naturwissenschaftlichem Hintergrund national wie international durch Kongresse, Workshops und Publikationen einen wichtigen Beitrag zur Dämpfung der Überrüstung und zu ihrer Einhegung durch Rüstungskontrolle und Abrüstung. Insbesondere amerikanische, sowjetische und europäische Wissenschaftler bildeten ein wichtiges Diskussionsforum und ein Kontaktnetzwerk zwischen Politik und Wissenschaft. Sie initiierten Rüstungskontrollvorschläge und halfen die umfassende vertragsbasierte Rüstungskontrollarchitektur zu errichten. Angesichts neuer Aufrüstungsschübe und der unbeeinflussten Rüstungsdynamik scheint diese Arbeit heute wieder wichtiger denn je zu sein.
In Deutschland hatte insbesondere die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« vor dem Hintergrund des NATO-Doppelbeschlusses und des SDI-Programms viele Naturwissenschaftler(innen) an diversen Hochschulen mobilisiert. In den 80er Jahren fanden in deutschen Hochschulen Ringvorlesungen, Seminare und Projekte statt, die sich intensiver mit Fragen des Wettrüstens, der Rüstungsdynamik und der Abrüstung auseinander setzten. Schwerpunkte waren strategische Raketenabwehr, die Weltraumrüstung sowie die Verifikation und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Die Gründung naturwissenschaftlich-orientierter Gruppen in Deutschland

Die Volkswagenstiftung ermöglichte ab 1988 die Anschubfinanzierung für drei naturwissenschaftlich arbeitende Forschungsgruppen in Bochum, Darmstadt und Hamburg.3 Das Bochumer Verifikationsprojekt untersuchte den Einsatz von Sensoren für die kooperative Verifikation zur Beschränkung von Land- und Luftfahrzeugen, die Darmstädter IANUS-Gruppe bearbeitete das Themenfeld der Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung atomarer/biologischer Waffen sowie deren Trägersysteme und die Hamburger CENSIS-Gruppe befasste sich mit der automatischen Auswertung von Luft- und Satellitenbildern für die Verifikation und Umweltüberwachung sowie mit konventionellen Waffentechnologien und der Raketenproliferation. Im Laufe der Jahre wurden die Aktivitäten der Gruppen ausgebaut und aktuellen Fragestellungen angepasst.4 Es ergaben sich Arbeitskontakte zu den etablierten Forschungsinstituten ebenso wie Möglichkeiten, Diplom- und Doktorarbeiten durchzuführen. 1996 schlossen sich die Gruppen zum Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS) zusammen.

Im FONAS-Kreis wurden über 20 meist naturwissenschaftliche Diplom- und Doktorarbeiten erarbeitet.5 Dies ist insofern bemerkenswert, als anfänglich in einzelnen Fakultäten die Skepsis bezüglich der Behandlung von naturwissenschaftlichen Fragen mit politischem Hintergrund überwog. Inzwischen bestehen reichhaltige Erfahrungen, wie naturwissenschaftliche Methoden mit friedenspolitischen Fragen verbunden werden können. Da eine Vielzahl von Disziplinen wie die Physik, Mathematik, Informatik, Biologie aber auch die Politikwissenschaft, Sozialethik oder das Völkerrecht konstitutiv für die Bearbeitung der jeweiligen Fragestellungen war, wurde ein umfassendes Netzwerk von verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen an den jeweiligen Universitäten und darüber hinaus errichtet. Heute bildet dieser Verbund, der inzwischen auch eine internationale Anbindung hat, eine wertvolle Expertise und einen Erfahrungsschatz im Schnittfeld von Naturwissenschaft, Technologie, Friedensforschung, Politik und Öffentlichkeit. Dennoch ist die Arbeit immer noch stark von Drittmitteln abhängig und sie hat nicht den Grad gesicherter Kontinuität erreicht, der z.B. in den USA etabliert ist. In zu hohem Maße sind die Arbeiten vom Engagement und dem Ethos friedensbewegter Nachwuchswissenschaftler(innen) abhängig. FONAS hat bereits frühzeitig auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass nach wie vor die dauerhafte Einrichtung von entsprechenden Professuren und naturwissenschaftlich arbeitenden Forschungsgruppen notwendig ist.6 Nur so kann die erarbeitete Expertise gesichert und weiterentwickelt werden. Die von der DSF ausgeschriebene »Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftungsprofessur« wird hier einen ersten bedeutenden Beitrag leisten.7Der 1996 gegründete Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS) hat insbesondere auch die Aufgabe, die Arbeit der Gruppen zu koordinieren, zu bündeln und die Kontakte zu Politik und Öffentlichkeit zu verstärken.8 Die Halbjahrestreffen ermöglichen eine intensive Forschungsdiskussion; ein Rundbrief informiert die ca. 50 Mitglieder über die Ergebnisse, lokalen Aktivitäten und Tagungsbeiträge. Die Ergebnisse der Projekte bzw. die Ergebnisse internationaler Zusammenarbeit werden seit 1996 bei den – bisher 14 – »FONAS-Fachgesprächen« vorgestellt. In der Bundeshauptstadt werden regelmäßig Mitglieder des Bundestags, Fachleute der Ministerien sowie Fachjournalist(inn)en eingeladen, um sie über aktuelle rüstungskontrollpolitische Fragen und Forschungsresultate zu informieren. Als besonders erfolgreich kann das 7. Fachgespräch (22. März 2000) gelten, bei dem Richard Garwin/ Council of Foreign Relations und Ted Postol/MIT die grundlegende Kritik an den Plänen der US-Administration zur Raketenabwehr darlegten. In der Folgezeit wurden die Arbeiten zur Raketenabwehr eine wichtige Expertise, auf die auch das Auswärtige Amt zurückgriff.

