Der START-II Vertrag

Der START-II Vertrag

Ein Schritt auf dem Weg zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung?

von Matthias Dembinski • Jürgen Wilzewski

Am 3. Januar 1993 unterzeichneten der scheidende amerikanische Präsident Bush und der russische Präsident Jelzin mit dem START-II Vertrag zur Reduzierung der nuklearen Waffen interkontinentaler Reichweite ein Abkommen, dem man zurecht das Attribut »historisch« zuordnen kann. Im Verein mit den 1991 und 1992 von beiden Seiten verkündeten unilateralen Abrüstungsinitiativen wird START-II nachhaltig in die Rüstungsdynamik eingreifen, die atomaren Potentiale drastisch verringern und den Prozeß der Rüstungsmodernisierung im nuklearen Bereich zumindest vorläufig praktisch zum Erliegen bringen.

Perspektivisch könnte der Vertrag sogar wieder den Blick auf die allgemeine und vollständige nukleare Abrüstung öffnen, ein Ziel, das in der Nachkriegszeit mit viel diplomatischer Energie, aber nach dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunden mit zunehmend weniger Überzeugungskraft verfolgt worden war, und das erst Anfang der sechziger Jahre von dem bescheideneren, dafür aber damals realistischeren Konzept der Rüstungskontrolle abgelöst wurde. START-II steht zwar in der Tradition der Rüstungskontrolle, weist aber deutlich über sie hinaus. Die Unterschiede im Kontext und der Substanz sind gewaltig.

Mit dem endgültigen Scheitern der Gespräche um allgemeine Abrüstung im Rahmen der UNO Ende der fünfziger Jahre anerkannten die damaligen Supermächte, daß das zwischen ihnen bestehende Mißtrauen und die scheinbar unüberbrückbaren ideologischen und machtpolitischen Interessengegensätze einen Verzicht auf die stärkste Waffe in ihrem Arsenal nicht zuließ. Andererseits drohte die technologische Dynamik das als prekär wahrgenommene »Gleichgewicht des Schreckens« zu gefährden. Ein globaler Nuklearkrieg, ausgelöst durch eine krisenhafte Verstrickung oder eine Fehlreaktion der politisch-technischen Entscheidungs- und Kontrollsysteme, erschien als die zentrale Bedrohung. Die Rüstungskontrolle sollte die, durch die technologische Entwicklung bedingten Risiken verringern und die Abschreckung stabilisieren. Entsprechend trugen die in den siebziger Jahren ausgehandelten SALT-Verträge und auch der START-I Vertrag denn auch kaum zur Abrüstung bei. Und selbst ihr Beitrag zur Stabilisierung der Rüstungsdynamik fiel eher bescheiden aus, weil in der Regel die geringen quantitativen Begrenzungen durch qualitative Modernisierungen mehr als wettgemacht wurden.

Die Abrüstungsschritte

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich der Charakter der Rüstungskontrolle radikal verändert. Die Reduzierung der nuklearen Arsenale rückte ins Zentrum. Die Abrüstung erfolgte von einem sehr hohen Niveau. Bis Mitte der achtziger Jahre hatte die UdSSR ca. 33.000 nukleare Gefechtsköpfe produziert. Als die Sowjetunion Ende 1991 endgültig aufgelöst und von der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« ersetzt wurde, waren die sowjetischen Streitkräfte immer noch mit mindestens 27.000 Atomwaffen ausgerüstet. Die USA verfügten zu diesem Zeitpunkt über ca. 20.000 nukleare Gefechtsköpfe.

Den Auftakt zum dramatischen Abrüstungswettlauf machte Präsident Bush am 27. September 1991 mit der Ankündigung unilateraler Reduzierungen. Gorbatschow beantwortete diese Initiative ebenso umgehend, wie der russische Präsident Anfang 1992 eine zweite amerikanische Abrüstungsofferte. Den vorläufigen Abschluß in diesem Prozeß nuklearer Abrüstung setzen dann beide Seiten mit dem START-II-Vertrag.

Der taktische Bereich

Von diesen Maßnahmen wird das gesamte Arsenal der atomaren Rüstung betroffen, angefangen von taktischen bis zu den interkontinentalen Waffen. Die USA haben im Bereich der taktischen Waffen folgende Schritte angekündigt:

  • alle 1.300 in Europa stationierten nuklearen Artilleriegranaten und alle 850 Sprengköpfe für die Lance-Kurzstreckenrakete werden abgezogen; die Gefechtsköpfe demontiert. Die NATO-Verteidigungsminister haben darüber hinaus beschlossen, die luftgestützten taktischen Nuklearwaffen in Europa um die Hälfte auf 700 Stück abzubauen.
  • Die 150 noch in Südkorea befindlichen Nuklearwaffen werden abgebaut und ebenso wie die in den USA selbst stationierten Artilleriegranaten und Kurzstreckenraketen vernichtet.
  • Alle taktischen Nuklearwaffen der Marine und des Marinekorps werden von den Schiffen und Basen der landgestützten Marineflugzeuge entfernt. Betroffen sind insgesamt 2.150 Gefechtsköpfe, darunter auch alle 350 hochmodernen seegestützen Marschflugkörper. Die Marschflugkörper sowie 450 Nuklearbomben der Trägerflugzeuge werden auf Dauer eingelagert; die restlichen Gefechtsköpfe demontiert.

Insgesamt sind ca. 5000 taktische Atomwaffen betroffen; der überwiegende Teil wird demontiert.

Mit diesem Schritt geht eine Ära zuende. Mit der Armee und dem Marinekorps verlieren zwei Teilstreitkräfte vollständig ihre nukleare Rolle. Auch die operativen Einheiten der Marine (mit Ausnahme der strategischen U-Boote) und die meisten Verbände der Luftwaffe werden nicht mehr über Nuklearwaffen verfügen.

Mit ähnlichem Tempo verlief die Abrüstung auf Seiten der Sowjetunion bzw. Rußlands. Gorbatschow hatte angekündigt,

  • alle nuklearen Sprengköpfe für taktische Raketen, Artilleriegranaten und nukleare Minen zu verschrotten (zusammen mindestens 6.800 atomare Sprengköpfe),
  • die nuklearen Sprengköpfe der Luftabwehrraketen abzubauen, zur Hälfte zu demontieren, zur anderen Hälfte in zentralen Lagern zu deponieren (betroffen sind bis zu 2.700 Gefechtsköpfe),
  • alle taktischen Waffen der Marine abzuziehen. Ein Drittel soll zerstört, zwei Drittel eingemottet werden (zusammen ca. 3.400).

Insgesamt sollen ca. 13.000 taktische Nuklearwaffen abgerüstet werden. Auch hier ist vorgesehen, den überwiegenden Teil zu demontieren.

Der strategische Bereich

Ähnlich einschneidend gestaltet sich auch der Abbau der strategischen Arsenale. Bereits die zwei Runden einseitiger Maßnahmen greifen nachhaltig in die Rüstungsdynamik ein. Beide Seiten verpflichteten sich zum einen, die Alarmbereitschaft ihrer strategischen Waffen zu reduzieren. Konkret werden die Atomwaffen der schweren Bomber in zentralen Depots gelagert und die elektronischen Leitsysteme der Raketen deaktiviert, die im Rahmen des START-I Vertrages abgebaut werden sollen. Zum anderen kündigten beide Seiten einen Stop der Entwicklung und Produktion neuer Atomsprengköpfe und Trägersysteme an. Zum ersten Mal seit 1945 werden von der USA und der UdSSR bzw. GUS weder neue Nuklearwaffen noch Trägersysteme entwickelt oder gebaut.

Das START-II Abkommen ergänzt die unilateralen Modernisierungsverzichte durch weitere einschneidende Reduzierungen. Der Vertrag sieht vor, bis zum Jahr 2003 (bis 2000 falls die USA Rußland bei der Implementierung der Vertragsbestimmungen helfen) die Anzahl der strategischen Waffen auf 3.000 – 3.500 Gefechtsköpfe zu reduzieren. Dies entspricht einer Abrüstung um mindestens zwei Drittel.

Beachtlich sind nicht nur die quantitativen Aspekte. START-II verbietet alle landgestützten Raketen mit Mehrfachgefechtsköpfen. Dieser Bestimmung hat Rußland nur nach erheblichen Kontroversen zugestimmt, weil schwere landgestützte Raketen das Rückgrat der sowjetischen Abschreckung bildeten. Im Gegenzug fanden sich die USA zu einer weitgehenden Reduzierung der auf seegestützten Raketen montierten Gefechtsköpfe bereit. Wirkungsvollen Beschränkungen unterliegen auch die strategischen Bomber. Hier hatte START-I mit der Bestimmung, Bombenflugzeuge nur mit einem Sprengkopf »anzurechnen«, obwohl sie bis zu 20 tragen können, erhebliche Lücken enthalten. Unter START-II werden Bomber mit der Bewaffnung gezählt, die sie maximal tragen können. Es ist beiden Seiten erlaubt, vormals nuklearfähige Bomber zu Trägern von konventionellen Bomben umzurüsten. Diese Flugzeuge müssen nicht mehr auf die Höchstgrenzen des Vertrages angerechnet werden, unterliegen aber einer besonderen Überwachung.

Eine neue Entwicklung in der Geschichte der Rüstungskontrolle stellen Bestimmungen dar, die darauf abzielen, bei der Abrüstung Geld zu sparen. Beispielsweise dürfen beide Seiten Raketen, die bisher mit mehreren Gefechtsköpfen bestückt waren, so umrüsten, daß sie weniger bzw. nur noch einen Gefechtskopf transportieren können. Die schweren SS-18 Raketen Rußlands müssen zerstört werden, indem sie entweder zerschnitten oder als Trägerraketen zum Transport von Satelliten ins All geschossen werden. Ihre Silos müssen nicht alle zerstört werden; zum Teil dürfen sie umgebaut und zum Aufstellen der kleinen SS-25 Raketen benutzt werden.

Neu ist auch die große Offenheit bei der Überwachung des Abkommens. Neben umfassenden Ausgangsinspektionen, Verdachtsinspektionen, permanenten Inspektionen von Produktionsanlagen und einer Überwachung der Vernichtung von Waffen haben sich die Vertragsparteien sogar das Recht zugesichert, das Allerheiligste selbst, die Raketen und deren Gefechtsköpfe sowie das Innere der Bomber der anderen Seite inspizieren zu dürfen.

Begleitet wird die Abrüstung durch zwei weitere Maßnahmen. Die USA und Rußland haben ein Ende der Produktion von spaltbarem Material für militärische Zwecke verfügt bzw. fest in Aussicht gestellt (in Rußland wird einer der Plutonium-produzierenden Reaktoren vorläufig noch zur Energiegewinnung weiter betrieben). Weil diese Maßnahmen rein unilateralen Charakter haben und eine Überprüfung (noch) nicht vorgesehen ist, muß ihr abrüstungspolitischer Wert allerdings relativiert werden. Wichtiger sind die Moratorien der Nuklearwaffentests, die, von Gorbatschow initiiert, mittlerweile von Rußland, Frankreich, den USA und damit notgedrungen auch von Großbritannien eingehalten werden (das Vereinigte Königreich testet seine Atomsprengköpfe mangels eines eigenen Geländes auf dem amerikanischen Testgelände in Nevada). Die Aussichten, das seit den fünfziger Jahren verfolgte Ziel eines umfassenden Teststopp-Vertrages zu erreichen, haben sich damit entscheidend verbessert.

Abgesehen von dem Teststopp haben sich die nuklearwaffenbesitzenden »Drittstaaten« Frankreich, Großbritannien und China an der Abrüstung bisher nicht beteiligt. Alle drei Staaten werden die Anzahl ihrer Atomwaffen in der nächsten Dekade erhöhen. Dadurch wird die Differenz zwischen den Potentialen der Drittstaaten und der früheren Supermächte abnehmen.

Die Konsequenzen

Durch den START-Vertrag und die einseitigen Maßnahmen wird der nukleare Rüstungswettlauf beendet, der Modernisierungsprozeß gestoppt, die atomaren Arsenale drastisch reduziert und die strategische Stabilität erhöht. Allein die quantitativen Größenordnungen sind beachtlich. Von 1990 bis zum Jahr 2000 wird sich die Anzahl der weltweit vorhandenen Nuklearwaffen von knapp unter 50.000 auf deutlich unter 10.000 verringern. Damit wird der Stand der späten fünfziger Jahre wieder erreicht. Wenn es gelingt, die gegebenen Versprechen zu implementieren, wird sich die Anzahl der amerikanischen Nuklearwaffen von 20.000 auf 3.500 bis 4.000 verringern. Das früher 27.000 – 33.000 Gefechtsköpfe umfassende sowjetische Arsenal wird bis auf 3.000 – 3.500 Waffen in russischem Besitz schrumpfen. (siehe Grafik)

Im Gegensatz zu den früheren Rüstungskontrollabkommen betrifft START-II nicht nur die quantitativen Aspekte der Rüstungsdynamik.

Das Abkommen wird zu einer deutlichen Stabilisierung der nuklearen Balance führen. Die Möglichkeit, daß eine oder – noch gefährlicher – beide Seiten in die Lage kommen könnten, die Raketensilos, Bomberbasen und unterirdischen Befehlszentralen der anderen Seite zu zerstören, galt während des Ost-West-Konflikts als eine zentrale Gefährdung. Die auf dieser Situation beruhenden, wenn auch allenfalls nur theoretisch denkbaren Erstschlagsszenarien haben die Rüstungsdynamik wesentlich angetrieben und hätten womöglich in einer Krise eine wechselseitige Politik der Zurückhaltung und Deeskalation unterlaufen. Faktoren, die die Fähigkeit zum entwaffnenden Erstschlag beeinflussen, sind neben der Zielgenauigkeit das Verhältnis von Raketensilos, also potentiellen Zielpunkten, und Gefechtsköpfen. Während des Ost-West-Konflikts ist dieses Verhältnis auf beiden Seiten von den an anwendbaren Optionen interessierten militärischen Führungen durch die Bestückung der Raketen mit möglichst vielen Gefechtsköpfen ständig zugunsten der offensiven Optionen verändert worden.

START-II wird bei dem besonders stabilitätsanfälligen Segment der landgestützen Rüstung die Eins-zu-Eins Symmetrie zwischen Raketensilos und Gefechtsköpfen wieder herstellen. Zusätzlich werden auf beiden Seiten auch die besonders zielgenauen Waffen abgebaut. Dadurch werden Erstschlagsszenarien künfig selbst theoretisch undenkbar. Mit Unterzeichnung des Vertrages haben beide Seiten akzeptiert, daß Nuklearwaffen nicht zur Durchsetzung machtpolitischer Interesse taugen.

Insgesamt wird sich der Charakter der Abschreckung grundsätzlich ändern. Waren früher auf beiden Seiten alle Teilstreitkräfte mit Nuklearwaffen ausgerüstet, werden diese künftig unter der Kontrolle eines Kommandos zentralisiert. War früher fast jede militärische Einheit mit Nuklearwaffen ausgestattet, werden sie künftig nur noch gut gesichert in wenigen Depots, Silos und auf U-Booten zu finden sein. Damit findet auch die früher umfassende Nuklearisierung der militärischen Einsatzpläne ein Ende. Künftig werden die Militärs nicht mehr selbstverständlich unter der Annahme planen, daß zum Abschluß eines Gefechtes Nuklearwaffen zum Einsatz kommen. Auch in der militärischen Beurteilung und Perzeption deuten sich bereits weiterreichende Änderungen an.

Interessen und Motive

Wie ist diese neue Abrüsungsbereitschaft zu erklären? Handelt es sich lediglich um einen kurzfristigen, leicht umkehrbaren Trend? Ist möglicherweise eine Verlagerung der Rüstungsdynamik in andere, nicht kontrollierte Bereiche zu erwarten? Oder ist mit einer Fortsetzung der Abrüstung zu rechnen? Die gewandelte Politik der früheren Supermächte läßt sich mit zwei Interessen, das amerikanische Verhalten mit einem zusätzlichen Motiv erklären.

Erstens haben die politischen Führungen in Ost und West akzeptiert, daß die überdimensionierten Atomwaffenarsenale nicht mehr in die neue Zeit passen und ein Dialog über ihre Reduzierung allein schon geboten ist, um dem wechselseitigen Entstehen neuerlicher Bedrohungen und Feindbilder vorzubeugen. Mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion wurde ihnen zweitens schlagartig bewußt, daß das riesige sowjetische Atomwaffenarsenal eine erhebliche und konkrete Bedrohung darstellt.

Zum einen zeichnet sich ein Konflikt zwischen Rußland und den ehemaligen sowjetischen Republiken Ukraine, Kasachstan und Weißrußland über den Besitz und die Kontrolle der auf dem Territorium dieser Republiken stationierten Nuklearwaffen ab. Sollte es nicht gelingen, die nukleare »Erbfolge« auf Rußland zu beschränken, drohen schwer zu kalkulierende, aber potentiell katastrophale Konsequenzen für die gesamte Region und ihre Umgebung. Zum anderen könnten die zentrale Kontrolle über den Nuklearwaffenkomplex verloren gehen und in der Folge Waffen in die Verfügungsgewalt subnationaler Organisationen gelangen oder außer Landes geschmuggelt werden. Und selbst wenn es gelänge, alle Atomwaffen unter zentraler Kontrolle in Rußland zu konsolidieren, würden diese schon aufgrund der instabilen Lage in Rußland selbst auf Dauer ein nicht zu tolerierendes Sicherheitsrisiko darstellen.

Mit Hilfe einer Strategie kooperativer Denuklearisierung sollen zum einen die anderen Republiken bewegt werden, die Nuklearwaffen auf ihrem Territorium aufzugeben, soll zum anderen das Risiko eines nuklearen Unfalls oder Diebstahls reduziert und die langfristigen Risiken durch weitgehende Abrüstung minimiert werden.

Probleme und Hindernisse

Diese Ziele konnten bisher nur teilweise erreicht werden. Am weitesten fortgeschritten ist noch die Abrüstung im taktischen Bereich. Die USA haben (bis auf die 700 Bomben) sämtliche Atomwaffen aus Europa, Südkorea und von den Schiffen abgezogen. Sie befinden sich in Lagern in der Nähe der Pantex-Fabrik in Amarillo/Texas, wo sie demontiert werden sollen. Auch der Transport aller taktischen Nuklearwaffen der früheren Sowjetunion nach Rußland ist abgeschlossen. Hier sind vier Fabriken, allerdings mit geringer Kapazität, zur Demontage technisch in der Lage.

Dagegen steht die Abrüstung im strategischen Bereich bisher weitgehend nur auf Papier. START ist ein Abkommen auf Abruf. Das russische Parlament hat die Ratifizierung der START-Verträge an die Bereitschaft der anderen Republiken geknüpft, völkerrechtlich verbindlich ihrer Denuklearisierung zuzustimmen und dem Nichtverbreitungsvertrag als nuklearwaffenfreie Staaten beizutreten. Zu diesem Schritt waren bisher nur Weißrußland und Kasachstan bereit. Hingegen scheint die Ukraine von dem Versprechen abzurücken, die auf ihrem Territorium dislozierten Nuklearwaffen aufzugeben.

Daneben bereitet die sichere Entsorgung der Hinterlassenschaften von über vierzigjähriger nuklearer Gigantomanie erhebliche Schwierigkeiten. Neben der Beseitigung der Umweltaltlasten geht es insbesondere um die sichere Lagerung und den Transport der Gefechtsköpfe sowie um deren Demontage und die dauerhafte Beseitigung des spaltbaren Materials. Eine konzertierte westliche Aktion soll hier das Schlimmste verhindern helfen. Von den USA und westeuropäischen Ländern wurde technische und finanzielle Unterstützung, unter anderem beim Design und Bau von Atomwaffenlagern angeboten. Die USA haben einen Vertrag zum Aufkauf des mit der Abrüstung freiwerdenden hochangereicherten Urans geschlossen. Von besonderer Dringlichkeit wäre eine internationale Inspektion und Kontrolle des nuklearen Komplexes der ehemaligen UdSSR. Die USA haben eine solche Forderung bisher nicht erhoben, weil Rußland auf einer entsprechenden Beschränkung der amerikanischen Souveränität bestehen könnte. Hier sind die kernwaffenfreien Staaten gefordert, ihre Interessen an Transparenz und Kontrolle auch gegenüber den USA zum Ausdruck zu bringen.

Allein mit der Sorge um die Stabilität des sowjetischen Nuklearwaffenarsenals läßt sich das amerikanische Verhalten nicht vollständig erklären. Hinzu tritt ein weiteres, strukturelles Interesse an nuklearer Abrüstung, das sich seit den späten achtziger Jahren nachweisen läßt. Es reagiert auf die zunehmende Konvergenz zwischen den Feldern nuklearer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik einerseits und nuklearer Nichtverbreitungspolitik andererseits. Auch die militärische Führung der USA hat akzeptiert, daß Nuklearwaffen als Instrumente amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik relativ bedeutungslos geworden sind. Ihre Abschreckungsfunktion im Ost-West-Kontext ist weitgehend überflüssig geworden; im Kontext regionaler Konflikte stellen sie sogar eine erhebliche Bedrohung dar. Ob Abschreckung in diesem Kontext funktionieren würde, ist überaus fraglich; ein tatsächlicher Einsatz von Nuklearwaffen wäre aber nicht nur moralisch tabuisiert; gegen ihn spräche auch die militärische Rationalität. Damit ist nicht impliziert, daß Nuklearwaffen in jedem Fall bedeutungslos sind. In den Händen eines Regimes, das nicht entsprechend den Werten und Mustern westlicher Rationalität agiert, können Nuklearwaffen ein gewaltiges Terrorinstrument darstellen.

Der Bedeutungsverlust nuklearer Waffen wird durch eine zweite Entwicklung verstärkt. Infolge der Revolutionierung der Zielerfassungs- und Steuerungstechnologien können die meisten der militärischen Aufgaben, für die früher der Einsatz nuklearer Waffen als unabdingbar galt, mittlerweile ebenso effektiv von fortgeschrittenen konventionellen Waffen übernommen werden. Konventionelle Rüstung wird zu einer politisch und militärisch überzeugenden Alternative zu nuklearen Waffen. Auch hier ist eine wichtige Einschränkung vorzunehmen. Über derartig fortgeschrittene Technologien werden in absehbarer Zeit nur die USA verfügen. Die auf den konventionellen Fähigkeiten beruhende militärische Überlegenheit der USA wäre in ihrer politischen Wirkung nur zu erschüttern, falls es einem amerikanischen Gegner gelingen sollte, einen nuklearen Faktor in diese Gleichung einzubringen. Der zweite Golf-Krieg hat diesen Zusammenhang ins Bewußtsein gebracht. Das bedeutet, daß die USA an allgemeiner nuklearer Abrüstung interessiert sein könnten, wenn sich dadurch eine globale Begrenzung nuklearer Waffen sichern ließe.

Natürlich bezeichnen diese Ausführungen zunächst nur ein Kalkül und keine Garantie, daß die USA am Kurs nuklearer Abrüstung festhalten werden. Die bürokratischen, zum Teil auch psychologischen Widerstände gegen eine Aufgabe der früher prestigeträchtigen Nuklearrüstung sind gewaltig. Es ist aber auch nicht mehr auszuschließen, daß sich Präsident Clinton oder sein Nachfolger zu einem Protagonisten der allgemeinen und vollständigen nuklearen Abrüstung entwickelt.

Tabelle I: Unilaterale Initiativen der USA und der
UdSSR/GUS zur Reduzierung der strategischen Rüstung 1991/1992
USA UdSSR/GUS
Verzicht auf die MX-ICBM. Ende der Produktion der SS-24 ICBM.
Verzicht auf die Midgetman ICBM. Stop der Entwicklung einer kleinen ICBM.
Abbruch der Entwicklung des nuklearen SRAM-II Abstandsflugkörpers. Abbruch der Entwicklung einer nuklearen Angriffsrakete.
Stop der Produktion des B-2 Bombers über die bereits produzierten
20 Flugzeuge hinaus.
Einstellung der Produktion weiterer schwerer Bomber.
Ende der Produktion der luftgestützten Marschflugkörper zweiter
Generation (ACM) über die bereits gebauten 640 Stück hinaus.
Stop der Produktion des W-88 Sprengkopfes für die Trident-II
U-Boot-Rakete.
Ende der ständigen Alarmbereitschaft strategischer Bomber. Ende der Alarmbereitschaft der strategischen Bomber.
Ende der Alarmbereitschaft von 450 Minuteman Gefechtsköpfen. Ende der Alarmbereitschaft von 503 ICBM's mit 1094
Stop der Patroullietätigkeit von 10 U-Booten mit mindestens 1.600
Gefechtsköpfen.
Vorzeitige Außerdienststellung von 6 U-Booten mit 92 Raketen.

Matthias Dembinski ist Mitarbeiter in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main (HSFK) und Jürgen Wilzewski arbeitet an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Eine kommunale Initiative zur Rüstungskonversion: Programm zur Umweltverbesserung und Ressourcen-Schonung (PUR)

Eine kommunale Initiative zur Rüstungskonversion: Programm zur Umweltverbesserung und Ressourcen-Schonung (PUR)

von Michaela Simon

Das plötzliche Ende des Kalten Krieges, die bereits erzielten Abrüstungserfolge und die in jüngster Vergangenheit verkündeten Abrüstungsabsichten der SU und der USA haben euphorische Erwartungen ausgelöst, daß die riesigen und ungeheuer kostspieligen Waffenarsenale abgebaut und auch ihre Produktion verringert bzw. drastisch eingeschränkt werden könnte. Die dadurch freiwerdenen Ressourcen könnten dann für Projekte und Produkte eingesetzt werden, die die Welt, die Länder und Regionen weit dringlicher benötigen als Waffen mit – in der Summe – -zigfacher overkill-Kapazität.

Es gibt bereits Anzeichen, daß sich ein realer Wandel vollzieht: Die verschiedenen Abkommen über Truppenreduzierungen mit der SU, die Reduzierungen der Bundeswehr und die Ergebnisse der KSZE- und VKSE-Verhandlungen des vergangenen Jahres signalisieren es.

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß der militärisch-industrielle Komplex weiter existiert und per se daran interessiert ist, seine Mittel zur Bereitstellung militärischer Hardware zu erhalten.

Auch in den von staatlichen Aufträgen weitgehend abhängigen und vor Konkurrenz geschützten rüstungsproduzierenden Unternehmen grassiert die »Angst vor der Zukunft«, d.h. auf der einen Seite die Angst vor dem Verlust lukrativer Gewinne und dem Verlust der im Rüstungsgeschäft üblichen Absatzsicherheit und auf der anderen Seite die Angst um Arbeitsplätze.

Zwei sich hier anbietende und sinnvolle Lösungsstrategien sind Produktdiversifikation und Rüstungskonversion.

Produktdiversifikation wird in zahlreichen Unternehmen angewandt und auch durch die Tatsache erleichtert, daß es sich in der Bundesrepublik bei rüstungsproduzierenden Unternehmen nur in wenigen Fällen um reine Rüstungsbetriebe handelt, sondern vielmehr um Mischbetriebe, die einen mehr oder weniger großen Anteil an ziviler Produktion haben, der ausbau- und erweiterungsfähig ist.

Dagegen läßt sich ein Trend zur Rüstungskonversion als Strategie zur Arbeitsplatzerhaltung und Möglichkeit der Umstellung der Rüstungsproduktion vor dem Hintergrund unbefriedigter gesellschaftlicher Bedürfnisse nicht ausmachen.

Die Ursachen für das eher abwartende Taktieren der deutschen Rüstungshersteller sind dabei in fehlenden politischen Rahmenbedingungen, der Hoffnung auf weitere oder fortlaufende Rüstungsaufträge und nicht zuletzt in mangelnder Marktkenntnis, was die zivilen Produktlinien betrifft, zu suchen.

Zu den politischen Rahmenbedingungen muß festgestellt werden, daß weder die Bundesregierung noch das BMVg bisher konkrete Konzepte und Planungsvorschläge zur Industrie- und Standortkonversion vorgelegt hat. Gerade vor dem Hintergrund der spezifischen Struktur der deutschen Rüstungsindustrie, die durch eine hohe Konzentration auf wenige Branchen, Unternehmen und Regionen gekennzeichnet ist und sich somit durch ausbleibende Rüstungsaufträge große regionale und kommunale Anpassungsschwierigkeiten bereits abzeichnen, ist die »laissez-faire-Haltung« der Bundesregierung nicht nachvollziehbar.

Diese Einstellung hat zur Folge, daß bis dato sowohl Länder wie auch Kommunen mit einer hohen Konzentration von Rüstungsunternehmen oder Truppenstationierungen auf Eigeninitiativen angewiesen sind. Ein naheliegender und sinnvoller Ansatz, Lösungen für kommunale Problembereiche einerseits und die rüstungsunabhängige Arbeitsplatzsicherung in einem Rüstungsunternehmen andererseits zu suchen, stellt das Augsburger Projekt zur »Umweltverbesserung und Ressourcenschonung (PUR)« dar.

Entstehung der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) PUR

Die neue Herangehensweise des PUR-Programmes besteht darin, eine Verknüpfung zwischen konkreten kommunalen Bedarfsfeldern der Umweltvorsorge und Umweltentlastung, der Verbesserung öffentlicher Verkehrssysteme und der Energieversorgung und betrieblichen Potentialen zur Konversion bzw. Diversifikation herzustellen.

Die Initiative des Augsburger Projekts ging von Arbeitnehmervertretern der IG-Metall bei MBB-Augsburg aus, die bereits seit Anfang der 80er Jahre (1982) Handlungsalternativen mit dem Ziel aufzeigen, Beschäftigungsperspektiven an einzelnen Standorten zu eröffnen und die Breite vorhandener Qualifikationen und Technologien als Voraussetzung für endogene (innerbetriebliche) Innovationsfähigkeit und Konversion zu sichern.

