In die fremde Heimat

In die fremde Heimat

Die Remigration kurdischer Jugendlicher in den Nordirak

von Simon Moses Schleimer

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 ist ein wachsender Trend der Remigration von kurdischen Familien aus Deutschland in den Nordirak zu verzeichnen. Wie die in Deutschland sozialisierten Kinder und Jugendlichen die Remigration in die traditionelle und patriarchale Gesellschaftsstruktur der Autonomen Region Kurdistan bewerkstelligen, soll mithilfe des »Kulturschock«-Konzepts von Oberg (1960) in diesem Artikel dargestellt werden.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurde Kurdistan gegen den Willen der Kurden auf vier Staaten im Mittleren Osten aufgeteilt: Irak, Iran, Syrien und die Türkei. Bei der Aufteilung wurden sowohl Fragen der Selbst- bzw. Mitbestimmung als auch die bestehenden sozialen und kulturellen Strukturen und Traditionen der Kurden von den neu gegründeten Staaten ignoriert oder gar mit Gewalt unterdrückt. Das Hauptaugenmerk dieses Artikels liegt auf der kurdischen Region im Norden des Irak, in der das Regime von Saddam Hussein eine systematische und international geächtete Vernichtungspolitik betrieb, bei der es zu Massendeportationen kurdischer Bevölkerungsteile und zur brutalen Zerstörung von kurdischen Dörfern kam. Bis Mitte der 1990er Jahre flüchteten 70.000 Menschen aus den kurdischen Gebieten des Irak in die Bundesrepublik.

Als die Alliierten nach dem Ende des Golfkrieges 1991 im Norden des Irak eine Schutzzone einrichteten, die ein Flugverbot für die irakische Luftwaffe einschloss, wurde der kurdischen Bevölkerung ermöglicht, eine Verwaltungsstruktur aufzubauen, die unabhängig von der Regierung des Irak besteht. Obwohl bis heute nicht die Rede von einer stabilen Ordnung sein kann, befindet sich die Region in einem kontinuierlichen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 gilt die allgemeine Situation als „relativ stabil“ (UNHCR 2009). Dies ist auch der Grund, warum immer mehr Kurden in die Region zurückkehren bzw. zwangsweise in den Nordirak zurückgeführt werden. Das Statistische Bundesamt (2011) macht deutlich, dass es sich bei den kurdischen Remigrationsbewegungen in den Irak nicht um Einzelerscheinungen handelt, sondern ein deutlich erhöhter Trend zur Rückkehr feststellbar ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge konstatiert, dass irakische Staatsangehörige in den Jahren 2004-2008 zu den fünf größten Rückkehrergruppen zählten (BAMF 2010, S.11). Bis heute sind wohl weit über 2.000 Personen in den Nordirak remigriert.

Durch die Remigration kommen Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien, die oftmals in Deutschland geboren wurden und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne ausreichende Kenntnisse von Sprache, Gesellschaft und Kultur in die Region und müssen sich mit einer ihnen völlig fremden Welt auseinandersetzen. Denn die Jugendlichen werden mit einer patriarchal orientierten Gesellschaft und einer Retraditionalisierung von Geschlechter- und Lebensverhältnissen im Nordirak konfrontiert. Dies ist gerade in der Phase der Adoleszenz, einer zentralen Phase der Identitätsbildung, eine besondere Herausforderung. Denn neben dem „Umwandlungsprozess vom Kind zum Erwachsenen“ (Günther 2009, S.68), der durch umfassende Veränderungen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht geprägt ist, müssen die Jugendlichen auch die (Re-) Migration verarbeiten. Aus diesem Grunde sprechen King und Schwab (2000) von einer „verdoppelten Transformationsanforderung“.

Das »Kulturschock«-Konzept nach Oberg

Obwohl sich die Region im Norden des Irak während des Aufenthalts der kurdischen Familien in Deutschland deutlich verändert hat, haben die Eltern tendenziell weniger Wiedereingliederungsprobleme als ihre Kinder. Sie wurden in ihrem Herkunftsland sozialisiert und haben ihre kulturellen Werte in der Diaspora nicht aufgegeben oder können diese gegebenenfalls reaktivieren. Dies liegt hauptsächlich an den Gründen ihrer Migration, denn die Flucht aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen war nicht auf Dauer angelegt. So wurde die Migration stets mit der Perspektive der Rückkehr gelebt. Ihre enge Verbindung und Verwurzelung mit der kurdischen Herkunftsgesellschaft wurde über die Jahre der Abwesenheit aufrecht erhalten, was eine Anpassung an die Gegebenheiten nach der Remigration stark erleichtert.

Im Gegensatz dazu vollzieht sich ein vollständiger Wandel und Umbruch der kindlichen und jugendlichen Lebenswelten. Durch die Remigration kommen die kurdischen Jugendlichen in eine Region, die vielfältige kulturelle Besonderheiten aufweist und voller Widersprüche, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist. Lebten sie zunächst in einem Land, in dem die Traditionen den Modernisierungs- und Individualisierungstendenzen gewichen sind, migrieren sie nun in eine Gesellschaft, die sich in einem politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozess befindet und in welcher Globalisierungstendenzen und die damit einhergehende Modernisierung zugunsten einer Traditionalisierung, Patriarchalisierung und Lokalisierung entwertet werden. Schmidt (2000) macht zwar deutlich, dass die kurdischen Jugendlichen auch in Deutschland innerhalb ihrer familiären Sozialisation mit der kurdischen Kultur konfrontiert sind, was sich insbesondere in der „geschlechterspezifischen Rollenverteilung“ (ebd., S.96) zeigt. Jedoch werden sie im Nordirak mit deutlich repressiveren Umständen konfrontiert. Cassarino (2004) führt aus: „Diese Dichotomie zieht eine Grenze zwischen zwei separierten Welten: den modernen Aufnahmeländern und den traditionellen Ländern der Remigranten.“ (ebd., S.261)

Hinzu kommt, dass die Jugendlichen von ihren Eltern oftmals nicht über das Leben im Nordirak aufgeklärt werden, sodass die Erfahrungen, die sie nach der Remigration machen, desillusionierend wirken. Sie kennen die Region bisher nur aus den subjektiv geprägten Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern und eventuell den episodenhaften Aufenthalten während der deutschen Sommerferien. Dies führt zur starken Romantisierung und Idealisierung der kurdischen Gesellschaft, der Landschaft und des Lebens im Nordirak (vgl. Skubsch 2000, S.117). Dieses Bild nähren zusätzlich Verheißungen der Eltern auf großen materiellen Wohlstand und die Chance, eine erfolgreiche Bildungskarriere im Nordirak zu bestreiten. Die Sicht auf die autonome Region ist damit verklärt und überschattet die Realität, welche die Jugendlichen nach der Rückkehr erwartet. Die Remigration wirkt auf sie wie ein Schock.

Der Anthropologe Kalvero Oberg (1960) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff »Kulturschock«. Dieser ist definiert als „Angst, jegliche bekannten Zeichen und Symbole des sozialen Umgangs zu verlieren“ (ebd., 1960, S.177). Bei einem »Kulturschock« können vier aufeinanderfolgende Phasen klassifiziert werden:

„Der Terminus »honeymoon« kann genutzt werden, um die Initialphase zu beschreiben. In dieser Phase sind Menschen, die in andere Kulturen migrieren, erfreut über all die neuen Dinge, die sie entdecken. Die zweite Phase tritt nach einigen Wochen auf. Diese startet mit einer Serie negativer Erfahrungen und sich ausweitenden Problemen. Ein Kulturschock tritt aufgrund unangemessenen Verhaltens in der neuen Kultur auf, der sich in großem Stress und ansteigender Depression, Angst, Spannung und Verwirrung ausdrückt. Danach folgt die »adjustment stage«, in der sich zunehmend an die neue Kultur angepasst werden kann. Vielfältige Adaptionen werden in dieser Phase erreicht und die negativen Effekte des Kulturschocks werden geringer. Die vierte Phase ist die »mastery stage«, welche oftmals nach eineinhalb Jahren eintritt. In dieser Phase sind die Migranten fähig, Probleme zu lösen und die neue Kultur erfolgreich zu bewältigen. Die Symptome des Kulturschocks verschwinden weitgehend.“ (Xia 2009, S.98)

Fallbeispiel Rebaz

Wie der »Kulturschock« im Kontext kurdischer Remigrationsprozesse verlaufen kann, soll exemplarisch anhand Rebaz’ Geschichte erläutert werden.

Rebaz war zum Zeitpunkt der »Rückkehr« 15 Jahre alt und ist aus dem Süden Deutschlands mit seiner Familie in die Stadt Sulaymaniyah im Nordosten der Region gezogen. Ich lernte ihn wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Deutschland über einen gemeinsamen Freund kennen. Gemeinsam schlenderten wir über den großen Bazar der Stadt und entdeckten enge Gassen, welche sich den beschleunigten Modernisierungsschüben der Stadt vehement widersetzen. Während des Bazarbesuchs entwickelte sich ein ausführliches Gespräch über Rebaz’ individuelles Erleben der Remigration. Dabei berichtete er euphorisch über sein neues Leben in der Region. Zu den Vorzügen zählte er einerseits seine Verwandtschaft, die sich nun wieder in unmittelbarer Nähe befindet, das gute Wetter und die für ihn zahlreichen neuen Eindrücke und Erlebnisse, die er als durchweg positiv beschrieb. Andererseits sprach er auch die materiellen Vorzüge an – wie Taschengeld und eigenes Zimmer –, die er seit seiner Rückkehr genießt. Seine Zukunft malte sich Rebaz durchweg positiv aus. So wollte er nicht nur sein Abitur machen und danach ein Medizinstudium beginnen, sondern auch zu großem Reichtum gelangen. An eine Rückkehr nach Deutschland dachte er zu dem Zeitpunkt nicht, zu überwältigend waren die positiven Eindrücke, die er seit seiner Remigration erfuhr.

Es wird deutlich, dass Rebaz sich zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs in der »honeymoon«-Phase befand, der Initialphase des »Kulturschocks«. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die Faszination des Migranten vom Neuen und kann von einigen Tagen bis hin zu sechs Monaten andauern (vgl. Oberg 1960, S.178).

Ein halbes Jahr später traf ich Rebaz zufällig wieder, als ich seine Schule für Forschungszwecke besuchte. In einer Pause hatten wir Gelegenheit, uns ausführlicher zu unterhalten. Der noch vor wenigen Monaten so begeisterte Junge versank mittlerweile in großer Trauer und wünschte sich nichts sehnlicher als die Rückkehr nach Deutschland. Zu schwierig gestaltet sich sein Leben im Nordirak. Während er von der kurdischen Gesellschaft nicht als Einheimischer akzeptiert wird und somit stets den Vorurteilen gegenüber Europäern ausgesetzt ist, scheitert Rebaz auch in der Schule. Er ist durch seinen langjährigen Schulbesuch in Deutschland nicht an das kurdische Lehrsystem gewöhnt, welches noch immer auf dem Buchwesen beruht und auf das Lernen von Fakten und nicht auf das Erlernen von Fähigkeiten ausgerichtet ist (vgl. Salam 2010, S.189). Kritik, Reflexion, Auseinandersetzung oder Diskussion des Unterrichtsstoffs werden zugunsten der Reproduktion und Repetition der Buchinhalte abgelehnt. So gerät Rebaz in ständige Konflikte mit seinen Mitschülern und Lehrern, die nicht selten in gewaltsamen Konflikten eskalieren.

Rebaz hatte nur wenige Monate nach seiner Rückkehr die erste Phase des »honey moon« verlassen und befand sich zum Zeitpunkt des zweiten Treffens in der zweiten Phase, »Kulturschock«. Während Besucher oder Touristen noch vor dem Ende der »honeymoon«-Phase die neue Kultur wieder verlassen, müssen sich die Remigranten nun mit den realen Bedingungen auseinandersetzen und ihr tägliches Leben in der ihnen noch immer neuen Kultur bestreiten. Dabei wich in Rebaz’ Fall die einstige Faszination und Begeisterung aufgrund negativer Erfahrungen einer aggressiven und feindlichen Haltung gegenüber der Region. Aufgrund seiner Sozialisation in Deutschland und der starken traditionellen und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen im Nordirak hat er nicht das Gefühl, sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Die kurdische Region bleibt für ihn fremdartig und verschlossen, und er fühlt sich durch seine in Deutschland ausgebildete hybride Identität nicht akzeptiert.

Loyalitäts- und Identitätskonflikte

Die Erfahrung zeigt, dass die Remigration von kurdischen Familien in den Nordirak eine immense Herausforderung und Belastung für die Jugendlichen und Kinder darstellen kann. Durch ihre Sozialisation in Deutschland haben sie sich in aller Regel einen dezidiert kosmopolitischen Lebensentwurf angeeignet, der keine Zweifel lässt an ihrer auch lokal begründeten Zugehörigkeit zu Deutschland, die für ihre eigene Identität, Persönlichkeit und Denkweise oft sogar entscheidend ist.

Als aufnehmende Umwelt hat die Region einen entscheidenden Einfluss auf die Verarbeitung der Remigration (vgl. Grinberg und Grinberg 1990, S.91ff). Da die Gesellschaft und die Institutionen im Nordirak tendenziell wenig unterstützend wirken, geraten die Jugendlichen in Widerspruch zu traditionellen politischen und ethnischen Vorstellungen der Gesellschaftsstruktur im Nordirak. Weder eine Identifikation mit der ihnen so fremden Heimat noch die verlangte assimilatorische Integration in die kurdische Gesellschaft ist für die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer transnationalen und hybriden Identitätsentwürfe möglich. Dadurch wird es ihnen erschwert, die Remigration zu verarbeiten und den »Kulturschock« erfolgreich zu durchlaufen, dessen Prozessende eine Integration in die Gesellschaft vorsieht. Stattdessen bleiben die jungen Rückkehrer in der zweiten Phase des »Kulturschocks« haften und sehen keinen Weg, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie geraten in Loyalitäts- und Identitätskonflikte und akzeptieren den Nordirak nur als einen transitären sozialen Raum, den sie so schnell wie möglich wieder verlassen wollen. So möchte der Großteil der Kinder und Jugendlichen nach Deutschland zurückkehren, während ihre Familien im kurdischen Norden des Irak verankert sind und dort auch ihren Lebensmittelpunkt haben.

Im Zuge globaler und transnationaler Migration werden sich weitere dieser Remigrantengruppen bilden. Daher ist ihnen zukünftig eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz einzuräumen. Bislang fehlen jedoch nationale wie internationale Studien zu diesem Thema, und es fehlen insbesondere differenzierte, empirische Studien zu den Lebensbedingungen und Perspektiven der »zurück« gewanderten Kinder und Jugendlichen.

Literatur

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Rückkehrunterstützung in Deutschland. Programme und Strategien zur Förderung von unterstützter Rückkehr und zur Reintegration in Drittstaaten. Studie I/2009 im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN).

Cassarino, J. P. (2004): Theorising return migration: The conceptual approach to return migrants revisited. International Journal on Multicultural Studies 2004/6, S.253-279.

Deutscher Bundestag (2011): Kurdenspezifische Migrationspolitik – Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Inge Höger und der Fraktion DIE LINKE. Bundestags-Drucksache Drucksache 17/4937 vom 28.02.2011.

Grinberg, L. und Grinberg, R. (1990): Psychoanalyse der Migration und des Exils. Aus dem Spanischen von Flavio C. Ribas. München/Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse.

Günther, M. (2009): Adoleszenz und Migration. Adoleszenzverläufe weiblicher und männlicher Bildungsmigranten aus Westafrika. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

King, V. und Schwab, A. (2000): Flucht und Asylsuche als Entwicklungsbedingung der Adoleszenz. Ansatzpunkte pädagogischer Begleitung am Beispiel einer Fallgeschichte. In: King, V. und B.K. Müller (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Bedeutungen von Geschlecht, Generation und Herkunft in der Jugendarbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S.209-232.

Oberg, K. (1960): Culture Shock: Adjustment to New Cultural Environments. Practical Anthropology 7, S.177-182.

Salih, A. (2004): Freies Kurdistan: die selbstverwaltete Region Kurdistans. Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Berlin: Köster.

Schmidt, S. (2000): Kurdisch-Sein, mit deutschem Pass! Formale Integration, kulturelle Identität und lebensweltliche Bezüge von Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. Bonn: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Skubsch, S. (2003): Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-) Politik. Beiträge zur Kurdologie. Band 5. Münster: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Statistisches Bundesamt (2011): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung – Ergebnisse des Ausländerzentralregisters. Stand 2010.