Schwerpunkt des 11. Fachgesprächs war der im Jahr 2002 in Kraft getretene »Open-Skies-Treaty«-Vertrag. Hierdurch wurde der gesamte Luftraum der Mitgliedstaaten von Vancouver bis Wladiwostok für kooperative Beobachtungsflüge geöffnet. Da Deutschland zu diesem Zeitpunkt über kein eigenes Fluggerät verfügte, bestand Handlungsbedarf und technische Begleitforschung war notwendig. Ein Memorandum verlieh der Forderung nach einer eigenen fliegenden Open-Skies-Plattform Ausdruck. Heute besteht auf diesem Gebiet eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen.

Auf Fachgesprächen wurden zudem immer wieder die Forschungsergebnisse der Gruppen vorgestellt, so die Arbeiten zur Proliferationsresistenz aus Darmstadt oder die Arbeiten zur akustischen und seismischen Sensorverifikation aus Bochum. Die Gruppen halten zudem Einzelkontakte zu interessierten Parlamentariern und Ministerien und werden immer wieder zu Einzelgesprächen und Expertentreffen eingeladen. Im März 2001 konnten schließlich die Ergebnisse eines Verbundantrages vorgestellt werden, der durch die BMBF-Projektförderung ermöglicht wurde.9 Hier wurden an den Fallbeispielen Raketenabwehr, B-Waffen/Biotechnologie, Mikrosystemtechnik, Plutoniumbestände die Methoden, Kriterien und Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle überprüft. Die folgende Tabelle zeigt wichtige Projekte der naturwissenschaftlichen Abrüstungsforschung in Deutschland seit 2000, als die Bundesregierung über das BMBF die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung wieder aufnahm, was auch der naturwissenschaftlichen Arbeit zugute kam. Wichtige Ergebnisse zur Sicherheit von Nuklearmaterialen, dem Open-Skies-Vertrag oder der modernen Kriegsführung werden immer wieder dargestellt in Zeitschriften wie »Spektrum der Wissenschaft« oder »Science and Global Security«.Bei all den positiven Beispielen soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass zwischen »wissenschaftlich orientierter Politikberatung« und »praktischer politischer Anwendung« auch natürliche Differenzen vorhanden sind.10 Politiker wollen stets mit Informationen und im FONAS-Fall mit technischen Expertisen versorgt werden. Dies ist in klar definierten Fällen möglich, bedeutet jedoch noch nicht automatisch, dass sich daraus fertige, übernehmbare und einfach umzusetzende Handlungsanweisungen ergeben. Über diese hat letztlich die Politik selbst zu entscheiden und diese auch zu verantworten. Aufgabe der Wissenschaft muss es insbesondere sein, auf die Gefahren, Probleme und Konsequenzen negativer, wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen hinzuweisen und die jeweiligen Widersprüche aufzudecken. Ein Beispiel ist hier der Nuklearterrorismus: Während es allgemein üblich ist, die Gefahr einer Nuklearexplosion durch die »Osama bin Ladens« anzuführen, zeigen die Bestandsaufnahmen waffenfähiger Arsenale, dass das Material für einen solchen Anschlag nur aus den übervollen waffenrelevanten Beständen der Kernwaffenstaaten stammen kann, für deren Sicherheit die Staaten selbst verantwortlich sind. Nukleare Abrüstung und die Verbesserung der Materialsicherheit sind hier die richtigen Antworten. Oft zeigt sich auch, dass Politiker nur handeln, wenn der Druck groß genug ist. Ein Problem wissenschaftlicher Politikberatung ist schließlich, dass manche Friedensforscher davon ausgehen, dass die Politik direkt ihrem Rat folgt oder dass mit wissenschaftlichen Kriterien Politik gemacht werden kann. Dies ist aber nur selten der Fall.

