Die Würde des Menschen in schwierigen Zeiten

Die Würde des Menschen in schwierigen Zeiten

von Wolfgang Uellenberg van Dawen

Das Versagen des Rechtsstaates in der Neujahrsnacht in Köln und anderen Städten führte zu vielfältigen Reaktionen und zu einer kontroversen Debatte, die ein erhellendes und zugleich erschreckendes Schlaglicht auf den Zustand unseres Gemeinwesens wirft. Für Rechtspopulisten und Rassisten sind die kriminellen Übergriffe auf Frauen nichts anderes als die Bestätigung sämtlicher Vorurteile und Feindbilder gegenüber Migranten, und die rechtspopulistische und unterschwellig rassistische »Alternative für Deutschland« (AfD) profitiert gemäß den Meinungsumfragen davon.

Der überwiegende Teil der Medien und der Politik richtet den Fokus nicht in erster Linie auf die von sexualisierter Gewalt verstörten und traumatisierten Opfer, sondern vornehmlich auf die vermuteten Täter. Es waren, daran bestehen kaum Zweifel, vor allem junge Migranten aus den Ländern des Maghreb, aber auch solche anderer Herkunft. Fest steht bisher ebenfalls, dass es überwiegend keine Flüchtlinge waren. Dennoch reagierten Koalitionspolitiker, allen voran solche der CSU, sofort mit Forderungen nach Verschärfung des Aufenthaltsrechtes und nach rascher Abschiebung, unabhängig davon, ob dies rechtlich und faktisch überhaupt möglich ist.

Die differenzierte Analyse der Ursachen massenhafter sexueller Übergriffe steht ebenso noch am Anfang wie die Diskussion über ein zielführendes und angemessenes Handeln – in erster Linie im Interesse der Opfer, aber ebenso der Migrant/innen und Geflüchteten, die nun Angst haben, pauschal verdächtigt und diskriminiert zu werden. Vereinfachungen und Schuldzuweisungen werden am Ende kein einziges Problem lösen, es besteht aber die Gefahr, dass die Angst vor »den Fremden« wächst und viele verunsicherte, bisher hilfsbereite und für die Flüchtenden Empathie empfindende Menschen sich nun zurückziehen oder gar in den Chor der Hardliner einstimmen.

Die Würde des Menschen gerade in diesen schwierigen Zeiten zu wahren ist eine Herausforderung, der sich alle stellen müssen, die für eine humane Flüchtlings- und Einwanderungsgesellschaft und für die Wahrung einer menschenrechtlich orientierten Politik eintreten. In erster Linie geht es hier um die Würde der Frauen. Wer hilft den Opfern? Wer begleitet sie bei ihren Aussagen vor den Ermittlungsbehörden? Und wie sollen die Täter identifiziert werden? Fragen über Fragen …

Das Sexualstrafrecht ist bei weitem nicht so eindeutig formuliert, dass jeder Übergriff überhaupt als Sexualdelikt verfolgt wird. Überfällig ist also eine Reform des Sexualstrafrechts mit der Maßgabe, dass ein »Nein« der Frauen genau das ist: ein »Nein«, und wenn es nicht akzeptiert wird, dies eine Straftat ist. Ob es nun zu einer Beschleunigung der Reform kommt, bleibt abzuwarten. Sie darf aber nicht auf die lange Bank geschoben oder verwässert werden. Darum muss auf die Übergriffe in der Neujahrsnacht die längst überfällige Debatte über den alltäglichen Sexismus geführt werden. Dies ist keine Relativierung der konkreten Übergriffe oder gar eine Entschuldigung für die Täter, sondern ein Aufruf, für die Würde der Frau einzutreten.