UNHCR (2009): UNHCR-Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde.

Xia, J. (2009): Analysis of Impact of Culture Shock on Individual Psychology. International Journal of Psychological Studies 1/2, S.97-101.

Simon Moses Schleimer ist Mitarbeiter der Professur für Interkulturelle Erziehung am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg. Zusätzlich lehrt er im Sommersemester 2013 an der Salahaddin-University Hawler Erbil/Irak Deutsch als Fremdsprache. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit den Bildungs- und Lebensverläufen von kurdischen Kindern und -Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien, die in die autonome Region Kurdistan im Irak remigrieren.

(Kein) Grundrecht auf Asyl

(Kein) Grundrecht auf Asyl

von Günter Burkhardt

Bis vor zwanzig Jahren hieß es im deutschen Grundgesetz noch knapp und dennoch klar: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Das war 1949 die Antwort des Parlamentarischen Rates auf die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Das Grundrecht auf Asyl entzog sich damit der Steuerbarkeit durch die Politik. Es war als subjektives Recht ausgestaltet – einklagbar vor Gericht.

Stimmungsmache in Wahlkämpfen

Als die Flüchtlingszahlen in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre infolge der Balkankriege deutlich anstiegen, wurde politisch Stimmung gemacht. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom „drohenden Staatsnotstand“. Jahrelang trommelten CDU/CSU gegen das Asylrecht. Die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende in Rostock wurde systematisch überbelegt. Neonazis und »brave Bürger« griffen Flüchtlinge und die nebenan wohnenden vietnamesischen Vertragsarbeiter an. Anstatt dem tagelang tobenden Mob entgegenzutreten, denunzierte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters die Asylsuchenden: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Es folgten Brandanschläge. Die Opfer der rassistischen Attacken wurden nicht in Schutz genommen, sondern instrumentalisiert. Der Vorwurf des »Asylmissbrauchs« verschwieg, dass Krieg kein Asylgrund war (und ist), dass Menschen aus zerfallenden Staaten, die vor einer so genannten nichtstaatlichen Verfolgung fliehen, keine Chance auf Asyl hatten.

Der politische Sündenfall

Am 6. Dezember 1992 kapitulierte die SPD. Mit CDU/CSU und FDP verabredeten sie die Änderung des Grundrechts auf Asyl. PRO ASYL kommentierte damals: „Dies ist ein Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates.“

Die zentrale Einschränkung im »Asylkompromiss« lautete wie folgt: Wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat einreist, muss seinen Asylantrag dort stellen. Eine praktische Regel, da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist.

Die Drittstaatenregelung führte seither jedes Jahr zur tausendfachen Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze. Das Grundrecht auf Asyl ging für die Flüchtlinge verloren. Unter Bezugnahme auf den seit 1990 explizit (wenn auch noch viel zu schwach) im Ausländerrecht verankerten Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) konnte ein Teil von ihnen trotzdem einen befristeten Aufenthaltsstatus erhalten. Unsere hartnäckigen Kämpfe führten später sowohl zu einer Ausweitung dieses Schutzbereiches der GFK, insbesondere zur Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung, wie auch zu einer rechtlichen Gleichstellung der GFK-Flüchtlinge mit den wenigen überhaupt noch nach dem Grundgesetz anerkannten Flüchtlingen.

Der zentrale politische Sündenfall des Asylkompromisses war aber, dass Deutschland die Zuständigkeit für Asylsuchende an andere Staaten weiterreichte, ohne sich um die Garantie von Menschen- und Flüchtlingsrechten zu scheren. Das Ergebnis sind bis heute ungeschützte, unversorgte, obdachlose, inhaftierte oder misshandelte Schutzsuchende.

Das leere Versprechen eines europäischen Asylrechts

Der Deutsche Bundestag begründete die Änderung des Grundrechts auf Asyl vom 26. Mai 1993 auch mit der Notwendigkeit, das deutsche Asylrecht europafähig zu machen „Wir […] haben immer gesagt, dass mit der Abschaffung der Binnengrenzen in Europa eine Harmonisierung des Asylrechts zwingend notwendig wird“, so der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Schäuble. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem ist jedoch immer noch in weiter Ferne. Es gilt die Regel, dass derjenige Staat für einen Flüchtling zuständig ist, in dem der Flüchtling in die Europäische Union eingereist ist. Der Mangel an Solidarität unter den EU-Staaten bedingt somit einen Mangel an Solidarität gegenüber Schutzsuchenden. Europa schützt seine Grenzen – nicht jedoch die Flüchtlinge.

Abschottung um jeden Preis

In ihrer Verzweiflung begeben sich Flüchtlinge in immer unsichereren und kleineren Booten auf immer längere und gefährlichere Fluchtwege über das Mittelmeer. Gleichzeitig wird die Abschottung perfektioniert. So soll das Überwachungssystem EUROSUR die Außengrenzen mit Drohnen und Satelliten überwachen, die europäische Grenzagentur FRONTEX wird stetig ausgebaut, und die Überwachung des Grenzbereichs wird nach Nordafrika und in die Türkei vorverlagert. Die Proteste gegen diese Politik sind bei uns inzwischen fast versiegt.

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von PRO ASYL.

Arabischer Frühling

Arabischer Frühling

… und Europa lässt sterben

von Karl Kopp

2.000 Menschen sind allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres auf dem Weg von Nordafrika nach Europa ums Leben gekommen. Berichte über unterlassene Hilfeleistung durch Militärverbände oder kommerzielle Schiffe mehren sich. Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer verschärft sich – und Europa schaut zu.

Die italienischen Küsten erreichten bisher ca. 52.000 Bootsflüchtlinge. 27.000 von ihnen flüchteten aus Libyen, die übrigen aus Tunesien. Das kleine Tunesien hat mehrere hunderttausend Flüchtlinge und Migranten aufgenommen. Gerade einmal zwei Prozent der Menschen, die aus Libyen geflohen sind, kamen nach Europa.

Alte Geschäftsgrundlage existiert nicht mehr

Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid/Tunesien war das traurige Fanal einer epochalen Entwicklung in den nordafrikanischen Staaten und weit darüber hinaus. Auf die Demokratiebestrebungen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderswo war und ist die Europäische Union nicht vorbereitet. Europa verliert im Zuge der revolutionären Umwälzungen seine willfährigen Partner. Die jahrelange Kooperation mit diktatorischen Regimen bei der Flüchtlingsbekämpfung und im so genannten Krieg gegen den Terrorismus ist eine moralische Bankrotterklärung. Europa, das sich außer in Sonntagsreden nicht um Demokratie und Menschenrechte scherte, muss sich völlig neu ausrichten. Auch wenn wir heute noch nicht wissen, wie die Demokratisierungsprozesse in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderswo weitergehen: Die alte Geschäftsgrundlage – Geld für Diktatoren bei der Flüchtlingsabwehr, egal wie hoch der menschenrechtliche Preis ist – existiert nicht mehr. Ob Europa aus dem Scheitern seiner fatalen Flüchtlings- und Nachbarschaftspolitik lernt, ist äußerst fraglich.

Mit den revolutionären Umbrüchen in Nordafrika zu Beginn des Jahres 2011 kam es unerwartet zu einer kurz- und mittelfristigen Aussetzung der Migrationskontrollen an den Küsten Nordafrikas. Tausende Flüchtlinge setzten sich Richtung Europa in Bewegung. Zwar wurde europaweit beteuert, dass der demokratische Wandel im Norden Afrikas begrüßt werde. Jedoch setzt man in Brüssel und in den südlichen Mitgliedstaaten weiter auf Abwehr. Italien rief bereits nach den ersten angelandeten Flüchtlingsbooten den »Notstand« aus und forderte die Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Indessen verschlechterten sich die Bedingungen auf der italienischen Insel Lampedusa für die Flüchtlinge dramatisch. Viel zu spät fanden erste Transfers auf italienisches Festland statt. Die italienische Regierung ist bis heute nicht willens, ein geregeltes und menschenwürdiges Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen zu garantieren, und eine EU-weite solidarische Aufnahmepolitik von Bootsflüchtlingen liegt noch immer in weiter Ferne.

Rückblick: Tabubruch

Die Europäische Union scheute nicht davor zurück, über Jahre mit einer Diktatur zusammenzuarbeiten, in der Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Insbesondere Italien spielte aufgrund der geographischen Nähe zu Libyen eine Vorreiterrolle bei der Blockade der Fluchtroute über das Mittelmeer.

So kooperierte Italien bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit der Diktatur Libyen. Ein Ziel war es, die Flucht- und Migrationsbewegungen im Mittelmeer zu unterbinden. Allen Warnungen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen zum Trotz hofierte auch die Europäische Union seit 2004 den früheren libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi.

Die italienische Küstenwache hat allein seit Mai 2009 über 2.000 Bootsflüchtlinge in die »libysche Hölle« zurückverwiesen. In den Auffanglagern dort kam es regelmäßig zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen – so das Europäische Parlament am 17. Juni 2010.1 Italiens Innenminister Maroni dagegen lobte die gemeinsamen Operationen mit Libyen und sprach von einem „Modell für Europa“. Italien versenkte die Menschenrechte im Mittelmeer, und die EU- Kommission, die Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, haben geschwiegen. Statt die Regierung in Rom zu sanktionieren, verhandelte Brüssel unter Hochdruck mit Tripolis über ein »Kooperations- und Partnerschaftsabkommen«, um die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsbekämpfung zu intensivieren. Jahrelang hofierten die EU und ihre Mitgliedsstaaten das Regime Gaddafi. Libyen wurde mit Schiffen, Grenzüberwachungstechnik, Leichensäcken und Geldern für Abschiebungsflüge beliefert.

Die EU-Kommissarin Cecilia Malmström hat mit der libyschen Regierung im Oktober 2010 während eines Besuchs in Tripolis ein erstes Abkommen über Migrationszusammenarbeit geschlossen. Malmström erhielt Beifall von den EU-Innenministern: ein bisschen »Asyl« in Libyen anstatt Schutz in Europa. Die EU wollte den libyschen Behörden beim Screening derjenigen helfen, die internationalen Schutz brauchen. Ein paar wenige Flüchtlinge könnte dann auch Europa abnehmen. Der Rest muss zurück. Alles vertraute Ideen: Als der frühere Bundesinnenminister Otto Schily 2004 sein Konzept der Flüchtlingsabwehr, „Lager in Nordafrika“, vorstellte, entbrannte allerdings noch ein Sturm der Entrüstung.

Immerhin: Die EU-Kommissarin beschrieb in ihrem Blog im Oktober 2010, dass sie nach Gesprächen mit inhaftierten Flüchtlingen in Libyen sehr schlecht geschlafen habe. PRO ASYL hatte bereits im September 2010 an das Europäische Parlament appelliert, die klare Verurteilung Libyens vom Juni in politisches Handeln umzusetzen und die Kommission zu stoppen. Alle Kooperationen mit dem Regime im Politikfeld Flucht und Migration sollten unverzüglich eingestellt werden.

Erst am 22. Februar 2011, als Gaddafi wegen seiner blutigen Niederschlagung des Aufstands international bereits völlig isoliert war, verkündete die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, dass die Verhandlungen mit Libyen über ein so genanntes Rahmenabkommen ausgesetzt werden. Die Einsicht, dass man mit dem Diktator Gaddafi keine schmutzigen Deals machen kann, kam viel zu spät. Gaddafi wurde von Europa im wahrsten Sinne des Wortes jahrelang für die Flüchtlingsbekämpfung aufgerüstet. EU-Kommissarin Malmström streute zwar bei jeder Erklärung zu dieser „schwierigen Partnerschaft“ ein, dass die EU-Kommission die Grundrechte von Flüchtlingen und Migranten in Libyen ins Zentrum aller Bemühungen stellen möchte. Das jahrelange Anbiedern an das libysche Regime verfolgte jedoch nur einen Zweck: Schutzsuchende um jeden Preis an der Weiterflucht nach Europa zu hindern.

Die verdammt kurze Begeisterung

Europas Haltung war bereits bei Ankunft der ersten Bootsflüchtlinge aus Tunesien nicht geprägt von Solidarität und Humanität, vielmehr dominierte eine populistische »Notstandsrhetorik« die Debatte. Bezeichnenderweise diente die Ankunft von circa 25.000 tunesischen Staatsbürgern in Europa – was in Umbruchsituationen relativ normal ist – als Grund, die Wiedereinführung von innereuropäischen Grenzkontrollen zu diskutieren und in einigen Ländern auch zu praktizieren.

Und auch so genannte Rückübernahmeabkommen standen schon rasch wieder auf der Agenda. Am 5. April 2011 schloss Italien eine entsprechende Vereinbarung mit Tunesien. Und bereits Mitte März 2011 kündigte der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments an, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit Libyen fortzusetzen, sobald das Land eine neue Regierung habe.2 Dem ließ die italienische Regierung Taten folgen, als sie am 17. Juni 2011 mit Libyen ein »Abkommen zur Bekämpfung irregulärer Migration« unterzeichnete und am 30. September in Tripolis über eine Reaktivierung des italienisch-libyschen Freundschaftsabkommens von 2008 sprach.3

Noch in diesem Jahr soll die europäische Grenzschutzagentur Frontex eine neue Verordnung bekommen. An einigen Stellen des überarbeiteten Textes wird im Gegensatz zur bisherigen Verordnung explizit auf zentrale Instrumente des Flüchtlingsschutzes hingewiesen. Auch sollen etwa Frontex-Mitarbeiter künftig ausdrücklich dazu verpflichtet werden, Menschen in Seenot zu retten. Angesichts des tausendfachen Sterbens von Flüchtlingen im Mittelmeer und im Atlantik ist diese Klarstellung schon lange überfällig. In Hinblick auf die Mandatserweiterung ergeben sich jedoch neue Gefahren für den Flüchtlingsschutz. Die Agentur soll weitere Kompetenzen bei der Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Ägypten, Tunesien, Marokko, Libyen etc. erhalten. Im aktuellen Entwurf steht, dass es sich bei den entsprechenden Drittstaaten um Länder handeln soll, die „Mindestmenschenrechtsstandards“ respektieren – eine höchst problematische Formulierung.4 Menschenrechte sind unteilbar. PRO ASYL befürchtet, dass die Mandatserweiterung zum Ausbau der vorverlagerten Abwehrpolitik der EU dient und Menschenrechte dabei eine höchstens untergeordnete Rolle spielen.5

Untersuchung: Europa lässt sterben

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates kündigte am 21. Juni 2011 eine Untersuchung an, in der ermittelt werden soll, ob europäische Staaten mitverantwortlich sind für das Massensterben auf See. „Europa spielt bei dieser Sache eine Rolle“, schrieb Thomas Hammarberg, der Menschenrechtskommissar des Europarates, in Hinblick auf die weit über tausend Flüchtlinge, die allein dieses Frühjahr im Mittelmeer ums Leben kamen. „Die europäischen Regierungen und Institutionen tragen weit mehr Verantwortung für diese Krise, als sie bislang eingestanden haben.“6

Die Politik der EU-Staaten, die Bootsflüchtlinge durch abschreckende Maßnahmen daran hindern will, das Meer zu überqueren, habe keinen Erfolg, so Hammarberg. „Dies hat die Menschen nicht von ihren Versuchen abgehalten, Europa zu erreichen, aber es hat ihre Reise gefährlicher gemacht.“ Die Überfahrten würden dadurch teurer, die Boote überfüllter, umso mehr von ihnen kenterten.

Auch für unterlassene Hilfeleistung macht Hammarberg die europäischen Regierungen und Institutionen verantwortlich: „Die verbindlichen Prinzipien der Seenotrettung müssen nicht nur von jenen befolgt werden, die sich in der Nähe eines sinkenden Schiffes befinden.“ Die europäischen Staaten müssten dringend Maßnahmen zur Seenotrettung von Flüchtlingen ergreifen.

Aber selbst wenn die Rettung erfolgt, zeigt sich, dass es um die Solidarität bei der Aufnahme von Schiffbrüchigen schlecht bestellt ist. Am 11. Juli 2011 rettete eine spanische Fregatte im NATO-Einsatz 114 Bootsflüchtlinge. Es folgte dann das übliche europäische Trauerspiel: Niemand war bereit, die Geretteten aufzunehmen. Die NATO-Zentrale, die Regierungen in Madrid, Rom und Valletta schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Am 15. Juli wurden die Bootsflüchtlinge in internationalen Gewässern von einem tunesischen Patrouillenboot aufgenommen und nach Tunesien gebracht. Ein Sprecher des UN-Flüchtlingskommissariats stellte fest, es sei „bemerkenswert“, dass sie in das „Land gebracht werden, das den Löwenanteil der Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen hat“.

