Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Solidarität gegen den Strom – Bericht einer dokumentarischen Reise

von Sarah Hüther

Auf einer Recherchereise für einen Dokumentarfilm zum Thema »Seenot­rettung im Mittelmeer« sprach ich mit unterschiedlichen Akteur*innen, die sich mit »Flucht« beschäftigen und aus ihrer jeweiligen Perspektive eigene Ansätze finden, um Solidarität zu leben. Meine Recherchereise führte mich an unterschiedliche Orte und zu Menschen, die sich mit Seenotrettung beschäftigen, mit den Auswirkungen von Flucht oder die selbst durch den Verlust von Angehörigen betroffen sind. Die Unterstützung von Seenotrettung und die zivilgesellschaftliche Vernetzung sind dabei wesentliche Handlungsoptionen, um der Abschottung an der Grenze durch die Europäische Außenpolitik etwas entgegen zu setzen.

Pia Klemp ist Aktivistin und Kapitänin. Schon öfter ist sie als ehrenamtliche Kapitänin mit Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer unterwegs gewesen. Gemeinsam mit einer kleinen Crew arbeitete sie 2020, als ich für diesen Film recherchierte, an einem »neuen« Projekt: dem Seenotrettungsschiff »Louise Michel«. Seit August 2020 fährt dieses Rettungsschiff nun mit einer wechselnden Crew regelmäßig im Mittelmeer und rettet Menschen aus Seenot. Für die Crew bedeuten die Missionen auf dem zentralen Mittelmeer, sich aktiv für Menschen auf der Flucht einzusetzen. Für die Besatzung ist es ein aktiver solidarischer Akt.

Doch es ist nicht Pia Klemps erstes Schiff: Sie war Jahre zuvor auf dem Rettungsschiff »iuventa«. Italien hatte das Schiff im Sommer 2017 beschlagnahmt und Anklage gegen Mitglieder der iuventa-Crew erhoben – weil sie Menschen aus Seenot gerettet hatten. Nach sieben Jahren fordert mittlerweile selbst die Staatsanwaltschaft, die Anklage fallen zu lassen. Auch wenn sie jüngst eingestellt wurde, zeigt sich an der Anklage gegen die iuventa-Crew das Ausmaß des politischen Versagens der Europäischen Union im Mittelmeer. Denn anstatt eine historisch selbst herbeigeführte Krise anzunehmen, die sich an vielen unterschiedlichen Stellen im Mittelmeer durch Fluchtbewegungen kristallisiert, und dafür Lösungen zu finden, lagert die EU die Rettung nicht nur in die Hände marginalisierter, selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus, sondern versucht schon seit Jahren die Arbeit der Seenotretter*innen mit juristischen Mitteln zu behindern. Das wird immer wieder durch angedrohte Gerichtsverfahren deutlich, wie eben jüngst dem Verfahren gegen die iuventa-Crew (Dernbach 2019; Kramer und Siefert 2024).

Zustand des Versagens

Blickt man auf die Gemengelage der Probleme im größeren Kontext, zeigt sich schnell, dass Migration nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Klimakrise, die Folgen des Kolonialismus, postkoloniale und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse und nicht zuletzt das Patriarchat, all diese Gewaltverhältnisse hängen zusammen (Etzkorn et al. 2022). Sie sind historische Ursachen der Krisen, an denen Westeuropa maßgeblich mitbeteiligt war und ist. Nicht zuletzt deshalb müssten die europäischen Länder auch an deren Lösung beteiligt sein, wenn Verantwortung ernst gemeint ist und übernommen werden würde.

Statt einen menschenrechtsgeleiteten Umgang mit Migration zu finden, setzte die EU in den vergangenen Jahren vor allem auf Abschottung. In der Folge wurde der Sehnsuchtsort Mittelmeer – Urlaubs­paradies für viele Westeuropäer*innen – für andere zum Massengrab (vgl. Statista 2024). Denn um Europa zu erreichen, können viele eben nicht in eine halbvolle unbequeme Easyjet Maschine steigen, sondern betreten ein seeuntaugliches Boot und setzen ihr Leben damit aufs Spiel (vgl. UNHCR Deutschland o.J., UNO-Flüchtlingshilfe 2024). Doch trotz der medialen Sichtbarkeit, die die Bilder sinkender Boote oder endloser Reihen von Särgen etwa in der deutschen Öffentlichkeit durchaus bekommen, wird die politische Strategie der EU-Grenzpolitik seit nunmehr bald 30 Jahren immer restriktiver. Sichtbar wird das auch am Mandat und der Ausstattung der europäischen Grenz»schutz«agentur Frontex, die bereits 2004 vorrangig zur Grenzsicherung gegründet wurde. Zuerst nur als Agentur für Koordinierung der Grenzkontrollen zuständig, wurde das Mandat in Reaktion auf die Migrationsströme 2015/2016 ausgeweitet. Somit wurde im Oktober 2016 die Europäische Grenz- und Küstenwache gegründet mit der Hauptaufgabe, die Migrationsströme »zu steuern«.

Zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 gab es nach zwei Schiffsbrüchen mit mehr als 600 Ertrunkenen vor der italienischen Insel Lampedusa einmalig und in Besonderheit vom italienischen Staat finanzierte Rettungsschiffe, die Marineoperation »Mare Nostrum«. Sie patrouillierte, um zu retten. Doch die Mandate liefen aus. Dies hatte einen Mangel an Seenot­rettungsmaßnahmen zur Folge. In Reaktion auf diese Leerstelle wurde die Zivilgesellschaft aktiv, um den Mangel durch zivile Seenotrettungsschiffe auszugleichen. Seit 2015 gibt es vermehrt zivile Schiffe, die gezielt Seenotrettungen durchführen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie »Jugend Rettet« und »Sea Watch« gehörten zu den ersten, die mit ihren Schiffen aufs Meer fuhren. Doch auch die zivilen Seenotrettungsorganisationen sind davon betroffen, dass die europäische Außenpolitik immer repressiver wird – wie die Beispiele der Beschlagnahmung und strafrechtlichen Verfolgung deutlich machen.

Zuspitzung und Verschärfung

Es scheint mittlerweile eine Zuspitzung der Abschottung zu geben. Ausführlich ist dokumentiert, dass es durch Frontex wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten kam. Dabei stehen vor allem sogenannte Push- und Pull-Backs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Solche Praktiken der aktiven Rückschiebung von Geflüchteten sind immer illegal, denn Non-Refoulement ist universell (vgl. Jakob 2022; IOM 2022).

Insgesamt ist der europäische ­Diskurs zur Migration ein entmenschlichter geworden. Er befasst sich meist mit Regeln zur Begrenzung der Einreise bzw. der Abschiebung. Europa fühlt sich unter Druck und lässt das Schreckensbild ganzer »Völkerwanderungen« gern durch großflächige Pfeildiagramme illustrieren, mit Despoten werden großzügige ­Deals geschlossen, wenn sie versprechen, Migrant*innen zurückzuhalten (Libyen, Türkei, Tunesien, u.a.) – die EU wird dabei immer restriktiver (vgl. Tagesschau 2023; Deutschlandfunk 2021). Rettung kommt in diesem Diskurs kaum mehr vor.

Das hat mittlerweile auch drastische Konsequenzen für die politische Rhetorik und das institutionelle Gebaren der südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. So sorgte beispielsweise der tunesische Präsident Kais Saied mit einer Rede am 21. Februar 2023 für eskalierende Gewalt gegen Migrant*innen aus Subsahara-Afrika (DW 2023). Es hat den Anschein, als würde er der EU demonstrieren wollen, er sei würdig, das Geld für den Deal zur Migrationsabwehr zu empfangen. Mit der faschistischen und rassistischen Rede bediente Kais Saied einen politischen Diskurs in Tunesien, der von innertunesischen Problemen ablenkt und gleichzeitig zu einer Externalisierung der europäischen Grenzen beiträgt – durch die Verbreitung von Angst und Schrecken zur Abwehr von Migration.

Die transnationale Koordination von Abschottungspolitik soll Lösungen proklamieren, die vordergründig die Bekämpfung der Krise suggerieren. In dieser diskursiv heraufbeschworenen Kriegs-Logik gegen »illegale Migration« werden ertrunkene Menschen zu unvermeidbaren Kollateralschäden. Wo bleibt hier das Europa, das sich jahrzehntelang international als Vorreiterin des Menschenrechtsparadigmas inszenierte? Am Ende dieser Entwicklung steht die Seenotrettung im Mittelmeer als das zentrale politische Gegenkonzept zur entmenschlichten Abschottungspolitik. Diese Aufgabe liegt nunmehr aber in den Händen einer Zivilgesellschaft, die über nationale Grenzen hinweg vernetzt ist und sich im Mittelmeerraum zu organisieren versucht.

Annäherungen an ein widerständiges Feld

Für eine erste Recherche machte ich mich 2020 mit meiner Filmkamera auf den Weg, um zu ergründen, was feministischer Aktivismus dem europäischen Grenzregime entgegenzusetzen hat – an den europäischen Außengrenzen über das Mittelmeer hinaus. Dabei versuchte ich die Sichtbarkeit von Frauen hervorzuheben, da diese nach wie vor in der Film- und Medienlandschaft unterrepräsentiert sind (vgl. Deutscher Kulturrat o.J.). Mit diesem Fokus richtete ich mein Augenmerk auf die vielen engagierten Frauen, die in der Seenotrettung, in der Arbeit zu Flucht, mit Geflüchteten und zum Umgang mit Trauer sowie in der juristischen Beratung eine Kernrolle einnehmen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade feministische Aktivist*innen auch für das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle einsetzen. Doch wie sieht diese Arbeit konkret aus und wie tritt sie Tendenzen der Vereinzelung entgegen?

Die Frauen meiner filmischen Recherche sind Menschenrechtsverteidigerinnen. Durch die Arbeit und den Aktivismus sind sie über nationale Grenzen des Mittelmeerraumes hinweg organisiert. Sie arbeiten in Europa zu Land oder im Luftraum, in der Seenotrettung mit Schiffen und Flugzeugen, in Kanzleien, in Solidaritätszentren für Geflüchtete genauso wie in Nordafrika mit Familien von Vermissten oder auf Friedhöfen, die für die namenlosen Toten angelegt wurden. Dadurch, dass sie alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise zum Thema Flucht aktiv sind, sind sie über ihre Arbeit miteinander verbunden. Und obwohl das politische System seine Ausrichtung auf Trennung und auf Grenzen setzt, funktioniert ihr Widerstand über Solidarität zueinander – über das Mittelmeer hinweg.

Im Folgenden gehe ich drei Geschichten von Aktiven mit verschiedenen Schwerpunkten nach, die sich um das Mittelmeer organisieren.

Drei Episoden, drei Wege

Pia und Lea – SAR

Das Filmprojekt startete in Frankreich, in einer kleinen Werft im Hafen von St. Malo, wo die bereits erwähnte Pia Klemp und Lea Reisner mit weiteren Aktivist*innen das Search and Rescue (SAR) Schiff »Louise Michel« für den Einsatz im Mittelmeer vorbereiteten.

Pia Klemp hat eigentlich Biologie studiert, zur Seefahrt ist sie über die Umweltorganisation »Sea Shepherd« gekommen. Doch für Pia ist klar, dass es nicht nur um Umweltfragen geht, wenn sich auf dieser Welt ernsthaft etwas zum Besseren wenden soll. Sie sieht die verschiedenen Kämpfe gegen Unterdrückung – seien es Kämpfe für Tierrechte, gegen das Patriarchat oder eben für Menschenrechte – als einen gemeinsamen Kampf an. Pia fuhr deshalb als Kapitänin der iuventa und der Sea Watch 3 Seenotrettungseinsätze, weil nach ihrer Ansicht die Menschenrechte für alle gelten müssen, nicht nur für die Menschen mit westlichem Pass. Pia erzählt mir im Interview:

„Es ist wichtig, dass die Zivilbevölkerung an dem Prozess teilnimmt. Es geht nicht nur darum Leben zu retten, es ist ein sehr politischer Kampf. Auch wenn die Handlung die gleiche bleibt, es ist nicht nur ein humanitäter Akt [die Seenotrettung], es ist eine politische Haltung. Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Kämpfe, die wir führen müssen, gegen Rassismus, Speziezismus, Sexismus, auf die gleichen Probleme führen. Die Ursachen sind der Imperialismus, das kapitalistische System, das Patriarchat, Dominanz, jemandem mehr Wert zuzusprechen als jemand anderem, egal, ob es hier um Geschlecht, Race, Spezies geht.“

Für Pia liegt hinter diesen Strukturen der gleiche Mechanismus und so sieht sie es als ihre Aufgabe, diese Herausforderungen zusammenzubringen. Indem sie sich für die zivil organisierte Rettung engagierte, kann sie gemeinsam mit vielen anderen, die auch irgendwo anfangen wollen für Veränderung zu streiten, einen Ansatz bieten, um Lösungen auszuloten.

Wie Pia ist auch Lea Reisner Veganerin und Feministin. Lea ist ausgebildete Intensivpflegerin. Weil sie dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht aus der Ferne zuschauen wollte, entschloss sie sich 2016 zu einem Einsatz als Teil der medizinischen Crew auf der iuventa. Dort arbeitete sie sich immer mehr in die Rettungsoperation ein, die Situationen wurden brisanter, mit den Aufgaben wuchs die Verantwortung. Bei dem »neuen« Projekt Louise Michel leitet sie nun den Einsatz der ersten Mission an der tödlichen europäischen Seegrenze.

Das Projekt Louise Michel wurde vom Streetart-Künstler Banksy finanziert. Mit der Spende konnte die Crew ein Projekt ins Leben rufen, bei dem sie nach eigenen Angaben keine Kompromisse machen müssen. Auch in der Auswahl des Schiffsnamens werden sie sich einig: Louise Michel (1830-1905). Sie war nicht nur Anarchistin und Mitglied der Pariser Kommune, sondern auch eine der ersten Vertreterinnen, die unterschiedliche Kämpfe zusammendachte. Soziale Forderungen, Tierrechte und Feminismus waren ihre Themen. Durch ihren übergreifenden Ansatz kämpfte sie gleichzeitig gegen verschiedene Unterdrückungsformen, die Idee der Intersektionalität ist so aktuell wie nie.

Es ist interessant, wie die Aktivist*innen damit umgehen, dass sie die Verhältnisse nicht von heute auf morgen verändern können. Sie agieren in der Absicht, dass diesen ungerechten Verhältnissen zumindest überhaupt etwas entgegengesetzt werden muss. Im Kampf gegen Imperialismus, Rassismus und partikulare Menschenrechte – idealtypisch verkörpert durch die europäische Außenpolitik – ist für sie die Seenotrettung der gelebte solidarische Akt als Gegenkonzept zur Abschottung, den sie überhaupt leisten können.

Hela – Alarmphone

In Tunesien traf ich im Sommer 2023 Hela Kanakane. Sie ist Mitte zwanzig. „Damit die Toten auf dem Mittelmeer nicht nur eine Zahl bleiben“, setzt sich Hela bei »CommemorAction« (Gedenkaktion) ein. In den europäischen Medien hört die Berichterstattung über Bootsunglücke meistens schon mit der Erwähnung der Zahl der Ertrunkenen auf. Doch jede Person auf jedem Boot hat eine eigene Geschichte. Die Gruppe CommemorAction versucht diese zu erzählen. Sie helfen Familien, sich zu vernetzen, Vermisste zu suchen oder zumindest nach Gewissheit zu forschen. Sie suchen nach jenen, die ertrunken sind, vermisst werden oder auf der tödlichen Route durch die Sahara verstorben sind. Familien aus Libyen, Tunesien, Marokko, Kamerun und dem Senegal treffen sich. Hela organisiert die Treffen mit und ist die Vermittlungsperson zwischen den Familien und den zivilen Seenotrettungsorganisationen. Mehrere Tage wird es Workshops und Aktionen geben. Sie wollen nicht nur erinnern, sie wollen auch anklagen, sich organisieren gegen die Zustände, die dazu führen, dass die Flucht nach Europa immer gefährlicher wird.

Gleichzeitig versucht Hela durch ihre Mithilfe bei der ehrenamtlich organisierten Notruforganisation »Alarmphone« zu verhindern, dass Menschen an den Grenzen Europas überhaupt ums Leben kommen. Das Alarmphone ist im Wesentlichen eine Nummer, die Aktiven übernehmen ihre Schichten aus ganz unterschiedlichen Städten wie z. B. Tunis, Palermo, Melilla, Tanger, Cadiz, Marseille, Strasbourg, London, Wien, Bern oder auch Berlin. Unterschiedliche Projekte tragen das Alarmphone mittlerweile in gemeinsamer Verantwortung. Das sind unter anderem »Welcome2Europa«, »Afrique Europe Interact«, »Borderline Europe«, »Noborder Morocco« und »Watch the Med«.

Das Team von Alarmphone nimmt dabei Notrufe von Schiffen in Seenot an und übt dann Druck auf die Behörden aus, Rettungseinsätze einzuleiten. Die Rettungsleitstelle in Rom, das MRCC, koordiniert die Einsätze und kontaktiert jene Schiffe, die dem Notruf am nächsten sind. Das können militärische Schiffe, Frachter oder auch zivile Rettungsschiffe sein.

Solange Menschen gezwungen sind, den Weg über das Meer zu nehmen, weil sie kein Visum bekommen, ist Alarmphone für Hela eben das, was sie konkret tun kann, um Hilfe zu leisten. Für Hela ist die Arbeit mit den Familien die Motivation, weiter bei Alarmphone mitzumachen. Alarmphone sei wichtig, sollte aber nicht mit einer Lösung des Problems verwechselt werden. „Dafür bräuchte es Visafreizügigkeit“, sagt sie. „Wenn der politische Wille da wäre, könnte das umgesetzt werden. Aber solange die europäischen Werte sich selbstgerecht nur um sich selbst drehen, erscheint die Lösung in weiter Ferne.“

Hela fragt sich: „Warum schaffen wir es nicht, eine alternative Politik mit einem menschlichen Miteinander zu etablieren, statt Angst und Tod für Viele?“ Im Interview erzählt Hela, dass es in der Vergangenheit selbstverständlich war, dass Menschen vom afrikanischen Kontinent für eine Saison nach (Süd-)Europa zum Arbeiten kamen und dann wieder zurück zu ihren Familien gingen. Aber weil es eben keine alternative Politik Europas gibt, bleibt für viele Menschen der Weg über das Mittelmeer der letzte Ausweg.

Lucia – Centro Sociale/Rechtsberatung

Im Sommer 2023 traf ich die Juristin Lucia Gennari in Rom, Italien. Als Juristin setzt sich Lucia Gennari gegen die Kriminalisierung von Flüchtenden wie Helfenden durch Regierung und Justiz ein. Seit der Wahl des rechten Blocks unter Giorgia Meloni im September 2022 wurde diese Art der Anti-Migrationspolitik stetig weiter vorangetrieben. Lucia kämpft für die tatsächliche Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Allzu oft werden unterschiedliche Standards gesetzt. Zum Beispiel wird die Bewegungsfreiheit von Menschen, die vor dem Gesetz illegal nach Italien migrieren, oft viel schneller eingeschränkt als bei Festnahmen von Europäer*innen.

