Der Unterweserraum – ein Modell für regionale Rüstungskonversion?

Der Unterweserraum – ein Modell für regionale Rüstungskonversion?

von Christoph Butterwegge

Aufgrund der politischen und sozialökonomischen Umwälzung in Osteuropa hat ein Prozeß der Umorientierung und Umstrukturierung des Rüstungssektors vieler Länder begonnen, wobei sich international ein Ost-West-Gefälle, national ein Süd-Nord-Gefälle abzeichnet. Im Rahmen der Perestroika spielt die Sowjetunion – ungeachtet enormer, durch bürokratisch-zentralistische Strukturen ihrer Planwirtschaft bedingter – Probleme eine Pionierrolle1 . Beispiele dafür lieferte die in München abgehaltene Messe »Conversion '90«. Nur in den USA gibt es eine vergleichbare Diskussion über die Verwendung der »Friedensdividende« und Konversionsmaßnahmen2 , in Schweden und Italien nationale Konversionspläne der Regierungen. Auch die DDR hätte mit dem Amt für Rüstungskonversion, das beim Wirtschaftsministerium angesiedelt war, möglicherweise ein Vorbild sein können3.

Innerhalb der Bundesrepublik hinkt die norddeutsche Rüstungsindustrie hinter Unternehmen aus Süddeutschland, Bayern bzw. Baden-Württemberg her. So hat die Firma Krauss-Maffei (München), größter Panzerhersteller der BRD, eine Maschine zur Produktion von Compact Discs konstruiert4. Das »Projekt Umwelt- und Ressourcenschutz« (PUR), in enger Kooperation zwischen der Stadt Augsburg und MBB durchgeführt, treibt die Entwicklung eines ökologischen Verkehrs- und Energiekonzepts voran5.

Rüstungsproduktion und Möglichkeiten der Konversion in Bremen

Der Unterweserraum ist ein regionales Rüstungszentrum, gewissermaßen die »Waffenschmiede des Nordens«. Der Bremer Ausschuß für Wirtschaftsforschung (BAW), ein Institut des Landes Bremen, hat im August 1990 eine Bestandsaufnahme vorgelegt, wonach 6.800 Arbeitsplätze in Firmen mit über 100 Beschäftigten direkt von der Rüstungsgüterproduktion abhängig sind, 13.810 weitere indirekt bzw. von Rüstung allgemein6. In der Stadtgemeinde Bremen wären zwischen 5,1 und 6,7 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Bereich tätig7. Neben der überdurchschnittlichen Abhängigkeit Bremens von militärischer Güterproduktion besteht eine durchschnittliche Abhängigkeit hinsichtlich der Truppenstationierung (Bundeswehr, Stationierungsstreitkräfte: US Army)8, was zu einer Konzentration auf den Produktionsbereich und einer Vernachlässigung der im Zusammenhang mit Truppenreduzierungen zu lösenden Konversionsprobleme führt, wie sie Bremerhaven als größter militärischer Nachschubbasis der Amerikaner in Europa drohen9.

Institutionen und Initiativen zum Thema »Rüstungskonversion in der Unterweserregion«

Seit dem Frühsommer 1989 existiert die Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung. Sie propagiert einen regionalpolitischen bzw. regionalwirtschaftlichen Ansatz10, der sich in überregionale Zusammenhänge einfügt, und praktiziert eine Institutionalisierungsstrategie, die darauf basiert, daß Bremen als strukturschwaches Bundesland mit sozialdemokratischem Senat und traditionelle Hochburg der Friedensbewegung besonders günstige Rahmenbedingungen für eine Verstetigung durch »Verstaatlichung« vormals privater Initiativen zur Rüstungskonversion bietet11.

Drei Hauptforderungen stehen im Mittelpunkt: die Schaffung eines Konversionsbeirates, eines regionalen Konversionsfonds und eines Instituts für regionale Rüstungskonversion und Friedensforschung.

Konversionsbeirat

Rathaus, Bürgerschaft und Rüstungsunternehmen sollen für die Idee eines Konversionsbeirates gewonnen werden. Pate stand der Bremer Energiebeirat (BEB), dessen Gutachten von den Stadtwerken zwar mit Skepsis aufgenommen und bisher nur partiell umgesetzt wurde, die Debatte über den Ausstieg aus der Versorgung Bremens mit Atomstrom gleichwohl wiederbelebt hat12. Daraus resultierte der Senatsbeschluß zur Gründung eines als forschungspolitischer »Meilenstein« apostrophierten Bremer Instituts für kommunale Energiewirtschaft und -politik (BIKE), dessen Leitung Prof. Dr. Klaus Traube übernommen hat13.

Der Bremer Senat soll ein Gremium berufen, in dem die Rüstungsunternehmen, Unternehmerverbände, Handelskammer, Arbeiter- und Angestelltenkammer, Gewerkschaften, Betriebsräte (Arbeitskreise »Alternative Fertigung«), Friedensbewegte und Wissenschaftler/innen repräsentiert sind. Dieser »Bremer Konversionsbeirat« (BKB) müßte einen Konversionsplan entwickeln, der als strukturpolitisches Förderprogramm ausgelegt und in das »Wirtschaftsstrukturpolitische Aktionsprogramm« (WAP II) des kleinsten Bundeslandes integriert sein könnte.

Einrichtung eines Konversionsfonds

Rüstungskonversion gibt es weder zum Nulltarif noch von selbst. Vielmehr muß der Umstellungsprozeß durch finanzielle Anreize für betroffene Firmen gefördert werden. Ein zentraler Konversionsfonds, wie ihn die SPD-Bundestagsfraktion nach schwedischem Muster vorschlägt14, soll sich aus einer Rüstungsexportsteuer und einer nach den Umsätzen der Unternehmen zu bemessenden Abgabe speisen. Allerdings wäre zu überlegen, ob das »Exportschlupfloch« nicht ganz verstopft und ein generelles Rüstungsexportverbot angestrebt werden muß, zumal Waffenexport potentieller Massenmord ist. Weitere Mittel könnte man dem Verteidigungshaushalt entnehmen.

Die Einrichtung des »Bremischen Konversionsfonds« (BKF) hätte Signalwirkung und würde nicht nur Diversifikationsmaßnahmen im Werftenverbund (Meerestechnik, schiffbaufremde Fertigung) vorantreiben, sondern Rüstungskonversion mittels gezielter Zuschüsse für Forschungsprojekte und Investitionshilfen zur Entwicklung/Erprobung geeigneter Herstellungsverfahren bzw. Produkte erleichtern. Gedacht ist an ein Programm, das die Umstellung militärischer auf zivile, gesellschaftlich nützliche und umweltverträgliche Produktion und die Vermarktung der neuen Güter fördert, soweit die (mittelständischen) Unternehmen nicht selbst dazu in der Lage sind. Kurzfristig sollten ca. 10 Prozent der WAP-Mittel (ungefähr 30 Millionen DM jährlich) in diesem Sinne umgewidmet werden.

Konversionsforschung

An der Universität Bremen hat die »Initiative für Friedens- und Konversionsforschung« (IFK) Pläne für einen Forschungs- und Lehrbereich »Friedenswissenschaften/Konversionsforschung« entwickelt. Der Akademische Senat berief am 16. Mai 1990 eine Kommission, der Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten mehrerer Fachbereiche angehören. Sie nimmt eine Bestandsaufnahme der universitären Kompetenzen und Kapazitäten vor und hält öffentliche Hearings ab, um den Bedarf für einem Forschungs- und Lehrbereich »Friedenswissenschaften/Konversionsforschung« zu ermitteln. Auseinandersetzungen über Funktion und Ausrichtung dieser Einrichtung stehen freilich erst noch bevor.

Zwei Grundpositionen zeichnen sich ab: Die eher pragmatische, wenn nicht technokratische Konzeption sieht vor, Diversifikationsbemühungen der bremischen Industrie durch Bereitstellung eines universitären Forschungspotentials in Kernbereichen (Volks- und/oder Betriebswirtschaft, Produktionstechnik) zu unterstützen. Die systemkritische Alternativkonzeption insistiert dagegen auf der Einbeziehung sozial- bzw. politikwissenschaftlicher Erklärungsansätze, die historische Wurzeln und gesellschaftliche Ursachen für Hochrüstung und Krieg berücksichtigen sowie Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse thematisieren (Restriktionsanalyse). „Konversionsforschung muß auch offenlegen, welche Interessen Konversion behindern oder gar unmöglich machen.15

Zur Schaffung einer wissenschaftlichen Infrastruktur für den Umstellungsprozeß und zur Unterstützung des Konversionsbeirates (Aufbau entsprechender Forschungs- und Planungskapazitäten) bietet sich die Gründung eines interdisziplinären Instituts für regionale Rüstungskonversion und Friedenspolitik an, das entweder innerhalb der Universität Platz finden oder als Landesamt fungieren könnte, aber in jedem Fall mit den bremischen Hochschulen und anderen geeigneten Einrichtungen kooperieren müßte.

Die Reaktion der Industrie, des Bremer Senats und der Bürgerschaft auf Forderungen zur Rüstungskonversion

Die Handelskammer Bremen, die Industrie- und Handelskammer Bremerhaven sowie die Arbeitgeberverbände des Landes Bremen lehnten in einer gemeinsamen Erklärung selbst lockere Gesprächskreise zur Rüstungskonversion ab, sprachen sich gegen staatliche Eingriffe in den Produktionskreislauf, aber für „wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen“ aus und regten die Gründung eines „Kompetenzzentrums für Umwelttechnik“ an, das allen Unternehmen offenstehen und auch als Akquisitionsinstrument im überregionalen Wettbewerb der Standorte dienen soll16.

Der Bremer Senat hat die Rolle der Hansestadt als Drehscheibe des internationalen Waffenhandels über Jahrzehnte hinweg akzeptiert und das Engagement des Landesverbandes der regierenden SPD für Frieden und Abrüstung dadurch teilweise konterkariert17. Im Frühjahr 1990 wurde er in Bonn aktiv, schlug eine Bund-Länder-Initiative im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) vor und forderte die Bundesregierung auf, eine Konversionskonferenz einzuberufen18.

Am 21. Juni 1990 veranstaltete die Bremer Senatorin für Bundesangelegenheiten, Dr. Vera Rüdiger, in der Bonner Landesvertretung ein Wirtschaftsgespräch zum Thema »Konversion und Diversifikation – industriepolitische Antworten auf weltweit beschlossene Abrüstungsmaßnahmen“, an dem Politiker, Rüstungsmanager und Ministerialbeamte teilnahmen. Klaus Beckmann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, machte den anwesenden Rüstungsindustriellen Mut, indem er durchblicken ließ, daß seine Regierung keine Entmilitarisierung Deutschlands, sondern Um- statt Abrüstung plane. Erfolge bei den Abrüstungsverhandlungen führten nicht zum Bankrott ihres Industriezweiges. Vielmehr erwachse aus solchen Abkommen ein Mehrbedarf an militärischen Aufklärungsaktivitäten (Verifikation durch Drohnen) und die Notwendigkeit, ein satellitengestütztes Erdbeobachtungssystem aufzubauen. Weiterhin komme es auf die „Verbesserung der operativen Flexibilität“ und die „Sicherstellung einer effizienten Luftverteidigung – etwa über die Entwicklung von Flugzeugen mit erweiterter Tiefenreichweite – “ an: „Eine effiziente Luftverteidigung impliziert auch den Einsatz moderner fliegender Waffensysteme; so wird die Bedeutung der Kampfhubschrauber eher noch wachsen.19

Pessimismus, sagte Beckmann weiter, sei nicht angebracht: Die günstige Konjukturlage erleichtere es flexiblen, innovativen Unternehmen, ihre geschäftlichen Schwerpunkte zu verschieben, und mache es der Bundesregierung möglich, auf aktive Strukturhilfen zu verzichten. „Die Bewältigung des Strukturwandels ist in einer Marktwirtschaft originäre Aufgabe der Unternehmen; dies gilt auch für die Umstellung der Produktion von Rüstungsgütern auf zivilen Bedarf.20

Wolfgang Ruppert, Ministerialdirektor im Bundesverteidigungsministerium, versprach bei derselben Gelegenheit, die Bundeswehr werde „im Rahmen ihrer Mitverantwortung als größter Auftraggeber“ bemüht sein, „bruchhafte Entwicklungen“ durch eine „geeignete Auftragssteuerung“ zu vermeiden. Sie werde zwar kleiner, aber zugleich professioneller und moderner. „Finanzielle Hilfen sowie Ersatzaufträge aus dem Verteidigungshaushalt, wie sie bereits gefordert wurden, werden nicht möglich sein.21

Prof. Dr.-Ing. Karl Friedrich Triebold, Krupp-Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Bremer Tochterunternehmens Krupp Atlas Elektronik (KAE), bemängelte in seiner Rede, daß Rüstungskonversion im Bundeswirtschaftsministerium „auf unterster Referatsebene“ behandelt und „vorwiegend als Problem der regionalen Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik“ betrachtet werde. „Aus den Äußerungen einzelner in Regierungsverantwortung stehender Politiker ist bis heute nicht zu entnehmen, daß das Thema Konversion als eine Frage der Technologie- und Strukturpolitik angesehen wird.22 Daher forderte Triebold eine „Neuorientierung der Struktur von Forschung und Entwicklung“, die sich im Rahmen des langfristigen Konversionsprozesses vollziehen soll23. Die Unternehmen der wehrtechnischen Industrie hätten Schwierigkeiten, sich umzustellen, weil ihr Know-how nicht ohne weiteres für zivile Märkte nutzbar sei. Der gesamteuropäische Markt führe 1993 eine zusätzliche Wettbewerbsverschärfung herbei. Die Bundesregierung müsse den von Abrüstung und Truppenreduzierung betroffenen Unternehmen, Regionen und Gemeinden „politische Hilfestellung“ geben. Als Beispiel nannte Triebold, der eine „Strategische Initiative Umweltschutz“ vorschlug24, die Zonenrandförderung.

Im Bundesrat setzte sich die zuständige Bremer Senatorin am 6. Juli 1990 für staatliche Unterstützung der Regionen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Wehrtechnik ein, wobei sie auf mögliche Umschichtungen der öffentlichen Nachfrage, die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen, Markterschließungsmaßnahmen sowie das traditionelle Spektrum der regionalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hinwies25.

Die Landesregierung und die Parteien

Nach widersprüchlichen Äußerungen von Bürgermeister Klaus Wedemeier und Wirtschaftssenator Uwe Beckmeyer, der die Forderungen der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung strikt ablehnte26, richtete die Landesregierung auf ihrer Sitzung am 31. Juli 1990 eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe nach dem Vorbild des Bundeskabinetts ein, die vom Wirtschaftssenator geleitet wird und einen Bericht über „Abrüstungsfolgen“ für das Bundesland und politische Handlungsmöglichkeiten erstellen sollte27. Die Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung begrüßte zwar den Senatsbeschluß, gab jedoch zu bedenken, daß es hiermit „nicht getan“ sei28. Sie hoffte auf eine Gesetzesinitiative der Bürgerschaft und glaubte, ihre Vorstellungen über die Parlamentsfraktionen, denen im Juli 1990 ein Forderungskatalog zuging29, durchsetzen zu können.

Im Oktober 1990 lud der Stiftungsvorstand die Bürgerschaftsfraktionen zu einem Gespräch über das Thema »Rüstungskonversion« ein. Während die SPD-Fraktion (mit dem Vorsitzenden der Deputation für Wirtschaft, Technologie und Außenhandel) und die GRÜNEN (mit ihrem Fraktionssprecher) hochrangige Landespolitiker schickten, blieben FDP und CDU – letztere ohne Angabe von Gründen – dem Informations- und Meinungsaustausch fern. Daran übte die Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung öffentlich Kritik30, was den Vorsitzenden der freidemokratischen Bürgerschaftsfraktion zu einer scharfen Replik veranlaßte. Seine Partei, sagte der Politiker, beschäftige sich selbstverständlich mit dem Thema, lasse sich jedoch nicht vorschreiben, wann und mit wem sie darüber rede31.

Mit den Stimmen aller Parteien gab die Wirtschaftsdeputation der Bremischen Bürgerschaft ein Gutachten in Auftrag. Die Studie, im Fachbereich Produktionstechnik der Universität Bremen angefertigt, soll Möglichkeiten zur Umstellung der Rüstungsproduktion und Konversionspotentiale im Zwei-Städte-Staat aufzeigen32. SPD und GRÜNE brachten weitergehende Anträge ins Landesparlament ein. Letztere machten sich die Forderungen der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung zu eigen und verlangten vom Senat, über den Stand ihrer Realisierung zu berichten. Beschlossen wurde jedoch ein Dringlichkeitsantrag der SPD-Mehrheitsfraktion, in dem man Bonn und Brüssel auffordert, Mittel für regionale Rüstungskonversion bereitzustellen. Der Senat soll einen Konversionsfonds schaffen, der seine Maßnahmen auf diesem Gebiet „unter Einbeziehung beantragter EG- und Bundesprogramme“ bündelt33.

Bürgermeister Dr. Henning Scherf, Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst der Freien Hansestadt Bremen, hat angedeutet, daß die Rüstungskonversion im Rahmen eines Ausbaus der Hochschul- und Forschungseinrichtungen einen Schwerpunkt bilden soll34. Dieses Programm beschränkt sich bisher jedoch auf die finanzielle Förderung der Umstellung des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Materialforschung (IFAM) in Bremen-Lesum auf zivile Forschungsprojekte. In diesem Zusammenhang sprach Scherf von einer „in der Bundesrepublik beispiellose(n) Wandlung“ und einem „ersten wichtigen Schritt zur Rüstungskonversion im Lande Bremen“.35

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu: Christopher Davis u.a. (Hrsg.), Rüstung, Modernisierung, Reform. Die sowjetische Verteidigungswirtschaft in der Perestrojka, Köln 1990; Randolph Nikutta, Erfahrungen mit Rüstungskonversion in der UdSSR, in: antimilitarismus information 5/1990, S. 19 ff. Zurück

2) Siehe Jörg Huffschmid, Friedensdividende?, Amerikanische Diskussionen und Entwicklungsperspektiven nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/1990, S. 920 ff. Zurück

3) Vgl. hierzu: Werner Hänsel, Konversion in der DDR, in: Mediatus 4/1990, S. 43 ff.; Klaus Engelhardt, Konversion nationale Erfahrungen der DDR, in: IPW-Berichte 10/1990, S. 15 ff. Zurück

4) Vgl. Nikita Sholkwer, Beethoven aus der Rüstungsproduktion, in: Neue Zeit 7/1990, S. 22 ff. Zurück

5) Vgl. Ursula Richter/Manfred Zitzelberger, Vom Tornado in die Umwelttechnik, in: Die Mitbestimmung 12/1989, S. 713 ff.; Hannelore Messow, Runter mit der Rüstung. Das Augsburger Projekt Umwelt- und Ressourcenschutz, in: Der Gewerkschafter 1/1990, S. 13 Zurück

6) Vgl. Bremer Ausschuß für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), BAW-Monatsbericht 3-4/1990, S. 1 Zurück

7) Vgl. ebd., S. 2 Zurück

8) Vgl. ebd., S. 4 Zurück

9) Vgl. Bremerhaven: US-Army auf der Abschußliste, in: taz (Bremen) v. 18.7.1990 Zurück

10) Zur theoretischen Grundlegung und Abgrenzung gegenüber dem Global- bzw. Makroansatz sowie dem betrieblichen, Mikro- oder Unternehmensansatz vgl. Jörg Huffschmid, Chancen der Rüstungskonversion, in: Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung (Hrsg.), Chancen für Rüstungskonversion. Dokumentation und Materialien des Kongresses Chancen für Rüstungskonversion am 18. November 1989 in Bremen, Bremen 1990, S. 9 ff. Zurück

11) Vgl. auch: Christoph Butterwegge, Rüstungskonversion und kommunale Friedenspolitik; ebd., S. 23 Zurück

12) Vgl. hierzu: Cornelius C. Noack u.a. (Hrsg.), Energie für die Stadt der Zukunft. Das Beispiel Bremen. Der Abschlußbericht des Bremer Energiebeirats, Marburg 1989 Zurück

13) Siehe Institut als Meilenstein. Deputation stützt Energieplanung, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 31.8.1990; Eine ungeheure Anstrengung. Neues Energieberatungsinstitut BIKE nahm an der Uni seinen Betrieb auf, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 30.10.1990 Zurück

14) Vgl. Arbeitsgruppe Rüstungskonversion der SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.), Zwischenbericht, 13.6.1989, Bonn o.J., S. 6 Zurück

15) Klaus Potthoff, Regionalforschung spielt eine zentrale Rolle, in: Bremische Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung (Hrsg.), Chancen für Rüstungskonversion, a.a.O., S. 21 Zurück

16) Vgl. Handelskammer gegen Staatsgeld für Rüstungskonversion, in: taz (Bremen) v. 24.10.1990; Kompetenz-Zentrum für Umwelttechnik angeregt. Handelskammer und Arbeitgeberverbände Bremen diskutierten mit Senats-Arbeitsgruppe die wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung, in: Weser-Kurier v. 25.10.1990 Zurück

17) Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge u.a., Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Bremen Friedenshauptstadt oder Rüstungszentrum?, Bremen 1987, S. 14 ff. Zurück

18) Vgl. Bund und Länder sollen helfen. Senator Beckmeyer: Militärischen Industriesektor schnell in zivile Bahnen lenken, in: Weser-Kurier v. 28.4.1990 Zurück

19) Klaus Beckmann, Konversion und Diversifikation industriepolitische Antworten auf weltweit beschlossene Abrüstungsmaßnahmen. Statement des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Wirtschaft anläßlich eines Abendessens in der Landesvertretung Bremen am 21. Juni 1990, hektographiertes Manuskript, S. 6 Zurück

20) Ebd., S. 8 Zurück

21) Wolfgang Ruppelt, Punktation für ein Kurzstatement zur Konversion am 21. Juni 1990, hektographiertes Manuskript, S. 3 Zurück

22) Karl Friedrich Triebold, Rede, gehalten beim Wirtschaftsgespräch am 21. Juni 1990 in der Bremer Landesvertretung/Bonn zum Thema Konversion und Diversifikation industriepolitische Antworten auf weltweit beschlossene Abrüstungsmaßnahmen, hektographiertes Manuskript, S. 5 Zurück

23) Siehe ebd., S. 7 Zurück

24) Vgl. ebd., S. 13 Zurück

25) Vgl. Bremen dringt auf Hilfen. Vorstoß zur Rüstungsumstellung fand in Bonn positives Echo, in: Weser-Kurier v. 7.7.1990 Zurück

26) Vgl. Umsteigen, ehe der Zug steht. Statt Rüstung zivile Produktion: Fachleute drängen zur Eile, in: Kurier am Sonntag v. 1.7.1990; Kein Geld gegen Rüstung. Wirtschaftssenator gegen Idee eines Konversionsbeirats und -fonds, in: taz (Bremen) v. 2.7.1990 Zurück

27) Vgl. Senat pocht weiter auf Bremens Eigenständigkeit, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 1.8.1990; Abrüstung: Senat setzt Arbeitsgruppe ein; ebd. Zurück

28) Siehe Konversion: Spezielle Länderinitiative?, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 6.8.1990 Zurück

29) Vgl. Urlaubslektüre für Politiker. Friedensforscher schickten Antrag, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 14.7.1990 Zurück

30) Vgl. Abrüstung kein Thema für die FDP und CDU?, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 29.10.1990 Zurück

31) Vgl. FDP: Brauchen keine Nachhilfe, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 31.10.1990 Zurück

32) Vgl. Rüstungskonversion wird untersucht, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 22.9.1990; Gerade Bremen-Nord von Rüstung abhängig. Deputation bewilligte jetzt Mittel für eine Studie, in: Die Norddeutsche v. 29.9.1990 Zurück

33) Siehe Dringlichkeitsantrag der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung, Bürgerschaftsdrucksache 12/1027 v. 6.11.1990, S. 3 Zurück

34) Vgl. Scherf: Alternative zu Autotrassen und Pisten. Gedanken über bremische Selbstbehauptung, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 25.7.1990 Zurück

35) Siehe Henning Scherf, zit. nach: Abschied von Rüstungsforschung. Fraunhofer-Institut wird auf zivile Projekte umgerüstet, in: Bremer Nachrichten/Weser-Kurier v. 26.10.1990 Zurück

Dr. Christoph Butterwegge ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und Vorstandsmitglied der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung.