FONAS und die Deutsche Physikalische Gesellschaft

Dass die in Bochum, Darmstadt und Hamburg getätigten Forschungsergebnisse auch in der physikalischen Fachgesellschaft etabliert sind, zeigen die Fachsitzungen »Physik und Abrüstung« bei den Frühjahrstagungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die heute über 45.000 Mitglieder hat und auf eine reichhaltige Tradition zurückblicken kann. Seit 1995 werden hier, organisiert durch den FONAS-Kreis, eigene Fachsitzungen zu Abrüstung und Verifikation durchgeführt. Schwerpunkte der letzten Jahre waren u.a. Teststopp, Kernwaffenabrüstung, Raketenabwehr, Verifikation, Minensuche, präventive Rüstungskontrolle, die Proliferationsresistenz und der Nuklearterrorismus. Auch in anderen naturwissenschaftlich-technischen Fachgesellschaften gibt es Aktivitäten, so im Bereich Minensuche und bei den B-Waffen. 1998 konnte in der DPG der Arbeitskreis »Physik und Abrüstung« gegründet werden, der die Arbeiten koordiniert und Kontakt zur DPG-Führung hält.11 Es gelang zudem, die »Max von Laue«-Vorlesung dauerhaft zu etablieren, deren Aufgabe es ist, gesellschaftliche Fragen naturwissenschaftlicher Verantwortung zu vertiefen. Schließlich wurde im Jahr 2003 die »Atomtestkommission der DPG« reaktiviert, die noch in diesem Jahr einen Bericht zur Lage des vollständigen Teststoppvertrages erarbeiten wird.

FONAS, die Ausbildung und die internationale Anbindung

Unterschätzt werden darf auch keinesfalls die Aus- und Weiterbildung von Nachwuchs im Bereich »Naturwissenschaft und Friedensforschung«. Dies bezieht sich einerseits auf die Schulung von Naturwissenschaftlern in Bezug auf die Konsequenzen ihres Tuns und die Anwendung ihrer Methoden, aber auch auf die ambivalenten Probleme ihrer instrumentellen Fähigkeiten und Ergebnisse. Diplom- und Doktorarbeiten helfen hier ebenso wie interdisziplinäre Seminare an naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten. Zum anderen sollten auch Sozial- und Geisteswissenschaftler über grundlegende Kenntnisse naturwissenschaftlicher Methodik verfügen. An der Universität Hamburg wird z.B. durch das IFSH im Verbund mit einer Reihe von Fakultäten seit einem Jahr der Masterstudiengang »Peace and Security Policy« durchgeführt.12 Hier können auch Naturwissenschaftler(innen) in einem einjährigen, postgradualen Studiengang den »Master of Peace and International Security« erwerben. Für Studierende mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund gibt es eine Vorlesung zu »Naturwissenschaftlichen Methoden in der Friedensforschung«, die gleichzeitig für Studierende aller Fakultäten offen ist.