Patriarchalische Frauenbilder und die Reduzierung der Frau auf ein Objekt männlicher Dominanz sind, egal wo wir ihnen begegnen, als solche zu benennen. Vergessen wir nicht, dass sie in fast allen Religionen zu finden sind und auch in unserer Gesellschaft lange dominierten. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde den Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch noch die Rolle der Hausfrau in der Ehe zugewiesen, und die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit einigen Jahren strafbar. Der erreichte Fortschritt darf aber eben nicht nur für die einheimischen, sondern muss für alle Frauen gelten.

Die Debatte muss konkret geführt werden und Folgen haben, sonst bleibt sie oberflächlich und scheinheilig. Die öffentliche Empörung richtet sich derzeit auf Täter mit Migrationshintergrund, aber wer schützt die Migrantinnen vor Ausbeutung und Demütigung nicht nur in den Familien, sondern auch in der Mehrheitsgesellschaft und in der Arbeitswelt? Wie hart gehen denn die Behörden gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution vor, in Köln und anderswo? Wie hart werden Bordellbesitzer und ihre Hintermänner verfolgt, und warum nehmen Boulevardblätter immer noch Werbeanzeigen auf, in denen die Ware Frau vermarktet wird? Wo bleibt eigentlich die Reaktion der Verantwortlichen der »fünften Jahreszeit« in der »Hauptstadt des Frohsinns«? Denn während die ganze Stadt sich empört, feiert sie Karneval wie gewohnt – und das heißt mit deutlich sexistischer Schlagseite. Dringend überprüft und verändert werden muss das Sicherheitskonzept, und dazu gehört Transparenz über mögliche Gefahren. Denn wo es für Frauen – und nicht nur für sie – in den Städten gefährlich ist, ist doch meist bekannt.

Aber Aufklärung alleine genügt nicht: No-go-Areas darf es in unserem Land nicht geben, und zur Verhinderung bedarf es nicht nur der Prävention und Ursachenbekämpfung, sondern auch des Schutzes vor Ort. Statt enge Ordnungspartnerschaften zwischen Stadt, Polizei und Sicherheitsdiensten zu knüpfen, wurde immer mehr Personal abgebaut. Was nützen die stattdessen fast flächendeckend installierten Videokameras? In der konkreten Situation nichts! Angesichts des Versagens der Polizeibehörden in Köln und anderswo fordern nun viele einen starken Staat. Sicherheit, ob durch Prävention oder durch Repression, kann es aber nicht zum Nulltarif geben und nicht mit einer Schwarzen Null im Haushalt als Ziel.

Die schwierigste Diskussion dreht sich wohl um die Bewertung der Täter. Leicht machen es sich die Vereinfacher auf beiden Seiten: Rechtspopulisten und so genannte besorgte Bürger bis weit in die Mitte der Gesellschaft zeigen auf das Aussehen, die Herkunft und die Religion der Täter und reproduzieren damit tief verwurzelte, rassistisch geprägte Weltbilder. Eine Karikatur in der Süddeutschen Zeitung vom 9.1.2016, die eine schwarze Männerhand zeigt, welche eine weiße Frau sexuell belästigt, legt offen, welche Urängste vor dem »schwarzen Mann« selbst in einer liberalen Zeitung zum Vorschein kommen.

Differenzierende Aussagen der Sozialwissenschaft zu autoritären Strukturen, sozialen Verwerfungen und überkommenen Rollenbildern scheinen zu erklären, warum junge Männer zu sexualisierter Gewalt neigen. Daraus können dennoch nicht die konkreten Taten abgeleitet werden. Es ist unmöglich und eine falsche Verallgemeinerung, wenn aus kulturellen Traditionen auf eine bestimmte Gewaltbereitschaft geschlossen wird. Ebensowenig zielführend wäre es, auf jede sozialkulturelle Einordnung zu verzichten und die Kritik an einem religiös hergeleiteten und anerzogenen patriarchalischen Frauenbild als Rassismus zu verurteilen.