Im »Centro Sociale«, eine politisch-linke Bewegung in ganz Italien, die durch die Bereitstellung von Orten soziale Räume für politische Arbeit schafft, übernimmt Lucia juristische Angelegenheiten der Geflüchteten. In Rom kümmert sie sich um aufenthaltsrechtliche Fragen von Migrant*innen. Aber auch die Kriminalisierung von Flüchtenden und Seenotretter*innen spielt für Lucia eine zentrale Rolle. Lucia Gennari arbeitet in einer Anwaltskanzlei in Rom, die u.a. verfolgt, was an den Grenzen Italiens passiert und zur Externalisierungspolitik Italiens arbeitet. Die italienischen Jurist*innen arbeiten verstärkt zur Migration über See. Seit vier oder fünf Jahren unterstützen sie NGOs aus der Seenotrettung.

Im Interview erzählt Lucia, dass sie sich neuerdings auch um den Kampf gegen das zeitweise Festsetzen der SAR-Schiffe von NGOs kümmert. Die italienische Regierung setzte im Januar 2023 ein Gesetz in Kraft, das die Weiterfahrt der Rettungsschiffe einschränkt. „Dieses Gesetz regelt eine Reihe von Bedingungen, die sie (die NGO Schiffe) einhalten müssen,“ erklärt Lucia. „… (es wird) nur auf NGOs angewendet, die Migrant*innen retten. Und es ist ziemlich klar, dass es für diesen speziellen Fall gedacht ist und verschiedene Arten von Sanktionen gegen Rettungsaktivitäten ermöglicht. Und das ist bereits passiert. Es gibt also verschiedene NGO-Schiffe, die bereits (…) vorübergehend gestoppt wurden. So haben die meisten NGOs diese (Prozedur) durchlaufen, von MSF über Sea Watch bis hin zu Open Arms, Sea Eye und so weiter. Und auch Louise Michel. Im April 2023 war es das zweite Schiff, das nach der Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen festgehalten wurde.“

Beitrag der Zivilbevölkerung als Zeichen der Solidarität

Durch die Geschichten der Aktivist*innen wird auch deutlich, dass die Zivilbevölkerung einen erheblichen Beitrag leisten kann, dem bestehenden politischen System etwas entgegenzusetzen. Im Falle der Aktivist*innen in meinem Film hat die Zivilgesellschaft den Bedarf erkannt und gehandelt: Sie tun dies, indem sie eigene Schiffe im Mittelmeer einsetzen, die Rettungen durchführen, Rettungshotlines koordinieren und transnationale Vernetzungsarbeit leisten.

Jede der Protagonistinnen meiner Recherche setzt sich wirkmächtig aus ihrem persönlichen Umfeld und aus ihrer Profession heraus für ein kollektives Miteinander ein. Über ihr Engagement haben sie sich im Laufe der Jahre kennengelernt und referieren solidarisch aufeinander. Erst die unterschiedlichen Ansätze im Widerstand, die an ganz verschiedenen Stellen und Ländern den restriktiven politischen Systemen begegnen, machen es möglich, über das Meer hinweg menschenrechtlich und humanitär wirkmächtig zu sein. Denn da das politische System, wie oben beschrieben, sich über Grenzen hinweg koordiniert, muss es der Widerstand auch tun.

Wenn Lücken entstehen, weil politische Entscheidungen repressiv getroffen werden, eröffnet das den Raum für solidarisches Handeln. Hierfür kann eine aktivistische Zivilgesellschaft ihre Privilegien zur Verfügung stellen. Lea Reisner bringt es auf den Punkt: „Jede*r sollte seine Privilegien nutzen, um andere Menschen zu unterstützen, wo es gebraucht wird. Nicht in einer bevormundenden Art, sondern auf eine Art und Weise, die geleitet ist von Solidarität. Ich glaube daran, dass auch Individuen Dinge ändern können.“ In den Schicksalen derer, die hier über das Meer fliehen, komme das Versagen der Weltgemeinschaft zusammen und wer hier Veränderung erreichen will, müsse die Ursachen bekämpfen, da ist sich Lea nicht nur mit ihren Crewmitgliedern einig.

Literatur

Dernbach, A. (2019): Seenotrettung im Mittelmeer: Die Kriminalisierung der Helfer geht immer weiter. Tagesspiegel.de, 2.7.2019.

Deutscher Kulturrat (o.J.): Frauen in Kultur und Medien. Homepage zu Studien und Vernetzung über Frauen in der Kulturindustrie (frauen-in-kultur-und-medien.de).

Deutschlandfunk (2021): EU-Türkei-Abkommen. Milliarden statt Migranten. Deutschlandfunk.de, 6.4.2021.

DW (2023): Tunesien: Hetze gegen Migranten aus Subsahara. dw.com, 02.03.2023

Etzkorn, N.; Tröger, J.; Reese, G. (2022): Klimakrise, Kolonialismus und sozial-ökologische Transformation. In: Cohrs, Ch.; Knab, N.; Sommer, G. (Hrsg.): Handbuch Friedenspsychologie. o.O.: ohne Verlag, S. 1-28.

IOM (2022): IOM-Bericht: Mehr als 5.000 Todesfälle auf europäischen Migrationsrouten seit 2021. Pressemitteilung, 25.10.2022.

Jakob, Ch. (2022): Frontex lügt und mauert: Pusbacks auf dem Mittelmeer. taz.de, 29.4.2022.

Kramer, H.; Siefert, A. (2024): Potsdamer Seenotretter vor Gericht: Oberbürgermeister solidarisiert sich mit „Iuventa“-Crew. Tagesspiegel.de, 28.2.2024.

Statista (2024): Geschätzte Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge in den Jahren von 2014 bis 2024.

Tagesschau (2023): Streit über Migrationspakt. Tunesien zahlt 60 Millionen Euro an EU zurück. Tagesschau.de, 12.10.2023.

UNHCR Deutschland (o.J.): Überfahrten über das Mittelmeer. Homepage, unhcr.org.

UNO-Flüchtlingshilfe (2024): Flüchtlingskrise Mittelmeer: Flucht nach Europa. Homepage, Stand März 2024.

Sarah Hüther hat einige Jahre zu Syrien für die NGO »Adopt a Revolution« gearbeitet. Ihr Debühfilm »At the margin« wurde 2020 für den Hessischen Film- und Kinopreis nominiert. Seit 2022 arbeitet sie für ein Mitglied des Bundestages.

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Wenn Hilfe zu Konflikten führt

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine in deutschen Kommunen

von Kathrin Buddendieck und Lena Heuer

Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine wurden auf allen Ebenen in einer beispiellosen Schnelligkeit und Entschlossenheit Maßnahmen umgesetzt, um ukrainische Geflüchtete in Deutschland zu unterstützen. Doch Hilfsmaßnahmen wie diese können unbeabsichtigte Auswirkungen auf bestehende Konflikte haben. Vor dem Hintergrund der Arbeit der Autor*innen im K3B – Kompetenzzentrum Kommunale Konfliktberatung des VFB Salzwedel e.V.1 werden in diesem Beitrag mögliche Konfliktdynamiken auf kommunaler Ebene erläutert und Potenziale skizziert, die durch eine konfliktsensible Gestaltung von Hilfsmaßnahmen und eine konstruktive Bearbeitung der Konflikte entstehen.

Anfang März dieses Jahres aktivierte die Europäische Union (EU) erstmalig die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie. Infolgedessen können sich Geflüchtete mit ukrainischem Pass frei in Europa bewegen, sie erhalten einen sicheren Aufenthaltsstatus für bis zu drei Jahre sowie eine Arbeitserlaubnis, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Rund 870.000 Geflüchtete wurden in den ersten vier Monaten seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister registriert (Mediendienst Integration 2022)2. Innerhalb kürzester Zeit wurden Wohnraum, Kita- und Schulplätze, Sprachkurse und weitere Integrationsangebote in den Kommunen geschaffen. Eine große Solidarität in der Bevölkerung sorgte für viel Hilfsbereitschaft, die sich unter anderem in der Aufnahme vieler Menschen in privaten Haushalten sowie in Geld-, Kleidungs- und Lebensmittelspenden und ehrenamtlichem Engagement ausdrückte. Doch all diese Hilfe kommt auch nicht ohne Konflikte – vor allem auf kommunaler Ebene. Eine Sensibilität für die Konfliktpotenziale bei der Implementierung von Maßnahmen wie diesen kann tiefgreifenden negativen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben vorbeugen und die positiven Wirkungen verstärken.

Unser Beitrag analysiert die Maßnahmen und Unterstützungsleistungen mit dem aus der internationalen Friedens- und Entwicklungszusammenarbeit bekannten Do-No-Harm-Ansatz (dt.: »Richte keinen Schaden an«, Anderson 1999) als Rahmen. Er dient als Werkzeug für eine konfliktsensible Analyse, Planung und Gestaltung von Interventionen und zeigt auf, wie unbeabsichtigten (negativen) Wirkungen von Maßnahmen auf lokale Konfliktdynamiken vorgebeugt werden kann, beziehungsweise wie die Maßnahmen eine Konfliktbearbeitung unterstützen können. Dabei bietet der Blick auf Konflikte und die Sensibilität für deren Potenziale, wie nachfolgend beschrieben, die Chance für alle Beteiligten, bestehende Missstände zu erkennen und zu verändern.

Konkurrenz um (vermeintlich) knappe Ressourcen

Die Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung oder Herausforderung kann zu Solidarität und einem »Zusammenrücken« in einer Gesellschaft führen. Dabei werden zusätzliche Ressourcen mobilisiert, um die gemeinsame Krise zu bewältigen. Dieses Phänomen konnte auch beim Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland beobachtet werden. Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat haben auf allen Ebenen in einem beispiellosen Ausmaß Ressourcen eingebracht, um ukrainische Geflüchtete zu unterstützen.

Eine solche Mobilisierung und (Um-)Verteilung von Ressourcen kann aber auch existierende Spannungen verschärfen oder neue entstehen lassen. Kommt in gesellschaftlichen Gruppen z.B. der Eindruck auf, Ressourcen würden nun ungleicher verteilt beziehungsweise der eigene Zugang aufgrund der neu angekommenen Gruppe verschlechtert, entstehen gerade vor Ort, also auf kommunaler Ebene, Konfliktpotenziale. In der aktuellen Situation zeigen sich solche z.B. mit Blick auf die Verteilung der knappen Güter Wohnraum sowie Kita- und Schulplätze, aber auch die personelle Unterstützung von Seiten der Kommunalverwaltung.

Konkret: Kommunen standen Anfang des Jahres vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Unterkünfte für die ankommenden ukrainischen Geflüchteten bereitzustellen. In manchen Orten wurden die Geflüchteten, die bisher in den Gemeinschaftsunterkünften lebten, zum Auszug aufgefordert oder in andere Unterkünfte verlegt, um Platz für die Neuankommenden zu schaffen. Betroffene verloren dadurch ihre sozialen Netzwerke; es sind Fälle bekannt, bei denen auch der Verlust des Arbeitsplatzes mit einem solch erzwungenen Umzug verbunden war (vgl. z.B. von Hardenberg 2022). Manche dieser nun verlegten Geflüchteten hätten zwar bereits das Recht gehabt, in eine eigene Wohnung zu ziehen, konnten dies aber aufgrund des Wohnungsmangels und weit verbreiteter Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt nicht umsetzen. Seitens eines Sozialamts wurde uns berichtet, dass Wohnungseigentümer*innen ihre Mietwohnungen der Kommune „nur für Ukrainer*innen“ zur Verfügung stellen wollten, weshalb die Stadt befürchtete, den Wohnraum zur Nutzung zu verlieren, wenn sie diesem Anspruch nicht nachkommen würde. Dieses Risiko wird in der Wahrnehmung durch kommunale Akteure umso bedeutender, steigen doch die Spannungen auf dem Wohnungsmarkt ganz unabhängig: Der soziale Wohnungsbau kommt nicht entsprechend voran, Baumaterialien sind knapp und steigende Preise und Kreditkosten tun ihr Übriges dazu (ZEIT Online 2022).

Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang zu Schulen und Kitas. Während einerseits mancherorts auf sehr kreative Weise eine schnelle und unbürokratische Aufnahme von ukrainischen Kindern in Schulen und Kindergärten ermöglicht wurde, ist andererseits seit Jahren und auch durch die Covid-19-Pandemie zunehmend das System, insbesondere das Personal, überlastet. Die Hilfsmaßnahmen für die Einen laufen Gefahr, den Eindruck der Ungleichbehandlung und der Konkurrenz bei den Anderen zu verstärken. Ein Sozialdezernent einer ländlichen Kommune erzählte uns: Wie soll ich den Eltern, deren Kindern seit Jahren auf einen Schulplatz in der Nähe warten und die stattdessen lange Wege mit dem Schulbus fahren, erklären, dass diese Schule nun für ukrainische Kinder geöffnet wird?“

Die Situation bringt auch eine zusätzliche Belastung der Kommunalverwaltung mit sich und die Personalressourcen sind auch dort knapp. Infolgedessen wächst bei nicht-ukrainischen Geflüchteten die Sorge, dass sie gegenüber den Neuankommenden zurückgestellt werden beziehungsweise ihre Anliegen langsamer bearbeitet werden. Längere Wartezeiten auf Termine bei Ämtern bedeutet konkret für manche eine Verlängerung ihrer ohnehin prekären Lebenssituation, wie z.B. das weitere Warten auf Familiennachzug.

Implizite Botschaften und mediale Verstärkung

Die Art und Weise wie Hilfsmaßnahmen gestaltet werden wirkt sich nicht nur auf den Zugang zu Ressourcen aus, sondern sendet auch implizite Botschaften. Ukrainer*innen erfahren durch die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie besonderen Schutz und Freiheiten. Gleichzeitig bemühen sich Staat, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur sowie Wirtschaftsunternehmen, ihnen die Ankunft in Deutschland so leicht wie möglich zu gestalten, indem sie freien Eintritt in Museen und kulturelle Einrichtungen sowie mancherorts die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ermöglichen. Außerdem erhalten ukrainische Geflüchtete seit dem 01. Juni 2022 Zugang zu Sozialleistungen nach SGB II und XII und damit zu umfassenden Gesundheitsleistungen nach dem GKV-Leistungskatalog.

All diesen Maßnahmen ist gemein, dass sie in der Regel ausschließlich für Geflüchtete mit ukrainischem Pass gelten. Diese Ungleichbehandlungen von Kriegsgeflüchteten senden implizite Botschaften über die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Sie reproduzieren rassistische und kulturalistische Ansichten und führen zu einer weiteren Ausgrenzung und Marginalisierung von nicht-ukrainischen Geflüchteten. Dies passiert, wie oben beschrieben, einerseits durch die ungleiche Vergabe von wichtigen Ressourcen und Rechten, die Geflüchteten eine Teilhabe und Integration in der Aufnahmegesellschaft erlauben. Durch die einseitigen Maßnahmen entsteht andererseits bei den nicht-ukrainischen Geflüchteten der Eindruck, dass sie nicht willkommen und ihre Bedürfnisse weniger wichtig seien. Eine Folge dieser Diskriminierungserfahrung kann beispielsweise sein, dass diese geflüchteten Menschen noch mehr den Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft vermeiden und sich in parallele Strukturen zurückziehen, möglicherweise aber auch, dass sie ihre Rechte, Teilhabe und Anerkennung einfordern.

Konfliktpotenziale für die Gesellschaft entstehen zudem auch durch Kommunikation und Medienberichterstattung über Maßnahmen und Hilfen. Das gilt erst recht, wenn es sich um Gerüchte und Falschinformationen handelt. Beobachten ließ sich dies beispielsweise bei der Meldung aus dem Mai 2022: „Ukrainer*innen dürften ohne Abitur in Deutschland studieren“ (Thust 2022). Die tatsächliche Entscheidung der Kultusministerkonferenz war um einiges komplexer als diese vereinfachende Meldung. Der Eindruck der Ungleichbehandlung bei anderen Personen, die ein Studium anstreben, wurde dadurch allerdings verstärkt.

Konfliktsensibilität: Chancen und Potenziale

Hilfsmaßnahmen sollten daher dringend konfliktsensibel gestaltet und bereits umgesetzte Maßnahmen entsprechend angepasst werden, um solch unbeabsichtigte und unnötige Konfliktverstärkung auf materieller, symbolischer und kommunikativer Ebene zu verhindern. Für Politik und Zivilgesellschaft gilt es, sich offen für die gleiche Behandlung von allen Menschen einzusetzen und eine klare Haltung für Gleichberechtigung zu beziehen. Dies ist in der aktuellen Situation beispielsweise bei der Verteilung von Wohnraum zentral. Hier gilt es bei der Gestaltung von Hilfsmaßnahmen die Bedarfe aller betroffenen Gruppen zu berücksichtigen und so zu vermeiden, dass am Wohnungsmarkt benachteiligte Gruppen auch noch gegeneinander ausgespielt werden.

Für eine erfolgreiche und nachhaltige Bearbeitung von bereits vorhandenen Konflikten ist es allerdings auch erforderlich, existierende Machtasymmetrien zwischen den beteiligten Gruppen zu erkennen. Bearbeitungsprozesse sollten daher inklusiv gestaltet werden, sodass jede der am Konflikt beteiligten und vom Konflikt betroffenen Gruppen ihre Perspektiven, Interessen und Bedürfnisse einbringen kann. Das bedeutet auch, dass Gruppen, die Unterdrückung und Diskriminierung erfahren, einen besonderen Bedarf an Unterstützung haben, um an Prozessen zur Konfliktbearbeitung teilhaben zu können. Dies ist keine unerhebliche Feststellung, wenn mit Blick auf die in diesem Beitrag angerissenen Konfliktdimensionen erklärt werden muss: die vorhandenen personellen, institutionellen und finanziellen Ressourcen der zuständigen Kommunen werden mit Sicherheit für die Bearbeitung solcher Herausforderungen nicht ausreichen.

Unseres Erachtens stecken jedoch in der Zurkenntnisnahme der aufkommenden und sich vermutlich noch verstärkenden Konflikte auch Chancen: Verdeckte gesellschaftliche Missstände werden offensichtlich, bestehende Ungleichbehandlung in der Gesellschaft transparent. Eine konstruktive, konfliktsensible Bearbeitung der Konflikte kann Veränderungsprozesse grundsätzlicherer Art ermöglichen, aktivierend wirken und zu mehr Teilhabe, Gleichheit und Anerkennung führen.

In der Mobilisierung von zusätzlichen Mitteln für Geflüchtete sowie dem Sichtbarwerden von Ungleichheiten liegt dann auch eine Chance für positive Veränderung. Oder, mit den Worten eines Geflüchteten aus Syrien, mit dem wir im Vorfeld sprachen: „Die Hoffnung, dass sich zukünftig etwas für Alle ändern kann“.

Anmerkungen

1) Das K3B berät Gemeinden, Städten und Landkreisen Beratung bei Konflikten im kommunalen Raum. Für mehr Informationen zum Ansatz der Kommunalen Konfliktberatung siehe Berndt und Gessler 2021.

2) Die Zahl ist allerdings ungenau, da ukrainische Staatsbürger*innen ohne Visum in die EU einreisen und sich im Schengen-Raum frei bewegen können. Möglicherweise sind einige der Personen bereits weitergereist oder wieder zurückgekehrt.