„Sie bauen dabei auf Erfahrungen betrieblicher Arbeitskreise auf, die bereits in den 70er Jahren gebildet wurden, und auf regionalen Entwicklungskonzepten bzw. Umbauprogrammen insbesondere für solche Regionen, die aufgrund von Branchenumstrukturierungen in die Krise geraten sind.“ 1

Analog zur Motivation der Arbeitskreise der 70er Jahre war auch in Augsburg das auslösende Moment für die Gründung des Arbeitskreises (AK) »Alternative Produktion« direkte Betroffenheit.

„Vor dem Hintergrund der drohenden Auseinandersetzungen eines möglichen Arbeitsplatzabbaus durch das Auslaufen des Tornado-Programmes zur Mitte der 80er Jahre und der offensichtlichen Nichtfinanzierbarkeit eines Nachfolgeprojektes.“ 2

Im Gegensatz zur Lucas Aerospace-Initiative3 bspw. war dem Augsburger AK jedoch wichtig herauszustellen, welche Produkte im Zuge von Konversions- bzw. Diversifikationsmaßnahmen hergestellt werden sollten:

„Für alternative Produkte kommen Bereiche in Frage, in denen gegenwärtig oder in Zukunft ungenügend befriedigter Bedarf vorhanden ist bzw. ein Bedarf aufgrund gegebener Verhältnisse nicht befriedigt wird.

Zu denken ist insbesondere an Bereiche des Umweltschutzes, der Rohstoffrückgewinnung, universell anwendbarer Energieerzeugungsanlagen, Anlagen für die dritte Welt, Notfallmedizin und Medizinanlagen, sowie Produkte für den öffentlichen Nahverkehr.“ 4

Trotz der frühzeitigen Umorientierung der Arbeitnehmervertreter am Augsburger Standort, zahlreicher neuer Produktideen und Versuchen Produktmitbestimmung bei der Geschäftsleitung durchzusetzen, gelang es erst nach sieben Jahren harter Arbeit und Engagement den konstruktiven Ideen praktische Durchsetzungschancen zu verleihen.

Im September 1989 wurde ein Partnerschaftsvertrag zwischen der Stadt Augsburg (mit Wirtschaftsamt und Umweltreferat) und dem MBB-Konzern (Werksleitung-Augsburg, Betriebsrat und Unternehmensbereich Energie- und Industrietechnik) unterzeichnet. Das Münchner Institut für Medienforschung und Urbanistik (IMU) sollte dabei als Koordinator auftreten und das Projekt wissenschaftlich betreuen.

Programmbeschreibung

Mit der bisher einmaligen Kooperationsform zwischen einem Rüstungsbetrieb, einer Kommune und einem wissenschaftlichen Institut (Umwelt- und Technologieforschung) sollen konkrete Ansätze zur Verwirklichung der jeweiligen Ziele der einzelnen Vertragspartner gefunden werden.

So erwartete die Stadt Augsburg praktikable Lösungsvorschläge zur Bewältigung kommunaler Umweltprobleme, während sich MBB von der Zusammenarbeit die Ausdehnung ziviler Fertigungsbereiche und damit eine rüstungsunabhängige Sicherung von Arbeitsplätzen versprach.

Um eine betriebliche Strategie zur Produktdiversifizierung am gesellschaftlichen Bedarf orientieren zu können, muß zunächst untersucht werden, welche Technologiebedarfe in den Feldern des qualitativen Wachtstums entstehen werden.

Das heißt, der erste Schritt besteht im Erkennen der Schwachstellen und Defizitbereiche.

Schwachstellen erkennen und Chancen nutzen.

Dabei sollten die individuellen Stärken der drei Partner so genutzt werden, daß MBB sein technologisches know-how, die Kreativität und Qualifikationen seiner Mitarbeiter in zukunftsweisende Produkte umsetzt, die Stadt Augsburg ihre Planungshoheit und die Möglichkeit zur politischen Durchsetzung der geplanten Maßnahmen nutzt und das IMU-Institut die Partner mit wissenschaftlicher Beratung und Programm-Koordination unterstützt.

Programmziele

Mit konkreten Umsetzungsprojekten soll PUR aufzeigen:

  • welchen Stellenwert umweltverbessernde Techniken in der Stadtentwicklung einnehmen können,
  • welche Rolle das umwelt- und industrietechnische know-how von High-Tech-Unternehmen wie MBB in der Umsetzung in problemadäquate lokale Strategien spielen kann und welche regionalen Anwendungsfelder für einschlägige Technologiebereitsteller hieraus abgeleitet werden können,
  • wo und in welchem Umfang damit Unternehmensaktivitäten und Beschäftigungseffekte in der Metallindustrie und allgemein in Industrie-, Gewerbe- und Dienstleistungsbereichen der Region Augsburg ausgelöst werden können.

Das Projektprogramm, das in mehreren workshops der ARGE gemeinsam mit einschlägigen Verwaltungsstellen der Stadt erarbeitet wurde, befaßt sich in einer ersten Projektphase mit zwei umwelttechnologischen Schwerpunkten – Entsorgungstechnik und Energietechnik – und gliedert sich in mehrere Bereiche.

Im Mittelpunkt stehen Projekte, die die Programmpakete Entsorgungs- bzw. Abwasser- und Energietechnik in einem lokalen Schwerpunkt bearbeiten.

Wegen seines hohen umwelttechnischen Innovationsbedarfes und seinem besonderen städtebaulichen Entwicklungsbedarf als gründerzeitlich geprägtes Industrie- und Gewerbegebiet wurde hierzu das Augsburger Textilviertel ausgewählt.

Daneben werden betriebliche Demonstrationsprojekte anderer Unternehmen zu Einzelprojekten der Programmpakete angestrebt.5

Zur schrittweisen Realisierung der Programmziele wählten die beteiligten Partner eine Vorgehensweise, die einer »Potential-Defizit-Analyse« entspricht. Das heißt, die Kommune untersucht ihre Defizitbereiche, in die dann MBB-Technologie und know-how eingesetzt werden könnte, um spezifische Probleme zu lösen.

Im offiziellen Projektprogramm wird sie wie folgt beschrieben:

  1. Analyse des Ist-Zustandes
  2. Probleme erkennen
  3. Lösungswege gemeinsam finden
  4. Projekte gemeinsam realisieren
  5. Neue Einsatzfelder für vorhandene Produkte erforschen
  6. Neue Produktideen entwickeln

Das IMU-Institut hatte im Mai 1989 einen ersten Entwurf für das PUR-Projekt zur „Diversifikationsabschätzung auf der Basis einer regionalen Potentialanalyse für qualitatives Wachstum in Augsburg“ 6 entwickelt.

In diesem Entwurf wurden für die Region Augsburg Umweltprobleme in den Bereichen Grundwasserschutz, Verkehr, Abwasser und Energie festgestellt und als Tätigkeitsfelder für PUR erarbeitet.

Dabei erstellten die Münchner Projektplaner zu jedem Problembereich qualitative Lösungsvorschläge, die sie zu dem Produkt- und Technologiepotential von MBB in Beziehung setzten.

So werden bspw. für den Abwasserbereich, der in Augsburg hoch belastet ist, folgende Lösungsvorschläge für betriebliche Anlagen genannt:

  • Verfahrenstechnik zur Abscheidung/Eliminierung gesundheits- und umweltgefährdender Stoffe
  • gesonderte Erfassung von hochbelasteten Industrieabwässern
  • Behandlung und Recycling dieser Stoffe
  • Biotechniken als Entsorgungstechnik
  • Reduzierung des Wasservorrats 7

Wichtig an der 1989 vorgenommenen Projektplanung war die Gliederung des Gesamtprogramms in zwei Schritte.

Der erste sollte den Technologieeinsatz in den städtischen Problemfeldern umfassen, der sofort möglich ist und kurzfristig Beschäftigungseffekte spürbar macht, während der zweite Schritt die langfristige Perspektive betraf, d.h. auch die Entwicklung neuer Technologien und Produkte implizierte und somit Beschäftigungseffekte erst in Zukunft sichtbar würden.

Als Sofortprojekte sahen die Planer z.B. den Einbau von Gebäudeleitsystemen (BASYS) in öffentliche Gebäude wie Schulen und Schwimmbäder vor.

Im »Schwerpunktprogramm Textilviertel«, das in einem Zeitraum von rund drei Jahren (1989-1992) durchgeführt werden sollte, war als Pilotanlage eine sogenannte »Schwermetallaufbereitungsanlage« vorgesehen, die die von der Textilindustrie und anderen metallverarbeitenden Unternehmen (MBB) verursachten Verunreinigungen kommunaler Abwässer durch eine spezielle Vorreinigung bereits am Entstehungsort verhindern sollte. Die dafür notwendigen modernsten Technologien (Membranelektrolyseverfahren) sollten von MBB zur Verfügung gestellt werden und auf dem Gelände des Augsburger Standorts getestet werden. Die daraus resultierenden Ergebnisse wären dann möglicherweise auf die Texilindustrie und andere betroffenen Bereiche übertragbar gewesen.

Mit diesem Vorhaben, Resultate und Erkenntnisse aus den verschiedenen Pilotprojekten für andere Industriezweige nutzbar zu machen, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt des PUR-Programms angesprochen.

PUR soll(te) nicht nur in Augsburg und Umgebung, sondern in der gesamten BRD in mehrfacher Weise Modellfunktion haben. Diese Modellfunktion bezieht sich zum einen auf die neue Kooperationsform zwischen einer Stadt, einem Rüstungsunternehmen, dessen Betriebsrat und einem wissenschaftlichen Institut, durch die in der Region Augsburg Umweltprobleme mit dem know-how eines Rüstungskonzerns gelöst und dessen Unabhängigkeit von Rüstungsaufträgen gefördert werden sollen. Zum anderen können die in den Pilotprojekten gewonnenen Erkenntnisse für andere Industrien nutzbar gemacht werden und gleichzeitig andere Unternehmen als Technik-anbieter oder -nachfrager in die Kooperation integriert werden. Dies wiederum könnte in anderen Städten und Kommunen Schule machen.

Damit wären die wesentlichen Ziele des PUR-Programms genannt, nämlich inhaltlich und konzeptionell neue Wege der Zusammenarbeit von Industrie, Verwaltung und Wissenschaft und sozialverträgliche Innovationsformen im Sinne lohnender Investitionen für die Zukunft aufzuzeigen.

Zwischenbilanz 1991

Zwei Jahre nach Vertragsunterzeichnung ist die Frage angebracht, welche der geplanten Pilotprojekte bisher realisiert werden konnten. Ist es gelungen, die PUR-Programmziele ganz oder zumindest teilweise zu erreichen und welche Schritte wurden zu ihrer Verwirklichung (Potentialanalyse, quantitative und qualitative Untersuchung der Beschäftigungseffekte etc.) unternommen?

Laut Manfred Zitzelsberger, BR-Vorsitzender von MBB-Augsburg, konnte bis heute kein Projekt der ARGE-PUR realisiert werden.8

Bereits der erste Versuch, das energiesparende MBB-Gebäudeleitsystem »BASYS« im Augsburger Stadttheater zu installieren, scheiterte, da bei Auftragsvergabe von städtischer Seite anderen Firmen der Vorzug gegeben wurde.

Auch das zweite Vorhaben im Energiebereich, das Leitsystem im Augsburger Stadtbad am Leonhardsberg einzubauen, konnte nicht verwirklicht werden, wobei die Gründe hier in grundlegenden Mißverständnissen bezüglich Finanzierung9, Koordination und Organisation zu suchen sind, was Zitzelsberger mit den Worten, er sei „ausgebremst worden“ umschreibt.

In diesem konkreten Fall wurde von städtischer Seite argumentiert, daß es Sache von MBB sei, im Wettbewerb mit anderen mit der Stadt ins Geschäft zu kommen, d.h. „möglichst unter Selbstkosten“ 10 anzubieten bzw. billiger zu sein als die Konkurrenz.

Als »Flop« erwies sich auch das dritte Pilotprojekt im Bereich der Abwassertechnik. Wie beschrieben, wollte man den traditionsreichen Augsburger Textilbetrieben neue Abwasserreinigungssysteme mit dem Ziel anbieten, zu demonstrieren, „daß Umweltschutz in diesem Bereich (bei steigenden Abwasserkosten) sogar rentabel sein kann.“ 11

Zitzelsberger räumt hier konzerninterne Probleme ein, die sich u.a. aus der neuen Kompentenz- und Hierarchiestruktur aufgrund der Fusion der MBB GmbH mit dem Daimler-Benz-Konzern ergeben haben.

Die hier angeführten Beispiele für die Nicht-Realisierung geplanter PUR-Projekte sollen nicht das Scheitern des Programmes dokumentieren, sondern lediglich symptomatische Schwierigkeiten dieser neuen Kooperationsform zwischen einer Kommune und einem Rüstungsbetrieb aufzeigen.

Ohne die Probleme zu verharmlosen, sollte jedoch die Tatsache in Rechnung gestellt werden, daß gerade diese Zusammenarbeit für alle beteiligten Partner neu und ungewohnt ist und darüberhinaus aufgrund der sehr unterschiedlich gelagerten Interessen zahlreiche Reibungspunkte vorprogrammiert waren.

Gerade weil PUR weitergeführt werden soll, müssen bereits heute Schlüsse und Konsequenzen aus dem bisherigen Projektverlauf im Sinne einer Problemanalyse gezogen werden, die für die erfolgreiche Realisierung der Programmziele oder einer ähnlichen Programmkonzeption in einer anderen Kommune nützlich sein werden.

Problemanalyse und Kritik

Als Ausgangspunkt einer Untersuchung des vorläufigen Scheiterns des Programms bietet sich die in der Projektbeschreibung dargestellte Vorgehensweise an.

Erster Punkt war hier eine Ist-Analyse der städtischen Defizitbereiche auf der einen Seite und die Analyse der Möglichkeiten des Technologie- und Produkteinsatzes des Rüstungsbetriebs MBB auf der anderen Seite.

Dabei ist festzuhalten, daß eine fundierte Untersuchung der Potentiale und Defizite beider Partner nicht bzw. nur in qualitativer Form vorgenommen wurde. Zwar liegt von Seiten des IMU-Institutes ein umfassender Bericht diesbezüglich vor, der die besonderen Problembereiche und Potentiale aufzeigt. Im Unterschied zu dieser qualitativen Form einer Potentialanalyse wäre jedoch eine Quantifizierung notwendig gewesen, da diese möglicherweise Erkentnisse über folgende Punkte geliefert hätte:

  • Beschäftigungs- und Umwelteffekte eines bestimmten Produktes bei MBB und bei Einsatz in anderen Bereichen.
  • Kostenabschätzung der Pilotprojekte vor ihrer Realisierung.
  • Abschätzung des zu veranschlagenden Zeitraumes zur Verwirklichung der Pilotprojekte.
  • Quantitative Einschätzung des genauen Bedarfes im kommunalen und regionalen Bereich.
  • Abschätzung des Bedarfs an Folgeleistungen (Bauleistungen, Installationen).

Die Kenntnis dieser Faktoren hätte eine wichtige Voraussetzung zur Realisierung der geplanten Pilotprojekte geschaffen.

Die quantitative Fortführung der IMU-Studie als Ansatz für qualitatives Wachstum in der Region Augsburg scheiterte vornehmlich an der Finanzierung.

Obwohl von wissenschaftlicher Seite mehrmals Bereitschaft zur Anfertigung einer derartigen Untersuchung signalisiert wurde, war keiner der Vertragspartner bereit, diese zu finanzieren. Der ohnehin zu knapp bemessene Finanzrahmen12 des Programms bot hier keinen Spielraum mehr.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung dieser Untersuchung dürfte in der immer noch bestehenden »Geheimhaltungsmanie« der Rüstungsunternehmen liegen. Voraussetzung für die qualitative und quantitative Analyse der Konversions- und Diversifikationsmöglichkeiten ist die Offenlegung der Produktlinien und ihrer jeweiligen Beschäftigtenzahlen sowie der vorhandenen F&E-Möglichkeiten u.ä.. Die Bereitschaft zur Transparenz und Zusammenarbeit war weder von der Stadt Augsburg noch von der MBB-Geschäftsleitung bzw. DASA-Geschäftsleitung ausreichend vorhanden.

Das waren die Hauptursachen für das vorläufige Scheitern von PUR . Obwohl PUR für die Stadt Augsburg die Chance bot, einen eigenen Umweltbereich modellhaft auf die Beine zu stellen und für MBB Umwelttechnik langfristig ein Ersatz für militärische Produktion sein könnte, wurde da die Grenze gezogen, wo es um die Finanzen und konstruktive Zusammenarbeit ging. Der Rüstungsbetrieb MBB konnte sich nicht dazu durchringen, seine Produkte unter Selbstkosten zu verkaufen, woraufhin die Stadt billigere Anbieter vorzog. Ein Kompromiß wäre bspw. darin gelegen, daß MBB seine Preisvorstellungen etwas reduziert und sich damit den »Marktbedingungen« angepaßt hätte, während der Stadt Augsburg die Aufgabe zugefallen wäre – eben wegen der Modellfunktion des Programms – MBB den Vorzug zu geben.

Darüberhinaus liegt es durchaus in den Händen der Kommune durch größere Nachfrage, Anreize zu billigerer Produktion (bei größerer Stückzahl sinken die festen Kosten) zu schaffen. Aber vielleicht waren sowohl Kommune als auch Rüstungskonzern überfordert von der Aufgabe, den Umwelt-und Arbeitsplatz orientierten Vorreiter zu spielen. Nur unter der Vorraussetzung, daß beide Partner, die Stadt Augsburg und das Unternehmen MBB, Kompromißbereitschaft zeigen und auch bereit sind, sich über Schwierigkeiten, die sich insbesondere aus der Neustrukturierung der Deutschen Aerospace AG ergeben13, hinwegzusetzen, könnte PUR der Gefahr entgehen, pure Utopie zu bleiben.

Stadtstruktur Textilindustrie MBB
Frühe Industrialisierung bedingt frühzeitigen Ausbau der Infrastruktur Historisch bedeutendster Industriezweig Einer der größten Arbeitgeber im Raum Augsburg. Modernes High-Tech
Unternehmen
Problem heute: Problem heute: Problem heute:
Die Infrastruktur ist in vielen Bereichen heutigen Anforderungen nicht
mehr gewachsen, Gebäude, Produktions- sowie Entsorgungsanlagen sind veraltet.
Gewerbeflächen liegen nah am Stadtkern
Starker Wandlungsprozess verbunden mit einer drastischen Verminderung der
Arbeitspl Textilverarbeitung erfordert den Einsatz belastender Chemikalien.
In hochspezialisierten Fertigungsverfahren läßt sich der Einsatz
umweltproblematischer Materialien nicht vermeiden. Durch globale Entspannung einerseits
und wachsende Umweltbelastung andererseits ist die Werkstruktur nicht zukunftssicher
Folgen: Folgen: Folgen:
Starke Verunreinigung von Gewässern und Luft
Verrottete Kanalisation im gesamten Stadtgebiet
Energieverschwendung durch unkontrollierten Einsatz
Wenige moderne Unternehmen beschäftigen 20.000 Menschen
Das historisch gewachsene Viertel kann durch veraltete Infrastruktur den heutigen
Anforderungen nur schwer standhalten
Umweltprobleme müssen im eigenen Haus gelöst werden.
Abschwächung der Nachfrage nach Verteidigungsprodukten
Neue Zielsetzungen für das Werk sind notwendig.
Quelle: MBB Energie- und Industrietechnik: Arbeitsgemeinschaft PUR-Augsburg

Michaela Simon, M.A., ist Politikwissenschaftlerin und und freie Mitarbeiterin am Institut für Medienforschung und Urbanistik in München.

Kommunale und ökologische Folgen der Konversion (II)

Kommunale und ökologische Folgen der Konversion (II)

Von der militärischen zur ökologischen Sicherheit

von Olaf Achilles

Der Abbau und der Abzug der ausländischen Streitkräfte sowie der Bundeswehr setzen öffentliche Mittel und Ressourcen in einem großen Maße frei, die jetzt für die drängenden Probleme der Zivilisation genutzt werden müssen. Die Rahmenbedingungen der Politik haben sich geändert. Dies hat zum Beispiel die anstehende Konversion des Militärapparates zur Folge. Sicherheit wird zunehmend nicht mehr militärisch, sondern ökologisch definiert. Dies muß auch für die freiwerdenden Liegenschaften und deren anstehende Umnutzung berücksichtigt werden.

So nennt z.B die SPD in einem Positionspapier die „Herausforderungen der heutigen Zeit“, denen mit den freiwerdenden Mitteln begegnet werden muß: der ökologische Umbau der Industriegesellschaft, die Ausgestaltung der sozialen Sicherheit, sowie die Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt (SPD 1990).

Die GRÜNEN in Rheinland-Pfalz fordern in ihrem Antrag „Entmilitarisierung und Konversion in Rheinland-Pfalz“ (Lt-Drs. 11/4014), daß die „durch den Konversionsprozeß freiwerdenden Kapazitäten und Ressourcen (…) zu einem ökologischen und demokratischen Umbau der Regionen in Rheinland-Pfalz genutzt werden (könnten)“. Die neue hessische Landesregierung will insbesondere große Militärflächen „nach ihrer Rekultivierung ganz oder teilweise als Landschafts- und Naturschutzgebiete“ ausweisen.

Der dritte Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ vom Oktober 1990 schildert eindrücklich die globalen Umweltprobleme auf unserem Planeten und macht Vorschläge zum „kommunalen Klimaschutz“. So soll wegen der Belastung durch den Verkehr im Bereich der Siedlungs- und Raumplanung als langfristige Maßnahme eine „Veränderung von Siedlungsstrukturen und Raumnutzungsplänen erfolgen, die geeignet ist, den Energieeinsatz, die Schadstoffemissionen und andere ökologische Belastungen des Verkehrs zu vermindern“ (Enquete S.112). Für die Industrie und den Kleinverbrauch hält die Kommission es für notwendig, durch eine Vielzahl von Möglichkeiten den Energieeinsatz und die Schadstoffemissionen zu vermindern.

Insbesondere staatliche Maßnahmen müssen voraussschauend klima- und damit zukunftsverträglich sein. Für die »ökologische Sicherheit« der Bundesrepublik, werden in den kommenden Jahren enorme (finanzielle) Anstrengungen nötig sein. Die Altlasten-Problematik wurde bereits erwähnt. Die Bereiche Müll, Energie, Landwirtschaft, Verkehr, Stadtumbau aber auch der Kleinverbrauch sind Investitionsbereiche, die verstärkt unter ökologischen Fragestellungen betrachtet werden. Generell ist also festzuhalten, daß die freiwerdenden Ressourcen bei der Konversion den neuen gesellschaftlichen Aufgaben (um-)gewidmet werden müssen. Hierfür können auf Bundesebene Sofortprogramme eingerichtet werden. Wenn es kein eigenes Konversionsministerium gibt, muß der Haushalt des Verteidigungsministeriums kontinuierlich u.a. in die Haushalte des Forschungs-, des Wirtschafts- und des Umweltministeriums umgeschichtet werden. Hier können dann die entsprechenden (Forschungs-)Programme für die freiwerdenden Liegenschaften und hier sind insbesondere die großen Liegenschaften, wie Flughäfen und (Truppen-)Übungsplätze zu nennen, angelegt werden.

Regionale Konversion

Die Idee der »Regionalen Konversion« wurde zuerst aus der Notwendigkeit geboren, daß ganze Regionen, und einzelne Gemeinden sozusagen vom Militär besetzt gehalten werden und es darum ging, Lösungen für einen zivilen Umbau aufzuzeigen. Dabei spielte nicht nur die ökonomische Abhängigkeit, sondern gerade auch die ökologische Belastung eine wichtige Rolle in der Argumentation betroffener Akteure (Vgl. Achilles 1990b).

Ein wichtiger Schritt im Konversionsprozess ist die möglichst frühzeitige und ständige Einrichtung einer »regionalen Abrüstungskonferenz« (Abrüstungs- o. Konversionsratschlag), die den Prozeß des notwendig gewordenen »zivilen Umbaus« der Region beratend begleitet. An der Konferenz sollten Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aus dem Kreis insbesondere der Wirtschaft und ihrer verschiedenen Verbände, der Gewerkschaften, der Parteien, der Kirchen, der Bürgerinitiativen und Umweltverbänden etc. teilnehmen. Die Konferenz müßte in Abstimmung mit den kommunalen Parlamenten, insb. des Kreistages, Forderungen für die Region insbesondere an das Land und den Bund erarbeiten.

Alle Maßnahmen in der Region sind auf eine nicht-militärische sowie sozial- und ökologisch verträgliche Zukunft auszurichten. Für die einzelnen Gebiete der Region sind entsprechend gemeinsam Zukunftsmodelle zu erarbeiten. Dabei steht vor allem die Frage nach alternativen Arbeitsplätzen und einer »eigenständigen Regionalentwicklung« im Vordergrund. Zu klären ist, wie der Wegfall bestimmter bestehender Beschränkungen und Belastungen der Region durch das Militär möglichst schnell in einen Standortvorteil umgesetzt wird.

Bereits Mitte letzten Jahres kamen Wissenschaftler bei der Gründung des Institutes für regionale Konversion – jetzt Zentrum für Regionale Konversion mit Sitz in Berlin – zu folgender Aussage:

„Parallel zur Schaffung von internationalen und nationalen Rahmenbedingungen ist dieser Prozeß vor allem auf lokaler und regionaler Ebene zu realisieren. Wird diese Regionale Konversion nicht demokratisch gestaltet, drohen die Gefahr von neuer Arbeitslosigkeit in erheblichem Ausmaß, das Aufbrechen sozialer Konfliktpotentiale, die Einschränkung demokratischer Rechte, die Verschärfung von regionalen Strukturproblemen sowie die Fortentwicklung und Erhöhung ökologischer Belastung.

Deshalb müssen die verschiedenen betroffenen Interessengruppen in einem partizipatorischen Diskussions- und Arbeitsprozeß den Umbau ihrer Region ökonomisch, ökologisch und sozial verträglich herbeiführen. Sie müssen dafür ihr eigenes gestalterisches Potential erkennen und entfalten. Nur eine »Abrüstung von unten« kann den anstehenden demokratischen und ökologischen Zukunftsanforderungen für unsere Gesellschaften gerecht werden“.

Militärische Bestandsanalysen/ Zustandsberichte

Dieser hier eingeforderte Konversionsprozeß kann nur optimal verfolgt werden, wenn genügend Daten für eine Umgestaltungdiskussion erarbeitet werden. Ein Reden hinter verschlossenen Türen wird nur die jetzt angelaufenen staatlichen Vorgehensweisen konsequent vorantreiben, mit dem Ergebnis, daß alle Forderungen z.B. seitens des Städte- und Gemeindebundes nicht mehr einklagbar sind.

Die rot-grüne hessische Landesregierung hat in ihren Koalitionsvereinbarungen unter dem Punkt „Standortkonversion; Bestandsaufnahme“ festgehalten: „Eine Bestandsaufnahme der ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgewirkungen von Streitkräftepräsenz in Hessen und der absehbaren Abrüstungsfolgen ist als Grundlage für die von der Koalition zu leistende Abrüstungssteuerung zwingend erforderlich.“

Eine Umfrage der Arbeits- und Forschungsstelle »Militär, Ökologie und Planung« (MÖP) e.V. bei allen Landtagsfraktionen im Oktober letzten Jahres ergab, daß viele Landespolitiker immer noch einer Geheimhaltungspolitik in Sachen Militär das Wort reden, obwohl wir längst das Zeitalter der Satellitenaufklärung erreicht haben und es wahrlich nicht zu verhindern ist, dem potentiellen Feind die Größe einer Liegenschaft vorzuenthalten. Es sei denn dem Feind stehen keine Aufklärungsmaßnahmen dieser technischen Art zur Verfügung…(vgl. Achilles 1990c).

Auch wenn Daten regional vertieft werden müssen, ist es in diesem von Daten und Information abhängigen Entscheidungsbereich, der die betroffene Region in der nächsten Zeit stark prägen wird, von negativer Konsequenz, die Gemeinden aus dem Entscheidungsprozeß herauszuhalten. Die durch die Konversion entstehende soziale und planerische Unsicherheit gebietet ein Höchstmaß an Offenheit. Der Arbeitskreis Garnisonen hat am 5.11.90 zu Recht gefordert, „daß die betroffenen Kommunen so früh wie möglich in den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß einbezogen werden. Insoweit muß sichergestellt sein, daß eine enge Kooperation ggfs. auch auf der Ebene von Regionalkonferenzen erfolgt“.

Alle militärischen Anlagen haben ein Belastungspotential. Es gibt mehrere Kreise und Gemeinden für deren Gebiet bereits eine »militärische Belastungsanalyse« durchgeführt wurde. Diese Erfassung ist sehr wichtig, da sie Daten und Aussagen gerade auch für eine potentielle Standortkonversion bereitstellt. Solche Militärische Belastungsanalysen entwickelten sich parallel zur kommunalen Friedensarbeit. Sie haben die Auswirkungen des mobilen und stationierten Militärapparates in einer bestimmten Region zum Untersuchungsgegenstand. Dabei kommen, je nach Autor, Anlaß und nicht zuletzt Auftraggeber die sozialen, politischen, kulturellen, juristischen, ökologischen und ökonomischen Belastungen zur Diskussion.

Militärische Belastungsanalysen dienen vor allem als Argumentations- und Abwägungsmaterial und sind auch für die Bauleitplanung relevant (Zahlreiche Beispiele sind in der Studie „Militärische Belastungsanalysen und Regionale Konversion“ genannt; Achilles1990b).

Im Bereich des zivilen Umbaus militärischer Einrichtungen (Konversion) ergeben sich sogar planungsrechtliche Notwendigkeiten für entsprechende Analysen: Gemäß Artikel 52 des Nato-Truppenstatut-Zusatzabkommens und des Artikels 7 Abs. 3 des „Abkommen zwischen der Regierung der BRD und der Regierung der UdSSR über einige überleitende Maßnahmen v. 17.10.90“ ist, gerade im Interesse des betroffenen Planungsträgers, eine genaue Kenntnis der ökologischen Schäden auf freiwerdenden Militärliegenschaften erforderlich.