Die kleine FONAS-Szene ist inzwischen auch international gut integriert. Gemeinsame Projekte und Wissenschaftleraustausch finden statt, so z.B. mit dem »Defense Studies Program« des MIT. Internationale Workshops werden organisiert und regelmäßig nimmt deutscher Nachwuchs an den jährlichen Summer Symposiums on Science and World Affairs teil. Insgesamt hat sich die naturwissenschaftlich orientierte Friedens- und Abrüstungsforschung in Deutschland seit 1985 zu einem wichtigen Pfeiler der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsszene entwickelt.

Aktuelle Forschungen und Projekte

Ein Beispiel für aktuelle Forschungen ist der FONAS-Projektverbund »Präventive Rüstungskontrolle«. Präventive Rüstungskontrolle ist qualitative Rüstungskontrolle angewandt auf die Zukunft.13 Ihr vorbeugender Charakter kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass – geleitet durch Rüstungskontrollkriterien – militärrelevante Forschung und Entwicklung frühzeitig in rüstungskontrollpolitische Konzepte einbezogen werden sollen. Ziel dieses ortsübergreifenden Projektverbundes ist es, die Konzepte, Bedingungen und Verfahren der präventiven Rüstungskontrolle auf allgemeiner Ebene sowie in spezifischen Technologiefeldern zu untersuchen. Einzelprojekte zu Themen wie Nanotechnologie, Proliferationsresistenz oder Weltraumrüstung widmen sich spezifischen Technologiefeldern, ein Rahmenprojekt stellt deren Vorschläge zusammen, bewertet und verallgemeinert sie und untersucht Probleme und Randbedingungen vorbeugender Rüstungsbegrenzung. Entscheidend für die Umsetzung ist dabei die Fähigkeit, destabilisierende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, zu analysieren und adäquate Beschränkungsmaßnahmen zu entwickeln. Solche Beschränkungen können nicht nur die internationale Sicherheit stärken, sondern auch erhebliche Kosten sparen helfen. Die Weiterentwicklung neuer Militärtechnologien kann zukünftige technologische Rüstungswettläufe implizieren. In der Regel ist es zudem nach Einführung qualitativ neuer Waffensysteme schwieriger, diese bzw. ihre Wirkungen zu beschränken, als ein geplantes System noch in der Entwicklungsphase zu verbieten (z.B. Blendlaser). So soll Rüstungskontrolle mit Abrüstungsschritten verbunden werden.14

Seit 1988 untersucht das »Bochumer Verifikationsprojekt« (BVP), das an der Ruhr-Universität angesiedelt ist, unter Leitung von J. Altmann, die Möglichkeiten mittels akustischer, seismischer und magnetischer Sensorsysteme, Begrenzungen bei militärischen Land- und Luftfahrzeugen zu überwachen.15 Bemerkenswert sind hier eine Reihe von internationalen Experimenten, die gemeinsam mit der Informatik der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt und ausgewertet wurden. Auch wurden zwei Sensorstationen entwickelt und auf einem Bundeswehr-Erprobungsgelände einen Monat betrieben, um die Schall- und Bodenvibration von Panzern, militärischen Lkw und anderen Fahrzeugen zu messen. Auf dieser Grundlage könnten Sensorsysteme für einen UN-Einsatz entwickelt werden.Die »Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit« (IANUS) der TU Darmstadt beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit der Thematik nuklearer Proliferation und den Möglichkeiten des Zugriffs auf waffenfähiges Nuklearmaterial. Einen Schwerpunkt bildet z.B. die Beschäftigung mit dem Münchner Forschungsreaktor FRM-II, der mit hochangereichertem Uran (HEU) als Brennstoff geplant wurde und damit unter Proliferationsgesichtspunkten sehr problematisch ist.16 IANUS konnte in einer Expertenkommission des BMBF mitwirken, die die Möglichkeiten einer Brennstoff-Umstellung vor oder nach Inbetriebnahme des FRM-II konkretisierte und seine Expertise beim atomrechtlichen Verfahren beim BMBF einbringen. Bei IANUS wurden alternative Auslegungen des Reaktors mit praktisch nicht waffentauglichem, schwach angereichertem Uran durchgerechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass gute Chancen bestehen, durch Umrüstung den Umgang mit HEU im zivilen Bereich als wichtige Maßnahme der Bemühung um Nichtweiterverbreitung zu beenden.17In Hamburg werden die Arbeiten insbesondere am IFSH im Rahmen der »Interdisziplinären Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien« (IFAR) zusammen mit der CENSIS-Gruppe durchgeführt. Das Forschungsprojekt »Die Zukunft der Rüstungskontrolle« arbeitet die Grundlagen, die Gültigkeit und die Defizite der Rüstungskontrollidee heraus. Eine Homepage wurde aufgebaut, auf der viele Internet-Ressourcen, Verträge und technische Einzelheiten zur Rüstungskontrolle zu finden sind. Das Forschungsprojekt »Weltraumbewaffnung/Raketenabwehr und die Möglichkeiten präventiver Rüstungskontrolle« analysiert einerseits die technischen Möglichkeiten von Waffensystemen im Weltraum sowie von außerhalb der Atmosphäre wirksamen Raketenabwehrsystemen auf der Basis heutiger und künftiger technologischer Entwicklungen. Schwerpunkte sind Simulationen von Weltraummüll und die Wirkung von Laserwaffen im Weltraum. Andererseits werden präventive Beschränkungen für eine aktive Nutzung von Weltraumwaffen aufgezeigt und Impulse für die internationale Rüstungskontrolle erarbeitet. Naturwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es für einen Gegner relativ einfach möglich ist, technische Maßnahmen zu ergreifen, um die geplante Raketenabwehr zu umgehen.18 Eine technische Analyse ist hier genauso unverzichtbar wie die Frage nach den rüstungskontrollpolitischen Konsequenzen bei der Einführung von Raketenabwehr. Zu befürchten ist, dass die nuklearen Begehrlichkeiten durch die augenblickliche Debatte wieder geweckt und angeheizt werden. Ein weiteres Thema sind die Technologien, die unter dem Oberbegriff »Revolution in Military Affairs« fallen.19 Viele der Arbeitsergebnisse der Gruppen flossen auch in Gutachten und Studien für das »Büro für Technologiefolgenabschätzung des deutschen Bundestages« (TAB) oder für die »Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt« (DLR) ein.