Literatur

Anderson, M. B. (1999): Do No Harm: How aid can support peace – or war. Boulder, CO: Lynne Rienner Publishers.

Berndt, H.; Gessler, O. (2021): Kommunale Konfliktberatung. Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen friedenslogisch bearbeiten. W&F 4/2021, S. 44-46.

Mediendienst Integration (2022): Flüchtlinge aus der Ukraine. Homepage, Stand 06.07.2022.

Thust, S. (2022): Ohne Abi zur Uni? Was hinter dem Beschluss der Kultusministerkonferenz für Geflüchtete aus der Ukraine steckt. Correctiv.org, 19.05.2022.

Von Hardenberg, N. (2022): Sie sollen Platz machen. Süddeutsche Zeitung, 27.03.2022.

ZEIT Online (2022): Weniger Baugenehmigungen für Wohnungen und Einfamilienhäuser. ZEIT Online, 17.06.2022.

Kathrin Buddendieck ist als freiberufliche Konfliktberaterin für das K3B tätig und arbeitet seit mehreren Jahren für den Zivilen Friedensdienst im In- und Ausland.
Lena Heuer ist Projektmitarbeiterin im Vorhaben »Herausforderungen gesellschaftlicher Integration gemeinsam verstehen und bearbeiten« durchgeführt im K3B.

Festung Europa?

Festung Europa?

51. Kolloquium der AFK, 7.-9- März 2019, Erfurt

von Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Das 51. AFK-Kolloquium fand vom 7. bis zum 9. März 2019 unter dem Titel »Von der Friedensmacht zur Festung Europa?« im Augustinerkloster in Erfurt statt. Schwerpunktthema bildete das veränderte Verständnis inneren und äußeren Friedens in Bezug auf Europa. Die AFK-Vorsitzende Bettina Engels und Uwe Trittmann von der Evangelischen Akademie Villigst gingen zu Beginn auf die große Resonanz ein, auf die das Thema des Kolloquiums gestoßen war.

Das Tagungsthema kann grob in die Blöcke Selbstverständnis der EU, Konflikte im Inneren und die EU als Akteur auf internationaler Ebene gegliedert werden und wurde von folgenden Leitfragen strukturiert:

  • Ist Europa noch eine normative Friedensmacht? War die EU jemals eine wirkliche Friedensmacht?
  • Inwieweit helfen Theorien der Friedens- und Konfliktforschung, die gegenwärtige Situation in Europa zu verstehen?
  • Was bedeutet die wachsende militärische Zusammenarbeit der EU in einer »Europäischen Verteidigungsunion«?
  • Wie unterdrücken autokratische Regierungen lokale Bevölkerungen und wie kann Europa sich dagegen positionieren?

Oliver Richmond (University of Manchester) eröffnete die Tagung mit einem Keynote-Vortrag zur Zukunft von Peacebuilding als internationales Friedenskonsolidierungskonzept. In einer genealogischen Beschreibung der Peacebuilding-Architektur zeichnete er sechs aufeinander aufbauende Ebenen nach. Dabei zeigte er eine Komplexitätszunahme bezüglich der Aufgaben und der Ausdifferenzierung von Peacebuilding auf, die zu einem Legitimitätsproblem für Peacebuilding und zu einer wachsenden Instabilität des internationalen politischen Systems geführt habe. Für die Zukunft der internationalen
Friedenskonsolidierung prognostizierte Oliver Richmond zwei mögliche Szenarien: entweder eine Rückbesinnung auf das kritische und emanzipatorische Potential von Peacebuilding, orientiert an einer Ausweitung von Menschenrechten, oder aber den Kollaps des UN-basierten Systems Peacebuilding an sich.

Das Kolloquium widmete sich auch dem Weltfrauentag am 8. März mit einigen Programmpunkten. Gabriele Wilde, u.a. Leiterin des Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS), trug zu diesem Anlass eine theoretische Betrachtung vor und erläuterte, wie das Autoritäre auf die Zerstörung von Pluralität, Differenz und Vielfalt in den Gesellschaften ausgerichtet ist und damit die Grundlagen für demokratische Geschlechterverhältnisse auflöst. Wilde entwickelte die These, dass es sich beim autoritären Populismus um eine diskursive Praxis handelt, die in ihrer sexistisch und rassistisch
unterlegten, exkludierenden Form in zentralen Bereichen der Gesellschaft wirkt und wesentliche demokratische Grundlagen untergräbt.

Panels

Im Panel zum Thema Militärunion wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgestellt. Faktisch stelle die PESCO eine von Deutschland und Frankreich dominierte Reorganisation der EU-Militärpolitik dar, die mit einer Aufstockung der Verteidigungshaushalte der teilnehmenden Staaten sowie letztlich einer Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte einher gehe, so die Referent*innen.

Auch ein weiteres zentrales Element der aktuellen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde erläutert: der Europäische Verteidigungsfonds, der die Fragmentierung des europäischen Rüstungsmarktes überwinden soll. Der Fonds stellt Gelder für die europäische Rüstungsproduktion bereit und gilt somit als ein weiteres militärpolitisches Element zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben.

Zudem wurde der Nexus von Sicherheit, Migration und Entwicklung in der EU-Politik thematisiert. Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Hilfswerke kritisieren, dass »Sicherheit« immer stärker zulasten ziviler Krisenprävention und Entwicklungspolitik gehe. Die Vermischung von Finanzierungsinstrumenten und die damit verbundene Zweckentfremdung von ursprünglich für Entwicklungspolitik ausgewiesenen Mitteln für militärische und polizeiliche Maßnahmen wurde beanstandet.

Besonders kritisiert wurde der Ausbau der europäischen Rüstungsproduktion, ebenso die mangelnde demokratische Kontrolle und Einflussnahme auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Ein Panel zu den EU-Afrika-Beziehungen verdeutlichte, dass die EU ihre Partner nicht nach der Größe der Organisation wählt, sondern verstärkt auch Kooperationen mit kleineren Organisationen eingeht, mit denen sich die eigenen Interessen zielgerichteter umsetzen lassen. Insgesamt sei zunehmend eine Verquickung von Ausgaben für Entwicklungs- und Sicherheitspolitik zu beobachten, was im Sinne einer Politikkohärenz problematisch sei, so die Referenten. Daraus wurden zwei Schlüsse gezogen: Es gibt eine Zunahme an Pluralität und Heterogenität der Akteursgruppen und es findet eine stärkere
Militarisierung der Außenpolitik statt.

Zudem gab es Panels zu Themen, die über das Tagungsthema hinausreichten. Dazu zählten zum Beispiel Narrative in Konflikten oder Konfliktakteure und die Rolle von Popkultur und (Selbst-) Inszenierung.

Roundtable

Ein Roundtable beschäftigte sich mit konzeptionellen Fragen in Bezug auf die EU. Darin wurde das spezifische Wirken der EU als Zivilmacht durch die institutionelle Gestalt der EU thematisiert. Insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht habe die Bürokratie innerhalb der EU immer größeren Einfluss bekommen, und die EU sei zunehmend als internationaler Akteur aufgetreten. Da an der Spitze der EU Kollektivgremien die Entscheidungsgewalt hätten, würden stets Kompromisse benötigt, um agieren zu können. Es wurde geschildert, dass ein genereller Krisendiskurs über die EU zu beobachten sei, und es
wurde für eine Abkehr vom starren Akteursbegriff argumentiert, da die EU in sehr verschiedenen Politikfeldern aktiv sei und sich in jedem Feld anders verhalte. Die EU müsse Ian Manners folgend als »normative Macht« gesehen werden, daher solle bei der Beobachtung ihrer Aktivitäten ein stärkerer Fokus auf Sprache und Diskurse gelegt werden, so eine Referentin. Aus deklaratorischer Sicht wurde die EU als Friedensmacht gesehen. Bei der Unterstützung schwacher Demokratien und durch die Osterweiterung konnten Erfolge erreicht werden, welche jedoch in der Vergangenheit liegen. Aktuell gebe es eher
ambivalente Wirkungen der EU. Die EU fokussiere sich zunehmend auf technische Kooperationen anstatt auf Demokratieforderungen.

Die Diskussion zeigte, dass eine europäische Armee bei ungelösten inneren Streitigkeiten nicht handlungsfähig sein kann.

Rajewsky-Preis

In diesem Jahr wurden zwei Forscher*innen mit dem Christiane-Rajewsky-Preis ausgezeichnet. Elisabeth Bunselmeyer erhielt den Preis für ihre Dissertation »Trust Repaired? The Impact of the Truth and Reconciliation Commission and the Reparation Program on Social Cohesion in Post-Conflict Communities of Peru«. Zweiter Preisträger ist Robin Markwica, Universität Oxford, für seine Schrift »Emotional Choices: How the Logic of Affect Shapes Coercive Diplomacy«.

Daniel Beck und Alexandra Engelsdorfer

Seenotrettung – und dann?


Seenotrettung – und dann?

von Jürgen Nieth

Am 12. Juni 2019 rettete die »Sea-Watch 3« vor der libyschen Küste 53 Menschen aus Seenot. Auf die Bitte, ihr einen sicheren Hafen zuzuweisen, wurde sie von den italienischen Behörden an Libyen verwiesen. Das lehnte die Kapitänin Carola Rackete angesichts der Zustände in den libyschen Gefangenenlagern ab und nahm stattdessen Kurs auf Italien.

Nach 17 Tagen vor Lampedusa, in denen sich kein europäischer Hafen bereit erklärt hatte, das Schiff einlaufen zu lassen, entschied die Führung der »Sea-Watch 3« – trotz Verbot der italienischen Behörden – anzulanden. Die Kapitänin reklamierte eine Notsituation.

Notsituation

13 Migranten mussten während dieser über zwei Wochen vor Lampedusa als medizinische Notfälle ausgeschifft werden. Zu den Migrant*innen sagte die Kapitänin im taz-Interview (27.6.19, S. 11):Viele bringen traumatische Erfahrungen mit: Die Geschichten reichen von Versklavung, über sexuelle Gewalt, Entführung und Zwangsarbeit. Es besteht die Gefahr der Retraumatisierung. Donatelle di Cesare schreibt in der ZEIT (4.7.19, S. 38): Die Kapitänin hatte Grund zu der Annahme, Gerettete „würden es an Bord nicht länger aushalten. Sie befürchtete, dass einige von ihnen, mitten in der Nacht, die schwarzen Gewässer um sie herum nutzen könnten, um sich das Leben zu nehmen.

Rettung ohne Hafen

Verschiedene Medien verweisen auf eine Lücke im Seerecht. „Es gibt zwar eine Rettungspflicht auf See, aber es gibt keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten“, so Nele Matz-Lück im Interview der taz (3.7.19, S. 4).

In einer Stellungnahme des Verbands Deutscher Kapitäne und Schiffsoffiziere heißt es dazu: „Es sei »unstrittig, dass Seeleute immer verpflichtet waren und sein werden, Menschen aus Seenot zu retten« […] Inzwischen aber werde von Seeleuten erwartet, die »Schiffbrüchigen im Mittelmeer in solche erster und zweiter Klasse einzuteilen […] Es ist kein Fall bekannt und es wäre unvorstellbar, dass ein unbekannter Segler, der nach dem Untergang seiner Yacht ohne Ausweispapiere geborgen würde, nicht an Land gebracht werden dürfte.«“ (Tagesspiegel 3.7.19, S. 3)

Sichere Häfen

„»Sicher«, das ist gemäß einer Entschließung des Schiffssicherheitsausschusses der Internationalen Schifffahrtsorganisation IMO ein Hafen, »an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Bedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden«“, schreibt Martin Klingst in der ZEIT (4.7.19, S. 6). Und die italienische Richterin, die den Hausarrest Racketes aufhob, stellte fest: Die »Sea-Watch 3« „hätte keinen Hafen in Libyen oder Tunesien ansteuern können, weil in diesen Ländern Menschenrechtsverletzungen drohten“ Tagesspiegel (4.7.19, S. 4).

Die BILD-Lösung

„16 TAGE ODYSSEE! Dabei hätte es möglicherweise auch andere Möglichkeiten gegeben. Die Stadt Kiel z.B. hatte von Anfang an signalisiert, Flüchtlinge der »Sea-Watch« aufzunehmen. Für die Strecke Lampedusa-Kiel würde ein Schiff wie die »Sea-Watch 3« vermutlich 10-12 Tage brauchen – abhängig von Wind und Wetter.(Bild 2.7.19, S. 2)

BILD will tatsächlich traumatisierten, erschöpften, kranken Menschen tausende Kilometer auf offener See zumuten (siehe oben: Notsituation). Eine kaum zu überbietende Menschenverachtung, und dann ist die Idee auch noch geklaut. Der rechtsextreme italienische Innenminister hatte bereits Tage vorher getönt: „Holländisches Schiff, deutsche Hilfsorganisation – also die Hälfte der Migranten nach Amsterdam, die andere Hälfte nach Berlin. Und dann Beschlagnahmung des Piratenschiffs. Punkt.(SZ 29.6.19, S. 4)

Festung Europa

Für Günter Burkhardt von pro asyl will „Italiens Innenminister Salvini […] ein Exempel statuieren. Sein Ziel ist es, generell Schiffe davon abzuhalten, Menschen aus Seenot zu retten. (Interview mit der taz, 1.7.19, S. 3).

Die Bundesregierung hat auch diesmal wieder die Geretteten auf See alleine gelassen und eine »Europäische Lösung« als Voraussetzung der Aufnahme gefordert. „Aus italienischer Sicht sitzen die Berliner Mahner deshalb auf einem ziemlich hohen Ross. Weil es bis heute keine funktionierende gemeinsame europäische Lösung gibt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird.(Matthias Rüb in FAZ, 5.7.19, S. 1) Und Regina Kerner stellt in der BZ (3.7.19, S. 5) fest: „Im letzten Jahr sind nicht einmal 25.000 Menschen über das zentrale Mittelmeer gekommen. Davon hat Deutschland nur 157 aufgenommen.

Fabian Hillebrand kritisiert die Bundesregierung noch deutlicher: „»Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung«, twitterte Heiko Maas nun. In Wirklichkeit steht er einer Behörde vor, die mit Deals mit libyschen Milizen alles dafür getan hat, das Sterben auf dem Mittelmeer so leise wie möglich vonstatten gehen zu lassen. (ND 1.7.19, S. 1)

Hoffnung

„Die große Aufmerksamkeit für Sea-Watch und die »Capitana« hat […] dazu geführt, dass andere NGOs, die zwischenzeitlich weg gewesen waren, ihre Schiffe wieder ins zentrale Mittelmeer verschieben und sich neu koordinieren.(Oliver Meiler, SZ 4.7.19, S. 7) Es mehren sich die Stimmen, die den erneuten Einsatz staatlicher Rettungsschiffe fordern, und die Pariser Stadtverwaltung will die beiden deutschen Kapitäninnen Rackete und Klemp mit einer Ehrenmedaille auszeichnen.

„Caroline Rackete gegen Matteo Salvini. Der vulgäre Rambo in Rom gegen die Kapitänin auf See, eine heutige Antigone, die wie die antike Heldin ohne Rücksicht auf persönliche Verluste für die Menschlichkeit kämpft gegen einen ungerechten Mächtigen […] Das könnte das Bild sein, von dem man eines Tages sagen wird, es war der Anfang vom Ende der bisherigen Strategie, die Festung Europas zu verteidigen. (Andrea Dernbach in Tagesspiegel, 28.6.19, S. 6)

Redaktionsschluss dieser Seite 15. Juli 2019.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, BILD, nd – Neues Deutschland, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern, SZ – Süddeutsche Zeitung, [Der] Tagesspiegel, taz – die tageszeitung, ZEIT – DIE ZEIT.

Militärische Mobilität in der EU


Militärische Mobilität in der EU

NATO, EU und »Military Schengen«

von Christoph Jehle

Die Verkehrsinfrastruktur in Mitteleuropa ist bislang nicht auf die Nutzung durch das US-amerikanische Militär ausgelegt. Weder die Belastbarkeit von Brücken noch die Lichtraumprofile von Tunneln entsprechen den Vorstellungen des US-Militärs, das sich darum bemüht, seine Ausrüstung möglichst schnell und ohne bürokratische Hindernisse an die Ostgrenze der NATO verlagern zu können, um jederzeit auf eine gefühlte russische Bedrohung reagieren zu können. Zu Zeiten des Kalten Kriegs lag die vorgesehene Verteidigungslinie noch am Rhein. Mit der Osterweiterung von NATO und EU wurde sie weit nach Osten verschoben. Jetzt sollen daher auch die Nachschublinien entsprechend ausgebaut werden.

Die New York Times meldete am 6. August 2017, dass kurz zuvor ein Militärkonvoi eines US-amerikanischen Logistikverbandes an der Landesgrenze des Nicht-­NATO-Mitgliedslandes Österreich mitten in einer Übung gestoppt wurde, als er von Deutschland auf dem Weg nach Rumänien war. Der Munitionstransport war an einem Freitag an der österreichischen Grenze angekommen und dort aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens während der Ferienzeit erst am Montag zur Weiterfahrt zugelassen worden (Schmitt 2018). Im Selbstverständnis des US-Militärs ist eine solche Behinderung seiner Arbeit keinesfalls akzeptabel.

In der Planung des Manövers war eine Behinderung der Bewegungsfreiheit der US-Truppen durch den Zoll eines EU-Mitgliedslandes nicht berücksichtigt worden – in vielen Ländern, in welchen US-Truppen stationiert sind, können sie sich weitgehend frei bewegen. Als einzige Einschränkung für den Transit durch Österreich war im Vorfeld bekannt geworden, dass die Truppen ihre Zwischenstopps nur in Liegenschaften des Bundesheers vornehmen dürften.

Weil sich die US-Truppen aufgrund der bestehenden Zollformalitäten und Vorkommnissen wie dem geschilderten in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen, drängt man vonseiten der USA darauf, die EU solle dafür sorgen, dass Soldaten auch mit schwerem Gerät schnell innerhalb Europas verlegt werden können.

Freie Fahrt für US- und NATO Truppen in der EU

Dieses Konzept wurde unter dem Schlagwort »Military Schengen« diskutiert. Der Begriff kam im Herbst 2017 auf, als man das vom Schengener Durchführungsabkommen geprägte Bild des unkontrollierten Passierens der Grenzen zwischen den sogenannten Schengen-Staaten auf die Bewegungsfreiheit der US-Truppen in Europa übertragen wollte. Inzwischen ist in Europa jedoch der politische Druck gewachsen, Schengen eher zurückzufahren und für möglichst lange Zeit wieder robuste Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten durchzuführen. Mit Schengen wird nun oftmals eine Bedrohung der Landesgrenzen verbunden, und so wird der Begriff »Military Schengen« inzwischen eher seltener genutzt.

Die Idee wurde jedoch keinesfalls aufgegeben, denn für die Verlegung von Truppen der NATO und von US-Truppen, die nicht der NATO unterstehen, sollen künftig die Grenzen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten, aber auch den bislang neutralen EU-Mitgliedern wie Österreich oder Finnland, keine Truppenbewegungen mehr behindern. Zudem bahnte die Diskussion um Military Schengen den Weg für Pläne für eine von der NATO unabhängige Militärzusammenarbeit in der EU.