Auch besteht diese Notwendigkeit bei der möglichen »Rückenteignung« einer Militärliegenschaft an den früheren Eigentümer nach § 57 Landbeschaffungsgesetz (LBG). Bei weiterbestehenden militärischen Anlagen sollte für den eventuellen Abschluß eines Gestattungsvertrages, sowie bei Neufestsetzungen von Entgelten und Entschädigungen nach § 2 LBG oder bei anstehenden (Bau-)Maßnahmen gemäß § 37 Abs. 2 BauGesetzbuch entsprechende Kenntnis der Planungs-, sowie ökonomischen und ökologischen Grundlagen gegeben sein.

Kommunale Möglichkeiten

Der gesamte Konversionprozeß wird erheblich im Ergebnis durch folgende Faktoren bestimmt: vorhandene Datenerhebung bzw. Informationszustand der Gemeinde; prioritäre Einschätzung der Behandlung des Konversionsprozesses durch die kommunalen Verantwortlichen; partizipatorische Gestaltung des Konversionsprozesses; Kontakte zu Landes- und Bundespolitikern; laufende bzw. geplante Qualifizierungsprogramme für Arbeitnehmer sowie Beratungs- und Informationsangebote für Handwerk und Mittelstand.

Hier ist der einzige Punkt, wo Gemeinden konsequent mitgestalten können, sofern die Rahmenbedingungen der Konversionspolitik der Bundesregierung dies zulassen. Die Primärdaten können durch eine einzurichtende Konversionsagentur bzw. Konversionbrüo mit entsprechenden Fachkräften durch Aufträge an entsprechende Firmen, Festangestellte oder ABM etc. erarbeitet werden.

Die Kommunen sollten sich für regionale Konversionsagenturen einsetzen, die von Bundes- und Landesebene mit allen Informationen versorgt werden. Diese Konversionsagenturen bzw. Konversionsämter müssen nach vorgegebenen Leitlinien arbeiten. Das Land Brandenburg hat einen »Bevollmächtigten für sowjetische Streitkräfte und Konversion« mit einem entsprechenden Referat in der Staatskanzlei. Durch Beschluß des Landtages sollen jetzt Konversionsleitlinien erarbeitet werden. Die neue Landesregierung in Hessen hat vereinbart, daß sie auf Basis der Bestandsaufnahme der ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgewirkungen der Streitkräftepräsenz einen regelmäßigen Dialog mit Kreisen, Städten, Gewerkschaften, Friedensinitiativen, den alliierten Streitkräften, der Bundeswehr, und anderen Gruppen durchführen werde. Dabei sollen Maßnahmen für eine „zeitgerechte Rückgabe militärischer Liegenschaften, ihre ökologische Sanierung und Hilfe für die Beschäftigung entlassener Zivilbeschäftigter“ erarbeitet werden.

Die genannten Konversionsagenturen/Ämter könnten diesen Dialog strukturell ermöglichen. Sie wären insbesondere für die Gemeinden und Städte, die heimische Wirtschaft, Arbeitnehmer sowie auch anders betroffene Bürger beratend tätig. Sie müßten erörtern, welche Planungsmaßnahmen ergriffen werden könnten, welche Gelder im Bereich Sanierung, Wohnungsbau, Forschungsprogramme, Wirtschaftsförderung etc. vorhanden wären, sowie bei entsprechenden Anträgen helfen. Sie könnten die oben genannten Bestandsanalysen anfertigen (lassen), Rechtsfragen klären (lassen) sowie regional bestehende Forderungen direkt über die Landesregierung an die Bundesregierung, die hoffentlich eine korrespondierende Stelle einrichten würde, weiterleiten.

Eine umfassende wissenschaftliche Beratung und Begleitung durch Forschungsprogramme in den verschiedenen Ministerien ist ebenfalls einzuklagen. Es bestehen zahlreiche Arbeitsgruppen auf Landes- und Bundesebene, deren Arbeitsergebnisse dringend zentral ausgewertet und bereitgestellt werden müßten (vgl. Achilles 1990c).

Der anstehende Konversionsprozeß kann nicht nur bei militärdominierten Regionen zu großen Folgeproblemen führen. Die jetzige Konversionspolitik wird den anfallenden Aufgaben nicht gerecht. Hierbei sind gerade die kommunalen Spitzenverbände gefordert.

Das Neueste vom Abrüstungsmarkt

Seit dem 5. August ist es endgültig beschlossen. Sollten im ersten Truppenabbau-Konzept der Bundeswehr noch 213 Anlagen geschlossen werden, wurde diese Maßnahme um mehr als die Hälfte verringert. Von 720 Standorten in den alten Bundesländern wird die Bundeswehr nun bis Ende 1994 107 Standorte bis zu 50 Prozent reduzieren, 82 Standorte mehr als 50 Prozent reduzieren und 90 Standorte, davon 66 Kleinstandorte, ganz aufgeben. 441 Standorte erfahren keine oder eine bis 25 prozentige Reduzierung.

Dieses Vorgehen muß die betroffenen Gemeinden noch mehr treffen, denn eine große militärische Anlage, die z.B. teilweise wichtige Gewerbeausweisungen durch Flächenbelegung verhindert, bringt nun noch weniger Einnahmen, da die Soldaten gehen und Material eingemottet wird. Der Wirtschaftsfaktor Bundeswehr kann so, wenn überhaupt je, nicht mehr greifen. Auch wurde bekannt, daß die Bundeswehr in den nächsten acht Jahr 36.000 Zivilstellen abbauen will.

Das Sonderprogramm, daß vom Vermittlungsausschuß des Deutschen Bundestages und des Bundesrates einmütig gefordert wurde, fehlt ebenfalls noch immer. Die SPD redet denn auch weiterhin von einer Scheinbeteiligung der Länder. Die Regierung habe es sich denkbar einfach gemacht. Eine auch unter regionale- und strukturpolitischen Aspekten durchdachte und mit den Truppenreduzierungen alliierter Streitkräfte koordinierter Abbau der Bundeswehr sei nicht zu erkennen. Der hessische Ministerpräsident Eichel (SPD) nennt die Vorgänge „wirklichkeitsfern, arrogant und von oben herab“.

Am geschilderten Verfahren (vgl. letztes u. dieses Heft) wurde lediglich aufgrund des massiven Protestes im Preis der freiwerdenden Liegenschaften eingelenkt. Für den sozialen und studentischen Wohnungsbau sollen die Grundstücke nun 50 Prozent unter Verkehrswert verkauft werden. In Ostdeutschland sollen Kommunen Grundstücke teils sogar kostenlos erhalten, wenn sie für den Wohnungsbau oder für gewerbliche Zwecke genutzt werden. Auch soll die Möglichkeit einer Ratenzahlung eröffnet werden.

»Neue« Zahlen wurden auch bei den alliierten Streitkräften bekannt. Demnach ziehen die USA 75.000 der 250.000 Soldaten ab; Großbritannien will bis Mitte 95 33.000 (35.000) der 66.000 stationierten Soldaten reduzieren, Frankreich 25.000 seiner 44.200 Soldaten, Holland will seine 7.700 um 2.500 Mann bis 1997, Kanada seine 7.700 um mind. 1.400 und Belgien will seine 27.300 Soldaten bis Mitte der 90er Jahre auf 3.500 vermindern.

Literatur

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ders.: Militärische Belastungsanalyse und Regionale Konversion; Reihe komunale und ökologische Friedensforschung Bd. 2; Alheim 1990;(1990b)

ders.: „Regionale Konversion: Auswertung einer Umfrage bei den Landtagsfraktionen“; in: Konversion; Dossier 7 der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden 1990; S. XIII-XX (1990c)

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Bundesregierung: „Unterrichtung durch die Bundesregierung: Neunzehnter Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« “; Bt-Drs. 11/7501 v. 21.6.90

dies.: Antwort auf die Große Anfrage der SPD „Rüstungs- und Standortkonversion – Maßnahmen zum Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung in strukturschwachen Regionen“ (Bt-Drs. 11/7441 v. 20.6.90)

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Reiners, Herbert: „Militärische Anlagen und ihre raumordnerische Problematik“; in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung a.a.O.; 1977 S. 149 ff

Schmidt-Eenboom, Erich: Wiesbaden-eine Analyse der militärischen Strukturen in der hessischen Landeshauptstadt; Starnberg 1987

ders.: Analyse der militärischen Strukturen in der Stadt Darmstadt und im Landkreis Darmstadt-Dieburg; Starnberg 1989 (1989a)

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ders./ Lauxen,Sabine: Die militärischen Strukturen im Großraum Kaiserslautern; Starnberg 1989;

SPD-Bundestagsfraktion, Arbeitskreis Wirtschaftspolitik: „Abschlußbericht der Arbeitsgruppe Rüstungskonversion“

Der Spiegel: „25,2 Pfennig für den Fiskus“; Heft 49/90 S.97

Süddeutsche Zeitung: „Entscheidung über Standortauflösung im Juli“; v. 27.2.91

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Untersuchungsausschuß Truppenübungsplätze/militärische Flugplätze: Abschlußbericht vom 28.2.1985; Bonn 1985

Olaf Achilles ist Dipl. Ing. und leitet die Arbeits- und Forschungsstelle Militär, Ökologie, Planung in Bonn.

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Auf dem Wege zu einer Welt ohne Kernwaffen?

Möglichkeiten und Methoden der Rüstungskonversion für Plutoniumindustrie und Kernwaffen

von Karl F. Alexander

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist nun, im Herbst 1991, ebenso wie auf anderen Feldern der internationalen Politik, auch auf dem Gebiet der nuklearen Abrüstung eine noch vor kurzem nicht für möglich gehaltene Dynamik zu beobachten. Davon zeugen die jüngsten Vorschläge der Präsidenten Bush und Gorbatschow und die von ihnen angekündigten, zum Teil auch einseitigen Maßnahmen. So hat Bush am 27. September die Abschaffung der gesamten weltweiten Bestände der USA an bodengestützten atomaren Kurzstreckenwaffen und die Einstellung einiger Projekte der Kernwaffenmodernisierung angekündigt sowie weitere Verhandlungen zu drastischen Reduzierungen des strategischen Kernwaffenpotentials angeboten. Gorbatschow hat bereits am 5. Oktober diese Initiative mit analogen Maßnahmen und zum Teil noch weitergehenden Vorschlägen beantwortet.

Mit der Realisierung dieser Maßnahmen und Vorschläge, die erstmalig quantitative und qualitative Einschnitte um Größenordnungen in das Overkill-Potential der sich gegenüberstehenden Nuklearwaffenarsenale bedeuten, stellen sich auch die spezifischen technischen Fragen der Rüstungskonversion auf diesem Gebiet in neuer Schärfe.

Eines der dringendsten Probleme ist das folgende: Die bisherigen Abkommen verpflichteten die Partner zur Zerstörung der davon betroffenen Kernwaffenträger (Raketen, Marschflugkörper u. a.), nicht aber der eigentlichen Kernsprengköpfe, die vorher auszubauen waren und keiner weiteren Kontrolle unterliegen. Auch das START-Abkommen über die strategischen Offensivwaffen hält sich offenbar an dieses Muster. Dies ist auch aus der bisherigen Herangehensweise verständlich, weil bei allen Abrüstungsabkommen die zuverlässige Verifizierung ihrer Einhaltung durch die vertragsschließenden Parteien garantiert sein muß. Mit den heutigen Aufklärungsmitteln und den vereinbarten Vor-Ort-Inspektionen läßt sich dies bei den Kernwaffenträgern offensichtlich erreichen, wie das schon die detaillierten Festlegungen des INF-Abkommens zeigten. Neue und schwierigere Probleme treten aber auf, wenn es um die ja auch zur nuklearen Abrüstung gehörende kontrollierte und verifizierbare Beseitigung der Kernsprengköpfe (der »Atombomben« im eigentlichen Sinne) geht.

Es ist bemerkenswert, daß in den Fernseherklärungen von Bush und Gorbatschow dieses Problem erstmalig als Verhandlungsgegenstand angesprochen wurde. So schlug Bush den Beginn von Diskussionen mit der Sowjetunion vor u.a. „um eine gemeinsame technische Kooperation für sichere und umweltverträgliche Lagerung, Transport und Zerstörung von Atomsprengköpfen zu prüfen“. Gorbatschow wurde noch etwas konkreter: „Die Sowjetunion erklärt sich bereit, mit den USA in einen substantiellen Dialog über die Entwicklung sicherer und ökologisch verantwortbarer Technologien für Lagerung und Transport von nuklearen Gefechtsköpfen, von Verfahren für die Verwertung nuklearer Ladungen und für die Erhöhung der nuklearen Sicherheit zu treten“ 1.

Die Kernwaffenarsenale der Welt umfaßten Mitte der achtziger Jahre nach Schätzungen etwa 5O OOO Sprengköpfe – von in einem Rucksack transportierbaren Atomminen (Sprengkraft ca. 1OOO t TNT) bis zu Megatonnen-Wasserstoffbomben, von denen eine einzige zur vollständigen Zerstörung einer Großstadt ausreicht. Die innere Konstruktion solcher Sprengköpfe ist zwar in groben Umrissen bekannt, wird aber im Detail strengstens geheimgehalten. Bei der bisher üblichen ungehemmt fortschreitenden Weiterentwicklung der Waffentechnik wird der nukleare Sprengstoff aus ausgemusterten Sprengköpfen entnommen und in umgearbeiteter Form in die neuen wieder eingebaut. Ohne Aufgabe des qualitativen Wettrüstens in der Kernwaffentechnik wird es daher kaum gelingen, einen gegenseitig akzeptablen und möglichst umfassenden Kontrollmechanismus für den atomaren Sprengstoff zu vereinbaren, als Voraussetzung für dessen verifizierbare Beseitigung. Die ausgesprochen vorsichtigen Formulierungen in den Erklärungen von Bush und Gorbatschow zu diesem Problem zeigen, daß hier noch schwierige Verhandlungen bevorstehen.

Die vordringlichsten Maßnahmen

Diese Sachlage erfordert zunächst, einfacher zu kontrollierende Verträge zur Beendigung des qualitativen Wettrüstens auszuhandeln. Die dringendste Forderung ist daher gegenwärtig ein endgültiges Verbot aller Kernwaffentests, an dessen Verifizierbarkeit kein Zweifel mehr besteht. Als nächster Schritt wäre ein Verbot der Herstellung neuen atomaren Sprengstoffs zu vereinbaren, um dann zur gegenseitig kontrollierten Beseitigung des in den von Abrüstungsmaßnahmen betroffenen Sprengköpfen enthaltenen Sprengstoffs überzugehen. Genau diese Vorschläge sind auch in der Erklärung Gorbatschows enthalten: „Die Sowjetunion verhängt mit sofortiger Wirkung ein Moratorium über nukleare Tests mit einer Dauer von einem Jahr. Sie rechnet damit, daß diesem Beispiel auch die anderen kernwaffenbesitzenden Mächte folgen. Dadurch würde der Weg für die baldmöglichste und vollständige Einstellung der Nukleartests eröffnet“. Und weiter: „Die UdSSR tritt dafür ein, mit den USA eine kontrollierte Einstellung der Produktion aller Kernspaltstoffe herbeizuführen“. Leider vermißt man analoge Aussagen in der Bush-Erklärung, die im übrigen – wenn auch in deutlich eingeschränkter Form – an der Notwendigkeit einer qualitativen Weiterentwicklung der Kernwaffen festhält: „Wir können uns ohne Gefahr diese Schritte leisten, die ich heute angekündigt habe – Schritte, die geeignet sind, die Gefahr von Fehleinschätzungen in einer Krise zu verringern. Aber um das zu tun, müssen wir entschieden jene Elemente unserer strategischen Modernisierung weiter verfolgen, die demselben Zweck dienen“.

Nukleare Sprengstoffe

Die klassischen Atombomben erhalten ihre Sprengkraft bekanntlich aus einer explosiv verlaufenden Kernspaltungs-Kettenreaktion, wofür sich als Sprengstoff Uranium 235 (Hiroshima-Bombe) und Plutonium 239 (Nagasaki-Bombe) eignen. Auch das Prinzip der »Wasserstoffbombe«, das den meisten modernen Kernwaffen zugrunde liegt, erfordert als Zünder eine Spaltstoffladung. Die Herstellung beider Stoffe ist sehr aufwendig: U 235 erfordert große industrielle Anlagen zur Isotopentrennung, Plutonium wird in Kernreaktoren aus U 238 »erbrütet« und muß durch chemische Aufarbeitung der hochradioaktiven Brennstoffstäbe abgetrennt werden. Die Existenz der dazu erforderlichen Anlagen kann heutzutage kaum noch geheimgehalten werden. Die heimliche Herstellung größerer Mengen von waffenfähigem U 235 oder Plutonium kann daher durch internationale Kontrollmechanismen zuverlässig verhindert werden.

Dies wird heute schon durch den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung der Kernwaffen (NPT-Vertrag) für die Mehrzahl aller Staaten garantiert, die ihre kerntechnischen Anlagen der Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA) unterstellt haben2. Davon sind allerdings bisher die offiziell Kernwaffen besitzenden Staaten (USA, UdSSR, England, Frankreich, China) ausgenommen. Außerdem gibt es Staaten, die dem NPT-Vertrag nicht beigetreten sind und möglicherweise über die Fähigkeit verfügen, Kernwaffen herzustellen (Indien, Pakistan, Israel, Südafrika u.a.). Ein Vertrag der Kernwaffenmächte über die vollständige Einstellung der Produktion von Kernsprengstoff und die Anwendung der IAEA-Kontrollen auf ihre dazu geeigneten Anlagen würde diese unbefriedigende Situation grundlegend ändern, weitere Staaten zum Anschluß an den NPT- Vertrag bewegen, und den wachsenden Unmut vieler kernwaffenloser Unterzeichnerstaaten über ihre nicht gleichberechtigte Behandlung ausräumen.

Die gegenwärtigen Sprengstoffvorräte

Ein solcher Produktionsstopp würde zwar zunächst nichts an der wahnsinnigen Overkill-Kapazität der existierenden Waffenlager ändern, würde aber das notwendige Vertrauen für den kontrollierten Abbau der angehäuften Sprengstoffvorräte schaffen. Die Größenordnung dieser Vorräte ergibt sich aus einer 1985 publizierten Abschätzung3. Danach verfügten allein die USA über mindestens 500 Tonnen waffenverwendbaren Uraniums und ungefähr 100 Tonnen Plutonium. Die Vorräte der UdSSR dürften von gleicher Größenordnung sein. Die Sprengkraft der Hiroshima-Bombe entspricht der Energiemenge, die bei der Spaltung von etwa einem Kilogramm Uranium freigesetzt wird. Eine Kernspaltungsbombe oder der Zünder einer Spaltungs-Fusions-Kernwaffe (»Wasserstoffbombe«) enthält nur einige Kilogramm Spaltstoff, bei raffinierten modernen Konstruktionen möglicherweise auch weniger. Die angesammelten Vorräte reichen also sicher für wesentlich mehr als die schon vorhandenen Zehntausende von Sprengköpfen aus. Es gibt also keinen rational einsehbaren Grund gegen einen verifizierbaren Produktionsstopp.

Herstellungsverbot von Tritium

Die heute überwiegenden Spaltungs-Fusions-Kernwaffen enthalten als Kernfusionssprengstoff Deuterium und Lithium, Substanzen, die ohne nuklearen Zünder vollkommen harmlos sind und daher auch keiner besonderen Kontrolle zu unterliegen brauchen. Eine wichtige Besonderheit der modernen Kernwaffen besteht aber darin, daß sie als Zündhilfe und zur Erhöhung des Wirkungsgrades außerdem noch das schwere Wasserstoffisotop Tritium einsetzen, das über die (d,t)-Reaktion unter den Bedingungen der Kernspaltungsexplosion eine besonders intensive und energiereiche Neutronenstrahlung erzeugt. In besonders extremer Weise wird diese Eigenschaft bei der sogenannten »Neutronenbombe«4 ausgenutzt. Tritium wird ähnlich wie Plutonium in Kernreaktoren durch Neutronenbestrahlung von Lithium erbrütet. Es ist ein stark radioaktives Isotop, dessen Halbwertszeit nur 12 Jahre beträgt. Herstellung und Verbleib kann prinzipiell mit den gleichen Methoden kontrolliert werden wie beim Plutonium.

Wegen seiner relativ kurzen Halbwertszeit hätte aber ein Herstellungsverbot von Tritium für Kernwaffen die Auswirkung, daß die existierenden Sprengköpfe wegen des radioaktiven Zerfalls des in ihnen enthaltenen Tritiums, das nicht mehr ersetzt werden kann, langsam aber sicher unwirksam würden, bzw. das noch nicht zerfallene Tritium würde für immer weniger Sprengköpfe reichen5. Die naturgesetzlich gegebene Halbwertszeit des Tritiums würde damit einen maximalen Zeitrahmen für die schrittweise Beseitigung der vorhandenen Kernwaffen setzen.

Probleme der Rüstungskonversion

Werden die politischen Probleme der atomaren Abrüstung gelöst und konkrete Schritte zur Abschaffung der Kernwaffen vereinbart, so entsteht die Aufgabe der Konversion dafür geeigneter Teile des bisher eingesetzten Potentials für zivile Zwecke.

Für die Kernwaffenträger (Raketen, Flugzeuge, U-Boote usw.) bleibt wahrscheinlich die Verschrottung bzw. anderweitige Vernichtung die einzige Methode der Wahl, wie dies bereits bei der Realisierung des INF-Abkommens demonstriert wurde. Die Herstellungsbetriebe können natürlich zum großen Teil auf die Produktion ziviler Güter umgestellt werden.

Im Gegensatz dazu ist bei den Sprengköpfen gerade der Kernsprengstoff ein wertvolles, für die Nutzung in der zivilen Kernenergetik gut geeignetes Material. Aus diesem Grunde spricht Gorbatschow auch von der „Verwertung der nuklearen Ladungen“. Die einzig zweckmäßige und noch dazu nutzbringende Methode einer solchen Verwertung waffenfähigem Spaltmaterials ist seine Verbrennung in energieliefernden Kernreaktoren. So können z.B. aus einer Tonne hochangereichertem U 235 nach Verdünnung mit gewöhnlichem Uranium etwa 30 Tonnen Reaktorbrennstoff hergestellt werden, ausreichend zum Betrieb eines Druckwasserreaktors mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW für ein Jahr. Auch Plutonium läßt sich in verdünnter Form nach bereits bewährten Technologien in konventionellen Kernreaktoren verbrennen. 1990 waren weltweit 324 496 Megawatt elektrische Leistung in Kernkraftwerken installiert, diese erzeugten etwa 17% der Elektroenergie6. Würden die vorhandenen mehr als 1000 t Kernwaffensprengstoff als Brennstoff für Kernreaktoren eingesetzt, so könnte damit diese gewaltige Kapazität drei Jahre lang versorgt werden. Die Verifizierung der friedlichen Verwendung des ehemaligen Kernsprengstoffs erfordert eine lückenlose und quantitative Kontrolle des Spaltmaterialflusses durch eine teilweise automatisierte und durch Inspektoren vor Ort abgesicherte Überwachung, für die es bereits bei der IAEA Systemlösungen gibt.

Für die Durchsetzung des Herstellungsverbots neuen Kernsprengstoffs wäre die Überwachung und teilweise Umrüstung von Anlagen zur Anreicherung von Uranium erforderlich. Diese Anlagen sind heute schon ein unentbehrlicher Bestandteil der zivilen Kernenergetik, da fast alle Kernkraftwerke an U<|>235 angereicherten Brennstoff benötigen. Mit dem dafür erforderlichen geringen Anreicherungsgrad ist aber dieses Material grundsätzlich nicht für Kernwaffen geeignet. Das waffenfähige Plutonium wird demgegenüber in dafür speziell errichteten Produktionsreaktoren hergestellt. Hier dürfte aus technischen und ökonomischen Gründen die Stillegung und Demontage dieser Reaktoren die Methode zur Durchsetzung des Herstellungsverbots sein. Tatsächlich sind in den letzten Jahrzehnten auch schon einige dieser Produktionsreaktoren stillgelegt worden.

Plutonium fällt aber auch bei der Wiederaufarbeitung des Kernbrennstoffs aus der zivilen Kernergienutzung an. Dieses Plutonium enthält höhere Anteile der schwereren Isotope Pu 240, Pu 241 und Pu 242, die seine Verwendung für Kernwaffen zwar erheblich behindern, aber nicht völlig ausschließen. Daher ist eine strenge internationale Kontrolle aller Plutoniumvorräte, also auch derer aus der zivilen Kernenergetik, von der Wiederaufarbeitung bis zur endgültigen energetischen Nutzung, dringend geboten. Das Kontrollsystem der IAEA konzentriert sich auch jetzt schon gerade auf dieses Problem.

Eine neue Aufgabenstellung wäre die Einbeziehung der Produktion und Verwendung von Tritium in das internationale Kontrollsystem, falls eine Ersatzlieferung für Kernwaffen verhindert werden soll. Dies ist wichtig, weil zukünftige Kernfusionsreaktoren Tritium als Brennstoff benötigen und in größeren Mengen produzieren werden, so daß also ein absolutes Herstellungsverbot nicht sinnvoll wäre. Aufbauend auf den Erfahrungen des schon existierenden Kontrollsystem der IAEA für Spaltmaterialien dürften aber auch für dieses Problem akzeptable Lösungen möglich sein.

Ein mögliches Szenarium für die Konversion

Wie wir gesehen haben, ist die Abschaffung der Kernwaffen und die Konversion ihrer technischen Basis für friedliche Zwecke ein kompliziertes Problem, das nicht auf einmal gelöst werden kann. Auch die Aussicht auf einen gegenwärtig möglich erscheinenden großen Schritt zur Reduzierung der vorhandenen Arsenale ändert nichts an dieser Fesstellung, zeigt aber, daß jetzt auch die für die Kernwaffen spezifischen Fragen der Konversion auf der Tagesordnung stehen. Ein zum Erfolg führendes Konzept muß aus einer gut abgestimmten Folge politischer und technischer Schritte bestehen. Dabei muß jeder vorangehende Schritt die Vertrauensbasis für den folgenden schaffen. Ein solches Szenarium könnte vielleicht so aussehen:

1. Internationale Konvention über die Beendigung der weiteren Kernwaffenrüstung. Dazu gehören das vollständige Verbot aller Kernwaffentests und die Einstellung der weiteren Herstellung von Kernsprengstoff. Stillegung der Produktionsreaktoren für Plutonium und Umrüstung der Trennanlagen für Uranium. Volle Anwendung der Kontrollbestimmungen des NPT-Vertrages auch auf die kernwaffenbesitzenden Staaten.

2. Vereinbarung zwischen der UdSSR und den USA über wesentliche Reduzierungen der Vorräte an waffenfähigem Spaltmaterial und dessen zivile Nutzung unter Kontrolle der IAEA. Dies könnten zunächst auch jeweils einseitige Maßnahmen sein.

3. Bei allen weiteren Verträgen über den Abbau von Kernwaffenpotentialen wird gleichzeitig festgelegt, wieviel und nach welchen Modalitäten Kernsprengstoff der zivilen Nutzung zugeführt wird.

4. Möglichst frühzeitige Einbeziehung der anderen kernwaffenbesitzenden Staaten in die abgestimmten Reduzierungsabkommen einschließlich der Verpflichtungen zur Konversion.

5. Internationale Konvention über die vollständige Abschaffung der Kernwaffen nach einem vereinbarten Zeitplan. Dies würde die Einbeziehung aller Staaten ohne Ausnahme in das Kontrollsystem des NPT-Vertrages voraussetzen. Weitere Maßnahmen wären die Öffnung auch der Waffenlaboratorien, Produktionsstätten und Lager für Sprengköpfe gegenüber der internationalen Kontrolle, und schließlich die verifizierbare Liquidierung der gesamten militärischen Infrastruktur für Herstellung, Lagerung und Einsatz von Kernwaffen.

Die Vision der kernwaffenfreien Welt

Aus gegenwärtiger Sicht scheint der letzte Schritt der schwierigste zu sein. Auch mit den vollkommensten technischen Kontrollmethoden wird es wohl kaum möglich sein, festzustellen, ob nicht doch von dieser oder jener Seite einige wenige Atombomben vorher beiseite geschafft wurden. Einziges Mittel gegen solche Befürchtungen kann nur die weltweite Entwicklung eines Vertrauensklimas sein, das den Krieg generell als Mittel der Politik ausschließt. Erst wenn auch die Abrüstungsmaßnahmen auf konventionellem Gebiet zu einem Zustand der gegenseitigen Angriffsunfähigkeit geführt haben, wird es vermutlich möglich sein, auch diesen letzten Schritt in der atomaren Abrüstung zu gehen. Der größte Teil der gegenwärtigen Kernwaffenpotentiale könnte aber schon in den nächsten Jahren abgebaut und zum Teil auch zivilen Zwecken nutzbar gemacht werden. Die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet stimmen hoffnungsvoll. Aber weiterhin wird öffentlicher Druck notwendig sein, damit das schließlich zu erreichende Ziel einer kernwaffenfreien, friedlichen Welt nicht aus den Augen verloren wird, auch wenn diese Vision heute noch vielen verantwortlichen Politikern utopisch erscheinen mag.7

Dr. Karl F. Alexander ist Physiker und em.Professor. Bis Ende 1988 leitete er das Zentralinstitut für Elektronenphysik der Akademie der Wissenschaften in Berlin.