Einfache Erklärungen gibt es nicht, und darum bedarf es einer offenen und von Sachkunde bestimmten Debatte, die zu Konsequenzen führen muss. Dazu gehört, mit einer klaren Haltung und mit Nachdruck solchen Menschen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – entgegenzutreten, die die Regeln des Zusammenlebens nicht akzeptieren. Sexualisierte Gewalt und andere Formen der Kriminalität dürfen nicht toleriert, sondern müssen nach Recht und Gesetz bestraft werden.

Es ist aber eine völlige Illusion zu glauben, es reiche zur Integration aus, wenn eine »Leitkultur« verordnet, das Grundgesetz als Pflichtkanon gepredigt und mit erhobenem Zeigefinger die moderne deutsche Geschlechterrolle eingefordert wird. Integration muss gelebt werden, und gerade hier ist in den letzten Jahren trotz vieler Erfolge viel zu wenig geschehen. Viel zu gering sind die Aufwendungen für eine präventive und konsequente Sozialarbeit. Es fehlen Sozialarbeiter/innen an den Schulen und Streetworker auf den Straßen. Seit mindestens drei Jahren weiß das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen beispielsweise um die Gefährdung junger Männer, etwa aus Marokko, die in die Kriminalität abzugleiten drohen. Wie wurde reagiert, abgesehen von einem sinnvollen Präventionsprojekt der AWO Köln in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium? Viel mehr solcher Projekte – und nicht nur Projekte, sondern nachhaltige Integrationsmaßnahmen – hätten stattfinden müssen.

Dies gilt erst recht für die soziale Integration. Noch immer sind es vor allem Migrantinnen und Migranten, die von Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeit betroffen sind. Noch immer werden sie bei der Bewerbung um gute Arbeit und qualifizierte Ausbildung diskriminiert. Noch immer sind die Bildungssysteme und die Curricula nicht auf unterschiedliche Herkunftssprachen ausgerichtet. Seit diesem Jahr verweigert Nordrhein-Westfalen aus finanziellen Gründen über 18-jährigen Migranten und Geflüchteten den Zugang zu den Berufskollegs, um dort einen Hauptschulabschluss zu machen. Ein Skandal, den die Landesregierung aussitzen will.

Anerkennung ihrer eigenen Sprache und Kultur, aber ebenso Anerkennung und Wertschätzung ihres Lebens in Deutschland wird den Migrantinnen und Migranten viel zu selten zuteil und bleibt oft auf bloße Bekenntnisse beschränkt. Integration ist eine Herausforderung voller Mühen und muss oft auf beiden Seiten große Unterschiede überwinden, ist die Anstrengung aber wert. Allerdings kann Integration nur dann gelingen, wenn die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, die in vielen Städten immer unübersehbarer wird und vor allem Menschen mit Migrationshintergrund ausgrenzt, überwunden wird. Diese Spaltung der Gesellschaft in einem reichen Land fördert Konkurrenzen zwischen Einheimischen und Migranten, insbesondere Geflüchteten, um bezahlbaren Wohnraum, um Plätze in Kitas und Schulen, um Ausbildung und gute Arbeit. Meist fordern jedoch nicht diejenigen, die sich in engen Verhältnissen einrichten müssen, die Ausgrenzung, sondern diejenigen, die auf der gesellschaftlichen Pyramide weiter oben stehen. Es sind ihre Vorurteile und ihre Ängste, etwas abgeben zu müssen zugunsten eines handlungsfähigen Staates, um die Folgen der von den Eliten unserer Gesellschaft so oft beschworenen Globalisierung sozial gerecht zu bewältigen, die den Weg in eine integrative Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben blockieren.

Dr. Wolfgang Uellenberg van Dawen, Historiker, war bis 2014 Leiter des Bereichs Politik und Planung der ver.di Bundesverwaltung in Berlin und engagiert sich für eine humane Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik in Köln.