Vergebliche Appelle

Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guteres, appelliert seit Anfang März 2011 immer wieder an die EU-Staaten, Flüchtlinge, die vor den Kämpfen in Libyen fliehen, aufzunehmen. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström versucht, die EU-Mitgliedsstaaten dazu zu bewegen, Schutzsuchende aus Eritrea, Somalia und anderswo, die in Tunesien gestrandet sind, nach Europa zu evakuieren. Doch alle Appelle für ein europäisches Resettlement-Programm stoßen in Berlin und anderswo weitgehend auf Ablehnung und Ignoranz. Bundesinnenminister Friedrich hat bis jetzt lediglich angekündigt, Malta durch die Aufnahme von 150 Flüchtlingen zu entlasten, da die kleine Insel überfordert sei. Das ist eine sehr bescheidene Geste innereuropäischer Solidarität, die durch die hartherzige Politik konterkariert wird. Zu einem Abschiebestopp nach Malta konnte sich das Bundesinnenministerium nämlich nicht durchringen. Deutschland will weiterhin andere Asylsuchende auf Grundlage der europäischen Asylzuständigkeitsregel nach Valletta abzuschieben.

Ohne Perspektive – Leben in Choucha

Eine Delegation des Europäischen Parlaments hat im Juli 2011 Flüchtlingslager in Tunesien besucht, unter anderem das Camp Choucha, in dem derzeit noch knapp 4.000 Menschen ausharren. Flüchtlinge berichteten der Delegation, das, was sie in ihrer Lage wirklich bräuchten, sei die Aufnahme in Drittstaaten. Auch der Bürgermeister von Choucha forderte die Delegation auf, sich zu engagieren: „Die internationale Gemeinschaft muss reagieren. Wir haben bis jetzt keine konkreten Taten gesehen.“ In einer gemeinsamen Erklärung schreiben die Abgeordneten, die harten Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die extremer Hitze, Sandstürmen und Wassermangel ausgesetzt seien, hätten sie betroffen gemacht – ebenso wie die Gastfreundschaft und Solidarität der tunesischen Bevölkerung gegenüber den aus Libyen geflohenen Menschen. Die Delegation forderte: „Die EU sollte sich mehr um Aufnahmeplätze für Flüchtlinge bemühen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurück können.“

Die Gewalt in Libyen geht weiter

Auch unter der De-facto-Regierung des libyschen Übergangsrates reißt die Gewalt gegen tausende ehemaliger Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in Libyen nicht ab. Seit Beginn der Umwälzungen in Libyen sind Migranten und Flüchtlinge, die hauptsächlich aus dem Tschad, Sudan, Niger und Mali kommen, rassistischen Übergriffen, Misshandlungen und willkürlichen Festnahmen ausgesetzt.

Die Organisation malischer Abgeschobener »Association Maliénne des Expulsés«, ein Projektpartner von medico international und PRO ASYL, forderte in einer Stellungnahme vom 2. September 2011 die internationale Gemeinschaft auf, die betroffenen Migranten und Flüchtlinge humanitär zu unterstützen und für ihre Sicherheit sowohl in Libyen als auch in den Grenzregionen und auf Hoher See zu sorgen.

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch äußerte sich am 4. September 2011 besorgt. So beklagte Sarah Leah Whitson, „Es ist eine gefährliche Zeit für dunkelhäutige Menschen in Tripolis“, da sie Gefahr liefen, willkürlich verhaftet zu werden. Zudem seien die Bedingungen in der Abschiebehaft äußerst schlecht: Die Zellen seien überfüllt, die Wasserversorgung äußerst unzureichend, und es fehlten sanitären Anlagen.

Was tun?

Unerlässlich ist eine Initiative zur Rettung der Flüchtlinge aus Libyen, die verhindert, dass sich die Schutzsuchenden dem Todesrisiko einer Überfahrt nach Europa aussetzen müssen. Europa kann nur dann etwas an Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen zurückgewinnen, wenn es eine solidarische Aufnahme dieser Flüchtlinge gewährleistet.

Darüber hinaus muss Europa nach jahrzehntelanger Kumpanei mit Diktatoren alles dafür tun, dass im arabischen Raum stabile demokratische und freiheitliche Strukturen entstehen können. Die Staaten im demokratischen Umbruch dürfen nicht zu »Türstehern Europas« degradiert werden, sondern verdienen eine partnerschaftliche Perspektive. Ihnen muss jegliche wirtschaftliche und politische Hilfe zu teil werden. Dazu gehören auch Ausbildungs- und Studienplätze in Europa sowie legale Migrationsmöglichkeiten.

Anmerkungen

1) Europäisches Parlament: Hinrichtungen in Libyen. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juni 2010 zu den Hinrichtungen in Libyen. Dokument P7_TA-PROV(2010)0246.

2) European Parliament Press Service – Committee: Foreign Afairs: Flight from north African unrest: a long-term solution needed. 16.3.2011.

3) In dem Abkommen sichern sich die beiden Vertragsparteien „gegenseitige Unterstützung und Kooperation bei der Bekämpfung von illegaler Migration, einschließlich bei der Rückführung illegaler Migranten“ zu. Der italienische Außenminister Frattini wurde in Medienberichten zitiert, dass Italien „bereit ist, dem Nationalen Übergangsrat genauso […] zu helfen wie Tunesien, u.a. durch die Bereitstellung von Ausrüstung für Patroullien und für die Verhinderung der illegalen [Boots-] Fahrten“. Der libysche Premier Jabril sagte diesen Berichten zu Folge, dass die „illegale Immigration unserer Meinung nach in den nächsten 25 Jahren die Beziehungen zwischen Europa und Afrika prägen wird“. Siehe Eintrag im Blog »Migrants at Sea« vom 17. Juni 2011.

4) Europäische Kommission: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX). Brüssel, den 24.2.2010, KOM(2010) 61 endgültig – 2010/0039 (COD); abrufbar auf der Website proasyl.de unter »Themen – Eu-Recht – FRONTEX«.

5) EU-Parlament stimmt Mandatswerweiterung von Frontex zu. PRO ASYL news fom 21.9.2011.

6) Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarates: African migrants are drowning in the Mediterranean. Blogeintrag vom 8. Juni 2011.

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASLY. Er vertritt die Organisation im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles) und ist verantwortlich für die europaweite Vernetzung von PRO ASYL mit Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen.

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

von Elias Bierdel

Europa findet angesichts der atemberaubenden Umbrüche in der arabischen Welt keine schlüssige Antwort – und offenbart damit immer mehr den jämmerlichen Zustand seiner Eliten und Institutionen. Von kluger Nachbarschaftspolitik im Süden keine Spur. Beiträge zur konstruktiven Gestaltung der Übergangsprozesse? Friedenspolitik? Fehlanzeige! Europa schafft sich ab.

Besonders schlimm treibt es die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Schlingerkurs vom Auftritt des Außenministers auf dem Tahir-Platz über die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat und die nachfolgende Lieferung von Bomben und Raketen an Großbritannien für deren Libyen-Einsatz bis hin zu den geheim gehaltenen Panzerlieferungen an Saudi-Arabien immerhin ein klares Signal an die mutigen Aufständischen sendet: Wenn es um Eure Freiheit geht – rechnet nicht mit uns! Zur Bestätigung verliest ein Unionsabgeordneter im Deutschen Bundestag den Brief des Krauss-Maffei-Betriebsrates, in dem dieser wegen der „schlechten Auftragslage“ des Rüstungskonzerns barmt. Heuchlerischer geht es nimmer.

Auf keinem Gebiet aber wird der moralisch-politische Bankrott so sichtbar, wie beim Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen, die zu hunderttausenden die Kriegs- und Nachkriegsregionen verlassen (müssen), von denen aber nur wenige die Überfahrt nach Europa wagen.

Kaum waren nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes die ersten Boote auf Lampedusa eingetroffen, rief Italien den »humanitären Notstand« aus. Die vorsätzlich geschürte Hysterie griff planmäßig umgehend auf den Rest der nervlich stark angegriffenen (Euro-Krise!) EU-Mitgliedsländer über. Auch aus Bayern war reflexhaft der Ruf zu hören, wonach „notfalls die Schlagbäume wieder geschlossen“ werden müssten. Frankreich stoppte internationale Fernzüge, nachdem die Regierung in Rom für die ohne Einladung eingereisten Nordafrikaner Reisepapiere ausgestellt hatte. Am Ende richtete dann Dänemark jene regulären Grenzkontrollen wieder ein, deren Abschaffung bis dato als Spitzenprodukt des »Acquis Communitaire«, der zivilisatorischen EU-Errungenschaften, galt. Freizügigkeit in der Schengenzone? War einmal.

Dabei geht es nicht nur um ein paar lieb gewonnene Reisefreiheiten für Wohnwagen-Touristen: Die gesamte Union gibt ihre Identität als internationale Hüterin der Menschenrechte preis, wenn Flüchtlinge zunehmend als reines »Sicherheitsproblem« definiert und behandelt werden.

Die wahren Dramen spielen sich freilich ein paar tausend Kilometer weiter südlich ab: Dort sind seit Jahresbeginn unter den Augen europäischer Grenzwächter und diverser Marineeinheiten bereits mehr als 1.800 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken oder verdurstet; die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Es häufen sich Berichte von Überlebenden, die schildern, wie große Schiffe (darunter auch solche der NATO-Kriegsmarine) ohne Halt an ihnen vorüberfuhren, während unter den Verzweifelten das Sterben schon begonnen hatte. Die Unseligen werden zum Tode auf See verurteilt, weil sich Europa für unzuständig und überfordert erklärt. In einzelnen Fällen, wie wir sie seit Jahren mit »borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen« dokumentieren konnten, schoben Küstenwacht-Einheiten Flüchtlingsboote wochenlang hin und her, bis am Ende von über 80 Bootsinsassen nur noch fünf am Leben waren.

Angesichts der revolutionären Ereignisse jenseits des Mittelmeeres verstärkt die EU die Abschottung, wo doch entschlossene humanitäre Hilfe nötig wäre. Die Regierungschefs einigten sich in Rekordzeit auf eine Verstärkung der Grenzsicherungsagentur FRONTEX. Rund 400 Millionen Euro sagte die zunehmend klamme EU allein Tunesien als „Unterstützung für den Staatsaufbau“ zu. Gemeint ist damit vor allem die Stärkung des Sicherheitsapparates, von dem effiziente Maßnahmen erwartet werden, um die Weiterreise unerwünschter MigrantInnen in Richtung Europa zu unterbinden. Waffensysteme und Schiffe zum entsprechenden Einsatz sind bereits nach Tunis unterwegs. Wie das wirtschaftlich geschwächte Tunesien aber mit der Last zehntausender Libyen-Flüchtlinge im eigenen Land fertig werden soll, das bleibt unklar.

Wo die EU politisch wie moralisch auf der ganzen Linie versagt, ist es der 1949 gegründete Europarat, der die Staaten des »Kontinents der Menschenrechte« an ihren historischen Auftrag erinnert: „Ihr Schweigen und ihre Passivität sind schwer zu akzeptieren“, kritisierte der Menschenrechtsbeauftragte der Länderorganisation. Anstatt den Flüchtlingen zu helfen, versuche Europa vor allem, sie von seinen Grenzen fernzuhalten. Damit habe man die Flucht noch gefährlicher gemacht und den Schleppern einen Grund gegeben, ihre Tarife zu erhöhen.

Wohl wahr. Es steht allerdings zu befürchten, dass genau dies auch beabsichtigt ist. „BürgerInnen Europas, empört Euch!“ (©: Stéphane Hessel)

Elias Bierdel ist Menschenrechtsaktivist (borderline-europe.de), Buchautor (»Ende einer Rettungsfahrt«) und seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ÖSFK/Friedensburg Schlaining.

Friedenspreis für Pro Asyl

Friedenspreis für Pro Asyl

Göttingen, 6. März 2010

von Jürgen Nieth

In Würdigung seiner langjährigen Arbeit für die Belange der Flüchtlinge und insbesondere für die erfolgreiche Realisierung der Kampagne »Stoppt das Sterben« hat die Stiftung Dr. Roland Röhl den Förderverein Pro Asyl e.V. am 6. März mit dem »Göttinger Friedenspreis 2010« ausgezeichnet.

Der Göttinger Friedenspreis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 3.000 Euro dotiert. In seinem Grußwort betonte der Präsident der Georg-August-Universität, Prof. Dr. Kurt von Figura: „Die Universität ist froh, alljährlich der Ort für die Verleihung dieses außergewöhnlichen Preises sein zu dürfen und so das Anliegen Dr. Röhls unterstützen zu können. Dem diesjährigen Preisträger Pro Asyl gratulieren wir sehr herzlich zu dieser Auszeichnung. Für die künftige Arbeit wünschen wir Pro Asyl weiterhin viel Erfolg.“ Dr. von Figura hob hervor, dass Dr. Roland Röhl Anfang der 1980er Jahre als Wissenschaftler zum Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie nach Göttingen gekommen sei und später als Wissenschaftsjournalist sich besonders dem Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung zugewandt und dort großes Renommee erworben habe. Roland Röhl starb 1997 im Alter von 42 Jahren. Zuvor hatte er Vorkehrungen getroffen, eine Stiftung zu errichten, die dazu verhelfen soll, der Konflikt- und Friedensforschung Geltung zu verschaffen. Mit ihrer Hilfe wird seither der Göttinger Friedenspreis verliehen.

In der diesjährigen Begründung zur Preisverleihung heißt es dazu unter anderem:

„Pro Asyl lässt sich seit seiner Gründung 1986 von dem Prinzip leiten, dass Flüchtlinge einen Anspruch auf Respektierung ihrer Menschenrechte und auf Schutz vor Verfolgung haben. Pro Asyl engagiert sich für ein humanes und gerechtes Asylrecht in Deutschland und ganz Europa.

Immer häufiger werden Flüchtlinge … ohne Prüfung ihres Asylbegehrens in das EU-Land zurückgeschoben, über das sie eingereist sind. Auf Familienbindungen oder humanitäre Verpflichtungen wird dabei selbst bei Jugendlichen zumeist keine Rücksicht genommen. In einigen Grenzländern der EU sind seit Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen bis hin zu schweren Misshandlungen zu verzeichnen.

Neben einer Vielzahl anderer Aktivitäten unterstützt und organisiert Pro Asyl schwerpunktmäßig Flüchtlingsprojekte an den Außengrenzen der EU … Pro Asyl mischt sich in politische Debatten ein und setzt sich für humane Aufnahmebedingungen Schutzsuchender und für die Einhaltung menschenrechtlicher Standards in Europa ein. Es appelliert an das Europäische Parlament, seine humanitäre Aufgabe zu erfüllen und die Flüchtlings- und Menschenrechte ernst zu nehmen. Kritisiert werden unterschiedliche und restriktive Aufnahmebedingungen, Druck gegenüber den ärmeren Grenzländern, Brutalisierungstendenzen im Umgang mit Schutzsuchenden. Konkret wird die Einstellung der FRONTEX-Einsätze gefordert.

Um immer wieder auf das Schicksal von Flüchtlingen aufmerksam zu machen, betreibt Pro Asyl eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Es informiert per Pressemitteilungen, Pressekonferenzen, Flugblättern und Broschüren sowie regelmäßigen Mitglieder- und Spenderinformationen. Es sorgt für vertiefende und fachkundige Informationen durch themenspezifische Materialsammlungen, Bücher und Angebote im Internetportal. Es steht den Schutzsuchenden bei Behörden und Gerichten mit Recherchen, Gutachten und Rechtshilfen zur Seite.

Pro Asyl tritt an einer zentralen Schnittstelle von innerer und äußerer Friedensförderung für die Gebote menschlicher Sicherheit ein und wirkt damit als wichtige »Stimme der Humanität«…“

Es ist nicht der erste Friedenspreis, mit dem die Arbeit von Pro Asyl gewürdigt wurde. 1998 wurde der Verein bereits mit dem Bonhoeffer-Preis ausgezeichnet und 2001 erhielt Pro Asyl den Aachener Friedenspreis.