Bundeswehrplanung zwischen Umrüstung und Abrüstung

Bundeswehrplanung zwischen Umrüstung und Abrüstung

von Burkhardt J. Huck

Die Gefahr eines sowjetischen Überraschungsangriffes war seit dem Beginn des Angriffs des kommunistischen Nordkoreas gegen Südkorea die militärische raison d'etre des Nordatlantikpaktes. Aus dieser Bedrohungsvorstellung begründete sich die kollektive Verteidigung der NATO-Staaten mittels der Strategie der Abschreckung durch militärische Stärke, die sich seit der Direktive des Nordatlantikrates vom Dezember 1956 an der des Warschauer Paktes orientiert, und die Vorneverteidigung möglichst weit an der Ostgrenze des Bündnisgebietes.

Seit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO verschob sich die Hauptverteidigungslinie mit der Entwicklung der Vorneverteidigung vom Rhein an die innerdeutsche Grenze. Die Strategie der Abschreckung auf der Basis militärischen Gleichgewichts führte zu einer extremen Konzentration konventionell und nuklear bewaffneter Streitkräfte auf dem Boden der beiden deutschen Staaten. Die Sperranlagen und der vier Kilometer breite Todesstreifen der innerdeutschen Grenze fanden ihre Ergänzung durch eine Mauer aus Raketen und Waffen. Das zentrale Ziel der NATO, das die Westmächte in ihrer Erklärung zum Beitritt der Bundesrepublik im Herbst 1954 bekräftigten, „eine zwischen Deutschland und seinen früheren Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für Gesamtdeutschland, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden legen soll…und die Schaffung eines völlig freien und vereinigten Deutschlands“ 1 rückte in unerreichbare Ferne.

Verteidigungspolitik und Abrüstung in Europa

Nun hat sich jedoch vierzig Jahre nach der Gründung des Nordatlantikpaktes die Situation fundamental verändert. Die Demokratisierung der Staaten Osteuropa und die nach dem Sturz des SED-Regimes sich beschleunigende Annäherung der beiden deutschen Staaten in Richtung Einheit haben auch die politischen und militärischen Rahmenbedingungen für Abrüstung und Konversion in der Bundesrepublik und einem späteren Gesamtdeutschland in unerwartetem Maße verschoben. Zentrale politische und militärische Ziele der NATO, die immer wieder als unabdingbare Voraussetzungen für die Errichtung einer dauerhaften europäischen Sicherheitsordnung genannt wurden, wurden binnen eines Jahres Wirklichkeit:

  1. In den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa wurden oder werden demokratische, freie und geheime Wahlen durchgeführt. In diesen Staaten wird zudem das Zentralwirtschaftssystem sowjetischen Typs langfristig von unterschiedlich marktorientierten Wirtschaftsformen abgelöst.
  2. Nachdem der sowjetische Staatspräsident Gorbatschow anläßlich des Besuchs des deutschen Bundeskanzlers und des Außenministers grünes Licht für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gegeben hat, finden gemäß der Vereinbarung von Ottawa schon im Frühling 1990 die ersten Besprechungen zwischen Vertretern der in beiden deutschen Staaten frei gewählten Regierungen und der vier Siegermächte des letzten Weltkrieges über die deutsche Einheit statt.
  3. Nach dem Sturz der kommunistischen Regierungen in Osteuropa, den einseitigen Reduzierungen der Streitkräfte einiger osteuropäischer Staaten und dem vereinbarten Rückzug sowjetischer Besatzungstruppen, dem Zerfall der Nationalen Volksarmee und der Aufweichung der militärischen Kommandostrukturen der Warschauer Vertragsorganisation ist die Sowjetunion weder zu einem Angriff aus dem Stand noch nach längerer Mobilisierung fähig.

Die unilateralen Reduzierungen der sowjetischen Truppen sind Teil des im Rahmen der Wiener Verhandlungen angestrebten beiderseitigen Truppenabbaus der Großmächte, der vor der Konferenz von Ottawa zu Obergenzen von jeweils 275.000 führen sollte; seit der Vereinbarung von Ottawa im Februar 1990 soll auf jeweils 195.000 Soldaten abgebaut werden. Das heißt, daß nach dem Abzug von 70.000 sowjetischen Soldaten aus der CSR, 45.000 aus Ungarn und 40.000 aus Polen auch noch 190.000 Soldaten der westlichen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR folgen müßten.

Der Rückzug von insgesamt 285.000 Soldaten und Ausrüstungen, dem zudem nach dem Abschluß der VKSE die Vernichtung von Unmengen von Panzern, Geschützen, Fahrzeugen und Flugzeugen folgen soll, wird für die Sowjetunion sicher langwieriger, schwieriger und kostspieliger als für die Staaten der NATO.

An der vollständigen Verwirklichung des von Gorbatschow 1988 angekündigten einseitigen Abzugs von 50.000 Soldaten und 5.500 Panzern, der sozusagen eine Pilotfunktion für die Abwicklung größerer Abzüge hat, bestehen kaum Zweifel. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass meldete am 31. Juli 1989, daß 21.000 Soldaten, 3.100 Panzer, 383 Artilleriegeschütze und 81 Flugzeuge aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR abgezogen wurden. Nach Erkenntnissen der amerikanischen Nachrichtendienste2 war dieser Abzug Ende 1989 zur Hälfte verwirklicht.

Da sich damit auch die militärische Bedrohung der osteuropäischen Staaten durch die Sowjetunion verringert, kann sich die Verteidigungspolitik der osteuropäischen Staaten zunehmend an nationalen statt an Bündnisinteressen orientieren. Nach der Ankündigung des tschechoslowakischen Präsidenten Havel, den demnächst auslaufenden bilateralen Freundschafts- und Beistandsvertrag mit der Sowjetunion weder zu verlängern noch zu erneuern, sind auch weitere positive Brüche im Netz bilateraler Verträge zu erwarten, das die osteuropäischen Staaten bisher militärisch enger an die Sowjetunion bindet als der Warschauer Pakt.

Begleitet von solchen Auflösungstendenzen beginnt sich die militärische Stärke des Warschauer Paktes bereits zum Jahresbeginn partiell auf ein Maß zu reduzieren, das als Ergebnis der Wiener Verhandlungen zum Jahresende angestrebt wurde. Die Staatspräsidenten der USA und der Sowjetunion konnten den Zeitplan auf dem Gipfeltreffen im Dezember 1989 deshalb straffen. Es besteht die gemeinsame Absicht, den Vertrag über konventionelle Streitkräfte auf einem europäischen Gipfeltreffen im Rahmen des KSZE-Prozesses bereits 1990 zu unterzeichnen. Wenige Wochen danach bestätigten auch die Außenminister der EG-Staaten, daß sie den neuen Zeitplan mittragen. Das Gipfeltreffen der 35 Staaten der KSZE soll im September 1990 in Paris auch das Mandat für die zweite Wiener Verhandlungsrunde erteilen.3

Bereits im März 1989 beschlossen Polen, Ungarn, Bulgarien, die CSFR und die DDR im Gefolge der von Gorbatschow angekündigten Reduzierungen der sowjetischen Streitkräfte in ihren Ländern, den Umfang ihrer Verteidigungshaushalte und Streitkräfte ebenfalls in unterschiedlichem Maße zu reduzieren.4 Inzwischen ist man in der DDR, CSR, Bulgarien und Ungarn dazu übergegangen, die insgesamt außerdienst gestellten 1900 Panzer, 129 Kampf- und Jagdflugzeuge, über 200 gepanzerten Mannschaftswagen und 430 Artilleriegeschütze schrittweise zu vernichten. Polen verringert 1990 nach 33.000 im letzten Jahr seinen Streitkräfteumfang um weitere 10.000 auf dann 300.000 aktive Soldaten. Der Ausmusterung von 4.000 Panzern, 700 Geschützen und 600 Transportern folgen dieses Jahr weitere 450 Panzer, 200 Geschütze und 100 gepanzerte Fahrzeuge. Das Verteidigungsbudget liegt 1990 inflationsbereinigt um 5% unter dem des Vorjahres.5

Parallel dazu werden bzw. wurden in diesen Ländern entsprechend der vom Politischen Beratenden Ausschuß des Warschauer Pakts im Mai 1987 angenommenen neuen Militärdoktrin auch die nationalen Militärdoktrinen nicht nur unter defensiven, sondern auch verstärkt nationalen Gesichtspunkten neu definiert. Obwohl die Neuorientierung nicht dazu geführt hat, daß bewaffnete Angriffe im Rahmen eines Konflikts zwischen NATO und WVO ausgeschlossen werden6, bestehen kaum noch Zweifel daran, daß die Streitkräfte sich im Übergang zu einer defensiven Struktur befinden. Das bestätigte auch ein Treffen deutscher und sowjetischer Militärs in der Führungsakademie der Bundeswehr Ende 19897. Die Präsenz in Kriegskampfstärke der sowjetischen Streitkräfte hat zudem deutlich abgenommen. Jan Rautenberg schätzt sie für die Hälfte der sowjetischen Landtruppen auf 5 bis 25 Prozent, für die anderen Streitkräfte auf 50 bis 75 Prozent8.

Planungen der NATO überholt

Die NATO hat bisher zu Recht die von der Sowjetunion bekannt gegebenen Zahlen über die Höhe ihrer Verteidigungsausgaben bezweifelt: Der Verteidigungshaushalt 1988 verzeichnet geplante Ausgaben von nur 20,5 Milliarden. Rubel. Die inzwischen bekannt gegebene Zahl von 77,3 Milliarden für die Verteidigungsausgaben 1989 und die für 1990 geplante Kürzung auf 70,9 Milliarden Rubel dürften der Wahrheit näher kommen.9

Der Verteidigungshaushalt der USA für das Haushaltsjahr 1991 soll mit 292 Milliarden Dollar inflationsbereinigt immerhin um wenigstens zwei Prozent niedriger liegen als der des laufenden Haushaltsjahres. Die Planung des Verteidigungsministerium sieht in den nächsten Jahren ausser Kürzungen von Beschaffungsvorhaben auch eine „Reduzierung der gegenwärtig 28 Armeedivisionen auf 23 und eine Verringerung der Kampfstaffel der Luftwaffen von 36 auf 31 vor.10

Nach einem Bericht der Sunday Times vom 28. Januar dieses Jahres plant das britische Verteidigungsministerium eine Verringerung des Verteidigungshaushaltes jährlich um 2,5 % bis 1999. Bis dahin soll auch der Abzug der 67.000 britischen Soldaten aus der Bundesrepublik und Berlin und eine Reduzierung der gesamten britischen Truppen um ein Drittel vorgesehen sein.

Die Bündnisse geraten durch den Wunsch ihrer Mitglieder nach Abzug eigener Truppen auf fremdem Territorium bzw. dem Abzug fremder Truppen auf eigenem Territorium bereits vor dem Abschluß der Wiener Verhandlungen zunehmend unter Druck. Der bis Ende 1992 zur Entlastung der Haushalte geplante Abzug von 25.000 belgischen und 5.500 niederländischen in der Bundesrepublik stationierten Soldaten wurde nach der Ablehnung durch einige NATO-Partner vorerst wieder zurückgenommen. Der französische Außenminister Dumas begründete die Ablehnung in Übereinstimmung mit Außenminister Genscher damit, daß es jetzt nur um gleichwertigen Abbau sowjetischer und amerikanischer Truppen, nicht aber um auf deutschem Boden befindliche britische, französische, kanadische, belgische und niederländische Einheiten geht. „Deren Anwesenheit auf dem Gebiet der Bundesrepublik entspricht einer besonderen Solidarität (im Atlantischen Bündnis), die von den Wiener Verhandlungen nicht berührt wird.“ 11

Der Vorschlag des sowjetischen Chefdelegierten in Wien vom selben Tage, die sowjetischen Truppen in Osteuropa innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten der zweiten Phase der Wiener Verhandlungen unter der Voraussetzung abzuziehen, daß im gleichen Zeitraum alle in Westeuropa stationierten amerikanischen und Truppen der NATO-Partner in ihre Heimatstaaten abzögen, war jedoch bereits einen Monat später hinfällig. Das bilaterale Abkommen mit der CSFR sieht einen Rückzug der 75.000 sowjetischen Soldaten bereits bis Ende 1991 vor. Ein entsprechendes Abkommen mit Ungarn folgte Anfang März 1990 und wurde Polen angeboten.

Der Warschauer Pakt verliert mit der Demokratisierung Osteuropas und dem Rückzug der sowjetischen Truppen zunehmend seine bisherige militärische Geschlossenheit und es scheint fraglich, ob er diesen Verlust durch die auf seiner Außenministertagung im Herbst 1989 geforderte verstärkte Ausrichtung auf die politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten seiner Mitglieder noch kompensieren kann.

Trotz der merklichen Abnahme der militärischen Bedrohung durch den Warschauer Pakt, die inzwischen auch vom Direktor des CIA, Webster, auf einer Anhörung des US-Senats bestätigt wurde, und nachdem die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Überraschungsangriffs in Europa sogar nach Aussage des ehemaligen Staatssekretärs im Pentagon, Richard Perle, vor demselben Ausschuß so gut wie geschwunden ist12, orientiert sich die Abrüstungsplanung der NATO noch immer an den inzwischen von den Entwicklungen überrollten Zeitplan und Verhandlungsrahmen der Wiener Verhandlungen.

Die Planung für die Bundeswehr in den 90er Jahren

Die Verhandlungsstrategie der NATO, die einseitige Abrüstungsschritte ihrer Bündnispartner vor einem Abkommen ausschließt, das ein symmetrisches Kräfteverhältnis der konventionellen Offensivwaffen der beiden Bündnisse und ihre zonale Dislozierung in Europa völkerrechtlich verbindlich festschreibt, läßt auch der Bundeswehrplanung wenig personellen und materiellen Spielraum. Wie gering dieser Spielraum ist, zeigt die Haushaltsrede von Verteidigungsminster Stoltenberg vor dem Bundestag, eine Woche nach der Annahme des NATO-Streitkräfteplans für die Jahre 1990 bis 1994 durch die Minister des Verteidigungs-Planungsausschusses der NATO.

Obwohl der Beschluß des Bundeskabinetts zur Streitkräfteplanung vom 17. Oktober 1984 nach Stoltenbergs eigener Feststellung „in einer ganz anderen politischen Lage gefaßt wurde“ 13 basiert die Strukturplanung der Bundeswehr noch immer auf diesem.

Die vor allem auf Grund der demographischen Entwicklung bis 1995 geplante Reduzierung des Friedenumfanges der Bundeswehr von 495.000 Soldaten auf 420.000 aktive Soldaten, 10.000 ständige und 40.000 kurzfristig einzuberufende Reservisten, zeigt, daß zwar versucht wird, diese Entwicklung zu berücksichtigen, daß aber die militärische Bedrohung trotz der veränderten politischen Lage als unverändert eingeschätzt wird. Deshalb soll es selbst nach der Verringerung der Zahl der Verbände im Rahmen der Heeresstruktur 2000 bei 12 Divisionen bleiben. Dies führt zu einer verstärkten Kaderung; die geplanten personellen Reduzierungen betreffen vor allem den »billigen« Grundwehrdienst, 92.500 Berufs- und Unteroffiziere und 148.000 Zeitsoldaten aber bleiben eingeplant. Die Personalausgaben, die 1990 um 2,3% auf fast 24 Milliarden DM anwachsen, werden deshalb selbst bei sinkenden Präsenzgraden weiter steigen.

Der Verteidigungsminister betonte zwar, daß das neue Konzept berücksichtigt, daß die Verifikation der Vereinbarungen von Wien „viele Soldaten in Anspruch nehmen wird und auch viel Geld kosten wird“, nannte aber keine konkreten Zahlen. Die im Haushalt 1990 für Rüstungskontrollmaßnahmen angesetzten 300.000 DM kennzeichnen die insgesamt geringe Einschätzung des Planungsbedarfs für Abrüstung und Konversion. Das zeigt sich weiterhin auch daran, daß sich das Verteidigungsministerium erst jetzt auf eventuelle Probleme der Auswirkung weiterer Reduzierungen vorbereitet. Gemäß einem Kabinettsentschluß soll ab 1990 „durch eine Reihe von Folge- und Einzeluntersuchungen“ festgestellt werden, welche Auswirkungen die Verkleinerung bzw. Schließung von militärischen Einrichtungen auf die rund 200.000 Beamten, Angestellten und Arbeiter der Bundeswehr hat. Innerhalb des vom Verteidigungsministerium vorgesehenen Zeitplanes ist das nicht verfrüht: Eine weitere Reduzierung des Personalumfangs auf 400.000 aktive Soldaten wird unter der Voraussetzung des erfolgreichen Abschlusses der Wiener Verhandlungen in Aussicht gestellt. Bis 1996 soll sich dann anscheinend bis zum Abschluß der zweiten Wiener Verhandlungsrunde am Personalumfang nichts mehr ändern. Erst dann ist eine weitere Reduzierung um 70-90.000 aktive Soldaten zu erwarten.

In den nächsten Jahren werden die steigenden Personalkosten und die stetig anwachsenden Ausgaben für Materialerhalt und Betrieb sowie sonstige Betriebsausgaben vor allem den Finanzrahmen für die verteidigungsintensiven Ausgaben14 weiter einengen. Nach Zuwachsraten von 4-5 Prozent auf über 5 Milliarden in den letzten Jahren stiegen die Aufwendungen für Materialerhaltung und Betrieb mit 5,2 Milliarden DM für 1990 um 2,1%. Da die Einbeziehung weiterer Kampflugzeuge in den Instandsetzungskreislauf, die Erhaltung von Patriot und Roland schon in den letzten Jahren zu überdurchschnittlichen Steigerungsraten führten, ist auch in den nächsten Jahren mit Zuwachsraten zu rechnen, die wieder über 3% liegen dürften.

Auch bei den sonstigen Betriebsausgaben wird auf der Grundlage der jetzigen Planung der Rückgang der Ausgaben für Ausbildung und Übungen, für die Bewirtschaftung der Liegenschaften und für Betriebsstoffe die weiter steigenden Ausgaben für Bauunterhaltung, Gemeinschaftsverpflegung und Bewachung kaum kompensieren. Das Ausgabenvolumen, das sich für 1990 um 2,8 Prozent auf 7,7 Milliarden Mark erhöhte, dürfte 1991 über 8 Milliarden liegen.

Da die halbherzigen Kürzungen des Streitkräfteumfangs keine Einsparungen bei den Ausgaben für Personal, Materialerhalt und Betrieb ermöglichen, setzte der Rotstift vor allem bei den verteidigungsintensiven Ausgaben an. Mit 17,5 Milliarden Mark sind diese gegenüber 1989 inflationsbereinigt sogar um 1 Prozent gesunken. Allerdings erhöhte sich zugleich die Summe der Verpflichtungsermächtigungen, also Zahlungsverpflichtungen für künftige Haushalte, um über 8 Prozent auf 17,8 Miliarden.

Der Ansatz von 2,9 Milliarden DM für militärische Anlagen (Bauten, incl. NATO-Infrastruktur) nahm mit 17,5 Prozent am kräftigsten zu. Auch die vor allem durch Einstellung von 700 Millionen Mark für die Entwicklung des Jäger 90 ausgelöste Erhöhung der Ausgaben für Forschung, Erprobung und Entwicklung um 11,3 Prozenz auf 3,3 Milliarden Mark ging zu Lasten der militärischen Beschaffungen. Mit insgesamt 10,9 Milliarden liegt der Ansatz dafür um 5,1 Prozent niedriger als im Vorjahr.

Die von der Planung bis Mitte der neunziger Jahre vorgesehene Weiterentwicklung der Heeresstruktur 2000 mit Schwergewicht auf defensiver Sperrfähigkeit, stärkerer Berücksichtigung der Luftverteidigung und Verringerung der Marine, die zugleich für neue Aufgaben im Nordflankenraum der NATO modernisiert und umstrukturiert wird, machen einen weiteren Rückgang der Beschaffungsausgaben in den nächsten Jahren unwahrscheinlich. Für den Verteidigungsminister wird es erst nach 1996 „um Umstellungen gehen, wie sie bisher in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig sind.“ 15 Selbst wenn der Ansatz für militärische Beschaffungen in den Jahren bis dahin nicht weiter gekürzt wird, sind jedoch weitere Streichungen oder Streckungen wohl kaum zu vermeiden.

Die Marine wird davon kaum betroffen sein. Sie schrumpft ohnehin bis 1996 am stärksten. Nur noch 30.800 statt der bisher 38.000 Soldaten werden bis dahin in den Küstenländern stationiert sein, die Flotte 80-100 statt 188 Schiffe umfassen. Das bedeutet für die Werften und Unternehmen der Marinetechnik zwar einen Auftragsverlust von 14 Schiffsneubauten und -ausstattungen, aber die beantragten Verpflichtungsermächtigungen mit Fälligkeit in 1991 und den Folgejahren in Höhe von 3,9 Milliarden Mark für den Bau von 12 U-Booten, 10 Minenjagdbooten und 4 NATO-Fregatten 123 stellen die Mindestauslastung sicher.

Die Umstellung des Heeres auf defensive Sperrfähigkeit betrifft vor allem die vielen Unternehmen, die am Bau, Ausrüstung und Kampfwertsteigerung des Leopard 1 bzw. Leopard 2 mitwirken. Die eingegangenen, bewilligten oder beantragten Verpflichtungsermächtigungen für die folgenden Jahre stagnieren bei ca. 1,3 Milliarden Mark jährlich. Nach Abwicklung des Auftrags vom Sommer 1989 für 75 Leopard 2, dem Abschluß der Umrüstung von 591 Leopard 1 und der Auslieferung der Bergepanzer 3 sowie von 343 Waffenträgern des Typs Wiesel dürfte die Mindestauslastung bei Krauss-Maffei, Krupp MaK, Wegmann und Rheinmetall ab Mitte der neunziger Jahre unterschritten werden. Bis dahin wird auch das Kampfwertsteigerungsprogramm für die fast 2.100 Schützenpanzer Marder 1A durch KUKA, Thyssen, Industriewerke Saar und Flensburger Fahrzeugbau mit Gesamtkosten von 2,1 Milliarden DM abgewickelt sein.

Die Bodengeräte für das Mittlere Artillerie-Raketensystem MARS und das Luftabwehrsystem Patriot sowie die dazugehörige Munition bzw. Flugkörper werden in den Jahren bis 1997 jeweils jährlich durchschnittlich 650 Millionen Mark kosten. Die Ausgaben für Abschußgeräte und Munition für die neuen Panzerabwehrwaffen, Minen, Artilleriemunition und Flugkörper für die Waffensysteme von Marine, Luftwaffe und Heer werden kräftig steigen. Der Ansatz von 2,7 Milliarden Mark für Munition im Jahr 1990 übertrifft den des Vorjahres um 10%. Nach den Verpflichtungsermächigungen zu schließen wird er auch in den nächsten Jahren ähnlich zulegen.

Der Ansatz von 880 Millionen und Verpflichtungsermächtigungen von ca. 1 Milliarde Mark für Flugzeuge kann wegen der Beschaffung von 107 Radargeräten für und die Integration des Luft-Luft-Flugkörpers AMRAAM in das Waffensystem F-4F Phantom nur geringfügig sinken.

Das Programm MRCA-Tornado weist zwar längfristig sinkende Aufwendungen aus, wegen der zusätzlichen Beschaffung von 35 Tornado ECR sind für 1990 noch immer 950 Millionen DM angesetzt, die entwicklungstechnische Betreuung schlägt mit weiteren 220 Millionen DM zu Buche.

Für die kostspielige Entwicklung des Jäger 90 sind 700 Millionen Mark im Jahr 1990 vorgesehen. Von den bisher eingegangenen Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt 4,9 Milliarden werden bis 1997 jährlich durchschnittlich weiterhin 700 Millionen Mark fällig. Kaum bestritten wird noch, daß die Beschaffungskosten nach dem für 1993 geplanten Serienvertrag die bisher genannten 16,5 Milliarden DM weit übersteigen werden16. Beschaffung, Bewaffnung, Nutzungskosten des Jäger 90 und der Materialerhalt der beiden komplexen und teuren Waffensysteme Jäger 90 und Tornado werden den Verteidigungshaushalt bis in die nächsten Jahrzehnte mit mehreren Milliarden jährlich belasten.