Burden-Sharing

Burden-Sharing

Wie und weshalb die EU die türkische Flüchtlingspolitik unterstützt

von Michelle Kerndl-Özcan

Die Europäische Union hat ihre Unterstützung der türkischen Flüchtlingspolitik und des Aufbaus eines funktionierenden Asylsystems in der Türkei im letzten Jahrzehnt sukzessive erweitert. Dabei leistet sie insbesondere finanzielle und technische Hilfe, während sie sich kaum an UNHCR-Umsiedlungsprogrammen aus der Türkei beteiligt. Dieser Beitrag hinterfragt die Motivationen dieses Engagements und setzt das geleistete Burden-Sharing in Zusammenhang mit den breiteren Zielen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik.

In den letzten Jahren hat sich eine entscheidende Veränderung der Migrationsrouten in die Europäische Union vollzogen. Während noch vor zehn Jahren die meisten Flüchtlinge über die Mittelmeeranrainerstaaten Italien und Spanien in die EU gelangten, fanden 2010 über 80% aller irregulären Eintritte in der türkisch-griechischen Grenzregion Evros statt (vgl. McDonough/Tsourdi 2012, S.1). Das türkische Asylsystem wird von einer richtungsweisenden Besonderheit bestimmt: Es wird nur Flüchtlingen Asyl gewährt, die aufgrund von Geschehnissen in Europa geflohen sind. Nicht-europäische Flüchtlinge, die vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und den zuständigen türkischen Behörden als politische Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden, dürfen nur so lange in der Türkei bleiben, bis sie durch das UNHCR in einen Drittstaat umgesiedelt werden (vgl. Tokuzlu 2010, S.11). Aufgrund langer Wartezeiten bis zu einer Umsiedlung, einer strikten Residenzpflicht und schlechten Lebensbedingungen während des Aufenthalts (siehe hierzu Kaya 2009, S.5f.) sind die meisten Flüchtlinge in der Türkei »irregulär«. So wurden alleine im Jahr 2009 146.337 irreguläre Migrant_innen an der türkisch-griechischen Grenze festgenommen, während sich im selben Jahr lediglich 7.834 beim UNHCR um politisches Asyl bewarben (Edsbäcker 2011, S.22f.). Die Statistik verdeutlicht weiter, dass die allermeisten Flüchtlinge die Türkei lediglich als Transitstaat auf ihrer Flucht in die EU nutzen.

Parallel zum schrittweisen Abbau der Innengrenzen im Raum der EU gewann die Sicherung der Außengrenzen zunehmend an Bedeutung. So stilisieren die bisherigen Ansätze zur gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik, wie die Schengener Abkommen sowie die Verträge von Maastricht und Amsterdam, Flüchtlinge in erster Linie als Sicherheitsbedrohung und fokussieren auf Maßnahmen zur Kontrolle der irregulären Migration in das Gebiet der EU. Diese reichen von restriktiven Visabestimmungen und Sanktionen gegen Transportunternehmen über militärische Kontrollen der EU-Außengrenzen bis hin zur Kooperation mit Drittstaaten wie der Türkei (vgl. Hurwitz 2009, S.1f.).

Finanzielles und technisches Burden-Sharing

Der Politikwissenschaftler James Milner definiert internationales Burden-Sharing bzw. Lastenausgleich als einen Mechanismus, mittels dem die vielseitigen Kosten der staatlichen Aufnahme von Flüchtlingen in einer gerechteren Weise zwischen Staaten verteilt werden (Milner 2005, S.56). Oft wird zwischen finanziellem, technischem und physischem Burden-Sharing unterschieden (vgl. bspw. Hurwitz 2009, S.146).

Finanzielles Burden-Sharing der Türkei durch die EU findet auf drei Ebenen statt:

  • Erstens spielt die EU eine entscheidende Rolle in der Bereitstellung finanzieller Mittel für das UNHCR Türkei, dessen Budget 2012 32,3 Mio. US$ betrug (UNHCR 2013).
  • Zweitens erhält die Türkei Unterstützung aus dem regionalen EU-Programm AENEAS, welches Drittstaaten finanzielle und technische Hilfe in den Bereichen Migration und Asyl gewährt (vgl. Europäische Kommission 2008, S.62).
  • Schließlich erhält die Türkei als EU-Beitrittskandidatin seit 2001 Unterstützung im Rahmen der »Pre-Accession Financial Assistance Programs« der EU, welche 2007 durch das »Instrument for Pre-Accession Assistance« ersetzt wurden.