Für Pro Asyl nahmen deren Geschäftsführer Günter Burkhardt und der Europareferent Karl Kopp den Preis entgegen. In seiner Dankesrede schilderte Günter Burkhardt die traurige Realität an Europas Außengrenzen:

„Die Menschenrechte und internationale Flüchtlingsschutzstandards werden täglich an den EU-Außengrenzen eklatant verletzt. Schutzsuchende werden in Transitländer wie Libyen, die Türkei, Mauretanien und die Ukraine zurück transportiert – egal wie es dort um die Menschenrechte bestellt ist. Die Todesrate bei den Einreiseversuchen an der Seegrenze nach Europa ist unvermindert hoch. Über 500 Bootsflüchtlinge sind allein 2009 im Kanal von Sizilien ums Leben gekommen. Häufig schauen Mitgliedstaaten einfach nur zu, wie Bootsflüchtlinge verzweifelt um ihr nacktes Überleben kämpfen und streiten sich derweil über Zuständigkeitsfragen bei der Seenotrettung. Schiffscrews, die Flüchtlinge aus dem Wasser fischen, müssen befürchten mit skandalösen Verfahren wegen Beihilfe zur »illegalen Einreise« überzogen zu werden. Die fatale Botschaft dieser Gerichtsverfahren: Schiffsbesatzungen schaut weg, fahrt weiter und legt euch nicht mit der Festung Europa an. Entlang der europäischen Küsten und Landgrenzen entstehen immer mehr Haftanstalten für die neu ankommenden Flüchtlinge. Potentiellen Schutzsuchenden auf der anderen Seite des Meeres soll vermittelt werden, dass an den europäischen Küsten nur die Inhaftierung, der Rücktransport oder der nasse Tod auf sie warten.“

Eindringlich schilderte er am Beispiel zweier Prozesse wie Lebensretter kriminalisiert werden sollen. Während der Kapitän Stefan Schmidt und Elias Bierdel, die zusammen mit der Crew der Cap Anamur im Juni 2004 37 Bootsflüchtlinge vor dem sicheren Tod retteten, nach einem fast dreijährigen Prozess – wohl auf Grund des großen internationalen Drucks – freigesprochen wurden, gab es Haftstrafen für tunesische Fischer.

„Die beiden tunesischen Kapitäne der »Morthada« und der »Mohamed El Hedi« wurden (in Italien) wegen angeblichem Widerstand gegen die Staatsgewalt und gegen ein Kriegsschiff zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt …

Der damals diensthabende Kommandant der italienischen Küstenwache vertrat im Prozess die Auffassung, die Bootsflüchtlinge seien nicht in Lebensgefahr gewesen. Deshalb habe es sich nicht um eine Rettungsaktion gehandelt. Es sei die Pflicht der Küstenwache gewesen, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern. Die Manöver, mit denen die Kapitäne einer Kollision mit den Marineschiffen auswichen, wurden ihnen nun zur Last gelegt.

Fakt ist: Den Flüchtlingen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Der Fischer Zenzeri erzählte: »Eine Schwangere hätte Lampedusa nicht mehr lebend erreicht, wenn wir ihr nicht mit traditionellen Mitteln geholfen hätten. Sie war sonnenverbrannt und am Verdursten. Alle 15 Minuten haben wir ihr frische Tücher aufgelegt, sie konnte kaum die Augen öffnen, war fast tot.« Allein drei Bootsflüchtlinge mussten umgehend nach ihrer Ankunft auf Lampedusa mit dem Rettungshubschrauber nach Sizilien ausgeflogen werden.

Die beiden verurteilten Kapitäne gehen nun in die Berufung. Ihre Schiffe wurden konfisziert, ihre Fischereilizenzen nicht erneuert.“ Damit wurde ihre Existenz vernichtet.

Zu den Auswirkungen solcher Urteile zitiert Burkhardt den Fischer Mohamed Anine Bayoud: „Ich bin 22 und ich habe keine Zukunft. Die Italiener haben ihr Ziel erreicht: viele Fischer sagen sich, sie wollen nicht helfen, damit es ihnen nicht ergeht wie Zenzeri und meinem Vater.“

Burkhardt kündigte an, dass Pro Asyl das Preisgeld des Göttinger Friedenspreises in Höhe von 3.000 Euro den tunesischen Fischern zukommen lassen wird. „Solidarität heißt, diese Lebenesretter zu unterstützen.“ Zusätzlich wird Pro Asyl Mittel bereitstellen für den weiteren Prozess.

Der Geschäftsführer von Pro Asyl verwies auf erste Erfolge der Kampagne »Stoppt das Sterben!«: „Als Pro Asyl vor rund drei Jahren (2008) diese Kampagne startete, war das Sterben an Europas Grenzen kaum ein Thema in Deutschland. Die (Frontex)Agentur und ihr oft menschenrechtsverletzendes Handeln kannte kaum jemand. Heute hat sich dies geändert, vor allem im Sommer wird die Tragödie an Europas Grenzen öffentlich.“ Kritisch stellte er dann fest, dass für die Regierungen aber offensichtlich nach wie vor »Stoppt das Sterben!« heißt, „macht es unsichtbar!

Im Süden Lybiens soll ein elektrischer Zaun gebaut werden – finanziert mit Mitteln der Europäischen Union. Mit der Türkei wird über ein Rückübernahmeabkommen verhandelt. Wirtschaftliche Vorteile und Geld dürften in Aussicht gestellt werden für eine regidere Grenzkontrolle.“

Burkhardt verweist darauf, dass nebulös und unpräzise bleibt, was konkret die Grenzschützer unter Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention an Europas Grenzen tun sollen. „Wie wird geprüft, ob Personen schutzbedürftig sind? Wie wird ggf. ein Zugang zu einem Asylverfahren gewährt? Und vor allem: Wer ist verantwortlich, wenn bei einem -Einsatz mehrere Mitgliedstaaten mit gemischten Polizeiteams koordiniert zusammenarbeiten? Was ist mit Personen auf Hoher See, die erkennbar besonderen Schutz im Sinne der Flüchtlingsaufnahmerichtlinien der Europäischen Union bedürfen – so z.B. Minderjährige, Behinderte, Schwangere oder ältere Menschen? All dies ist offen. Gibt es Anfragen im Deutschen Bundestag, etwa von der Fraktion der Grünen oder der Linken – sind die Antworten nebulös… (Wird z.B. präzise) gefragt, welche Übereinkünfte es von EU-Staaten mit anderen Staaten gibt. Die Antwort: »Die Bundesregierung sieht sich außerstande, für alle an Einsatzmaßnahmen teilnehmenden Staaten alle hier in Frage kommenden zwei- oder mehrseitigen Übereinkünfte aufzuführen.« Dabei weiß die Regierung sehr genau, welche Abkommen es gibt, so z.B. Italien mit Libyen. Im Februar wurden nun drei weitere Schnellboote von Italien zur Verfügung gestellt, die patrouillieren. Insgesamt waren es sechs. Libyen verhindert so, dass Flüchtlinge, vor allem aus Eritrea, Italien erreichen. Italien schiebt zurück. Kommen Boote doch in die Nähe italienischer Gewässer, werden libysche Einheiten gerufen und die Menschen zurück verfrachtet.“

Kritisch beleuchtete auch Jürgen Trittin, Bundesminister a.D. und Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, in seiner Laudatio die EU-Abschottungspolitik: „Die EU reagiert auf das Elend vor den Toren Europas mit einer immer massiveren Abschottung. Zur koordinierten Abschottung wurde im Jahr 2004 eine Europäische Grenz-Agentur mit dem Namen Frontex gegründet. Über Jahre hinweg agiert diese Agentur, ohne dass sich die EU-Regierungen mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen von Frontex ernsthaft auseinandergesetzt hätten. Monat für Monat werden Flüchtlingsboote im Mittelmeer oder dem Atlantik durch Frontex-Schiffe abgefangen und an ihrer Weiterfahrt in die EU gehindert.

Dabei sollten die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, einheitliche Auslegung des Seerechts, einheitliche Definition von Seenot, bessere Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und die parlamentarische Kontrolle durch den Bundestag und das Europäische Parlament eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Das Refoulement-Verbot – das Verbot, Flüchtlingsboote zurückzuweisen – muss auch auf hoher See gelten und aufgegriffene Schiffbrüchige sollen auf das Territorium des flaggeführenden oder nächstgelegenen Mitgliedstaats gebracht werden. Dort muss dann entschieden werden, wer schutzbedürftig ist und wer zurück muss.“

Jürgen Nieth

Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa

Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa

The Security – Migration Nexus II

von Clara Fischer

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung übersteigt in Afrika südlich der Sahara die Süd-Süd Migration die Süd-Nord Migration um ein erhebliches Maß. Über 2/3 aller Migrantinnen und Migranten aus Ländern südlich der Sahara migrieren innerhalb der Region. Unfreiwillige Migration macht dabei einen großen Anteil der Bevölkerungsbewegungen aus. Etwa 20 Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung (ca. 2,3 Millionen; UNHCR, 2008) und etwa die Hälfte der weltweit 25 Millionen Binnenvertriebenen (IDPs) (12,7 Mio; IDMC, 2007) leben in Afrika. Neben Flüchtlingen und Binnenvertriebenen aufgrund von Konflikten gelten zunehmend auch durch Umweltkatastrophen, Umweltzerstörung und Entwicklungsprojekte Vertriebene als unfreiwillige Migrantinnen und Migranten.

Am 13. und 14. Februar 2009 führte das Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC) in Bonn eine internationale Konferenz »Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa. The Security – Migration Nexus II« durch. Die Veranstaltung fand im Haus der Deutschen Welle statt und wurde unterstützt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Rund 150 Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft waren der Einladung des BICC gefolgt und diskutierten Ursachen und Erscheinungsformen der Süd-Süd-Migration in Afrika. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz, die von Dr. Doris Witteler-Stiepelmann, BMZ, Winfried Mengelkamp, MGFFI (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen), und Peter J. Croll, BICC, eröffnet wurde, gehörten u.a. prominente Vertreterinnen und Vertreter aus Forschung, relevanten Ministerien und afrikanischen Regionalorganisationen sowie lokalen und internationalen humanitären Organisationen.

Der erste Konferenztag hatte einen wissenschaftlich-analytischen Fokus und befasste sich primär mit Ursachen und unterschiedlichen Formen unfreiwilliger Migration in Afrika südlich der Sahara sowie mit den sozialen und politischen Auswirkungen auf betroffenen Länder der Region. Die Abgrenzung von freiwilliger und unfreiwilliger Migration – sei es innerhalb eines Staates oder grenzüberschreitend – ist vor allem aufgrund der Komplexität von Migrationsursachen schwierig und die Anwendung wissenschaftlicher Konzepte in der Praxis nicht immer sinnvoll. In seinem Impulsreferat betonte Dr. John Oucho (Universität von Warwick, Coventry), dass es sich bei beiden Phänomenen weniger um einen Gegensatz denn um ein Kontinuum handele.

Dr. Wim Naudé (UNU-WIDER, Helsinki) präsentierte seine Forschungsergebnisse zu den Ursachen internationaler Migration in Afrika südlich der Sahara. Demnach stellen Konflikte den wichtigsten Faktor, der zur Entstehung von Flüchtlingsströmen führt, dar. Umweltfaktoren können auch, insofern sie die Wahrscheinlichkeit für das Ausbrechen von Konflikten erhöhen und das wirtschaftliche Wachstum der betroffenen Staaten behindern, eine indirekte Ursache für internationale Migration darstellen. Dr. Koko Warner (UNU-EHS, Bonn) widmete sich in ihrem Vortrag insbesondere dem Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migration in Westafrika.

Darüber hinaus diskutierte die Konferenz humanitäre, legale und soziale Konsequenzen von unfreiwilliger Migration auf die betroffenen Menschen sowie die Auswirkungen unfreiwilliger Zu- und Abwanderung, Umsiedlung und Rückkehr auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländer. Joseph Chilengi (Africa IDP Voice, Lusaka) ging in seinem Vortrag auf die soziale Vulnerabilität von Flüchtlingen und IDPs ein. Nuur Mohamud Sheekh vom Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Genf konzentrierte sich auf die Situation und die besonderen Bedürfnisse von Binnenvertriebenen sowie auf Fortschritte und Hindernisse bei der Implementierung der vor zehn Jahren verabschiedeten »Guiding Principles on Internal Displacement« anhand der Fallbeispiele Somalia und Kenia.

Dr. Sadia Hassanen vom Centre for Research in International Migration and Ethnic Relations (CEIFO), Stockholm, widmete sich in ihrem Vortrag der Rückkehr, Wiederansiedlung und Reintegration eritreischer Flüchtlinge im Sudan. Die von Andrea Warnecke (BICC) moderierte Podiumsdiskussion zum Nexus zwischen Migration und Sicherheit hatte die Auswirkungen unfreiwilliger Migration auf die betroffenen Menschen und die Aufnahmegemeinschaften von Flüchtlingen unter dem besonderen Aspekt der menschlichen Sicherheit zum Inhalt.

Am zweiten Konferenztag standen konkrete Handlungsansätze und Instrumente der »Migration Governance« im Mittelpunkt. Dr. Khoti Kamanga (Centre for the Study of Forced Migration (CSFM), University of Dar es Salaam) präsentierte zusammenfassend die am ersten Tag diskutierten Ansätze und die sich daraus ergebenden Herausforderungen an Politik, Zivilgesellschaft und internationale Organisationen. Dr. Loren B. Landau (Universität von Witwatersrand, Johannesburg) hielt ein Impulsreferat zur politischen Agenda und hinterfragte kritisch die Rolle der internationalen Akteure. Anschließend diskutierten Vertreterinnen und Vertreter nationaler Regierungen und Regionalorganisationen auf dem von Dimitria Clayton (MGFFI) moderierten Podium konkrete Instrumente und Handlungsansätze auf nationaler und regionaler Ebene. Busisiwe J. Mkhwebane-Tshehla (South African Department of Home Affairs, Pretoria) erläuterte unter anderem die in der Republik Südafrika entwickelte Integrationsstrategie für Flüchtlinge. Veronica Eragu Bichetero, ehemaliges Mitglied der Menschenrechtskommission in Uganda (UHRC, Kampala) stellte die Lage von Flüchtlingen und IDPs in Uganda sowie die ugandische Gesetzgebung zu Flüchtlingen und IDPs vor. Dr. Anthony Barclay (Economic Community Of West African States (ECOWAS), Abuja) diskutierte die Ansätze, die ECOWAS als Regionalorganisation zur Begegnung von Flüchtlingsaufkommen in der Region entwickelt hat. Dr. Kamel Esseghairi (African Mediterranean Institute of Peace and Sustainable Development, Bardo) sowie Mehari Taddele Maru (Afrikanische Union, Addis Ababa) stellten Initiativen der Afrikanischen Union, Flucht und Vertreibung zu begegnen, vor.

Schließlich sprachen auf einem Podium zur Rolle von Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen Steven Corliss (UNHCR, Genf), Anne Zeidan, International Committee of the Red Cross (ICRC), Genf), Lisbeth Pilegaard (Norwegian Refugee Council (NRC), Oslo), Sicel’mpilo Shange-Buthane (Consortium for Refugees and Migrants in South Africa (CoRMSA), Johannesburg), Charles A. Kwenin (International Organization for Migration (IOM), Addis Ababa) sowie als Vertreterin der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Claudia Bürkin (KfW Entwicklungsbank, Frankfurt a.M.) über unterschiedliche Perspektiven und komplementäre Ansätze im Bereich Flucht und Vertreibung in Subsahara-Afrika. Betont wurde insbesondere die Notwendigkeit des »burden-sharing« zwischen Aufnahmeländern von Flüchtlingen und der internationalen Gemeinschaft.

Eine Zusammenfassung der während der Konferenz erarbeiteten Empfehlungen und einen Ausblick gab Baffour Amoa vom West African Action Network on Small Arms (WAANSA), Accra. Er rief dazu auf, die Forschung zu Migration in Afrika voranzutreiben sowie Forschung und Politik enger zu verknüpfen. Von großer Dringlichkeit sei es, die Datenlage zu Flucht und Vertreibung in Afrika sowie den Daten- und Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Akteuren zu verbessern. Er betonte zudem, dass unfreiwillige Migration ein Phänomen sei, das eines interdisziplinären Ansatzes und der Einbeziehung aller beteiligten Akteure, einschließlich der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen selbst, bedürfe. Unfreiwillige Migration sei vor allem ein Menschenrechtsthema, für das primär die betroffenen Staaten Verantwortung tragen müssten. Die Konferenz regte zudem ein Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit an. Prävention und die Bearbeitung der Fluchtursachen müssten mehr in den Fokus der internationalen Gemeinschaft rücken und das Thema Migration zum festen Bestandteil der Entwicklungspolitik werden.