Wenn die Erfahrungen mit der Kostenexplosion des Programmes MRCA Tornado zu Grunde gelegt werden, sind Gesamtbeschaffungskosten von 50 Milliarden DM bis zum Jahr 2000 nicht ausgeschlossen. Die Kostenkalkulationen für die Programme des Advanced Tactical Fighter für die US Air Force und Navy zeigen, daß eine solche Kostenentwicklung durchaus realistisch ist.17

Für die in der nächsten Legislaturperiode anstehende Entscheidung über die Beschaffung des Jäger 90 dürfte es nach dem Rückzug der Freien Demokratischen Partei und ablehnenden Stellungnahmen einiger Unionspolitiker keine parlamentarische Mehrheit mehr geben, da beide Oppositionsparteien das Jägerprogramm ohnehin ablehnen. Es bleibt jedoch ungeklärt, welche Kompensation die militärischen und wirtschaftlichen Interessengruppen einzufordern vermögen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben zudem wegen der in den VKSE noch immer ungeklärten Frage der Kampfflugzeuge Prognosen eine kurze Halbwertzeit. Wie komplex das Beziehungsgeflecht der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen auf den Entscheidungsprozeß für die Beschaffung von Großwaffensystemen ist, haben die Arbeiten z.B. von Kurt Johannson (1969) und Peter Schlotter (1975) über Starfighter und Phantom, Peter Krasemann, Alfred Mechtersheimer (1977) und Bruno Köppl (1979) über das MRCA-Tornado-Programm oder die von Michael Franken über das AWACS-Programm (1983) deutlich gemacht. Die Rahmenbedingungen für den Entscheidungsablauf zwischen den Akteuren in NATO, IEPG, BMVg, und BWB, bei den Auftragnehmern in der Industrie und den parlamentarischen Kontrollorganen auf der anderen Seite werden sich durch die Abrüstungsvereinbarungen und die neue Situation in Deutschland und Osteuropa zwar weiter verändern. Eine ersatzlose Streichung des Jäger 90 aus der Haushaltsplanung ohne eine Neuorientierung der NATO-Luftverteidigung, in die die Jagdgeschwader und Luftflotte der Luftwaffe völlig integriert sind, ist jedoch wenig wahrscheinlich. Die Alternativen, die zur Zeit im Gespräch sind, wie etwa eine entsprechende Adaption und Integration der wichtigsten Entwicklungsergebnisse des Jägerprogrammes in bestehende Programme europäischer oder amerikanischer Herkunft, dürften zwar weniger kostspielig sein. Ohne eine weitere Verringerung des Personalumfangs und einer damit verbundenen Senkung der Ausgaben für Materialerhalt und Betrieb, sind auch diese Alternativen ohne eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes nur durch weitere Streichungen und Kürzungen anderer Titel der verteidigungsintensiven Ausgaben finanzierbar.

Ein Konzept für die »Bundeswehr im Übergang«

Die Haltung der Regierungsparteien zur Bundeswehrplanung orientiert sich insgesamt trotz der leicht abweichenden Konzeption der Freien Demokratischen Partei ausschließlich an der gemeinsamen Linie des Bündnisses. Die F.D.P. will zwar entsprechend dem ersten Entwurf ihres Wahlprogrammes für die zweite Runde der Wiener Verhandlungen Vorschläge in die Bündnisberatungen einbringen, die sich an folgenden Eckwerten orientieren: „Die Zahl der präsenten Soldaten soll auf etwa 350.000 begrenzt werden…Der Grundwehrdienst soll auf 12 Monate reduziert werden, die um eine entsprechende Zahl von Wehrübungen ergänzt werden. “ 18 Diese Eckwerte und auch die Absicht, die durch Reduzierung des Personalumfangs freiwerdenden Mittel für das Attraktivitätsprogramm der Bundeswehr und die Finanzierung von Rüstungskontrollmaßnahmen einzusetzen, dürften sich jedoch in etwa mit dem Zeithorizont und den Vorstellungen der Unionsparteien in Übereinstimmung bringen lassen.

Es ist jedoch weniger der geplante Personalumfang der Streitkräfte, der die Konzeption der Sozialdemokatischen Partei für die Bundeswehr in den kommenden Jahren essentiell von der der Regierungsparteien unterscheidet, sondern vielmehr die Frage nach ihrer künftigen Struktur und ihres Auftrages im Rahmen einer defensiven Strategie. Die künftige Verteidigungs- und Sicherheitspolitik soll sich nach den Vorstellungen der SPD am Prinzip der Gemeinsamen Sicherheit orientieren.

Einige der sicherheitspolitischen Vordenker der Partei haben bereits Anfang der achtziger Jahre begonnen, die Stabilitätsdefizite des Prinzips der gleichen Sicherheit durch die Einbeziehungen kooperativer Elemente auszugleichen. Das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit dominiert inzwischen die sicherheitspolitische Programmatik des Ende 1989 in Berlin verabschiedeten Grundsatzprogrammes der SPD. Das darin genannte Ziel des Konzepts gemeinsamer Sicherheit, wie „die Abschaffung aller Massenvernichtungsmittel und eine drastische Verringerung und Umstrukturierung der konventionellen Streitkräfte bis hin zur beiderseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit“ wird in Teilen auch von den anderen Parteien, allerdings mit einem anderem Zeithorizont geteilt. Die SPD unterscheidet sich aber generell durch die Forderung, daß der „Prozeß dahin durch begrenzte einseitige Schritte und Signale beschleunigt werden soll. Dazu gehört die erhebliche Senkung der Rüstungsausgaben, der Abbau der Truppenstärken und ein allgemeiner Atomteststopp.“ 19

Im Vorgriff auf den aus dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit resultierenden künftigen Auftrag der Bundeswehr, Kriege durch Verteidigungsfähigkeit bei struktureller Angriffsunfähigkeit zu verhüten, fordert die SPD sofort damit zu beginnen, die Planung vor allem für die weitreichenden Offensivsysteme zu revidieren.20 Die Personalplanung soll eine Reduzierung der Bundeswehr auf 240.000 Soldaten bis zum Jahr 2000 vorbereiten, die Dauer des Grundwehrdienstes sofort auf 12 Monate abgesenkt und der Verteidigungshaushalt um mindestens 5 Milliarden gekürzt werden.

Im Spätsommer 1989 haben Bundestagsabgeordnete der Partei »Die Grünen« vorgerechnet21, wie sich eine Kürzung solcher Größenordnung auf einzelne Kapitel und Titel des Verteidigungshaushaltes für das Jahr 1990 verteilen könnte:

  • Im Personalbereich könnten allein durch die Reduzierung der Personalstärke bei den Berufs- und Zeitsoldaten durch natürliche Fluktuation (35.000 Stellen im Jahr 1990) fast 1,4 Milliarden Mark eingespart werden. Die Verkürzung des Grundwehrdienstes auf 12 Monate würde zu einer Entlastung von über 700 Millionen führen. Durch weitere Anpassungen könnten die für eine Wehrsolderhöhung nötigen Mittel freigesetzt werden.

Durch Verzicht auf Beschaffung

  • von Kampffahrzeugen und Munition werden aus dem Beschaffungsetat des Heeres fast 1,4 Milliarden verfügbar;
  • des Rolling Airframe System, Fregatte 123 und Verzicht auf die Umrüstung der U-Boote 500 Millionen Mark aus dem Beschaffungsetat der Marine;
  • von Phantom F-4F, Tornado, Mehrzweckwaffe 1 und Verzicht auf die Entwicklung des Jäger 90 fast 1 Milliarde Mark aus dem Beschaffungsetat der Luftwaffe.

Im laufenden Geschäftsbetrieb, der Manövertätigkeit und den Forschungs-, Erprobungs- und Entwicklungsausgaben fand der grüne Rotstift weitere 2 Milliarden Mark, die sich durch Mittelanpassung, Kürzungen oder Streichungen einsparen bzw. zur Umrüstung auf Defensivvarianten z.B. des Tornado umwidmen ließen.

Mit ziemlicher Sicherheit werden ähnliche Sparszenarios mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Zeithorizonten nach dem erfolgreichen Abschluß der Wiener Verhandlungen und weiteren Fortschritten in Richtung auf die Einigung Deutschlands mit Blick auf die Bundestagswahlen im Spätherbst von allen Parteien vorgelegt werden. Die zugleich fälligen langfristigen Richtlinien für eine Neuorientierung der Verteidigungspolitik werden unabhängig vom künftigen militärischen Status der DDR in der Übergangszeit zu einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung zwangsläufig die Frage nach der Strategie der Vorneverteidigung an der innerdeutschen Grenze in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung rücken. Dabei wird die Frage, wie der Verteidigungsgürtel von der Ostsee bis zur Donau abgebaut werden kann, ohne eine grundlegende Revision der militärischen Funktionen der NATO nach sich zu ziehen, eine zentrale Rolle spielen.

Es ist bemerkenswert, daß der Fraktionsvorsitzende der Unionsparteien, Alfred Dregger22, bereits jetzt die beginnenden Auseinandersetzungen durch die Einführung des Begriffes der »Hinlänglichkeit der Verteidigung« zu strukturieren versucht, der bisher vor allem von sowjetischer Seite eingebracht wurde. Dregger macht eine beiderseitige Struktur der hinlänglichen Verteidigung zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über einen Abbau des bisherigen Verteidigungsgürtels der NATO an der Ostgrenze der Bundsrepublik. Er schlägt vor, die Solidarität des Bündnisses nicht mehr in der gemeinsamen Vorneverteidigung aller nationalen Bündniskontingente nebeneinander zu demonstrieren, sondern die bisher bestehenden Korps in der Bundesrepublik durch mobile Verbände mehrerer Nationen abzulösen, die z.B. als operative Angriffsreserven in der Tiefe des Raumes nicht nur auf deutschem Boden bereitzustellen wären. Die grenznahe Verteidigung soll durch nicht der NATO-assignierte territoriale Streitkräfte wahrgenommen werden.

Die Voraussetzung dieses Vorschlags, nämlich eine beiderseitige Struktur der hinlänglichen Verteidigung, könnte allenfalls gegen Ende der neunziger Jahre durch die Verwirklichung entsprechender Ergebnisse der zweiten Wiener Verhandlungsrunde Realität werden. Das Ziel der Hinlänglichkeit der Verteidigung ist nach sowjetischer Vorstellung, daß „das vernünftige ausreichende Maß die Abwehr und die unbedingte Wiederherstellung des status quo ante garantiert. Hierzu bedarf es jedoch einer höchst aktiven Verteidigung, die sich jedoch nicht zu nachfolgenden großangelegten Angriffoperationen in der Tiefe des gegenerischen Territoriums ausweiten muß … Das Ideal des vernünftigen für die Verteidigung ausreichenden, Maßes ist ein äußerst niedriges Niveau an Streitkräften, die das militärische Gleichgewicht gewährleisten, über keine Massenvernichtungsmittel verfügen und auf Nichtangriffsfähigkeit ausgerichtet sind.“ 23

Unabhängig von der Frage, wie sich Abbau und künftige Dislozierung der bisher an der Ostgrenze der Bundesrepublik im Rahmen der Vorneverteidigung konzentrierten Streitkräfte der Bundesrepublik und ihrer Bündnispartner gestalten, stellt sich deshalb zunächst die zentrale Frage nach der Umrüstung, die nötig ist, um einer solch neuen Konzeption zu entsprechen.

Alternativen zur amtlichen Bundeswehrplanung wurden bisher, wie oben gesagt, vor allem von sozialdemokratischen bzw. der SPD nahestehenden Verteidigungsexperten entwickelt. Die Konzepte unterschieden sich allerdings zum Teil grundlegend vor allem in Hinblick auf Ausrüstung und Einsatzfunktionen vor allem in Verbindung mit den noch immer aktuellen strategischen Konzepten des Angriffs auf die zweite Staffel (FOFA) und der offensiven Gegenschläge aus der Luft (OCA). Im Hinblick auf diese offensiven Konzepte entsprechen die Vorschläge der Studiengruppe Alternative Sicherheit für den Strukturwandel der Bundeswehr in den neunziger Jahren am meisten der defensiven Doktrin der vernünftigen Hinlänglichkeit. Vor dem Hintergrund der Entwicklung in der DDR haben diese Vorschläge noch an Aktualität gewonnen. Es kann hier nicht auf die Details der Strategie der Spinne im Netz, vor allem die inzwischen überholte Personalplanung eingegangen werden. Für die anstehende Umrüstung der Bundeswehr sei jedoch besonders auf die beispielhaften Modelle von Lutz Unterseher24 für die Umstrukturierung und Umrüstung von Luftwaffe, Heer und Marine hingewiesen. Sie machen besonders deutlich, daß eine nach auschließlich defensiven Gesichtspunkten strukturierte und ausgerüstete Bundeswehr dem Verteidigungsauftrag unter veränderten Rahmenbedingungen durchaus entsprechen kann.

Inzwischen hat eine von der Sicherheitspolitischen Kommission des Bundesvorstandes der SPD eingesetzte Arbeitsgruppe ein Konzept für die »Bundeswehr im Übergang« vorgelegt25. Ausgangpunkt ist das im Sommer 1989 von Egon Bahr, Karsten Voigt und Andreas Bülow vorgelegte „Gesamtkonzept für die Sicherheit Europas – Europäische Sicherheit 2000“. Ziel dieses Gesamtkonzepts ist es, bis zum Jahr 2000 die konventionelle Stabilität durch eine Reduzierung der Streitkräfte beider Bündnisse vom Atlantik bis zum Ural auf je etwa 50 Prozent der heutigen Stärke der NATO-Streitkräfte in Europa und durch eine defensive Umstrukturierung zu erreichen.

Das Konzept »Bundeswehr im Übergang« wird mit dem ausdrücklichen Hinweis eingeleitet, daß es kein Konzept für das Jahr 2000 ist, sondern für „die eigenständigen Schritte, die die Sozialdemokraten einleiten wollen.“ 26 Trotz dieses Hinweises bleibt jedoch nach der Vorstellung der Rahmenbedingungen, die von der Erreichung der Ziele des Gesamtkonzepts »Europäische Sicherheit 2000« ausgehen, unklar, in welchem Zeitrahmen sich eigenständige Schritte realisieren lassen. Die Annahmen, die der Neudefinition des Auftrags der Teilstreitkräfte vorangestellt sind, gehen nämlich davon aus, daß militärisch verdünnte und von Offensivwaffen befreite Zonen an den Berührungslinien der Bündnisse eingerichtet wurden und keine offensiven Luftangriffskräfte in Europa vorhanden sind. Das Tempo der gewünschten Umstrukturierung wird nicht nur abhängig gemacht von den Wiener Verhandlungen, bilateralen Vereinbarungen und der Entwicklung in Osteuropa, sondern auch „von Absprachen über ein paralleles Vorgehen zwischen den Staaten in Mitteleuropa und eigenständigen Schritten der Bundesrepublik.“ 27

In welchen Einzelschritten unter solchen Voraussetzungen die angestrebten defensiv ausgerichteten Streitkäftestrukturen erreicht werden können, bleibt deshalb bis auf die beabsichtigten Streichungen von Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben offen. Trotz der massiven, im Falle der Regierungsübernahme beabsichtigten Streichungen von Entwicklungs- (Jäger 90, weitreichende Raketen und Abstandswaffen) und Beschaffungsvorhaben (Panzer, Fregatten, Kampfflugzeuge) wird nur eine »spürbare« Senkung der Verteidigungsaufwendungen in Aussicht gestellt, weil „Verifikation, Umstrukturierungsmaßnahmen, Personalabbau und Konversion zunächst einmal Geld kosten und anfänglich einen guten Teil der Einsparungen aufzehren werden.“ 28.

Trotz der Ungewißheiten des Zeitplanes ist das Konzept der »Bundeswehr im Übergang« eine klare Absage an jede Planung, die versucht einen „verringerten Streitkräfteumfang in Zukunft durch erhöhte Flexibilität und Schlagkraft zu kompensieren“. 29 Das Konzept steht damit im Gegensatz zu den meisten „qualitativen Merkmalen defensiver Streitkräftestrukturen “ 30 der amtlichen Planung. Das gilt insbesondere für die Steigerung der operativen Flexibilität und Mobilität der Landstreitkräfte durch die Erhöhung der Luftbeweglichkeit z.B. durch den PAH-2 und die Ausdehnung der Feuerwirkung in der Tiefe durch Punktziel- oder Flächenfeuerwaffen mit einer Reichweite von mehr als 40 Kilometer z.B. durch den künftigen Einsatz der MARS-Startgeräte für das Army Tactical Missile System. Auch eine Luftverteidigung, die durch die Kampfwertsteigerung des Luftabwehrsystems Patriot Raketenabwehrfähigkeit erreicht, wird durch das Konzept »Bundeswehr im Übergang« ebenso abgelehnt, wie „Flugzeuge, die die Luftangriffskräfte des Gegners auch schon am Boden zerstören können“ oder eine Marine, „bei der das Potential für die offene See Vorrang vor dem Küstenvorfeld gewinnt.“ 31

Das Konzept der vertrauensbildenden Verteidigung setzt zudem nicht nur „abrüstungsfreundliche konventionelle Streitkräftestrukturen“, sondern auch die generelle Denuklearisierung voraus, was einigen Widerspruch der Kritiker hervorrief32. Seit der Öffnung der DDR und der Demokratisierung Osteuropas beginnen sich aber auch in dieser Frage die Fronten aufzulockern, die noch im Zusammenhang mit der Modernisierung der Kurzstreckensysteme unversöhnlich schienen. Über die Beseitigung der nuklearen Artillerie scheint sich inzwischen zwar quer durch die Parteien Konsens zu bilden, die völlige Abrüstung der nuklearen Kurzstreckenraketen ist jedoch noch nicht in Sicht, auch wenn Außenminister Genscher fordert, die durch die drastische Abrüstung dieser Systeme „eingesparten Gelder für den ökonomischen, ökologischen und sozialen Aufbau in der DDR und Mittel- und Osteuropa“ 33 einzusetzen.

NATO, Deutschland, Abrüstung und Konversion

Die durch den Verzicht auf ein Nachfolgesystem für den Artillerieraketenwerfer Lance oder die Umrüstung der nuklearfähigen Artillerie der Bundeswehr einsparbaren Finanzmittel sind jedoch so gering, daß sie gegenüber dem immensen Kapitalbedarf der DDR und der Länder Mittel- und Osteuropas der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein wären. Auch nach dem oben vorgestellten Konzept der SPD führen mittelfristig nicht einmal die Reduzierung des Streitkräfteumfanges, die Stillegung von Waffensystemen und ein Moratorium für Beschaffungen und Modernisierungen dazu, daß umfangreichere Finanzmittel für andere Aufgaben verfügbar werden. Trotz aller Unterschiedlichkeit der Konzepte von Regierung und Opposition erwarten sich beide von Abrüstung und Konversion nur langfristig eine mehr als »spürbare« Entlastung des Haushalts.

Es ist allerdings fraglich, ob die gegenwärtige Planung des Verteidigungsministeriums für die Bundeswehr 2000 jemals dazu führen kann, wenn es nicht zugleich gelingt, in die Abrüstungsvereinbarungen Sicherungen gegen ein qualitatives Wettrüsten auf einem niedrigeren Streitkräfteniveau einzubauen. Die defensiven Streitkräftestrukturen, die der Referatsleiters für NATO- und Streitkräfteplanungen im BMVg, Ulrich Weisser, entwirft, bestätigen die Befürchtungen, daß unter solchen Vorgaben die Bundeswehr zu „einer kleinen, beweglichen High-tech-Truppe mit hoher Schlagkraft“ 34 umstrukturiert wird. Solche Konzepte werden den deutlichen Trend, Abstriche am Streitkräfteumfang durch Automatisierung und Roboterisierung zu kompensieren, nur verstärken.

Das Konzept für die »Bundeswehr im Übergang« mit einem eindeutigen Schwerpunkt auf statischen Strukturen macht eine solche Entwicklung wenig wahrscheinlich. Der Verzicht auf Entwicklung und Beschaffung der offensiven und zugleich teuersten Waffensysteme und damit auf kostpielige rüstungstechnologische Innovationen bedeutet zudem auch den Ausstieg der Bundesrepublik aus den zentralen Projekten der europäischen bzw. transatlantischen Rüstungskooperation. Ein solcher Ausstieg und die zugleich angestrebte restriktive Genehmigungspraxis für Rüstungsexporte dürfte mittelfristig zu einer kräftigen Schrumpfung der rüstungsindustriellen und -technologischen Basis in der Bundesrepublik führen.

Die Bundesrepublik soll aber unabhängig von den Unterschieden der Konzepte Mitglied der NATO bleiben, bis die Mitgliedschaft in Militärbündnissen durch eine neue europäische Sicherheitsordnung obsolet wird. Trotz des Konsens, der sich inzwischen quer durch die Parteien zu dieser Frage gebildet hat, findet die grundsätzliche Frage, welche Aufgaben die Bündnisse während des Prozesses des Übergangs erfüllen sollen, nur wenige und sehr zurückhaltende Antworten. Unter Hinweis auf die abrüstungspolitischen Erfolge seit dem Abschluß des Vertrages über die Mittelstreckenraketen und den bevorstehenden erfolgreichen Abschluß eines Abkommens über die Verminderung der konventionellen Streitkräfte wird von den Sprechern und Mitgliedern der Regierungen und Bündnisse fast gleichlautend betont, daß in den kommenden Jahren die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Bündnisse in den Vordergrund rücken können.

Der politische Charakter der NATO als Bündnis demokratischer Staaten, das seine militärischen Funktionen vor allem aus der Entschlossenheit ableitet, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“ und aus dem „Bestreben, den inneren Zusammenhalt und das Wohlergehen im nordatlantischen Gebiet zu fördern“, ist in der Präambel und den einzelnen Artikeln des Nordatlantikvertrages vom 4. April 1949 klar festgelegt. Die zentralen Artikel des Vertrages betreffen jedoch den gemeinsamen Entschluß „die Bemühungen für die gemeinsame Erhaltung des Friedens und der Sicherheit zu vereinen“, und sich im Falle eines bewaffneten Angriffs kollektiv zu verteidigen und „die Sicherheit im nordatlantischen Gebiet wiederherzustellen und zu erhalten.“

In die aus diesem kollektiven Verteidigungswillen gewachsenen militärischen Strukturen der NATO ist die Bundesrepublik stärker eingebunden als jedes andere Mitglied. Ihre Sonderstellung beruht zum einen darin, daß sie nahezu alle präsenten Kampfverbände und die Luftverteidigungskräfte bereits im Frieden der NATO unterstellt hat, zum anderen darin, daß das eigene Territorium und die damit verbundenen Belastungen für die eigene Bevölkerung Teil des deutschen Bündnisbeitrages sind.35 Ein Rückzug der Bundesrepublik aus der militärischen Integration der NATO und die Beschränkung auf eine politische Mitgliedschaft ist zwar nicht ausgeschlossen, wurde aber bisher nicht ernsthaft vorgeschlagen.

Im Gegenteil scheint trotz einiger Divergenzen unter den Parteien in der Bundesrepublik darüber Konsens zu bestehen, daß die Bündnisse zur Stabilisierung und Abwicklung der Abrüstung und bei der Organisation einer blockübergreifenden Sicherheitsstruktur noch gebraucht werden. Die bisher von der Sowjetunion geforderte Neutralität eines geeinten Deutschlands mag dazu beigetragen haben, daß dieser Konsens die weitere Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur NATO, unabhängig vom militärischen Status des bisherigen Gebietes der DDR, einschließt.