Das Gros der EU-Unterstützung fließt dabei an Projekte zum Aufbau eines Asylinformationssystems sowie zur Ausbildung von Grenzschutzbehörden (vgl. Delegation of the European Union to Turkey 2007, S.18).

Im Rahmen des technischen Burden-Sharing engagiert sich die EU vorrangig in zwei Bereichen:

  • Da ist zum einen die Kooperation mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Seit der Gründung 2004 wurde die Zusammenarbeit von Frontex und den türkischen Behörden an der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze sukzessive ausgebaut. Am 28.1.2013 unterzeichneten beide Seiten eine gemeinsame Vereinbarung zur weiteren Vertiefung der Kooperation (vgl. Frontex 2013).
  • Zum anderen gibt es so genannte Twinning-Projekte zur Unterstützung von Beitrittskandidaten. Exemplarisch sei ein Projekt von 2007 genannt, welches die EU mit 15 Mio. Euro unterstützte. Hier wurden unter anderem zwei Abschiebelager für irreguläre Migrant_innen errichtet (Europäische Kommission 2007). Es folgten mehrere Twinning-Projekte zur Einrichtung eines Asylinformationssystems, zur Beratung der Legislative sowie zum Ausbau von Institutionen zur Bekämpfung irregulärer Migration.

Die ausgeprägte finanzielle und technische Unterstützung der Türkei durch die EU dient dabei in erster Linie als Instrument zur Verfolgung des sicherheitspolitisch definierten Ziels, die Zahl der Flüchtlinge zu minimieren. Dieses Ziel soll durch den Abschluss eines Rückübernahmeabkommens sowie eine stärkere Grenzsicherheit erreicht werden.

Die Bedeutung eines Rückübernahmeabkommens

Laut Rat der EU sollen Rückübernahmeabkommen bevorzugt mit Staaten angestrebt werden, durch die viele Flüchtlinge in die EU migrieren und die in geografischer Nähe der EU liegen (Tokuzlu 2010, S.7). Da die Türkei beide Kriterien erfüllt, wurde der Abschluss eines Abkommens von der EU seit langem mit hoher Priorität betrieben. Seit 2005 fanden Verhandlungen statt, auf deren Grundlage türkische Staatsbürger_innen sowie irreguläre Migrant_innen, die über die Türkei in die EU einreisen, in einem Schnellverfahren in die Türkei zurückgeführt werden können. Im Gegenzug verspricht die EU türkischen Staatsbürger_innen schrittweise Visaerleichterungen. Die türkische Regierung weigerte sich lange, der EU-Forderung nach Aufnahme von Drittstaatsangehörigen nachzukommen, da sie befürchtet, dass ein solches Abkommen die drastisch gestiegene Zahl an internationalen Flüchtlingen in der Türkei weiter erhöhen und die Türkei eine Art »Pufferzone« oder gar ein »dumping ground« für in der EU unerwünschte Flüchtlinge werden könnte (Kirisci 2012, S.75). Die EU war und ist bemüht, derartige Zweifel durch intensives Engagement im Burden-Sharing auszugleichen.

Nach erheblichem Druck der EU wurde im Juni 2012 ein bilaterales Rückübernahmeabkommen paraphiert, welches am 16.12.2013 durch EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström sowie den türkischen Innenminister Muammer Güler unterzeichnet wurde. Allerdings hängt die Umsetzung des Abkommens noch von der Ratifizierung des Rates der EU, des Europäischen Parlaments sowie des türkischen Parlaments ab. Der Inhalt des Abkommens berücksichtigt die Bedenken der Türkei: Während diese eingewilligt hat, eigene Staatsbürger_innen aufzunehmen, sollen Angehörige von Drittstaaten erst drei Jahre nach Ratifizierung in die Türkei zurückgeschoben werden können (vgl. Europäische Kommission 2013).