In seinem Schlusswort kündigte BICC Direktor Peter Croll an, die Konferenz zum Ausgangspunkt für die Etablierung eines Netzwerkes von Wissenschaftlern und Praktikern zur Förderung von Austausch und Kooperation im Bereich Migration und Vertreibung zu machen. BICC plant zudem weitere Workshops im Themenfeld Migration und Konflikte sowie eine Folgekonferenz, die 2010 nach Möglichkeit in Afrika stattfinden soll.

Alle Konferenzbeiträge werden in Form eines BICC briefs Anfang Mai 2009 veröffentlicht.

Von Clara Fischer

The Security-Migration Nexus

The Security-Migration Nexus

Challenges and Opportunities of African Migration to EU Countries

von Andrea Warnecke und Peter J. Croll

Über 150 nationale und internationale Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft folgten der Einladung des BICC (Bonn International Center for Conversion), vom 22. bis 23. Februar 2008 in Bonn auf einer internationalen Konferenz Herausforderungen und Chancen der afrikanischen Migration nach Europa zu diskutieren. Die zweitägige Veranstaltung mit dem Titel »The Security – Migration Nexus. Challenges and Opportunities of African Migration to EU Countries« im Haus der Deutschen Welle wurde unterstützt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Sowohl die öffentliche als auch ein Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Migration und Sicherheit ist von Bedrohungsszenarien geprägt. Diese reichen von Befürchtungen hinsichtlich einer unkontrollierbaren irregulären Zuwanderung, der damit einhergehenden organisierten Kriminalität (Menschenhandel), bis hin zu Überfremdungsängsten hinsichtlich eines erwarteten »demographischen Ungleichgewichts« infolge sinkender Geburtenraten in vielen europäischen Industrienationen. Weitere Szenarien beschäftigen sich mit der Entstehung sogenannter »Parallelgesellschaften« infolge gescheiterter bzw. fehlender Integrationsbemühungen sowie – und dass nicht erst seit den Terroranschlägen des 11. September – mit dem vielfach angenommenen Kausalzusammenhang von Migration und der Expansion des internationalen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund hatte es sich die Konferenz zum Ziel gesetzt, die komplexen Verknüpfungen, d.h. den Nexus von Migration und Sicherheit, anhand der Interessenlagen und Sicherheitsbedürfnisse der drei beteiligten Akteursgruppen – Migranten, Herkunfts- und Aufnahmeländer – aufzuzeigen. Als Gegenwicht zu den vorwiegend an staatlichen Parametern orientierten Sicherheitsdiskursen in den Gesellschaften der Aufnahmeländer wollte die Konferenz die Bedürfnisse und Anliegen aller am Migrationgeschehen Beteiligten gleichermaßen beleuchten.

Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Erich Stather, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Winfried Mengelkamp, Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI), Bärbel Dieckmann, Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Miodrag Soric, Chefredakteur DW-Radio, und Peter J. Croll, Direktor des BICC.

Das Programm gliederte sich in zwei Teile. Im Anschluss an eine allgemeine Einführung in die Thematik diente der erste Konferenztag unter der Überschrift »The Three Dimensions of International Migration. The Feasibility of Triple-Win?« der Identifizierung und Diskussion der jeweiligen Sicherheitsinteressen von Migranten sowie der Gesellschaften in den Herkunfts- und Aufnahmeländern.

In ihrem Impulsreferat zur Konferenz betonte Bundestagspräsidentin a.D. Prof. Rita Süßmuth, Vorsitzende der »EU Hochrangigen Beratergruppe (High Level Group) für Integration von benachteiligten ethnischen Minderheiten in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt« sowie Mitglied im Kuratorium des OECD Entwicklungszentrumprojekts »Bereicherung durch Migration«: „Die weltweite Migration ist keine Bedrohung, sondern ein bereichernder Tatbestand, wenn wir sie zum Vorteil aller Beteiligten gestalten. Migranten sind ein Teil der Lösung unserer nationalen und globalen Probleme.“

Auch Dr. Steffen Angenendt (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP) sprach sich nicht zuletzt angesichts demographischer Entwicklungen für eine Politik der »offenen Tür« aus.

Ebenfalls mit Blick auf die Entwicklung eines weltweiten Migrationsmanagements forderte die stellvertretende Generalsekretärin der International Organization for Migration (IOM), Frau Ndioro Ndiaye, die europäischen Regierungen zu mehr Politikkohärenz und einer verbesserten Abstimmung der für Migrationsthemen zuständigen Ministerien auf.

Im einzelnen konzentrierten sich die Diskussionen auf die Lebensbedingungen und Sicherheitsbedürfnisse afrikanischer Migranten in Europa, den Einfluss von Diaspora-Organisationen auf Konflikte und Friedensprozesse in den Herkunftsländern sowie die Auswirkungen von Diasporaaktivitäten auf die Sicherheitsinteressen der Aufnahmeländer.

Dabei stand wiederholt der von Dr. Claudia Aradau (The Open University, UK) und Dr. Fiona Adamson (University of London) angesprochene Aspekt der Gleichheit bzw. Ungleichheit im Vordergrund. Im modernen Nationalstaat beziehe sich »Sicherheit« vorrangig auf die eigenen Subjekte, so dass Migranten unter einer strukturell bedingten Ungleichbehandlung litten. Der Schaffung von Sicherheit, sei es in rechtlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht, müsse daher zunächst eine Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung von Migranten vorausgehen.

Mit Blick auf eine Stärkung transnationaler Diasporanetzwerke zur Förderung der Friedensarbeit in den Herkunftsländern wies auch Dr. Awil Mohamoud (African Diaspora Policy Centre, ADPC, Amsterdam) darauf hin, dass ein erfolgreiches und effektives Engagement dieser Gruppen eine Verbesserung der Lebensbedingungen und damit der sozialen Sicherheit vieler Migranten bzw. Diasporamitglieder voraussetze.

Am zweiten Tag der Veranstaltung wurde diese Diskussion dann praxisorientiert unter Einbeziehung von Vertretern staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen im Anschluss an den Vortrag von Andrea Warnecke (BICC) zu den wesentlichen Herausforderungen des »Security-Migration Nexus« sowie einer Einführung von Margit Fauser (Center on Migration, Citizenship and Development, COMCAD, Universität Bielefeld) zu den Akteuren des internationalen Migrationsmanagements erweitert.

An dem von Dimitria Clayton (MGFFI) moderierten »Stakeholder Panel« nahmen Andrea Riester von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Dr. Axel Kreienbrink vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Eugène Kandekwe vom MIDA-Programm der International Organization for Migration (IOM), Ababacar Seck vom Afrikanischen Dachverband NRW e.V., Mehari Taddele Maru von der African Rally for Peace and Development (ARPD) in Addis Abeba sowie Dr. Anne Hünnemeyer von der KfW Entwicklungsbank teil. Zentrale Punkte waren die unterschiedlichen Perspektiven, Rollen und Ansätze der jeweiligen Organisationen im Migrationsgeschehen sowie mögliche Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte.

Die Teilnehmer der Konferenz kamen aus zahlreichen afrikanischen und europäischen Ländern, darunter auch Melkamu Adisu, Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW), Äthiopien, Eugène Kandekwe, Migration for Development (MIDA), Ruanda, Dr. Tamer Afifi, United Nations University (UNU – EHS), Bonn sowie Boris Nieswand, Max Planck Institut für Sozialanthropologie, Halle.

Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

von Femke van Praagh und Kerstin Zimmer

Lange Zeit galt die Ukraine als eine tolerante multi-ethnische Gesellschaft, als eine Art Musterstaat im sonst von interethnischer Gewalt geprägten postsowjetischen Raum. In den vergangenen beiden Jahren häufen sich jedoch alarmierende Berichte über antisemitisch und rassistisch motivierte Straftaten. Die meisten Opfer sind Roma und Juden, jedoch nehmen Gewalttaten gegenüber Studierenden, Flüchtlingen und Migranten aus Asien und Afrika zu.

Im Folgenden zeigen wir zunächst die gesellschaftlichen Ursachen des aufflammenden Rassismus auf. Die anschließende Darstellung der aktuellen Lage gliedert sich in eine Charakterisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Angriffe sowie der Täter und Opfer. Schließlich beleuchten wir die politischen und gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen und bewerten deren Wirksamkeit.

Gesellschaftliche Bedingungen

Unter einer friedlichen gesellschaftlichen Oberfläche befindet sich ein Nährboden für rechte Gewalt. Seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 ist die Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine kontinuierlich angestiegen. Ostslawische Gruppen (Ukrainer, Russen, Weißrussen) werden gesellschaftlich toleriert, während »historische« Nachbarn und Minderheiten wie zum Beispiel Polen, Moldawier, Juden und Krimtataren auf geringere Akzeptanz stoßen.1 Gruppen, die keine »historischen« Wurzeln im Gebiet der heutigen Ukraine haben, werden offen abgelehnt. Dies gilt besonders für »neue« Minderheiten, d.h. Menschen aus Afrika oder Asien. Flüchtlinge und Asylsuchende werden zumeist als illegale Migranten und als Bedrohung der öffentlichen Wohlfahrt und Gesundheit wahrgenommen (ECRI 2008: 16). Einige Nationalitäten/Ethnien – wie Araber oder Tschetschenen – werden mit gewaltsamen Konflikten und Terrorismus in Verbindung gebracht und erfahren eine massive Ablehnung (Panina 2005b). Der Grad der Ablehnung ist der Tabelle 1 zu entnehmen, deren Grafik auf der Bogardus-Skala beruht.

Grad der interethnischen Toleranz Anteil der Bevölkerung mit dem entsprechenden Grad an Toleranz, %
1992 2002 2005
Toleranz 35.2 9.9 10.4
Intoleranz 25.2 16.0 14.8
Segregation
(verdeckte Form der Xenophobie)
33.3 48.1 49.5
Xenophobie
(offene Form)
6.3 27.0 25.2
Tabelle 1:
Grad der allgemeinen interethnischen Toleranz der Bevölkerung der Ukraine nach der Bogardus-Skala (Quelle: Panina 2005a)

Diese fremdenfeindlichen Einstellungen lassen sich durch das Zusammenwirken von Transformationsproblemen und der totalitären Vergangenheit erklären. Sztompka (1993) argumentiert mit einer »unechten Modernität« einer Gesellschaft, die im Sozialismus von oben modernisiert wurde und nur die äußeren Attribute, jedoch nicht die psychologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft aufweist. Außerdem hat die dreifache Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion zu einer wachsenden Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern geführt. Die daraus hervorgehende Verunsicherung und Perspektivlosigkeit, die durch soziale Anomie und Misstrauen verstärkt werden, bieten Mobilisierungspotenziale für Extremisten (Thieme 2007). Besonders ausgeprägt sind intolerante Haltungen bei sozial benachteiligten und arbeitslosen Jugendlichen (Zhdanova 2007). Typisch ist hier eine grundsätzliche Ablehnung von Modernisierung und Demokratie sowie ein Überhöhung der ukrainischen Nation. Diese Grundhaltung zieht die Suche nach Sündenböcken und »leichten Opfern« nach sich.

Rechte Gruppierungen

Die rechte Szene in der Ukraine ist ein buntes Gemisch aus Parteien, Bewegungen und informellen, zum Teil offen gewalttätigen Gruppen. Die organisatorischen und ideologischen Verbindungen und Trennlinien zwischen den Gruppierungen sind zumeist unklar. Viele Gruppen sind nicht eindeutig »nur« rechtsradikal, sondern vertreten auch linksextremistische Positionen, vor allem in sozialen und ökonomischen Fragen.

In der politisch-parlamentarischen Landschaft finden sich ukrainisch-nationalistische Gruppierungen, die sich mehr oder weniger offen fremdenfeindlich äußern. Sie propagieren, Migranten gefährdeten die Zukunft der Ukraine. Einige dieser Parteien oder führende Mitglieder waren bzw. sind Teil der Wahlblöcke von Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko und damit auch im Parlament vertreten. Dies zeigt, dass die Politik den Rechten nicht den Kampf ansagt, sondern sie im anhaltenden Wahlkampfdruck für sich mobilisiert und zum Teil sogar in Wahlbündnisse integriert. 2004 organisierte Viktor Janukowitsch offenbar Skinhead-Gruppen zur Einschüchterung politischer Gegner.

Am äußersten rechten Rand befindet sich die Partei »Freiheitsunion«, die offen gegen Russen und Juden hetzt. Ihre Jugendorganisation griff am 1. Mai 2007 in Charkow vietnamesische Migranten auf und übergab sie den zuständigen Behörden, welche die Abschiebung veranlassten (UCSJ 2007). Rassistische Demonstrationen, wie der »Marsch gegen illegale Migranten« im April 2007, werden meist offiziell genehmigt. Eine weitere Organisation ist die offen nationalsozialistische »Ukrainische Nationalistische Arbeiterpartei« (UNTP). Diese ist nicht als Partei zugelassen und unterhält enge Verbindungen zu gewalttätigen Gruppen wie Skinheads (Bruder 2007). Skinheads, welche nach Medien- und Polizeiberichten die hauptsächliche Tätergruppe bei rassistischen Überfällen sind, werden auch von anderen ultrarechten Parteien und Gruppierungen als Wählerpotential umworben. Nach offiziellen Angaben gibt es in der Ukraine 500 Personen, die sich selbst als Skinheads bezeichnen. Die Organisationsstrukturen sind unklar und eher schwach ausgeprägt. Sie treten eher in Form von Banden in Großstädten und wenig ideologisch organisiert auf. Einige der Gruppen sind international vernetzt, wie zum Beispiel die ukrainische Abteilung der internationalen »Blood & Honour Division«. Eine wichtige Position in der rechten Szene nehmen Musikgruppen mit rassistischen Liedtexten ein. Zudem sind die Trennlinien zwischen den gewalttätigen Skinheads und Teilen der Fußball-Hooligans schwer auszumachen. Skinhead-Gruppierungen organisieren regelmäßig öffentliche Demonstrationen und Konzerte, bei denen faschistische Parolen skandiert werden.

Rassismus gegenüber Migranten

Die Opfer von Übergriffen sind meistens sichtbare Minderheiten, wie z.B. Roma und als solche erkennbare Juden bzw. jüdische Einrichtungen, Menschen dunkler Hautfarbe, aber auch alternative Jugendliche. Zunehmend geraten »neue« Minderheiten, vor allem ausländische Studierende und Einwanderer, ins Visier der gewalttätigen Gruppen. Einwanderung ist für Ukraine zwar kein neues Phänomen, allerdings haben sich die Größenordnung und die Bedingungen seit dem Zerfall der Sowjetunion stark verändert. Zuvor kamen Migranten vorwiegend auf der Grundlage von Studien- und Arbeitsabkommen mit »sozialistischen Bruderstaaten« mit gesichertem Aufenthaltstatus und gefestigtem Einkommen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine änderte sich die Situation grundlegend. Die Zahl der aufgegriffenen irregulären Migranten stieg von 148 im Jahr 1991 auf 25.782 im Jahr 2006.2 Die tatsächliche Zahl der irregulär einreisenden Personen, die in der Regel auf dem Weg in die EU sind, dürfte viel höher liegen; die ukrainische Regierung geht von 35.000-50.000 jährlich aus (Cross-Border Cooperation/Söderköping Process 2007). Obwohl die Ukraine nicht Zielland dieser Migrationsbewegungen ist, sitzen viele Migranten in der Ukraine fest, da die EU-Außengrenze kaum zu überwinden ist. Ihr Leben am Rande der Gesellschaft in den Großstädten ist geprägt von prekären Aufenthalts- und ungünstigen Lebensbedingungen wie hoher Arbeitslosigkeit und Armut, schlechter medizinischer Versorgung, knappem baufälligen Wohnraum und geringen Bildungsmöglichkeiten. Die meisten Migranten stammen aus Russland und anderen GUS-Staaten. Die Zahl »neuer« Einwanderer, zu denen auch viele Flüchtlinge zählen, ist zwar noch verhältnismäßig gering, aber stark ansteigend. Anhand der Asylantragszahlen lässt sich erkennen, dass sie überwiegend aus Afghanistan, Indien, Pakistan, Russland (vor allem Tschetschenien), Bangladesch, Vietnam, China und Irak stammen.3

Auch Rassismus gegenüber diesen Migrantengruppen ist in der Ukraine kein neues Phänomen. Das US Bureau of Democracy, Human Rights and Labor wies bereits 1999 in seinem Bericht zur Menschenrechtslage in der Ukraine darauf hin, dass es häufig zu Bedrohungen von Minderheitengruppen und rassistischer Gewalt gegenüber Migranten aus Afrika und Asien kam (U.S. Department of State 2000). Auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz verzeichnet im Jahresbericht 2001 einen Anstieg rassistischer Personenkontrollen und Übergriffe auf Migranten und Flüchtlinge (ECRI 2002). Dies bestätigt auch der UNHCR, der seit dem Mord an einem ruandischen Flüchtling 2001 vermehrt Problemanzeigen aus Kiew und anderen Städten erhält (UNHCR 2007). Nach Angaben der IOM (International Organization for Migration) ist seit Dezember 2006 die Anzahl fremdenfeindlicher Überfälle stark angestiegen: Im Oktober 2006 wurde ein Flüchtling aus Nigeria durch Neonazis ermordet; 2007 wurden laut UNHCR allein in Kiew 17 rassistische Übergriffe bekannt (UNHCR 2008). Bereits in den ersten beiden Monaten 2008 kam es zu acht Übergriffen auf Migranten durch faschistoide Jugendliche, wovon einer tödlich endete. Offensichtlich ist auch, dass Flüchtlinge und andere sichtbare Minderheiten überproportional von Personenkontrollen betroffen sind: Folterungen und Misshandlungen im Gewahrsam der Polizei und durch Vollzugsbeamte kommen immer häufiger ans Licht der Öffentlichkeit (Amnesty 2007).