Die Verwandlung der NATO in ein Bündnis, das verstärkt die politischen Aufgaben von Abrüstung und Rüstungskontrolle wahrnimmt und den friedlichen Interessensausgleich garantiert, soll diese Zugehörigkeit möglich machen. Da fast alle politischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Bündnisse auch zum Aufgabenfeld anderer internationaler Organisationen gehören, stellt sich die Frage, ob der Einfluß der Großmächte in Europa nicht auch über diese Organisationen sichergestellt werden kann. Abgesehen davon, daß es keine historischen Beispiele für die Konversion von Militärbündnissen gibt, hängt auch die weitere Entwicklung von zu vielen veränderlichen Variablen und noch unberechenbaren Faktoren vor allem im Bereich der internationalen Beziehungen ab. So kann kaum prognostiziert werden, ob und wie diese Entwicklung in absehbarer Zeit zu einer Entlastung der Bundesrepublik von ihrem hohen Verteidigungsbeitrag führt bzw. mehr Eigenständigkeit der Bundeswehrplanung erlaubt. Nach einem erfolgreichen Abschluß der Wiener Verhandlungen und der Ratifizierung der Ergebnisse durch die Parlamente der Teilnehmerstaaten wird der Spielraum vielleicht größer. Möglich ist auch, daß sich bereits mit dem Abschluß der Wiener Verhandlungen eine erste Lösung für den künftigen militärischen Status eines geeinten Deutschlands abzeichnet. Eine solche Lösung könnte durchaus beinhalten, daß sich beide Bündnisse auf die von der Sowjetunion zum Schluß der fünften Wiener Verhandlungsrunde vorgeschlagenen Obergrenzen in Zentraleuropa von 700.000 Mann auf jeder Seite einschließlich der bereits vereinbarten jeweils 195.000 Soldaten der USA und der UdSSR einigen. Mit einer solchen Obergrenze könnte ein wesentlich geringerer Streitkräfteumfang als bisher geplant bereits in den folgenden Jahren Realität werden.

Trotzdem ist nicht abzusehen, ob und wie solche Verhandlungsergebnisse den Spielraum für eigenständige Umstrukturierungsmaßnahmen einer voll in die NATO integrierten Bundeswehr erweitern. Auf die Notwendigkeit, die bisherige Verteidigungsplanung umzustellen und auch die Strategie zu ändern, verweist zwar inzwischen auch der Generalsekretär der NATO. Zugleich betont er aber, daß diese Änderung nicht zum Abschied von der Strategie der nuklearen Abschreckung führt. Immerhin hält Generalsekretär Wörner eine „nukleare Minimalabschreckung“ 36 nach einer drastischen Reduzierung der nuklearen Artillerie und der Kurzstreckenraketen für möglich. Die etwa 500 Atombomben für die fast 400 in der Bundesrepublik stationierten Bomber und Jagdbomber bleiben in diesem Zusammenhang stets ungenannt. Da zudem weder Großbritannien noch Frankreich bisher Interesse an einer Denuklearisierung der Bundesrepublik gezeigt haben, bleibt unklar, ob und wie dieses vor allem von den Oppositionsparteien deutlich abgesteckte Ziel jemals erreicht werden kann.

Die besonders von Außenminister Genscher immer wieder beschworenen kooperativen Sicherheitsstrukturen, in denen später die Bündnisse aufgehen können, werden sich auf der Basis der Strategie der Abschreckung und bei Fortbestand der integrierten Militärstruktur der Bündnisse wohl kaum in einem Tempo entwickeln, das eine grundlegende Neuorientierung der Streitkräftestrukturen in den nächsten Jahren möglich macht. Vielmehr besteht die Gefahr, daß über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa in dem von den Bündnissen abgesteckten Zeitplan und unter Beibehaltung der Strategie der Abschreckung die Umrüstung zu kleineren, moderneren und schlagkräftigeren Streitkräften forciert wird.

Zudem ist noch überhaupt nicht abzusehen, wie eine Lösung des künftigen militärischen Status Gesamtdeutschlands im Rahmen der Zwei plus Vier Beratungen erreicht werden kann, die sich mit dem durch die VKSE-Vereinbarungen angestrebten symmetrischen militärischen Kräftegleichgewicht der Bündnisse in Europa vereinbaren läßt. Lösungen, die eine unveränderte Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO mit leichten Modifikationen wie etwa Entmilitarisierung und militärische Kontrolle der DDR und Berlins durch die Vier Mächte fortschreiben, lassen sich mit dem Gleichgewichtsmodell der VKSE doch wohl nur durch eine drastische Reduzierung des deutschen Streitkräftepotentials in Einklang bringen. Wenn aber, wie bisher vor allem vorgeschlagen, diese Reduzierung die bisherige Volksarmee der DDR betreffen und die Sowjetunion zugleich ihre Streitkräfte auf 195.000 Mann reduzieren soll, stellt sich nicht nur die weiter oben von Dregger gestellte Frage nach der Zukunft der Vorneverteidigung, sondern auch nach der Begründung des deutschen Verteidigungsbeitrages in dem bisher geplantem Ausmaß. Ein geeintes Deutschland, in dem 195.000 sowjetischen Soldaten auf dem entmilitarisierten Gebiet der DDR 195.000 amerikanische, 400.000 deutsche, 65.000 britische, 52.000 französische, 32.000 belgische, 6.900 kanadische und 5.500 niederländische Soldaten auf dem Gebiet der Bundesrepublik gegenüberstehen, ist wohl kaum mit dem in Wien angestrebten Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte zu vereinbaren.

Kennzeichend für die Absurdität einer solchen Situation wäre zudem, daß im Gefolge der Währungsunion Deutschland mit der UdSSR einen Vertrag über die »Fakturierung« des Aufenthaltes der sowjetischen Truppen in D-Mark-Sätzen schließen müsste37. Unter solchen Voraussetzungen kann möglicherweise ein Friedensvertrag, wie er vom Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU und früheren Botschafter in Bonn, Valentin Falin38. vorgeschlagen wird, eine exaktere Rechtsgrundlage für die neue Etappe der Nachkriegsentwicklung schaffen, als die modifizierte Fortschreibung der bündnisbezogenen Sicherheitsstrukturen, die um die deutsche Teilung herum entstanden sind. Eine solche friedensvertragliche Regelung muß nach seiner Ansicht Neutralität nicht unbedingt einschließen, „solange das Territorium Deutschlands nicht für militärische Bewegungen zur Verfügung steht“. Seit der Frühjahrstagung der Außenminister des Warschauer Paktes zeichnet sich zudem ab, daß die bisher einstimmig geforderte Neutralität Deutschlands nicht mehr die einzige Verhandlungsposition ist. Der sowjetische Außenminister machte während dieser Tagung den künftigen Status Deutschlands entscheidend vom Grad seiner Bewaffnung abhängig.39

Unabhängig davon wie sich die Verhandlungspositionen der beiden deutschen Staaten, der Westmächte und der Sowjetunion im Laufe dieses Jahres im einzelnen entwickeln werden, kann mit Sicherheit festgestellt werden, daß alle Fortschritte in Richtung Abrüstung und kooperative Sicherheitsstrukturen in Europa von einer drastischen Reduzierung des in der Bundesrepublik konzentrierten militärischen Potentials abhängen. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Szenarien für Abrüstung und Konversion können sich erst mit dem weiteren Fortschreiten der Beratungen über Deutschland in klareren Strukturen zeigen. Es zeichnet sich jedoch bereits jetzt ab, daß das Problem der Konversion sich in größeren Dimensionen stellen wird, als bisher erwartet werden konnte.

Der vorliegende Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Buch von Lutz Köllner/B.J. Huck (Hrsg.), Abrüstung und Konversion, das bei campus in diesen Tagen erscheint.

Anmerkungen

1) Heinrich Siegler: Dokumentation zur Deutschlandfrage. Bonn : Verlag für Zeitarchive, 1961, Hauptband I, S.230 Zurück

2) Jan Reifenberg: Auf der Suche nach neuer Verteidigungspolitik, FAZ 13.1.1989 Zurück

3) Die EG befürwortet KSZE-Gipfel noch in diesem Jahr, FAZ 21.1.90 Zurück

4) Vgl. dazu: Hans-Joachim Schmidt: Der Warschauer Pakt wird defensiv. FR 18. März 1989 Zurück

5) In Polen weitere Truppenreduzierungen, FAZ 5.1.90 Zurück

6) Vgl. Neue Verteidigungsdoktrin in Polen. FAZ 27.2.90 Zurück

7) Vgl. Ein „Gefühl der Aggressivität“ durch die Planungen der NATO, FAZ 15.12.89 Zurück

8) Jan Reifenberg: Das Arbeitstempo in Wien muß erhöht werden. FAZ 6.12.90 Zurück

9) Oberster Sowjet verabschiedet Haushaltsplan für das Jahr 1990. FAZ 2.11.89 Zurück

10) Leo Wieland: Bush militärisch auf einem Mittelweg. FAZ, 29.1.90 Zurück

11) Jan Reifenberg: Die NATO kommt nicht mehr nach, FAZ 29.1.90 Zurück

12) Vgl. Anm. 10 Zurück

13) Deutscher Bundestag, Stenografische Berichte, Plenarprotokoll 11/182, 7.12.89 Zurück

14) Die folgenden Daten sind zusammengestellt nach: Entwurf Bundeshaushaltsplan 1990 – Einzelplan 14. / Deutscher Bundestag – Bonn 1989=Anlage zu Drucksache 11/5000…: Erläuterungen und Vergleiche zum Regierungsentwurf des Verteidigungshaushalts 1990. / Der Bundesminister der Verteidigung – Bonn : BMVg August 1990…: Wehrdienst. 25.Jahrgang, Ausgaben 1160/1989 bis Ausgabe 1202/1989. Vgl auch: Hartmut Bebermeyer: Die Sicherheit und ihre Kosten. In: Vertrauensbildende Verteidigung. / Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik – Gerlingen : Bleicher 1989, S.118ff.; Otfried Nassauer: Die Bundeswehrplanung der neunziger Jahre. In: Mediatus, Heft 1-2, 1990, S.12-13; Karl Feldmeyer: Verteidigungshaushalt 1990. In: Europäische Wehrkunde, Heft 11, 1989, S.673-676 Zurück

15) siehe Anm. 12, S.13991 Zurück

16) Vgl. dazu die Kritik des Bundesrechnungshofes. In: Wehrdienst, Beilage zu den Ausgaben 1127 bis 1129/88 Zurück

17)) Zurück

Vgl. David C. Morrison: Warning Shot. In: National Journal, 7.10.89

18) fdk Freie Demokratische Korrespondenz, 25.1.1990, S.7 Zurück

19) Grundsatzprogramm der Sozialdemokartischen Partei Deutschlands / SPD-Parteivorstand – Bonn : SPD 1989 Zurück

20) vgl. hierzu und im folgenden die Rede der Abgeordneten der SPD, Katrin Fuchs in der Haushaltsdebatte (Quelle wie Anm. 12, S.14016) Zurück

21) Alle Daten hierzu und im Folgenden nach dem Text der Presseerklärung des Abgeordneten Hubert Kleinert vom 8.9.89 Zurück

22) Alfred Dregger: Neue Sicherheitsstrukturen für Europa. Deutsche Fassung eines Aufsatzes, der in der Revue des Deux Mondes veröffentlicht wurde. Mimeo. März 1990 Zurück

23) L. Semejko: Das vernünftige, für die Verteidigung ausreichende Maß. Deutsche Übersetzung aus dem Russischen in: Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 6, 1989, S.619 Zurück

24) Lutz Unterseher: Bauprinzipien alternativer Landstreitkräfte. In: Vertrauensbildende Verteidigung (Anm.12), S.149 ff.; ders.: Umrisse einer stabilen Luftverteidigung. dito., S.188 ff.; ders.: Ein anderes Heer. dito., S.240 ff. Hartmut Bebermayer und Lutz Unterseher: Wider die Großmannssucht zur See: Das Profil einer alternativen Marine. dito., S.165 ff. Zurück

25) Bundeswehr im Übergang. / Sozialdemokratische Partei Deutschlands. – Mimeo für die Pressekonferenz vom 23.3.90 Zurück

26) ebda. S.12 Zurück

27) ebda. S.30 Zurück

28) ebda. S.32 Zurück

29) ebda. S.4 Zurück

30) Ulrich Weisser: Abrüstung – Konsequenzen für die Rüstungswirtschaft. In: Trend, Dezmber 1989, S.30 Zurück

31) ebda. S.31-32 Zurück

32) Vgl. Rupert Scholz: Alternative Verteidigung? In: Europäische Wehrkunde, Heft 11, 1989, S.644 Zurück

33) Stoltenberg warnt vor „schwerwiegendem strategischem Irrtum“. FAZ, 19.3.1990 Zurück

34) Vgl. Anm. 19 Zurück

35) Vgl. Weißbuch 1985. / Der Bundesminister der Verteidigung. – Bonn 1985, S.112 Zurück

36) Karl Feldmeyer: Die NATO muß ihre Strategie ändern. FAZ 17.2.90 Zurück

37) Vgl. Claus Gennrich: Kohls Balancegang in Camp David. FAZ 26.2.90 Zurück

38) Vgl. FAZ vom 15.2.90 und 19.3.1990 Zurück

39) FAZ 19.3.90 Zurück

Burkhardt J. Huck, Sozialwissenschaftler, Mitarbeiter in Projekten der Stiftung Wissenschaft & Politik, Ebenhausen und des Instituts für Medienforschung und Urbanistik, München.

Konversion: Fallbeispiel Kassel

Konversion: Fallbeispiel Kassel

von Jutta Weber-Bensch / Peter Strutynski

Der INF-Vertrag zwischen den USA und der UdSSR, der die Verschrottung der Mittelstreckenraketen beinhaltete, einseitige Truppen- und Rüstungsreduzierung der Staaten des Warschauer Vertrages sowie die dramatischen politischen Veränderungen in diesen Ländern haben die Abrüstung zu einem neuen Thema der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft auch der Bundesrepublik gemacht. Angesichts des stark bröckelnden »Feindbildes« in der Bundesrepublik und des sichtbar schrumpfenden realen Militärpotentials der Warschauer Vertragsstaaten stellen sich vermehrt Fragen nach dem Sinn weiter steigender Ausgaben im Rahmen des Verteidigungshaushaltes. Es scheint, als käme nicht nur das Projekt »Jäger 90« ins Schleudern. „Im Verteidigungsministerium“, so weiß jedenfalls die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu berichten, „und in großen wehrtechnischen Unternehmen werden bereits Szenarien für die »Zeit danach« entworfen.“ (FAZ, 26.01.1990).

Sollte sich, was aus verschiedenen Gründen wünschenswert wäre, auch in der BRD der politische Wille zur Abrüstung durchsetzen und sollten bei den Wiener Verhandlungen konkrete Schritte zur Reduzierung konventioneller Waffen vereinbart werden, so könnte dies von weitreichender Bedeutung für die führenden Rüstungsunternehmen und deren Beschäftigte sowie für bestimmte Regionen sein. Nord- und Osthessen sind seit dem Kalten Krieg und verstärkt seit dem Aufbau bundesdeutscher Streitkräfte bevorzugte Standorte für militärische Einrichtungen der Alliierten und der Bundeswehr. Mit mindestens 25 Kasernen, vier Flugplätzen, ebensovielen US-amerikanischen Border Observation Points, einer Reihe von Standortübungsplätzen und »Training Areas«, einigen Radarstationen, einer Vielzahl von Munitionsdepots, darunter auch einem mit nuklearer Munition, zwei Flugabwehrraketenstellungen und einigen Standortschießanlagen weist der Regierungsbezirk Kassel eine sehr hohe Militärdichte auf.

Dies bedeutet nicht nur einen immensen Flächen- und Landschaftsverbrauch und sich aus militärischen Aktivitäten (z.B. Manöver, Flugbewegungen) ergebende Belastungen und Schäden für Mensch und Umwelt. Es bedeutet auch Arbeitsmöglichkeiten für Tausende von Zivilbeschäftigten in Militäreinrichtungen und von Beschäftigten in verschiedenen Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmen der Region, die Aufträge der Streitkräfte ausführen (von Bauunternehmen bis zu Kantinenwirten). Sollten internationale Abrüstungsprozesse auch vor der Bundesrepublik nicht haltmachen, so ist insbesondere mit Blick auf die strukturschwachen Regionen daran zu denken, rechtzeitig Pläne zu entwickeln, wie eine Demilitarisierung ohne Arbeitsplatzverlust und soziale Härte für die Betroffenen zu erfolgen hat. Die Auflage neuer »Strukturprogramme« für Garnisons-Standorte, wie sie vom nordhessischen Bundestagsabgeordneten Rudi Walther vor kurzem gefordert wurde (HNA, 14.2.1990), könnte ein richtiger Schritt hierzu sein. Ein solches Strukturprogramm etwa zur Demilitarisierung Nordhessens müßte konkrete Umstellungs-, Umwidmungs-, Umschulungs- und Finanzierungspläne enthalten und sie auf die jeweilige örtliche Situation beziehen. Sinnvoll erschiene uns in diesem Zusammenhang die baldige Einrichtung einer regionalen Abrüstungskommission durch den Regierungspräsidenten, die Vorschläge zur Reduzierung der militärischen Einrichtungen und Aktivitäten erarbeiten soll. Dabei müssen Fragen der sozialen Sicherung, des regionalwirtschaftlichen Ausgleichs, der zivilen Nutzung ehemaliger militärischer Einrichtungen und die Aufgaben des Natur- und Umweltschutzes besonders berücksichtigt werden. Identische Vorschläge haben vor kurzem die DGB-Landesbezirke Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen der Öffentlichkeit unterbreitet (DGB: Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Regionen Nordhessen, Südniedersachsen, Ostwestfalen, März 1990).

Kassel als Rüstungsstandort

In der Stadt und im Landkreis Kassel sind zur Zeit etwa 4.000 bis 5.000 Arbeitnehmer unmittelbar mit der Produktion von Rüstungsgütern beschäftigt; das sind rund 10 Prozent der Metallbeschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe. Innerhalb Hessens ist Kassel der mit Abstand wichtigste Rüstungsstandort: Schätzungsweise die Hälfte aller hessischen Rüstungsarbeitsplätze ist hier konzentriert. Die wichtigsten Firmen, in denen Aufträge aus dem Bundesverteidigungsministerium abgewickelt werden, sind Wegmann & Co. GmbH, Thyssen Henschel, Henschel Flugzeugwerke und die AEG Isolier-Kunststoff GmbH (AIK). Damit eine mögliche Abrüstung von den potentiell Betroffenen, den Beschäftigten der Rüstungsindustrie, nicht als Bedrohung, sondern als Chance empfunden wird, kommt es darauf an, rechtzeitig arbeitsplatzerhaltende Umstellungspläne zu entwickeln und Diversifikationsmaßnahmen in den Betrieben einzuleiten. Dies ist gerade in Kassel von besonderer Wichtigkeit, da erstens aufgrund der Strukturschwäche der Region alternative Arbeitsmöglichkeiten kaum vorhanden sind, und zweitens die ansässige Rüstungsproduktion in sich schon ganz einseitig strukturiert ist und zu 90 Prozent von der Nachfrage nach gepanzerten Fahrzeugen abhängig ist. Seit Jahren wird von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen (zuletzt IG Metall und Kasseler Friedensforum 1987, DGB Kreis Kassel 1988) auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Abhängigkeit der großen Kasseler Rüstungsfirmen von Aufträgen aus dem Verteidigungsministerium zu lockern, den Rüstungsanteil an der Gesamtproduktion zu senken und stattdessen den zivilen Sektor auszubauen. Den Ernst der Lage hat mittlerweile die Fraktion der örtlichen SPD erkannt und im Januar 1990 einen entsprechenden Antrag in der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Kassel eingebracht (HNA; 22.01 1990 und 17.02. 1990).

Umstellungskonzepte

Erste inhaltliche Anregungen zu möglichen Umstellungsbereichen und alternativen Produkten hat die FPN Arbeitsforschung + Raumentwicklung anläßlich einer Tagung am 1. Dezember 1989 der Öffentlichkeit vorgestellt (HNA, 2.12.1989). Die dort gemachten Vorschläge knüpfen an bisherige Konzepte sowie an noch vorhandene oder erst vor kurzem eingestellte Produktlinien der beiden Unternehmen Wegmann & Co. GmbH und Thyssen Henschel an. Deren Voraussetzungen zur Konversion und Diversifikation der Produktion sind sehr unterschiedlich, insgesamt aber nicht ungünstig. Thyssen Henschel hat zwar den Nachteil, als 100-prozentige Tochtergesellschaft und als einer von acht Geschäftsbereichen der Thyssen Industrie AG Essen nicht selbständig über Entwicklungsperspektiven und Investitionen am Standort Kassel entscheiden zu können. Auf der anderen Seite verfügt das Unternehmen aber über eine ausgesprochen breite und vielgestaltige Produktpalette im zivilen Sektor (»Gemischtwarenladen«), die bei einer Konversion des wehrtechnischen Bereichs ohne große Mühe auszuweiten wäre. Anders stellt sich die Lage bei Wegmann dar, einem Unternehmen, das mit viel Erfolg in den vergangenen Jahren seinen Rüstungsanteil ständig erhöht und zivile Produktionen entsprechend heruntergefahren oder als selbständige Unternehmensbereiche ausgegliedert hat. Nach der Verselbständigung des Unternehmensbereichs Industrietechnik (1987) und der Einstellung des Drehgestellbaus (1989) ist die Firma Wegmann & Co. GmbH mit rund 2000 Beschäftigten heute ausschließlich in der Rüstungsproduktion engagiert. Diesem Handikap steht der nicht zu unterschätzende Vorteil gegenüber, daß es sich bei Wegmann um ein in Kassel ansässiges selbständiges Unternehmen handelt, dessen Forschungs-, Entwicklungs- und Investitionsentscheidungen auch in Kassel getroffen werden. Sowohl Thyssen Henschel als auch Wegmann verfügen über eigene FuE-Abteilungen sowie über einen außergewöhnlich hohen Facharbeiteranteil (vgl. hierzu J.Weber-Bensch, P. Strutynski, Skizzen der fünf größten Metallbetriebe im Kasseler Raum, Kassel {FPN} 1989).

Die konkreten Produktvorschläge für beide Betriebe, die in der Vergangenheit im zivilen Sektor häufig ähnliche oder sich ergänzende Produktionen aufwiesen, beziehen sich im wesentlichen auf die Bereiche Antriebstechnologien für Fahzeuge, öffentlicher schienengebundener Personenschnellverkehr und öffentlicher, zum Teil ebenfalls schienengebundener Personalverkehr (vgl. nachfolgende Übersicht).

Konversion als kontinuierlicher Prozeß

Vorzustellen haben wir uns die angesprochenen, aber noch nach vielen Seiten zu ergänzenden Konversions- und Diversifikationsprozesse als einen planmäßigen und kontinuierlichen Prozeß, in dem problematische oder unerwünschte Produktionen heruntergefahren, parallel dazu neue Produktionslinien aufgebaut und zwischenzeitlich nicht ersetzbare Arbeitskräfte in betrieblichen Maßnahmen umgeschult oder weiterqualifiziert werden. Dies könnte in einer mittelfristigen Perspektive bedeuten, daß die Rüstungsproduktion bei Thyssen schließlich ganz aufgegeben wird, während Wegmann möglicherweise noch einen kleinen Rest gepanzerter Fahrzeuge bzw. Komponenten für Panzer und andere militärische Geräte herstellt. Da es sich bei einem großen Teil der in Frage kommenden verkehrstechnischen Produkte um Güter handelt, die von der öffentlichen Hand (Bund und Gemeinden) nachzufragen wären, beantwortet sich die Frage nach der Finanzierbarkeit mit dem Hinweis auf entsprechende Haushaltsumschichtungen zu Lasten des Rüstungsetats. Ergänzend hierzu wären spezifische Förderungsprogramme von EG, Bund und Land vor allem zur Unterstützung technisch-materieller Umstellungsprozesse und qualifikatorischer Maßnahmen zu mobilisieren.

Die Probleme, denen sich die regionale Metallwirtschaft gegenüber sieht, sind natürlich nicht auf den Bereich der Rüstungsindustrie beschränkt und somit auch nicht allein mit deren Konversion zu lösen. Nach dem gleichen Muster wären auch gefährdete Bereiche ziviler Produktion umzustellen. Sowohl im Falle des Kasseler Volkswagenwerkes mit seinem Schwerpunkt Getriebebau als auch im Falle des Kasseler Mercedeswerks, in dem fast ausschließlich LKW-Achsen hergestellt werden, kommt es dabei aber weniger auf Konversionsprozesse an, das heißt, daß eine vorhandene Produktion durch eine andere ersetzt werden müßte, sondern im Vordergrund stehen Diversifikationsbemühungen, um auf diesem Weg die nahezu totale Abhängigkeit von nur einem Produkt, dem Automobil, abzubauen. Dies ist schon allein aus umwelt- und energiepolitischen Gründen erforderlich und wird spätestens dann zu einem arbeitsmarktpolitischen Zwang, wenn die ersten Produktionseinbrüche aufgrund zu erwartender Marktsättigung und wenn spürbare Beschäftigungsreduzierungen aufgrund weltweit bestehender Überkapazitäten der Branche auftreten werden. Aller Erfahrung nach wird es dann aber für einen geordneten Produktionsumbau zu spät sein.