Bisher hatte die Türkei lediglich ein Rückübernahmeabkommen mit dem EU-Mitgliedstaat Griechenland abgeschlossen. Durch das Abkommen erhofften sich griechische Entscheidungsträger sowohl weniger Flüchtlinge im eigenen Land durch Abschiebungen in die Türkei als auch die Abschreckung von Flüchtlingen vor irregulären Übertritten der türkisch-griechischen Land- und Seegrenzen. Allerdings führte die Implementierung des Abkommens seit 2001 nicht zu den angestrebten Ergebnissen. Von 65.300 Flüchtlingen, die Griechenland zwischen 2002 und 2010 in die Türkei zurückschieben wollte, nahm die Türkei lediglich 2.425 Menschen auf (Icduygu 2011, S.7). Gründe für die beschränkte Umsetzung sind – neben den traditionell angespannten bilateralen Beziehungen – Schwächen des finanziellen Lastenteilungsmechanismus sowie das Fehlen einer gemeinsamen Datenbank, auf deren Grundlage nachgewiesen werden könnte, welche Flüchtlinge über die Türkei eingereist sind (vgl. Cramer-Hadjidinos 2011, S.66). Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die intensiven Bemühungen der EU zum Aufbau eines türkischen Asylinformationssystems, welches schließlich in die europäische Datenbank »Schengen Informationssystem« (SIS) integriert werden könnte, aus den Negativerfahrungen des türkisch-griechischen Rückübernahmeabkommens resultieren.

Daneben fordert die EU die Aufhebung des oben erwähnten geografischen Vorbehalts. Die EU-Asylverfahrensrichtlinie konstatiert, dass Flüchtlinge nur in einen Drittstaat abgeschoben werden können, in dem die Möglichkeit besteht, als politischer Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden. Die Türkei gilt daher nicht als sicherer Drittstaat. Obgleich das türkische Asylsystem weitere menschen- und flüchtlingsrechtspolitische Defizite aufweist, ist davon auszugehen, dass die Türkei nach der Aufhebung des geografischen Vorbehalts als sicherer Drittstaat anerkannt würde (vgl. Tokuzlu 2010, S.15). Folglich macht das jüngst unterzeichnete Rückübernahmeabkommen die Einführung von Visaerleichterung für türkische Staatsangehörige abhängig von der Einrichtung eines Asylsystems nach »internationalen Standards« – sprich: der Aufhebung des Vorbehalts (vgl. Europäische Kommission 2013).

Am geografischen Vorbehalt hält die Türkei vor allem aus ökonomischen Gründen fest. Türkische Entscheidungsträger befürchten im Falle einer Aufhebung einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen in der Türkei, was erhebliche Kosten verursachen könnte. Deswegen verweisen türkische Entscheidungsträger bei allen Verhandlungen um einen EU-Beitritt oder die vollständige Implementierung des Rückübernahmeabkommens – beiden müsste die Aufhebung des geografischen Vorbehalts vorausgehen – immer wieder auf die Notwendigkeit eines weitreichenden Burden-Sharing (vgl. Kaya 2009, S.15).