Naturwissenschaftliche Verifikationsforschung in Bochum

Naturwissenschaftliche Verifikationsforschung in Bochum

Zweite Phase angelaufen

von Jürgen Altmann

Seit April 1988 läuft im Institut für Experimentalphysik der Ruhr-Universität Bochum (RUB) das Forschungsprojekt „Neue technische Mittel für kooperative Verifikation in Europa“. Dieses Projekt wurde von der Stiftung Volkswagenwerk – im Rahmen integrierter Forschung und Lehre zu Fragen der Friedenssicherung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und des bewaffneten Konflikts an der RUB – zunächst für drei Jahre gefördert. Gemäß dem Ziel, zukünftige Verifikationsverfahren angewandt-physikalisch zu erforschen, arbeiten wir an Sensoren, mit denen man Land- und Luftfahrzeuge über mittlere Entfernungen (von 20 m bis zu einigen km) nachweisen kann. Konkret untersuchen wir seismische, akustische und magnetische Signale, die von fahrenden oder fliegenden Fahrzeugen hervorgerufen werden. Sensorsysteme können sicherstellen, daß keine Panzer ein Depot oder eine Fabrik heimlich (z.B. durch die Umfriedung) verlassen; sie können Flugbewegungen auf Flugplätzen mitzählen. Obergrenzen in einer Region können durch Überwachung der Grenzlinien überprüft werden; im Kontext Friedenserhaltender Maßnahmen ist auch die Kontrolle vereinbarter waffenfreier Zonen möglich.1

Für diese Forschung mußte ein größeres Meßsystem aufgebaut werden. Nachdem Anfang 1989 zwei Physik-Doktoranden hinzugekommen waren, bemühten wir uns 1. um internationale Kooperationspartner und 2. um die Erlaubnis, an militärischen Fahrzeugen die uns interessierenden Signale zu messen. Mit beidem waren wir in der ehemaligen CSSR am schnellsten erfolgreich: Im August 1989 führten wir – gemeinsam mit tschechoslowakischen Wissenschaftlern – die ersten Messungen seismischer und akustischer Signale an einem Jeep, einem mittleren und einem schweren Lkw sowie einem Panzer durch.2 Kurz darauf durften wir auch an entsprechendem Gerät der Bundeswehr messen; an den Experimenten im Dezember 1989 auf dem Truppenübungsplatz Baumholder (Rheinland-Pfalz) nahmen dann schon Wissenschaftler(innen) aus der CSFR, aus Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und den USA teil.3 1990 kamen Partner aus der UdSSR, Kanada und der ehemaligen DDR dazu.

Die Serie internationaler Meßkampagnen an Militärgerät wurde fortgesetzt: Im Dezember 1990 – wieder in Baumholder – waren vor allem Gruppen von Fahrzeugen das Meßobjekt. Flußüberquerungen mit Heeresgerät nahmen wir im April 1991 in Windheim-Jössen an der Weser auf. Die erste Messung militärischer Flugzeuge machten wir im Mai dieses Jahres in Bechyne, CSFR.

Die Auswertungen der vielen Meßdaten sind in vollem Gang. Einige erste Ergebnisse sind z.B.: Seismische Signale von mittleren und schweren Lkw sowie von Kettenfahrzeugen sind – auch bei langsamer Fahrt – noch in 300 m Entfernung stärker als die normale Bodenunruhe. Kettenfahrzeuge erzeugen starke rhythmische Bodenvibration, die streng an das Aufschlagen der Kettenglieder gekoppelt ist; daraus läßt sich wahrscheinlich ein Erkennungskriterium gewinnen. Bei Radfahrzeugen scheint die Lage komplizierter: Reifen-Schwingungen und Reifenprofil sowie akustisch eingekoppelte Signale des Motors tragen zur Bodenvibration bei.

Ähnliche Messungen sind in der Militärforschung der Industrieländer schon seit Jahren durchgeführt worden (zur Gefechtsfeld-Aufklärung, zum Zünden von Minen usw.). Deren Ergebnisse sind aber geheim. Wo überhaupt etwas darüber veröffentlicht wird, werden nur allgemeine Angaben gemacht. Ausführliche Meßbedingungen und -daten werden nicht angegeben; oft werden Achsen nicht beschriftet.4 Es scheint, daß die staatlichen Rüstungsforschungs-Abteilungen sich auch nicht sonderlich bemühen, den Abrüstungs-Verhandlern die Fähigkeiten der Sensoren für die Verifikation nahezubringen. Um der Öffentlichkeit – und damit auch allen Staaten – eine fundierte Beurteilung der Verifikation mit Sensoren zu ermöglichen, müssen wir daher ihre Eigenschaften von Grund auf neu messen und analysieren.

Naturwissenschaftliche Abrüstungsforschung an Hochschulen kann ihre Ergebnisse – anders als die militärische Forschung – publizieren. Sie kann aber noch weitere Akzente setzen, indem sie international, vor allem blockübergreifend (soweit man das heute noch sagen kann), durchgeführt wird. Sie kann internationale Kooperation in der Verifikationsforschung schon zu einer Zeit ermöglichen, in der Staaten zu offizieller Zusammenarbeit noch nicht bereit sind, und so die Akzeptanz für neue Verifikationsmethoden auf allen Seiten erhöhen. Das Bochumer Projekt steht in einer Reihe mit der internationalen Zusammenarbeit bei der Detektion unterirdischer Kernwaffentests, mit dem USA-UdSSR-Projekt zum Nachweis von Kernsprengköpfen und mit der Pugwash-Arbeitsgruppe zur Verifikation des Chemiewaffenabkommens.5

Unser Projekt hat – gemeinsam mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung – etwa halbjährlich Arbeitstagungen in Bonn durchgeführt, wo sich Personen aus Ministerien, Wissenschaft und Industrie über die Wiener Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) sowie über Verifikationsmethoden ausgetauscht haben. Im internationalen Rahmen haben wir die Workshops on Verification of Arms Reductions mit initiiert und vorbereitet. Der erste Workshop fand Ende 1988 in London statt, der zweite im September 1990 in Wien.6 Weil die Teilnehmer(innen) aus Verhandlungsdelegationen und Regierungsbehörden, Politik- und Naturwissenschaft, Industrie und Militär in Ost und West kamen, wurden sowohl die aktuellen Entwicklungen in den Verhandlungen wie auch die Perspektiven von Abrüstung und Verifikation diskutiert. Der Wiener Workshop war vor allem auf den KSE-Vertrag bezogen; hier wurden auch erstmals ausführlicher Ergebnisse naturwissenschaftlich-technischer Verifikationsforschung vorgetragen.

Die Gutachter der Stiftung Volkswagenwerk haben das Bochumer Projekt sehr positiv beurteilt. Die nunmehr bewilligten Mittel für die zweite Phase enthalten ein weiteres Graduiertenstipendium für eine(n) dritte(n) Doktoranden/in. In den verbleibenden zwei Jahren wollen wir noch mindestens je eine Meßkampagne an Land- und an Luftfahrzeugen machen, und zwar möglichst auf dem Territorium der (ehemaligen) UdSSR. Die ersten beiden Doktorarbeiten (über den seismisch-akustischen Nachweis von Landfahrzeugen, über einen SQUID-Magnetfeldsensor mit Hochtemperatur-Supraleiter) sind abzuschließen; die noch ausstehenden Forschungsberichte über Meßkampagnen müssen – nach ausführlicher Datenauswertung – geschrieben werden. Mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der RUB wollen wir Musterformulierungen für einen Vertragsartikel, für das Verifikationsprotokoll und für den technischen Anhang ausarbeiten, wie sie zur Regelung der Sensor-spezifischen Aspekte in einem künftigen Abrüstungsvertrag in Europa (KSE 2 oder 3?) stehen könnten. Weil naturwissenschaftliche Abrüstungsforschung noch auf geraume Zeit erforderlich bleiben wird, werden wir uns dafür einsetzen, daß diese Forschung – nach Auslaufen der fünfjährigen Startfinanzierung durch die Stiftung Volkswagenwerk – an der RUB institutionalisiert und auf Dauer weiterbetrieben wird.

Mitarbeit an Lehrveranstaltungen (Auswahl)

  • Konventionelle Rüstungsbegrenzung in Europa heute – interdisziplinäre Vorlesung zu technischen, historischen und rechtlichen Fragen
  • Physik und Technik der Verifikation von Rüstungsbegrenzungsabkommen
  • Abrüstung und Rüstungskontrolle II – Praxis der Rüstungskontrolle: Vertragsanwendung, Vertragsbruch, Verifikation
  • Kooperative Sicherheitsstrukturen im neuen Europa – Abrüstung, Verifikation, Zusammenarbeit

Meß- und Auswertegeräte (Auswahl)

  • 21 Geofone; 14 Mikrofone; 2 Magnetfeld-Sensoren; 3 Unterwasser-Mikrofone
  • 30 Vorverstärker-Kanäle
  • Analog-Digital-Wandler mit Multiplexer für 64 Kanäle, 12 Bit Auflösung, 80.000 Werte/Sekunde kontinuierlich auf Festplatte
  • Laptop-Computer (niedriger Stromverbrauch, 80C286) mit Erweiterungsbox für Steckkarten, externe Festplatte 1050 Megabyte, externe optische Platte für 800-Megabyte-Kassetten
  • Schnelle Computer (80386) – auch hier können die externen Platten angeschlossen werden
  • 2 große 12-V-Batterien (je 230 Ah), Ladegerät, 220-V-Wandler für netzunabhängigen Meßbetrieb
  • 2100 m Kabel
  • selbst geschriebenes Meß- und Auswerteprogramm, insgesamt ca. 600 Kilobyte Quelltext in Turbo-Pascal

Anmerkungen

1) Für den Sensoreinsatz zur Verifikation s. z.B.: J. Altmann, B. Gonsior, Nahsensoren für die kooperative Verifikation der Abrüstung von konventionellen Waffen, Sicherheit und Frieden, vol. 7, no. 2, pp. 77-82, 1989. Zurück

2) R. Alfier, J. Altmann, L. Anger, W. Baus, B. Gonsior, J. Hanousek, W. Kaiser, J. Klinger, J. Malek, M. Pospisil, V. Rudajev, I. Sabo, Ground Vibration and Acoustic Waves Produced by Land Vehicles of the Warsaw Treaty Organization – Results of the 1989 Measurements at Doksy, CSFR, Verification – Research Reports, no. 1, Bochum: Brockmeyer, 1990. Die von uns gegründete Berichtsreihe ist auch für Ergebnisse aus anderen Institutionen offen, z.B.: Burkhard Rost, Automatic Sensor Networks for Verifying Disarmament of Aircraft, Verification – Research Reports, no. 2, Bochum: Brockmeyer, 1991. Zurück

3) R. Alfier, J. Altmann, W. Baus, A. DeVolpi, B. Gonsior, J. Grin, J. Hanousek, V. Journé, W. Kaiser, J. Klinger, P. Lewis, J. Malek, J. Matousek, M. Pospisil, B. Rost, V. Rudajev, I. Sabo, P. Stein, Ground Vibration, Acoustic Waves and Magnetic Disturbances Produced by Land Vehicles of the North-Atlantic Treaty Organization – Results of the 1989 Measurements at Baumholder, FRG, Verification – Research Reports, no. 3, Bochum: Brockmeyer, to appear in 1991. Zurück

4) S. z.B. die Jahresberichte der schwedischen Verteidigungsforschungsanstalt FOA: Seismology 1985, FOA Rapport C 20605-T1; Seismology 1986, FOA Rapport C 20662-9.1 (2.2). S. auch: A. Güdesen, G. Becker, J. Klemp, Luft- und Bodenschallsensoren in der Wehrtechnik, in: Jahrbuch der Wehrtechnik, Bd. 19, Koblenz: Bernard & Graefe, 1990. Zurück

5) Unser Projekt wurde zu mehreren internationalen Buchprojekten über die Verifikation der Abrüstung konventioneller Streitkräfte eingeladen, u.a.: R. Kokoski, S. Koulik (eds.), Verification of Conventional Arms Control in Europe: Technical Constraints and Opportunities, Stockholm/Boulder: SIPRI/Westview, 1990; J. Grin, H. van der Graaf (eds.), Unconventional Approaches to Conventional Arms Control Verification – An Exploratory Assessment, Amsterdam: VU University Press, 1990; F. Calogero, M. L. Goldberger, S. P. Kapitza (eds.), Verification – Monitoring Disarmament, Boulder etc.: Westview, 1991. Zurück

6) J. Altmann, J. Rotblat (eds.), Verification of Arms Reductions – Nuclear, Conventional and Chemical, Berlin etc.: Springer, 1989; J. Altmann, H. van der Graaf, P. Lewis, P. Markl (eds.), Verification at Vienna – Monitoring Reductions of Conventional Forces, to be published. Zurück

Dr. Jürgen Altmann ist Physiker an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied der Naturwissenschaftler – Initiative »Verantwortung für den Frieden«

Zur Zukunft der Rüstung

Zur Zukunft der Rüstung

von Burkhardt J. Huck

Wenn man sich mit der Zukunft der Rüstung beschäftigten will, muß man mit der Gegenwart beginnen. Außerdem muß man sich auf Meßwerte einigen, mit denen sich diese Gegenwart darstellen lässt. Umfang und Ausmaß der Rüstung werden meistens dargestellt in Geldwerten, d.h. durch den Wert des für Rüstung aufgewendeten Finanzvolumens oder in Stückzahlen für Waffen und Gerät. Seltsamerweise gibt es für konventionelle Rüstung keine Darstellungen in kill-capacity also in Tötungs-Kapazität, wie wir das für das Potential nuklearer Waffen kennen, das in overkill-capacity gemessen wird, also der Kapazität alles Leben nicht nur einmal, sondern mehrfach zu vernichten.Im folgenden soll deshalb zuerst versucht werden, anhand der beiden meistens angewandten Indikatoren für den Stand der Rüstung einen Überblick über den gegenwärtigen Stand zu geben und sodann sollen einige Prognosen über die künftige Entwicklung der Rüstung gewagt werden.

Gewaltige Rüstungsberge

Die Verteidigungsausgaben der etwa 160 souveränen Staaten summierten sich 1990 zu der unvorstellbaren Summe von 950 Mrd. Dollar, also etwa 1,6 bis 1,7 Billionen DM. Das ist etwa soviel wie das Bruttosozialprodukt Frankreichs oder die Summe der Addition der Bruttosozialprodukte der VR China, Indiens, Indonesiens, der Türkei, der Republik Südafrika, Algeriens und Jugoslawiens, die zusammen eine Bevölkerung von über 2 Mrd. Menschen haben.

800 Milliarden Dollar oder 86% aller Verteidigungsausgaben entfallen auf die Industrieländer, etwa 500 Milliarden Dollar auf die beiden Supermächte, wobei sich die sowjetischen Militärausgaben nur schwierig in Dollar quantifizieren lassen. Die Sowjetunion beziffert ihre Verteidigungsausgaben mit 71 Mrd. Rubel. Der Gegenwert wird von westlichen Experten auf 230 Mrd. Dollar geschätzt. Die Ausgaben der USA belaufen sich auf annähernd 300 Mrd. Dollar mit leicht fallender Tendenz.

Das Internationale Friedensforschungsinstitut Stockholm hat für 1990 einen Rückgang der weltweiten Verteidigungsausgaben um 5% festgestellt. Mit Blick auf die gewaltigen Zuwächse der Ausgaben von jährlich zwischen 5,5 bis 7% von 1986 bis 1989 scheint dieser Rückgang ziemlich gering. Nun beinhalten die genannten Ausgaben auch die Personalausgaben. Die rüstungsbezogenen Ausgaben dürften sich auf etwa 35% oder 350 Mrd. Dollar bzw. 550 Mrd. DM im Jahr 1990 belaufen.

Werfen wir nun einen Blick auf die gewaltigen Rüstungsberge, die für diese Summen angeschafft wurden bzw. instand gehalten und modernisiert werden. Konzentrieren wir ihn auf Europa, der einzigen Region für die bisher eine historisch beispiellose regionale Abrüstungsvereinbarung erreicht wurde, das Abkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Auch wenn die Zahlen des Abkommens den meisten bekannt sein mögen, möchte ich sie noch einmal kurz vortragen, weil gerade durch dieses Abkommen deutlich wird, welche Zukunft Rüstung trotz Abrüstung hat.

Abrüstung in Europa?

Im Reduzierungsraum, also dem Gebiet vom Atlantik bis zum Ural, das der Vertrag erfasst, sollen bis 1994 die schweren landgestützten Offensivwaffen wie Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artilleriesysteme beider Militärbündnisse auf ein Niveau etwa 10-20% unter dem bisherigen Bestand der NATO reduziert werden. D.h. im Klartext, daß bis 1994 die Bestände an Kampfpanzern für jedes Bündnis 20.000 nicht überschreiten. Die Obergrenzen für gepanzerte Fahrzeuge liegt künftig bei 30.000 und bei Artilleriesystemen bei 20.000. Für Kampfflugzeuge wurde eine Obergrenze von 6.800 vereinbart, etwa 800 mehr als der bisherige Bestand der NATO aufweist und bei Angriffshubschraubern eine Obergrenze von 2000, zwischen 370 bzw. 270 mehr als die Bestände von WP bzw. NATO bisher aufweisen. Wie gesagt gelten die Zahlen für jedes Bündnis, so daß im gesamten Raum nach 1994 noch immer 40.000 Panzer, 60.000 gepanzerte Kampffahrzeuge und 40.000 Artilleriesysteme disloziert sein werden und möglicherweise mehr Kampflugzeuge und -hubschrauber, als vor dem Abkommen.

Auch wenn die verbleibenden Systeme noch immer ein gigantisches Arsenal bilden, so werden durch das VKSE-Abkommen doch auch gewaltige Bestände abgebaut, nämlich: 19.000 Kampfpanzer, 15.500 gepanzerte Fahrzeuge und 4.300 Artilleriesysteme. Mit Blick auf die verbleibenden Bestände nehmen sich die abzubauenden Bestände natürlich noch immer mager aus. Nur muß auch berücksichtigt werden, daß der VKSE-Vertrag ein Vertrag zwischen den 22 Mitgliedsstaaten der beiden Bündnisse ist, die sich noch bis vor kurzer Zeit angriffsbereit gegenüberstanden. Zum anderen ist der Implementierungsprozess des Vertrages mit der vorgesehenen zeitlichen und quotierten Staffelung der Anwendung der zur Verifikation vorgesehenen Maßnahmen derartig komplex, daß er ohne die ernsthafte Kooperationsbereitschaft aller Beteligten wohl kaum erfolgreich durchgeführt werden kann.

Doch selbst wenn allen Beteiligten der gute Wille und die Absicht unterstellt wird, diesen Vertrag bis Ende 1994 zu verwirklichen, so stellt sich doch die Frage, welche Maßnahmen die Beteiligten eigentlich getroffen haben, um ein weiteres Fortschreiten des qualitativen Wettrüstens zu verhindern. Und genau in diesem Punkt liegt das eigentliche Problem.

Das qualitative Wettrüsten geht weiter

Der Einsatz von Mikroelektronik und Datenverarbeitung, von Optik und Sensoren, neuen Werkstoffen und Antriebssystemen hat vor allem in den achtziger Jahren zu ungeheuren Fortschritten in der Rüstungstechnologie geführt. Die Ergebnisse dieses Fortschritts wurden im Golfkrieg sichtbar. Die Waffensysteme, die dort in einer wenig besiedelten Wüstengegend eingesetzt wurden, waren ursprünglich für einen möglichen europäischen Kriegsschauplatz konzipiert. Auch die Konzepte, die den Operationen zugrunde lagen, sind Konzepte, mit denen die NATO auf eine Aggression des Warschauer Paktes reagieren wollte. Strategische und operative Konzepte setzen entsprechende Waffen voraus. Die Waffensysteme, die etwa in den letzten Jahren und auch in den folgenden Jahren aus der Produktion kommen, bzw. aus der Entwicklung kommen sind noch immer Folgen des Kalten Krieges. Die technologischen und strategischen Entwicklungslinien, die vom zweiten Weltkrieg über den Kalten Krieg zur Rüstung unserer Tage führten, sind noch immer nicht unterbrochen.

Im Gegenteil, die laufenden bzw. geplanten Programme und der gegenwärtige Ausstoß der Rüstungsindustrie und die Argumente der Apologeten der Rüstungsplanung unterstützen die Annahme, daß diese Entwicklungslinien sich in den nächsten Jahrzehnten noch ungebremster fortsetzen werden. Die Vorreiter dieser Entwicklung sind nach wie vor die Supermächte Sowjetunion und Vereinigte Staaten.

UdSSR zwischen Rüstungsmodernisierung und Konversion

Trotz der desolaten Lage der sowjetischen Wirtschaft und aller wohlklingenden Konversionspläne haben im Jahr 1990 die sowjetischen Rüstungsfabriken verlassen: 1300 Panzer, 5000 gepanzerte Fahrzeuge, 1350 Artilleriesysteme bzw. Raketenwerfer, 400 Mörser, 100 Flugabwehrsysteme, 175 Hubschrauber, 575 Kampfflugzeuge, 600 Kurzstreckenraketen, 12 U-Boote, 1 Zerstörer, 7 Fregatten und Korvetten, 1900 Anti-Schiff Cruise Missiles, 125 Interkontinentalraketen, 65 Nuklearraketen für U-Boote, 40 Bomber, 400 Langstrecken-Cruise Missiles, 20 Anti-Raketen Cruise Missiles und 13.000 Boden-Luft-Raketen1.

Das schlimmste an diesen Zahlen ist, daß zwar mit einem Rückgang in den nächsten Jahren gerechnet werden kann, aber ein Rückgang von einem solch hohen Sockel eben relativ bleibt. Auch Stand und Entwicklungsaussichten der Konversionspläne der Sowjetunion machen wenig Hoffnung. Sowjetische Offizielle haben versprochen, daß bis Ende 1990 etwa 46 % und 1995 60% der Rüstungsindustrie für zivile Programme konvertiert werden sollen. Abgesehen davon, worauf sich die 60% beziehen – auf alle 700 größeren Rüstungsunternehmen oder nur die 422, die in die Planung einbezogen werden – zweifeln selbst die meisten sowjetischen Fachleute, daß das Programm realisierbar ist. Eines der Hauptprobleme ist, daß die meisten Fabriken vollständig umgerüstet werden müssen. D.h. es müssen völlig neue Fertigungsstraßen eingerichtet werden, bzw. der Maschinenpark muß ausgetauscht werden. Die Kostenschätzungen für dieses Vorhaben schwanken zwischen 40 bis 60 Mrd. Rubel2. Bei einer Ansetzung des Binnenwertes des Rubels mit 3 DM, bedeutet das ein Investitionsvolumen von 120-180 Mrd. DM.

Doch selbst wenn die Mittel vorhanden wären, bleibt fraglich, ob das Programm realisiert wird. Der Druck der Militärs, die Konversionspläne so abzustimmen, daß die rüstungsindustrielle Basis erhalten und modernisiert wird, ist ebenso groß wie etwa in den Vereinigten Staaten oder einigen europäischen Staaten. Die Entspannung in Europa und die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Supermächten ändert nichts an der Tatsache, daß man die Rüstung der jeweils anderen Macht aufmerksam verfolgt und die Rüstungsvorhaben an denen der jeweils anderen orientiert. Admiral Kelso, US Chief of Naval Operations drückt das so aus: „Solange die Sowjetunion acht oder neun Unterseeboote im Jahr sowie Großkampfschiffe baut und ihre Strategischen Streitkräfte modernisiert, dürfen wir nicht vergessen, daß sie die einzige Macht in der Welt ist, die uns vernichten kann.“ 3

Neue Jagdflugzeuge in Planung

Also geht das Wettrüsten auf höchstem technologischen Niveau weiter. Auf welchem technologischem und finanziellem Niveau sich die Rüstungsspirale dreht, zeigen beispielhaft die Jagdflugzeugprogramme der Industrienationen: Insgesamt sieben verschiedene Programme sind zur Zeit in der Sowjetunion, Frankreich, Schweden, den Vereinigten Staaten, Japan und im multinationalen Verbund zwischen Großbritannien, Italien und der Bundesrepublik in der Entwicklung. Diese Programme kosten zusammen, sollte es zur Beschaffung der vorgesehenen Stückzahlen kommen, nach heutigem Preisstand an die 500 Mrd. DM bis zum Jahr 20104. Dazu kommen Kosten für die Bewaffnung mit Luft-Luft-Raketen bzw. Luft-Boden-Raketen verschiedener Reichweiten. Das US-Verteidigungsministerium plant z.B. die Beschaffung von 15.500 Luft-Luft-Raketen mittlerer Reichweite für drei bestehende Typen (F/A-18,F-15,F-16) und den geplanten Advanced Tactical Fighter, was soviel heißt wie fortgeschrittenes taktisches Jagdflugzeug. Der Stückpreis beträgt 780.000 Dollar pro Rakete, das gesamte Programm ist mit über 20 Mrd. DM veranschlagt5. Zugleich sollen bei diesen Flugzeugen auch die bisherigen AIM-9 Sidewinder Raketen für kurze Reichweiten durch neue Luft-Luft-Raketen kurzer Reichweite ersetzt werden. British Aerospace, der größte europäische Rüstungskonzern, rechnet für die ersten zehn Jahre mit einem Exportvolumen für diese Rakete von 7-11 Mrd. DM6.

Diese Beispiele ließen sich vor allem im Bereich der Luftrüstung sowie der C3I Systeme, die im Golfkrieg so dominierten, ad infinitum ergänzen. Ich glaube jedoch nicht, daß das nötig ist, denn es geht vor allem darum aufzuzeigen, daß ohne völlig neuartige Ansätze in der Verteidigungspolitik und insbesondere der Rüstungskontrollpolitik, die Rüstungsspirale immer teurere und effizientere Systeme produzieren wird, die mit Blick auf die wirklich drängenden Sicherheitsprobleme zudem militärisch sinnlos sind.

Kontrolle der qualitativen Rüstungsdynamik?

Im Rahmen des KSE-Vertrages spielt ausgerechnet dieser Bereich keine Rolle. Eine Einbeziehung der Rüstungsindustrie in Form von Herstellungskontrollen in das Kontrollregime ist nicht vorgesehen. Christoph Hoppe und Fritz Rademacher bemerken in einem Aufsatz über das Verifikationsregime des KSE-Vertrages sehr treffend, daß ein solches Regime auch nur von begrenzter Wirkung wäre, „da sich die Territorien der beiden wichtigsten Produzenten, USA und UdSSR, vollständig oder zum größten Teil außerhalb des Anwendungsgebietes des Abkommens befinden. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß die potentielle Fähigkeit zu rascher Aufrüstung durch große unkontrollierte Produktionskapazitäten eine wesentliche Ursache von Instabilität darstellt, die durch die Kontrolle der Produktionsstätten aufgefangen werden sollte.7

Für solche Kontrollen gibt es Vorbilder, nämlich die Beschränkungen und Inspektionen der deutschen Rüstungsindustrie durch die Westeuropäische Union seit Mitte der fünfziger Jahre. Die Rüstungsproduktion der Bundesrepublik war über Jahre auf bestimmte Waffensysteme beschränkt. Die letzte Beschränkung, nämlich die Produktion von weitreichenden Raketen und Langstreckenbombern fiel erst Ende 1988. Inspektoren der WEU führten halbjährlich Stichproben in deutschen Rüstungsunternehmen durch. Auch im Rahmen des Vertrages über den Abbau der Mittelstreckenraketen gibt es ein Inspektionsregime für die Produktionsstätten der SS-20 oder der Pershing 2. Dieses Inspektions- und Kontrollregime ist allerdings im Vergleich zu dem oben geforderten Regime relativ einfach.

Das größte Problem für ein solches Regime wäre der Schutz der technologischen Basis der jeweils inspizierten Staaten. Möglich wäre etwa ein anderer Ansatz, nämlich der von Moratorien für besonders destabilisierende Waffen- oder C3I-Systeme. Moratorien wurden gelegentlich einseitig vorgeschlagen und auch vorübergehend eingehalten, etwa letztes Jahr von der Sowjetunion für bestimmte landgestützte Nuklearraketen oder in den Jahren davor für Nuklearversuche. Des weiteren gibt es einen Ansatz, den der deutsche Außenminister vorgeschlagen hat: nämlich in Rüstungskontrollabkommen die Konversion von Produktionsstätten festzuschreiben. Nur ist jeweils zu bedenken, daß solche Vorhaben einen beachtlichen Verifikationsaufwand mit sich bringen und daß die Technologien für Verifikation noch in der Entwicklung sind, bzw. sich erst einmal im Rahmen bestehender Verträge bewähren müssen.

Eine weitere denkbare Lösung wären multilaterale Vereinbarungen z.B. im Rahmen der Bedingungen für die Kreditvergabe an die Sowjetunion. Vorstellbar wären z.B. Auflagen in Richtung auf eine zügige Konversion der sowjetischen Rüstungsindustrie. Nur dürfte das nur Sinn machen, wenn auch die westlichen Industriestaaten und auch Schwellenländer, die z.T. bereits beachtliche rüstungsindustrielle Kapazitäten aufgebaut haben, einbezogen werden. Da auch China oder Indien einbezogen sein müssten, stellt sich die Frage, ob sich so ein Regime nicht im Rahmen der Vereinten Nationen insbesondere des Sicherheitsrates implementieren ließe. Im Gefolge des Golfkrieges waren ja endlich ernsthaftere Äußerungen zu vernehmen, die Rüstungsexporte restriktiver zu handhaben und ein Register der Waffenlieferungen bei den Vereinten Nationen einzurichten. Letzeres Vorhaben war bisher immer am Desinteresse der Warschauer Paktstaaten gescheitert. Das setzt jedoch voraus, daß die Vereinten Nationen insgesamt gestärkt werden und größere Rechte erhalten. Von der Sowjetunion sind in dieser Hinsicht wohlmeinende Äußerungen zu hören gewesen, die Vereinigten Staaten scheinen jedoch weniger Interesse daran zu haben, auch nur einen Bruchteil ihrer sicherheitspolitischen Souveränität abzugeben.

Weitergehende Rüstungsreduzierungen nötig

Die Selbstbeschränkung der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Umfang der Streitkräfte und Bewaffnung als Ergebnis des Einigungsprozesses im Rahmen der KSZE ist ein erster vorbildlicher Schritt. Es bleibt zu hoffen, daß die anderen europäischen Mächte im Rahmen der Folgeverhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa folgen. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, blieben die strategischen Potentiale der Supermächte außerhalb Europas unangetastet. Eine Beschränkung der nuklearen strategischen Potentiale ist zwar im Rahmen von START in Sicht, nicht jedoch der konventionellen strategischen Potentiale. Das ist mit Blick auf die oben präsentierten Daten genauso dringlich wie weitere regionale Abrüstungsmaßnahmen nach dem Vorbild der KSZE bzw. der VKSE z.B. im Nahen Osten oder im Südlichen Afrika. Stabilität in den internationalen Sicherheitsbeziehungen wird sich nur erreichen lassen, wenn die in den Jahren des Kalten Krieges aufgebauten überdimensionierten Rüstungs- und entsprechenden industriellen Potentiale auf das möglichst niedrige Niveau reduziert werden. Abrüstung in- und out-of-area muß allen Diskussionen um eventuelle out-of-area Einsätze vorangehen und nicht umgekehrt.