So wären bei Mercedes Benz Überlegungen anzustellen, aus der mittelfristig rückläufigen Achsproduktion freigesetzte Arbeitskräfte nach entsprechenden betrieblichen Qualifizierungsmaßnahmen in aufzubauende neue Produktlinien umzusetzen. Diese könnten im Bereich der Achs- und Drehgestelltechnik für Schienen- und Straßenfahrzeuge, im Bereich des Spezialfahrzeugbaus etwa zur Altlastenbeseitigung bzw. -entsorgung oder im Bereich land- und forstwirtschaftlicher Fahrzeuge, Maschinen und Geräte liegen.

Auch bei VW wird man sich – trotz des Schubs, den man sich mit dem Eindringen in den Automobilbau der DDR erhofft – an den Gedanken gewöhnen müssen, daß der ungebremste Anstieg der PKW-Produktion im allgemeinen und der steigende europäische Marktanteil von VW im besonderen an Grenzen stoßen könnte. So ist gegen unliebsame Beschäftigungseinbrüche rechtzeitig Vorsorge zu treffen durch den Aufbau neuer Produktionslinien. Zu denken wäre etwa an:

  • nicht schienengebundene oder kombinierte Straßen-Schienenfahrzeuge für den ÖPNV,
  • Katalysatoren-Recycling, ein Markt, der erst am Anfang seiner Entwicklung steht,
  • Aufzug- und Transportsysteme für Wohnhäuser und Wohnanlagen, die im Rahmen umfassender Altbausanierung zu modernisieren wären,
  • kranken- und Behindertenfahrzeuge sowie Rollstühle,
  • vielleicht auch intelligente land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge oder Geräte,
  • Aufbereitung kompletter ausrangierter PKW und
  • Wiederverwertung von Kunststoffabfällen, nicht nur aus Autoschrott.

Übersicht:

Ausgewählte Produktionsvorschläge für Thyssen Henschel und Wegmann

Antriebstechnologien für Fahrzeuge

  • elektrische Drehstromantriebe für Schienenfahrzeuge
  • Linearmotoren
  • Batterie-Elektroantriebe für Busse
  • Dieselelektrische Lokomotiven
  • Hybridantriebe für Straßenfahrzeuge (Diesel- und Batteriebetrieb)
  • Personenschnellverkehr

    • Erhöhung der Produktion von IC/E-Triebköpfen (Thyssen Henschel)
    • Produktion von Reisezugwagen für den IC/E (Wegmann)
    • Nach dem »Pendolino-Prinzip« konstruierte Züge
  • Personennahverkehr

    • Vorziehen der Beschaffung von Drehstromlokomotiven der Baureihe 120
    • Ersatz des Uraltschienenbusses durch moderne Dieseltriebwagen (Thyssen und/oder Wegmann)
    • Bus-Bahn (Leichtbauweise) (Wegmann)
    • Straßen- und S-Bahnen
    • Dual-Mode-Bus-System (mit Hybridmotor und Akku-Speicher)

    Aus: FPN Arbeitsforschung + Raumentwicklung, Umstellung der Industrieproduktion auf neue Erzeugnisse. Beispiele für Kasseler Betriebe. Kassel (MIK 04) 1990, S.39.

Dr. Jutta Weber-Bensch und Dr. Peter Strutynski sind tätig im Bereich Arbeitsforschung und Raumentwicklung an der Gesamthochschule Kassel.

Demokratisierung, Abrüstung und europäische Sicherheit

Demokratisierung, Abrüstung und europäische Sicherheit

von Manfred Müller

Das bipolare Gesellschafts- und Bündnissystem, das über 40 Jahre das Ost-West-Verhältnis bestimmte und die Weltentwicklung beeinflußte, bricht zusammen. Es brachte uns einen, wenn auch ständig bedrohten und mit wachsenden Opfern erkauften, Frieden. Wie wird Frieden in Zukunft zu sichern sein?

Die mit wachsendem Tempo verlaufenden Prozesse der gesellschaftlichen Wandlungen schaffen neue Bedingungen und Notwendigkeiten europäischer und transatlantischer Prioritätensetzung. Die laufenden Abrüstungsverhandlungen bleiben in Inhalt und Tempo hinter den sich daraus ergebenden Erfordernissen zurück.

An Stelle der zerfallenden bipolaren Strukturen müssen neue, gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen treten, vor allem auch, um einen Rahmen für ein sich vereinigendes Deutschland zu schaffen, das Europas Einigung nützt und nicht schadet. Wie könnte diese Friedensordnung gestaltet werden?

Es wäre vermessen, auf diese Fragen umfassende Antworten geben zu wollen. Mehr als Anstöße zum Weiterdenken sind heute noch nicht möglich.

Die längste Friedensperiode, die die europäische Geschichte kennt, war in den vergangenen Jahrzehnten mit der Spaltung des Kontinents und Deutschlands erkauft. Die Dialektik besteht darin, daß diese Situation nur durch Gegensatz und Feindschaft aufrechterhalten werden konnte. Interne Konfliktpotentiale wurden überdeckt oder gar unterdrückt, wofür der Systemgegensatz und die Notwendigkeiten seiner Ausbalancierung oder des möglichen Sieges in ihm die Rechtfertigung lieferten.

Aber gemeinsame Menschheitsaufgaben, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, durch die Weltkommunikation übermittelt, erwiesen sich als stärker denn abschließende und konträre Ideologien.

Beide Supermächte, die in ihren Einflußbereichen an ideologischer und ökonomischer Dominanz (wenn auch im unterschiedlichen Tempo und auf unterschiedlicher Weise) einbüßen, versuchten ihre Führungsrolle durch verstärkte Hochrüstung zu kompensieren. Diese erreichte menschheitsbedrohliche Dimensionen und in der ersten Hälfte der 80er Jahre trat der Widerspruch zwischen Bedrohung und Überlebensnotwendigkeiten ins Bewußtsein vieler.

Bewahrung der Umwelt, Abwendung von Massenkrankheiten, die aus der Zivilisationsentwicklung entspringen und auch die Überwindung der Unterentwicklung, die mit Ökologie und Demographie eng verbunden sind – dies alles ist mit der bisherigen, auf Feindschaft und Hochrüstung gegründeten »Sicherheitspolitik« nicht zu bewältigen. Mit dem Begreifen der gemeinsamen Herausforderung schwand das Gefühl der Feindschaft und damit die Basis der Bipolarität. Welchen gesellschaftlichen Vorstellungen man auch folgen mag, im Gegeneinander von Systemen und Bündnissen läßt sich die Zukunft des Planeten nicht gewinnen. Aber die Austragung unterschiedlicher Zukunftsvorstellungen innerhalb von Gesellschaften bedarf der Demokratie.

Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa folgten sicher nicht einer höheren Einsicht in diese Logik. Aber diese waren wohl die Quintessenz der eher spontanen und eruptiven Handlungen. Im Gefolge dessen zerbrach der ideologiebegründete und machtdominierte östliche Block. Die Auflösung seiner Reste ist nur eine Frage der Zeit und der inneren von außen gesetzten Bedingungen.

Die Zeit der Blockbildung vorbei

Erst allmählich wächst im Westen das Verständnis dafür, daß auch hier, wenngleich langsamer, anders geartet und mit größerem Widerstand, die Zeit der Blockbildung zu Ende geht. Die Dinge sind so qualvoll, weil mit ihnen ein welthistorischer Prozeß verbunden ist, der unter anderem beinhaltet: die Zeit der beiden Supermächte läuft ab. Dagegen wehren sie sich und sie haben beide genügend Mittel dafür.

Auch der Einfluß der USA ist mit den europäischen Entwicklungen konfrontiert. Auf ökonomischen Gebiet haben sich mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) und auf politischem Gebiet mit den Europäischen Institutionen (EPZ=Europäische Politische Zusammenarbeit) eigene Strukturen gebildet, die die Verbindung mit Nordamerika halten wollen, aber zugleich mehr und mehr eigene Identität entfalten und nunmehr auch Anziehungskraft auf Osteuropa ausüben.

Die übermäßige, gegeneinander gerichtete Militärmacht der beiden Führungsmächte und Bündnisse verliert demgegenüber rasch an Bedeutung. Die ständig wachsenden und modernisierten Kernwaffenarsenale sind nicht mehr einsetzbar, da selbstzerstörerisch. Sie gelten als Abschreckungspotential. Aber auch Abschreckung muß als politisches Mittel glaubhaft sein. Ist Selbstvernichtung glaubhaft? Die »kleinen« Militäraktionen der beiden Großen und die mehr als 150 Kriege im Süden lassen den Zweifel auch daran wachsen. Seit den 60er und besonders den 70er Jahren dieses Jahrhunderts sind beide Seiten gezwungen, Vereinbarungen über die Begrenzung und das Im-Zaum halten dieses gewaltigen Vernichtungsapparates zu treffen. Indem dabei, in Gestalt der Helsinki-Schlußakte von 1975, die europäische Situation anerkannt wurde, schwand (deutlich im Osten) der Druck auf die Kleinen, sich im Interesse ihrer Existenz an die Großen anklammern zu müssen. Der Bewegungsspielraum der Großen wurde eingeengt, der der Kleinen erweitert. Die Notwendigkeit der Zügelung der Konfrontation schuf Bedingungen für ihre Überwindung. Heute sind die politischen Demokratisierungsprozesse in Osteuropa, mit welchen Schwierigkeiten und Konflikten auch immer verbunden, im Grundsatz nicht mehr rückgängig zu machen. Was die DDR betrifft, so konnten sie durch die anwesenden fast 700 000 Mann (eigenen und fremden) Truppen nicht verhindert werden, ja, es wurde wegen der Aussichtslosigkeit ihr Eingreifen gar nicht erst versucht.

Von dieser Seite besteht für Westeuropa keine militärische Bedrohung, denn selbst wenn äußerstes Abenteurertum oder Verzweiflung angenommen wird, so wäre aus einer östlichen Militäraktion gegen den Westen keinerlei Nutzen oder Erfolg absehbar. Andererseits wäre es für die NATO (oder eines ihrer Mitgliedsländer) sinnlos, auf die militärische Karte zu setzen, wenn doch politische und ökonomische Wandlungen auf nichtmilitärischem Wege erreichbar sind.

Wir stoßen hier auf ein jeden Tag deutlicher werdendes Paradoxon. Nach wie vor stehen fast 6 Millionen Soldaten in Europa. Hier existieren mehr als 70 000 Panzer und ebensoviele Geschütze. Auf europäischem Boden lagern nach wie vor zehntausende von Kernwaffen und Träger dafür. Aber es gibt weder Möglichkeiten noch Grund oder gar sichtbare Gefahren, all dies einzusetzen oder auch nur damit drohen zu müssen. Die Mehrzahl der mehr als 10 000 strategischen Waffen jeder Seite, die gegeneinander und damit auch auf Europa gerichtet sind, sollen durch START (Strategic Arms Reduction Treaty) um 50 % reduziert werden; jedoch bei gleichzeitiger Aufstellung neuartiger entsprechender Waffen (weitreichende Flügelraketen).

Verhandlungsansatz von Wien überholt

Wenn Ende 1990 Wien 1 über die Reduzierung der konventionellen Waffen in Europa zustande kommt, dann sind die zu vereinbarenden Reduzierungen bedeutsam – mit Blick auf die Vergangenheit, aber völlig unzureichend für die Zukunft. Der Verhandlungsansatz von Wien 1 ist die Herstellung von Gleichgewicht zwischen Warschauer Vertrag und NATO (North Atlantic Treaty Organization). Aber wenn vereinbart, wird es diese Bündnisse – zumindest den militärischen Bestand des Warschauer Vertrages (WVO) – nicht mehr geben. Wien 1 wird bestimmte Begrenzungen für Mannschaftsstärken nur für die UdSSR und USA auf fremden Territorien in Europa enthalten. Aber die UdSSR wird Schwierigkeiten haben, für ihr Kontingent Stationierungsländer zu finden und wenn sie alles abzieht, wodurch wäre dann die Anwesenheit der USA noch legitimiert?

All diese Fragen sollen die Notwendigkeit eines ersten Abkommens in Wien nicht in Frage stellen. Aber sie verweisen wohl doch auf seine Begrenztheit und konzeptionelle Überholtheit.

Wie kann dem abgeholfen werden? In den osteuropäischen Staaten und in der DDR hat der Wandlungsprozeß auch zu einer öffentlichen Diskussion über die Armeen geführt. Dominant ist die Tendenz, die Armeen, unabhängig von internationalen Vereinbarungen, zu reduzieren und strukturell defensiv umzugestalten. Diese Prozesse haben da und dort begonnen. Die NVA (Nationale Volksarmee) der DDR hat in den vergangenen Monaten wahrscheinlich die Hälfte ihres Bestandes und nahezu alles an Kampfkraft verloren. Es findet also zusätzlich und neben den Verhandlungen ein praktisch einseitiger Reduzierungsprozeß im Osten statt. Sollte der Westen, insbesondere die Bundeswehr darauf, nicht viel schneller und deutlicher positiv antworten?

Neues Sicherheitsverständnis

Vor allem geht es darum, nicht nur neue strukturelle, sondern auch inhaltliche Ausgangspunkte für Wien 2 zu suchen. Das können nicht mehr Block-zu-Block-Verhandlungen sein, aber auch nicht Verhandlungen eines Blocks mit dem »Rest« Europas. Die Rolle und Teilnahme der Nichtpaktgebundenen und Neutralen muß neu bestimmt werden. Der benötigte konzeptionelle Ausgangspunkt aber wäre die Verständigung über ein grundsätzlich neues, den neuen Bedingungen und Erfordernissen entsprechendes Verständnis von Sicherheit, in dem der militärische Faktor einen völlig veränderten Stellenwert einnimmt. Dann könnte Wien 2 wirkliche, weitgehende Abrüstung für Europa aushandeln.

Die Bewältigung dieser Aufgabe kann nicht der Zukunft überlassen werden. Die Entscheidungen werden, zumindest durch Verhaltensweisen, heute getroffen.

Dabei kommt nunmehr den Deutschen eine besonders große Verantwortung zu. Die Formel vom europäischen Deutschland bedarf jetzt eines konkreten Konzeptes und Angebots.

Die europäische Integration Deutschlands

Bisher waren beide deutsche Staaten fest in ihre militärischen Bündnisse und in ihre ökonomischen Integrationssysteme eingebunden. Das wurde von den jeweiligen Partnern nicht nur als wichtiges Element des Ost-West-Gegensatzes betrachtet, sondern zugleich wohl auch als eine Sicherheitsgarantie gegen Deutschland. Mit der deutschen Vereinigung ändern sich diese Bedingungen. Erst allmählich beginnen die verantwortlichen Kräfte beider deutscher Staaten und leider noch zögerlicher die Öffentlichkeit sich der daraus entstehenden Verantwortung zu stellen. Die scheinbar drängenden ökonomischen und monetären Probleme der deutschen Vereinigung lassen viele Leute vergessen, daß die Zukunft der Deutschen in erster Linie davon abhängen wird, wie sie sich in Europa eingliedern. Da die deutsche Vereinigung schneller vorangeht als die europäische, ist es um so notwendiger, klar die Ziele zu bestimmen.

Die entscheidende Lehre aus den vergangenen Jahrzehnten unserer Geschichte verweist auf die Notwendigkeit deutscher Einbindung. Jede Entwicklung, die gewollt oder ungewollt zur Herauslösung des vereinigten Deutschlands aus festen integrativen Bindungen führt, bringt uns ins Abseits.

Da im Vereinigungsprozeß die Bundesrepublik dominierend ist, bietet sich an, ganz Deutschland in deren bestehende Bindungen einzubeziehen. Das betrifft vor allem NATO und EG. Und ob es uns gefällt oder nicht, es wird wohl so kommen.

Aber dies wirft viele neue europäische Fragen auf. Was wird dann mit den Interessen unserer östlichen Nachbarn und vor allem denen der UdSSR? Die jetzt sichtbaren Angebote sind Hilfskonstruktionen. Kein Vorrücken der NATO-Truppen auf das Gebiet der DDR, symbolische Truppen der UdSSR weiterhin dort. Vielleicht kann man diese oder ähnliche Regelungen schließlich aushandeln. Aber Dauerlösungen können das nicht sein!

Jede einseitige Westbindung Deutschlands, mit welchen Trostpflästerchen für den Osten auch immer, spaltet Europa aufs Neue. Dauerlösungen können nur gesamteuropäischen Charakters sein. Erst wenn von der Perspektive einer gesamteuropäischen Friedensordnung ausgegangen wird, kann ein neues Sicherheitsverständnis entstehen, das weniger auf Waffen, denn auf Integration, auf gemeinsamer Konfliktbewältigung und auf gemeinsamen Zukunftsprojekten beruht. Deshalb soll es über gemeinsame politische und juristische Institutionen ebenso verfügen, wie über solche der Sicherheitsfindung. Der KSZE-Prozeß (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) bietet sich als Rahmen für eine derartige Entwicklung an, zumal er sowohl Nordamerika als natürlich auch die UdSSR einschließt. Auf dieser Grundlage wäre eine Neudefinition auch für stark zu reduzierende militärische Kräfte in Europa, ihre Dislozierung und eine gemeinsame Kommandostruktur möglich.

Gesamteuropäisches Sicherheitssystem

Europa wird weiter mit Konflikten leben müssen. Sowohl innerhalb des Kontinents als auch außerhalb wird es Probleme geben, die bedrohlichen Charakter annehmen können. Westeuropa kann sich auf den Standpunkt stellen, daß man sich, gestützt auf die eigenen Sicherheitsstrukturen, aus solchen Entwicklungen am besten heraushält. Solche Orientierungen auf ein unveränderliches Festhalten an NATO und EG sind sichtbar. Sie sind auch verständlich. Aber wenn sie nicht mit der Bereitschaft zu einer gesamteuropäischen Öffnung und Verantwortung gekoppelt werden, könnte dabei leicht die Zukunft verloren gehen. Es wird für die Europäer auf die Dauer keine andere Möglichkeit geben, als sich den europäischen Problemen und Schwierigkeiten als Elemente einer Art europäischer »Innenpolitik« zu stellen.

Dem wird sehr oft entgegen gehalten, daß ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem mit 35 Mitgliedern nicht funktionieren könne. Die Integrationsprozesse in Westeuropa hätten gezeigt, je mehr Teilnehmer, desto weniger Integration. Ich halte dies für keine wirklich überzeugenden Argumente. Sie haben eine grundlegende Schwäche: sie zeugen vom Unverständnis der neuen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Daß es beim Bau gesamteuropäischer Strukturen Schwierigkeiten, Probleme und auch Rückschläge geben wird, ist unvermeidlich. Deshalb wäre es durchaus denkbar, die neuen Strukturen zunächst vielleicht neben den alten, bewährten einzubringen, Zwischenlösungen und Übergangsregelungen zu suchen. Um es auf den Punkt zu bringen: die Nato könnte durchaus für eine gewisse Zeit neben oder als Teil eines KSZE-Konfliktverhinderungssystems existieren, wenn sicher auch mit inneren und vor allem militärischen Wandlungen.

Worauf es meiner Meinung nach heute vor allem ankommt, ist sich auf das Neue, Gesamteuropäische zu konzentrieren, mit seinem Bau so schnell wie möglich zu beginnen, die Chancen der Situation zu nutzen. Die gesamteuropäische Vision muß zum Ausgangspunkt der Erörterungen darüber gemacht werden, was von dem Bestehenden zu bewahren ist und welche Zwischenschritte nötig sind – und nicht umgekehrt. Vorstellungen wie die des französichen Präsidenten über eine europäische Konförderation oder auch Gorbatschows Europäisches Haus weisen in diese Richtung. Dabei kann dies, bei allen Notwendigkeiten der Übertragung von Souveränitätsrechten auf europäische Institutionen, für lange Zeit ein „Europa der Vaterländer“ sein.

Die Erosion des bipolaren Systems ist mit dem Erwachen nationaler Gefühle verbunden. Auf die Zwänge zur Internationalisierung und die daraus entspringenden sozialen, ökonomischen, kulturellen und elementaren Lebensprobleme reagieren große Menschengruppen in allen Ländern mit verstärktem Nationalismus. Fremdenfeindlichkeit und die Sehnsucht nach oder das Flüchten in einfache und scheinbar eine heile Welt versprechende Ideologien bringen sogar ein extremistisches und gewalttätiges Potential hervor. Dies verweist darauf, daß die europäische Vision politikfähig gemacht werden muß.

Das erfordert, den vielfältigen politischen, sozialen, kulturellen und nationalen Aspekten dieses Prozessen ins Auge zu sehen, sie in die anzustrebenden Lösungen einzufügen, was deren Zustandekommen nicht gerade erleichtert. Welche Rolle sollen und können wir Deutschen dabei spielen?

Die künftige Rolle Deutschlands

Als zukünftig größtes, ökonomisch stärkstes und zentral gelegenes europäisches Land und angesichts unserer Geschichte bedarf es unserer Selbstbeschränkung. Natürlich der auf unser Territorium, das der beiden deutschen Staaten und Berlins. Der Hauptinhalt und das Wesen unserer Selbstbeschränkung aber muß mit dem Begriff der Einbindung gefaßt werden. Dabei verlangt unsere historische Verantwortung gerade von uns die Bereitschaft zur Einbindung nach West und Ost. Dies aber ist letztlich nur in einem gesamteuropäischen System möglich.

Lösungen, die im Zuge der Vereinigung Deutschlands und zu deren Akzeptanz vereinbart werden, darunter über den militärischen Status des Gebietes DDR, die Anwesenheit fremder Truppen auf diesem, aber auch auf BRD-Territorium, die 4-Mächte-Rechte, können nur zeitweiligen Charakter haben. Am Ende wird ein einheitliches Deutschland als ein in jeder Hinsicht gleichberechtigter souveräner Staat stehen müssen. Dies aber wird für Deutschlands Nachbarn nur akzeptabel sein, wenn sie daraus keinerlei Befürchtungen ableiten.

Die Lösung dieses Problems liegt nicht in der Übernahme von militärischen und anderen Begrenzungen allein, oder gar in einem völkerrechtlich verbrieften Sonderstatus (Neutralität), sondern in der Integration und Verflechtung dieses Deutschlands mit einem gesamteuropäischen, das heißt West und Ost einbeziehenden System. Die Aufgabe deutscher Politik muß es deshalb sein, sich zum Fürsprecher solcher Entwicklungen zu machen. Die DDR muß dafür vor allem bei ihren östlichen Nachbarn werben, die BRD bei ihren Partnern in der NATO. Das Kunststück wird dabei unter anderem darin bestehen, Lösungen anzubieten, die bestehende und funktionierende Einbindungen der deutschen Staaten nicht etwa in Frage stellen oder gar schwächen, sondern im Gegenteil, solche Integration antreiben.

Andererseits aber müssen Wege gefunden werden, wie dies mit neu zu schaffenden gesamteuropäischen Strukturen zu verbinden ist. Dabei werden außerordentlich komplizierte juristische und im weitesten Sinne sicherheitspolitischen Probleme entstehen. Ein Weg könnte dabei sein, über die immer noch geteilten Strukturen hinweg konkrete gesamteuropäische Programme auf den verschiedensten Gebieten (Sicherheit/Überwachung, Umwelt, Verkehr, Rechtsordnung usw.) anzubieten. Es öffnet sich damit nicht nur der wahrscheinlich beste Weg Deutschland eine neue, auf Frieden und Vertrauen gegründete Rolle in Europa zu schaffen, sondern zugleich ein weites Feld deutscher Bestätigung zu eigenem und der andern Nutzen.

Schließlich ist die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung wahrscheinlich auch das beste Gleis zur endgültigen Regelung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden, Deutschland betreffenden, Fragen. Im Rahmen von Verträgen, die diese europäische Friedensordnung begründen und die notwendigen Übergangsregelungen beenden, die sich mit der deutschen Vereinigung notwendig machen, läßt sich auch ein Schlußstrich unter die Regelungen ziehen. Aber die 4-Mächte-Rechte in Deutschland sind für die USA und die UdSSR, aber auch für Großbritannien und Frankreich mit sensiblen Problemen verbunden, darunter auch ihrer Rolle als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates. Eine Ablösung dieser Rechte kann nur in einem schrittweise und gefühlvoll gestalteten Prozeß vor sich gehen. Wahrscheinlich ginge dies im Rahmen gesamteuropäischer Lösungen leichter, als durch einen förmlichen Friedensvertrag.