In diesem Zusammenhang spielt die türkische Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft eine entscheidende Rolle. Im Falle einer Mitgliedschaft bewertet die Türkei die Kosten der Aufhebung des Vorbehalts als gering, da sie dann von innereuropäischen Lastenausgleichsmechanismen profitieren würde (vgl. Cramer-Hadjidimos 2011, S.66). Türkische Entscheidungsträger sind sich bewusst, dass auch Ungarn, Lettland und Malta den zuvor geltenden geografischen Vorbehalt im Laufe der Beitrittsverhandlungen aufheben mussten (vgl. Kirisci 2012, S.74). So zeigte sich die Türkei nach der Erhebung zur Beitrittskandidatin, als die Hoffnungen auf eine baldige Mitgliedschaft noch hoch waren, zunächste zu einer umfassenden Reform bereit. Als die Aussicht auf eine Mitgliedschaft im Laufe der langwierigen Beitrittsverhandlungen weiter in die Ferne rückte, konstatierte sie allerdings, sie würde den Vorbehalt erst nach einem offiziellen Mitgliedschaftsversprechen durch die EU aufheben. Die EU hingegen verlangt die Aufhebung als Vorbedingung für die Mitgliedschaftsperspektive und Visaerleichterungen. So ist die Aufhebung des geografischen Vorbehalts zu einem Druckmittel für beide Seiten geworden (vgl. Kaya 2009, S.23).

Grenzsicherung im Interesse der EU

Die Türkei befindet sich an einer der sensibelsten Grenzen der EU. Sie liegt zwischen der EU und Staaten wie Irak, Iran oder Syrien, die im sicherheitspolitischen Diskurs der EU zunehmend mit religiösem Fanatismus und islamistischem Terrorismus in Verbindung gebracht werden (vgl. Baklacioglu 2010, S.4f.). So liegt ein wesentlicher Fokus des Burden-Sharing der EU auf Projekten zur Verbesserung der Grenzsicherheit in der Türkei. Ziel dabei ist die effiziente Kontrolle sowohl der Grenzen im Osten und Südosten der Türkei, über welche die meisten Flüchtlinge einreisen, als auch der türkisch-griechischen Grenze, über welche die meisten Flüchtlinge in die EU weiterreisen. Durch die Finanzierung von Projekten zur Stärkung der Grenzschutzeinheit und Grenzpolizei sowie zum Aufbau von Abschiebelagern sollen die Grenzen im Osten und Südosten der Türkei undurchlässiger gemacht werden, während die engere Kooperation mit Frontex in erster Linie der Sicherung der türkisch-griechischen Grenze dient. Dadurch findet eine Transformation der EU-Grenzen in die Türkei statt.

Die EU strebt eine Minimierung der Zahl von irregulären Migrant_innen in der Türkei an. So erhofft sie sich einerseits eine Abnahme der irregulären Grenzübertritte in der türkisch-griechischen Evros-Region sowie andererseits eine gesteigerte Bereitschaft der Türkei zur Aufhebung des Vorbehalts. Als adäquates Mittel werden neben der Unterstützung der türkischen Grenzkontrollen auch Rückübernahmeabkommen der Türkei mit weiteren Drittstaaten angestrebt. Folglich übt die EU Druck auf die Türkei aus, selbst Rückübernahmeabkommen mit häufigen Transit- und Herkunftsstaaten abzuschließen. Bislang hat die Türkei derartige Abkommen mit Griechenland (2001), Syrien (2001), Kirgistan (2003) sowie mit den Schwarzmeeranrainern Rumänien (2004) und Ukraine (2005) ratifiziert, wodurch eine Transformation auch der internationaler Grenzen erfolgt (vgl. Soykan 2010, S.221).

Physisches Burden-Sharing

Physisches Burden-Sharing bezeichnet die Teilnahme am UNHCR-»Resettlement«, durch welches anerkannte Flüchtlinge aus Erstasylstaaten mit hohen Flüchtlingszahlen in Industriestaaten umgesiedelt werden. Im Gegensatz zur hohen Beteiligung an finanziellen und technischen Instrumenten des Burden-Sharing ist das EU-Engagement an Umsiedlungsprogrammen aus der Türkei deutlich geringer. Von 37.418 Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtingskonvention, die zwischen 1995 und 2010 aus der Türkei umgesiedelt wurden, nahmen europäische Staaten – ohne die skandinavischen Staaten – lediglich 990 Personen auf (siehe Tabelle).