Ein viel gravierenderes Problem als die Zollformalitäten stellte bei dem Militärmanöver allerdings die deutsche Verkehrsinfrastruktur dar, die zumeist nicht für die Ansprüche des Militärs ausgelegt ist. So sind Tunnel oftmals nicht für die Durchfahrt von Panzern ausgelegt, und Brücken verfügen nicht über die benötigte Tragkraft, sodass die US-Militärkonvois bei dem eingangs erwähnten Manöver Umwege fahren mussten, die man bei der Planung nicht berücksichtigt hatte.

Die Verkehrsinfrastruktur in Westdeutschland wurde in den vergangenen sieben Jahrzehnten nur auf eine zivile Nutzung ausgelegt. Daher steht man nun vor dem Problem, dass die Truppen nicht so schnell vorankommen, wie vom Navigationssystem angezeigt.

Verlagerung der Kosten

In NATO-Kreisen wird die militärische Ertüchtigung der Verkehrsnetze immer häufiger mit der wiederentdeckten »russischen Bedrohung« und der Abschreckung Russlands begründet. Die EU-Kommission verabschiedete im März 2018 einen Aktionsplan zur Ertüchtigung des europäischen Verkehrsnetzes für militärische Land-, Luft- und Seetransporte innerhalb und jenseits der EU (EC 2018). Statt »Military Schengen« lautet das Schlagwort jetzt »militärische Mobilität«.

Die Kosten für den militärgerechten Ausbau von Autobahnen und Bahntrassen werden dabei nicht dem Rüstungshaushalt, sondern dem Verkehrsetat zugeordnet. Dieser reicht jedoch in Deutschland nicht einmal aus, um die zivile Mobilität sicherzustellen, was sich in der Sperrung maroder Autobahnbrücken, zahlreichen Schlaglöchern und anhaltenden Problemen beim Bahnverkehr zeigt. Bis 2019 will die EU-Kommission ermitteln, welche Voraussetzungen für Militärtransporte erforderlich sind und welche Teile des transeuropäischen Verkehrsnetzes sich dafür eignen. Dabei soll nicht nur die im Besitz der öffentlichen Hand liegende Infrastruktur berücksichtigt werden, sondern auch die Autobahnstrecken, die von Privatfirmen bewirtschaftet werden. In welchem Umfang solche Strecken betroffen sind und wie die jeweiligen Verträge angepasst werden sollen, ist derzeit noch nicht bekannt.

Des Weiteren soll im Rahmen des europäischen Aktionsplans zur »militärischen Mobilität« ermittelt werden, welche rechtlichen und regulatorischen Barrieren neben den physischen Hindernissen bislang den freien Transport von militärischen Gütern und Mannschaften durch die EU behindern. So gibt es z.B. EU-weite Vorschriften für den Transport gefährlicher Güter, die allerdings nur für zivile Transporte gelten; beim militärischen Transport von Gefahrgütern gelten meist nationale Regeln. Das Regelwerk soll nun überprüft und vereinheitlicht werden.

Die Verquickung von NATO und EU

Die seit mehreren Jahren vorangetriebene Vermischung der Ambitionen der NATO und der aus der Europäischen Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hervorgegangenen Europäischen Union ist bereits weit fortgeschritten. Wer in den letzten Monaten in Brüssel war, dem wird aufgefallen sein, in welchem Umfang die Stadt inzwischen von militärischen Streifen geprägt ist. Da Brüssel gleichzeitig EU-Verwaltungszentrum wie auch Sitz des NATO-Hauptquartiers ist, kann eine Abstimmung auf kurzem Wege erfolgen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt sich erfreut: „Militärische Mobilität kann ein Flaggschiff der NATO-EU-Zusammenarbeit sein.“ (NATO 2017)

Unter dem Kürzel »PESCO« (Permanent Structured Cooperation; Ständige stukturierte Zusammenarbeit) will die Europäische Union die Mitgliedsländer zu einer kontinuierlichen militärischen Zusammenarbeit verpflichten. Im Kern geht es darum, die EU-Mitgliedsstaaten schneller und leichter für militärische EU-Missionen aktivieren zu können, ohne dass ein einzelnes EU-Mitglied derartige Aktivitäten verzögern oder gar blockieren könnte. Mit dabei sind inzwischen 25 EU-Mitglieder; nicht beteiligt sind Großbritannien, das die EU verlässt, Dänemark, das traditionell bei der europäischen Militärpolitik nicht mitmacht, und Malta, das die in PESCO vorgesehene regelmäßige Erhöhung der Militärausgaben ablehnt. (Mehr zu PESCO siehe Wagner 2018)

Zwei Klassen von Mitgliedern

PESCO wurde von Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien initiiert, die sowohl NATO- als auch EU-Mitgliedsstaaten sind. Sie hoffen, dass ihre Rüstungsindustrie von PESCO profitiert. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass PESCO mit dem in der EU-Militärpolitik bislang geltenden Konsensprinzip bricht. Jetzt dominieren die großen EU-Mitglieder über die kleinen, denn eine Entscheidung gilt dann als getroffen, wenn sie 65 % der Bevölkerung und mindestens 55 % der Staaten hinter sich hat. Andersherum betrachtet haben Deutschland und Frankreich inzwischen eine Sperrminorität und können jede Entscheidung blockieren, die ihnen nicht behagt. Stimmberechtigt sind bei PESCO ohnehin nur die EU-Mitglieder, die sich an der »strukturierten Zusammenarbeit« beteiligen. Somit entwickeln sich hinsichtlich der EU-Militärpolitik inzwischen zwei Klassen von Mitgliedern: solche, die mitentscheiden dürfen, und solche, die mit deren Entscheidungen leben müssen.

Deutschland und Frankreich sicherten sich durch die EU-Militärkooperation einen erheblichen Einfluss. Die anderen Mitglieder mussten sich auf die Einhaltung von Rüstungskriterien verpflichten, welche die beiden Großen im Vorfeld festgezurrt hatten. Jedes teilnehmende Land muss zudem als strategisch bedeutsam erkannte Fähigkeiten entwickeln und bereitstellen sowie einen wesentlichen Beitrag zu EU-Gefechtsverbänden leisten. Außerdem müssen sich die PESCO-Staaten zu einer jährlichen realen, also inflationsbereinigten, Aufstockung ihrer Rüstungshaushalte bereit erklären (siehe dazu z.B. EU Defence 2018). Die PESCO-Mitglieder haben sogar eingewilligt, sich jährlich von der EU-Verteidigungsagentur evaluieren zu lassen, ob sie den zugesagten Aufrüstungsverpflichtungen nachgekommen sind. Dadurch besteht die Möglichkeit, rüstungsunwillige Staaten mit Sanktionen zu belegen, sie sogar per Mehrheitsentscheid aus der PESCO-Zusammenarbeit auszuschließen und damit zum EU-Mitglied zweiter Klasse zu erklären. Das erinnert stark an die Diskussion um die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO (Henken 2018).

Was im Umfeld von PESCO passiert

Es wird häufig argumentiert, PESCO ermögliche Einsparungen, weil innerhalb der EU Doppelstrukturen verzichtbar würden. In Wirklichkeit führen die zahlreichen Projekte jedoch zu Mehrausgaben, die – wie am Beispiel der »militärischen Mobilität« gezeigt – nicht durchgängig im Verteidigungshaushalt auftauchen. Deutschland hat bei sechs PESCO-Projekten die Koordination übernommen (BMVg 2018), u.a. bei folgenden:

  • Mit dem Aufbau eines »Europäischen Logistiknetzwerks« wird die Idee von »Military Schengen« umgesetzt. Perfekt ergänzt werden diese Pläne durch die Einrichtung des neuen NATO-»Kommandozentrums für den rückwärtigen Raum« (Joint Support Enabling Command DEU) in der süddeutschen Stadt Ulm. Das Kommando wurde von der NATO im Juni 2018 beschlossen, soll 2021 voll einsatzbereit sein und ist zuständig für die Militärlogistik, die die schnelle Truppenverlegung innerhalb Europas ermöglicht (Kommando Streitkräftebasis 2018).
  • Das »Europäische Sanitätskommando«, das die medizinische Versorgung für das Militär europaweit effizienter gestalten soll, greift auf die deutsche Erfahrung mit Feldlazaretten zurück. Die Bundeswehrpraxis mit ihrer ortsnahen Versorgung in den Einsatzgebieten hat sich als effizienter erwiesen als das US-Modell, bei dem Verletzte in ein bestens ausgestattetes Militärkrankenhaus in der Etappe ausflogen werden, welches die Opfer oftmals jedoch nicht lebend erreichen.
  • Das »EU-Kompetenzzentrum Trainingsmissionen« soll die Kräfte für Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU ausbilden und im Rahmen der Krisenreaktionskräfte (EUFOR CROC) künftig auch ohne Großbritannien 60.000 Soldaten ins Feld führen können.

Inzwischen wurden 34 PESCO-Projekte beschlossen, die von der Elektronischen Kampfführung (EloKa) in einem elektromagnetischen Umfeld über den Kampfhubschrauber »Tiger Mark 3« bis zur bewaffneten Eurodrohne (MALE RPAS) und dem deutsch-französischen Kampfpanzer (MGCS) reichen.

Finanziert werden diese Projekte zumindest teilweise über den Europäischen Verteidigungsfonds, ein 13 Milliarden schweres Programm, das der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entzogen ist. Dieser Fonds wird aus dem allgemeinen EU-Haushalt finanziert, der eigentlich gar keine Ausgaben mit militärischen Bezügen zulässt (siehe dazu z.B. Töpfer 2018).

Dass man die europäische Zusammenarbeit zunehmend auf den militärischen Bereich fokussiert, zeigt sich auch an der von Frankreich angestoßenen »Europäischen Interventionsinitiative« (EI2), die gemeinsame Militärinterventionen erleichtern soll. Da diese Initiative formal außerhalb der EU-Strukturen läuft, wird sie weder vom Brexit tangiert noch behindert sie eine Mitarbeit Dänemarks, das sich von PESCO fernhält. Deutschland zeigte sich ursprünglich gegenüber dieser Idee des französischen Präsidenten Macron skeptisch, schloss sich inzwischen jedoch der neben der NATO und PESCO dritten militärischen Zusammenarbeit in Europa an.

EI2 wird im Gegensatz zu PESCO als nicht-bindend bezeichnet. Mitglieder der EI2 sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Portugal und Spanien. Auffallend an dieser Ländergruppe ist die Tatsache, dass nur ein osteuropäischer Staat, mit Finnland aber auch ein Nicht-NATO-Staat dazugehört. Die »Koalition der Willigen« verschafft sich mit EI2 die Option, ohne Mitwirkung der NATO, der USA oder relevanter osteuropäischer Staaten tätig zu sein – stellt sich dabei aber nicht gegen die USA. Die von Macron im Zusammenhang mit der europäischen Militärzusammenarbeit an anderer Stelle geäußerte Ausrichtung auch gegen die USA hatte ihm nicht viel Zuspruch gebracht.

Literatur

Bundesministerium der Verteidigung/BMVg (2018): PESCO – Mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung. 11.12.2018, bmvg.de, Aktuelles.

European Commission/EC (2018): Joint Communication to the European Parliament and the Council on the Action Plan on Military Mobility. Dokument JOIN(2018) 5 final vom 28.3.2018.

EU Defence (2018): Ständige Strukturierte Zusammenarbeit /SSZ) – Vertiefung der Verteidigungszusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaaten. Fact Sheet, November 2018; verfügbar auf eeas.europa.eu.

Henken, L. (2018): Das Zwei-Prozent-Ziel – Deutsche Aufrüstung und kein Ende? S. 27 in dieser Ausgabe von W&F.

Kommando Streitkräftebasis (2018): Joint ­Support Enabling Command DEU. 24.10.2018, ­kommando.streitkraeftebasis.de.

NATO (2017): Doorstep by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the start of the European Union Foreign Affairs Council in Defence format. Transkript von Äußerungen gegenüber Journalisten am 13.11.2017; nato.int.

Schmitt, E. (2018): U.S. Troops Train in Eastern Europe in Echoes of the Cold War. New York Times, 6.8.2017.

Töpfer, E. (2018): Pradigmenwechsel? Rüstungsforschung in der EU. W&F 2-2018, S. 27-30.

Wagner, J. (2018): Trump oder Brexit? Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs. W&F 1-2018, S. 28-31.

Christoph Jehle wurde Anfang der 1990er Jahre in Freiburg zum Dr. rer. nat. promoviert und arbeitet seither als Berater für Unternehmen und die öffentliche Hand in Europa und Fernost. Er lebt heute im Markgräflerland südlich von Freiburg sowie in Fernost und schreibt als freier Autor für verschiedene Medien.

Grenzarbeiter*innen

Grenzarbeiter*innen

Akteure und Ortsproduktionen im Grenzregime 2015

von David Scheuing

Der »Balkan-Routen-Korridor«, der sich 2015 im Zuge des »langen Sommers der Migration« von Griechenland bis Deutschland erstreckte, war eine neue Form der transnationalen Grenzziehung quer durch Europa. Die Entstehung dieser »Geographie der Grenze« war den spezifischen Gegebenheiten und dem Handeln der Akteure der damaligen Fluchtbewegungen geschuldet. Vielfach wurden Regierungen und Geflüchtete als diese Akteure identifiziert. Humanitären Akteuren wird oft keine eigene Akteurs-Rolle zugestanden, oder diese wird weitgehend ausgeblendet. Um dieser Verkürzung zu begegnen, untersucht dieser Artikel die Rolle der beteiligten intermediären Akteure am Beispiel der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien.

Es war ein kalter Januartag 2016, als ich das erste Mal vor dem Lager »TC Tabanovce« im Norden der (ehemaligen jugoslawischen) Republik Mazedonien (im Folgenden: (ej)RM)1 stand und mich mit Mitarbeitenden von UNICEF unterhielt. Das bis heute bestehende Lager ist ein kleiner Teil der neuen Grenzsituation in Europa, die unter dem Namen »Balkan-Routen-Korridor« bekannt wurde (Kasparek 2016; Speer 2017). Der »Korridor« führte von Griechenland durch die (ej)RM, Serbien, kurzzeitig Ungarn, später Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland.

Vom Zusammenbruch des Grenzregimes zum Korridor

Der Korridor entstand im langen Sommer der Migration“ (Kasparek/Speer 2015), als das bis dato gültige Grenzregime-Arrangement der Europäischen Union aus Dublin-Verordnung (Dublin III), Schengen-Abkommen und Grenzkon­trollen an der europäischen Außengrenze zusammenbrach (Hess et al. 2017).2 Der Korridor war ein Aushandlungsergebnis der beteiligten Akteure, das heißt die Antwort auf den Zusammenbruch verschiedener Elemente des Grenzregimes. Entgegen früherer Strukturen des Grenzregimes war der Korridor auf den erleichterten Transit vieler Geflüchteter nach EUropa3 ausgerichtet und nicht primär auf deren Abschreckung. Dafür setzte sich das Regime des Korridors als transnationaler Raum über Visa- und Asylprozesse hinweg und figurierte als eine durchgehende, nach innen gekehrte Grenze Europas, an der eine Vielzahl an Akteuren beteiligt war. Wie dieser Korridor als transnationaler Raum entstand, wird hier am Beispiel der (ej)RM analysiert.

»Korridor machen«

Der Korridor ist nicht einfach ein Raum – er wird zu einem solchen gemacht durch die Gestaltung des Diskurses und die Handlungen der beteiligten Akteure. Vertreter*innen handlungstheoretischer Zugänge in der Geographie (Werlen 2010) denken Räumlichkeit, Ort und Geographie stets von den Handlungen der Akteure her. Sie sind als solche ausschließlich soziale Konzepte und nicht materiell vorgeprägte Gegenstände. Es geht also darum, die verräumlichenden Handlungsausführungen, -motive und -legitimierungen der Akteure zu verstehen: ihr Tun und wie sie ihr Tun begründen. Hier kommt die Methode der (ethnographischen) Grenzregimeanalyse nach Tsianos/Hess (2010) zum Einsatz. Sie betrachtet die Konflikthaftigkeit der Positionen aller Akteure und deren gemeinsamen Aushandlungsprozess um die Grenze. Gemeinsam ermöglichen es diese Herangehensweisen, eine »Geographie der Grenze« zu entwickeln.

Zur Rolle und Funktion intermediärer Akteure

In Bezug auf den Balkan-Routen-Korridor fehlte bislang eine Analyse der Rolle und Funktion der intermediären Akteure.4 Daher steht deren spezifische Leistung bei der Herstellung des Korridors hier im Fokus.

Mit intermediären Akteuren ist grob umrissen die Gruppe nicht-staatlicher (inter-) nationaler (Hilfs-) Organisationen gemeint, deren Logos beispielsweise auf allen Zelten, Schlafsäcken, Essensrationen oder Medikamenten prangten. Intermediäre Akteure sind also alle Akteure, die nicht Geflüchtete und nicht direkt zentralstaatliche Akteure sind – egal wie groß dieser Akteur dann jeweils ist. Intermediär nenne ich sie, da sie als »Block« zwischen den oftmals in empirischen Studien einander entgegengesetzten Positionen von Staat und Geflüchteten agieren. Sie vermitteln zwischen den Positionen, sind aber keine durchführenden Mittler, sondern eigenständig agierende Zwischenglieder. Sie sind also nur intermediär, soweit sie ihre Arbeit auf die Geflüchteten hin ausrichten. Akteure sind dabei Individuen oder Organisationen.5

Entwicklungsphasen des Korridors in der (ej)RM

Die Entwicklung des Balkan-Routen-Korridors verlief in drei Phasen, die sich grob wie folgt abgrenzen lassen:

I: Ringen um die Menschlichkeit

Spätestens im Frühjahr 2015 begannen die intermediären Akteure mit ihrer jeweiligen Intervention in der (ej)RM, abhängig von ihrer spezifischen Definition eines »Notfalls«. Für viele war dabei einerseits die politische Krise um das Abschiebegefängnis »Gazi Baba« ausschlaggebend (HRW 2015, Global Detention Project 2017), andererseits die Zahl der täglich ankommenden Flüchtenden.

Zunächst stand das Ringen um die Menschlichkeit im Zentrum: Die autonomen Bewegungen der Geflüchteten hatten den Korridor „aufgebrochen“ (Legis, Interview 17.8.2016), nun galt es die neu entstehenden Routen zu organisieren und für legislative Schritte zu werben.

Intermediäre Akteure intervenierten aufgrund der mazedonischen Gesetzgebung zu Menschenschmuggel zunächst vor allem durch »direkte Hilfe« entlang der Routen: durch Essensausgabe, medizinische (Notfall-) Versorgung oder Fahrradreparaturen. In dieser Phase entstanden zentrale, aber zunächst kurzlebige Anlaufstellen, die dem später etablierten Korridor vorausgingen und weitestgehend vom Staat toleriert wurden (beispielsweise die Versorgung der Geflüchteten in der Sinan-Pascha-Moschee in Kumanovo oder ein vorübergehend genutzter Unterstand am Bahnhof in Gevgelija). Staatliche Akteure waren in dieser Phase nicht organisierend präsent, mit Ausnahme der Polizei als vornehmlich repressivem Akteur.