Hier sind mehr Fragen gestellt als beantwortet. Dies ist sicher normal, vor allem in einer Zeit, die von so weitreichenden Veränderungen mit einer so großen Dynamik geprägt ist. Wir befinden uns inmitten von Prozessen, die wahrscheinlich in diesen 90er Jahren zu weitreichenden Veränderungen der internationalen Beziehungen führen werden. Es ist immer schwierig, das richtige zu erkennen, was sich direkt vor unseren Augen abspielt, und es tiefgründig zu analysieren. Aber neue Antworten sind gefordert. Man kann darüber streiten, inwieweit Wissenschaft Politik bedienen kann. Auf jeden Fall sollten sie nicht miteinander verwechselt werden. Aber als Politikwissenschaftler sollte man schon bereit sein, nicht nur Vergangenes zu beurteilen, sondern auch den Vorschlag für die Gestaltung der Zukunft zu wagen. Die gegenwärtigen Umstände verlangen, dieser Verantwortung nachzukommen und wir müssen eingestehen, daß wir vielleicht noch zu wenig anzubieten haben. Die Entscheidung kann und will den Politikern, die dafür gewählt wurden, niemand abnehmen.

Der Beitrag Manfred Müllers erscheint auch in der Schriftenreihe des AK Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, Band 16, Göbel, Heinz Werner (Hg.), Umbrüche – europäische oder deutsche Wege?

Prof. Dr. Manfred Müller ist tätig an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam.

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf: Bundesrepublik ohne Armee

Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland, eine Bundesrepublik ohne Armee (BoA)

von BoA

In vielen Initiativen der Friedensbewegung wird gegenwärtig das weitreichende Projekt einer Bundesrepublik ohne Armee (BoA) diskutiert und an einigen Orten bereits konkret vorbereitet. Unser Aufruf für eine zivile Bundesrepublik Deutschland soll diese Bemühungen ermutigen und das Anliegen überall bekanntmachen, damit sich viele und immer mehr Bürgerinnen und Bürger an seiner Verwirklichung beteiligen.
Seit Jahren hat die Friedensbewegung und haben mit ihr einsichtige PublizistInnen und PolitikerInnen festgestellt: jede Form eines Krieges der hochgerüsteten Blöcke in Europa ist beiderseits so sinnlos wie tödlich. Die dramatische Ereignisse der letzten Monate haben nunmehr den letzten Rest einer politischen Rechtfertigung für die Szenarien der Unvernunft beseitigt. Wenigstens eine europäische Welt ohne Rüstung und Militär ist eine realistische Perspektive geworden. Sie bietet erstmals tatsächliche Sicherheit vor einer Kriegsgefahr, die in jeder – auch der reduzierten und kontrollierten – Rüstung enthalten ist. Die Bundesrepublik Deutschland braucht ebensowenig eine Bundeswehr, wie die Deutsche Demokratische Republik eine Nationale Volksarmee.

Für beide deutsche Staaten eröffnet sich heute die historische Chance, vollständig abzurüsten. Dadurch können sie beide für sich und ihre Nachbarn unter Beweis stellen, daß wir Deutschen aus der Geschichte gelernt haben. Die Bundesrepublik kann hier und heute ohne jedes Risiko für die Sicherheit der Bevölkerung einseitig auf bewaffnete Streitkräfte – die Bundeswehr – verzichten. Sie leistete damit auch ihren besten und sichtbarsten Beitrag zur Entmilitarisierung und Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik. Eine zivile Bundesrepublik und eine ihr folgende zivile Deutsche Demokratische Republik würden jenseits aller Zweifel beweisen, daß von den Deutschen keine Bedrohung ihrer Nachbarn mehr ausgehen kann. Nicht nur partielle Rüstung und Truppenverminderung, sondern die vollständige Auflösung der Bundeswehr – und parallel dazu der Nationalen Volksarmee – muß unsere konkrete politische Antwort sein auf die Erkämpfung der Demokratie durch das Volk der DDR.

Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf, mit denselben Energien, die sie noch vor kurzem in der großen Friedensbewegung der achtziger Jahre entfaltet hatten, mit derselben Phantasie und Kreativität alle verfügbaren demokratischen und gewaltfreien Mittel zu mobilisieren, um die politischen Repräsentanten zu der historischen Entscheidung einer ersatzlosen Auflösung der Bundeswehr zu drängen. Die dadurch freikommenden Mittel werden zur sozialen Sicherheit, zum Umweltschutz, zur Hilfe für osteuropäische Länder, vor allem aber auch der armen und ausgebeuteten Völker der sogenannten Dritten und Vierten Welt und nicht zuletzt in der DDR dringend gebraucht.

Der Bundespräsident könnte selbst einen wichtigen ersten, wenn auch zunächst nur symbolischen Schritt in Richtung auf eine zivile Bundesrepublik Deutschland machen: wir bitten ihn, das bisherige militärische Zeremoniell bei Staatsempfängen durch zivile Formen der Begrüßung seiner, unserer Gäste zu ersetzen.

Komitee für Grundrechte und Demokratie, An der Gasse 1, 6121 Sensbachtal

Entmilitarisierung der DDR

Entmilitarisierung der DDR

von Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit (SES)

Auf Initiative der »Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit (SES)« fand am 27. März in der Militärpolitischen Hochschule in Berlin eine Konferenz zu dem Thema »Notwendigkeiten, Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen einer Entmilitarisierung der DDR« statt. In der SES arbeiten Militärs, Politiker und Friedensforscher zusammen. Aufgerufen hatten auch der Wissenschaftliche Rat für Friedensforschung, die Unterzeichner des Appells `89 und die Initiativgruppe für Friedens- und Konfliktforschung (UIFK). In seinem Grundsatzreferat formulierte Kapitän zur See Dr. Siegfried Fischer die bisher erarbeiteten Positionen der SES und nannte offene Fragen.

Die SES geht davon aus, daß die militärischen Potentiale heute eine irreversible Zerstörung dessen, was geschützt werden soll, bewirken, und daher dysfunktional geworden sind. Zugleich sei eine wachsende Bedeutung nichtmilitärischer Faktoren für die Sicherheit und die Begrenztheit der Mittel, sie zu bewältigen, festzustellen. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, konsequent zum Primat nichtmilitärischer Denk- und Handlungsweisen überzugehen. Dieser Prozeß könne einseitig – unter internationaler Akzeptanz – begonnen werden.

In der DDR als ehemaligem »Frontstaat« ist die höchste militärische Konzentration im Rahmen des Warschauer Vertrages zu verzeichnen. Wenn das Militärische zusehends dsyfunktional wird, ist die Entmilitarisierung der DDR eine vordringliche Aufgabe. „Unter diesen Bedingungen hat die Nationale Volksarmee keine militärpolitische Funktion mehr, zumal durch die Beendigung des West-Ost-Konflikts kein militärischer Gegner mehr auszumachen ist, der abzuschrecken wäre“.

Sich besonders mit der Entmilitarisierung der DDR zu beschäftigen, sei aus weiteren Gründen geboten: Die DDR sei nach den Wahlen vom 18. März der einzige europäische Staat, dessen Existenz in Frage gestellt ist. „Der deutsche Vereinigungsprozeß ist eine europäische Realität geworden.“ Daher sei die Frage von grundsätzlicher Bedeutung, ob sich eine territoriale Verschiebung der Blockkonfrontation an die deutsch-polnische Grenze, ein neues europäisches Staatensystem auf NATO und EG-Basis mit außerordentlich starker Militärpräsenz oder eine neue, weitgehend entmilitarisierte Europäische Friedensordnung ergäbe. „Insofern ist es wichtig, welches militärische und sicherheitspolitische Erbe, die DDR in diesen Vereinigungsprozeß einbringt.“ Schließlich sei die in nahezu allen Ländern Europas festzustellende Legitimations- und Motivationskrise der Streitkräfte in der DDR längst in eine Existenzkrise der NVA hinübergewachsen. Alle bisher diskutierten Reformvarianten seien mit dem 18. März hinfällig geworden. „Eine Bevölkerung, die ihren Staat abwählt, wählt indirekt auch die Nationale Armee ab.“

Heute gäbe es folgende Optionen: Übernahme der NVA durch die Bundeswehr, oder die Schaffung eines neuen, deutschen Bundesheeres oder die stufenweise bzw. vollständige Auflösung der NVA.

Zur Entmilitarisierung der Streitkräfte führte Fischer aus:

Zwar habe die Abrüstung begonnen, aber noch halte deren Tempo nicht Schritt mit der allenthalben sich vollziehenden Modernisierung und Effektivierung der verbleibenden Gewaltpotentiale. Dadurch würden weiterhin Mittel für die Lösung der eigentlichen Menschheitsprobleme blockiert. Im Übergang zum nächsten Jahrtausend gehe es aber um »Abrüstung für Entwicklung«.

Die DDR habe angefangen, einseitig abzurüsten, aber die bisherigen Schritte seien eher symbolischer Natur gewesen. Zumindest fehle ein durchdachtes Gesamtkonzept. Hinsichtlich des radikalen Abbaus der Streitkräfte und der Schaffung neuer Europäischer Sicherheitsstrukturen gäbe es bislang einen Konsens unter den wählerstärksten Parteien der DDR. Noch bestünden allerdings Differenzen über den genauen Zeitplan und fehle ein Umsetzungsprogramm.

Im Februar hat der »Runde Tisch« neue militärpolitische Leitlinien angenommen, in denen auf Abrüstung und Vertrauensbildung und die schrittweise Auflösung der bisherigen Sicherheitsstrukturen orientiert wird. Zu Recht warf der NVA-Kapitän die Frage auf, ob diese »Harmonie« weiter Bestand habe. Schließlich halten maßgebliche politische Kräfte in der Bundesrepublik an der Abschreckungskonzeption fest; wird es nicht ein Umschwenken der konservativen Mehrheit in der DDR-Volkskammer geben?

Die SES hat vor diesem Hintergrund zwei grundsätzliche Forderungen entwickelt: Durchführung eines Volksentscheids über die Einleitung des Entmilitarisierungsprozesses und die Schaffung eines Amtes für Abrüstung und Rüstungskonversion bei der Regierung der DDR.

Diese Behörde soll rasch mit der Erarbeitung eines Programms und der Umsetzung befasst werden. Bestandteile eines solchen Programms müssten sein:

  1. Einstellung, Ablösung und Umstellung aller militärischen Beschaffungs- und Ausbildungsprogramme
  2. schrittweise Auflösung des Ministeriums f. Nationale Verteidigung und der NVA bei konkreter Bestimmung ihrer Übergangsfunktion
  3. die ökologisch verträgliche und wirtschaftlich effektive Vernichtung von Waffen, Munition und Kampftechnik, sowie die Umrüstung militärischer Sicherungstechnik auf zivile Nutzung
  4. die territorial zweckmäßige Umstellung militärischer Objekte in Produktions- Dienstleistungs- und Kultureinrichtungen.
  5. die Aufhebung der Wehrpflicht und der Abschluß zeitlich befristeter Dienstverträge mit Berufssoldaten bis zur Demobilisierung.
  6. die Einstellung der Offiziers- und Unteroffiziersausbildung, sozial gesicherte Umschulung auf zivilen Einsatz.“

Die SES hat dem »Runden Tisch« beim Ministerium für Nat.Verteidigung ihre Vorschläge unterbreitet; der zentrale Runde Tisch beschloß am 26.2.90 die Schaffung eines Amtes für Abrüstung und Konversion. Diese Überlegung wurde von der Modrow-Regierung übernommen, aber die konkrete Verwirklichung des Projekts lässt noch auf sich warten. Wird die neue Regierung diese Sache angehen?

Fischer setzte sich auch mit Vorbehalten auseinander, die einer totalen Entmilitarisierung der DDR im Wege stehen könnten. Da gibt es noch immer das traditionelle »Stabilitätsdenken«. Zu dieser Konzeption gehören Streitkräfte und Militärbündnisse. Fischer verwies auf die großen »Stabilitätsreserven« unter den Bedingungen aufgeblähter Militärpotentiale einerseits und ihrer vorangaloppierenden Dysfunktionalität andererseits. Wie ist es mit der »Bündnisverträglichkeit« der angestrebten Lösungen bestellt? Nach Fischer garantiert nur ein entmilitarisierter Status des DDR-Territoriums eine einvernehmliche Regelung zwischen den beiden Militärbündnissen. Nur so würde von einer Reihe europäischer Länder eine etwaige NATO-Mitgliedschaft Deutschlands akzeptiert werden. Schließlich gehe es nicht um einen »deutschen Sonderweg«. Militärische Neutralisierung sei nicht gleichbedeutend mit politischer Neutralisierung. Und der länger andauernde Entmilitarisierungsprozeß müsse ja völkerrechtlich abgesichert und international kontrolliert werden. So könne die Beseitigung des Militärs auf dem DDR-Gebiet einen wichtigen Anfang für neue blockübergreifende Sicherheitsstrukturen und die Europäische Einigung bilden.

Bericht von Paul Schäfer

Rüstungskonversions-forschung

Rüstungskonversions-
forschung

von Burkhart Freisleben

Die Diskussionen um die Einrichtung eines Forschungs- und Lehrbereiches Friedens- und Konversionsforschung an der Uni Bremen erhalten durch die politischen Umbrüche in Ost und West und den daraus sich ergebenden Abrüstungschancen für Rüstungsproduktion und Militärbeschäftigte eine neue, ungeahnte Dynamik.

Wenn die Abrüstungsprozesse mit dem Tempo der politischen Entwicklung einigermaßen Schritt halten, bedeutet dies einen ökonomischen und strukturpolitischen Umbruchprozeß größeren Ausmaßes, besonders in den von Rüstung bestimmten Regionen wie Bremen.

Damit drängt die Zeit, diesen Umbauprozeß sozial, ökologisch und demokratisch zu gestalten, da sonst die Gefahr besteht, daß dieser Strukturwandel naturwüchsig und krisenhaft verläuft, mit den negativen Erscheinungen für Beschäftigung, Qualifikation und Umwelt, wie wir das von den bisherigen Strukturkrisen her kennen (Stahl, Textil, Werften etc.). Für die Region Bremen würde sich diese Gefahr auf ein Mehrfaches potenzieren, da hier vier potentielle Krisenbranchen (Rüstung, Werften, Stahl, Auto) bestimmend sind, die sich gegenseitig überschneiden. Um diese Gefahr zu vermeiden, ist ein umfangreicher, konzeptioneller Vorlauf von Konversionsforschung notwendig. Dies wäre auch forschungspolitisch eine vorausschauende und zukunftsweisende Maßnahme, mit der die UNI Bremen beispielgebend Vorreiter in der forschungspolitischen Landschaft der BRD wäre.

In der Tradition der Kritischen Friedens- und Konfliktforschung geht es dabei um die Weiterentwicklung zu einer interdisziplinären Friedenswissenschaft, die alle relevanten gesellschaftlichen Aspekte der Rüstungskonversion einbezieht:

  1. ökonomische Aspekte
  2. gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Aspekte,
  3. naturwissenschaftliche, technische und organisatorische und
  4. regionalpolitische Aspekte.

Ansätze, Möglichkeiten und Aspekte der Konversionsforschung:

Um der o.g. Gefahr eines krisenhaften Umbruches vorzubeugen, muß Rüstungskonversion nicht nur politisch gewollt, sondern systematisch vorbereitet werden. Dabei geht es weniger darum, erneut nachzuweisen, daß es einen großen und ungedeckten Bedarf an nützlichen und technologisch anspruchsvollen Gütern gibt, die mit der mehr oder minder modifizierten technischen Ausstattung und mit der Qualifikation der Beschäftigten in den heutigen Rüstungsbetrieben hergestellt werden können.“1

Diese schon reichlich vorhandenen Forschungen, sowie die bereits gemachten Erfahrungen aus Betrieben und Regionen (Arbeitskreise Alternative Fertigung/IG-Metall, Lucas Aerospace, Greater London Enterprise Board etc.) sind hierzu heranzuziehen, zu bündeln und müssen auf ihre Verwertbarkeit hin aktualisiert und modifiziert werden.2

Politische und ökonomische Steuerungskonzepte

Die Schwerpunkte im ökonomischen Bereich der Konversionsforschung müssen zukünftig darin liegen, wo die größten Forschungsdefizite liegen: In der Entwicklung von politischen und ökonomischen Steuerungskonzepten der Rüstungskonversion.3 Die Hauptfragestellungen auf diesem Gebiet heißen: Wie kann Rüstungskonversion so bewerkstelligt werden, „daß erstens krisenhafte Einbrüche bei der Beschäftigung vermieden werden können und zweitens die neue Produktion tatsächlich gesellschaftlichen Nützlichkeitsanforderungen entspricht?“ 4 und damit zweitens: Wohin soll konvertiert werden?5 Desweiteren: „Gegenstand der Konversionsforschung kann nicht nur die Konversion von Rüstungsproduktion sein. Untersuchungsgegenstand muß die Umwandlung von Produktion und Dienstleistungen für den und im militärischen Bereich in Dienstleistungen und Produktion für den zivilen Sektor sein.“ 6 (Bundeswehr, Zivilbeschäftigte bei BW und ausländischen Streitkräften, Auswirkungen auf Gewerbe, Handel und Dienstleistungen in strukturschwachen Gebieten mit konzentrierten Militärstandorten, z.B. Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz).

Darüber hinaus beinhaltet Konversionsforschung auch die Konversion von zivilen, sozial und ökologisch schädlichen und volkswirtschaftlich unökonomischen Produkten undd Produktionen (Automobil-, Chemieindustrie, AKW's etc.).

„(…) Konversionsforschung muß die Rolle der Politik in dem Umbauprozeß herausstellen und kann vielleicht neue Modelle dafür entwickeln, wie Umstrukturierungen auch in anderen industriellen Bereichen sozialverträglich ablaufen können.“ 7 Es geht insgesamt um die Aufgabe, neue gesamtgesellschaftliche Konzepte einer demokratischen, sozialen und ökologischen Industrie- und Strukturpolitik zu schaffen mit Konversion als deren Kern.

Gesellschafts- wissenschaftliche Aspekte

Die krisenhaften strukturellen Anpassungsprobleme könnten verringert werden durch gesamtgesellschaftliche Konzepte, die eine aufeinander abgestimmte Politik der Ab- und Umrüstung, der gemeinsamen Sicherheit und des Arbeitsmarktes nötig macht. Da Konversion eine komplexe Gemeinschaftsaufgabe, inter-, supranational, national, regional, kommunal, zwischen Unternehmen und Interessensvereinigungen ist, wären die Hauptfragestellungen für die Sozialwissenschaften:

Welche neuen Konzepte der politischen Regulierung, Abstimmung und Verzahnung, Kompetenzen- und Aufgabenverteilung, Demokratieentwicklung und Kommunikation werden für die Durch- und Umsetzung der Konversion benötigt? und:

Welche Instrumente sind notwendig, um demokratische Strukturen v.a. bei den Entscheidungskompetenzen über das Wie, Was und Wo der Produktion zu erreichen?

Daraus ergeben sich wiederum Fragestellungen für die Rechtswissenschaften:

Welche qualitativ erweiterten Mitbestimmungsgrundlagen müssen dafür auf der betrieblichen, unternehmensweiten, kommunalen und regionalen Ebene entwickelt werden, z.B. für Wirtschafts- und Sozialräte?

Für die Politik-, Sozialwissenschaften und die Friedens- und Konfliktforschung wären wichtige Fragen:

Welche individuellen und gesellschaftlichen Widerstände gegen die Konversion gibt es und welche Ursachen haben sie? „Konversionsforschung muß offenlegen, welche Interessen Konversion behindern oder gar unmöglich machen.“ 8

Welche Möglichkeiten und Potentiale der Formierung von Öffentlichkeit für Konversion gibt es und wie können sie wirksam werden?

Für die Friedens- und Konfliktforschung, Erziehungswissenschaften, Friedenspädagogik und Sozialpsychologie, Kulturwissenschaften ergeben sich aus den Umstrukturierungsprozessen in der Produktion und den sich damit verändernden Sozialisationsbedingungen in allen Lebensbereichen (Individualisierung, Feminisierung, Intellektualisierung) neue Anforderungen auf den Gebieten der Konfliktverarbeitung (neue, alte Feindbilder, Bedrohungsängste): das erfordert insbesondere neue Forschungen für die Entwicklung von ziviler und sozialer, kollektiver und individueller Verarbeitungs- und Umgangsformen und die Begründung von friedlichen und sozialen gesellschaftlichen Bedingungen für die Herausbildung von günstigen und produktiven Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung.

Weitere wichtige gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen, die sich aus den Umstrukturierungsprozessen der Konversion ergeben, liegen auf den Gebieten Arbeitsmarktforschung/Weiterbildung.

Naturwissenschaftliche, technische, organisatorische Aspekte

Große Aufgaben gibt es für die Geowissenschaften, Biologie, Chemie, Physik und die Produktionstechnik.

1. bei der Suche nach Möglichkeiten der Umwandlung von stofflichen Prozessen, Produkten und Produktionsabläufen für den ökologischen, sozialen Umbau,

2. bei der Entwicklung neuer Methoden der Verifikation, der Kontrolle, Vernichtung von Waffen und deren ökologisch gefährlichen Substanzen.

Auch wenn die fachliche Arbeit im Bereich Mathematik und Informatik dieses Gebiet bisher nur vereinzelt und in geringen Prozentanteilen berührt, ist einiges Interesse vorhanden, die diversen Zusammenhänge zukünftig verstärkt mit Inhalt zu füllen. Die Berührungspunkte reichen, um nur einige Beispiele zu nennen, von mathematischen Modellen für Konfliktsituationen und zur Kalkulation von Produktionsumstellungen, über computergestützte Überwachungs- und Verifikationssysteme bei Abrüstungsmaßnahmen bis hin zu Konversionsdatenbanken und -planungssystemen.

Die Konversion in den Unternehmen erfordert neue Forschungen für gebrauchswertorientierte, ökologische Produkt- und Produktionsplanungen, für die dann entsprechende technisch-organisatorische Veränderungen der Unternehmensstruktur gefunden werden müssen. Hier sind technische und einzelwirtschaftliche Fragestellungen angesprochen, die sich aber nicht einseitig auf die Managementberatung reduzieren dürfen, sondern strukturell offen mit Belegschaften, Betriebsräten und Gewerkschaften in Projekten gemeinsam zu beantworten sind. Die erworbenen Kenntnisse aller Mitarbeiter eines Unternehmens aus einer Umstellung – (nicht nur des Management) – sind Bestandteil eines neuen Unternehmensprofils der Konversion und gehen in die Konversionsforschung ein. Zweitens: Alle müssen öffentlichen Zugang zu den Prozessen und Ergebnissen der Konversionsforschung haben. Konversionsforschung darf keine Geheimforschung für die Vorstandsetagen der heutigen Rüstungsunternehmen werden! Die Konversion auf Betriebsebene schließt auch von dieser Seite einen qualitativen Ausbau der Mitbestimmungsrechte ein (s.o.).