Burkhardt J. Huck, Friedens- und Konversionsforscher, arbeitet z. Zt. bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen.

Editorial

Editorial

von Paul Schäfer

in dieser Ausgabe befassen wir uns vor allem mit dem Stand von Rüstung & Abrüstung. Die Lage scheint auf den ersten Blick verwirrend. Daß Streitkräfte verringert, die Rüstungsausgaben nicht mehr auf gleichem Niveau gehalten werden können, ist offenkundig. Auch die Aussichten auf neue Abrüstungsabkommen stehen nicht schlecht. Aber von einer Abrüstungsdynamik sind wir noch weit entfernt. Stattdessen wird nahezu überall die Modernisierung der Waffen vorangetrieben. Die Notwendigkeit militärischer Interventionsinstrumente wird propagiert.

Die Widersprüchlichkeit steckt in der Sache selbst. Weder ist das Zeitalter der »Ent-Rüstung« angebrochen, noch feiert der alte »Militarismus« wieder Hochkonjunktur. Wir scheinen uns vielmehr in einer typischen Übergangssituation zu befinden – mit widerstreitenden Tendenzen, noch offenen Entwicklungsmöglichkeiten.

Wir werden darauf gestoßen, wie stark die Kräfte der Beharrung im alten status quo sind und wie weit das Interessengeflecht zwischen Militär, Industrie, Wissenschaft und Politik reicht. Aber gleichzeitig werden die Grenzen militärischer Macht immer deutlicher. Unter dieser Überschrift schrieb G. Nonnenmacher in der FAZ: „…es ist auch offensichtlich, daß zur Bewältigung der großen Herausforderungen im ausgehenden 20. Jahrhundert militärische Instrumente nicht taugen.“ Zumindest drei Thesen lassen sich formulieren:

1. Die Legitimationskrise des Militärischen dauert trotz Golfkrieg und Balkankrise an. Die von NATO-Offiziellen jetzt bemühten diffusen Bedrohungen und Risiken ändern daran kaum etwas. Der aufgeblähte Militärapparat des Kalten Krieges bezog seine Berechtigung aus dem Zerstörungsarsenal der jeweils anderen Seite. Gegen die SS 20 »brauchte« man Pershings. Als zukünftige Konfliktpotentiale machen NATO-Politiker v.a. wirtschaftliche, soziale Probleme, ideologische Bewegungen und ethno-nationale Reibungen aus. Welchen Beitrag in diesem Zusammenhang das Militär zur Konfliktlösung leisten könnte, müsste spezifisch begründet werden. Schon Theo Sommer schrieb zu Recht, daß man Hunger nicht mit Napalm bekämpfen kann. Vielmehr gilt: die nach wie vor exorbitanten Rüstungsausgaben beschneiden die Möglichkeiten, den eigentlichen Problemen zu Leibe zu rücken, außerordentlich.

2. der materielle Problemdruck nimmt zu. Der dringend gebotene wirtschaftliche Ausgleich zwischen West und Ost, Nord und Süd, und die Erfordernisse der Ökologie haben ihren Preis. Ohne die Friedensdividende ist er nicht zu entrichten. Kooperation statt Konfrontation ist angesagt.

3. die Kräfteneuverteilung zwischen den verbleibenden Machtzentren USA, Westeuropa, Japan hat gerade erst begonnen. Es geht auch um unterschiedliche Akzente bei den Austragungsformen von Konflikten. Die Europäer setzen eher auf Wirtschaftsdiplomatie und kooperative Politik. Das Engagement von EG und KSZE in der Balkan-Krise ist dafür wichtiges Indiz. Natürlich geht es um das Exempel, wer künftig die Kompetenz zur Lösung weltpolitischer und regionaler Probleme hat. Aber hier sollen auch Formen »ziviler« Konfliktbeilegung etabliert und vorgeführt werden.

Mit diesen Thesen ist nicht gesagt, daß die Dinge schon in die richtige Richtung laufen. Der Rückfall in die alten Zeiten ist möglich (s. Golf). Es geht um »säkulare« Einflußfaktoren, die die praktische Durchsetzung vernünftiger Politik erleichtern. Dazu werden freilich immer noch Akteure gebraucht.

Ihr Paul Schäfer

Stabile Wege zu konventioneller Abrüstung

Stabile Wege zu konventioneller Abrüstung

von Roland Span

Ausgehend von der Fachtagung »Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa« im Juni 1989 hat sich in Bochum eine kleine Gruppe von Naturwissenschaftlern und <->Ingenieuren weiter mit Fragen konventioneller Rüstung und Abrüstung beschäftigt. In diesem Kreis haben wir nach <->einer groben »Bestandsaufnahme« verschiedene Konflikt- und Abrüstungsszenarien diskutiert. Diese Diskussionen mündeten immer wieder in <->eine Reihe altbekannter Forderungen an zukünftige Abrüstungsschritte, aber auch in <->eine Reihe offener Fragen. Mit dem vorliegenden Artikel möchte ich versuchen, die bekann<->ten Forderungen noch einmal zu formulieren und zu begründen, und die offenen Fragen in einem größeren Kreis zur Diskussion zu stellen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen, die seit Mitte 1989 stattgefunden haben, würde ich mich freuen, wenn auf diese Weise die Diskussion über die Abrüstung konventioneller Streitkräfte in <->Europa noch einmal belebt werden könnte, denn ich bin keineswegs davon überzeugt, daß die rüstungspolitischen Entscheidungen der nächsten Jahre ohne öffentlichen Druck in unserem Interesse ausfallen werden.

Auf politischer Ebene wird in der Sowjetunion heute nicht mehr das »Reich des Bösen« gesehen, dessen Einfluß in der Welt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingegrenzt werden muß, sondern ein souveräner Staat, dessen Sicherheitsinteressen prinzipiell anerkannt werden. Der Ost-West-Konflikt scheint weitgehend überwunden zu sein. In der Politik wird die Entschärfung des sich anbahnenden Nord-Süd-Konfliktes bereits als die große Herausforderung der nächsten Jahre oder Jahrzehnte betrachtet. Der Golfkrieg hat gezeigt, wie dringend Schritte zur Entschärfung dieses Konfliktes sind. Die Stimmung in der bundesdeutschen Bevölkerung deckt sich weitgehend mit dieser politischen Einschätzung. Angesichts der deutschen Vereinigung, freier Wahlen in Osteuropa und des schwindenden Einflusses der Sowjetunion, sieht sich kaum noch jemand durch die Militärpotentiale von Ost und West bedroht. Die militärische Situation unterscheidet sich allerdings grundlegend von der politischen Situation. Dank fortlaufender Modernisierungsmaßnahmen standen sich Ende letzten Jahres in Europa die stärksten Streitkräfte aller Zeiten gegenüber. Zur Zeit beginnt sich diese Situation durch den Abzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa und den Zerfall der Warschauer-Vertragsorganisation (WVO) zu verändern. Im Westen gibt es dagegen bisher keine vergleichbar weitgehenden Schritte. Kein Zweifel: Militärisch ist ein Krieg in Europa immer noch möglich. Daran ändert auch der Abschluß der ersten Phase der VKSE-Verhandlungen in Wien nichts. Was bleibt, ist das Argument, daß Waffen nur gefährlich sind, wenn auch jemand bereit ist, sie einzusetzen. Sicher ist diese Aussage in soweit richtig, als im Moment in Europa keine Gefahr für einen bewaffneten Ost-West-Konflikt besteht. Aber die vergangenen Jahre haben auch gezeigt, wie instabil solche politischen Wetterlagen sein können. Die innenpolitische Situation in der UdSSR ist alles andere als stabil und die USA sind nach dem »erfolgreichen« Golfkrieg weniger denn je bereit, bei außereuropäischen Konflikten auf die Rolle der militärischen Großmacht zu verzichten. Konfliktstoff gibt es auf der Welt mehr als genug, und daß Großmachtpolitik jeder Art schnell wieder zu einer Konfrontation der Supermächte führen kann, hat sich in den letzten Wochen des Golfkrieges angedeutet. Wirklich sicher wird die Situation in Europa erst, wenn der bestehende Militärapparat so weit reduziert und umstrukturiert ist, daß – für alle anderen Staaten offensichtlich – der aggressive Einsatz militärischer Mittel für keinen Staat unter noch so engstirnigen Zielsetzungen einen Sinn ergibt. Dieser Zustand muß das Ziel von Verhandlungen über Abrüstung in Europa sein, wobei im Anschluß daran der nächste Schritt, die völlige Abschaffung militärischer Strukturen, durchaus als realistisches Ziel formuliert werden kann. In Europa besteht heute die historische Chance, den Weg weg von der militärischen Konfrontation einzuschlagen. Aber dieser Weg birgt auch Risiken, und mancher Schritt, der zunächst sehr vielversprechend zu sein scheint, kann sich später als Fehler entpuppen. In den beiden folgenden Szenarien möchte ich versuchen, mögliche Fehlentwicklungen in der Rüstungspolitik aufzuzeigen und daraus die eingangs bereits erwähnten Forderungen an zukünftige Abrüstungsschritte zu formulieren. Das dritte Szenario leitet dann über zur aktuellen politischen Situation in Europa und zu den noch offenen Fragen.

1. Szenario: Europa nach der ersten Phase der VKSE-Verhandlungen in Wien

Die Ende letzten Jahres abgeschlossene erste Phase der VKSE-Verhandlungen in Wien wird, bei fristgerechter Umsetzung der Vereinbarungen, bis 1994 die numerischen Ungleichheiten bezüglich der konventionellen Rüstung in Europa beseitigen. Die damit verbundenen Reduktionen sind vor allem im Bereich der Panzerverbände erheblich. So wird die Zahl der Kampfpanzer im Vertragsgebiet (ATTU: Atlantic-to-the-Urals) von 58.000 auf 40.000 sinken, die Zahl der sonstigen gepanzerten Kampffahrzeuge wird von 78.000 auf 60.000 zurückgehen. Allerdings treffen diese Reduktionen die Staaten der WVO sehr viel stärker als die NATO-Staaten, da vor allem das sowjetische Rüstungskonzept in den vergangenen Jahrzehnten stets auf quanitative Überlegenheit gesetzt hat. Dazu kommt, daß sich die Abrüstung durch die Festlegung von Obergrenzen für Unterbereiche und Staaten im Wesentlichen auf je einen Staat in Ost und West konzentriert: Die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland (für die Bundesrepublik Deutschland waren weitgehende Abrüstungsschritte ja bereits in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung festgelegt worden). Aus diesem Grund ergeben sich in allen Waffenkategorien für einen Teil der Staaten sogar noch Aufrüstungoptionen. Nur in der Sowjetunion gehen die Abrüstungsschritte so weit (7.500 von 21.000 Kampfpanzern, 10.000 von 30.000 sonstigen gepanzerten Fahrzeugen, 1.300 von 6.400 Kampfflugzeugen), daß man davon ausgehen kann, daß die verbleibenden Waffen durchweg auf hohem, zu einem großen Teil auf höchstem technischen Niveau stehen werden. Auf westlicher Seite wird durch die neuen Obergrenzen nur ein kleiner Teil der als veraltet empfundenen Waffensysteme verschrottet. So gehörten im Jahre 1987 z.B. erst etwa 43 Prozent der von der NATO eingesetzten Flugzeuge zur sogenannten »dritten Generation« – die Militärs drängen seit langem auf baldigen Ersatz für die älteren Flugzeuge. Auf diese Weise läßt eine zu hohe Festlegung quantitativer Obergrenzen Spielraum für qualitative Aufrüstung, ohne daß auch nur ein neues Waffensystem entwickelt wird. Leider wird es aber bei dieser Form der qualitativen Aufrüstung nicht bleiben. In der Sowjetunion geht man seit langem von einer qualitativen Überlegenheit der westlichen Streitkräfte aus, was, wenn auch von der NATO häufig bestritten, für die meisten Spitzenprodukte westlicher Waffentechnologie sicher richtig ist. Sieht sich die Sowjetunion nun quantitativ gleich starken Kräften überlegener Qualität gegenüber, so muß ihre Reaktion entsprechend militärischer Logik die Entwicklung einer neuen Waffengeneration sein, die dann wiederum vom Westen als Bedrohung empfunden wird. Solange nicht der Abschreckungsgedanke als solcher überwunden wird, verlagert sich das Wettrüsten auf diese Weise nur von der quantitativen auf die qualitative Ebene. Die Folgen eines solchen qualitativen Rüstungswettlaufes wären katastrophal. Insbesondere im Bereich des weitreichenden konventionellen Feuers sind in den nächsten Jahren bei fortgesetzter Entwicklungstätigkeit enorme »Fortschritte« zu erwarten. Die Einführung »intelligenter«, also selbständig zielsuchender Submunition wird die »konventionelle« Kriegsführung revolutionieren. Da ein großer Teil der modernen Waffensysteme schon heute für die Aufnahme solch intelligenter Munition vorbereitet ist (z.B. der Mehrfachraketenwerfer MARS und der TORNADO mit seiner Mehrzweckwaffe 1), ließe sich dieser Aufrüstungsschritt als sogenannte »Kampfwertsteigerung« schnell und ohne großes öffentliches Aufsehen durchsetzen. Um sich eine Vorstellung von der Bedeutung einer solchen Maßnahme zu machen, sei hier auf ein makaberes Zahlenbeispiel hingewiesen, das schon 1983 von Wehrexperten der CDU/CSU angeführt wurde: Um eine sowjetische Division kampfunfähig zu machen (das heißt etwa 60% des Verbandes zu vernichten!), braucht man etwa 10.000 konventionell bestückte Raketen, oder 1.500 Raketen mit panzerbrechender Submunition, oder 50 bis 60 Raketen mit intelligenter Submunition. Das Fazit ist klar: bei ungebremster qualitativer Entwicklung können zahlenmäßig kleinere Streitkräfte schlagkräftiger sein als die heute in Europa stationierten Streitkräfte. Aber welche Forderungen lassen sich aus dieser Erkenntnis nun für Abrüstungsverhandlungen gewinnen? Die erste Forderung muß sicher eine sehr viel weitgehendere Reduzierung der bestehenden Waffenarsenale sein. Erst eine Reduzierung, die über den in den jeweiligen Waffengattungen vorhandenen Bestand an veralteten Waffen hinausgeht, bietet keinen Anreiz für eine Aufrüstungsrunde, in der lediglich bereits existierende Waffentypen in Dienst gestellt werden. Die zweite Forderung muß eine Ausdehnung von Abrüstungsverträgen auf qualitative Kriterien sein. Dabei dürfte es sich als praktisch unmöglich erweisen, bestehende Truppen und Waffensysteme qualitativ zu bewerten, da eine solche Bewertung stets sehr schwer belegbare Annahmen über Ausbildungsstand der Mannschaften und Einsatzbereitschaft der Waffensysteme enthält. Aber selbst wenn bezüglich dieser bisher streng geheimen Punkte größtmögliche Transparenz geschaffen wird, so hängt die Bewertung eines Waffensystems immer noch sehr stark von dem Szenario ab, in dem sein Einsatz durchdacht wird. Im Rahmen von Abrüstungsverhandlungen Einigkeit über diese Szenarien zu erzielen, scheint völlig undenkbar zu sein. Der einzig gangbare Weg zur Einbeziehung qualitativer Kriterien dürfte daher sein, den jetzigen Zustand bezüglich der Qualitätsverteilung als »in etwa Gleichgewicht« zu betrachten. Unter dieser Voraussetzung sollte es möglich sein, die Einführung neuer Waffensysteme vertraglich einzuschränken. Dabei müssen unbedingt auch sogenannte »Kampfwertsteigerungen« erfaßt werden, da sich durch solche Maßnahmen verhältnismäßig schnell (und damit destabilisierend) erhebliche Verschiebungen im Kampfkraftgefüge erreichen lassen.

2. Szenario: Weitgehende Reduktionen

Für das zweite Szenario möchte ich davon ausgehen, daß die soeben aufgestellte Forderung nach weitergehender Abrüstung erfüllt worden ist. Eine solche Situation könnte sich zum Beispiel nach einem erfolgreichen Abschluß der zweiten Verhandlungsphase in Wien ergeben, dann durchaus auch in Kombination mit qualitativen Begrenzungen. Wird das Ende Mai von den Verteidigungsministern der NATO vorgestellte neue NATO-Konzept aber im Herbst auch von den Staatschefs abgesegnet, was im Moment sehr viel wahrscheinlicher ist als rasche Erfolge bei der Begrenzung qualitativer Aufrüstung, so wird die quantitative Abrüstung wohl mit qualitativer Aufrüstung einhergehen. Denn in diesem Fall geht es nicht wirklich um Abrüstung in Europa, sondern darum, die NATO für zukünftige Konfliktszenarien innerhalb wie außerhalb Europas handhabbarer und effektiver zu machen. In Europa stehen sich dann zwei Militärblöcke gegenüber, deren Militärarsenale gegenüber heute drastisch reduziert worden sind (denkbar wären vielleicht fünfzig Prozent der jetzigen NATO-Stärke auf jeder Seite). Wie sieht es in dieser Situation mit der oft geforderten strategischen Stabilität in der Krise aus? Aus hohen NATO-Kreisen hat man im Zusammenhang mit Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in der Vergangenheit immer wieder gehört, daß es für die Truppenkonzentration in einem Gebiet eine Grenze gäbe, unter der eine flächendeckende Verteidigung nicht mehr möglich sei. Wo diese Grenze liegt, läßt sich sicher nicht naturwissenschaftlich exakt sagen, aber im Prinzip leuchtet die Aussage durchaus ein: Wer ein Gebiet verteidigen will, muß genügend Truppen zur Verfügung haben, um dem Gegner, der seine Truppen zu einem Angriffskeil geballt hat, solange standzuhalten, bis eigene Verstärkungen eingetroffen sind. Diese kritische Untergrenze wird nach früheren NATO-Aussagen durch den VKSE-Vertrag praktisch erreicht, durch drastische Reduktionen würde sie sicherlich unterschritten. Nun sind Aussagen dieser Art immer mit einer gewissen Portion Skepsis zu betrachten, denn selbst wenn man die Existenz einer solchen Grenze akzeptiert, so ist der Grenzwert doch sehr stark von Stärke und Struktur der angreifenden Truppen, sowie verschiedenen strategischen Voraussetzungen abhängig. Zum Beispiel kann die Gefahr eines Überraschungsangriffs durch die modernen Mittel der Aufklärung heute weitgehend ausgeschlossen werden, wenn es dem Angreifer nicht gelingt, starke Truppenverbände unter einem unverdächtigen Vorwand in Grenznähe zusammenzuziehen, oder die Aufklärungssatelliten der Gegenseite auszuschalten. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der bereits vereinbarten Inspektionen bei Großmanövern (Stockholmer KSZE-Nachfolgekonferenz, 1986; erweitert im VKSE-Vertrag, 1990) und des, auf amerikanischer Seite leider immer noch in Frage gestellten, Verbots von Weltraumwaffen deutlich. Gehen wir für unser Szenario davon aus, daß diese hypothetische Untergrenze tatsächlich, oder, was praktisch genau so schlimm ist, in der Auffassung der Militärs durch den Abrüstungsprozeß unterschritten wurde. Aus militärischer Sicht ergeben sich damit zwei mögliche Konsequenzen: Die erste, bis zu einer neuen, niedrigeren Untergrenze tragfähige Lösung wäre eine erhöhte Mobilität der Truppen. Damit wäre es möglich, schneller Verstärkung heranzuführen, womit wiederum dem Gegner weniger Zeit bliebe, einen erzielten Durchbruch auszunutzen. Um Anforderungen gerecht zu werden, die vom Gedanken einer zentraleuropäischen Ost/West-Front abweichen, beschreitet die neue NATO-Struktur genau diesen Weg. Leider sind solche mobileren Truppen aber auch besser in der Lage, selber Angriffsformationen zu bilden. Damit wächst die Bedrohung für die Gegenseite, die daraufhin nach geeigneten rüstungspolitischen Gegenmaßnahmen suchen wird. Die zweite Alternative ist fast noch weniger wünschenswert. Ignoriert man die Gefahr einer (angeblich) nicht mehr möglichen Verteidigung nämlich einfach, weil zur Zeit ja keine konkrete Bedrohung zu erkennen ist, so müßten die Militärs, völlig im Einklang mit der ihnen eigenen Logik, in Krisenzeiten ihre Regierung drängen, selber anzugreifen. Auf diese Weise würde im konventionellen Bereich eine unvertretbar hohe Erstschlagprämie geschaffen. Die aus diesen Überlegungen resultierende Forderung ist klar: Einschneidende Abrüstungsmaßnahmen müssen mit einer strukturellen und waffentechnischen Umorganisation der Streitkräfte einhergehen.

Strukturelle Angriffsunfähigkeit

Beide Seiten müssen für ihre Armeen einen Zustand struktureller Angriffsunfähigkeit anstreben (das ist genau konträr zur aktuellen NATO-Planung!). Nun ist die Idee, Truppen so zu strukturieren, daß sie zwar das eigene Territorium verteidigen können, durch organisatorische, logistische und waffentechnische Gründe aber daran gehindert werden selber anzugreifen, keineswegs neu. Spätestens seit dem Buch von Horst Afheldt (Defensive Verteidigung, Rowohlt Verlag 1983) werden verschiedene Konzepte dieses Zuschnitts sowohl auf Seiten der Friedensbewegung, als auch auf Seiten des Militärs kontrovers diskutiert. Die Gründe, aus denen diese Konzepte bisher stets abgelehnt wurden, waren aber naturgemäß auf beiden Seiten nicht die gleichen. Auf Seiten der Friedensbewegung wurde stets argumentiert, daß diese Konzepte abzulehnen seien, weil sie die militärische Konfrontation an sich nicht in Frage stellten. Allenfalls seien sie als Übergangslösung akzeptabel, doch erfordere die Umstrukturierung der vorhandenen Truppen die Beschaffung neuer, »defensiver« Waffensysteme, und die daraus resultierenden Kosten seien für eine reine Übergangslösung nicht tragbar. Auf militärische Seite sprachen zwei Hauptargumente gegen den Gedanken der strukturellen Angriffsunfähigkeit. Zum einen ist eine Armee, die sehr stark auf die Verteidigung von Territorium ausgerichtet ist, nicht in der Lage, einen einmal eingedrungenen Feind durch Gegenangriffe wieder zu vertreiben. Solange es das Ziel militärischer Denkweise ist, einen Gegner zu besiegen, oder der eigenen Regierung zumindest Verhandlungen aus einer Position der Stärke zu ermöglichen, ist diese Option aber anscheinend unverzichtbar. Das zweite Argument gegen rein defensive Verteidigungskonzepte beruht auf einem Manko, das bisher keine dieser Strategien wirklich vermeiden konnte: Wie kann man sich mit rein defensiver Bewaffnung und unter Verzicht auf Massenvernichtungswaffen gegen einen Gegner verteidigen, der über ein lückenloses Potential von Atomwaffen verfügt, die er zu jeder Art politischer oder militärischer Erpressung benutzen kann? Zumindest drei dieser vier Argumente lassen sich aber angesichts der veränderten Lage in Europa heute erstmals entkräften. So gingen bisher alle strategischen Modelle davon aus, daß sich ein defensiv orientiertes Heer gegen einen Angreifer zur Wehr setzen muß, der über einen stark offensiv orientierten Militärapparat verfügt. Werden aber im Rahmen von Abrüstungsverträgen Strukturen verabredet, die beide Seiten zu einer defensiven Orientierung verpflichten, so ändert sich die Situation ganz entscheidend. Die dann noch verbleibenden mobilen Verbände (praktisch alle Modelle sehen zahlenmäßig schwache Verbände vor, die in der Lage sind, den ortsfesten Einheiten in besonders bedrängten Regionen zu Hilfe zu eilen) sind sicher nicht in der Lage, einen Angriffskrieg gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Defensivsysteme des Gegners zu führen. Die Frage, wie ein einmal eingedrungener Angreifer dazu gezwungen werden kann, das besetzte Territorium wieder freizugeben, wird in Zukunft die UNO beantworten müssen. Der Golfkrieg hat gezeigt, daß militärische Mittel zu diesem Zweck ungeeignet sind – Kuwait ist zwar befreit, ist aber ohne Hilfe von außen nicht in der Lage, die ökologischen und ökonomischen Folgen dieser Befreiung zu überwinden. Es gilt, Verfahren zu entwickeln, mit denen internationales Recht ohne Waffengewalt durchgesetzt werden kann. Was die Bedrohung durch taktische und eurostrategische Atomwaffen angeht, so scheint der Osten einer drastischen Reduzierung oder besser noch Abschaffung dieser Waffensysteme weniger im Wege zu stehen als der Westen, womit auch das Nuklearargument an Bedeutung verlieren würde, wenn der Westen nur wollte. In diesem Punkt ist der von der NATO geplante Ersatz der vorhandenen taktischen Atomwaffen durch luftgestützte Atomwaffen ein Schlag ins Gesicht jeglicher Abrüstungsbemühungen. Neue luftgestützte Atomwaffen wären flexibler, genauer und gegen Ziele in aller Welt einsetzbar – kurzum: sie würden einen Atomkrieg führbarer machen. Offensichtlich wird hier ein erhöhtes Atomkriegsrisiko in Europa in Kauf genommen, um die atomare Handlungsfähigkeit der NATO bei außereuropäischen Konflikten zu stärken. Und schließlich verliert auch das Kostenargument im Rahmen weitgehender Abrüstungsverträge seine Stichkraft. Die Waffen, um deren Anschaffung es bei der Umstellung auf ein defensives Verteidigungskonzept geht, sind keine völlig neuen Waffensysteme, nur sind sie bisher im Vergleich zu der großen Zahl offensiver Waffen zu schwach vertreten (z.B. Panzerabwehrraketen, Panzerabwehrhubschrauber). Würden nun die offensiven Waffensysteme konsequent zuerst abgebaut, so sollte sich die Umstellung auf eine defensive Struktur ohne groß angelegte Beschaffungsprogramme vollziehen lassen. Nicht vermeiden lassen dürften sich dabei aber leider die Kosten organisatorischer Umgruppierungen, wie etwa der Bau neuer Unterkünfte. Das einzige grundlegende Argument, das auf diese Weise nicht entkräftet werden kann, ist, daß sich auch ein strikt defensives Verteidigungsmodell noch den Regeln militärischer Logik beugen muß. Daher ist es auf alle Fälle wichtig, politische Zielvorstellungen so weitgehend zu formulieren, daß dieser Zustand eindeutig als Zwischenzustand und nicht als neuer Status Quo betrachtet wird.

3. Szenario: Berücksichtigung der politischen Umwälzungen

Nun bin ich in den ersten Szenarien stets davon ausgegangen, daß die politische Situation in Europa praktisch die gleiche ist, wie zu Beginn der VKSE-Verhandlungen. Tatsächlich hat der Warschauer Pakt aber aufgehört zu existieren. In wieweit verändert sich nun die Situation, wenn die Sowjetunion als einziger Staat der ehemaligen WVO-Gruppe übrigbleibt? Die plausibelste Annahme für ein solches Szenario dürfte sein, daß die kleinen osteuropäischen Staaten eine militärisch äußerst schwache Zone bilden werden (für eigene Rüstungsprojekte fehlt das Geld und die NATO verweigert ihnen den Beitritt). Das Territorium der ehemaligen DDR ist bezüglich der konventionellen Streitkräfte weitgehend in die NATO integriert. Lediglich Atomwaffen bleiben auf das alte NATO-Gebiet beschränkt, was aber bei Einführung luftgestützter taktischer Atomwaffen bedeutungslos wird. Zunächst bleibt festzustellen, daß auch die Sowjetunion alleine in der Lage ist, der NATO in etwa ebenbürtig entgegenzutreten. Das quantitative und qualitative Gefälle der Kampfverbände von UdSSR und ehemaligen Verbündeten ist sehr viel ausgeprägter als das Gefälle zwischen der USA und den anderen NATO-Staaten. Während in der NATO in den vergangenen Jahrzehnten jeder Staat eine mehr oder weniger selbständige Ausrüstungspolitik verfolgt hat, war es in der WVO gängige Praxis, daß die UdSSR ihre ausgemusterten Waffensysteme an die Verbündeten weitergegeben hat, bzw. in der UdSSR entwickelte Waffen erst sehr viel später an die Verbündeten weitergegeben wurden. Außerdem lag das Schwergewicht der Rüstungsausgaben wesentlich stärker auf Seiten der UdSSR, und Ausbildung und Kampfmoral der nicht-sowjetischen WVO-Truppen galten schon lange als fragwürdig. Aus diesem Grund wiegt der Verlust der Verbündeten für die UdSSR weniger schwer, als das bei einem Anteil von etwa 22 Prozent an der Gesamttruppenstärke zu erwarten wäre. Wie würde sich nun die Existenz einer quasi waffenlosen Zone auf die Stabilität in Europa auswirken, wenn man von einem militärischen Gleichgewicht zwischen der NATO und der Sowjetunion ausgeht? Die Antwort auf diese Frage hängt wiederum sehr stark von Struktur und Organisation der noch vorhandenen Truppenverbände ab. Handelt es sich auf beiden Seiten um defensiv strukturierte Truppen, so hat keine Seite einen Vorteil aus der Eroberung von schwach verteidigtem Terrain, da ihre Truppen ja nur innerhalb der auf eigenem Gebiet vorhandenen logistischen Strukturen wirkungsvoll operieren können. In diesem Fall kann die Existenz waffenfreier Zonen in Krisensituationen sehr stabilisierend wirken: Grenzkonflikte, die auf einer untergeordneten Befehlsebene ausgelöst werden können, werden durch die räumliche Distanz vermieden. Stehen sich aber auf beiden Seiten moderne, offensiv orientierte Truppen gegenüber, so sieht die Situation entscheidend anders aus. Diese Truppen benötigen »die Tiefe des Raumes«, um ihre volle Wirkung entfallten zu können. Während diese Vorstellung bisher hauptsächlich NATO-Militärs Kopfschmerzen bereitete, die praktisch alle westdeutschen Bevölkerungszentren im Einzugsbereich einer solchen Auseinandersetzung sahen, müssen sich jetzt auch die Sowjets ernste Gedanken über ihre westrussischen Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren machen (aus der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg heraus dürfte die sowjetische Bevölkerung für solche Schreckensbilder noch sehr viel empfänglicher sein). Zumindest eine Konsequenz aus dieser Situation ist klar: Im Falle einer sich dramatisch zuspitzenden Krise kann die Seite einen wesentlichen Vorteil verbuchen, die ihre militärisch schwachen Nachbarn zuerst überrollt, und damit den Krieg an die Grenze des Gegners trägt. Nun kann die Konsequenz aus dieser Erkenntnis nicht sein, von westlicher Seite auf eine Neuauflage der Warschauer Vertrags-Organisation hinzuwirken. Vielmehr wird auch aus dieser Überlegung klar, daß die in Europa gültigen offensiven Militärdoktrinen der politischen Situation in keiner Weise mehr gerecht werden. Leider birgt diese Situation noch eine andere Gefahr, die auch ohne akute Krisensituation zum Tragen kommen kann. Sobald die ehemaligen Verbündeten der UdSSR nämlich beginnen, die Position zwischen den beiden Lagern als bedrohlich zu empfinden, werden sie versuchen, ihre eigenen Streitkräfte wieder zu verstärken. Die könnten einen starken Angreifer zwar nicht aufhalten, könnten ihm aber zumindest den strategischen Vorteil streitig machen, indem sie seinen Vormarsch bremsen. Eine solche Entwicklung würde zu einer »Renationalisierung« der Verteidigungsanstrengungen, und damit zu einer sehr viel unübersichtlicheren und konfliktgeladeneren Situation führen.