Parallel lobbyierten nationale wie internationale Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen (UNICEF, UNHCR, Legis, Helsinki Committee) und politische Aktivist*innen dafür, eine ähnliche 72-Stunden-Regelung wie Serbien einzuführen. Geflüchteten stand es hiernach in den 72 Stunden nach Einreise frei, Asyl zu beantragen oder das Land wieder zu verlassen. Mit der Gesetzesänderung Ende Juni 2015 war diese Lobbyarbeit der intermediären Akteure erfolgreich.

Die Gesetzesänderung hatte unmittelbar raumkonsitutive Wirkung, indem intermediäre Akteure nun helfen konnten, ohne als vermeintliche Schmuggler*innen kriminalisiert zu werden; Geflüchtete wiederum konnten sich frei bewegen und so versuchen, das Land auf legalem Wege binnen dreier Tage zu durchqueren. Die Orte des Transits blieben allerdings zunächst weiterhin provisorisch – Essen wurde beispielsweise beim Bahnhof Tabanovce weiterhin auf dem Parkplatz ausgegeben. Dieser Ort sollte später zum Durchgangslager Tabanovce werden.

II: Institutionalisierung und Ausnahmezustand

Ende August 2015 verkündete das mazedonische Parlament den lokal begrenzten Ausnahmezustand an den Grenzübergängen bei Gevgelija im Süden und Tabanovce im Norden. Durch den Ausnahmezustand wurde die faktische Bewegungsfreiheit der Geflüchteten wieder stärker staatlich kontrolliert (Legis, Interview 17.8.2016). Zugleich passierten weiterhin mehrere Zugtransporte pro Tag (mit bis zu 700 Menschen pro Zug) das Land.6

Erneut fühlten sich die intermediären Organisationen zur Intervention »gezwungen«, vor allem da der Staat inaktiv blieb, den Transit in irgendeiner Weise leichter oder annehmbarer zu gestalten. Das UNHCR – als der wohl zentralste Akteur – begann, die Durchgangslager zu planen und nach entsprechenden Lokalitäten zu fragen. Aufgrund der Transportsituation schienen Lager nahe der Bahnstrecke vonnöten. So wurden Orte gewählt, die sich in den vorangegangen Monaten durch die Autonomie der Migration herauskristallisiert hatten, wie Tabanovce und Gevgelija, obwohl dies keineswegs selbstevident war: So konnte UNDP als vermittelnder Akteur sogar die Verlegung des Lagers Gevgelija vom Bahnhof in Richtung griechischer Grenze erreichen (UNDP, Interview 15.8.16). Planung, Aufbau und Strukturierung der Lager wurde weitestgehend den intermediären Akteuren überlassen (UNHCR, Interview 31.3.16; UNICEF, Interview 29.3.16; Legis 2015, S. 12). Das UNHCR sah sich gar vor eine vermeintliche Koordinationsverantwortung gestellt, scheute aber davor zurück, quasi-souveräne Rechte innerhalb des Lagers gegenüber lokalen Initiativen auszuüben: „Auf der einen Seite lag die Verantwortung plötzlich bei uns, auf der anderen Seite […] haben wir [hier] gar keine Befugnisse.“ (UNHCR, Interview 31.3.2016) Das Interesse des Staates reduzierte sich in dieser Zeit vornehmlich auf »geordnete Migration« (orderly migration). Im Kern hieß das die möglichst vollständige Registrierung der Flüchtenden (IOM, Interview 20.09.2016). Doch selbst diese hochamtliche Arbeit wurde am Ende von der Nichtregierungsorganisation (NGO) MYLA übernommen, die selbst im Bereich des Asylrechts arbeitet. Sie wurde dafür vom UNHCR bezahlt (UNHCR II, Interview 20.07.16) und von den USA mit Geräten ausgestattet (Deutsche Botschaft, Interview 19.09.16).

Als zum Ende des Jahres 2015 dann doch staatliche Akteure – vornehmlich das mazedonische Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) und das Krisenkoordinationszentrum – die Verwaltung der Korridorstrukturen übernahmen, mussten Geflüchtete und intermediäre Akteure ein sich zunehmend fortifizierendes Arbeitsumfeld hinnehmen. Zunächst wurden die Lager mit 3 m hohen Zäunen und Nato-Stacheldraht abgesperrt; schließlich wurden auch die Eingangs- und Ausgangskorridore nach Serbien und von Griechenland her eingezäunt. Das UNHCR sprach im Interview von einem zunehmenden „Gefängnis-Design“ (UNHCR II, Interview 20.7.16). Dennoch blieb der Korridor in dieser institutionalisierten Form bis zum Frühjahr 2016 offen.

III: Willkürlicher Arrest und das Ende des Korridors

Am 8. März 2016 endete der Korridor weitestgehend. Als Reaktion auf die angekündigte Schließung der Grenzen in Österreich und Slowenien stoppte die mazedonische Regierung die 72-Stunden-Regelung. Für die Geflüchteten bedeutete dies eine willkürliche Quasi-Gefangennahme in den Durchgangslagern (Global Detention Project 2017). Im April 2016 passte das mazedonische Parlament die Asylgesetzgebung entsprechend an. Die Geflüchteten, die nach dem Ende des Korridors noch in den Lagern verblieben, befanden sich im Limbo der Legalität: Innerhalb der Lager konnten sie (nach Ablauf der 72 Stunden) keinen Asylantrag mehr stellen, „da die Lager sich nicht an der Grenze befinden“ (MLSP/MTSP, Interview 29.9.16). So wurden die Lager zu „legalen Orten für illegalen Aufenthalt“ (MYLA, Interview 27.9.16). Der extraterritoriale Status der Lager vertiefte sich dadurch noch mehr, anstatt beendet zu werden.7

Die intermediären Akteure veränderten folglich ihre Arbeitsweise, blieben aber zu großen Teilen präsent, solange im Lager noch Menschen lebten. So wurde versucht, die Lager auf die Bedingungen eines längeren Aufenthaltes hin umzubauen. Allerdings waren die Lager dafür nicht ausgelegt (UNHCR II, Interview 20.7.2016). Zusätzliche Wohncontainer wurden aufgebaut, Wege gepflastert und Spielplätze angelegt, Wasseraufbereitungsanlagen installiert und das Lager Tabanovce nochmal signifikant vergrößert und verstetigt (hier lebten Anfang März über 1.000 Menschen in widrigen Umständen). Die Ressourcen für den Umbau mobilisierten intermediäre Akteure weitgehend aus internationalen Nothilfe-Töpfen.

Obwohl der Staat nun große Kontrolle ausübte, halfen die NGOs durch ihre Präsenz und Arbeit »solange es eben sein muss« beim Erhalt der Lager mit.

Die Situation wurde auch als Chance begriffen. Einige Interviewte meinten, es sei einfacher geworden, Geflüchteten zu helfen, da sie nun längerfristig vor Ort waren. Erst mit zunehmender Dauer des Limbo wurde die Kritik an der Situation auch unter den Interviewpartner*innen lauter. Außerhalb der Lager begann in dieser Phase überhaupt nur eine NGO mit dem Monitoring der illegalisierten Fluchtbewegungen (Legis 2017), alle anderen Organisationen fokussierten sich auf die Arbeit in den Lagern. Diese Entscheidung hatte konkrete Folgen für die Unterstützung der Geflüchteten: Die Überreste des »Korridors« galten als die »gute« und »legitime« Räumlichkeit, Strukturen zur Unterstützung illegalisierter Fluchtbewegungen bekamen keinen Rückhalt.

„Das ist unser Job“: Bedingungen und Legitimierung des Handelns

Doch nicht nur die konkreten Taten der einzelnen Organisationen und ihr Zusammenwirken sind für die Produktion des Korridors von Interesse. Vielmehr spielt für handlungszentrierte Geographie auch eine Rolle, wie die Organisationen begründen, auf welche Weise und warum sie intervenierten. Hierbei rückten die folgenden Faktoren in den Vordergrund:

  • Die Art des (vorherigen) Engagements: Akteure, die ein langfristiges, sektorales Interesse an Migrationsarbeit hatten, waren in ihren standardisierten Prozessen geübt und bekannte sowie mächtige Akteure. Organisationen, die eher spontan auf den Plan traten, erschienen beinahe willkürlich in ihrer Schwerpunktsetzung. Andererseits waren sie flexibel genug, um ihre Arbeitsfelder der jeweiligen Situation anzupassen. Doch mussten sie sich ihren Status erst erarbeiten (z.B. Legis).
  • Kompetenz und Kapazität im Aufgabenfeld: Die Akteure befanden sich miteinander in einem Ringen um Kompetenzfeststellung und Kapazitäten. Die eigene Effektivität immer wieder neu zu betonen, diente vor allem dazu, sich selbst zu legitimieren. Je mächtiger und zentraler die Akteure, desto eher betonten sie die Notwendigkeit zur Koordination der Intervention. Die zentrale Stellung dieser Akteure wurde zusätzlich gefestigt, da fast alle Gelder in die Hände der bekannten internationalen NGOs und Organisationen flossen.
  • Die Rolle des Staates: Der Staat wurde von fast allen Interviewpartner*innen als „unfähig“ oder „nicht im Stande zu handeln beschrieben.8 Dies erlaubte es den intermediären Akteuren wiederum, relativ frei zu agieren und vielerorts eigenständig zu bestimmen, wie und wo Ressourcen zum Einsatz kamen.

Die Intermediären Akteure legitimierten ihre Intervention im Kern mit drei Argumentationslinien:

  • Die humanitäre Notlage der Geflüchteten: Es galt, die Menschenwürde (humanity) der Geflüchteten zu sichern. Die Art dieser Legitimation variierte je nach Ansatz und reichte von emotionaler Opferdarstellung über Ansätze des Migrationsmanagement bis hin zu einer an den Menschenrechten orientierten prinzipiell-humanitären Einstellung, die Geflüchtete als diskriminierte Gruppe betrachtet. Um die Dringlichkeit der Intervention zu verstärken, griffen Akteure auch auf drastische Raumbilder zurück: »Afrika und Asien« mussten als Vergleichsräume herhalten – Metaphern für vermeintlich ewige humanitäre Krisen.
  • Die notwendige Kontrolle: Hier wurde argumentiert, dass ein menschenwürdiger Verlauf der Migration nur unter Kontrolle effektiv sicherzustellen sei. Sich auf diese Ebene der Sachzwang-Argumentation zu begeben, diente der Entpolitisierung der Interventionen. Dies ging in einigen Fällen so weit, dass Akteure selbst mit den Sicherheitskräften die Grenzen patrouillierten. Damit fallen diese Akteure in eine aus der Literatur wohlbekannte Verschränkung aus Sicherheitslogik und Humanitarismus (Malkki 1995; Fassin 2010; Mezzadra/Neilson 2013, S. 187).
  • Sichere Räume: Da in dieser Logik der Raum, in dem sich Geflüchtete bewegen konnten, ebenfalls kontrolliert werden musste, griffen einige wenige Akteure auf explizite „raumbezogene Semantiken“ (Redepenning 2006) zurück. Der Raum des Korridors wurde als der Ort des Schutzes und der Unterstützung entworfen. »Gefahr« und »Kriminelle« wurden allesamt außerhalb des Korridors lokalisiert, was dieses »Draußen« als per se gefährlich für Geflüchtete markierte. Dies war damit auch Grund, »dort draußen« nicht zu intervenieren. Gleichzeitig funktionierte der Korridor durch seinen räumlichen Ausschluss aus der Nation: Die Lager wurden von den Akteuren als artifizielle Orte markiert, die eigentlich nicht zum Staat gehören. Die Orte der Lager sind damit aus der territorialen Logik des Staates ausgeschnitten, dies macht allerdings wiederum die Intervention der Akteure scheinbar dringlich notwendig.

Intermediäre Akteure in den Geographien der Grenze

Intermediäre Akteure hatten also im Kontext der (ej)RM für die Etablierung des Korridors eine zentrale Rolle und waren relativ handlungsmächtige Akteure, allen voran das UNHCR. Es ist jedoch ersichtlich, dass der Korridor letztlich nur dort zugelassen wurde, wo er den Interessen des Staates (Souveränität, Territorialität, Gewaltmonopol, wirtschaftliche Prosperität) nicht entgegenstand. Später wurden diese Handlungsmöglichkeiten durch staatliche Autorität und deren ausschließende (halb-) legale Regulierung teilweise verunmöglicht. Der Korridor als Grenzregime ist dennoch in seiner Gänze nur zu verstehen, wenn alle beteiligten Akteure in ihrer Rolle und Bedeutung für seine Entstehung betrachtet und kritisch gewürdigt werden. Der übermächtigen Rolle des Staates sind hier zumindest in Teilen Handlungen von Geflüchteten und intermediären Akteuren entgegen- beziehungsweise beigestellt worden.

Kritisch bleibt zu bemerken, dass die meisten der humanitären intermediären Akteure auch in den Lagern aktiv blieben, als der Korridor endete, zumeist in den Feldern Monitoring, Versorgung und Bildung. Die damit einhergehende Komplizenschaft in der Aufrechterhaltung repressiver Systeme wurde allerdings von keinem der Akteure selbst thematisiert. Da der Korridor der legitime Ort für diese Form der Intervention zu sein schien, hinterfragten diese Akteure auch nicht, ob es nicht andere Möglichkeiten geben könnte, sondern hielten an Form und Charakter der Lager fest – auch als sie quasi-Gefängnisse waren. Die Intervention der Akteure lässt sich hier am besten als eine Abwägung der Balance von humanitärer Intervention und Zugeständnissen an staatliche Souveränität fassen. Dies gilt freilich nicht für alle Akteure im Handlungsfeld, die interviewt wurden.

Die Betrachtung der lokalen Aushandlungsprozesse in der (ej)RM verdeutlicht die Einflussmöglichkeiten und die Vielstimmigkeit der Rollen intermediärer Akteure bei der Entstehung des Korridors. Es bleibt festzuhalten: Wenn die »Geographien der Grenze« in Zukunft betrachtet werden, kann das Feld der intermediären Akteure nicht weiter ausgeblendet werden.

Anmerkungen

1) Der Namensstreit um die Benennung des Staates »Mazedonien« hält seit Langem an. Weder zum Zeitpunkt des Forschungsprojekts noch jetzt gibt es eine Entscheidung, die von allen Akteuren international akzeptiert wird bzw. demokratisch abgesichert ist. Daher wird hier das Akronym verwendet.

2) Ein Grenzregime wird in den Handlungen zur und Konflikten um die Grenze einer Vielzahl daran beteiligter Akteure etabliert. Ein Grenzregime muss seine Stabilität stets aufs Neue unter Beweis stellen. Siehe dazu Mezzadra/Neilson 2013, S. 182; Panagiotidis/Tsianos 2007, S. 71

3) Für die Begründung dieser Schreibweise siehe Bialasiewicz 2011.

4) Bis heute ist die einzige vergleichbare Forschung eine Akteursanalyse in Kroatien; vgl. Demir/Larsen/Horvat 2016. Für die Bedeutung der Perspektive vgl. diese Arbeit mit dem konträren Ansatz der Studie von Beznec/Speer/Stojic Mitrovic 2017.

5) Für die Untersuchung wurden Interviews geführt mit Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen/UNDP, Helsinki Committee, Hohe Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen/UNOHCHR, Hohes Flüchtlingeskommissariat der Vereinten Nationen/­UNHCR, Human Rights Watch, International Organization for Migration/IOM, Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen/UNICEF, LaStrada/Open Gate, Legis, Macedonian Young Lawyers Association/MYLA, Regionales Krisenkoordinationszentrum, Rotes Kreuz, ausserdem Vertreter*innen der EU-Mission, der deutschen Botschaft, des Vizbegovo Center for Asylum Seekers, des Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik (MLSP/MTSP) sowie ein Anwohner und politische Aktivist*innen. Für einen Blick auf die bestehende Landschaft der intermediären Akteure in der (ej)RM vor 2011 siehe Geddes/Taylor 2016, S. 601.

6) Das staatliche Bahnunternehmen der (ej)RM verlangte pro Person im Schnitt 25 Euro. Da der Transport im Herbst 2015 quasi auf die Bahn monopolisiert wurde, hat diese mit dem Transport der Geflüchteten vermutlich mehrere Millionen Euro eingenommen.

7) Der Ausnahmezustand, der für die Aufrechterhaltung dieser Situation notwendig ist, wurde seither immer rechtzeitig vom Parlament verlängert, auch nach der Parlamentswahl und dem Regierungswechsel von 2017. Der Ausnahmezustand ist im Oktober 2018 weiterhin in Kraft.

8) Hier ist die nationale mazedonische Politik als Kontextfaktor zu berücksichtigen. Die politische Krise um die nationalkonservative Regierungskoalition VMRO-DPMNE 2015 band viele Ressourcen. Trotz Beilegung des politischen Konfliktes (Przino Agreement vom Juli 2015) kam es auch 2016 zu Protesten (?????? ??????????/Bunte Revolution April-Juli 2016, vgl. Ozimec 2016), sodass auch in dieser Zeit die politischen Kräfte auf andere Themen fokussierten.

Literatur

Beznec, B.; Speer, M.; Stojic Mitrovic, M. (2017): Governing the Balkan Route – Macedonia, Serbia and the European Border Regime; bordermonitoring.eu.

Bialasiewicz, L. (ed.) (2011): Europe and the World – EU Geopolitics and the transformation of European Space. Hampshire/Berlington: Ashgate.

Fassin, D. (2010): Noli me tangere – The Moral Untouchability of Humanitarianism. In: Bornstein, E.; Redfield, P. (ed.): Forces of Compassion – Humanitarianism between Ethics and Politics. Santa Fe: SAR Press, S. 35-52.

Geddes, A.; Taylor, A. (2016): In the shadow of fortress Europe? Impacts of European migration governance on Slovenia, Croatia and Macedonia. Journal of Ethnic and Migration Studies Vol. 42, No. 4, S. 587-605.

Global Detention Project (2017): Immigration detention in Macedonia. Country Profile.

Hess, S.; Kasparek, B.; Kron, S.; Rodatz, M.; Schwertl, M.; Sontowski, S. (Hrsg.) (2017): Der lange Sommer der Migration – Grenzregime III. Berlin/Hamburg: Assoziation A.

Human Rights Watch/HRW (2015): “As Though We Are Not Human Beings” – Police Brutality against Migrants and Asylum Seekers in Macedonia.

Kasparek, B. (2016): Routes, Corridors, and Spaces of Exception – Governing Migration and Europe. Near Futures Online, Issue 1 (März 2016), »Europe at a Crossroads«.

Kasparek, B.; Speer, M. (2015): Of Hope – Ungarn und der lange Sommer der Migration. Bordermonitoring.eu, 7.9. 2015.

Larsen, M.; Demir, E.; Horvat, M. (2016): Humanitarian responses by local actors – Lessons learned from managing the transit of migrants and refugees through Croatia. London: IIED.

Legis (2017): Irregular migration in Macedonia – 6 months outreach report in Lipkovo Municipality (villages Vaksince and Lojane); legis.mk.

Legis (2015): 2015 Annual Report; legis.mk.

Malkki, L. (1995): Purity and Exile – Violence, Memory, and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania. Chicago/London: University of Chicago Press.