Aber nicht nur Flüchtlinge sind Opfer von Rassismus. Einige der 40.000 ausländischen Studierenden sind das Ziel tätlicher Angriffe. Fackelaufmärsche von Neonazis vor den Studierendenunterkünften und Drohungen führen dazu, dass viele Studierende sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Im April 2007 veröffentlichte das Bildungsministerium eine Pressemitteilung, in der es sich besorgt zeigte über Gewalttaten neo-faschistischer Gruppen und Skinheads gegenüber ausländischen Studierenden (ECRI 2008). Zudem kam es zu Überfällen auf Personen aus Diplomatenkreisen. Ein afro-amerikanischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft und der ägyptische Botschafter sind Opfer von Neonazigewalt geworden.

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wie der ukrainische Staat der Situation begegnet. Ukrainische und internationale Menschenrechtler und Experten sind sich einig, dass die Gesetzeslage unzureichend ist. Die Kritik internationaler Organisationen wurde bislang aber nur teilweise umgesetzt.

Probleme der Strafverfolgung

Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, politischer, religiöser oder anderer Überzeugungen, Geschlecht, ethnischer oder sozialer Herkunft, Besitz, Wohnort, sprachlicher oder anderer Eigenschaften gilt in der Ukraine nur für »Bürger« und nicht allgemein für alle Menschen. Die ukrainische Regierung spielt die Diskrepanz herunter und betont die „faktische Irrelevanz“ des Unterschieds (ECRI 2008: 8). Zudem fehlen gesetzliche Definitionen von »Diskriminierung« und »Rassismus«. Artikel 161 des Strafgesetzbuchs setzt sich mit der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes auseinander und bezieht das Diskriminierungsverbot ebenfalls nur auf »Bürger«. Eine Verurteilung nach diesem Artikel verlangt zudem, dass die rassistische Motivation der Tat eindeutig nachgewiesen wird. Aus diesem Grund wurde dieser Artikel bei Straftaten gegenüber Migranten (Körperverletzung, zum Teil mit Todesfolge) fast noch nie angewandt. Und in nur einem Fall (anti-semitischer Übergriff auf eine Synagoge im Jahr 2002) kam es zu einer Verurteilung des Täters, der allerdings vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Auch wenn Artikel 161 Strafgesetzbuch bei antisemitischen Zeitungen und Zeitschriften häufiger zur Einleitung eines Prozesses geführt hat (weil hier die „Absicht“ leichter nachweisbar ist), kam es auch hier bislang nur einmal zu einer Verurteilung. Eine eindeutige Gesetzesgrundlage für die Strafverfolgung rassistischer Publikationen fehlt bislang. Obwohl Artikel 46 des Informationsgesetzes und Artikel 3 des Gesetzes über Printmedien die Verbreitung von Informationen, die rassistische, ethnische oder religiöse Feindseligkeit schüren, Menschenrechte oder Freiheiten beeinträchtigen verbietet, erschweren Artikel 34 der ukrainischen Verfassung und Artikel 18 des Pressegesetzes eine strafrechtliche Verfolgung, da eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht erlaubt ist.

Ein weiteres Problem ist, dass nur wenige rassistisch motivierte Straftaten als solche angezeigt bzw. verfolgt werden. Die Miliz verbucht selbst viele davon unter „Rowdytum“ und leitet Strafverfahren nach dem entsprechenden Artikel 296 des Strafgesetzbuches ein. Die schlecht bezahlte ukrainische Miliz ist noch nicht wirklich reformiert, so dass sie noch sowjetische Züge trägt und sehr zentralistisch organisiert ist. Noch dazu haben die Opfer Angst, Straftaten anzuzeigen, da die Polizei oftmals selbst rassistisch handelt. Zwar hat die Miliz im Sommer 2007 den Skinheads den Kampf angesagt, aber die Einheiten, die in diesem Zuge geschaffen werden, sollen sich gleichzeitig mit Straftaten gegen und von Ausländern befassen. In den ukrainischen Medien findet dabei ein Aufrechnen statt – und es wird festgestellt, dass Ausländer häufiger Straftaten begehen, als dass sie Opfer von Gewalt werden. Dabei wird nicht nach Arten von Straftaten differenziert und auch nicht bedacht, dass viele Gewalttaten gegenüber Minderheiten nicht angezeigt werden. Hinzu kommt, dass ukrainische Politiker und Strafverfolgungsbehörden das Problem lange Zeit geleugnet haben. Schließlich trägt auch die offizielle Doktrin, die Ukraine sei ein multi-ethnischer und toleranter Staat dazu bei, die Augen zu verschließen. Weiterhin besteht das Problem, dass die Ukraine keine Vergangenheitsbewältigung betreibt, d.h. dass weder Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges – zum Teil in Kooperation mit deutschen und rumänischen Faschisten – geschahen, noch die stalinistischen Verbrechen aufgeklärt werden. Dies schafft eine problematische Grundlage für den Umgang mit rechter Gewalt.

Ansätze antirassistischer Maßnahmen in Staat und Gesellschaft

Konkretes gesellschaftlich-politisches Engagement gegen Rassismus wird von internationalen Organisationen dominiert und finanziert. Geldgeber für Aktionen in der Ukraine sind verschiedene Staaten wie Norwegen, Niederlande, USA, Kanada, England, Schweiz und die von George Soros finanzierte International Renaissance Foundation. Viele ukrainische NGOs haben ihre Wurzeln in der Menschenrechts- und Demokratiebewegung der Sowjetunion. Daher sind ihre Arbeitsschwerpunkte überwiegend Demokratisierungsprozesse, Rechtstaatlichkeit sowie Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte. Das Ausmaß von Rassismus in der Ukraine schätzen sie als eher gering ein. Nur eine NGO – SOS! Racism – hat sich dem Ziel verschrieben, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine mittels Öffentlichkeitsarbeit zu bekämpfen.

Rassismus wird in erster Linie von internationalen Organisationen als Problem wahrgenommen, während die ukrainische politische und intellektuelle Elite weiterhin das Bild einer toleranten Gesellschaft pflegt. Zudem haben die betroffenen Migranten keine Lobby, die auf die Lösung ihrer Probleme drängt. Dies sieht bei den neuerdings von rassistischen Übergriffen betroffenen Diplomaten anders aus: Nachdem auch diese Personengruppe Opfer von Attentaten wurde und auf anhaltendes Drängen der NGOs hat die Regierung Schritte unternommen, um das Problem Rassismus anzugehen. In verschiedenen Ministerien wurden während des Jahres 2007 auf oberster Ebene Sonderabteilungen eingerichtet bzw. Beauftragte eingesetzt, so im Innenministerium, im Außenministerium und beim Geheimdienst. Kritisch zu beobachten bleibt auch die erwähnte Formierung einer speziellen Einheit zur Bekämpfung von Skinheads und straffälligen Ausländern bei der ukrainischen Miliz. Die Verknüpfung dieser beiden Problemfelder mit dem Ziel, die nationale Sicherheit zu wahren und nicht an internationalem Image zu verlieren, ist eine bedenkliche Entwicklung.

Die Gegenmaßnahmen erwecken den Verdacht von Aktionismus, dessen Adressat nicht die ukrainische Gesellschaft sondern die internationale Gemeinschaft ist. Es bleibt abzuwarten, wie handlungsfähig und -willig die verschiedenen neuen Einheiten sind. Es besteht die Gefahr der Zersplitterung aufgrund einer ungenügenden Koordination zwischen den einzelnen Stellen. Zudem blieben bisher konkrete Maßnahmen und Aktionen aus, so dass sich die Frage nach der Zielrichtung und Effektivität stellt. Ohne ein gut koordiniertes, umfassendes Programm zur Bekämpfung von Rassismus auf gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene ist zu befürchten, dass die Ukraine das Problem Fremdenfeindlichkeit vorerst nicht in Griff bekommt.

Literatur

Amnesty International (2007): Jahresbericht 2007, Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2006, Ukraine, http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/44cc9b529851e45ac1256aa1004bb4c0/af443f7c9f6d6cddc12573010034c061?OpenDocument [download 06. Januar 2008]

Cross-Border Cooperation/Söderköping Process (2007): Migration Trends 2004-2006 Söderköping Process Countries, Kiew.

Bruder, Franziska (2007): Wahlen in der Ukraine. Eine neue rechtsradikale Partei tritt an. in: Der Rechte Rand Nr. 108, S.29.

ECRI (2002): Second Report on Ukraine, Adopted on 14 December 2001, CRI(2002)23, http://www.coe.int/t/e/human_rights/ecri/5-Archives/1-ECRI's_work/5-CBC_Second_reports/Ukraine_CBC2_en.pdf [download 29. Februar 2008]

ECRI (2008): European Commission against Racism and Intolerance. Third Report on Ukraine. Adopted on 29 June 2007, Strasbourg: ECRI.

Panina, Nataliya (2005a): Faktory natsional'noi identichnosti, tolerantnosti, ksenofobii i antisemitizma v sovremennoi Ukraine, in: Sotsiologiia: Teoriia, Metody, Marketing, Jg. 4, S.26-45.

Panina, Nataliya (2005b): Sotsiologicheskii monitoring. Ukrainskoe obshchestvo 1994-2005: God pereloma, Kyiv: Institute of Sociology, National Academy of Sciences.

Sztompka, Piotr (1993): Civilizational Incompetence: The Trap of Post-Communist Societies, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 22, Nr. 2, S.85-95.

Thieme, Tom (2007): Extremistische Parteien im postkommunistischen Osteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 43: 21-26.

UNHCR (2007): Ukraine: UNHCR concerned by rise in attacks on asylum seekers, refugees http://www.unhcr.org/news/NEWS/4669266f2.html, [download 29. Februar 2008]

UNHCR (2008): Concern over the murder of an asylum seeker in Ukraine, http://www.unhcr.org/news/NEWS/47a304432.html. [download 29. Februar 2008]

UCSJ (2007): Union of Councils for Jews in the Former Soviet Union: News. Antisemitism and Xenophobia in Ukraine, http://www.fsumonitor.com/. [download: 26. Januar 2008]

U.S. Department of State (2000): Ukraine: Country Reports on Human Rights Practices 1999 Released by the Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor; http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/1999/367.htm, [download 29. Februar 2008]

Zhdanova, Irina (2007): Reiting for ever? O molodoshi i tolerantnosti, real'nosti i virtual'nosti, Zerkalo Nedeli 15.-21. September.

Anmerkungen

1) Die Roma sind hier eine Ausnahme. Trotz ihrer jahrhundertelangen Präsenz werden sie ähnlich stark abgelehnt wie moslemische Minderheiten.

2) Hiervon wurde 18.173 MigrantInnen der Grenzübertritt in die Ukraine verwehrt. Ergänzend gab das Innenministerium 2006 bekannt, dass 8.264 irreguläre MigrantInnen im Landesinneren registriert wurden.

3) Cross-Border Cooperation / Söderköping Process: Asylums Seekers and Refugees http://soderkoping.org.ua/page12484.html?template=print; 29.02.2008.

Femke van Praagh, Diplom-Sozialpädagogin, studiert Friedens- und Konfliktforschung (Master) und arbeitet seit 2003 bei Pro Asyl Dr. Kerstin Zimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg

Hunderttausende auf der Flucht

Hunderttausende auf der Flucht

Hintergründe der Flüchtlingsströme im Tschad

von Martin Zint

Politisch gehört der Tschad zu Westafrika, geographisch liegt er im Herzen Afrikas und seine von den Kolonialherren gezogenen Grenzen zum ostafrikanischen Sudan und zur Zentralafrikanischen Republik scheinen nur auf Landkarten zu existieren. Die dort lebenden Menschen nehmen sie kaum wahr. Bewaffnete Gruppen überschreiten sie regelmäßig in jede Richtung. Zuletzt am 29. Januar 2008 als sich im Sudan ca. 3.000 Aufständische mit über 200 Pickups auf den Weg nach N'Djaména, der Hauptstadt des Tschad, machten, um den tschadischen Präsidenten Idriss Déby zu stürzen. Die folgenden Kämpfe kosteten mehrere hundert Menschenleben, verursachten enorme Sachschäden und endeten am 3. Februar 2008, so sagen die angreifenden Aufständischen, mit dem „Sieg der französischen Truppen“. Der despotische Präsident Déby ist weiter im Amt.

„Wenn Elefanten kämpfen, dann leidet das Gras“

afrikanisches Sprichwort

Auch Déby war 1990 mit seinen Kämpfern aus dem Sudan gekommen und hatte mit Waffengewalt die Macht über den Tschad erobert. Seitdem hält er sie fest, gegen alle inneren und äußeren Widerstände. Mehr noch, er weitet seine Macht ständig aus. Zielstrebig betrieb er die Ausbeutung der nicht unbedeutenden Ölvorkommen des Tschad. Nachdem die Franzosen an der Förderung nicht interessiert schienen, bewog Déby ein Konsortium aus zwei US-amerikanischen und einer malaysischen Firma (ExxonMobil, Chevron, Petronas) vier Milliarden US Dollar zu investieren. Seit 2003 fließt Öl durch die erste Pipeline aus Zentralafrika an die den USA zugewandte Westküste Afrikas. Trotz skandalös niedriger Lizenzgebühren spülte der hohe Ölpreis im Jahr 2007 über eine Milliarde US-Dollar in die von Déby kontrollierte Staatskasse. Schon von der ersten Zahlung des Konsortiums bei Baubeginn hatte der ehemalige Hubschrauberpilot seiner Armee drei Kampfhubschrauber spendiert. Deren Wracks rosten bereits seit langem im Wüstensand. Aber Dank der Petrodollar konnten weitere Flugzeuge und andere Waffen gekauft werden. Um das Ölgeld geht es letztlich auch bei den aktuellen Angriffen auf die Regierung Déby. Politische Forderungen der Aufständischen über die Abtretung von Macht hinaus sind nicht bekannt.

Parallel zur Ölförderung versuchte Déby auch die regionale Vorherrschaft zu erringen. Im März 2003 gelang es seinem Freund Francois Boizizé durch einen Putsch die Macht in der benachbarten Zentralafrikanischen Republik zu erringen. Die Vorbereitung dieses Putsches geschah in aller Ruhe auf tschadischem Territorium, von wo aus der Angriff dann auch gestartet wurde.

Auch der Nachbar im Osten sah sich mit Störmanövern aus dem Tschad konfrontiert. Idriss Déby gehört zur Volksgruppe der Zaghawa, die auf beiden Seite der Grenze Tschad/Sudan siedelt. Eine Miliz aus Angehörigen dieser Gruppe im Sudan versucht seit einigen Jahren die Unabhängigkeit des Darfur von Khartum zu erkämpfen. Der Präsident des Sudan, Ahmad al Bashir, vermutet, dass Déby seine Verwandtschaft kräftig unterstützt. Das entzweite die ehemals guten Freunde. Al Bashir nutzte bestehende Animositäten zwischen den Bevölkerungsgruppen der Region, um die ihm feindlich gesonnenen Milizen zu bekämpfen und gleich auch noch den Tschad zu destabilisieren. Von der Zentralregierung Sudans unterstützte Reitermilizen wüteten grausam unter der Zivilbevölkerung. Seit 2003 sind im Darfur 250.000 Menschen gestorben, über zwei Millionen Menschen mussten fliehen. Die Zahlen sind gigantisch, vor allem wenn man sie in Relation setzt zu der geringen Bevölkerungsdichte in der Region am Übergang von Wüste zur Savanne.