Naturwissenschaft und Rüstungsdynamik unter veränderten Rahmenbedingungen

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich die Randbedingungen der Rüstungsdynamik und damit von Rüstungskontrolle und Abrüstung zweifelsohne geändert. Kriege sind für manche Regierungen wieder »salonfähig« geworden, neue Kriegsbilder sind ebenso hinzugetreten wie neue Akteure (Terroristen, substaatliche Gruppen etc.). Die Suche nach neuen Strategien zur Konfliktprävention, Kriegsverhinderung, für zivile Konfliktlösungen hat begonnen. Das Schwerpunktheft »Friedensforschung im 21. Jahrhundert« kündet von der Breite und Tiefe der Diskussion, die in der Friedensforschung geführt wird.20 Keiner der Autoren dieses Heftes bezweifelt, dass der »Kalte Krieg« enorme, einsetzbare Gefahrenpotenziale hinterlassen hat, die einer kritischen Begleitforschung bedürfen. Die Gefahr eines Nuklearkrieges ist gemindert, aber nicht gebannt. Abrüstung findet nicht mehr statt. Erinnert sei hier an ca. 31.000 operative Atomsprengköpfe über 70.000 Tonnen Giftgas und Millionen Tonnen herkömmlicher Munition und konventioneller Sprengköpfe, steigende Weltmilitärausgaben, Rüstungsexporte und ein proliferierender Waffenhandel. Die Zukunft überschüssigen Nuklearmaterials, der ideale Stoff für Nuklearterrorimus, ist ungelöst. Neben den unbewältigten Altlasten finden neue, lokale Aufrüstungsrunden statt. Zwischen Indien und Pakistan gibt es einen Nuklear- und Raketenwettlauf. Das nordkoreanische Regime spielt mit dem nuklearen Feuer und hat seinen Austritt aus dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) erklärt. Der Iran wird beschuldigt, ein eigenes Nuklearwaffenprogramm zu betreiben. Angesichts der in Afghanistan und im Irak demonstrierten militärischen Macht der USA und der Präventivdoktrin der Bush-Administration steigt die Gefahr, dass weitere Staaten sich Nukleararsenale zulegen und der nukleare Rüstungswettlauf sich beschleunigt. Neue konventionelle Waffentechnologien führen zu neuen Kriegsbildern und bedingen neue konventionelle Rüstungsschübe. Raketenabwehr, Weltraumrüstung und »Miniaturatomwaffen«, die von der Bush-Administration verstärkt gefördert werden, sind deutlicher Ausdruck dieser Krise. Angesichts dieser Situation müssen die an der Friedensforschung beteiligten Disziplinen ihre Fähigkeiten bündeln, um realistische Wege aus der Gefahr zu erarbeiten. Eine Deutungshoheit einer einzelnen Disziplin kann es ebenso wenig geben wie einen gesicherten Methodenanspruch auf eine garantierte Lösung durch die Friedensforschung.