Offene Fragen

In den drei vorangegangenen Szenarien ist wohl klar geworden, wie komplex die Entwicklungen sind, die sich zur Zeit in Europa vollziehen. Unbedachte Schritte können ebenso wie Schritte, die sich an den vermeintlichen Erfordernissen des Nord-Süd-Konfliktes orientieren, heute bereits den Konfliktstoff für das Europa von morgen enthalten. Doch bleiben neben den hier diskutierten Punkten noch eine ganze Reihe von wichtigen Fragen politischer und militärischer Natur offen, die bisher, zumindest öffentlich, noch viel zu wenig Beachtung finden. Einige dieser Fragen sollen hier kurz angerissen werden, um eine Basis für weitergehende Diskussionen zu schaffen. Sollte es gelingen, in Europa defensiv orientierte Verteidigungsstrukturen aufzubauen, welche Rolle können dann noch die USA in Europa spielen? Wäre ein Rückzug der USA aus einem militärisch stabilen Europa wünschenswert, oder würde auf diese Weise nicht ein System mit drei Blöcken geschaffen, das gar nicht wirklich ausgewogen sein kann, weil Europa und die USA stets von der UdSSR als historische Einheit gesehen würde, während die Staaten Europas versuchen würden, der UdSSR alleine ebenbürtig zu sein? Reicht das Instrument der VKSE-Verhandlungen aus, um die USA auf Dauer in einen europäischen Abrüstungsprozeß einzubinden, und wo liegt die Grenze, ab der die USA ihre militärische Handlungsfreiheit in Konflikten außerhalb Europas gefährdet sehen? Welche Beziehungen bestehen zwischen zukünftigen militärischen Optionen der UNO und der sicherheitspolitischen Entwicklung in Europa? Können die im Osten der UdSSR stationierten Truppenverbände bei weitreichenden Abrüstungsverträgen in Europa unberücksichtigt bleiben? Wo wird die Grenze erreicht, ab der auch andere Machtblöcke, im wesentlichen wohl China, in solche Abrüstungsverhandlungen mit einbezogen werden müssen? Wie soll sich der Westen gegenüber dem drohenden Zerfall der UdSSR verhalten? Muß nicht zumindest ein Zerfall der sowjetischen Militärstruktur mit allen Mitteln verhindert werden, um das Entstehen zahlreicher, teilweise atomar bewaffneter Kleinstaaten zu vermeiden, die einander aus den unterschiedlichsten Gründen feindselig gegenüberstehen? (In der UdSSR wird diese Gefahr offenbar bereits ernstgenommen. Der bereits letztes Jahr angekündigte Abzug aller atomaren Waffen aus den bekannten Krisengebieten ist wichtiger und richtiger Schritt, doch kann diese Strategie bei einem weitgehenden Zerfall der Sowjetunion sicher nicht durchgehalten werden.) Dies sind nur einige der Fragen, auf die in nächster Zukunft Antworten gefunden werden müssen. Was bleibt, ist das Problem, daß zumindest die Antworten auf kurz- und mittelfristige Fragestellungen nicht immer so populär sein werden, wie die Forderung nach einer Nullösung oder einer Bundesrepublik ohne Armee. Darum wird es wichtig sein, die notwendigen Schritte stets als Teil eines Gesamtkonzepts zu betrachten, dessen Ziel es sein muß, bewaffnete Auseinandersetzungen weltweit unsinnig zu machen. Und ein solches Gesamtkonzept hat bisher wohl noch niemand erarbeitet.

Roland Span ist Dipl.-Ing., arbeitet an der Universität Bochum und ist Mitglied der Naturwissenschaftler – Initiative »Verantwortung für den Frieden«.

Internationale Verträge der Abrüstung und Rüstungskontrolle

Internationale Verträge der Abrüstung und Rüstungskontrolle

Der VKSE-Vertrag (19.11.1990)

von Götz Neuneck

Nach 20 Monaten Verhandlungsdauer wurde am 19. November 1990 vor der Eröffnung des Pariser KSZE-Gipfels von den Regierungen der 22 Nato- und Warschauer Paktstaaten der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa unterzeichnet. Die Pariser KSZE-Charta wertet ihn als einen „bedeutenden Schritt hin zu erhöhter Stabilität in Europa“ und nennt die geplanten Reduzierungen „beispiellos“. Für den französischen Präsidenten F. Mitterrand markiert er das „Ende einer Epoche“. US-Präsident Bush sieht in ihm „das weitreichendste Rüstungskontrollabkommen in der Geschichte“ und „das Signal für das Heraufziehen einer neuen Weltordnung“. In einem gesonderten gemeinsamen Dokument von NATO und Warschauer Pakt erklären die 22 Unterzeichnerstaaten „feierlich, daß sie in dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen wollen“.

Der Vertrag, der 23 Artikel und einen umfangreichen Anhang umfaßt (siehe Auszüge S. 77), eliminiert die Asymmetrien in den folgenden 5 Waffenkategorien:

  • Kampfpanzer
  • Gepanzerte Kampffahrzeuge
  • Artillerie
  • Kampfflugzeuge
  • Kampfhubschrauber

Mit der Erfüllung des Vertrages wird die numerische Überlegenheit der Sowjetunion abgebaut und paritätische Obergrenzen in 4 Subzonen im Gebiet vom Atlantik bis zum Ural festgelegt.

Der Vertrag sieht umfassende Verifikationsprozeduren mit detailliertem Informationsaustausch, Vor-Ort-Inspektionen, Stichproben-Inspektionen und Maßnahmen zur Verschrottung bestimmter Waffen vor. Der Vertrag tritt 10 Tage nach der Ratifizierung durch die Vertragsstaaten in Kraft und muß innerhalb von 40 Monaten erfüllt werden. Die Reduzierungen erfolgen in zwei Etappen: Nach 16 Monaten müssen die entsprechenden Waffenarsenale um 25 Prozent, und nach 28 Monaten um 60 Prozent reduziert sein. Mittels eines Quotensystems werden die angegebenen Waffensysteme, die Verschrottung und die Umkategorisierung bestimmter Waffen verifiziert, wobei jeder Staat das Recht auf eine bestimmte Zahl von Inspektionen bei Militärbasen und Kasernen des zu inspizierenden Landes hat. Die Inspektionen dürfen nicht verweigert werden.

Bündnisregel, Suffizienzregel und Subzonen:

Jedem Bündnis werden in den 5 Rüstungs-(oder) Waffenkategorien und in bestimmten Subzonen Obergrenzen gesetzt. Die nächstgrößere Zone schließt die vorhergehende Zone ein, so darf z.B. die NATO in den Ländern der Zentralzone nicht mehr als 7.500 Kampfpanzer, in der erweiterten Zentralzone nicht mehr als 10.300 Kampfpanzer stationieren (siehe Tabelle 1).

Mittels dieses Zonenkonzeptes sollen übermäßige Konzentrationen von militärischem Gerät verhindert werden. Verlegungen sind insbesondere von innen nach außen möglich. Für die Flankenregionen wurden eigene Obergrenzen festgelegt. Von den Gesamtobergrenzen her müssen 3.500 Kampfpanzer, 2.700 gep. Kampffahrzeuge und Geschütze in Depots eingelagert werden. Die Anzahl der Brückenlegepanzer pro Bündnis in aktiven Einheiten darf 740 nicht überschreiten (Art.XI). Einzelne Artikel regeln die Definition (Art.II), die Zerstörung (Art. VIII), die Außerdienststellung (Art. IX) und die Verifikation (Art. XIII-XV) des Geräts. Gerät, das sich in der Herstellung, Erprobung oder im Forschungs- und Entwicklungsstadium befindet, wird nicht im Vertrag berücksichtigt. Nach vorläufigen Schätzungen muß die NATO lediglich 2.100 Kampfpanzer abrüsten. Es ist erlaubt, modernes Gerät an andere Bündnisstaaten abzugeben, die ihre Obergrenze nicht erreichen oder altes Gerät dafür verschrotten („cascading“). Die Reduzierungszahlen für die Bundeswehr (inkl. ehemalige NVA) sind der Tabelle 2 zu entnehmen.

Der Warschauer Pakt hat sich auf bündnisinterne Obergrenzen geeinigt. Abzurüsten sind dabei 16.800 Kampfpanzer (UdSSR: 11.750), 12.000 Geschütze (UdSSR: 5.125) und 16.900 gep. Kampffahrzeuge (UdSSR: 12.300).

Da das Mandat nicht erneuert wurde, werden die Verhandlungen fortgesetzt, insbesondere mit dem Ziel, Begrenzungen der Personalstärken zu erreichen. Sie sollen beim nächsten KSZE-Folgetreffen 1992 in Helsinki abgeschlossen sein, um dann unter einem neuen Mandat im Kreis der 34 KSZE-Staaten fortgeführt zu werden.


Auszüge aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa

Das Königreich Belgien, die Republik Bulgarien, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, die Griechische Republik, die Republik Island, die Italienische Republik, Kanada, das Großherzogtum Luxemburg, das Königreich der Niederlande, das Königreich Norwegen, die Republik Polen, die Portugiesische Republik, Rumänien, das Königreich Spanien, die CSFR, Türkei, die Republik Ungarn, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika, im folgenden als Vertragsstaaten bezeichnet –

geleitet von dem Mandat vom 10. Januar 1989 für Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa, die sie seit dem 9. März 1989 in Wien geführt haben,

geleitet von den Zielen und Zwecken der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in deren Rahmen die Verhandlungen über diesen Vertrag geführt wurden,

eingedenk ihrer Verpflichtung, in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie allgemein in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen,

im Bewußtsein der Notwendigkeit, jeden militärischen Konflikt in Europa zu verhindern,

im Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung, die sie alle für das Streben nach Erreichung größerer Stabilität und Sicherheit in Europa tragen,

bestrebt, militärische Konfrontation durch eine neue, auf friedliche Zusammenarbeit gegründete Struktur der Sicherheitsbeziehungen zwischen allen Vertragsstaaten zu ersetzen und dadurch zur Überwindung der Teilung Europas beizutragen.

den Zielen verpflichtet, in Europa ein sicheres und stabiles Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau als bisher zu schaffen. Ungleichgewichte, die für Stabilität und Sicherheit nachteilig sind, zu beseitigen und – besonders vorrangig – die Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung großangelegter Offensivhandlungen in Europa zu beseitigen.

(…)

… sind wie folgt übereinkommen:

Artikel I

1. Jeder Vertragsstaat erfüllt die in diesem Vertrag festgelegten Verpflichtungen im Einklang mit dessen Bestimmungen, darunter diejenigen Verpflichtungen, die sich auf die folgenden fünf Kategorien von konventionellen Streitkräften beziehen Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber.

(…)

Artikel III

1. Für die Zwecke dieses Vertrags wenden die Vertragsstaaten folgende Zählregeln an:

Alle in Artikel II definierten Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, und Angriffshubschrauber innerhalb des Anwendungsgebiets unterliegen den zahlenmäßigen Begrenzungen und anderen Bestimmungen, die in den Artikeln IV, V und VI festgelegt sind, mit Ausnahme derjenigen, die in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten der Vertragsstaaten

  1. sich im Prozeß der Herstellung befinden, einschließlich der Erprobung im Zusammenhang mit der Herstellung.
  2. ausschließlich für Forschungs- und Entwicklungszwecke benutzt werden;
  3. historischen Sammlungen gehören;
  4. zur weiteren Verwertung anstehen, nachdem sie nach Artikel IX außer Dienst gestellt wurden;
  5. für die Ausfuhr oder Wiederausfuhr bereitstehen oder überholt werden und sich vorübergehend im Anwendungsgebiet befinden (…)

Artikel IV

1. Innerhalb des Anwendungsgebiets, wie es in Artikel II definiert ist, begrenzt jeder Vertragsstaat seine Kampfpanzer, gepanzerten Kampffahrzeuge, Artilleriewaffen, Kampfflugzeuge und Angriffshubschrauber und reduziert sie erforderlichenfalls, so daß 40 Monate nach Inkrafttreten dieses Vertrags und danach die Gesamtzahl für die in Artikel II definierte Gruppe von Vertragsstaaten, der er angehört, nicht größer ist als:

  1. 20 000 Kampfpanzer, davon nicht mehr als 16 500 in aktiven Truppenteilen;
  2. 30 000 gepanzerte Kampffahrzeuge, davon nicht mehr als 27 300 in aktiven Truppenteilen. Von den 30 000 gepanzerten Kampffahrzeugen sind nicht mehr als 18 000 Schützenpanzer und Kampffahrzeuge mit schwerer Bewaffnung; von den Schützenpanzern und Kampffahrzeugen mit schwerer Bewaffnung sind nicht mehr als 1 500 Kampffahrzeuge mit schwerer Bewaffnung;
  3. 20 000 Artilleriewaffen, davon nicht mehr als 17000 in aktiven Truppenteilen;
  4. 6 800 Kampfflugzeuge, und
  5. 2 000 Angriffshubschrauber.

    Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge und Artilleriewaffen, die sich nicht in aktiven Truppenteilen befinden, werden in ausgewiesenen ständigen Lagerungsstätten, wie sie in Artikel II definiert sind, untergebracht und nur in dem in Absatz 2 beschriebenen Gebiet disloziert.

Artikel VI

Mit dem Ziel sicherzustellen, daß kein einzelner Vertragsstaat mehr als ungefähr ein Drittel der durch den Vertrag begrenzten konventionellen Waffen und Ausrüstungen innerhalb des Anwendungsgebiets besitzt, begrenzt jeder Vertragsstaat seine Kampfpanzer, gepanzerten Kampffahrzeuge, Artilleriewaffen, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber und reduziert sie erforderlichenfalls, so daß 40 Monate nach Inkrafttreten des Vertrags und danach die Gesamtzahl innerhalb des Anwendungsgebiets für diesen Vertragsstaat nicht größer ist als:

  1. 13 300 Kampfpanzer,
  2. 20 000 gepanzerte Kampffahrzeuge;
  3. 13 700 Artilleriewaffen;
  4. 5 150 Kampfflugzeuge und
  5. 1 500 Angriffshubschrauber

Artikel VII

1. Um die in den Artikeln IV, V und VI festgelegten Begrenzungen nicht zu überschreiten, darf ein Vertragsstaat nach Ablauf von 40 Monaten nach Inkrafttreten dieses Vertrags die Anteilshöchstgrenzen für seine durch den Vertrag begrenzten konventionellen Waffen und Ausrüstungen, welche er zuvor innerhalb seiner Gruppe von Vertragsstaaten im Einklang mit Absatz 7 vereinbart und über die er nach diesem Artikel eine Notifikation übermittelt hat, nicht überschreiten. (…)

Artikel XII

1. In Übereinstimmung mit dem Protokoll über Informationsaustausch übermittelt jeder Vertragsstaat Notifikationen und tauscht Informationen aus, welche seine konventionellen Streitkräfte und Ausrüstungen betreffen, um die Verifikation der Einhaltung dieses Vertrags zu gewährleisten.

Artikel XIV

1. Jeder Vertragsstaat hat in Übereinstimmung mit dem Inspektionsprotokoll das Recht, innerhalb des Anwendungsgebiets Inspektionen durchzuführen, und die Pflicht, solche Inspektionen zuzulassen, um die Verifikation der Einhaltung dieses Vertrags zu gewährleisten. (…)

Artikel XVI

1. Um die Ziele dieses Vertrags und seine Durchführung zu fordern, setzen die Vertragsstaasten eine Gemeinsame Beratungsgruppe ein.

Artikel XVII

Die Vertragsstaaten übermitteln die nach diesem Vertrag erforderlichen Informationen und Notifikationen in schriftlicher Form. Sie bedienen sich des diplomatischen Weges oder anderer von ihnen bezeichneter amtlicher Kanäle, darunter insbesondere eines durch eine gesonderte Vereinbarung zu schaffenden Kommunikationsnetzes.

Artikel XVIII

1. Nach Unterzeichnung dieses Vertrags setzen die Vertragsstaaten die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte mit dem gleichen Mandat und mit dem Ziel, auf diesem Vertrag aufzubauen, fort. (…)

Artikel XIX

1. Dieser Vertrag wird auf unbegrenzte Zeit geschlossen. Er kann durch einen weiteren Vertrag ergänzt werden.

2. Jeder Vertragsstaat hat in Ausübung seiner staatlichen Souveränität das Recht, von diesem Vertrag zurückzutreten, wenn er zu der Auffassung gelangt, daß außergewöhnliche Ereignisse in bezug auf den Gegenstand des Vertrags seine höchsten Interessen gefährden. (…)

3. Jeder Vertragsstaat hat insbesondere in Ausübung seiner staatlichen Souveränität das Recht, von dem Vertrag zurückzutreten, wenn ein anderer Vertragsstaat seine Bestände an in Artikel II definierten Kampfpanzern, Artilleriewaffen, gepanzerten Kampffahrzeugen, Kampfflugzeugen oder Angriffshubschraubern, die von dem Bereich der Begrenzungen des Vertrags nicht erfaßt sind, in einem Umfang erhöht, der das Kräftegleichgewicht im Anwendungsgebiet offensichtlich gefährdet. (…)

Artikel XXI

1. Sechsundvierzig Monate nach Inkrafttreten dieses Vertrags und danach in Abständen von jeweils fünf Jahren beruft der Verwahrer eine Konferenz der Vertragsstaaten zur Überprüfung der Wirkungsweise des Vertrags ein. (…)

Tabellen

Kampfpanzer Gep.
Kpf- fahrzeuge
Geschütze Kampfflugzeuge Kampfhubschrauber
1 Zentralzone 7.500 11.250 5.000 6.800 2.000
2 Erweiterte Zentralzone 10.300 19.260 9.100
3 Periphere Zone 15.300 24.000 14.000
4 Flanken 4.700 5.900 6.000
Insgesamtpro Bündnis 20.000 30.000 20.000 6.800 2.000
davon in aktiven Einheiten 16.500 27.300 17.000
davon 1 Land nicht mehr als 13.300 20.000 13.700 5.100 1.50
Legende:
1) Zentralzone=Benelux, Deutschland, CSFR, Polen, Ungarn
2) Erweiterte Zentralzone=Zentralzone plus Großbritannien, Frankreich, Dänemark,
Italien, die sowjet. Militärbezirke (MB) Baltikum, Weißrußland, Karpaten, Kiew
3) Periphere Zone=erweiterte Zone plus Portugal, Spanien, die MB Moskau, Wolga, Ural
4) Flanken=Griechenland, europ. Teil der Türkei, Norwegen, Island, Bulgarien, Rumänien,
die MB Leningrad, Odessa, Transkaukasien, Nordkaukasus
Bundeswehr + NVA Bestand VKSE-
Obergrenze
Reduzierung
Kampfpanzer 7.093 4.166 2.927
Gep. Kampffahrzeuge 9.598 3.446 6.152
Geschütze 4.644 2.689 1.955
Kampfflugzeuge 1.064 900 164
Kampfhubschrauber 357 306 51

Götz Neuneck (wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFSH Hamburg)

Rüstungskonversion in den neuen Bundesländern

Rüstungskonversion in den neuen Bundesländern

von Werner Hänsel • Heinz Michael

Bekanntlich stammt der Begriff Konversion seinem Ursprung nach aus dem Kirchenrecht. Er wurde für die Bezeichnung des Übertritts von einer Religion oder Konfession zu einer anderen verwandt. In der Theologie nimmt dieser Begriff auch in der Gegenwart einen breiten Raum ein. Daraus abgeleitet wird heute allgemeinsprachlich Konversion als Bezeichnung von Prozessen der Umgestaltung (Umstellung, Umwandlung, Umkehrung, Abänderung, Übertritt) von einem Zustand in einen anderen Zustand verstanden.

Zum Inhalt des Begriffes »Rüstungskonversion«

Bezogen auf den Abrüstungsprozeß wird Konversion meist als Umstellung der Rüstungsproduktion auf zivile Produktion aufgefaßt und diese Umstellung als Rüstungskonversion bezeichnet.1 Die Einengung der Rüstungskonversion auf die Produktion ist aber nicht ausreichend, um den gesamten Umstellungsprozeß zu erfassen und zu gestalten. Die Rüstungskonversion muß breiter gefaßt werden. Wir definieren sie als „ Gesamtheit der Maßnahmen zur gezielten Umstellung von bisher für militärische Zwecke genutzte personelle, materiell-technische und finanzielle Kapazitäten (Ressourcen) auf zivile Zweckbestimmungen.“

Dementsprechend erfaßt die Rüstungskonversion viele Felder, auf denen sich eine Umstellung militärisch genutzter in zivile Kapazitäten notwendig macht. Die hauptsächlichsten Felder sind

  • die Umstellung der Rüstungs- auf zivile Produktion, wovon Arbeitskräfte, Produktionsfaktoren, Technologie betroffen sind. Dieser Prozeß ist der Kern der Rüstungskonversion;
  • die Umstellung der materiellen (Nachrichten-, Transport-, Instandsetzungsleistungen) und nichtmateriellen Leistungen (Bildung, Kultur, Gesundheitswesen…) für militärische Zwecke in zivile Bahnen;
  • die Nutzung der bisherigen militärischen Infra- und Kommunikationsstruktur im Interesse ziviler Entwicklungen;
  • die Umstellung der militärischen Liegenschaften (Stützpunkte, Objekte, Übungsplätze …) auf zivile Nutzung,
  • die zivile Veränderung der mit der Schaffung von Militärstandorten entstandenen besonderen regionalen und kommunalen Strukturen;
  • die Eingliederung der demobilisierten Militärangehörigen und der im Militärwesen beschäftigten Zivilpersonen in eine zivile Tätigkeit;
  • die Überführung von für zivile Zwecke geeigneten militärischen Gutes (Fahrzeuge, Ausrüstungsgegenstände …);
  • die Schaffung oder Nutzung von Kapazitäten zur Vernichtung/Verschrottung/Delaborierung von militärischem Gut, das nicht in zivile Nutzung überführt werden kann (vor allem Bewaffnung, Munition …);
  • die Verwendung der Militärhaushalte für zivile Aufgaben, vorerst zur Ingangsetzung der Rüstungskonversion;
  • die Verifikation der Rüstungskonversion.

Analoge Auffassungen – wenn auch mit anderen Worten – vertritt der Bonner Wirtschaftsexperte Bebermeyer2. Bebermeyer konstatiert, daß die bis vor wenigen Jahren vorherrschende Auffassung, Rüstungskonversion sei Umwandlung der Produktion von Rüstungsgütern in zivile Erzeugnisse (Produktionsumstellung), überwunden sei und sich in der Wissenschaft und im Sprachgebrauch immer mehr ein wesentlich erweiterter Konversionsbegriff durchsetzt. Er definiert Rüstungskonversion als „Steuerung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen von Ab- und/oder Umrüstung.“

Dazu gehören nach Bebermeyer alle militärbedingten Umwandlungsprozesse in der Produktion, den Dienstleistungen, der Einkommen und der Einkommensverwendung, Arbeitsmarktprobleme, lokale und regionale Strukturveränderungen, Umwidmung von Liegenschaften und Haushaltsmitteln, ökologische und Verkehrsprobleme.

Rüstungskonversion in dieser Breite zu erfassen und zu analysieren scheint unseres Erachtens als das zweckmäßigste Vorgehen, den Gesamtprozeß zu untersuchen, der die Umstellung nicht mehr erforderlicher Ressourcen militärischer Zweckbestimmung in zivile Nutzung beinhaltet. Das hierbei jede Wissenschaftsdisziplin ihren spezifischen Beitrag leisten und sich dazu ihres Instrumentariums bedienen sollte, ist Voraussetzung für das Gelingen der Rüstungskonversion.3

Ist Rüstungskonversion für die BRD eine gesamt- wirtschaftliche Aufgabe?

In der Diskussion über die Wege zur Lösung der Aufgaben der Rüstungskonversion tritt die Frage auf, ob die Rüstungskonversion für die neue BRD eine gesamtwirtschaftliche und damit staatlich zu lenkende Aufgabe sei oder nicht. Die Ansichten hierzu gehen auseinander.

Eine Gruppe4 vertritt die Meinung, daß die Rüstungskonversion vornehmlich Aufgabe der Rüstungsunternehmen sei, die stark genug sind, ohne staatliche Unterstützung die mit einer Konversion veränderte Auftragslage bei Rüstungsgütern mit den üblichen marktwirtschaftlichen Mechanismen abzufangen. Außerdem gäbe es genügend staatliche Regelungen, so zum Beispiel das Strukturanpassungsgesetz, Bestimmungen über die soziale Absicherung der in die zivile Tätigkeit zurückkehrenden Militärangehörigen u.ä., die dazu den entsprechenden Rahmen bilden. Für eine staatliche Lenkung der Rüstungskonversion bestehe kein vordringlicher Handlungsbedarf.

Diese Meinungen beruhen unseres Erachtens vor allem auf der Beurteilung der bisherigen Praxis von Konversionsmaßnahmen in der BRD, die nur einen geringen Umfang hatten. So wurden beispielsweise jährlich rund 7 – 8.000 Berufs- und Zeitsoldaten in das Zivilleben überführt, wobei diese durch neue Berufs- und Zeitsoldaten ersetzt wurden. Mit Hilfe der angeführten Regelungen bereitete dies keine Probleme.

Der neuesten Studie des internationalen Friedensforschungsinstituts SIPRI in Stockholm ist zu entnehmen, daß die westeuropäischen Rüstungsunternehmen in den kommenden fünf Jahren mit Produktionsrückgängen von bis zu 30 Prozent rechnen müssen und deshalb zwischen 300.000 und 500.000 bisherige Rüstungsarbeitnehmer ihre Arbeit verlieren werden.5

Das wirft auch für Rüstungsunternehmen in der BRD neue Probleme auf. So ist beispielsweise bereits gegenwärtig die 2.000 Arbeitnehmer beschäftigende Waffenfirma Heckler & Koch (HK) vom Tempo der Entspannung überrascht worden, wie ihr Geschäftsführer Faber das sieht.6 Mit der kurzfristigen Stornierung des 60-Millionen-Auftrages zur Lieferung des in 15 Jahren entwickelten Supergewehrs G 11 durch das Bonner Verteidigungsministerium hat die Rüstungsfirma vom Neckar als eine der ersten die Folgen staatlicher Auftragsstornierungen zu spüren bekommen, was anderen Unternehmen noch bevorsteht. HK – das insgeheim mit einem Auftragswert bei dem G 11 von rund einer Milliarde DM durch die NATO rechnete – kann sich nicht mehr ohne staatliche Unterstützung halten. Deshalb einsetzende Verhandlungen zum Verkauf des Unternehmens, die Fehlentwicklungen beim Übergang zur zivilen Produktion in diesem Unternehmen verdecken sollen, scheitern bisher am Desinteresse sowohl des Nürnberger Waffenkonzerns Diehl, Eigentümer der ebenfalls in Oberndorf ansässigen Gewehr- und Pistolenfabrik Mauser, als auch des französischen Rüstungsgiganten Giat, der hessischen Maschinenbaugruppe Rothenberger sowie dem englischen Waffenkonzern Royal Ordnance, einer Tochterfirma des Rüstungsmultis British Aerospace.

Eine andere Gruppe – zu der auch die Autoren gehören – vertritt die Meinung, daß die Rüstungskonversion ohne eine staatliche Lenkung und Planung nicht durchführbar ist. Sie geht dabei von der Breite des vorstehend genannten Konversionsbegriffs und dem zu erwartenden Umfang an Konversionsmaßnahmen aus. Zugleich spielen die Unterschiede in der Eigentumsstruktur und dem Produktionsprofil der Rüstungsunternehmen in den west- und ostdeutschen Bundesländern keine unwesentliche Rolle in ihren Auffassungen.

Die besondere Situation in den neuen Bundesländern

Während die Rüstungsunternehmen in den westdeutschen Bundesländern überwiegend privates Kapitaleigentum sind, die neben der Rüstungsproduktion über ein stabiles ziviles Standbein verfügen, sind alle Rüstungsunternehmen in den ostdeutschen Bundesländern Eigentum des Staates (Volkseigentum). Viele von ihnen haben als Monoproduktion überwiegend Rüstungsgüter (80 bis 95 Prozent) produziert oder instandgesetzt und von einem zivilen »Standbein« kann kaum die Rede sein. Dementsprechend sieht auch ihre Grundmittelausstattung aus. Beim Ausbleiben von Rüstungsaufträgen des Staates – und das trat bei allen diesen Unternehmen in den ostdeutschen Bundesländern 1989/90 ein – steht sofort die Frage nach der weiteren Existenz des Unternehmens.