Die Lage im Osten des Tschad

Wer ins Nachbarland Tschad floh, etwa 240.000 Menschen bisher, kam vom Regen in die Traufe. Auch dort marodieren wilde Haufen Bewaffneter, die keinen Deut besser sind als die, vor denen die Menschen geflohen sind. Über die Region schreibt die hier tätige Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz): „…die natürlichen Ressourcen (sind nur) begrenzt verfügbar und teilweise erschöpft, es fehlt an Straßen, Schulen, Krankenstationen, Märkten, Wasserversorgung und anderer Infrastruktur. Der Staat trägt mit seinen Leistungen wenig zur Daseinsfürsorge bei. Die verarmte Bevölkerung selbst ist nur bedingt fähig, den sozialen und ökonomischen Wandel mit zu gestalten, geschweige denn aktiv und selbstbestimmt zu planen, zu organisieren oder gar zu finanzieren.“

Der Tschad ist ein Binnenland ohne nennenswerte Infrastruktur, wenn man mal von zwei Mobilfunknetzen absieht. Nicht einmal 1.000 Kilometer Asphaltstraße erschließen ein Staatsgebiet, das dreieinhalb Mal so groß ist wie Deutschland. Das macht die Versorgung der Flüchtlinge sehr schwierig, zumal die meisten im schwer zugänglichen Osten des Landes leben. Zu Beginn des Flüchtlingsdramas gab es Überlegungen, die Lager in anderen, besser erschlossenen Regionen anzulegen. Dieses Dilemma im Umgang mit Flüchtlingen ist bekannt. Man muss sie zunächst dort versorgen, wo sie gerade sind. Aber das birgt die Tendenz, sie dort festzuhalten, wo ihr langfristiger Aufenthalt schwierig ist. Außerdem wehren sich die Flüchtlinge gegen Maßnahmen, von denen sie meinen, sie würden ihren dauerhaften Aufenthalt vorbereiten. Als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in einem Lager Bäume pflanzen wollten, wurden sie schon 2003 von den Flüchtlingen mit Steinen beworfen und vertrieben. An Umzug ist da nicht zu denken.

Ein Großteil der Versorgung erfolgt auf dem Luftweg, in der dreimonatigen Regenzeit ist das der ausschließliche Weg zu den Lagern. Nach eigenen Angaben wurden 2007 durch die United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS) 26.352 Passagiere für über 70 humanitäre Organisationen transportiert. 1.500 ausländische Helfer kümmern sich um die Flüchtlinge allein im Osten des Tschad. Nur wenige Organisationen setzen einheimisches Personal ein. Die katholischen Hilfsorganisationen versuchen das, denn sie verfügen über die notwendigen Kontakte im Land. Vor allem, als in der Krisenlage Anfang Februar alle ausländischen Mitarbeiter evakuiert wurden, konnten sie ihre Arbeit aufrechterhalten. Aber auch die Beschäftigung von Einheimischen stößt an Grenzen. Es gibt im Tschad viel zu wenig qualifiziertes Personal. Die Analphabeten-Quote im Tschad liegt bei über 60%.

Gegenwärtig befinden sich über 240.000 Flüchtlinge aus dem Sudan in 12 Flüchtlingslagern im Osten des Tschad. Dazu kommen 50.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik in vier Lagern im Süden des Tschad. 29 Anlaufstellen haben etwa ca. 170.000 interne Vertriebene im Tschad aufgenommen.

Immerhin bekommen die Flüchtlinge im Osten unter dem Stichwort »Darfur« internationale Aufmerksamkeit. Bis Januar 2008 erbrachte der Aufruf an die Geberländer US$ 264 Millionen für die Tschad- Flüchtlingshilfe, das sind 97% der erbetenen Mittel. Das macht den Mittelaufruf zum Tschad zum weltweit erfolgreichsten in 2007. Aber während einige Bereiche sehr gut finanziert sind, fehlt es in anderen: Für Lebensmittel wurden 132% der benötigten Mittel zugesagt, 100% für Schutz und Non-Food items. Für Wasser und Gesundheitsprojekte gab es nur Zusagen von 45%, 12% für das Bildungswesen.

Ungleich schwieriger ist es, für die Flüchtlinge in anderen Regionen Mittel aufzutreiben, z.B. für die 50.000 Menschen, die aus der Zentralafrikanischen Republik in den Tschad geflohen sind und in Lagern im äußersten Süden leben. Unter anderem die deutsche Johanniter-Auslandhilfe versorgt die Menschen dort in vier Flüchtlingscamps mit lebensnotwendigen Basismaterialien. Das Projekt wird durch Mittel des Auswärtigen Amts ko-finanziert. Der UNHCR (UN Hochkommissar für Flüchtlinge) musste schon mehrfach nachdrücklich an das Schicksal dieser wenig beachteten Flüchtlinge erinnern, um wenigstens die absolut notwendigen Zusagen zu bekommen.

Für die Hilfsorganisationen ist die Kriminalität das größte Problem. Lohngelder und andere Barmittel können nur unter großen Sicherheitsvorkehrungen transportiert werden, Banken gibt es in der Region nicht. Und auch die Transportmittel selber sind in Gefahr. Die Entführung von Allrad-Pickups ist an der Tagesordnung. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation schätzt dass allein im letzten Vierteljahr 2007 an die 200 Pickups gestohlen wurden. Im wüstenhaften Osten des Tschad, aber auch auf den belebten Straßen der Hauptstadt. Bisher durften Fahrer und Fahrgäste noch immer aussteigen.

Aber spätestens seit der Affäre um die französische Organisation Arche de Zoe – sie wollte 103 angebliche Darfur-Waisen zu Pflegeeltern nach Frankreich ausfliegen – ist das Verhältnis von Einheimischen und Flüchtlingen zum Personal der Hilfsorganisationen sehr gespannt.

In den Flüchtlingslagern funktionieren die bisherigen sozialen Strukturen nicht mehr. Die Alten verlieren an Autorität und besonders Jugendliche sehen ihre einzige Perspektive in der Kriminalität. Waffen sind leicht zu bekommen und solange man nicht selbst ihr Opfer wird, bieten sie spontanen Machtzuwachs. Latente Konflikte entlang äußerer Merkmale wie ethnische Zugehörigkeit oder Sprache gewinnen dann schnell an Bedeutung. Söldnertum stellt zunehmend ein Problem dar. Die Grenzen zwischen politischen Gruppen schwinden, wenn »Kleinunternehmer« mit einem Gewehr als einzigem Geschäftskapital für 500 Euro am Tag mal für den einen und dann wieder für einen anderen kämpfen.

Der Tschad hat ca. 10 Millionen Einwohner. Nicht wenige dieser Bürger des Tschad leben dauerhaft unter Bedingungen, die Flüchtlingen nach internationalen Standards nicht zuzumuten sind. Zudem waren sie in den vergangenen Jahren verschiedenen Krisen ausgesetzt. Heuschrecken, Trockenheit und Vogelgrippe, nichts blieb ihnen erspart und alles hatte desaströse Folgen.

Auf Anregung des UNHCR wurde im Tschad eine »Nationale Kommission zum Beistand für Vertriebene/CNCAPD« gegründet. Das Arbeitsprogramm dieser Kommission, der zahlreiche Hilfswerke angehören, klingt viel versprechend. In 2008 und 2009 soll für über 90% der Flüchtlinge Zugang zu Schulbildung organisiert werden, das Verhältnis Jungen/Mädchen soll dabei 50/50 sein. Opfer von sexueller Gewalt bekommen juristische, medizinische und psychologische Unterstützung. Jeder Flüchtling soll mindestens 15 Liter Wasser pro Tag bekommen. Generell haben nur 42% der tschadischen Bevölkerung Zugang zu sauberem Wasser. Jeder Flüchtling soll Zugang zur einfachen medizinischen Grundversorgung bekommen, das genießen nur 9% der tschadischen Bevölkerung. Und das ist nur ein kleiner Auszug aus einer Liste, die die Tschader zum Träumen bringen könnte. Aber sie kennen ihr Land. Öldollar in Milliardenhöhe haben die Lage des Landes noch nicht einmal ansatzweise verbessert. Im Gegenteil, seit dem Beginn der Ölförderung sank der Tschad im Human Development Index von Platz 165 im Jahr 2003 auf 171 im Jahr 2006. Auch das ambitionierte Vorhaben CNCAPD wird voraussichtlich in Korruption und Misswirtschaft versinken. Aus Kreisen der beteiligten internationalen Hilfswerke ist schon zu hören, dass es an Transparenz bei der Verteilung von Finanzmitteln fehlt und sich die konkrete Arbeit schwierig gestaltet. Die Realität vor Ort ist jedenfalls weit von den Verheißungen entfernt.

Vertreter von Hilfsorganisationen sind zunehmend besorgt über den Ernährungsstatus von Neugeborenen und Kleinkindern, besonders im Westen des Tschad, besonders in der Region Kanem. Die Ursachen dafür sind die Armut der Menschen und unzureichende Ernten der Kleinbauern.

Eine von den Vereinten Nationen und ihren Partnern im November 2007 durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass nur 40% aller lokalen Haushalte für mehr als drei Monate mit Lebensmitteln versorgt sind. Unter den Vertriebenen können dagegen 95% nicht mehr als drei Monate mit den zur Verfügung stehenden Lebensmitteln auskommen. Als Gründe werden Mangel an bebaubarem Land genannt, Mangel an Saatgut und schlechte Wetterbedingungen. 2007 verteilte das Welternährungsprogramm 12.208 Tonnen Lebensmittel an mehr als 170.000 intern Vertriebene und Anwohner im östlichen Tschad.

Angesichts der schlechten Sicherheitslage und als Ergänzung der UN-Mission im sudanesischen Darfur wird gegenwärtig der Einsatz einer Truppe der EU vorbereitet. An der Operation nehmen 21 von 27 Länder der Europäischen Union teil: Frankreich, Irland, Belgien, Polen, Schweden, Österreich, Spanien, Italien, Portugal, Niederlande, Finnland, Griechenland, Slowenien, Rumänien, Ungarn, Litauen, Großbritannien, Deutschland, Tschechien, Slowakei und Zypern. Italien stellt ein Feldhospital, das in Abeché errichtet werden wird. Auch Österreich wird medizinisches Personal zur Verfügung stellen. Belgien beteiligt sich zusätzlich mit einer Transportmaschine und einem Flugzeug für Sanitätstransporte. Polen stellt zwei Transporthubschrauber für Sanitätsdienste. Frankreich liefert zusätzlich neun Transport-Hubschrauber und etwa 500 Soldatinnen und Soldaten für den Bereich Logistik.

Der EUFOR-Truppe sind laut der UNO-Resolution 1778 insbesondere folgende Aufgaben zugedacht: Schutz von Zivilpersonen, insbesondere von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage, um humanitäre Hilfsleistungen zu erleichtern, Schutz von Personal, Einrichtungen und Ausrüstung der UNO sowie Gewährleistung der Bewegungsfreiheit von UNO-Personal. Die zögerliche und wiederholt verschobene Stationierung einer EU Truppe im Osten des Tschad führt zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung bevor die Truppe überhaupt in Erscheinung tritt. Dazu trägt auch die unzulängliche Informationspolitik von EUFOR bei, die es versäumt, die direkt betroffene Bevölkerung über Ziele und Maßnahmen von EUFOR zu unterrichten. Der Zugang zu verlässlicher Information ist generell schwierig. Das verschärft die unsichere Lage zusätzlich. Verschiedene Rebellenbewegungen haben bereits angekündigt, die EUFOR-Truppen als Feinde anzusehen und sie zu bekämpfen.

Perspektiven

Um die Sicherheit für alle in der Region zu erhöhen, ist nach Ansicht von NRO-Vertretern vor allem eine wirksame Kontrolle der zirkulierenden Kleinwaffen sehr wichtig. Dabei könnte eine engere Verzahnung der Arbeit von humanitären Hilfsorganisationen und anderen NRO hilfreich sein. In der praktischen Zusammenarbeit vor Ort haben die Beteiligten festgestellt, dass es oft üble Folgen hat, wenn humanitäre Helfer Gemeinwesenarbeit betreiben oder Menschenrechtsorganisationen Lebensmittel verteilen. Also wenn sich die einen auf das Terrain der anderen begeben, ohne über die notwendigen Erfahrungen und Kompetenzen zu verfügen. Dabei können sich bei einer sinnvollen Abstimmung die Kompetenzen der zivilgesellschaftlichen Gruppen gut mit dem Know-how der Humanitären ergänzen. Insbesondere die im Tschad recht gut aufgestellten Menschenrechtsorganisationen oder der »Aufruf zu Frieden und Versöhnung /CSAPR«, dem 150 Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, könnten sehr gut die Kluft zwischen der Welt der Flüchtlinge und der sie umgebenden Gesellschaft überwinden helfen. Außerdem sollten unabhängige Medien gestärkt werden. Verlässliche Information ist in Krisensituationen so wichtig wie Wasser und ärztliche Hilfe.

Besser informiert werden sollte auch über den Einsatz der EU-Truppen mit UN-Mandat. Bisher herrscht noch große Unklarheit über Zeitpunkt, Ort und exaktes Mandat der erwarteten Truppen. CSAPR fordert insbesondere, dass diese Truppen nicht von den Franzosen dominiert werden und einen echten multilateralen Charakter haben. Außerdem sollte die Absicherung eines politischen Friedensprozesses zum Mandat der Truppen gehören. Ob es der UN/EU Truppe gelingt, zumindest im Tschad für den Schutz der Menschen zu sorgen, muss sich erst noch erweisen. Die Skepsis der Betroffenen gegenüber der angekündigten Truppe ist mindestens so groß wie ihre Hoffnung.

Seit Anfang Februar sind auch Tschader auf der Flucht. Nach dem anfangs erwähnten Angriff auf N'Djaména kam es am 1. und 2. Februar zu heftigen Kämpfen. Nachdem sich die Aufständischen aus der Hauptstadt zurückziehen mussten, nutzte Präsident Déby die Gelegenheit, um mit seinen Kritikern aufzuräumen. Soldaten durchkämmten Wohnviertel auf der Suche nach Rebellen und ihren Unterstützern. Etwa 30.000 Menschen flohen vor den Razzien und den damit verbundenen willkürlichen Erschießungen und Vergewaltigungen nach Kamerun.

Martin Zint, Journalist, beschäftigt sich seit 1996 mit dem Tschad/Kamerun Erdölprojekt. Er hielt sich bis Anfang Februar im Tschad auf.

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Wenn der Schutzraum zum Konfliktraum wird

von Leila Mousa

Flüchtlingslager entstehen, wo Flüchtlinge in größerer Zahl aus Angst vor Unterdrückung, Folter, systematischer Diskriminierung oder vor kriegerischen Auseinandersetzungen ihre Herkunftsländer verlassen und auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht eine internationale Grenze überschreiten. Der Artikel geht der Frage nach, welche Konflikte auftreten, wenn Flüchtlingslager zu dauerhaften Einrichtungen werden. Dazu werden verschiedene Flüchtlingssituationen weltweit vergleichend betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass für Flüchtlinge unter Lagerbedingungen Sicherheit, Menschenwürde und Entwicklung häufig nicht gewährleistet sind.

Flüchtlingslager sind Schutzräume höchst widersprüchlichen Charakters: Obgleich mit dem Label »temporär« versehen, werden 70% aller Flüchtlingssituationen zu einem permanenten Zustand, in dem Flüchtlingsgemeinschaften teilweise über Jahrzehnte in ihrem vermeintlichen Übergangsstatus verharren (Loescher & Milner, 2005). Der UNHCR schätzte Ende 2003 ihre Zahl – den Fall der Palästinenser ausgenommen – auf 38, mit einer betroffenen Flüchtlingsbevölkerung von etwa 6.2 Mio. (UNHCR, 2004). Nicht nur wird der »humanitäre« Raum der Lager von zahlreichen internationalen Organisationen versorgt, er ist auch einer Vielzahl von Akteuren und deren politischen und ökonomischen Interessen ausgesetzt. Da er für das Rückkehrrecht seiner Bewohner steht und eine direkte Verbindung zum Herkunftsland und -konflikt darstellt, verfügt er zudem über eine wichtige politische Dimension.