Aktive Regionalund Strukturpolitik-

Da wesentliche Rüstungsindustrien sich regional massiert in sogenannten Krisenregionen befinden und die naturwüchsige, den Marktkräften ausgelieferte Umstrukturierung der Konversion krisenverschärfend wirken würde (s.o.), liegt es nahe, die „Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion und regionale und kommunale Entwicklung miteinander zu verbinden, … zu versuchen, das bislang durch Rüstungsforschung und -produktion eingesetzte wissenschaftliche und produktive Potential in einer aktiven Regional- und Strukturpolitik in Kooperation aller Beteiligten zu nutzen.“ 9

Aufgabe einer regionalen Konversionsforschung wäre es, eine Konzeption zu entwickeln, die drei Schritte berücksichtigt:

  1. „Eine Struktur- und Defizitanalyse, in der die besonders gravierenden regionalen und kommunalen Belastungen, Unterversorgungen und Problembereiche herausgearbeitet werden …
  2. Eine Potentialanalyse, in die u.a. mögliche Beiträge der wissenschaftlichen und Produktionskapazitäten, die bisher in der Rüstung eingesetzt werden, zur Überwindung der Regionalprobleme einbezogen werden.
  3. Ein regionales Entwicklungsprogramm, das natürlich mehr als ein Rüstungskonversionsprogramm sein muß, in das die Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion jedoch als ein Element präzise integriert sein muß.“ 10

Hochschulpolitische Anforderungen an die Konversionsforschung

Ein zukünftig einzurichtender Bereich für Konversionsforschung müsste u.E. folgende Kriterien berücksichtigen:

  1. Demokratische Öffentlichkeit (Einbezug aller Hochschulangehörigen, der Gewerkschaften, Belegschaftsinitiativen für Alternative Fertigung und der Friedensbewegung);
  2. Interdisziplinarität
  3. Projektorientierung und
  4. Praxisrelevanz, d.h. an konkreten Problemen für bestimmte Betriebe, Kommunen, Regionen etc. in Projekten Lösungskonzepte für die Umstellung und den Umbau zu entwickeln;
  5. die Integration der Forschung in die Lehre: die Forschungsvorhaben werden in Lehrprojekte transformiert. Studierende haben als Lernende am Forschungsvorhaben teil (forschendes Lernen). Interdisziplinäre Lehrveranstaltungen zu diesen Themen werden für alle Interessierten angeboten und sind so konzipiert, daß sie mit der jeweiligen Schwerpunktsetzung in Richtung auf das jeweilige Studienfach für diese »scheinfähig« werden. Das bedeutet Öffnung und Flexibilisierung der jeweiligen Prüfungsordnungen; d.h. »Scheinanerkennung« dieser Veranstaltungen in den jeweiligen Fachbereichen.

Nachdem der Stein für Konversionsforschung und andere alternative Felder wie Frauenforschung, Energiewirtschaft, Biotechnologie durch die Arbeit und Beschlüsse der Hochschulentwicklungsplanungs-Kommission ins Rollen gekommen ist, gilt es jetzt die Durchsetzung voranzubringen. Wir werden über den Fortgang dieser Auseinandersetzung berichten.

Kontaktadresse: Bremische Stiftung für Rüstungskonversion, Goetheplatz 4, 2800 Bremen

Anmerkungen

1) Jörg Huffschmid, Referat, Kongreß „Chancen für Rüstungskonversion“, Bremen, 18.11.89. Zurück

2) vgl. Klaus Potthoff, Thesen zur Konversionsforschung, Kongreß „Chancen für Rüstungskonversion“, Bremen, 18.11.89. Zurück

3) vgl. Huffschmid, a.a.O. Zurück

4) vgl. Huffschmid, a.a.O. Zurück

5) vgl. Potthoff, a.a.O. Zurück

6) vgl. Potthoff, a.a.O. Zurück

7) vgl. Potthoff, Thesen, a.a.O. Zurück

8) vgl. Potthoff, a.a.O. Zurück

9) vgl. Huffschmid, a.a.O. Zurück

10) vgl. Huffschmid, a.a.O. Zurück

Burkhart Freisleben

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

Die bipolare Konfrontationsstruktur der Nachkriegszeit ist im Gefolge des Zerfalls der einen Seite in Auflösung. Der Trend zu Entspannung und Rüstungsminderung scheint unaufhaltsam. Marschflugkörper werden zur Verschrottung in die USA geflogen; der Tiefflug wird stark gedrosselt werden; die neuen Atomraketen LANCE kommen nicht; der Jäger `90 ist auf der Abschußliste; weitere Abrüstungsabkommen werden dieses Jahr unterzeichnet werden. Und doch gibt es ein auffallendes Mißverhältnis zwischen öffentlicher Erwartung und tatsächlichem Prozeß.

Die Abrüstung der strategischen Nuklearwaffen kommt nur zäh voran; der technologische Rüstungswettlauf geht weiter; über 60% der Länder des Erdballs rüsten weiter auf; an einer Politik, die sich auf Gewaltpotentiale und Militärbündnisse stützt, wird festgehalten. Dies wird dadurch möglich, daß die eine Seite der bipolaren Nachkriegskonfrontation sich als »Sieger« fühlen kann. Warum also »Bewährtes« aufgeben? Anpassung an offenkundig veränderte Rahmenbedingungen ja – aber nicht unbedingt grundsätzliches Neubedenken der Sicherheitspolitik. Die NATO wird zum Stabilitätsfaktor; die Abschreckung gilt nunmehr neuen Feinden (Nord-Süd-Konflikt!) und die militärische Macht ist unverzichtbares Attribut nationaler Souveränität. Dies ist es, was unbehaglich stimmt. Zumal es scheint, als könne die »obsiegende« Seite beliebig die Bedingungen diktieren. Das vereinigte Deutschland wird der NATO angehören, lassen US-amerikanische Regierungskreise verlauten. Weiterdenken überflüssig.

Und doch: diese Politik verliert ihre Legitimationsbasis. Mit der eingeleiteten Entwicklung geraten die genuinen Themen der Friedensbewegung auf die politische Tagesordnung: eine Neue (Europäische) Friedensordnung und die radikale Entmilitarisierung.

Der politische Prozeß hat die bestehenden sicherheitsheitspolitischen Konzepte zu Makulatur werden lassen. Ein erstes Abkommen bei den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) ist noch für 1990 in Sicht. Welche Ziele sollen für VKSE II ins Auge gefasst werden? Welche grundsätzlichen sicherheits- und militärpolitischen Parameter sollten bei den »2 + 4 Verhandlungen« vereinbart werden? Also auch: welche Obergrenzen sollte eine künftige gesamtdeutsche Armee haben? Last but not least: Welche neuen, kollektiven Sicherheitsstrukturen können für Europa geschaffen werden?

Trotz voraussehbarer Rüstungsminderung: Dem »pazifistischen Friedensarbeiter« genügt diese Tendenz nicht:

  1. die fundamentale Kritik an der paradoxen und gattungsgefährdenden »Abschreckungsdoktrin« bleibt gültig. Die moderatere Variante des hegemonialen, gegebenenfalls gewaltförmigen Denkens (s.Panama) beinhaltet noch immer unerträgliche Risiken. Es ist eher wahrscheinlich, daß ein Drehen der »Abschreckungsachse« von Ost nach Süd, den Militarismus in der Dritten Welt weiter befördern würde. Der Eskalation der Gewalt ist nicht durch Drohpotentiale, sondern durch Hilfe zur Entwicklung zu begegnen.
  2. die Chancen der Gestaltung der internationalen Beziehungen auf neuer Grundlage dürfen nicht blockiert werden. Es geht – beginnend in Europa – um die Konstruktion einer Weltinnenpolitik, die von gleichberechtigten, zivilen Nationen gestaltet wird. Es greift daher entschieden zu kurz, wenn jetzt in den Kategorien bestehender oder neu zu schaffender Bündnisse (NATO, WEU, EG) weitergedacht wird. Eine Ausdehnung der NATO bis an die Oder – auch wenn diese mit Einschränkungen auf dem Territorium der heutigen DDR verbunden wäre – ist kontraproduktiv. Es mag Übergangslösungen geben. Die Kardinalfrage ist, ob man sich mittelfristig auf neue, kollektive Sicherheitsstrukturen, v.a. im Rahmen der KSZE, einigt.
  3. aus Gründen der ökologischen und weltwirtschaftlichen Zukunftssicherung ist eine rasche und radikale Ressourcenumverteilung notwendig. Die benötigten Mittel müssen nach Lage der Dinge aus den aufgeblähten, unnützen Rüstungsetats kommen. Da die »Konversion« selber erhebliche Mittel bindet, müssen bei der Abrüstung andere Größenordnungen erreicht werden. Selbst 50prozentige Einschnitte dürften sich als unzureichend erweisen.

In diesem Jahrzehnt besteht erstmals die große Chance für eine radikale Entmilitarisierung. Sie muß genutzt werden.

Ihr Paul Schäfer

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

Konversion: Probleme und Perspektiven in der Sowjetunion

von Christa Vennegerts • Dietmar Pietsch

Vom 24.-31. Mai 1989 wurde erstmals eine deutsch-sowjetische Friedenswoche veranstaltet, die auf bundesdeutscher Seite vom Koordinierungsausschuß der Friedensbewegung organisiert wurde. Die inhaltliche Vorbereitung der einzelnen Veranstaltungen lag bei den einzelnen im Trägerkreis der Friedensbewegung vertretenen Organisationen.Die Fraktion der Grünen im Bundestag hat sich mit insgesamt drei Veranstaltungen beteiligt, darunter einer zu Fragen der Rüstungskonversion in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion. Die sowjetische Seite war durch 3 Experten vertreten. Aus der Bundesrepublik haben u.a. Betriebsräte aus den Rüstungsbetrieben Krupp Mak, Kiel, Blohm & Voss, Hamburg und MBB, Bremen teilgenommen. Einige der dabei angeschnittenen Fragen und Probleme sollen im nachfolgenden Beitrag dargestellt werden.

Ursachen für Rüstungskonversion in der UdSSR

Die sowjetische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand. Die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs verschlechtert sich zusehens. Selbst die an sich wenig glaubwürdigen Angaben des CIA über die Wachstumschancen der sowjetischen Wirtschaft zeichnen nach neuesten Berechnungen sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler ein geradezu sonniges Bild der Verhältnisse. Trotz der eingeleiteten Reformen hat sich die Versorgungssituation breiter Volksschichten eher verschlechtert als verbessert. Der Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretende Ministerpräsident Abalkin befürchtet bereits, daß die Gesellschaft sich ådestabilisierenï könnte, wenn es nicht innerhalb von zwei Jahren gelinge, die Versorgung zu verbessern. Boris Jelzin sieht gar eine årevolutionäre Situationï heraufdämmern.

Auch wenn im Detail noch unklar ist, welche Maßnahmen zur Bewältigung der ökonomischen Krise den meisten Erfolg versprechen – eines scheint bei sowjetischen Politikern, Wissenschaftlern und den Menschen völlig unstreitig zu sein: Militärausgaben in Höhe von 77 Mrd. Rubel (=ca. 210 Mrd. DM) wird die UdSSR nicht weiter aufwenden können, wenn sich die ökonomische und damit letztlich die soziale Lage verbessern soll. Auf dem Volksdeputiertenkongreß kündigte Ministerpräsident Ryschkow bereits an, daß die sowjetische Regierung beabsichtigte, die Militärausgaben bis 1995 praktisch zu halbieren. Parallel dazu sollen die durch Waffenproduktion ausgelasteten Betriebe auf die Fertigung von Zivilgütern umgestellt werden.

Es sind jedoch nicht allein wirtschaftliche Gründe, die dem Thema Rüstungskonversion in der UdSSR eine bislang nicht gekannte Aktualität verleihen. Seit dem Amtsantritt Gorbatschows ist in die sowjetische Abrüstungspolitik eine Dynamik gekommen, die die Nato-Staaten abrüstungspolitisch völlig in die Defensive gebracht hat. Innersowjetisch ist eine Demontage überholter Verteidigungsdoktrinen in Gang gesetzt worden, die auf eine Verringerung und Defensivierung der Militärapparate hinausläuft. Diese Neuausrichtung bedingt gleichfalls eine Beschneidung geplanter Beschaffungsprogramme.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die geplante Umstellung von Rüstungsbetrieben in der UdSSR einerseits das Ergebnis einer wirtschaftlichen Notsituation, andererseits die Folge verstärkter Abrüstungsbemühungen ist.

Charakteristika der sowjetischen Rüstungsindustrie

Genaue Angaben über die Zahl der Rüstungsbetriebe und der dort Beschäftigten sind trotz Glasnost für ausländische und sowjetische Wissenschafler gleichermaßen unzugänglich. Der sowjetische Militär-Industrie-Komplex wird heute von 9 verschiedenen Ministerien organisiert. Die Kontrolle und Koordination der rüstungsrelevanten Industrien erfolgt durch die Militär-Industrielle Kommission bei dem Präsidium des Ministerrats der UdSSR. Nach Angaben des US-amerikanischen Verdeidigungsministeriums soll die Waffenproduktion in der UdSSR auf 150 Großbetriebe konzentriert sein. Weitere rd. 150 Großbetriebe sollen Ausrüstungsgegenstände, wie Radargeräte, Lastkraftwagen und Fernmeldegeräte herstellen. Die Kernbetriebe der Rüstungsindustrie werden durch tausende von Zulieferbetrieben ergänzt. Die Zahl der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten wird auf einige Millionen Personen geschätzt. Gleichfalls US-amerikanische Quellen behaupten, daß etwa die Hälfte des für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehenden Personals für militärische Forschung eingesetzt wird.

Die sowjetische Industrie insgesamt ist durch eine pyramidenartige, vielstufige Struktur gekennzeichnet. Auf den oberen Ebenen der Pyramide befinden sich die Betriebe, die in der volkswirtschaftlichen Prioritätenskala der sowjetischen Planwirtschaft den höchsten Rang einnehmen. Diese Betriebe werden mit den qualitativ besten Ressourcen (Produktions- und Finanzmitteln, Arbeitskräften) ausgestattet. An der Spitze dieser Pyramide stehen die Rüstungsbetriebe.

Der hohe Rang, der der Rüstungsindustrie in der industriellen Prioritätenskala zukommt, hat zu einigen Besonderheiten geführt. Die Rüstungsindustrie erhält die besten Maschinen und Anlagen. In diesem Bereich werden höhere Löhne gezahlt und Sozialleistungen gewährt als in der zivilen Wirtschaft. Die Beschäftigten in Rüstungsbetrieben genießen Vorrang bei der Zuweisung von Wohnungen, die medizinische Versorgung ist besser.

Auch intern unterscheidet sich die Rüstungsindustrie erheblich von anderen Betrieben. Der Vorrang der Waffenbeschaffung ist so angelegt, daß das Verteidigungsministerium einen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung und Produktion neuer Waffensysteme hat. Für zivile Industrien verhält es sich genau umgekehrt. Eines der Hauptprobleme der sowjetischen Industrie ist die Vorherrschaft eines Verkäufermarktes und die Schwäche des Konsumenteneinflusses. Für die Betriebe besteht kein sonderlicher Anlaß, qualitativ den Konsumentenwünschen entsprechende Produkte zu fertigen und zu liefern. Hier unterscheiden sich Rüstungsbetriebe gravierend von der übrigen Wirtschaft.

In den Rüstungsbetrieben herrschen rigide Qualitätskontrollen. Das Militär entsendet Vertreter, die den gesamten Fertigungsvorgang kontrollieren, um sicherzustellen, daß das Rüstungsmaterial den militärischen Anforderungen entspricht. Diese Repräsentanten haben die Aufgabe, Engpässe durch rechtzeitige Bereitstellung von Ressourcen zu vermeiden, die Kostenentwicklung zu überwachen und auf die Einhaltung von Qualitätsstandards zu achten. Die Lieferung qualitativ minderwertiger Teile durch die Zulieferindustrie hat dazu geführt, daß die zuständigen Ministerien daran gingen entsprechende Produktionskapazitäten in den Rüstungsbetrieben aufzubauen und vorzuhalten. Dadurch soll mehr Unabhängigkeit von Zulieferanten und Sicherung der Produktqualität erreicht werden.

Auch der Maschinenpark in Rüstungsbetrieben besteht in der Regel aus modernen, technisch hochwertigeren Produktionsanlagen als in der übrigen Wirtschaft. So verfügen die Betriebe der Luftfahrtindustrie über große Bestände an numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen.

Zentrale Planung und Koordination bildet nur die eine Seite der qualitativ hochstehenden sowjetischen Rüstungsindustrie. Flankiert wird dieses System durch eine Vielzahl vor allem materieller Anreize für die Beschäftigten. Die Notwendigkeit, Anreizmechanismen zu entwickeln, die über die in der Volkswirtschaft bereits vorhandenen hinausgehen, ergibt sich aus den besonderen Arbeitsbedingungen in Rüstungsbetrieben. So schränken strenge Geheimhaltungsvorschriften die Privatsphäre der Beschäftigten über das ansonsten in der Wirtschaft verbreitete Maß weiter ein. Auch lassen sich hochqualifizierte Arbeiter und technisches Leitungspersonal nur bei überdurchschnittlicher Entlohnung gewinnen und motivieren. So liegt der Grundlohn für Arbeiter in der Flugzeugindustrie um ca. 7% über dem im Maschinenbau, wobei die in der Rüstungsfertigung gezahlten Prämien noch nicht eingerechnet sind.

Konversionsplanung in der UdSSR

In seiner vielbeachteten Rede vor der 43. UN-Generalvollversammlung hat Generalsekretär Gorbatschow alle Staaten, vor allem die großen Militärmächte aufgefordert, nationale Konversionspläne vorzulegen und von Wissenschaftlern einen zusammenfassenden Bericht für die UNO erarbeiten zu lassen. Darüberhinaus erklärte er: „Die Sowjetunion ihrerseits ist bereit,

  • im Rahmen der Wirtschaftsreform einen eigenen inneren Konversionsplan aufzustellen;
  • im Verlauf des Jahres 1989 als Experiment Konversionspläne für zwei bis drei Betriebe der Verteidigungsindustrie aufzustellen;
  • ihre Erfahrungen bei der Arbeitsvermittlung für Fachleute aus der Rüstungsindustrie sowie bei der Verwendung der entsprechenden Ausrüstungen, Gebäude und Anlagen für die zivile Produktion zu veröffentlichen.“

Auf dem Volksdeputiertenkongreß ist diese Aussage durch eine Grundsatzentschließung weiter konkretisiert worden: 60% der Waffenkombinate, Bomberproduktionsstätten und Panzerfabriken sollen åkonvertiertï werden. Der Ministerrat wurde aufgefordert, einen Sozialplan und einen Plan für die Umstellung der Rüstungsproduktion auf Konsumgüter vorzulegen.

Zur Behebung der akuten Versorgungsnöte soll die Rüstungsindustrie mitwirken beim Aufbau eines Maschinensystems für Ackerbau und Viehhaltung, damit die Vollmechanisierung der Landwirtschaft abgeschlossen und die Produktivität der ländlichen Bevölkerung gesteigert werden kann. Nach Aussage von Gorbatschow vor der 27. Konferenz der Moskauer Stadtparteiorganisation arbeiten die Rüstungsbetriebe z.Zt. intensiver an Aufträgen für die Leicht- und Lebensmittelindustrie, als an Aufträgen für Kampfflugzeuge.

Die Herstellung ziviler Güter ist für viele sowjetische Rüstungsbetriebe kein unbekanntes Terrain. Auf dem 24. Parteikongreß der KPdSU berichtete Breschnew, daß 42% der von Rüstungsbetrieben hergestellten Güter zivilen Zwecken diene.

Die dem Ministerium für Maschinenbau angegliederten Rüstungsbetriebe liefern seit Jahren ein buntes Sammelsurium verschiedener Zivilprodukte. Jährlich 1000 verschiedene zivile Güterarten werden hergestellt und abgesetzt: 1989 2 Millionen Kühlschränke, 2,6 Millionen Fahrräder, 3 Millionen Waschmaschinen, 700.000 Erzeugnisse der Unterhaltungselektronik, 730.000 transportable Benzinmotorsägen und 440.000 Elektroherde. Selbst so kurios anmutende Produkte wie abwaschbare Tapeten, Lampen und Hockeyschläger werden in Rüstungsbetrieben gefertigt. 1990 soll sich die Produktion ziviler Industriegüter um 50% erhöhen und zwar vorwiegend durch neue Erzeugnisse.

Ob dies gelingen wird, ist mit großen Fragezeichen versehen.

Unabhängig von den Erfolgsaussichten stimten die Teilnehmer des Seminars darin überein, daß

  1. nationale, regionale und betriebliche Umstellungsprogramme bereits hier und heute vorbereitet und ausgearbeitet werden müssen, unabhängig davon, ob international bereits weitergehende Abrüstungsmaßnahmen vereinbart wurden.
  2. Konversionspläne sowohl von staatlicher als auch betrieblicher Seite erstellt werden müssen. Ohne eine staatliche Rahmenplanung wird Konversion weder in der UdSSR noch in der Bundesrepublik realisiert werden können.
  3. Konversion eingebettet sein muß in eine regionale Entwicklungsplanung.
  4. die Voraussetzungen für Konversion in der UdSSR und der BRD sich unterscheiden: In der UdSSR besteht eine unbefriedigte Nachfrage; das Konsumgüterangebot ist unzureichend. In der Bundesrepublik sind die Grundbedürfnisse weitgehend befriedigt und Teile der Märkte gesättigt.

Zwischen den bundesdeutschen und den sowjetischen Teilnehmern ist vereinbart worden, in der näheren Zukunft gemeinsame Fallstudien zur Konversion auf betrieblicher und regionaler Ebene zu erarbeiten. Zur Weiterführung dieser Arbeit wird eine Gruppe von Betriebsräten und Grünen im Herbst in die Sowjetunion reisen.

Christa Vennegerts ist Bundestagsabgeordnete der Grünen; Dietmar Pietsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion.

Wider die Offensive

Wider die Offensive

Vorschläge für eine defensive Sicherheitsstruktur in Europa erforderlich wäre

von Bjørn Møller

Bis vor kurzem galten die Ideen einer »strukturellen Angriffsunfähigkeit« (StrunA) vielleicht als utopisch; aber sie sind jetzt im Begriff, in der amtlichen Politik mehrerer NATO-Länder akzeptiert zu werden. Obzwar das Bündnis sich diese Ideen noch nicht ganz zu eigen gemacht hat, scheint es allmählich der Annahme einiger der zentralen Konzepte nahezukommen. Außerdem hat sich die UdSSR amtlich dazu verpflichtet, die offensiven Elemente ihrer Strategie zu beseitigen oder jedenfalls abzubauen; und sie hat Konzepte westlichen Ursprungs wie »gemeinsame Sicherheit«, »vernünftige Hinlänglichkeit« usw. in ihrer amtlichen Politik übernommen. Die Frage der defensiven bzw. offensiven Streitkräfte wird also ein äußerst zentrales Thema werden, sowohl was den informellen Ost-West-Dialog betrifft als auch hinsichtlich der Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa, die in Wien am 6. März 1988 anfingen. Was eine Umstellung auf strukturelle Angriffsunfähigkeit für die beiden Bündnisse bedeuten würde, soll nachfolgend diskutiert werden.

I. Was die NATO ändern müßte

Daß die NATO sich noch nicht bereit gezeigt hat, sich die StrunA-Ideen zu eigen zu machen, muß eigentlich verwundern, da StrunA für das NATO-Konzept genau passen würde: Erstens ist die NATO sowohl in der Tat als auch nach eigenem Selbstverständnis ein strikt defensives Bündnis. Zweitens würde selbst in dem Falle, daß einzelne Bündnismitglieder geheime Angriffspläne hegen sollten, die derzeitige Bündnisstruktur weitgehend die Verwirklichung solcher Pläne vereiteln. Drittens ist bereits heute die Gesamtstruktur wenigstens der Landstreitkräfte vorwiegend defensiv. Obgleich die See- und Luftstreitkräfte der NATO demgegenüber viel offensiver sind, sind echte (d.h. raumgreifende) Offensiven ausgeschlossen.

Die anfängliche Skepsis des westlichen Bündnisses gegenüber StrunA scheint jedoch allmählich zu schwinden: Erstens hat die NATO es als ihre Zielsetzung proklamiert, vor allem Fähigkeiten zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung von großräumigen offensiven Aktionen zu beseitigen. Obzwar diese Konzepte anfänglich nur auf die Streitkräftestruktur des Warschauer Paktes (WVO) bezogen wurden, was auf eine Forderung nach einseitigen WVO-Abrüstungsschritten hinauslief, hat sich die NATO-Position jüngst aufgelockert: In ihrer Erklärung zum konventionellen Streitkräfteabbau, die durch die Ministertagung im Dezember 1988 verabschiedet wurde, hat das Bündnis die Absicht geäußert, anfänglichen »asymmetrischen« WVO-Reduktionen sollten weitere Maßnahmen folgen, wie z.B. „eine Umstrukturierung der Streitkräfte in Richtung auf eine Erhöhung der defensiven und eine weitere Verminderung der offensiven Fähigkeiten“. Wenn dies aufrichtig gemeint war, scheint die NATO indirekt eingeräumt zu haben, daß auch sie ihre Strategie und Streitkräftestruktur durchleuchten müsse und daß eine solche Analyse offensive Elemente, die beseitigt werden sollten, an den Tag bringen könnte. Nachfolgend werde ich einige Vorschläge dazu machen, worin diese Elemente bestehen.