FONAS ist stets für die Themenkomplexe eingetreten, die interdisziplinär bearbeitbar sind, eine wesentliche naturwissenschaftliche Komponente enthalten und auf die Suche nach Problemlösungsstrategien ausgerichtet sind, die durch eine Kombination von angewandter Forschung und Politikorientierung gelöst werden können.21

  • Hierzu gehören die Erarbeitung von Vorschlägen für Abrüstung, Rüstungsbeschränkung und Nichtverbreitung. Dies umfasst Analysen und Vorschläge zu Rüstungsbegrenzung im Bereich von Massenvernichtungswaffen. Beispiele sind hier der Transformationsprozess zur kernwaffenfreien Welt, Raketenabwehr, vollständiger Cutoff für kernwaffenfähige Materialien, Effektivierung der Biowaffenkonvention, Militarisierung des Weltraums, neuartige Kernwaffen, technologisch bedingte Weiterverbreitungsdynamik, terroristische Bedrohung und Vorbeugungsmaßnahmen, konventionelle Abrüstung.
  • Zur Vertragseinhaltung sind hier Arbeiten zu technischen Mitteln und Verfahren zur Verifikation nötig. Zu nennen sind hier: Überprüfungsmaßnahmen für die Kontrolle von Abrüstung, von vorhandenen militärischen Potenzialen und zur Vermeidung der militärischen Nutzung von Hochtechnologie. Beispiele bilden die Detektion der Herstellung von Massenvernichtungswaffen, die Nutzung von Sensoren für Landfahrzeuge und Flugzeuge oder die automatische Verarbeitung von Luftbildern.
  • Ein weiterer Schwerpunkt ist die qualitative und vorbeugende Rüstungskontrolle und Rüstungsbeschränkung, d.h. die Analyse konkreter militärtechnologischer Entwicklungstrends, Vorschläge für vorbeugende Eingrenzung, das systematische Studieren der zivil-militärisch ambivalenten, wissenschaftlich-technologischen Entwicklungsdynamik auf militärrelevante Absichten und Möglichkeiten von Vermeidungsstrategien (Beispielfelder: Mikrobiologie, Informationstechnologien, Nanotechnologie, Werkstoffentwicklung), Untersuchung der militärischen Verwendbarkeit von bereits existierenden oder in Weiterentwicklung befindlichen Technologien oder Materialien (Beispiele: nukleare Technologien und Materialien, Beschleuniger).
  • Wichtig ist nach wie vor die Beseitigung von Altlasten und Konversion militärischer Hochtechnologie, also z.B. der Altlasten des »Kalten Krieges« oder von bewaffneten Konflikten. Beispiele sind hier die Beseitigung von waffenrelevanten Nuklearmaterialien oder die Detektion von Minen.
  • Als weiteres wichtiges Forschungsfeld erscheint zunehmend die Analyse naturwissenschaftlich-technischer Einflussfaktoren in heute antizipierbaren Konflikten, die mit Umwelt, Ressourcen und Energie verbunden sind. Beispiele sind hier die Wasserproblematik, der Klimawandel, fossile Energieträger, nukleare Abfälle, energietechnologischer Wandel. Ebenso kann die mathematische Modellierung komplexer Systeme Beiträge zum theoretischen Verständnis der Aufrüstungs- und Abrüstungsdynamik oder von anderen Konfliktsituationen liefern.