Die Handlungsorientierte Geographische Konfliktforschung bezweckt, verschiedene Akteure herauszuarbeiten, ihre Interessen und Strategien, die den Schutzraumcharakter bestimmen, aber auch gefährden, zu rekonstruieren und die geographischen Implikationen zu klären. Der Ansatz ermöglicht es, die Interessen innerhalb eines konfliktrelevanten Netzwerks zu veranschaulichen. Dabei rücken Akteure und ihr Handeln als die „zentralen Elemente der Interaktion im Konflikt“ (Reuber, 1999, S.4) in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Integration sozial- und politikwissenschaftlicher Teiltheorien in einen handlungstheoretischen Untersuchungsrahmen erlaubt es, Machtpotentiale der Akteure (Ressourcen, Strategien) sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Institutionen, »Spielregeln«) zu beleuchten. In einer konstruktivistischen Perspektive gelten dabei räumliche Bezüge oder Raumbilder als Ressourcen, die für politische oder andere Interessen strategisch eingesetzt werden können.

Methodisch basieren die Erkenntnisse dieses Ansatzes der Konfliktforschung im Wesentlichen auf Projektberichten und Problemanalysen von sowie Interviews mit Vertretern internationaler Nichtregierungsorganisationen (z.B. Human Rights Watch, Médecins Sans Frontières, International Crisis Group) und des UNHCR, die hinsichtlich globaler Flüchtlingserfahrungen in vergleichender Perspektive ausgewertet werden. Zudem wurden zur spezifischen Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon Feldforschungen durchgeführt. Im Folgenden werden einige mit diesem Ansatz gewonnene Hauptergebnisse dargestellt.

Vom Schutzraum zum Konfliktraum

Seit einigen Jahren sind Flüchtlingslager stark in eine Kritik geraten, die sich zu großen Teilen auf selbst produzierte Probleme bezieht. Das Image der Lager als Schutzraum konkurriert mit zahlreichen Negativimages: Schlachtfeld, Angriffsfläche, rechtsfreier Raum, Rückzugsraum, militärisches Trainingscamp, Nachschubzentrum, »Müllhalde des Krieges« …

Mit Lagern können zahlreiche Probleme auftreten, die den zivilen und humanitären Charakter konterkarieren und eine Gewährleistung der Schutzfunktionen in Frage stellen oder unmöglich machen: Angriffe von Seiten des Herkunftslandes, Militarisierung der Lager von innen, Rekrutierung und militärische Ausbildung von Flüchtlingen usw. Erfahrungen aus Ruanda, Kongo und Burundi in den 1990er Jahren, aber auch aus Südost- und Südasien haben gezeigt, dass Lager bereits nach kurzer Zeit destabilisierende Wirkung auf das Aufnahmeland oder die gesamte Region haben können.

Nach nur kurzer Zeit entwickelt sich in Flüchtlingslagern eine differenzierte gesellschaftliche Dynamik. Soziale und wirtschaftliche Aktivitäten entfalten sich, aber v.a. wird die kulturelle und politische Identität der Flüchtlinge zu einem tragenden Faktor. Räumliche Referenzen zum Herkunftsland bzw. der Herkunftsregion sind dabei häufig zu finden: Die Flüchtlinge halten nicht nur an alten räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen fest, sondern neigen zudem zur Bildung von ethnischen oder politischen Zusammenschlüssen (vgl. Brett & McCallin, 2001, S.68) und tragen ihre ethnische, religiöse oder politische Zugehörigkeit entsprechend nach außen. So sind Flüchtlingslager „einerseits materieller Ausdruck des internationalen Flüchtlingsregimes und andererseits segregierte Räume eines kulturell und politisch Anderen“ (Hyndman, 2000, S.88), und neben historischen und Zeitaspekten sind diese Faktoren bestimmend für die Beziehung zwischen den Flüchtlingen und ihrem jeweiligen Aufnahmeland.

Eine weitere Ursache dafür, dass Lager zu Konflikträumen werden, liegt in ihrem strategischen Potential. Hilfsorganisationen sowie Ressourcen sind dank einer veränderten Geberpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges heute umfangreicher denn je. Die Staaten als wichtigste Gebergruppe setzen ihre Mittel verstärkt im Bereich der humanitären Hilfe ein. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Akteure in den Lagern zugenommen. Zahlreiche Akteure versuchen, sich diese enormen Ressourcen, das daran gebundene Versorgungssystem, aber auch den Schutzstatus der Lager zunutze zu machen.

Akteure – Interessen – Impact

Militarisierung: Mit seinen »hilflosen Flüchtlingsmassen« und aufgrund seines zivilen Charakters bietet ein Lager das ideale Versteck (Rekrutierungsraum, Versorgungslager) für politisch-militärische Gruppierungen, die sich aus der Flüchtlingsgemeinschaft konstitutieren und dort von dem Schutzcharakter des Lagers und meist auch von der Unterstützung der Flüchtlingsbevölkerung profitieren. Laut Stedman und Tanner (2003) kommt es in etwa 15% der Flüchtlingskrisen zu einer Militarisierung der Flüchtlinge, „sei es mit dem Ziel der Rückkehr in das Herkunftsland, eines Regimewechsels oder des Aufbaus eines eigenen Staates“ (ebd., 2003, S.3, 6). In den 1970er und 1980er Jahren haben Flüchtlinge in Zentral- und Südafrika, am Horn von Afrika, in Südasien, Südostasien sowie in Zentralamerika gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer gekämpft (ebd., S.5). Die salvadorianischen Lager in Honduras und die palästinensischen Lager im Libanon zeigen, dass Flüchtlingslager selbst in einer feindlich gesonnenen Umgebung eine Zufluchtsstätte für militärische Gruppierungen bieten können (vgl. Terry, 2002, S.9).

Besonders anfällig für Rekrutierungsmechanismen sind permanente Flüchtlingssituationen, in denen Grundrechte nicht gewährleistet sind und wo aufgrund fehlenden politischen Willens keine Perspektiven für eine Verbesserung der Situation bestehen. Für die Flüchtlinge kann die Rekrutierung eine Option zur Verbesserung ihrer Lage darstellen. Oft bedeutet sie einen besseren Zugang zu Statussymbolen, zu Ressourcen und Dienstleistungen, aber auch Prestige oder die Erfüllung einer religiösen Pflicht. Im Unterschied dazu basiert der unfreiwillige Anschluss an eine militärische Gruppierung auf Einschüchterung, Schikane oder physischer Gewalt, in wenigen Fällen sogar auf der Entführung von Flüchtlingen (vgl. Mousa, 2005, S.61-62). Brett & McCallin (2001) stellen allerdings fest, dass die „Scheidelinie zwischen freiwilliger und erzwungener Teilnahme an Kampfhandlungen sehr ungenau und zweideutig“ ist (ebd., S.52), da die Flüchtlinge aufgrund ihrer ökonomischen, kulturellen oder sozialen Umstände indirekten Zwangsmechanismen unterliegen.

Patronage: Für das Aufnahmeland und die Geberländer sind die Versorgungsstrukturen ein ideales Mittel, in Form verdeckter politischer Patronage ihre eigenen Interessen zu verfolgen: In den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan spielten die pakistanischen Behörden eine wichtige Rolle in der gezielten Versorgung der politisch-militärischen Gruppierungen im Lager. Das gesamte Verteilungssystem wurde so strukturiert, dass es den Widerstand unterstützte (Terry, 2002). Auch die Vereinigten Staaten und Saudi Arabien sahen in den 1980er Jahren ihre Interessen in den Lagern vertreten; ihre Gelder flossen über die Flüchtlingslager indirekt zu den Gruppierungen, die die Lager als Operationsbasen gegen die Sowjetunion nutzten (Stedman & Tanner, 2003, S.5).

Machtstrukturen: Die Beteiligung politisch-militärischer Gruppierungen an der Versorgung und Verwaltung der Lager bietet ihnen Mittel und Wege zur Machtergreifung und -ausübung über die Bevölkerung. Dabei sind solche Gruppierungen entweder in einer Mittlerrolle zwischen humanitären Organisationen und Flüchtlingsbevölkerung aktiv oder aber stellen eigene Dienstleistungen zur Verfügung. Diese Position bringt ihnen einen massiven Machtgewinn über die abhängige Flüchtlingsbevölkerung und nicht selten etablieren sich klientelistische Strukturen und selektive Vergabemechanismen.

Humanitäre Organisationen greifen gerne zur Vereinfachung der Lagerverwaltung auf traditionelle Machtstrukturen wie z.B. Bürgermeister oder Ältestenräte zurück. Diese erhalten durch ihre Mittlerstellung offizielle Legitimation und Schlüsselpositionen in der Abwicklung der Hilfe. In den afhganischen Lagern in Pakistan profitierte vor allem die islamische Partei Hizb al islami von ihren Beziehungen zum pakistanischen Flüchtlingskommissar Sheikh Abdallah Khan. Klientelistische Vergabestrukturen, d.h. die Vergabe von Versorgungsgütern im Tausch gegen politische oder ideologische Unterstützung, konnten sich in diesem Kontext ausbreiten. In Ruanda führte die Übernahme der bestehenden Strukturen zur Ermächtigung einer Elite, von der man heute weiß, dass dieselbe Führung für den Genozid in Ruanda verantwortlich war.

Während sich in Ruanda daraufhin zahlreiche Helfer zurückzogen, versuchte der UNHCR in Pakistan den Einfluss alter Eliten einzudämmen, indem er Rationen direkt an Familienoberhäupter vergab. In den palästinensischen Lagern im Libanon stellen politische und religiöse Gruppierungen, die über eigene Ressourcen verfügen, bis heute hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung eine wichtige Konkurrenz zu den humanitären lokalen und internationalen Organisationen dar.

Übergriffe: Die Instrumentalisierung von Flüchtlingslagern, die Unterwanderung ihres humanitären und zivilen Charakters, provoziert vielfach grenzüberschreitende militärische Übergriffe von Gegnern aus dem Herkunftsland. Gleichermaßen können sie Ziel von Übergriffen der Armee oder bewaffneter Gruppen aus dem Aufnahmeland werden (vgl. Mtango, 1989, S.90). Angriffe aus dem Herkunftsland sind meist gegen die bewaffneten Oppositions- oder Rebellengruppen in den Lagern gerichtet, so z.B. die Angriffe Südafrikas in den 1970er und 1980er Jahren auf Flüchtlinge und Exilgruppen in den Anrainerstaaten oder israelische Übergriffe auf Lager in den Anrainerstaaten, allen voran im Libanon. Diese Grenzüberschreitung führt gewissermaßen zu einer Transnationalisierung des Konflikts; er wird dann „zwischen zwei Parteien eines Landes auf dem Boden eines anderen Landes ausgetragen“ (Mousa, 2005, S.67). Nicht selten ist dies Ursache einer aktiven Beteiligung des Aufnahmelandes an den kriegerischen Auseinandersetzungen.

Darüber hinaus stellt das Versorgungssystem einen offenen Markt mit regelmäßigem Zufluss an Ressourcen zur Verfügung. Dies führt zur Ermächtigung einiger Akteure und provoziert immer wieder Übergriffe auf die Lager (z.B. bei den ugandischen Lagern im Südsudan, den zairischen Lagern in Angola) oder auf Transportwege. In Zaire kam es zu Spannungen mit der lokalen Bevölkerung, weil die Flüchtlinge besser versorgt waren als die lokale Bevölkerung. Auch der dortige Staatschef Mobutu fand einen Weg, aus dem Hilfssystem Profit zu schlagen. Er drohte dem UNHCR, die humanitären Helfer zurückzuschicken, wenn er kein Geld mehr bekommen würde.

Und schließlich kommt es in den Lagern zwischen Angehörigen einer Flüchtlingspopulation oder unterschiedlicher Flüchtlingspopulationen immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen, bei denen es entweder um die Verteilung von Macht geht oder aber Konflikte aus dem Herkunftsland sich wiederspiegeln. In Kakuma (Kenia) brachte das Zusammenleben von Flüchtlingspopulationen aus zehn Ländern und 20 verschiedenen ethnischen Gruppierungen (u.a. ruandische Hutu und Tutsi, Amharas, Eritreer, Oromos; sudanesische Christen und somalische Muslime) regelmäßig Konflikte mit sich (vgl. Crisp, 2000, S.629). Auch im Libanon hat die Spaltung innerhalb der politischen Führung 1982 zu wiederholt auftretenden Phasen intensiver Machtkämpfe in den Lagern geführt. Auch heute kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen, welche die interne Spaltung in den besetzten Gebiete wiederspiegeln. Die Eskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen führte mehrfach zur Flucht von Flüchtlingen aus den Lagern.

Restriktion und Repression: Viele Länder greifen zu Restriktions- bzw. Repressionsmaßnahmen wie Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt (Libanon) oder der Bewegungsfreiheit (Kenia), um die Probleme einzudämmen oder die Flüchtlinge langfristig aus dem Land zu vertreiben. Dies geschieht auch, wenn die finanzielle Belastung für das Aufnahmeland zu groß wird oder die Flüchtlingslager wegen ihrer internen Sicherheits- oder Rechtsprobleme (Gewalt, Kriminalität, Prostitution) als rechtsfreie Räume wahrgenommen werden.

Abschließende Überlegungen

Die palästinensischen Flüchtlingslager »feiern« dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Über diesen Zeitraum haben zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedliche Formen der Instrumentalisierung des Schutzraums Lager für verschiedene Akteursinteressen stattgefunden: Bewaffnete Konflikte, wiederholte Vertreibung, innerpalästinensische Spaltungen, harsche Restriktionen des libanesischen Staates und ausgeprägte Armut haben diese Flüchtlingsgemeinschaft geprägt und tun dies noch immer. In welchem Grad welche Formen von Konflikten in und um die Lager herum auftreten, unterliegt jedoch zeit-räumlichen Veränderungen, d.h. jede Flüchtlingssituation bringt ihre eigenen Probleme mit sich.

Wie auch immer die Situation aussieht, letztlich leidet in der Regel die Flüchtlingsgemeinschaft selbst am meisten unter den Auswirkungen und ist nicht nur in humanitärer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich ihrer Menschenrechte sowie der sozioökonomischen Entwicklung depriviert. Die Lager sind somit nicht nur ein Ort der Zuflucht, sondern auch ein Ort der Armut. Unter diesen Bedingungen stellen Versuche illegaler Migration, eine starke Informalisierung der Organisations- und Versorgungsstrukturen, eine eigene (billigere) Ökonomie im Lager, aber auch die Bildung klientelistischer Strukturen und militärische Rekrutierung wichtige Überlebensstrategien dar. Eine enorme Außenabhängigkeit bedeutet zudem nicht nur eine extreme Belastung für die Flüchtlinge, sondern gleichermaßen für die internationale Gemeinschaft, die Jahr für Jahr Resourcen zur Verfügung stellt, um das Überleben dieser verwundbaren Gruppe zu garantieren. Unter solchen Umständen gibt es für Flüchtlinge weder Sicherheit noch Menschenwürde noch Entwicklung.

Literatur

Brett, Rachel/McCallin, Margaret (2001): Kinder – Die unsichtbaren Soldaten. Save the Children Sweden [Book on Demand].

Crisp, Jeff (2000): A State of insecurity: The political economy of violence in Kenya's refugee camp. African Affairs, 99, S.601-632.

Hyndman, Jennifer (2000): Managing displacement: The politics of humanitarianism. Minneapolis.

Loescher, Gil/Milner, James (2005): Protracted refugee situations: Domestic and international security implications. Oxford.

Mousa, Leila (2005): Flüchtlingslager als Spielball politischer Interessen. Eine Geographische Konfliktforschung am Beispiel der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Heidelberg.

Mtango, Elly-Elikunda (1989): Military and armed attacks on refugee camps, in: G. Loescher/L. Monahan (Eds.): Refugees and international relations (S.87-121). Oxford.

Reuber, Paul (1999): Raumbezogene politische Konflikte: Geographische Konfliktforschung am Beispiel von Gemeindegebietsreformen. Stuttgart.

Stedman, Stephen John/Tanner, Fred (Eds.) (2003): Refugee manipulation: War, politics, and the abuse of human suffering. Washington.

Terry, Fiona (2002): Condemned to repeat? The paradox of humanitarian action. Cornwell.

UNHCR (2004): Protracted refugee situations. UN Doc. EC/54/SC/CRP.14. Refugee Survery Quarterly, 24, S.150-161 (verfügbar unter: http://www.unhcr.org).

Leila Mousa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im DFG-Projekt »Urban Governance in humanitären Schutzräumen – die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon« am Geographischen Institut der Universität Heidelberg.