Offensive Elemente in der NATO-Strategie

Die heutige Strategie für die NATO-Landstreitkräfte ist vorwiegend defensiv: Seit den 1950er Jahren, als eine ursprünglich manöverorientierte Strategie der »Vorwärtsverteidigung« durch eine defensive, grundsätzlich positionale und abnutzungs-orientierte Strategie der »Vorneverteidigung« ersetzt wurde, hat die NATO bloß beabsichtigt, die vordere Linie zu halten, jedoch keine Einfälle ins WVO-Gebiet zu unternehmen. In politischer Hinsicht machten außerdem die Ostverträge und die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von 1975 klar, daß kein Mitgliedsland der NATO, also auch nicht die Bundesrepublik , länger Ansprüche auf WVO-Gebiet erhebt. Letztlich verhindert eine weitgehende Integration der Streitkräfte großräumige Offensiven seitens einzelner Mitgliedsländer.

Trotzdem beinhalten die strategischen Konzepte gewisser Mitgliedsstaaten eine Reihe von offensiven Elementen. Die heutige aus dem Jahre 1982 stammende »Air-Land-Battle«-Doktrin der US-Army, sowie in noch höherem Maße deren Langzeitpläne wie z.B. »Airland Battle 2000« und das Nachfolgekonzept »Army 21« geben das bisherige Konzept einer Positionskriegsführung zugunsten eines Manöverkriegsführungskonzepts auf; letzteres aber sieht (gegen-)offensive Operationen in das WVO-Gebiet (auf Korps-Ebene) ausdrücklich vor. Obzwar andere Mitgliedsländer defensiver bleiben, scheinen die neuerdings überarbeitete Heeresdoktrin der NATO (aus dem Jahre 1983), aber auch das neue NORTHAG-Konzept Schritte in Richtung auf eine größere Betonung von weiträumigen Manövern zu sein.

Waffen, die für die Offensive taugen

Außerdem umfassen die Streitkräfte fast aller NATO-Länder eine ganze Reihe von Waffensystemen, die zu offensiven Militärdoktrinen tauglich sind, z.B. die Kampfpanzer (besonders der M-1 und der Leopard 2), die qualitativ den meisten sowjetischen Panzern überlegen sind; weiterhin die Schützenpanzer (wie z.B. Bradley IFVs), Mehrfachraketenwerfer (u.a. vom Typ MARS/MLRS), taktische Raketen (Lance), usw.. Obgleich dieses Gerät die NATO nicht in die Lage versetzt, großräumige Offensiven zu unternehmen, könnte trotzdem das Bündnis im Stande sein, kleinräumige Überraschungseinfälle ins WVO-Gebiet, z.B. in Krisenperioden, zu machen. Jedenfalls begünstigt diese Struktur den Ersteinsatz, wo es in Krisen eher darum gehen sollte, Abwarten zu begünstigen.

Wir müssen jedoch andere potentielle »Kriegsdimensionen« berücksichtigen, um die eigentlichen Offensivfähigkeiten der NATO kenntlich zu machen:

Die taktischen Fliegerkräfte der NATO sind vorwiegend offensiv ausgelegt, mit einer ziemlich großen Reichweite und mit einer klaren Bevorzugung für Jagdbomber gegenüber Abfangjägern. Dieser Trend zur Offensive ist durch die jüngste Betonung von »tiefer Interdiktion« noch gesteigert worden. Im Rahmen der »FOFA« (Follow-on Forces Attack)-Doktrin werden z.B. tiefe Schläge gegen die Streitkräfte und festen Anlagen der »Zweiten Staffel« der WVO, vor allem in der DDR und Polen, geplant. Hierzu kommen verschiedene nationale Pläne, wie z.B. die amerikanische »Counter Air 90«, »Airforce 21« usw., die alle tiefe Schläge gegen die Flugplätze der WVO vorsehen. Diese OCA (Offensive Counter Air) Form der Luftverteidigung steht im direkten Widerspruch zum Geist von StrunA, weil sie den Ersteinsatz begünstigt und den jeweiligen Gegner dazu reizt, selbst durch vorwegnehmende Schläge dem Ersteinsatz der Gegenseite zuvorzukommen. Sie ist deshalb aus einer Perspektive von Krisenstabilität als höchst problematisch zu bewerten.

Die »Maritime Strategy«

Im Bereich der Flottenstrategien ist die »Maritime Strategy« der U.S. Navy aus dem Jahre 1982 eine äußerst offensive Strategie, obzwar selbstverständlich bloß um der abschreckenden Wirkung willen. In der Tat stellt sie ein Gemisch von verschiedenen strategischen Optionen dar, wie z.B. den folgenden:

  • Strategische U-Boot-Abwehr, die z.B. Pläne für die Jagd auf sowjetische Nuklear-U-Boote unter Anwendung von SSNs (nuclear-powered attack submarines) umfaßt, Operationen, mit denen bereits in der konventionellen Phase eines künftigen Krieges begonnen werden soll. Hierdurch wird z.B. beabsichtigt, die sowjetischen zur Nordflotte gehörenden »general-purpose« Streitkräfte im Umkreis ihrer Stationierung zu binden, um auf diese Weise die Seeverbindungswege weiter südlich zu schützen. Sie beabsichtigt jedoch auch eine Veränderung des nuklearen Gleichgewichts durch das Ausschalten sowjetischer Trägersysteme, u.a. um der folgenden Ziele willen:
  • Nukleare Kriegsführung (oder »counterforce coercion«), unter Anwendung z.B. des erhöhten counterforce-Potentials der Trident-II SLBM (submarine-launched ballistic missile) und der Tomahawk SLCMs (sea-launched cruise missile).
  • 'Direkte militärische Einwirkung' seegestützter Streitkräfte auf das Landgefecht, mit Hilfe u.a. des Marine Corps, der trägergestützten Fliegerkräfte und der seegestützten Marschflugkörper, die gegenwärtig sowohl auf Überwasser- als auch in der U-Bootflotte disloziert werden.
  • Horizontale Eskalation, d.h. die absichtliche Erweiterung eines anfänglich ortsgebundenen Konflikts durch »Vergeltung« anderswo in der Welt.

Obgleich die Maritime Strategie im formalen Sinne noch keine NATO-Strategie darstellt, ist sie für NATO-Zwecke bestimmt (oder wird jedenfalls mit Hinweis auf sie gerechtfertigt), und sie verlangt eine Zusammenarbeit der Verbündeten. Die neuen Flottenkonzepte der NATO wurden demgemäß allmählich modifiziert, um zu einer Übereinstimmung mit der amerikanischen Strategie zu kommen.

Trotz dieser bedeutenden Offensivfähigkeiten auf der konventionellen Ebene, hat sich die NATO traditionell (jedenfalls seit Mitte der fünfziger Jahre) auf die erweiterte Abschreckung durch die USA als dem Hauptpfeiler ihrer »Verteidigung« verlassen. Diese setzt eine Strategie des atomaren Ersteinsatzes voraus. Seit die UdSSR ein atomares Gleichgewicht erreicht hat, hat sich die NATO jedoch gezwungen gesehen, die schwindende Glaubwürdigkeit dieser erweiterten Abschreckung durch sich immer mehr an Kriegsführung und »counterforce« orientierenden Strategien und Streitkräftestrukturen wettzumachen. Die »Schlesinger-Doktrin« der Nixon- und Ford-Regierungen, die »countervailing strategy« der Carter-Regierung als auch deren heutige Ausgabe, die »discriminate deterrence«-Doktrin, sind bloß hervorgehobene Beispiele für diese Tendenz.

Einbeziehung der Atomwaffen und der Seestreitkräfte in die Verhandlungen

Es gibt also tatsächlich eine Reihe von offensiven Elementen in der Strategie und der Streitkräftestruktur der NATO, die aufgegeben werden müßten, wenn glaubhaft defensive Strukturen verwirklicht werden sollen.

Solange die Ost-West-Verhandlungen die See-, Luft- und atomaren Streitkräfte ausklammern, wird sich die NATO zwar fein heraus fühlen. Langfristig jedoch wird die NATO nicht im Stande sein, ihre eigenen offensiven Stärken von den Wiener Verhandlungen auszuklammern.

Besonders die Aussicht auf eine Einbeziehung der Atomwaffen in die Abrüstungsverhandlungen weckt in der NATO Sorgen, weil hierin die Gefahr der Abkoppelung von den USA steckt, und damit die langfristige Perspektive, daß Europa auf eigenen Füssen stehen und die damit verbundenen Kosten aufbringen müsse. Weil es aber höchst unwahrscheinlich ist, daß die NATO im Stande sein wird, die Mittel für mehr als marginale Erhöhungen der Verteidigungshaushalte zu finden, ist »neues Denken« dringend nötig. Wenn ein solches Umdenken nicht zustande kommt, werden wir vielleicht in einer »Kompensations-Hochrüstung« stecken bleiben; d.h. es werden dann alle in Folge des INF-Abkommens entstandene Lücken mit modernisiertem oder neuem Gerät zu füllen versucht. Weil dies ohne Zweifel die jetzt schlummernden Friedensbewegungen erneut zum Leben erwecken würde, steht das westliche Bündnis vor einer schwierigen Lage, wenn es sich außer Stande sieht, sich auf die neue Wirklichkeit einzustellen. Diese aber bietet ihrerseits ganz einmalige Möglichkeiten für die Schaffung von Stabilität auf der konventionellen Ebene.

II. Was die WVO ändern müßte

Die UdSSR und die WVO haben die Idee nicht provozierende Verteidigung (NOD) als ein Kernelement ihres »neues Denkens« über Sicherheitspolitik angenommen: Seit dem Anfang, der durch einige etwas mehrdeutige Bemerkungen seitens Michail Gorbatschows auf dem Parteitag im Februar 1986 gekennzeichnet war, ist inzwischen die Befürwortung unzweideutig. Sie ist eng mit dem Begriff der Gemeinsamen Sicherheit verbunden, den sich die sowjetische Führung nach einer langen Periode dogmatischen Widerstandes zu eigen gemacht hat. Darüberhinaus ist sie mit dem Konzept der »vernünftigen Hinlänglichkeit« verbunden, das Gorbatschow in einem Artikel (Prawda und Iswestija, 17. September 1987) als „eine Struktur der Streitkräfte, die für die Verhinderung möglicher Angriffe genügt, für Angriffe aber nicht ausreicht“, definierte.

Andererseits hat sich diese neue politische Orientierung im gesamten Warschauer Pakt ausgebreitet, wie es vorauszusehen war: In ihrem »Budapester Appell« schlug das Politische Konsultative Komitee der WVO am 11. Juni 1986 tiefe Einschnitte in den konventionellen Streitkräften in der Höhe von 100.000 bis 150.000 Truppen vor. Als ein Weg zur Stärkung der militärischen Stabilität wurde außerdem gefordert, daß die militärischen Konzepte und Doktrinen auf defensive Grundsätze umzuorientieren seien. Ein Jahr später, am 28.-29. Mai 1987, verabschiedete die WVO auf ihrer Tagung in Berlin ein Dokument „Über die Militärdoktrin der Mitgliedsstaaten der Warschauer Vertragsorganisation“, worin ausdrücklich gesagt wurde, daß die WVO sich an einem Militäraufwand, der zur Verteidigung und zur Zurückweisung jeglicher Aggression genügt, zu halten beabsichtige. Die Schaffung von „Zonen verdünnter Waffenkonzentration“ wurde als ein erster Schritt in Richtung einer Rückkehr der Streitkräfte in ihre Heimatländer befürwortet. Letztlich forderte die WVO die NATO zu „Konsultationen“ über eine Analyse und einen Vergleich der militärischen Doktrinen der beiden Blöcke auf.

In manchen dieser Aussagen liegt eine gewisse Zweideutigkeit: Erstens erlaubt die Terminologie Mißverständnisse, weil der sowjetische Gebrauch des Begriffs »Doktrin« mit dem westlichen nicht übereinstimmt, sondern eher das bedeutet, was wir als »grand strategy« bezeichnen würden. Zweitens ist nicht ganz klar, ob die WVO versucht, den Westen davon zu überzeugen, daß ihre Militärdoktrin in jeder Hinsicht bereits defensiv ist, oder ob sie die Bereitschaft signalisiert, sie strikt defensiv zu machen. Während Aussagen der politischen Führung und Veröffentlichungen der unabhängigen »Think-Tanks« in der UdSSR (wie z.B. des IMEMO) die letzterwähnte Interpretation erlauben, scheint das Militär die ersterwähnte Bedeutung zu bevorzugen. Zum Teil wegen dieser Zweideutigkeit herrscht im Westen eine gewisse Uneinigkeit darüber, ob man die WVO-Aussagen ernst nehmen oder ob man sie als Propaganda abtun sollte. Es lassen sich jedoch sowjetische Überlegungen rekonstruieren, die eine defensivere Struktur auch des eigenen Militärs befürworten. Jedenfalls hat eine wachsende Zahl westlicher Analytiker und Politiker inzwischen einen solchen Eindruck gewonnen.

UdSSR: Umstellung auf defensivere Strukturen hat begonnen

Diese Ansicht wurde dadurch bestärkt, daß die UdSSR neuerdings ihre Befürwortung einer vertraglich geregelten Umstellung auf defensivere Strukturen mit einer Reihe von bedeutenden einseitigen Schritten verbunden hat. Der wichtigste und überzeugendste hierunter war selbstverständlich die Ankündigung eines einseitigen Abbaus der sowjetischen Streitkräfte durch Gorbatschow in der UNO im Dezember 1988. Er kündigte den Abbau von einer halben Million Soldaten an, verbunden mit der Zurücknahme von sechs vorne dislozierten Divisionen aus Osteuropa, weiterhin eine Änderung des Waffenprofils der verbleibenden Streitkräfte durch Verminderung von Brückenbaugeräten, von Panzern und Kampfflugzeugen, usw. Solche Vorleistungen tragen selbstverständlich zur Glaubwürdigkeit der sowjetischen Vorschläge bei. Ja, selbst für den Fall, daß es sich um schlaue Propaganda handeln sollte, müßte der Westen solche »Propagandamaßnahmen« wegen ihrer substantiellen Bedeutung willkommen heißen.

Man sollte jedoch aus »Entspannungseuphorie« nie vergessen, daß es tatsächlich einen dringenden Bedarf an Umstellungen der WVO-, und besonders der sowjetischen Streitkräfte, gibt, wie aus der nachstehenden Liste offensiver und bedrohlicher Elemente hervorgeht:

  • Die aus dem Jahre 1968 stammende sogenannte »Breshnew-Doktrin« der begrenzten Souveränität der WVO-Mitgliedsstaaten und die hierdurch gerechtfertigten Militäreinsätze innerhalb des eigenen Bündnisses. Obzwar diese Doktrin jetzt amtlich aufgegeben ist, schwebt die Gefahr ihrer Wiederbelebung noch über den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Verbündeten; sie wird weiterhin durch den Westen als eine mögliche Gefahr wahrgenommen.
  • Die enge sowjetische Kontrolle über die WVO-Streitkräfte, die eine »Bündniskriegsführung« praktisch zu einer »verstärkten sowjetischen Kriegsführung« macht. Wenngleich die Zuverlässigkeit der nicht-sowjetischen Pakt-Streitkräfte in einer durch einen WVO-Angriff auf die NATO ausgelöste Kampagne sehr zweifelhaft ist, stellt die Multinationalität der WVO trotzdem keine so verlässliche Verhinderung der Aggression dar wie ihr Gegenstück, die NATO.
  • Die militärische Intervention in Afghanistan, die zwar tatsächlich durch defensive Sorgen motiviert gewesen sein mag und die gewiß keinen sowjetischen »Meisterplan« widerspiegelt. Trotzdem fürchtet der Westen, daß hierdurch ein Präzendenzfall für Interventionen außerhalb der herkömmlichen Einflußsphären gegeben sein könnte, eine Furcht, die auch durch den eben abgeschlossenen sowjetischen Rückzug nicht ganz beseitigt ist.

Die sowjetische Militärwissenschaft: auf Offensive ausgerichtet

Je weiter wir uns nach »unten« in der theoretischen Hierarchie der sowjetischen Militärwissenschaft von der Ebene der Politik und der »Doktrin« zur Strategie, der operativen Kunst und der Taktik bewegen, je offensiver erscheinen die UdSSR und die WVO. Wenngleich einige Waffengattungen innerhalb des sowjetischen Militärapparates von alters her defensive Kampfformen betont haben, wie z.B. die Flotte und die Luftabwehr, wird durch die führende Waffengattung, das Rote Heer, die Offensive stark betont, wie aus den nachfolgenden Beispielen ihrer strategischen Konzeptionen hervorgehen wird:

  • Die am weitesten verbreiteten sowjetischen Lehrbücher im Bereich der militärischen Strategie zeigen eine unmißverständliche Vorliebe für die Offensive auf. Obgleich manche von ihnen vielleicht heute als veraltet gelten, sind die Folgebände jedoch noch nicht geschrieben. Im übrigen muß man mit einem mehrjährigen Lernprozeß rechnen, während dessen da sowjetische Offizierskorps sich mit den neuen Konzeptionen vertraut macht.
  • Jedenfalls bis vor kurzem hat die UdSSR an einer »Blitzkrieg«-Strategie festgehalten, was vielleicht im Lichte ihrer Schwächen bei der Mobilisierung industrieller und anderer Ressourcen verständlich ist, jedoch trotzdem die NATO mit dem am meisten gefürchteten schnellen fait accompli konfrontiert.
  • Hohes Gewicht wird, sowohl im Bereich der Taktik als auch in der operativen Kunst, auf hohe Mobilität und ein hohes Tempo der Gefechtsoperationen gelegt. Deshalb die gestaffelte Strukturierung des Militärapparates, aber auch die Betonung der quantitativen Größenordnung der Rüstung.
  • Das Überraschungsmoment im Kriege ist immer betont worden. Dies sei zu erreichen durch einen umfassenden Gebrauch von Tarnungsmaßnahmen sowie durch den allgemeinen Grundsatz des frühen vorwegnehmenden Schlags (Präemption). Weil dieselben Grundsätze auf der strategischen Ebene angewandt werden könnten, fürchtet der Westen verständlicherweise, daß die UdSSR in Übereinstimmung mit ihrer Betonung der Präemption während eines bereits im Gang befindlichen Krieges, auch den Krieg selbst präemptiv auslösen könnte.
  • Seit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren werden »tiefe Operationen«, die die Anfänge der sowjetischen operativen Kunst kennzeichnen, wieder betont. Die Planungen schreiben vor, solche tiefen Operationen unter Anwendung von OMGs (operationelle Manövergruppen) sowie mit Luftsturmbrigaden (air assault brigades) und vergleichbare Spezialtruppen (»speznaz«) usw. zu unternehmen.

Offensive Elemente in der Streitkräftestruktur

Zu diesen offensiven Elementen der Militärwissenschaft kommen noch eine Reihe von offensiven Elementen der sowjetischen Streitkräftestruktur, wie z.B.:

  • Das Vorhandensein überall in den sowjetischen Streitkräften von großen Mengen von Waffensystemen, die zu Offensivoperationen äußerst geeignet wären, wie z.B. Kampfpanzer, Schützenpanzer, schwere Selbstfahr-Artillerie, »operativ-taktische« Raketen, Jagdbomber und Hubschrauber, nukleare und chemische Munition, aber auch auf Offensive ausgelegte Logistikkomponenten, wie z.B. Brückenbaugerät. Die sowjetische Bekanntmachung, daß sie einseitig ihr chemisches Arsenal vernichten werde, ist jedoch ein sehr bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung.
  • Die Vornedislozierung in Osteuropa von vielen offensiv-tauglichen Divisionen in einem hohen Bereitschaftsstand, die nach westlichen »worst-case Analysen« der UdSSR die Option eines Angriffs aus dem Stand auf die Bundesrepublik geben. Das Hauptproblem in dieser Hinsicht sind natürlich die 19 Divisionen (mitsamt den kleineren Verbänden) der GSFG (Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland), die fast ausschließlich zu den »Kategorie A«-Divisionen gehören, und die mit ungefähr 90 Prozent ihres Personals undf mit den obenerwähnten Waffensystemen fast kampfbereit dastehen. Die sowjetische Bekanntgabe, daß sie sechs vorne dislozierte Divisionen aus Osteuropa zurückzunehmen beabsichtige, sollte durch den Westen als ein bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung bewertet werden, wenngleich auch nach dem Vollzug dieses Schrittes allzu viele Divisionen noch übrigbleiben.

Ungeachtet, daß die UdSSR die Unmöglichkeit, einen Atomkrieg zu gewinnen, anerkannt und sich zum Nichtersteinsatz (NFU) ihrer Atomwaffen einseitig verpflichtet hat, als auch im Rahmen des INF-Abkommens in ihrem Arsenal zu tiefen asymmetrischen Einschnitten bereit war, enthält die sowjetische Streitkräftestruktur trotzdem immer noch eine breite Palette von Gefechtsfeld- und kurzreichenden Atomwaffen, die mit ihrer NFU-Politik unvereinbar sind und die eher die Betonung von Nuklearwaffen in der Vergangenheit widerspiegeln.

Glasnost im Militärbereich

Eine der wichtigsten Voraussetzungen einer glaubwürdigen Annahme des Konzepts nichtoffensiver Verteidigung durch die UdSSR wäre eine größere militärische Offenheit. Die Sowjetunion scheint auf dem richtigen Gleis sich zu befinden, sowohl mit ihrer allgemeinen Glasnost-Politik als auch mit ihrer veränderten Einstellung gegenüber Vor-Ort-Inspektionen im Rahmen von Rüstungskontrollabkommen, und mit den Versprechungen einer Veröffentlichung von glaubwürdigen und detailliert ausgebreiteten Daten über die sowjetische Streitkräftestruktur und Rüstung.

Wandel der Bündnisbeziehungen im Warschauer Pakt

Eine weitere Voraussetzung wäre ein (gänzlicher oder teilweiser) Rückzug aus Osteuropa und ein Wandel der Bündnisbeziehungen innerhalb der WVO: In dem Maße, in dem die osteuropäischen Länder eine größere Eigenständigkeit erreichten oderr anders ausgedrückt: in dem Maße, in dem das östliche Bündnis sich in eine integrierte Koalition von Gleichen umwandelte, würde die Offensivfähigkeit verringert werden. Einerseits könnte eine Rollendifferenzierung hierzu beitragen: Wenn die sowjetischen Streitkräfte, die noch in der DDR verbleiben, von der Unterstützung durch die Nationale Volksarmee oder anderer Bündnispartner abhängig gemacht würden, würde dies ihre eigenständigen Offensivoptionen beschränken. Andererseits würde eine solche Entwicklung jedoch die Alternative ausschließen, eigenständige defensive Raumverteidigungskonzepte in den einzelnen osteuropäischen Staaten zu entwickeln, was ebenfalls Offensivoptionen (jedenfalls vom Ost-West-Typus) begrenzen könnte.

Bei diesen beiden Optionen gibt es offensichtlich Vor- und Nachteile, die jede Wahl erschweren. Die letzterwähnte Möglichkeit würde die größte Herausforderung an die UdSSR darstellen, weil eine Einführung von Raumverteidigungsstrukturen durch ihre Verbündeten die Möglichkeiten sowjetischer Interventionen ernsthaft gefährden würde und deshalb ihren Rang als Hegemonialmacht sogar in Frage stellen könnte. Ein weiteres ernstes, obgleich bisher fast unbemerktes Problem könnte die Gefahr einer Eskalation von »kleinen« nationalen Konflikten innerhalb Osteuropas sein. Der heutige ungarisch-rumänische Streit ist nur einer unter vielen bisher latenten Streitigkeiten, die unter der Oberfläche schlummern, jedoch bisher durch den Ost-West-Konflikt, als auch durch die sowjetische Hegemonie überlagert wurden. Aus westlicher Sicht könnten beide Optionen aus sicherheitspolitischen Gesichtspunkten annehmbar sein, wenngleich die letzterwähnte zu bevorzugen wäre. Selbstverständlich muß jedoch die schwierige Wahl zwischen den Optionen durch die betroffenen Länder in Übereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen der Demokratie und des nationalen Selbstbestimmungsrechtes getroffen werden.

Bjørn Møller arbeitet am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität zu Kopenhagen.