Der renommierte Astrophysiker und »Astronomer Royal« Sir Martin Rees hat in seinem Aufsehen erregenden Buch »Our Final Hour« (New York 2003) in 14 Kapiteln ausgeführt, dass die Chance, dass die Menschheit das 21. Jahrhundert übersteht, lediglich 50 zu 50 steht. Terror, wissenschaftliche Fehlenwicklungen, Umweltkatastrophen können dazu beitragen, dass die Menschen die Mittel hervorbringen, die ihren eigenen Untergang bewirken. Selbstgemachte technologische Fehlentwicklungen, Kriege, Großkatastrophen können durchaus dazu führen, dass das Überleben der Menschheit als Ganzes in Frage steht. Enorme Anstrengungen von Forschung und Wissenschaft sind nötig, um die vor uns liegenden Risiken zu vermeiden. Die Friedenforschung sollte sich daran beteiligen und ihre naturwissenschaftliche Komponente nicht marginalisieren.

Anmerkungen

1) Hans-Peter Dürr, u.a. (Hrsg.): Verantwortung für den Frieden – Naturwissenschaftler gegen Atomrüstung, Hamburg/Reinbek bei Hamburg: Spiegel/Rowohlt, 1983.

2) Siehe dazu z.B. Joseph Rotblat: Scientists in the Quest for Peace: A History of the Pugwash Conferences, Cambridge MA, 1972.

3) Ulrike Kronfeld u.a. (Hrsg.): Naturwissenschaft und Abrüstung – Forschungsprojekte an deutschen Hochschulen, Münster: 1993.

4) Siehe Altmann/Liebert/Neuneck 2003 (Fußnote 1).

5) FONAS-Newsletter Nr. 1-4 (1999-2002), siehe: http://www.fonas.org

6) FONAS, Forschungsmemorandum, 23. Juni 1998 (http://www.fonas.org/aktuell/memo.html)

7) Homepage: http://www.bundesstiftung-friedensforschung.de/html/stiftungsprofessur.html

8) Homepage: http://www.fonas.org

9) PRK 2001: „Erste Ergebnisse des Projektes »Präventive Rüstungskontrolle« des Forschungsverbundes Naturwissenschaft, Abrüstung und Internationale Sicherheit (FONAS)“, in: Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 38, 2001.

10) Diese Überlegen fußen auf dem Papier von Herbert Wulf: „Politikberatung – Schwerpunkt der Deutschen Stiftung Friedensforschung“, Manuskript, Februar 2001.

11) Siehe die Homepage: http://www.dpg-physik.de/fachgremien/aka

12) Siehe dazu: http://www.ifsh.de/studium/studium.php

13) Götz Neuneck,/Reinhard Mutz: Vorbeugende Rüstungskontrolle, Baden-Baden: 2000.

14) Ergebnisse siehe dazu Fußnote 11. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung.

15) Siehe Jürgen Altmann, Bernhard Gonsior: „Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung von konventionellen Waffen“, in: Sicherheit und Frieden, 7, Nr. 2, 1989, S. 77-82.

16) Siehe hier: Hans Ackermann, W. Buckel, W. Liebert: „Zur Nutzung von hochangereichertem Uran im Forschungsreaktor FRM-II“. Physikalische Blätter. Vol.55, 1999, S. 16-20.

17) Alexander Glaser: „The Conversion of Research Reactors to Low-Enriched Fuel and the Case of the FRM-II“, in: Science and Global Security, 2002, Vol.10(1), S. 61-79.

18) Götz Neuneck: „Von National Missile Defense zu Global Missile Defense? Technische Machbarkeit und Ansätze der Bush-Administration“, in: Die Friedens-Warte, Vol. 76(4), 2001, S. 391-434.

19) Neuneck, Götz: „Virtuelle Rüstungen. Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder die USA rüsten mit sich selbst“, Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 31, 1999, S. 10-15; Neuneck, Götz: „Die Rolle der Naturwissenschaft: Dienerin zweier Herren“, in: Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 32, Nr. 2, 2002, S. 205-226.

20) :Schwerpunktheft: Friedensforschung im 21. Jahrhundert, in: Sicherheit und Frieden Vol. 20(2), 2002.

21) Siehe dazu: Forschungsmemorandum 1998 (Fußnote 7) und Wolfgang Liebert: „Aufgaben naturwissenschaftlich orientierter Friedensforschung“, in: Friedenspolitik und Friedensforschung (Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft VIII), Osnabrück, 2001.

Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereichs »Abrüstung und Rüstungskontrolle« am IFSH