Eine veränderte Situation gegenüber früheren Jahren ergibt sich auch für die ins Zivilleben zu überführenden Militärangehörigen und den im Militärwesen tätigen Zivilpersonen. Die 1989 bestehende Nationale Volksarmee mit einer Stärke von 173.000 Militärangehörigen und 50.000 Zivilbeschäftigten ist bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf 89.000 Militärangehörige geschrumpft. Darunter befinden sich 50.000 Zeit- und Berufssoldaten, von denen bis Ende 1991 weitere 15.000 und bis 1994 noch einmal 10.000 ausscheiden müssen.

Die desolate Lage in der Gesamtwirtschaft der ostdeutschen Bundesländer verstärkt noch die Probleme der Eingliederung der ehemaligen Militärangehörigen in das zivile Leben. Arbeitsplätze sind kaum vorhanden. In solchen ehemaligen Militärstandorten wie Burg und Eggesin sind schon 30 bzw. 35 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos oder auf Kurzarbeit gesetzt. Wenn die bisher von der ehemaligen Nationalen Volksarmee genutzten rund 2.100 Liegenschaften sowie der beim Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte freiwerdenden rund 1.300 Objekte (die zusammen 2,5 Prozent des Territoriums der fünf ostdeutschen Bundesländer umfassen – in den westdeutschen Bundesländern werden weniger als ein Prozent des Territoriums militärisch genutzt) einer zivilen Nutzung oder Teilnutzung zugeführt werden, wird sich diese Situation für viele Kommunen und Regionen drastisch verschärfen.

Die endgültige Entscheidung über die künftige Nutzung dieser Liegenschaften und Objekte soll im zweiten Quartal 1991 fallen, kündigte Willy Wimmer, Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung, am 5.11.1990 an. Vorerst gab Bundesverteidigungsminister Stoltenberg am 9.10.1990 rund 100 militärische Liegenschaften in den fünf ostdeutschen Bundesländern und Berlin mit rund 8.400 ha Fläche frei, darunter 58 Objekte der ehemaligen Grenztruppen der DDR und 18 Objekte der Wehrkreis- und Wehrbezirkskommandos (vgl. Tabelle 1):

In den Bundesländern stehen demnach unterschiedliche Konversionsprobleme an, die nach Meinung der Vertreter der zweiten Gruppe ohne eine zielgerichtete Planung und Lenkung durch den Staat nicht lösbar sind. Rüstungskonversion in der Bundesrepublik Deutschland wird damit zur gesamtwirtschaftlichen Aufgabe. Welche »Altlasten«, die zur Rüstungskonversion stehen, bringt die ehemalige Rüstungsindustrie der ostdeutschen Bundesländer in die BRD ein?

Die Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR

Die direkte Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR bestand aus 74 Unternehmen mit überwiegender bzw. anteiliger Rüstungsproduktion, in denen rund 42.000 Arbeitnehmer tätig waren (vgl. Tabelle 2). Dazu kommen noch eine Anzahl Zulieferbetriebe, so daß insgesamt etwa 130 Betriebe und Betriebsteile (Finalproduzenten und Zulieferer) mit der Produktion militärischer Güter sowie etwa 285 Betriebe und Betriebsteile (darunter 25 spezielle Instandsetzungsbetriebe) mit der Instandsetzung von militärischen Gütern beauftragt waren. In ihnen waren rund 100.000 Arbeitnehmer beschäftigt.

Das produzierte Gesamtvolumen an wehrtechnischen Gütern und Dienstleistungen betrug 1989 insgesamt 3,7 Milliarden Mark, davon wurde Wehrtechnik in einem Wertvolumen von 1,4 Milliarden Mark exportiert. Das Gesamtvolumen entsprach etwa einem Prozent der industriellen Warenproduktion der gesamten ehemaligen DDR und war unter diesem Gesichtspunkt gering.

Die Hauptleistungen der Unternehmen der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR umfaßten die Instandsetzung und Modernisierung importierter sowjetischer Wehrtechnik sowie die Produktion von Wehrtechnik auf Basis sowjetischer Lizenzen und eigener Entwicklungen für die Nationale Volksarmee und die Organe der inneren Sicherheit der ehemaligen DDR sowie für die Armeen der Warschauer Vertragsstaaten. Die Volkswirtschaft der ehemaligen DDR führte 86 Prozent aller Instandsetzungen an militärischen Gütern für die eigenen bewaffneten Kräfte durch und war auf 32 spezielle Erzeugnisse für die Länder des Warschauer Vertrages und für 19 spezielle Instandsetzungen für diese Länder spezialisiert und damit ein wichtiges Glied in der gemeinsamen Rüstungsproduktion dieser Koalition.

Das Produktions- und Instandsetzungsprofil in den Rüstungsunternehmen war durch folgende Haupterzeugnisse und Leistungen für das Inland und den Export charakterisiert:

a) Instandsetzungen von

  • Flugzeugen, Hubschraubern, Strahltriebwerken und Hauptgetrieben,
  • Funk-, Funkmeß-, Raketen- und Artillerietechnik sowie Waffenleiteinrichtungen und Führungstechnik,
  • Panzern und gepanzerten Fahrzeugen,
  • Marine-, Pionier- und Kraftfahrzeugtechnik,
  • Wartungs- und Versorgungstechnik;

b) Produktion von

  • Schützenwaffen und Schützenwaffenmunition,
  • Handgranaten, Minen und pyrotechnischen Mitteln,
  • Panzerabwehrlenkraketenkomplexen und Feuerleiteinrichtungen,
  • Kampf- und Hilfsschiffen,
  • Brückenlegepanzern,
  • mobilen Spezialauf- und -einbauten auf Kraftfahrzeugen,
  • mechanischer und elektronischer Sicherungstechnik,
  • Ausbildungs- und Trainingsgeräten,
  • Dienst- und Schutzbekleidung sowie Tarnmitteln;

c) Wissenschaftlich-technische Leistungen auf den Gebieten

  • Basistechnologien der Mikroelektronik und Fertigung von Bauteilen der Lichtleiternachrichtenübertragung,
  • Hochleistungs- und Infrarotoptik;
  • digitale und optisch parallele Bildverarbeitung,
  • optoelektronische Sensorik,
  • Lasertechnik,
  • Tarnmittel,
  • Technologien zur Instandsetzung von Wehrtechnik.

Alle Unternehmen der Rüstungsindustrie verfügten über moderne Betriebsstätten mit hochproduktiven Technologien und Ausrüstungen sowie spezialisierten Anlagen einschließlich Meß- und Prüftechnik. Die in den Unternehmen beschäftigten Arbeiter und Ingenieure besaßen eine hohe Qualifikation und ein ausgeprägtes Qualitätsbewußtsein.

Die Rüstungsunternehmen waren als selbständige Betriebe oder Betriebsteile in die Kombinate eingeordnet, mit Ausnahme des Kombinates Spezialtechnik Dresden, das nur Rüstungsunternehmen umfaßte. Dementsprechend unterstanden sie der Wirtschaftsleitung der Industrieministerien und später des Wirtschaftsministeriums der ehemaligen DDR. Der Anteil der Rüstungsproduktion an der industriellen Warenproduktion der Kombinate war unterschiedlich, je nach Erzeugnispalette. Den größten Anteil Rüstungsproduktion hatten 1986 folgende Kombinate:

VEB Kombinat Spezialtechnik Dresden 100,0 %
VEB Kombinat Carl-Zeiss Jena 21,8 %
VEB Kombinat Schwermaschinenbau Magdeburg 15,9 %
VEB Textilkombinat Cottbus 14,4 %
VEB Kombinat Technische Textilien Karl-Marx-Stadt 12,7 %
VEB Kombinat TAKRAF Leipzig 8,7 %
VEB Kombinat Robotron 8,0 %

Zum Verlauf der Konversion in der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR

Die eigentliche Konversion in der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR begann Anfang 1989 mit der Verkündung von einseitigen Abrüstungsmaßnahmen für die Jahre 1989/90. Sie durchlief bisher mehrere Etappen.

1. Etappe von Anfang 1989 bis November 1989:

Diese Etappe war gekennzeichnet durch die unter den Bedingungen der zentralistischen Kommandowirtschaft übliche Methode per Dekret, ohne daß eine klare Konversionskonzeption bestand und die realen Möglichkeiten berücksichtigt wurden. Da die vorgegebenen Ziele und die Mittel unrealistisch waren, mußte diese Art von Konversion scheitern.

2. Etappe von November 1989 bis März 1990:

In dieser Etappe erfolgte eine starke Einschränkung der Rüstungsaufträge und die Verkündung des Exportstopps für Rüstungsgüter. Auch in dieser Etappe war keine Konzeption ersichtlich, was zu großen Unsicherheiten in den Rüstungsunternehmen führte, deren Verluste anstiegen.

3. Etappe von April bis September 1990:

Inhalt dieser Etappe war die vollständige Liquidierung der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR bei gleichzeitiger Beseitigung der Planwirtschaft und dem beginnenden Übergang zur sozialen Marktwirtschaft. Sichtbarer Ausdruck der vollständigen Liquidierung war die überraschende Stornierung aller Rüstungsaufträge des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung der ehemaligen DDR am 01.08.1990. Da eine staatliche Unterstützung für die Rüstungsunternehmen in dieser Situation nicht einsetzte, verlief diese Etappe quasi nach dem Motto: »Jeder rette sich einzeln.«

4. Etappe seit Oktober 1990:

Das ist die Etappe des Eintritts der ehemaligen Rüstungsindustrie der DDR mit einem Berg von »Altlasten« in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung, deren Entscheidungen den weiteren Verlauf der Rüstungskonversion in den fünf neuen Bundesländern bestimmen werden.

In keiner dieser Etappen war eine staatliche Konversionskonzeption vorhanden und sie besteht auch heute für die neue Bundesrepublik nicht. Das hohe Tempo der Abrüstung in der ehemaligen DDR führte zum drastischen Rückgang der Aufträge an die Rüstungsindustrie. Der Auftragsrückgang trat zu einem Zeitpunkt ein, in dem umfangreiche neue Investitionsvorhaben der Rüstungsindustrie aus den Jahren 1986 bis 1988 produktionswirksam übergeben waren. Diese Investitionen waren die Voraussetzungen für die geplanten Aufgaben der kommenden Jahre (vgl. Tabelle 3).

Mit dem Auftragsrückgang, dem Exportstopp für Rüstungsgüter sowie dem Austritt der ehemaligen DDR aus dem Warschauer Vertrag war auch die Stornierung der noch bestehenden 20 alten Rüstungsverträge mit Ländern des Warschauer Vertrages, vor allem mit der Sowjetunion, verbunden. Aus diesen Stornierungen rühren gegenwärtige Abstandszahlungen in Höhe von 700 bis 800 Millionen DM, die die Bundesregierung übernehmen mußte.

Da die Bewaffnung und Ausrüstung der ehemaligen Nationalen Volksarmee – dem Hauptvertragspartner der Rüstungsunternehmen – mit der Vereinigung zum großen Teil nicht in die Bundeswehr übernommen wurde, also gegenüber den Rüstungsunternehmen kein Bedarf mehr dafür besteht, ist die absolute Produktionseinstellung und die damit verbundene totale Umstellung der ehemaligen Rüstungsunternehmen auf eine zivile Erzeugnispalette die einzige Alternative. Von diesem Prozeß sind alle ehemaligen Rüstungsunternehmen betroffen, vor allem jedoch die 74 Unternehmen mit voller bzw. teilweiser Rüstungsproduktion. Da ein sofortiger Übergang auf die zivil Produktion aber nicht möglich ist und umfangreicherer Vorbereitungen bedarf, waren im August 1990 bereits ca. 80 Prozent der Arbeitnehmer dieser Unternehmen arbeitslos oder in volle Kurzarbeit überführt.

Grobe Berechnungen für eine zivile Produktion in diesen Unternehmen ergaben, daß rund 40 Prozent der bisherigen Arbeitnehmer – vor allem ingenieur-technisches, administratives und Hilfspersonal – künftig nicht mehr beschäftigt werden können. Sie werden den Arbeitsämtern für die Umschulung auf andere Einsatzgebiete zur Verfügung gestellt.

Diese Entwicklung ist keine Besonderheit der ehemaligen DDR. Eine im Juli 1990 in Genf herausgegebene Information der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verweist – aufgrund der Analyse bisheriger Konversionsmaßnahmen – darauf, daß im Zuge einer Schließung von Rüstungsfabriken von jeweils 100 freigesetzten Arbeitskräften mindestens 15 Prozent vorzeitig pensioniert werden oder auf andere Art und Weise den Arbeitsmarkt verlassen. Von den restlichen würden rund 33 Prozent in zwei bis drei Jahren einen schlechter bezahlten Job finden, 18 Prozent blieben beschäftigungslos und nur etwa 33 Prozent würden in dieser Zeit eine ebenso gute oder sogar besser bezahlte Stelle finden.

Die vollständige Produktionseinstellung brachte den ehemaligen Rüstungsunternehmen der DDR große Verluste (vgl. Tabelle 4). Die Konversionsverluste dieser Unternehmen in Form von nicht mehr verwertbaren Beständen im Umlaufmittelbereich wurden mit über 50 Prozent durch Kredite finanziert. Darüber hinaus sind die Unternehmen mit Grundmittelkrediten belastet, die aufgrund der Einstellung der Rüstungsproduktion nicht mehr refinanzierbar sind. Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, staatliche Entscheidungen für die Durchführung der Entschuldung von eingetretenen Konversionsverlusten als notwendige Voraussetzung für Sanierungs- und Reprivatisierungsmaßnahmen zu treffen. Bisherige Verhandlungen mit interessierten Kapitalgebern zeigen, daß sie ihre Know-how- und Managementerfahrungen sowie eine Kapitalbeteiligung mit Garantien für die Erhaltung der Arbeitsplätze nur in Abhängigkeit von der Entlastung nicht mehr verwertbarer Vermögenswerte und damit verbundener Kreditschulden einzubringen bereit sind. In dieser Hinsicht ist jedoch ein großes Entscheidungsdefizit der ehemaligen DDR-Regierung zu verzeichnen, das in die neue BRD übertragen wurde.

Hauptrichtungen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ehemaliger Rüstungsunternehmen7

Geht man von internationalen Erfahrungswerten aus, werden für eine komplexe Umstellung von Rüstungsunternehmen auf zivile Produktion zwei bis drei Jahre benötigt. Für die Umstellung der Rüstungsunternehmen der ehemaligen DDR auf zivile Produktion ist dieser Zeitraum jedoch unannehmbar, weil sie – im Gegensatz zu den Rüstungsunternehmen in westlichen Ländern – überwiegend auf wehrwirtschaftliche Zwecke ausgerichtet waren, vom Staat finanziert wurden und dementsprechend nur mit Hilfe des Staates eine Überlebenschance behalten können. Unter den wirtschaftlichen Bedingungen in den neuen Bundesländern wird dieser Übergangsprozeß durch den Übergang zur sozialen Marktwirtschaft verschärft und gestaltet sich damit noch komplizierter.

Um den Prozeß der Rüstungskonversion in der ehemaligen DDR zielstrebig zu unterstützen, nahm auf der Grundlage eines Ministerratsbeschlusses am 1. Juli 1990 das Amt für Konversion beim Ministerium für Wirtschaft seine Arbeit auf. Die Hauptaufgaben dieses Amtes (das am Tag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unverständlicherweise wieder aufgelöst wurde, was den begonnenen Prozeß der Rüstungskonversion in den neuen Bundesländern jäh unterbrach) bestanden darin,

  • die mit Rüstungsbegrenzung, Abrüstung und Überleitung militärischer in zivile Produktion zusammenhängenden Prozesse zu koordinieren und entsprechende Entscheidungen vorzubereiten;
  • bei der Wiedereingliederung von Militärpersonal in zivile Tätigkeiten mitzuwirken;
  • die Verwendung von Gebäuden, Liegenschaften und Wehrtechnik der bewaffneten Organe, einschließlich der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte auf dem Territorium der ehemaligen DDR zu untersuchen und vorzubereiten.

Entsprechend dieser Hauptaufgaben lag das Schwergewicht des Amtes für Konversion darin, den Prozeß der Rüstungskonversion so zu gestalten, daß er sozial verträglich, umweltfreundlich und unter öffentlicher Kontrolle mit staatlicher Unterstützung durchgeführt wird und ökonomische Alternativen zur Rüstungsproduktion aufzeigt. Drei Hauptrichtungen für die Profilierung der ehemaligen Rüstungsunternehmen auf zivile, absatzfähige Produktlinien wurden durch das Amt für Konversion ausgearbeitet und dafür Entscheidungen vorbereitet, die jedoch meist nicht durch die Regierung und die Volkskammer der ehemaligen DDR getroffen wurden, weil sie – entgegen den offiziellen Erklärungen – hierin keinen vorrangigen Handlungsbedarf sahen.

1. Übernahme der Verwertung bzw. Vernichtung von Wehrtechnik

Für den kurzfristigen Übergang zu einer neuen Produktlinie – die aufgrund der völligen Einstellung der Produktion bzw. Instandsetzung von Wehrtechnik notwendig wird – erwies sich die sofortige Übergabe von auszusondernder oder ausgesonderter Wehrtechnik zur Verwertung bzw. Vernichtung/Verschrottung an die Rüstungsunternehmen, die diese Technik bisher produziert oder instandgesetzt haben. Diese Unternehmen verfügen über die wesentlichen technisch-technologischen Voraussetzungen und über notwendige spezifische technische Kenntnisse (z. B. über die Materialzusammensetzung) für die Übernahme der Wehrtechnik zur Verwertung bzw. Verschrottung.

Diese Aufgabe gewinnt an Bedeutung angesichts der von der ehemaligen Nationalen Volksarmee und anderer bewaffneter Organe hinterlassenen und nicht von der Bundeswehr übernommenen Wehrtechnik. Allein die NVA hinterließ u. a.

  • 457 Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber,
  • 2 200 Panzer,
  • 6 700 Schützenpanzer,
  • 500 Einheiten an Funk- und Funkmeßtechnik,
  • 1 800 Artilleriegeschütze,
  • 600.000 Handfeuerwaffen,
  • ca. 300.000 t Munition und Sprengmittel mit ca. 50 kt Explosivstoffen, darunter ca. 60 kt Schützenwaffenmunition, 75 kt Munition für Artillerie und Granatwerfer, 70 kt Munition für Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 18 kt Munition für Panzerabwehrmittel, 24 kt Munition für Geschoßwerfer,
  • sowie Panzerabwehrlenkraketen, Flak-Raketen, Flugzeugmunition, Pioniermunition, Munition der Volksmarine u. a. m.

Es gibt Hinweise dafür, daß die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte beim Verlassen der ehemaligen DDR Bestände an Munition im Umfang von einer Million Tonnen zurücklassen wird, die dann ebenfalls zur Vernichtung anfallen.

Die Verwertung der Wehrtechnik stellt für einige ehemalige Rüstungsunternehmen eine kurzfristige Alternative zu ihrer bisherigen Produktion oder Instandsetzung dar. Für den Zeitraum der Verwertung der Wehrtechnik, der mit Ausnahme von Munition zwischen ein und vier Jahren liegt, können ca. 20 Prozent – differenziert nach Unternehmen zwischen 5 und 70 Prozent – der bisherigen Arbeitnehmer der Rüstungsunternehmen sowie -spezialisten der ehemaligen NVA beschäftigt werden. Parallel dazu kann eine zivile Produktlinie vorbereitet werden.

Für die Verwertung bzw. Vernichtung der Wehrtechnik – mit Ausnahme der Munition und Sprengmittel – sind keine größeren Forschungs- und Investitionsaufwendungen erforderlich. Für die massenhafte Verwertung/Vernichtung von Munition gibt es gegenwärtig auch international noch keine Technologie, die den vom Gesetzgeber geforderten ökologischen Erfordernissen, z. B. nach dem Immissionsschutzgesetz der BRD, gerecht wird. Im Ergebnis bisher durchgeführter Recherchen werden entsprechende industrielle Anlagen zur Munitionsvernichtung erst in drei bis fünf Jahren verfügbar sein.

Damit sind Übergangslösungen zum schrittweisen Vorgehen unumgänglich, um dem Sicherheitsbedürfnis und den ökologisch vertretbaren Anforderungen zu genügen. Die mit der Technologieentwicklung und der Schaffung von Produktionsanlagen für die industrielle Munitionsvernichtung erforderlichen Aufwendungen betragen für die angeführten Munitionsmengen einen Wert von etwa 500 Millionen DM. Da die Munitionsvernichtung nach bisherigen Berechnungen einen Zeitraum von etwa 30 bis 40 Jahren umfassen wird, ist es zweckmäßig, diese Aufwendungen in die langfristige Unternehmensplanung aufzunehmen. Hierfür würde der Staat als Auftraggeber fungieren.

2. Umprofilierung der Rüstungsunternehmen auf zivile Produktlinien

In den letzten Monaten vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurden durch die ehemaligen Rüstungsunternehmen umfangreiche Geschäftsanbahnungen in der Bundesrepublik und dem EG-Raum mit dem Ziel verfolgt, Beteiligungen von Unternehmen mit möglichst neuen Produkt- und Marketingangeboten zu gewinnen. Die im Ergebnis der Geschäftsverbindungen vorgelegten Konzepte beinhalten folgende prinzipielle Arbeitsrichtungen:

  • Aufbau gemeinsamer Vertriebsnetze für Produkte des Partners einschließlich deren Betreuung;
  • Aufbau von Zulieferketten (verlängerte Werkbank) für Produkte des Partners;
  • Aufbau von Montageprozessen für Produkte des Partners einschließlich deren Vertrieb.

Mit dieser Arbeitsrichtung konnte jedoch nur kurzfristig ein geringer Teil der Arbeitsplätze gesichert werden. Das Amt für Konversion orientierte daher die Rüstungsunternehmen auf

  • die Gewinnung von möglichst marktführenden westlichen Unternehmen, die zu Investitionen, Kauf oder Beteiligung bereit sind;
  • die unverzügliche Erarbeitung von SAnierungskonzepten unter Einbeziehung des künftigen Partners;
  • die Finanzierung der Sanierungsprogramme unter der Voraussetzung des Nachweises der Solidität und Bonität.

Durchgeführte Untersuchungen in konversionsbetroffenen Unternehmen der ehemaligen DDR haben ergeben, daß ohne größere Neuausstattung und Umschuldungsprogramme die Herstellung nachfolgender Produktgruppen möglich ist:

a) im Bereich der Kommunikationstechnik:

  • Geräte zur elektronischen Bildverarbeitung,
  • Aufbau von Computernetzen/Qualitätssicherungssystemen,
  • Fertigung von Wechselsprechanlagen,
  • Fertigung von elektronischen Registriermitteln,
  • Gerätebau mit Sensortechnik,
  • Seenothilfsmittel,
  • Geräuschmeßtechnik u.a.

b) im Bereich der Verkehrstechnik (Gerätebau):

  • Schaltgerätebau/hydraulische Kleinanlagen,
  • Behälterbau in Gummi-, Plaste- und Metallausführung,
  • Getriebebau für Schiffe, Tagebaugeräte u.a.m.,
  • Vorrichtungsbau / Fertigungsmeßtechnik,
  • Umbau / Fertigung von Schienenfahrzeugen,
  • umfangreiche Instandsetzungsleistungen u.a.

c) im Bereich der Medizintechnik:

  • medizinisch-technische Ausrüstungen für Labore,
  • Krankenhauseinrichtungen (Operationstische, Krankenhausbetten),
  • Analysegeräte,
  • Rettungsgeräte, -ausrüstungen

d) im Bereich der Umweltschutztechnik:

  • Rauchgasentschwefelungsanlagen,
  • Umweltanalysegeräte,
  • Abrüstungskontrolltechnik,
  • Abwasserbehandlungsanlagen, Sondermüllentsorgung,
  • Grundwasserschutz, Deponiebau,
  • Meß- und Bewertungstechnik zur Altlastenerkundung von Liegenschaften,

e) im Bereich der Verifikation:

  • Aerokosmische Aufnahmetechnik zur Überwachung der Abrüstung.

Künftige Vergaben von Aufträgen der öffentlichen Hand sollten deshalb die Unternehmen der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR als Zulieferer durch eine entsprechende Verpflichtung der marktführenden Unternehmen mit beteiligen. Die Erhaltung von etwa 30 Prozent der vorhandenen Arbeitsplätze könnte damit in den ehemaligen Rüstungsunternehmen der neuen Bundesländer ermöglicht werden.

Entflechtung der Rüstungsunternehmen durch privatwirtschaftliche Nutzung

Der Prozeß der Entflechtung der ehemaligen Rüstungsunternehmen wurde durch Ausgliederung bzw. Überführung von Struktureinheiten in Tochtergesellschaften oder selbständige Unternehmen sowie die Übergabe in kommunales Eigentum begonnen. Die Ausgliederung von Struktureinheiten der Infrastruktur beinhaltet Hilfs- und Nebenprozesse (also Hauptmechanik, Fertigungsmittelbau, Fuhrpark, Heizhäuser u.a.) sowie Sozial- und Bildungseinrichtungen (Betriebsakademien, Werksküchen, Ferienheime, Wohnheime, Sportstätten u.a.). Bei der Ausgliederung dieser Bereiche ist die Sicherung von etwa fünf bis zehn Prozent der Arbeitsplätze zu erwarten.

Unter Nutzung des komplexen Charakters der ehemaligen Rüstungsunternehmen, die nahezu alle Bestandteile eines Industrie- bzw. Gewerbeparks beinhalten, sollten Teile der Unternehmen in Industrie- und Gewerbeparks real umgewandelt werden. Damit werden einerseits neue Arbeitsplätze durch die Ansiedlung mitelständischer Unternehmen geschaffen und andererseits mittelständischen Unternehmen eine Existenzgrundlage ermöglicht. Dieser Prozeß, der erst begonnen hat, muß zielstrebig fortgesetzt werden.

Zur Lösung der Probleme der genannten drei Hauptrichtungen auf dem Gebiet der Rüstungskonversion in den neuen Bundesländern machen unseres Erachtens dringend Rahmenbedingungen zur Strukturanpassung der ehemaligen Rüstungsindustrie erforderlich, in denen die ökonomischen, sozialen und ökologischen Anforderungen zu entscheiden sind. Die dargelegten Maßnahmen zur Strukturanpassung könnten bei Gewährleistung der erforderlichen Rahmenbedingungen seitens der zuständigen Regierungsstellen einen Beschäftigungsgrad der Arbeitnehmer der ehemaligen Rüstungsindustrie von etwa 60 Prozent sichern. Für die restlichen 40 Prozent der Arbeitnehmer ist eine Umschulung für den Einsatz in anderen Industriebereichen erforderlich.

Der Übergang von der Rüstungs- auf zivile Produktion erweist sich in den ehemaligen Rüstungsunternehmen der neuen Bundesländer als äußerst problemreich und er wird von den einzelnen Unternehmen unterschiedlich bewältigt. Eine gute Entwicklung bei diesem Übergang hat die heutige Spezialwerkzeuge und Hydraulik GmbH Wiesa – der frühere alleinige Produzent von Handfeuerwaffen der ehemaligen DDR – genommen. Diese Entwicklung hat Vorbildcharakter und soll deshalb kurz in Geschichte und Konversion dieses Unternehmens dargestellt werden.

Vom Maschinenpistolen- zum Hydraulikproduzenten

Das Unternehmen wurde am 1. November 1955 als VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa (GWB) durch das damalige staatliche Amt für Technik gebildet. Der Bildung ging ein Beschluß der Ständigen Kommission für die Verteidigungsindustrie des Warschauer Vertrages, Sektion Waffen und Munition, voraus, nach dem jedes Mitgliedsland des Warschauer Vertrages verpflichtet war, die Infanteriewaffen und die dazugehörende Munition für seine Streitkräfte selbst zu produzieren 8. Da geeignete Kapazitäten dafür in der ehemaligen DDR nicht vorhanden waren, wurden dem neuen Unternehmen GWB für den Aufbau einer Produktionsstätte für Maschinenpistolen ein Textillager in Wiesa und eine Trikotagenfabrik in Geyer (7 km von Wiesa entfernt) übergeben.

Dem neugegründeten Maschinenpistolenproduzenten GWB stellte das Amt für Technik mit der Übergabe von 6,2 Millionen Mark Investitionen und 1,4 Millionen Mark für Forschung und Entwicklung zugleich die kühne Aufgabe, nach sowjetischen Lizenzen – die erst erworben wurden – bereits im Jahre 1958 einen Produktionsausstoß von 30.000 Maschinenpistolen vom Typ Kalaschnikow der Serie AK-47 zu erreichen. Da die Voraussetzungen dafür jedoch nicht geschaffen werden konnten, erwies sich diese Aufgabenstellung als Illusion. Erst im Jahre 1960 konnten nach einer Einführungszeit von 33 Monaten 31.760 Maschinenpistolen AK-47 produziert werden. In diesem Jahr waren im GWB 822 Arbeitnehmer beschäftigt, die eine Bruttoproduktion von 16,9 Millionen Mark erwirtschafteten.

Bei der Produktion der Maschinenpistole AK-47 traten im Unternehmen im 1.Halbjahr 1960 erhebliche Qualitätseinbrüche auf, die darauf zurückzuführen waren, daß bei den Facharbeitern – die im allgemeinen aus der Leichtindustrie kamen – die Qualifikation für die Waffenproduktion doch noch unzureichend war. Die Ausschußraten betrugen für einzelne Teile zwischen 27 und 49 Prozent. Um hier eine schnellere Qualifizierung der Facharbeiter zu erreichen und die Qualitätsmängel zu beseitigen, wurden sie mit zu dieser Zeit unpopulären Methoden stimuliert. So erhielt die Brigade je Stück Ausschuß innerhalb der festgelegten Ausschußnorm nur den ermittelten Durchschnittswert bezahlt. Für jedes Stück Ausschuß über die Norm zahlte die Brigade diesen Wert an das Unternehmen zurück. Von Monat zu Monat wurde die Ausschußnorm im Einvernehmen zwischen dem Unternehmen und den Brigaden reduziert. Diese Methode führte dazu, daß ab 1961 eine stabile und qualitätsgerechte Produktion stattfand9.