Mezzadra, S.; Neilson, B. (2013): Border as Method, or, the Multiplication of Labor. Durham/London: Duke University Press.

Ozimec, K. (2016): Macedonia – »Colorful Revolution« paints raucous rainbow. DW.com, 21.04.2016.

Panagiotidis, E.; Tsianos, V. (2007): Denaturalizing »Camps« – Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-Zone. In: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hrsg.): Turbulente Ränder – neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript, S. 57-85.

Redepenning, M. (2006): Wozu Raum? Systemtheorie, critical geopolitics und raumbezogene Semantiken. Leipzig: IfL – Leibniz-Institut für Länderkunde.

Speer, M. (2017): Die Geschichte des formalisierten Korridors – Erosion und Restrukturierung des Europäischen Grenzregimes auf dem Balkan; bordermonitoring.eu.

Tsianos, V.; Hess, S. (2010): Ethnographische Grenzregimeanalyse. In: Hess, S.; Kasparek, B. (Hrsg.) (2010): Grenzregime – Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/Hamburg: Verlag Assoziation A, S. 243-264.

Werlen, B. (2010): Gesellschaftliche Räumlichkeit 2 – Konstruktion geographischer Wirklichkeiten. Stuttgart: Franz Steiner.

David Scheuing studierte Friedens- und Konfliktforschung in Marburg und ist Preisträger des Christiane-Rajewsky-Preis 2018. Dieser Artikel baut auf seiner prämierten Masterarbeit auf.

Abschiebe-Poker


Abschiebe-Poker

von Jürgen Nieth

Getrieben von der CSU – wann hat schon mal ein Minister seiner Regierungschefin ein zweiwöchiges Ultimatum gestellt? –, hat sich die Kanzlerin im Europäischen Rat für eine weitreichende Abschottung der EU eingesetzt. In der Nacht vom 28. auf 29. Juni hat dieser beschlossen:

  • Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex,
  • weitere drei Milliarden Euro an die Türkei für die Zurückhaltung von Bürgerkriegsflüchtlingen,
  • Unterstützung der Länder der Sahelzone und der libyschen Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr,
  • Sammellager innerhalb Europas und Nordafrikas, »Ausschiffungsplattformen«, von denen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, zurück nach Afrika gebracht werden.

Abschrecken, abschotten, abschieben

Bettina Gaus in der taz (30.6.18, S. 12):

„Das Tempo, in dem sich das gesellschaftliche Klima verändert, ist atemberaubend. Vorschläge und Pläne, die noch vor wenigen Monaten als absurd, rechtswidrig und menschenverachtend gegolten hätten – zu Recht –, werden inzwischen von den höchsten politischen Institutionen jenes Kontinents erörtert, der sich viel darauf einbildet, eine Wertegemeinschaft zu sein […] Eine derartige Missachtung rechtlicher und humanitärer Grundsätze, wie ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Beispiel Seenotrettung […] Jeder Kapitän muss unverzüglich Hilfe leisten, wenn er von einer Notsituation erfährt […] Die Hilfsbedürftigen müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. So klar und unmissverständlich ist das Völkerrecht in dieser Frage. Ebenso klar und unmissverständlich machen demokratisch gewählte Regierungen und demokratische Parteien in Europa deutlich, dass sie sich darum nicht scheren.“

Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung (30.6.18, S. 4):

„Die notgedrungen vage gehaltene Gipfel-Einigung in Sachen Migration und Flucht [ist] so etwas wie ein Erfolg, jedenfalls in dem Sinne, dass sich Regierungen mit höchst unterschiedlichen Standpunkten auf Richtlinien verständigt haben. Diese Richtlinien setzen deutlich auf Abwehr und Abhaltung. Allerdings hat die EU insgesamt ohnehin nie eine Willkommenspolitik verfolgt […] Was [der Kompromiss] taugt, wird sich daran erweisen, ob die Flüchtlingszentren in der EU nicht nur stacheldrahtbewehrte Internierungslager werden und ob genug Solidarität zur Verteilung der Asylberechtigten besteht.“

Joachim Dorfs in Stuttgarter Zeitung (30.06.18, S. 1):

„Wenn nun von einer schärferen Gang­art gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, dann stimmt das nur bedingt. Schließlich ist das, was sich täglich auf dem Mittelmeer abspielt, in höchstem Maße inhuman: Tausende sterben bei der Flucht, und wer in Europa landet, kann nicht sicher sein, hierbleiben zu können. Die EU hat nun den ersten Schritt getan: Sie verringert die Anreize, sich in der Hand von Schleppern auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer zu begeben. Der zweite Schritt muss folgen: Es muss legale Möglichkeiten der Einreise auch aus Afrika geben. Und es braucht einen Verteilmechanismus für diese – dann kontrollierte – Zuwanderung in die EU.“

Damir Fras in der Frankfurter Rundschau (30.6.18, S. 11):
„Die EU-Pläne zur Verschärfung ihrer Migrations- und Asylpolitik sind keine Antwort auf eine Schicksalsfrage. Es handelt sich dabei um vage Ideen, rechtlich bedenkliche Vorschläge und allgemein gehaltene Willensbekundungen. Luftschlösser könnte man sagen. Alle zusammen werden sie, wenn sie überhaupt jemals verwirklicht werden, die Migration nach Europa nicht steuern und schon gar nicht verhindern.“

Uwe Kalbe in Neues Deutschland (30.6.18, S. 1):

„Es ist Konsens der Regierungspolitik, dass eine gute Stimmung im eigenen Land wichtiger ist als der Überlebenskampf außerhalb Europas […] Außengrenzen werden frontexdicht, Schlepper statt Fluchtursachen bekämpft und Menschen für ihre Flucht durch Internierung bestraft […] Fluchtursachenbekämpfung? Zusammenarbeit mit Afrika? Gibt es in Form von Lagern, für deren Betreiben Kooperationswillige bestochen werden sollen, damit sie erledigen, was die EU für unzumutbar hält.“

Nikolas Busse in Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.6.2018, S. 1):

„In einer Hinsicht war die deutsche Debatte der vergangenen zwei Wochen irreführend. Die EU verfolgt keine Politik der offenen Außengrenzen. Ganz im Gegenteil ist ihre Asylpolitik in den vergangenen drei Jahren restriktiv geworden. Die Abriegelung der Balkan Route, das EU-Türkei-Abkommen, der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex und diverse andere Maßnahmen zielen darauf ab, die ungeregelte Einwanderung nach Europa zu drosseln. Und das hat schon Wirkung gezeigt […] die Anzahl illegaler Grenzübertritte seit Oktober 2015 [ist] um 95 Prozent gesunken.“

Benedikt Neff in Neue Zürcher Zeitung (30.6.2018, S. 3):

„Die Regierungserklärung vom Donnerstag zeigte, wie sehr sich Merkel in den vergangenen drei Jahren bewegt hat. Von ihrer offenen Asylpolitik ist im Wesentlichen nur noch das Beharren auf europäisches Recht geblieben. Davon abgesehen ist sie bereit, die Gesetze so weit wie möglich auszureizen […] Mit ihrer Rede vor dem Parlament machte Merkel deutlich, dass sie von den Positionen des Innenministers nicht viel trennt. Der Unterschied bleibt: Angela Merkel will eine europäisch abgestimmte Lösung, Horst Seehofer scheut auch den Alleingang nicht.“

Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

Geringe Differenzen? Seehofer reichten sie für Rücktrittsdrohung und die Auslösung einer Regierungskrise. Am 5. Juli einigte sich schließlich der Koalitionsausschuss. „Bei dem Kompromiss geht es vor allem darum, an der deutsch-österreichischen Grenze Migranten abzufangen und zurückzuschicken, die schon in anderen EU-Ländern einen Asylantrag gestellt haben.“ (Allgemeine Zeitung – Mainzer Ausgabe, 6.7.8, S. 1) Das Trostpflaster für die SPD – die sogenannte Transitzentren bisher strikt abgelehnt hat – ist die Zusage, dass es noch in diesem Jahr ein Einwanderungsgesetz geben soll.

Während Bundesregierung und Europäischer Rat die verschärfte Flüchtlingsabwehr diskutierten, ging das Sterben im Mittelemeer weiter: „Die Internationale Organisation für Migration meldet 483 Ertrunkene zwischen dem 19. Juni und dem 3. Juli.“ (Spiegel, 7.7.18, S. 55)

Bürgerschaftslose Flüchtlinge


Bürgerschaftslose Flüchtlinge

von Catherine Götze

Die Kernthese der »Responsibility to Protect« besagt, dass Staaten, die zusammengebrochen sind, souveränitätslos sind, daher müsse die internationale Gemeinschaft die souveräne Aufgabe des Schutzes der Bevölkerung übernehmen. Diese Doktrin, argumentiert die Autorin, unterliegt einer imperialen Logik, die sich auch auf das internationale Flüchtlingsregime auswirkt und dazu führt, dass Flüchtlinge gleich in zweifacher Weise in einen »bürgerschaftslosen« Status versetzt werden.

Die Friedensordnung der Vereinten Nationen (VN) folgt einer imperialen Logik. Diese zeigt sich vor allem in den hierarchisch-asymmetrischen Beziehungen, die durch die VN zwischen der Peripherie und einigen Kernstaaten etabliert werden. Die Resolutionen des VN-Sicherheitsrates, die auf der »Responsibility to Protect« (RtoP, deutsch: Schutzverantwortung) beruhen und Mitgliedstaaten zu »humanitären Interventionen« autorisieren, stellen jedes Mal eine Ausnahme des allgemeinen Kriegs- und Einmischungsverbots der VN-Charta dar. Jede dieser Missionen ist als solche Ausnahme kodifiziert und somit entsteht jedes Mal eine exklusive und ganz eigene Beziehung zwischen den Kernstaaten der VN-Weltordnung (den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats) und der Peripherie.

Solche sternförmigen sonderrechtlichen Beziehungen zwischen einem imperialen Kern und vielen Peripherien haben Nexon und Wright im Anschluss an Charles Tilly »heterogene Rechtlichkeit« genannt und als Kernmerkmal imperialer Logik hervorgehoben (Nexon and Wright 2007, S. 258-9). Nexon und Wright argumentieren, dass diese heterogene Rechtlichkeit imperiale Beziehungen institutionalisiert. Dies bedeutet unter anderem, dass politische Kräfte im Kern des Reiches die lokale Politik, Gesellschaft und Wirtschaft stärker beeinflussen können als lokale politische Kräfte und dass der Kern einen größeren Nutzen aus der Beziehung zieht als die Peripherie. Es bedeutet auch, dass lokale Bedürfnisse, soziale Konstellationen, Debatten, politische Kräfte, Konflikte, Kulturen und Vorstellungen denen des Kernes absolut untergeordnet sind.

Eine Folge dieser asymmetrischen Beziehungen und Domination ist, dass die imperiale Logik der konstitutiven Abgrenzung und Erniedrigung eines paradigmatischen »Anderen« dient (im englischsprachigen Raum wird dies als »othering« bezeichnet). Zum einen bietet die Erniedrigung eine essentielle Rechtfertigung, warum diese Menschen extern von einem imperialen Kern beherrscht werden müssten: Sie müssen eben erst erzogen, modernisiert und für das eigenständige Regieren fit gemacht werden (Duffield 2007). Zum anderen absorbiert die Verfremdung eventuelle politische Konflikte über alternative Formen politischer Organisation.

Die RtoP spiegelt solche imperiale Lesarten der Konflikte vor Ort wider. Lokale Konflikte werden in diesem Deutungsmuster nicht als politische Konflikte über Herrschaft und Struktur der Polis verstanden (Autesserre 2010), sondern entweder als unsinnige Zerstörungen, die aus »traditionellen« Konflikten entstehen (z.B. ethnischer Art), oder als Konflikte über knappe Ressourcen. Globale Zusammenhänge werden dabei systematisch ausgeblendet; die Konflikte und ihre Dynamik werden als ausschließlich endogen und als das Werk einiger weniger verstanden. Weiterhin werden den Gesellschaften oft binäre Konfliktmuster zugeschrieben, in denen nicht nur soziale Gruppen als einheitliche Blöcke verstanden werden, sondern auch eine klare Trennung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung unterstellt wird. Die zusätzliche interpretative Verschiebung von Gewaltakten aus dem Bereich der politischen Auseinandersetzung in den privaten und individualisierten Bereich der Kriminalität durch die Institutionalisierung des internationalen Strafrechtes verstärkt dieses Deutungsmuster noch weiter. Demnach gäbe es »dort« keine eigenständigen, handelnden, strategisch und sozial interagierenden Akteure, also politischen Akteure, sondern nur binär Opfer und Täter. Dies impliziert, dass weder Staat noch Bevölkerung in diesen Ländern souverän seien, da sich die Beziehung zwischen Bürgern und Staat, die demokratische, industrialisierte Staaten europäischer Tradition kennzeichnet (Marktwirtschaft, Sozialstaat, Wahlen, Zivilgesellschaft etc.), nicht entfaltet habe.

Flüchtlinge sind nicht staatenlos, aber souveränitätslos

Eine Folge der imperialen Logik der RtoP und »humanitärer Interventionen« ist, dass Flüchtlinge weder als Welt- noch als Staatsbürger, sondern als schutzbedürftige Menschen definiert werden, die keiner politischen Gemeinschaft angehören und dementsprechend bürgerrechtlos sind. Obwohl Flüchtlinge formal nicht staatenlos sind, sind sie doch »souveränitätslos«, und so hat sich ihr Status nicht wesentlich geändert, seit Hannah Arendt feststellte, dass Staatenlose (Flüchtlinge, Vertriebene, Asylsuchende, Exilierte etc.) mit dem Verlust ihrer politischen Gemeinschaft aus der Menschheit vertrieben werden (Arendt 1958, S. 377).

In ihrem Buch »Die Ursprünge des Totalitarismus« untersuchte Arendt das Paradox, dass in der Zwischenkriegszeit und auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen, die aufgrund von Vertreibung ihrer Staatsbürgerrechte beraubt und auf den reinen Status des Menschen reduziert worden waren, eben keine Menschenrechte genossen, sofern diese mehr bedeuten sollen als das Recht auf das nackte Überleben (Arendt 1958). Sowohl in der französischen Revolution als auch im zeitgenössischen Verständnis, darauf verweist Giorgio Agamben mit Hinblick auf Arendts Thesen, bedeuten Menschenrechte Bürgerrechte. Aber Flüchtlinge sind keine Bürger, da sie nicht Teil einer Rechtsgemeinschaft sind, denn diese ist ja in der Logik der RtoP nicht (mehr) vorhanden (Agamben 2017). Wenn der Staat als unsouverän beschrieben wird, dann sind auch dessen Staatsbürger unsouverän. Wenn der Staat eben genau als einer Rechtsgemeinschaft und Rechtlichkeit verlustig beschrieben wird, dann sind auch dessen Staatsbürger ohne Rechte. Als Vertriebene sind sie ferner ohne Beruf, ohne Schaffen, ohne Wirken und damit ihrer »vita activa« beraubt; sie nehmen nicht mehr in relevanter Weise am öffentlichen Leben teil und sind somit von der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Wie Hannah Arendt bemerkt, besteht das Paradox darin, dass diese Menschen ihre Menschenrechte genau dann verlieren, wenn sie nur noch Mensch und nichts anderes mehr sind.

Die Deutungsmuster der RtoP, wonach Kriege im Globalen Süden, u.a. in Syrien, die Folge von Staatszerfall und –zerstörung sind, haben hier (vielleicht unwillkürlich) die Figur des unsouveränen Wesens früherer kolonialer Zeit, das nur Mensch ist, aber nie Bürger*in, reproduziert. In kolonialen Zeiten waren koloniale Subjekte auf der Grundlage zweier teilweise komplementärer Argumentationen von der Staatsbürgerschaft der Metropolen ausgeschlossen. Zum einen wurden sie als Untertanen lokaler Herrscher definiert, zum anderen als dem Standard der Zivilisation nicht Genüge leistend; somit wurden sie a priori aus dem Kreis der Bürger ausgeschlossen. Der Standard der Zivilisation war flexibel ausleg- und den Umständen anpassbar und wurde von den jeweiligen Kolonialherren in den verschiedenen Kolonien und gegenüber den verschiedenen sozialen Gruppen in den Kolonien unterschiedlich definiert (Burbank and Cooper 2010). Es wurden jedoch immer einige grundlegende soziale Merkmale zugrunde gelegt: ethnische Zugehörigkeit (d.h. Abstammung), Geschlecht, Bildung und Beruf sowie Besitz. Diese Kriterien erlaubten eine Stratifizierung des Zugangs kolonialer Bevölkerungen zu Bürgerschaftsrechten. Dementsprechend richteten die Kolonialländer Sonderinstitutionen ein, in denen indigene Bevölkerungen die Qualifikation zur Bürgerschaft erwerben konnten, z.B. segregierte Armeeeinheiten, Schulen und Universitäten. Die so eingerichteten Hierarchien der Qualifizierung für die Staatsbürgerschaft der kolonisierenden Staaten waren komplex, aber klar nach rassistischen Merkmalen geordnet. Während auf der einen Seite weißen Siedlern der Zugang zur Staatsbürgerschaft des Mutterlandes erleichtert wurde, auch wenn diese nicht dessen Nationalität teilten, wurden indigene Bevölkerungen dauerhaft von Bürgerschaftsrechten ausgeschlossen.

Das heutige Staatsbürgerrecht, die RtoP und das Flüchtlingsrecht tragen immer noch deutliche Züge dieser heterogenen Rechtlichkeit. Die RtoP formuliert keinen positiven Rechtsanspruch der Bevölkerung gegenüber einem oder mehreren Staaten oder den VN, sondern nur einen Appell an die VN-Mitgliedstaaten, die Schutzbedürftigkeit dieser Bevölkerungen temporär anzuerkennen. Die RtoP setzt somit keine neue bürgerschaftliche Option an die Stelle der nun verwirkten Bürgerschaft von Bevölkerungen, deren Staat als gescheitert gilt.

Die RtoP geht somit nicht über die Schutzansprüche, die das bestehende Flüchtlingsvölkerrecht schon seit jeher formuliert, hinaus. Dies eröffnet einen weiten Spielraum für Kernstaaten, heterogene Rechtsregime in Bezug auf Flüchtlinge zu etablieren.

Die Genfer Flüchtlingskonvention erlaubt es Unterzeichnerstaaten, den geographischen und zeitlichen Raum zu bestimmen, der einen Flüchtlingsstatus begründet, und demgemäß zwischen Migranten und Flüchtlingen zu unterscheiden. Sie schreibt außerdem fest, dass Flüchtlinge allerlei Pflichten gegenüber ihrem Gastgeberland haben und bei Vergehen die gleichen rechtlichen Konsequenzen zu tragen haben wie reguläre Staatsbürger des Landes. Die Gastländer hingegen können nicht rechtlich belangt werden, wenn sie ihren Pflichten, z.B. der Fürsorgepflicht, gegenüber Flüchtlingen nicht nachkommen.