Die Kapazität des GWB wurde in den Jahren 1961 bis 1964 (gemessen an produzierten Stückzahlen der Maschinenpistole AK-47) um 53 Prozent erhöht und das Unternehmen mit weiteren 8 Millionen Mark Investitionen weiter ausgebaut, um die Vorbereitungen für die Übernahme der Produktion der verbesserten Maschinenpistole AKM zu gewährleisten. In dieser Zeit kam auch der Werkzeugbau zum Unternehmen hinzu. Trotz größerer Anlaufschwierigkeiten in der Produktion der AK-47 erreichte das Unternehmen ein jährliches Produktionswachstum bis 1965 von durchschnittlich 8,1 Prozent und eine Steigerung der Arbeitsproduktivität von durchschnittlich 5,5 Prozent.

Nicht unerwähnt soll bleiben, daß sich seit der Gründung des GWB mehrfach die Unterstellung des Unternehmens zu übergeordneten wirtschaftsleitenden Organen veränderte, was für das Unternehmen für neue perspektivische Entwicklungen auch negative Auswirkungen hatte. Zuerst unterstand das Unternehmen dem Amt für Technik, nach dessen Auflösung am 30. April 1958 wurde es der neugebildeten Vereinigung volkseigener Betriebe (VVB) UNIMAK zugeordnet und nach der Auflösung dieser VVB am 31.12.1961 als Unternehmen der VVB Eisen-, Blech- und Metallwaren (VVB EBM) unterstellt. Die VVB EBM hatte darauf spekuliert, das Unternehmen in die Lösung seiner Aufgaben einzubeziehen. Bereits in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurden dem GWB 6,3 Millionen Mark Investitionen zur Verfügung gestellt, um ihn zum Finalproduzenten für Waschmaschinen zu entwickeln, worauf sich auch das Unternehmen einstellte. Diese Produktion wurde jedoch wegen des erhöhten Bedarfs der bewaffneten Organe der ehemaligen DDR an Maschinenpistolen im Jahre 1969 wieder eingestellt. Mit dem Prozeß der Kombinatsbildung in der ehemaligen DDR wurde der GWB aus der VVB EBM ausgegliedert und ab 01.01.1970 dem neugebildeten VEB Kombinat Spezialtechnik Dresden zugeordnet.

Mit der Produktion der Maschinenpistole AKM begann neben der Weiterproduktion der AK-47 das Unternehmen im Jahre 1967 nach einer Vorbereitungszeit von nur 17 Monaten. Von 1966 bis 1975 konnte die Produktion der Maschinenpistole AKM auf 142 Prozent gesteigert werden, wobei parallel dazu das Produktionsprofil auf industrielle Instandsetzungsarbeiten an leichten Maschinengewehren und Maschinenpistolen erweitert wurde. Zugleich wurde die AKM weiter verbessert und ab 1980 völlig ohne Holzteile gefertigt.

Auf der Grundlage fiktiver Bedarfsfestlegungen, die sich nicht auf den Bedarf der bewaffneten Organe der ehemaligen DDR bezogen, sondern vielmehr auf Spekulationen für den Export – speziell in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet – wurde Anfang der 80er Jahre durch die zentralen Partei- und Staatsorgane festgelegt, daß schrittweise bis 1983 die Produktionssteigerung der Maschinenpistole AKM in Verbindung mit der neu einzuführenden Maschinenpistole AK-74 auf mindestens 200.000 Stück pro Jahr zu erfolgen habe und damit zu verdoppeln sei. Um die geforderte Kapazitätserweiterung mit nur einem geringen Anteil an Erhöhung des Arbeitnehmerbestandes zu erreichen, wurde durch das zuständige wirtschaftsleitende Organ festgelegt, alle Erzeugnisse, die nicht zur Produktion von Maschinenpistolen gehören, aus dem Unternehmen zu verlagern. Das wurde jedoch durch die Unternehmensleitung richtigerweise – wie sich das heute zeigt – nicht so konsequent durchgeführt, wie es gefordert wurde.

Schwerpunkt bei der Kapazitätserweiterung, besonders zur Produktion der Maschinenpistole AK-74 – die ab 01.03.1985 begann –, war die Sicherung der Kooperationskette, wozu enorme Erweiterungen bei bisherigen Kooperationspartnern notwendig war. Zugleich mußten neue Kooperationsbeziehungen angebahnt werden. Um zum Beispiel die Lauffertigung zu gewährleisten, mußte ein neuer Betrieb gesucht werden. Dafür wurde der VEB Spindelfabrik Hartha ausgewählt, dessen Produktion im Bereich des Kombinates Textima umverlagert wurde. Umfangreiche Investitionen mußten hier eingesetzt werden, um die Lauffertigung für die Maschinenpistole AKM – die ja weiter produziert wurde – in der erforderlichen Stückzahl sicherzustellen.

Dabei handelte es sich um Umbauten in der alten Spindelfabrik und den Neubau für die Galvanik mit den Nebenanlagen, wie Neutralisationsanlage, Trafostation und anderes. Diese Anlagen wurden so konzipiert und projektiert, daß auch später oder bei Bedarf in Hartha die Läufe der Maschinenpistole AK-47 produziert werden können.

Insgesamt wurden zur Erfüllung der Forderungen nach Verdoppelung der Maschinenpistolenproduktion umfangreiche Investitionen aufgewendet, die allein für den GWB über 81 Millionen Mark betrugen (vgl. Tabelle 5).

Hinzu kamen solche Aufwendungen in den Zulieferbetrieben, wie z. B. in der Graugußgießerei Spremberg mit rund 45 Millionen Mark Investitionen.

Am Ende ging die Spekulation mit der Kapazitätserweiterung auf das Doppelte nicht auf. Im Gegenteil. Es gab für den Finalproduzenten GWB in den Jahren nach Realisierung dieser Maßnahmen Schwankungen in den Stückzahlen der Jahresscheiben nach 1985 nach unten. Daraufhin wurde die Maschinenpistolenlauffertigung im Unternehmen Hartha wieder eingestellt und das Unternehmen erneut im Rahmen der Produktion des Kombinats Textima für zivile Produktion umprofiliert. Auch in anderen Unternehmen kam es zu Reduzierungen. Bei all diesen zentralen Festlegungen auf der Grundlage von Spekulationen zeigte sich deutlich, welche ökonomischen Verluste in der Volkswirtschaft auftraten, die hätten vermieden werden können. Zugleich zeigte sich, welche zusätzlichen Probleme der Konversion zu bewältigen sind. Die im GWB Wiesa geschaffene Kapazität von 200.000 Stück Maschinenpistolen im Jahr wurde nie ausgelastet. In den Jahren 1988 und 1989 wurden nur etwa die Hälfte der Kapazitäten produziert.

Insgesamt hatte sich das GWB Wiesa in den Jahren seines Bestehens als stabiler Partner der bewaffneten Organe der ehemaligen DDR und des Außenhandels erwiesen. Wurden 1958 bereits 8.400 Stück AK-47 produziert, so waren es 1961 bereits 31.800 Stück. Das steigerte sich bis 1985 auf 100.500 Stück AKM und 14.000 Stück AK-74. 1959 betrug die Bruttoproduktion 7,9 Millionen Mark, 1985 erhöhte sich diese Anzahl auf 1.440. Somit wurde das Unternehmen zur größten Wirtschaftseinheit im Territorium. Mit einem Kostensatz von 0,867 im Jahre 1989 gehörte das Unternehmen zu den rentabelsten Wirtschaftseinheiten der Rüstungswirtschaft der ehemaligen DDR.

Das Unternehmen hatte eine gesicherte und bilanzierte Perspektive bis in das Jahr 2000. Diese Perspektive wurde jedoch durch die Anfang 1989 verkündeten einseitigen Abrüstungsmaßnahmen der ehemaligen DDR und der sich im zweiten Halbjahr 1989 entwickelnden Wende in der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes jäh in Frage gestellt. Am 14. Dezember 1989 erhielt das Unternehmen offiziell Kenntnis von dem durch den zuständigen Minister für Maschinenbau verfügten Exportstopp für Rüstungsgüter, worunter auch die Maschinenpistolen aus Wiesa fielen. Zugleich wurde der Bedarf an Handfeuerwaffen für die ehemalige NVA auf 35.000 Stück im Jahre 1990 herabgesetzt und die Einstellung der Rüstungsproduktion im VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa im Jahre 1990 verfügt. Das sollte in folgenden Etappen vor sich gehen:

Produktionseinstellung Termin

MPi AKM 28. Februar 1990

MPi 5,45 mm 30. April 19909

MPi AK-74 31. Oktober 1990

Ersatzteile 30. November 1990

sonstige Rüstungserzeugnisse 31. Dezember 1990

Mit dieser neuen Aufgabenstellung wurde der Prozeß der Rüstungskonversion im VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa eingeleitet. Die Konversion stellte an das Unternehmen höchste Anforderungen. Das Unternehmen war bisher weitgehend von Rüstungsaufträgen abhängig. 81,8 Prozent seiner Gesamtkapazität war ausgesprochene Rüstungsproduktion, wozu noch 7,9 Prozent an Vorrichtungen, Werkzeugen und Prüfmitteln kamen, die weitgehend für diese Rüstungsproduktion notwendig waren. Nur 10,3 Prozent der gesamten industriellen Warenproduktion waren zivile Erzeugnisse, vor allem Lagerungen für Waschvollautomaten als Zulieferteile für ein anderes Unternehmen.

Im Unternehmen selbst gab es zwar – wie in allen Rüstungsbetrieben der ehemaligen DDR – einen Plan, nach dem die Rüstungsproduktion hochgefahren werden konnte, aber es gab keinen Plan für eine Rüstungskonversion. Ein solcher war auch unter der früheren Partei- und Staatsführung nicht erwünscht. Die fehlenden theoretischen und praktischen Vorüberlegungen, die dem Ausmaß der notwendigen Konversionsmaßnahmen Rechnung getragen hätten, führten zu großen Problemen und Unsicherheiten im Unternehmen. Verschärft wurden die Probleme noch durch die allgemein vor sich gehende Umstellung der Wirtschaft der ehemaligen DDR auf die soziale Marktwirtschaft sowie durch weitere, die im Unternehmen vorgesehene Produktion für 1990 betreffende Maßnahmen. So wurden im März und April 1990 vom Ministerium für Abrüstung und Verteidigung von den ursprünglich bestellten 35.000 Maschinenpistolen 20.000 Stück und weitere Aufträge für Rüstungsgüter und Ersatzteile storniert. Das ergab einen Erlösausfall von rund 49 Millionen Mark. Hinzu kamen weitere Stornierungen an bestellten Vorrichtungen, Werkzeugen und Prüfmitteln aus anderen Unternehmen in Höhe von 8 Millionen Mark. Für das Unternehmen hieß das, daß nur noch 7,5 Prozent der Produktionskapazitäten für Maschinenpistolen und andere Rüstungsgüter ausgelastet waren und nur über einen Überbrückungskredit die Liquidität gesichert werden konnte.

Die Belastungen des Unternehmens finden ihren Niederschlag in den Konversionskosten. Solche sind der in Geld ausgedrückte Aufwand zur Umstellung der Rüstungsproduktion auf die Produktion von Gütern mit ziviler Zweckbestimmung. Sie umfassen damit neben den Erlösausfällen (einmaliger und laufender Aufwand) auch den Aufwand, der für die Aufnahme der neuen Produktion notwendig ist. Im GWB betragen diese Konversionskosten Ende 1990 immerhin rund 163,5 Millionen Mark. Hinzu kommt eine notwendige Anschubfinanzierung von rund 34 Millionen DM, um den Prozeß der Umstellung auf eine zivile Produktion und damit die Konversion zu vollziehen.

Die radikale Beendigung der Rüstungsproduktion im GWB bedeutete für das Unternehmen faktisch das »Aus«. Für ihn kam die Umstellung auf eine zivile Produktion der Neugründung eines Unternehmens gleich. Die Existenz des Unternehmens hing vom Finden einer zivilen und unter marktwirtschaftlichen Bedingungen rentabel absetzbaren Alternativproduktion ab. Hierbei erfüllte der Staat im wesentlichen seine Verantwortung gegenüber dem GWB.

Mit Beschluß des Ministerrates der ehemaligen DDR wurde am 25. Januar 1990 entschieden, den VEB Geräte- und Werkzeugbau Wiesa aus dem Rüstungskombinat Spezialtechnik Dresden herauszulösen und auf die Produktion von Hydraulikerzeugnissen umzuprofilieren. Dazu wurde das Unternehmen am 15. März 1990 dem zivilen Kombinat ORSTA Hydraulik Leipzig zugeordnet. Diese Maßnahme war – wie sich heute herausstellt – eine gelungene Entscheidung.

Mit dieser Zuordnung war aber noch keine sofortige Aufnahme der zivilen Hydraulikproduktion möglich. Die noch laufende Waffenproduktion mußte abgeschlossen werden. Es zeigte sich, daß die für die Waffenproduktion vorhandenen Grundmittel meist nicht für eine zivile Produktion vorgesehen werden konnten, sie waren artfremd. Die Umschulung der Arbeitnehmer auf die neue Produktion war notwendig und andere Aufgaben waren zu lösen. Die wichtigste dabei war die Bestimmung des neuen Erzeugnisprofils und die Beschaffung der dazu notwendigen Grund- und Umlaufmittel. Diese Aufgabe wurde mit großem Engagement vor allem der Unternehmensleitung in Angriff genommen, obwohl die Bewilligung der notwendigen Anschubfinanzierung durch den Staat fehlte.

Die Umprofilierung des GWB auf die Hydraulikproduktion verlief jedoch nicht reibungslos. Da die Kapazitäten zur Rüstungsproduktion im wesentlichen für die Produktion von Hydraulikerzeugnissen nicht nutzbar sind, kam damit nur eine solche Produktion für das Unternehmen in Frage, für die die nötigen Produktionsmittel mit übernommen werden konnten. Trotz großer Anstrengungen durch den Generaldirektor des Kombinates ORSTA traten hierbei nicht vorhersehbare Erschwernisse auf. So weigerten sich, aus den gegenwärtigen Umständen entsprechend verständlichen Gründen des Arbeitsplatzerhaltes, die Arbeitnehmer in anderen Unternehmen, Teile ihrer Produktionskapazitäten zum GWB zu verlagern. Ebenso scheiterten Verhandlungen mit anderen Unternehmen zur Produktionsübernahme. Es wurde notwendig, nach anderen Wegen zu suchen.

Solch ein neuer Weg eröffnete sich im Rahmen von Kontaktgesprächen mit dem westdeutschen Unternehmen Mannesmann-Rexroth GmbH. Das große Engagement der Leitung des GWB und besonders seines Direktors trugen erheblich dazu bei, daß dieser Weg zur zukunftsträchtigen Entwicklung des erzgebirgischen Unternehmens beschritten werden konnte. Nicht zuletzt bediente sich das Unternehmen der Arbeit von Konversionswissenschaftlern, die mit einem wissenschaftlichen Gutachten zur Strategiefindung des Unternehmens beitrugen.

Die Strategie des Unternehmens in Wiesa, das sich seit dem 01. Juni 1990 in die Spezialwerkzeuge und Hydraulik GmbH umgebildet hatte, wurde dementsprechend auf drei Säulen aufgebaut:

Erstens auf die Verdoppelung der vorhandenen Produktionskapazitäten für Vorrichtungen, Werkzeuge und Prüfmittel bei gleichzeitiger Profilierung für die Hydraulikproduzenten der Unternehmensgruppe Mannesmann-Rexroth und ORSTA Hydraulik AG.

Zweitens auf die Übernahme der Produktion von Hydraulikerzeugnissen (Ventilen) der Hydromatik GmbH Elchingen (Mannesmann-Rexroth), der Produktion von Zulieferungen für die Fertigung von Nadeldruckern für Computer der Tally GmbH (Mannesmann-Kienzle) sowie die Produktion von Baugruppen für Hydraulik-Kleinanlagen für Hydromatik Elchingen und zur Deckung des steigenden Bedarfs der ORSTA Hydraulik AG.

Drittens auf die Weiterführung der Produktion von Zulieferungen für die Waschautomatenproduktion.

Während ein Teil der Ausrüstungen für die unter erstens und drittens genannten Aufgaben vorhanden ist und genutzt werden kann, mußten diese für die Erweiterung der ersten und zur Lösung der zweiten Aufgabe beschafft werden, wozu Fördermittel zur Kapitalaufstockung im Bereich des Anlagenvermögens in Höhe von 26,1 Millionen DM notwendig sind. Damit ist die Konversion des Unternehmens aber noch nicht bis zu Ende gelöst. Weitere Konsequenzen sind notwendig. Sie betreffen vor allem:

  • die Erneuerung der Technologie, verbunden mit der Übernahme der Technologien der Erfahrungsträger, die ihre Wettbewerbsfähigkeit nachgewiesen haben und auf modernsten Ausrüstungen beruhen,
  • die Anpassung der Struktur des Unternehmens an das neue Produktionsprofil, was zu einer Reduzierung des Arbeitnehmerbestandes auf 800 bis 900 Arbeitnehmer führen wird, die vorwiegend durch die Senkung des Verwaltungsaufwandes, der Hilfs- und Nebenprozesse sowie die Ausgliederung von Unternehmensteilen erreicht werden soll. Der Übergang zu einer zeitweiligen Kurzarbeit war im Unternehmen nicht zu umgehen, bis die Hydraulikproduktion anlaufen konnte;
  • die Umschulung der verbleibenden Arbeitnehmer. 74 wurden für den Einsatz in der Produktion von Vorrichtungen, Werkzeugen und Prüfmitteln umgeschult. Über 130 Arbeitnehmer, darunter auch Ingenieure, befanden sich zu einer längeren Umschulung auf die Hydraulikproduktion in Unternehmen der alten Bundesländer;
  • die Abwicklung der Restarbeiten aus der Rüstungsproduktion, die von der Auslieferung der produzierten Güter an die Bedarfsträger oder ihre Rechtsnachfolger bis zur Verschrottung der nicht für zivile Zwecke geeigneten Ausrüstungen und Beständen reichen.

Die vollständige Rüstungskonversion der Spezialwerkzeuge und Hydraulik GmbH Wiesa wird noch seine Zeit dauern, zumindest bis Ende 1991. Der Weg in die Zukunft eines zivilen Unternehmens wird aber von Tag zu Tag immer deutlicher sichtbar. Diesen Weg gehen auch andere Rüstungsunternehmen in der ehemaligen DDR, jedes mit seinen spezifischen Bedingungen kämpfend. Die Entwicklung in Wiesa zeigt, daß Rüstungskonversion ein Prozeß radikaler und grundsätzlicher Umprofilierungen von Kapazitäten in der Volkswirtschaft, verbunden mit einem hohen Aufwand, ist. Dieser Prozeß verläuft umso reibungsloser, je gründlicher er vorbereitet wird. Deshalb sollte in jedem Rüstungsunternehmen künftig ein praktikables Konversionskonzept10 vorliegen, das in möglichst vielen Varianten unterschiedliche Bedingungsgefüge und daraus folgende Handlungsabläufe theoretisch vordenkt, um die bei der Konversion immer entstehenden Verluste durch Kapitalentwertung und dem notwendigen Kapitalaufwand zur Neuprofilierung so gering wie möglich zu halten. Dies scheint umso dringlicher, als daß Konversion im Prozeß der internationalen Abrüstung eine weltweite Dimension erreicht.

Hierin liegt auch die besondere Bedeutung der bisherigen Konversion in der ehemaligen DDR, die vorstehend am Beispiel der Spezialwerkzeuge und Hydraulik GmbH Wiesa kurz verdeutlicht wurde. Mit der Rüstungskonversion gilt es, nicht nur schlechthin zu zeigen, daß sie im Interesse der Minderung der Gefahren für die Menschheit notwendig und möglich ist, sondern zugleich gilt es, deutlich zu machen, daß sie ökonomisch effektiv, ökologisch verträglich und sozial abgefedert durchführbar ist. Die Entwicklung der Rüstungskonversion im erzgebirgischen ehemaligen Waffenunternehmen kann dafür ein Beispiel sein.

Einige Konsequenzen für die Rüstungskonversion in den neuen Bundesländern

Die Weiterführung des Prozesses der Rüstungskonversion ist eine zutiefst politische Frage, die zugleich stärker wissenschaftlich untersetzt werden muß. Diese Verantwortung kann weder dem Bund noch den Ländern, Kommunen und letztlich auch den Unternehmen abgenommen werden, hängt doch hiervon die Realität der Abrüstung und damit die Minderung der Gefahr der Anwendung bewaffneter Gewalt in den Beziehungen der Länder und Koalitionen ab.

Für die Regierungen der neuen Bundesländer ist es daher unseres Erachtens unerläßlich, der Rüstungskonversion in der vorstehend dargestellten Breite die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen. Vor allem die regionalen Konversionsprozesse werden infolge der Truppen- und damit Standortreduzierungen zunehmen, obwohl zur Zeit noch nicht voll bekannt ist, welche konkreten Liegenschaften, Objekte, Instandsetzungskapazitäten etc. das Bundeswehrkommando Ost in den neuen Bundesländern für die Zukunft benötigt. Aber trotzdem erscheint uns die Ausarbeitung von Länderkonzeptionen zur Rüstungskonversion auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien als aktuelle Aufgabe. Hierbei sollte an die Weiterführung der vom früheren Amt für Konversion ausgearbeiteten Hauptrichtungen der Rüstungskonversion in der ehemaligen DDR angeknüpft werden. Zu überlegen wäre auch, ob in den Haushalten sowohl des Bundes als auch der Länder ein Teilplan Abrüstung/Konversion aufgenommen werden sollte. Auch die Bildung einer Stiftung »Rüstungskonversion« und eines Amtes für Konversion im Bund wären für die Weiterführung des Konversionsprozesses sicher nützlich. Der Ministerpräsident von Brandenburg hat zum Beispiel einen Bevollmächtigten für Sowjetarmee und Konversion berufen und damit sichtbar gemacht, daß er der Rüstungskonversion Bedeutung beimißt. Vorschläge, wie z. B. vom Arbeitskreis Sicherheit und Frieden der SPD Südbayerns, in allen von Abrüstung und Truppenabbau betroffenen Regionen Konversionsräte einzurichten, die die Gemeinden und Städte bei allen Konversionsfragen beraten, sind unseres Erachtens ebenfalls nützliche Maßnahmen, die der Rüstungskonversion voranhelfen.

Für die Realität der Durchführung der Rüstungskonversion sind die staatlichen Rahmenbedingungen in Form rechtlicher Regelungen besonders wichtig. Unter den vorstehend genannten Gesichtspunkten der unterschiedlichen Bedingungen in den alten und neuen Bundesländern erscheint uns die Prüfung der bestehenden und für die Konversion zu nutzenden rechtlichen Bestimmungen des Bundes und der Länder sowie ihre mögliche Ergänzung oder Präzisierung besonders wichtig. Über das Strukturhilfegesetz, Markteinführungshilfen des Staates, eine langfristige Strukturpolitik u.a. Regelungen können die ökonomischen, sozialen und ökologischen Wirkungen der Rüstungskonversion in ihrem Ausmaß im Rahmen der Möglichkeiten gewiß verträglicher als bisher in der ehemaligen DDR beherrscht werden. Die in diesem Zusammenhang von Praktikern und auch Wissenschaftlern vertretene Meinung, in strukturschwachen Gebieten möglichst keine Militärstandorte aufzulösen, um nicht neue Probleme zu schaffen, sollte dabei exakter untersucht und beurteilt werden. Letztendlich bedeutet das für diese Gebiete die Beibehaltung der Militärabhängigkeit und das ist im Prozeß der weltweiten Abrüstungsperspektiven eine nur kurzfristige Lösung. Besser wären auch hier langfristige strukturpolitische Entscheidungen zur Entwicklung dieser Gebiete.

Tabellen

Tabelle 1: Abgegebene Liegenschaften der ehemaligen NVA
Land Anzahl Grundstücksgröße
in ha
Mecklenburg-Vorpommern 21 94,4
Brandenburg 21 3837,0
Sachsen-Anhalt 23 1976,6
Thüringen 17 1944,3
Sachsen 9 533,2
Berlin 9 10,0
Gesamt 100 8395,5
(Nach Pressemitteilung des Bundesministers für
Verteidigung)
Tabelle 2:
Direkte Rüstungsindustrie in der ehemaligen DDR (Stand 20.08.1990)
Unternehmen Anzahl Beschäftigte
mit überwiegender Rüstungsproduktion 31 31.400
mit anteiliger Rüstungsproduktion 43 10.420
Gesamt 74 41.820
(Nach Angaben des Amtes für Konversion beim
Ministerium für Wirtschaft der ehemaligen DDR)
Tabelle 3:
Wertmäßige Entwicklung der Leistungen der Rüstungsindustrie mit wehrwirtschaftlichen
Gütern und Dienstleistungen für das Inland und den Export (in Mrd. Mark)
Bereich / Jahr 1988 1989 1990*
Militärische und militärisch verwendbare Güter und Dienstleistungen
insgesamt:
10,3 9,6 3,9
darunter wehrtechnische Güter und Dienstleistungen gesamt 4,0 3,7 2,5
darunter Export in Warschauer Vertragsstaaten 1,5 1,4 0,8
Anteile der Industriebereiche
Schwerindustrie 0,5 0,4 0,2
Maschinenbau, Elektronik, Elektrotechnik 3,1 2,9 1,9
Leicht- und Textilindustrie 0,4 0,4 0,4
(Nach Angaben des Amtes für Konversion beim Wirtschaftsministerium der ehemaligen DDR; * Auf der Basis der abgeschlossenen Verträge)
Tabelle 4:
Finanzielle Auswirkungen der Konversion der Rüstungsindustrie der ehemaligen DDR (Stand
20.08.1990) für das Jahr 1990:
Art der Kosten Höhe in Mrd. DM
Verluste im Grundmittelbereich: 0,8
nicht mehr nutzbares Anlagevermögen (Nettowert) 0,6
nicht mehr verwendungsfähige unvollendete Investitionen 0,2
Verluste im Umlaufmittelbereich 1,2
nicht mehr verwertbare Bestände an Material, unfertigen Erzeugnissen und
Fertigerzeugnissen
1,0
noch nicht finanzierte Vorleistungen aus Forschung und Entwicklung 0,1
ausstehende Forderungen an Abnehmer 0,1
Verluste aus nicht realisierten Forderungen im Ergebnis der
Vertragsstornierungen für den Zeitraum 01.08. bis 31.12.1990 sowie Schadeneratzansprüche
für angearbeitete Lieferungen 1991 gegenüber dem Ministerium für Abrüstung und
Verteidigung der ehemaligen DDR
0,6
Umschulungs-, Profilierungs- und Forschungsaufwendungen 0,8
für Investitionen 0,5
Umschulungskosten sowie Lohn- und Sozialausgleiche (Arbeitslosigkeit,
Kurzarbeit, Vorruhestand, Abfindungen)
0,2
für Forschung und Entwicklung 0,1
Verluste insgesamt 3,4
(Nach Angaben des Amtes für Konversion beim
Ministerium für Wirtschaft der ehemaligen DDR)
Tabelle 5:
Kennziffernvergleich bei der Einführung von Waffensystemen im GWB Wiesa
Typ Einführungszeit Invest. F/E-Mittel (Mio. Mark)
(Monate) Gesamt Bauanteil
AK-47 33 4,8 1,3 4,8
AKM 17 7,8 3,3 2,2
AK-74 50 81,3 15,6 14,6
(Eigene Berechnungen)

Anmerkungen

1 Auch eine entgegengesetzte Umstellung – zivile in militärische Produktion – ist Rüstungskonversion. Für diesen Vorgang wird in gängiger Literatur zumeist der Begriff „Rekonversion“ benutzt. Im vorliegenden Beitrag wird diese „Rekonversion“ nicht explizit behandelt. Zurück

2 Vgl. Vortrag von Dr. Hartmut Bebermeyer auf dem Seminar „Rüstungskonversion“ der Friedrich-Ebert-Stiftung am 27.10.1990 in Regensburg (unveröffentlichtes Manuskript). Zurück

3 Ebenda. Zurück

4 Vgl. hierzu auch Lutz Köllner/Burkhardt J. Huck (Hg), Abrüstung und Konversion, Einführung, Frankfurt / New York 1990. Zurück

5 Vgl. z. B. Auffassungen von H. Maneval auf einer internationalen Konversionskonferenz an der Universität für Volks- und Weltwirtschaft in Sofia vom 16. bis 19.10.1990 sowie von H. Bebermeyer auf dem Seminar „Rüstungskonversion“ der Friedrich-Ebert-Stiftung am 27.10.1990 in Regensburg. Zurück

6 Vgl. SIPRI: Rüstung wird zurückgehen. In: Berliner Zeitung vom 26. Oktober 1990, S. 5. Zurück

7 Vgl. die Braut des Soldaten. In: Der Spiegel vom 05. November 1990, S. 158. Zurück

8 Nachfolgende Angaben fußen auf Analysen des Amtes für Konversion des Wirtschaftsministeriums der ehemaligen DDR. Zurück

9 Vgl. Militärarchiv Potsdam, Akte UNIMAK 0012. Zurück

10 Vgl. Ebenda, Akte UNIMAK 0112. Zurück

11 In Industrieunternehmen der alten Bundesländer wird anstelle des Begriffs „Konversion“ häufig der Begriff „Substitution“ verwandt. Zurück

Prof. Dr. Werner Hänsel ist Leiter der Projektgruppe »Rüstungskonversion« des Unabhängigen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung e. V. Berlin-Leipzig (UIFK).
Ing. Heinz Michael war jahrzehntelang auf dem Gebiet der Verteidigungswirtschaft in der ehemaligen DDR tätig und ist heute Rentner.