Was genau Staaten zu tun haben, um Flüchtlinge zu schützen, ist in der Genfer Flüchtlingskonvention ebenfalls nicht klar ausformuliert, und die Verbindlichkeit der Rechtshinweise des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Verteinten Nationen (UNHCR) ist stark umstritten und wurde von Verfassungsgerichten wiederholt verneint (Hathaway 2005, S. 123ff). Der einzige klar formulierte Rechtsanspruch des Flüchtlingsvölkerrechts ist, dass alle Menschen ein Anrecht auf Überleben haben und Flüchtlinge nicht diskriminiert werden dürfen, wenn sie diesen Anspruch erheben (Hathaway 2005, S. 236).

Ob überhaupt und welches Gastgeberland die Gefahr für das Leben eines Menschen und somit den Flüchtling als Flüchtling anerkennt, ist ebenso wenig universell und einklagbar festgelegt wie die Art und Weise, in der dem Anrecht des Flüchtlings Rechnung getragen wird. Das Gerangel und Geschiebe innerhalb der Europäischen Union, in welchem Land Flüchtlinge als Flüchtlinge registriert werden, wer wie für das Überleben der Flüchtlinge zu sorgen habe und was Lebensgefahr denn genau bedeute, ob denn die Menschen in Griechenland, Serbien oder der Türkei überhaupt Flüchtlinge seien, zeigt den großen Spielraum auf, den Gastgeberstaaten in der Auslegung des Rechts auf Überleben haben (siehe dazu auch »Flüchtlingsverantwortung – Europäische Asylpolitik in der Krise« von Anna Lübbe in dieser W&F-Ausgabe). Und auch wenn Flüchtlinge nicht wegen ihres Geschlechtes, ihrer Religion, ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft, ihrer politischen Einstellung etc. diskriminiert werden dürfen, dürfen Gastgeberstaaten doch differenzierte Regelungen einführen, wie sie Flüchtlinge empfangen und wie Flüchtlinge in ihrem Land aufgenommen werden (Hathaway 2005, S. 129).

Die RtoP will dieser heterogenen Rechtlichkeit des Flüchtlingsvölkerrechts, das de facto eine asymmetrische Hierarchisierung von Bürgerrechten und Bürgerlichkeit etabliert, nichts entgegen setzen, da sie eben nicht den Menschen in Konflikten neue Rechte erteilt, sondern nur die Schutzpflicht der Staaten bei Menschenrechtsverletzungen postuliert.

Schlussfolgerungen

Die VN haben mit der RtoP als Vehikel für ihre Friedenspolitik folglich genau die imperiale Logik reproduziert, die das Verhältnis zwischen souveränen Staaten europäischer Tradition und anderen Formen politischer Gemeinschaften schon in Kolonialzeiten bestimmte. Gerade in der Neuformulierung traditionell europäischer Vorstellungen von Volkssouveränität, wonach ein Staat nur dann souverän ist, wenn er der Bevölkerung dient, hat die RtoP anderen, alternativen Formen politischer Gemeinschaften sowie den politischen Kämpfen und Debatten, die mit solchen Alternativen einhergehen, jegliche Legitimität entzogen. Der der RtoP unterliegende Diskurs des Staatsversagens reproduziert koloniale Deutungsmuster der Unreife nicht-europäischer Bevölkerungen und ihrer Unfähigkeit zur Selbstregierung (Grovogui and Ebrary INC. 1996). Dies hat u.a. zur Folge, dass die VN mit ihrer Friedenspolitik durch Sicherheitsratsresolutionen beständig eine global heterogene Rechtlichkeit reproduzieren, in der immer wieder neue Sondersituationen identifiziert werden, für die der Sicherheitsrat beständig neue Sondermaßnahmen, wie militärische Einsätze oder Übergangsadministrationen, beschließen muss. Das dominante Friedensprinzip ist damit zwangsläufig die Vermeidung oder Schlichtung von Konflikten zwischen den Sicherheitsratsmitgliedern und deren Verbündeten. Die Konflikte vor Ort haben oft nur peripher mit jenen Konflikten zu tun. Eben deshalb ist das Kern­anliegen der RtoP, der Zivilbevölkerung einen besonderen Schutz zu gewähren, in Syrien gescheitert.

Die Leidtragenden dieser imperialen Logik sind die lokalen Bevölkerungen, die ihrer politischen Persönlichkeit beraubt werden, wenn sie einzig als Opfer von Gewalt wahrgenommen werden. Flüchtlinge stellen eine besondere Kategorie dar, da sie in zweifacher Weise ihrer Souveränität beraubt werden: Zum einen werden ihnen durch den Opferstatus ihre bürgerschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten im eigenen Land abgesprochen, zum anderen sind sie in einem asymmetrischen Macht- und Rechtsverhältnis zu ihrem potentiellen Gastgeberland befangen, das Bürgerschaftlichkeit legal und praktisch verunmöglicht.

Literatur

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Nexon, D.H. and Wright, T. (2007): What’s at ­Stake in the American Empire Debate. American Political Science Review, 101(2), S. 253-271.

Dr. Catherine Götze ist Senior Lecturer in International Relations an der University of Tasmania (Australien). 2017 erschien ihr Buch »The Distinction of Peace – A Social Analysis of Peacebuilding« (University of Michigan Press).

Vergrenzung der EU


Vergrenzung der EU

Grenzvorverlagerung, Profit und Behinderung der Demokratie

von Jacqueline Andres

Innerhalb der letzten Jahrzehnte vervielfachte sich die Errichtung von High-tech-Grenzanlagen weltweit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die europäische Sicherheitsbranche sind maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Die EU treibt nicht nur selbst eine rasante Vergrenzung entlang ihrer Außengrenzen voran, sondern forciert auch eine stetige Grenzvorverlagerung, die mit einem Technologietransfer an repressive Staaten einhergeht und dort für eine effizientere Kontrolle nach innen eingesetzt werden kann. Die Grenzsicherung ist ein boomender Markt, der bereits jetzt zur Behinderung demokratischer Prozesse in den Herkunfts- und Transitstaaten der Geflüchteten beiträgt und die Fluchtursachen verschärft.

In den letzten Jahren erstellte die EU zahlreiche Aktionspläne, Programme und Projekte mit dem Ziel, die Migration nach Europa einzudämmen und die Anzahl der ablegenden Boote von Migrant*innen entlang der nordafrikanischen Küste drastisch zu reduzieren.

Schwerpunkt Migrationsbekämpfung

Bei einem Treffen von EU-Politiker*innen mit libyschen und tunesischen Amtskolleg*innen am 20. März 2017 in Rom wurde eine ständige Kontaktgruppe geschaffen, und die dort vertretenen Politiker*innen erklärten sich bereit, gemeinsam an der Migrationsbekämpfung zu arbeiten und Migrant*innen vor der gefährlichen Mittelmeerüberfahrt zu »bewahren«. Auch Algerien war eingeladen, doch der Maghrebstaat entsandte aus Protest über die von der EU gestellten Forderungen keine*n Diplomat*in.

Im Laufe der letzten Monate häuften sich die Treffen, Verhandlungen und Abkommen mit nordafrikanischen Staaten. Diese Häufung verdeutlicht die Besorgnis innerhalb der EU um die aktuelle Entwicklung an der nordafrikanischen Küste: Der Vertragspartner der EU in Libyen – die von der internationalen Gemeinschaft, nicht jedoch vom Großteil der eigenen Bevölkerung anerkannte Einheitsregierung unter Präsident Fayiz as-Sarradsch – hat keine Kontrolle über die Küste. Noch immer legen nach Schätzung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) rund 90 % der Boote, die Italien erreichen, aus Libyen ab. Die restlichen Boote kommen hauptsächlich aus Tunesien, Algerien und Ägypten, Tendenz steigend. Umso wichtiger erscheint es daher, die Migrant*innen daran zu hindern, Libyen zu erreichen, bzw. sie in Libyen festzuhalten. Gleichzeitig soll auch dafür gesorgt werden, dass weniger Boote aus den Nachbarstaaten ablegen.

Thomas de Mazière fasste die Ansprüche zusammen: „Die europäischen und nordafrikanischen Staaten müssten gemeinsam versuchen, die Menschen aus Afrika daran zu hindern, sich durch Libyen auf den Weg zu machen. Wir müssen den Grenzschutz verstärken, den Küstenschutz auch Libyens, und wir müssen entschlossen diejenigen zurückführen aus Europa, die dann doch angekommen sind.“ (Deutsche Welle 2016)

Diese Einschätzung teilen auch die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Bei der EU-Gipfeltagung in Bratislava im September 2016 kamen Vertreter*innen aus 27 Mitgliedsstaaten zusammen. In dem während der Tagung entstandenen Bratislava-Fahrplan erklärte die EU die Migrationsabwehr zu einer ihrer Prioritäten und setzt sich u.a. folgendes Ziel: „Vollkommener Ausschluss einer Wiederholung der unkontrollierten Migrationsströme des […] Jahres [2015] und weitere Verringerung der Anzahl irregulärer Migranten“ (Europäischer Rat 16.9.2016, S. 3). Erst wenige Monate zuvor hatte die EU einen neuen Migrationspartnerschaftsrahmen verabschiedet, in welchem sie ebenfalls die Migrationskontrolle zu einem Hauptfokus ihrer Außenpolitik machte. U.a. transformiert dieser Migrationspartnerschaftsrahmen die EU-Entwicklungshilfe in ein Instrument der Migrationsabwehr. Die Instrumente der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik sollen genutzt werden, um die Kapazitäten in den Herkunfts- und Transitstaaten „in den Bereichen Grenzkontrolle, Asyl, Bekämpfung der Schleuserkriminalität und Wiedereingliederung“ (Europäische Kommission 7.6.2016 ) zu stärken. 500 Mio. Euro sollen dafür aus der Reserve des Europäischen Entwicklungsfonds kommen. Die EU machte den mit Menschenrechtsverletzungen einhergehenden EU-Türkei-Deal zum Vorbild für den Partnerschaftsrahmen, strebt ähnliche Pakte mit Jordanien, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal, Mali sowie Äthiopien an und will die Zusammenarbeit mit Tunesien und Libyen verstärken.

Aufrüstung der Grenzen

Zuvor hatte die Europäische Union ihre Nachbarschaftspolitik schon einmal neu ausgerichtet, nämlich nach dem durch Massenprotesten herbeigeführten Sturz der repressiven Langzeitpräsidenten von Tunesien und Ägypten im Jahr 2011. Gleich als erstes Ziel nannten die EU-Mitgliedsstaaten damals die verstärkte Unterstützung „beim Aufbau einer vertieften Demokratie“ als Priorität. Diese wird definiert als eine Demokratie, die von Dauer ist, weil neben dem Wahlrecht auch das Recht auf Redefreiheit, auf die Bildung konkurrierender politischer Parteien, auf eine unparteiische und unabhängige Justiz, auf Sicherheit, die durch eine rechenschaftspflichtige Polizei und Armee gewährleistet wird, und auf Zugang zu einem kompetenten und nicht korrupten öffentlichen Dienst sowie weitere Bürger- und Menschenrechte wie die Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit, die für viele Europäer selbstverständlich sind, garantiert werden“ (Europäische Kommission 2011, S. 2).

Inzwischen aber richtet sich die EU-Außenpolitik mit ihrem Schwerpunkt Migrationsabwehr gegen die Bedürfnisse der so genannten Zivilgesellschaft in diesen Ländern, u.a. indem deren Reisefreiheit eingeschränkt wird. Niger erklärte Schleusertätigkeiten 2015 zur Straftat, Ägypten im Jahr 2016. Denn die Vorverlagerung der EU-Grenzen setzt gesetzliche Änderungen zur Einschränkung des Personenverkehrs und zur Kriminalisierung von Schleusertätigkeiten sowie den Aufbau der dafür erforderlichen Kapazitäten in den betroffenen Herkunfts- und Transitstaaten voraus.

Durch die von der EU forcierte Grenzvorverlagerung und den damit einhergehenden Technologietransfer droht den Transit- und Herkunftsstaaten eine grundlegende Umstrukturierung. In zahlreichen Staaten kann die Aufrüstung staatlicher Sicherheitskräfte, welche auch repressiv gegen Oppositionelle und Migrant*innen vorgehen und damit selbst Fluchtursachen schaffen, negative Folgen für die Menschen vor Ort haben. Für europäische Sicherheits- und Rüstungsunternehmen hingegen stellt sie einen Profit versprechenden Absatzmarkt dar. Seit Beginn der Kriminalisierung »irregulärer« Migrant*innen und ihrer Einordnung als »Bedrohung« leistet die voranschreitende Vergrenzung der inneren, äußeren und vorverlagerten Grenzräume der EU einen essentiellen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Rüstungs- und Sicherheitsbranche.

Die Technologisierung der Grenzkontrollen beginnt bereits bei der sich ausweitenden Biometrisierung von Ausweisen, welche anhand von Merkmalen wie Fingerabdrücken die einfachere und zuverlässigere Feststellung gefälschter Dokumente ermöglichen soll. Zeitgleich erlaubt der Aufbau von abgleichbaren biometrischen Datenbanken in den Herkunftsstaaten von Migrant*innen der EU die einfache Identifizierung und Feststellung der Staatsangehörigkeit von Personen, die abgeschoben werden sollen. Besonders seitdem die EU einen biometrischen Ausweis zur Grundvoraussetzung für den Erhalt eines Schengenraum-Visums erklärte und Staaten dazu drängt, biometrische Ausweise einzuführen, ist die Biometrisierung ein millionenschwerer Markt. Zu den für die Biometrisierung und die automatisierte Identitätsüberprüfung notwendigen Technologien zählen Fingerabdruck-Scanner, Digitalkameras, biometrische Ausweise, Lesegeräte, Kontrollschleusen sowie die dazugehörigen Datenbanken, Computerprogramme und Server.

Die Überwachung von See- und Landgrenzen wiederum setzt ganz andere Sicherheits- und Rüstungsprodukte voraus. Mit Stacheldraht gekrönte Zäune und Mauern prägen die traditionelle Idee von Grenzanlagen, doch mittlerweile sind diese durch zahlreiche Komponenten ergänzt oder gar ersetzt: Drohnen, Glasfasersysteme, Sensoren, Radarsysteme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras und Überwachungskameras sollen die Überwachung verbessern, während die bewaffneten Grenzschützer*innen mit Geländewagen, Patrouillenbooten und –flugzeugen weitläufig einsatzbereit sein sollen. An Häfen werden Röntgengeräte, Herzschlagmesser, Atemluftscanner und ausgebildete Spürhunde eingesetzt, um »blinde Passagiere« u.a. in LKWs, unter größeren Fahrzeugen oder auf Schiffen ausfindig zu machen.

Nach Angaben des Beratungsunternehmens Visiongain stieg der Wert der globalen Grenzsicherung von 15 Mrd. Euro im Jahr 2015 auf 16,7 Mrd. Euro im Jahr 2016 und soll bis 2021 um etwa 8 % jährlich wachsen (Akkermann 2016, S. 12). Laut dem US-amerikanischen Marktforschungsunternehmen Global Information Inc. (GII) wird das Marktvolumen von Radarsicherheit von 17,85 Mrd. US$ 2016 mit einem Wachstum von rund 6 % jährlich auf 25,17 Mrd. US$ im Jahr 2022 anwachsen. Der größte Anteil entfällt auf die Grenz­überwachung, und es sei laut GII zu erwarten, dass diese den Markt bis 2022 dominieren wird (Global Information Inc. 29.7.2016). Im Bereich der Drohnen sieht es nicht anders aus: Bis 2022 soll der globale Drohnenmarkt laut dem Marktforschungsunternehmen Research and Markets einen Wert von 21,23 Mrd. US$ erreichen. Der größte Anteil militärischer Drohnen soll für die Grenzsicherung verkauft werden (Business Wire 13.10.2016).

Zahlreiche europäische Unternehmen tragen zur Vergrenzung unterschiedlicher Regionen bei – auch, weil die EU ihre Konkurrenzfähigkeit stärkt. Im Jahr 2012 erkannte die Europäische Kommission die Gefahr, dass „die globalen Marktanteile europäischer Unternehmen in den nächsten Jahren einen beträchtlichen Rückgang erleben könnten, sofern keine Maßnahmen zur Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ergriffen werden“ (Europäische Kommission 2012). Im folgenden Jahr verkündete die EU das neue rund 80 Mrd. Euro schwere Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm »Horizon 2020« (Europäischer Rat 2013), welches das zuvor ausgelaufene 7. Forschungsrahmenprogramm ablöste. »Horizon 2020« finanziert unter dem Titel »Sichere Gesellschaften« u.a. Sicherheitsforschung mit Fördergeldern in Höhe von 1,7 Mrd. Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Ziel des Rahmenprogramms ist die Stärkung von „Synergien zwischen der nationalen und europäischen Sicherheitsforschung“, um diese im globalen Konkurrenzkampf zu unterstützen. Einer der acht Schwerpunkte, die unter dem Stichwort »Sichere Gesellschaften« gefördert werden, ist explizit die „Erhöhung der Sicherheit durch Grenzüberwachung“ (BMBF o.J.).

Angesichts dieser Aussichten überrascht es nicht, dass sich europäische IT-, Rüstungs-, Sicherheits- und Logistikunternehmen in Lobbyverbänden zusammenschlossen, um sich Aufträge zu sichern.

Lobbyarbeit treibt Technologisierung und Militarisierung voran

Ein wichtiger Akteur in diesem Feld ist die European Organisation for Security (EOS), welche sich auf ihrer Website auch als „europäische Stimme der Sicherheit“ bezeichnet. Seit 2007 bringt dieser Interessenverband Vertreter*innen der europäischen Sicherheitsindustrie und -forschung mit Politiker*innen unterschiedlicher EU-Institutionen in Brüssel zusammen. Zu den Themenschwerpunkten der Organisation zählt neben Cybersicherheit, Schutz kritischer Infrastruktur und Bevölkerungsschutz auch der Grenzschutz. Im Vorstand der EOS sitzen momentan mit Helmut Huegle von Airbus und Gerd Müller von Secunet auch Vertreter aus Deutschland. Ein weiterer Interessensverband, der Europäische Verband der Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie (ASD), ist im EOS-Vorstand durch Jan Pie vertreten. Im Vorstand von ASD wiederum sitzen Thomas Diehl, Präsident und Vorstands­chef der Firma Diehl, Thomas Enders, Vorstandchef von Airbus, und Volker Thum vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie.

Sachverständige der Protection And Security Advisory Group des Rahmenforschungsprogramms »Horizon 2020« der EU sind häufig selbst in den Unternehmen und Forschungsinstituten tätig, die sich anschließend auf die Förderungsausschreibungen bewerben. Zu den neunzehn Mitgliedern dieser Gruppe zählen auch deutsche Sachverständige: der Präsident des Technischen Hilfswerks, Albrecht Broemme; die Geschäftsführerin der Microfluidic ChipShop GmbH, Dr. Claudia Gärtner; Merle Missoweit von der Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung; Klaus Keus vom Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik und Petra Hoepner vom Fraunhofer Institut FOKUS (Europäische Kommission 2017). Durch ihre doppelte Rolle als Berater*innen und Vertreter*innen potenzieller Bewerberunternehmen auf Ausschreibungen von »Horizon 2020« können sie maßgeschneiderte Ausschreibungen für die von ihnen vertretenen Institutionen erwirken. Von dieser Lobbyarbeit und der Einbindung in institutionalisierte Expert*innengruppen profitieren auch deutsche Universitäten, Forschungsinstitute und Unternehmen, wenn sie weltweit um entsprechende Projekte konkurrieren.

Deutschlands Beitrag und Profit

Zu den bedeutenden Einrichtungen und Unternehmen, die von der EU-Förderung bislang profitierten, zählen der deutsch-französische Konzern Airbus, welcher 2004 bis 2015 zwölf Aufträge im Wert von 9,784 Mio. Euro erhielt, und die Institute der Fraunhofer Gesellschaft, die für etwa 200 Projekte, an denen sie beteiligt waren 68,59 Mio. Euro erwirtschafteten. Weitere Schwergewichte der europäischen Sicherheitsindustrie, die oftmals auch Standorte in der Bundesrepublik unterhalten – z.B. Thales (31,57 Mio Euro., Indra (12,27 Mio. Euro), Leonardo S.p.A. und Safran –, profitieren ebenfalls vom EU-Rahmenforschungsprogramm (Biermann und Fuchs 23.2.2017).

Die von der EU geforderten Maßnahmen zur Grenzsicherung und Migrationssteuerung in den Nachbarschaftsregionen gehen meist mit konkreten Angeboten einher, welche oftmals von EU-Geldern, wie dem eigens eingerichteten European Trust Fonds, finanziert werden. Bei seinem Besuch in Marokko im März 2016 schloss Innenminister Thomas de Mazière mit seinem Amtskollegen Vereinbarungen zur erleichterten Abschiebung marokkanischer Staatsangehöriger ab, in denen Marokko auch einem biometrischen Datenabgleich abzuschiebender Personen zustimmte (Guerra 9.12.2016). Das Unternehmen Veridos erhielt kurze Zeit später den Auftrag, dem Königreich Marokko ein »innovatives« nationales Grenzkontrollsystem zu liefern, welches zahlreiche Komponenten umfasst, u.a. Passlesegeräte und automatisierte Grenzkontrollschleusen, so genannte eGates. Teil der Lieferung sind 140 mobile Grenzüberwachungsausstattungen, die aus Laptops, Fingerabdruckscannern des Hamburger Unternehmens DERMALOG Identification Systems und den zugehörigen Lesegeräten bestehen. Veridos richtet 1.600 stationäre Grenzkontrollstationen ein – inklusive einer Hauptzentrale und mehreren regionalen Servern (Veridos 2016). Veridos ist ein Zusammenschluss des IT-Unternehmens Giesecke & Devrient und der Bundesdruckerei GmbH, die sich seit 2009 wieder im Staatsbesitz befindet und weltweit von der Einführung biometrischer Meldewesen profitiert.

Die Verbindung zwischen dem Staat und privaten Unternehmen können auch im Bereich der Grenztechnologien eng sein, wie der Fall der High-tech-Grenzanlage von Saudi Arabien zeigt. Im Jahr 2009 erhielt Airbus, damals EADS, den milliardenschweren Auftrag, eine 900 Kilometer lange Grenzanlage zwischen Saudi Arabien und Irak zu errichten. Teil des Deals war die Ausbildung saudischer Grenzschützer durch die Bundespolizei; seither waren 110 Bundespolizisten und eine Bundspolizistin dafür vor Ort. Die Bundespolizei unterhält zur Koordination der Maßnahmen seit 2009 ein Projektbüro in Riad, in dem fünf Polizeivollzugsbeamte eingesetzt sind (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Für die logistische und administrative Abwicklung wurde die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit eingebunden.

Der damals für die Zustimmung zuständige Entwicklungsminister Dirk Niebel übernahm 2015 internationale Aufgaben bei Rheinmetall und unterstützt seither „die Mitglieder des Konzernvorstands von Rheinmetall in allen Fragen und Aufgaben der internationalen Strategieentwicklung und beim Ausbau der globalen Regierungsbeziehungen“ (Rheinmetall 2014). Und Rheinmetall profitiert von der Stärkung des Grenzschutzes anderer Länder. Die Bundesregierung übergab der jordanischen Armee zum Grenzschutz im Dezember 2016 sechzehn Schützenpanzer des inzwischen in die Jahre gekommenen und überholten Typs »Marder«; weitere 34 Panzer sollen bis Ende 2017 geliefert werden. Bezahlt werden die sonst vermutlich schwer verkaufbaren Modelle vom Außen- und Verteidigungsministerium (ZEIT ONLINE 11.12.2016). Mit den Panzern soll Jordanien seine nördliche Grenze nach Syrien gegen den so genannten Islamischen Staat sichern. Im Juni 2016 erklärte die jordanische Regierung diese Grenze zu einer Militärzone und verweigert seither weiteren Geflüchteten den Zutritt nach Jordanien. Der Kommandeur der jordanischen Grenzschützer, General Aqeel, betonte noch im März 2017: „Die Grenzen sind für Flüchtlinge komplett geschlossen.“ (Azzeh 2017) Nur Personen, die dringend medizinische Versorgung benötigen, würden in Jordanien behandelt und anschließend wieder zurück vor die Grenze gebracht werden. Im Niemandsland von Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze hat sich seither ein Camp mit geschätzt 75.000 Geflüchteten gebildet. Die Panzer werden folglich nicht nur gegen eine mögliche Bedrohung durch den IS eingesetzt, sondern auch gegen Grenzübertritte von Flüchtlingen.

Ähnlich verhält es sich mit den drei GSM-Interceptor-Einheiten, die Anfang des Jahres 2017 an das jordanische Königreich übergeben werden sollten. Diese dienen der „aktiven und passiven Gesprächsaufklärung“ und können Hunderte Mobilfunkverbindungen zeitgleich belauschen (ZEIT ONLINE 2016). Es ist naheliegend, dass die jordanische Regierung diese Lauschtechnik auch gegen Regimekritiker*innen einsetzen wird. Weitere Schenkungen erfolgten u.a. an Tunesien: Die Bundesregierung übergab dem tunesischen Grenzschutz Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, optische Sensoren und Radarsysteme von Airbus.

Auch in Algerien sind Panzer von Rheinmetall (»Fuchs«) für die Überwachung der Landgrenzen im Einsatz. Der algerischen Regierung reichte jedoch eine Lieferung nicht, sondern sie wollte an der Produktion beteiligt werden: Fast tausend Fuchs-Radpanzer sollen in der Nähe der algerischen Stadt Constantine von der im März 2011 gegründeten Firma Rheinmetall Algerie mit Bausätzen aus Deutschland zusammengebaut werden. Aus Deutschland werden auch Baupläne geliefert, damit Algerien selbst Radaranlagen, Infrarotkameras und Kommunikationsgeräte herstellen kann. Um dies zu ermöglichen, hat sich die Deutsche Elektronik Gesellschaft für Algerien mbH (Degfa) im Jahr 2012 mit der Société commune algérienne de fabrication des systèmes électroniques (Scafse) zu einer Joint Venture zusammengeschlossen. Die Degfa wiederum ist ein Zusammenschluss von Airbus, Rohde & Schwarz und Carl Zeiss (German Foreign Policy 2017). Rheinmetall International Engineering feiert die Möglichkeit, „komplette Infrastrukturen für Verteidigung schlüsselfertig“ bauen zu können und damit dem „Trend zu folgen, dass Staaten selbst in die Produktion eingebunden werden wollen (Rheinmetall Defence o.D.).

Anhand der Beteiligung von deutschen Unternehmen bzw. von Firmen mit Zweigstellen in Deutschland an internationalen Messen zum Thema Grenzsicherheit wird schnell deutlich, dass durch die Aufnahme von Grenztechnologie in die Produktpaletten mittelständischer Unternehmen und großer Konzerne die Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen in vielen deutschen Großstädten und selbst in zahlreichen kleinen Kommunen beginnt: Airbus DS Electronics and Border Security GmbH (Ulm) entwickelt Radarsysteme für Grenzanlagen, das mittelständische Unternehmen Steiner Optik GmbH (Bayreuth) vertreibt das für den Grenzschutz geeignete M1580 Fernglas, Carl Zeiss Optronics GmbH (Wetzlar) Nachtsichtgeräte, InfraTec (Dresden) Infrarotkameras, ConVi GmbH (Wangen im Allgäu) Grenzkontrollsysteme und VTQ Videotronik GmbH (Querfurt) Langstrecken-Transmitter und Sensoren.

Die EU-Migrationspolitik behindert Selbst­bestimmungsprozesse

Der durch die EU-Migrationspolitik forcierte Technologie- und Politiktransfer bereichert jedoch nicht nur zahlreiche Unternehmen in Deutschland und ganz Europa, sondern droht die Herkunfts- und Transitstaaten – und langfristig sogar die EU selbst – zu ändern.

Die EU-Migrationspolitik verknüpft geschickt die politischen mit den wirtschaftlichen Interessen Europas; als Folge stärkt sie repressive Regierungen. Mit dem für die staatliche Kontrolle nach außen erforderlichen Kapazitätsaufbau nimmt gleichzeitig auch die technologische Fähigkeit der Kontrolle nach innen zu. Für ihre Repression berüchtigte Sicherheitskräfte von Algerien, Sudan, Südsudan und Tschad werden gestärkt, weil die zur Grenzsicherung, zur Bekämpfung von Schleuser*innen und Terrorist*innen gelieferte Ausstattung und Ausbildung ebenso gut zur Überwachung und Repression regimekritischer Stimmen taugt. Im vierten Quartal des Jahres 2016 erhielt die ägyptische Grenz- und Hafenpolizei 100 Dokumentenprüfgeräte für Kontrollbeamte (Docu-Viewer) zur Unterstützung der Dokumenten- und Urkundensicherheit sowie für polizeiliche Identitätsprüfungen. Dies kommt der Militärdiktatur sicher nicht ungelegen. Nach Angaben der Bundesregierung wurde 2016 deutlich mehr politischen Aktivist*innen und Angehörigen von Nichtregierungsorganisationen die Ausreise aus Ägypten untersagt (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Die ägyptischen Sicherheitskräfte erhalten zugleich ähnliche Lehrgänge und Ausstattungshilfen von der französischen und italienischen Regierung.

Dabei findet geheimdienstliche und polizeiliche Zusammenarbeit auch mit den Behörden statt, welche für die Inhaftierung politischer Gefangener verantwortlich sind (nach Angaben des Arab Network for Human Rights 2016 allein in Ägypten 60.000). Diese wurden oftmals in Prozessen ohne ausreichende rechtsstaatliche Kriterien verurteilt oder ohne Anklage und Prozess inhaftiert. Die Stärkung des ägyptischen Sicherheitsapparats und die Aufwertung des Militärdiktators as-Sisi zu einem Partner der EU in der Migrationsbekämpfung ist ein harter Schlag gegen all diejenigen, die 2011 mit der Forderung nach »Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit« zusammenkamen.

Zudem ist es höchst unwahrscheinlich, dass Migration tatsächlich durch die Technologisierung der Grenzüberwachung steuerbar ist, denn die Grenzpolizeien, deren Kapazitäten ausgebaut werden sollen, sind oftmals Komplizen von Schleuser*innen. Durch die Illegalisierung und offizielle Bekämpfung von Migration erhöhen sich u.a. die Bestechungsgelder, wodurch die Migration noch teurer und riskanter wird, jedoch nicht unmöglich. Dies beginnt bereits innerhalb der EU selbst: Im August 2016 wurde die Leitung der Grenzpolizei von Bulgarien wegen schwerwiegender Korruptionsvorwürfe entlassen. Der ehemalige Chef der bulgarischen Grenzpolizei, Valeri Gigorov, bestätigte in einem Interview mit der Deutschen Welle, es bestünde eine »Geschäftspartnerschaft« zwischen den Schmuggler*innen und den Grenz- und Inlandspolizist*innen (Andreev 2016).

Die Stärkung des europäischen Sicherheitsmarktes, seine Suche nach neuen Absatzmärkten und die schrittweise Ausweitung von Sicherheitskontrollen wirken auch auf die EU zurück. Seit 2016 werden auf Initiative von Innenminister de Mazière biometriebasierte Datenbanken der EU-Sicherheitsbehörden zu einem „Kernsystem“ (Monroy 2016) zusammengeführt. Die Datenbanken sollen vorerst um durchsuchbare Gesichtsbilder von Asylsuchenden ergänzt werden, diese Fähigkeit kann aber jederzeit auch auf Unionsbürger*innen ausgeweitet werden. Die Bundespolizei nutzt so genannte »präventive erkennungsdienstliche Behandlungen«, bei denen von politischen Aktivst*innen die Fingerabdrücke genommen werden; Italien und Frankreich erlassen gegen Unionsmitbürger*innen aus dem No-Border-Spektrum Einreiseverbote. So wird die umfassende Überwachung auch in der EU selbst zunehmend zur Normalität.

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Jacqueline Andres ist Politikwissenschaftlerin und Beirätin der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. ­militärische Landschaften und die Militarisierung der EU-Migrationspolitik.

Solidarische Städte – Städte der Zuflucht


Solidarische Städte – Städte der Zuflucht

von Dirk Vogelskamp

Um die aktuellen Flucht- und Wanderungsbewegungen über das Mittelmeer zu unterbinden und zu kontrollieren, werden seitens der Europäischen Union vermehrt und hektisch diplomatische Anstrengungen unternommen, afrikanische Regierungen, darunter despotische Regime, in die Migrationsabwehr einzuspannen. Dagegen ist Widerstand möglich, u.a. im weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities«.

Von der Europäischen Union wird eine vertiefte Zusammenarbeit (Migrationspakte) im Bereich der Migrationskontrolle und -steuerung mit einer Reihe von Herkunfts- und Transitstaaten in Afrika (u.a. Niger, Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien, Sudan, Tunesien, Ägypten, Libyen …) angestrebt. Acht Milliarden Euro werden dafür bis ins Jahr 2020 in Aussicht gestellt. Die jeweiligen Pakte zielen darauf, die unerwünschten Migrationsbewegungen einerseits bereits in den ausgewählten Regionen wirksam zu verhindern, also noch bevor sich Menschen auf der Flucht von den nordafrikanischen Küsten nach Europa aufmachen. Andererseits verfolgen sie den Zweck, Abschiebungen »irregulärer Migranten« in die Herkunfts- oder Transitstaaten weit umfänglicher als bisher zu ermöglichen (Rückübernahmeabkommen). Unverhohlen wird in neokolonialer Manier gedroht, notfalls auch handels- und entwicklungspolitische »Instrumente« einzusetzen, um migrationspolitisches Wohlverhalten zu erzwingen.

Mit diesen Abkommen sollen Schutzsuchende schon außerhalb Europas festgesetzt und an der Weiterwanderung gehindert werden. Der Nebeneffekt: Menschen auf der Flucht, Migrantinnen und Migranten, die unerträglichen Lebensbedingungen zu entkommen suchen, werden aus europäischer Perspektive unsichtbar gemacht. Ebenso werden dadurch die tatsächlichen Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migration, die, grob formuliert, in weltweit kapitalistisch betriebener und zwangsweise aufrecht erhaltener Ungleichheit liegen, ausgeblendet. Es ist ein »cash for migrants«-Programm, eingewickelt in humanitäre Phrasen und einen »Marshall-Plan mit Afrika«, das die europäische Öffentlichkeit vorsätzlich täuscht.

Politisch enger verzahnt werden Wirtschaftshilfe und Entwicklungsgelder mit dem europäischen Migrationsmanagement. Dazu gehört unter anderem die technische Grenzaufrüstung und die Ausbildung afrikanischer Grenztruppen. Durch diese Abschottungskooperationen wird der »Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz« auf afrikanisches Territorium ausgelagert. Zugleich steigen die Todeszahlen an Europas Außengrenzen weiter an: Im Jahr 2017 gelten bis Anfang März bereits 487 Menschen als tot oder vermisst.

In den Kontext dieser Abschottungskooperationen mit afrikanischen Regierungen gehört auch die von Innenminister de Maizière und dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Oppermann, lancierte Debatte um Auffanglager in Nordafrika, die bislang noch kontrovers geführt wird.

Eine Krise der Menschenrechte

»Die Menschenrechte«, denen sich die europäische Staatengemeinschaft nicht nur verpflichtet fühlen müsste, sondern die sich alle Staaten der EU rechtsverbindlich zur Grundlage ihrer eigenen Ordnung gemacht haben, werden angesichts der immensen Fluchtmigration obsolet. Denn was bleibt von »den Menschenrechten« im weltweiten Lager­universum, in dem jene zwangsweise ihr Leben zu fristen verdammt sind, die keine Aufnahme in Europa gefunden haben, keinen sozialen Ort finden, an dem die Grundlagen ihrer sozialen und politischen Existenz garantiert werden? Was bleibt von »den Menschenrechten«, von der Würde und der Freiheit all derjenigen, die zwangsweise aus Europa in ihre (vermeintlichen) Herkunftsstaaten deportiert werden, denen sie doch entfliehen wollten? Was ist mit den Menschen, die, Not und Elend, Krieg und Gewalt soeben entkommen, täglich, Jahr für Jahr, im Mittelmeer auch aufgrund europäischer Grenzsicherung ertrinken? Wer schützt ihre Menschenrechte? Die Brüchigkeit der liberalen Menschenrechtskonstruktion wird offensichtlich.

In den Menschen auf der Flucht, ganz gleich, aus welchen Gründen sie aufgebrochen sind, und in ihren Bedürfnissen nach einem sicheren und sozialen Ort kommt damit der Dissens zu den gegebenen nationalstaatlich geordneten Herrschaftsverhältnissen in einer durch abgrundtiefe Ungleichheit gespaltenen Welt zum Ausdruck. Sie sind die Subjekte der Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um die stets umstrittenen Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um ein Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und einen sozialen Ort, an dem sie Gemeinschaft selbst- und mitbestimmend leben können. Und – hätten wir sie nicht zu unterstützen?

Was können wir tun?

Auch in Deutschland werden zurzeit viele Aktivistinnen und Aktivisten von dem weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities« (Zufluchtsstädte/solidarische Städte) inspiriert. Das sind Städte und Gemeinden, die allen ihren Stadtbewohnern und Stadtbewohnerinnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und sich weigern, Repressionen gegen Migranten/Migrantinnen ohne Aufenthaltsrecht auszuüben oder an Abschiebungen mitzuwirken. Dabei werden Bündnisse von flüchtlingssolidarischen Aktionsgruppen teilweise mit kommunalen Verwaltungen, Gesundheitsbehörden, Schulen, Gewerkschaften und sogar Polizeiorganisationen geschlossen, die die Spaltung der Bürgerschaft in legale, »illegale« oder lediglich geduldete Bürgerinnen und Bürger nicht mitbetreiben wollen. Ein städtisches Existenzrecht für alle. Allein in den USA gehören bereits über 200 Städte und Bezirke dieser Bewegung an. Auch unsererseits wäre über das Menschenrecht auf einen sozialen Ort als unabdingbare Voraussetzung der Menschen- und Bürgerrechte verstärkt und neu nachzudenken.

Dirk Vogelskamp arbeitet als Referent im Komitee für Grundrechte und Demokratie zu den Schwerpunkten Flucht, Asyl, Migration und Menschenrechte.

Dieser Text erschien in einer leicht ge­­kürzten Fassung bereits in den »Informationen« 01/2017 (März) des Komitees für Grundrechte und Demokratie ­(grundrechtekomitee.de).