Umsiedlungen aus der Türkei nach Herkunftsländern (1995-2010)

Herkunftsland Umsiedlung nach
Kanada USA Ozeanien Sonstiges Europa Skandinavien Andere Gesamt
Afghanistan 192 258 3 17 89   559
Iran 4.841 10.061 2.921 269 3.667 12 21.771
Irak 1.043 10.335 1.788 689 1.732 33 15.620
Afrika 436 326 1 7 55   825
Nordafrika 15       1   16
Asien   34     13   47
Naher/Mittlerer Osten 74 4 10 7 6 1 102
Bosnien und Herzegowina   45   1     46
Gesamt 6.601 21.063 4.723 990 5.563 46 37.418
Mit korrigierten Zahlen nach Kirisci 2012, op.cit., S.72

Auch das zögerliche Engagement der EU-Mitgliedstaaten in Umsiedlungsprogrammen steht in engem Zusammenhang mit der Konstruktion von Flüchtlingen als sicherheitspolitische Herausforderung. Dabei sind Flüchtlinge, die auf irregulärem Weg in die EU gelangen, keineswegs eine größere Sicherheitsbedrohung als Flüchtlinge, die durch Neuansiedlungsprogramme in die EU kommen.

Europäische Entscheidungsträger rechtfertigen ihre geringe Aufnahmebereitschaft damit, dass ein umfassender globaler Ansatz mit ausgeprägtem Engagement in der Region nachhaltiger und somit der Beteiligung an Umsiedlungsprogrammen vorzuziehen sei. So definiert das Stockholmer Programm von 2010 den Kapazitätsaufbau in Drittstaaten und die Verbesserung der Lebensverhältnisse in Herkunftsstaaten als primäre Ziele des EU-Flüchtlingsschutzes. Mit den oben diskutierten finanziellen und technischen Instrumenten soll der Flüchtlingsschutz in Staaten, die in Konfliktregionen liegen, ausgebaut werden, während entwicklungspolitische Projekte Fluchtursachen in Herkunftsstaaten bekämpfen sollen. Die freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen durch Neuansiedlungsprogramme hingegen erwähnt das Stockholmer Programm erst als zweite Priorität (vgl. Europäischer Rat 2010, S.33).

Zweifellos bilden die Bekämpfung der Fluchtursachen und die Unterstützung von Erstasylstaaten wichtige Pfeiler der Politik zum internationalen Flüchtlingsschutz. Allerdings stellt sich die Frage, ob der globale Ansatz der EU die Aufnahme von Flüchtlingen – direkt oder durch Umsiedlungsprogramme – ausschließen muss. Selbst die zuständige EU-Innenkommissarin Malmström stellt gravierende Mängel der EU-Flüchtlingspolitik fest: „Die europäischen Versprechen, Menschen in Not zu helfen, wurden in jüngster Zeit gründlich auf die Probe gestellt, und Europa hat bei dieser Prüfung kollektiv versagt.“ (zitiert aus Kopp 2012, S.26)

Die Art des EU-Engagements im Burden-Sharing leitet die in der EU stattfindende »Versicherheitlichung« von Flüchtlingen in die Türkei weiter. Die türkische Asylpolitik ist traditionell in erster Linie von sicherheitspolitischen Bedenken geprägt, im Rahmen derer insbesondere kurdische Flüchtlinge – parallel zu islamischen Flüchtlingen in der EU – als Sicherheitsbedrohung konstruiert werden (vgl. Kirisci 2012, S.66f.). Durch den Fokus der EU-Unterstützung auf den Ausbau des militärischen Grenzschutzes und den Aufbau einer Datenbank wird Flüchtlingspolitik einmal mehr in einen sicherheitspolitischen Kontext gerückt.

In diesem Zusammenhang konstatiert der Politikwissenschaftler Nurcan Özgür Baklacioglu, Ziel des EU-Engagements im Burden-Sharing und Ziel der asylpolitischen Forderungen im Beitrittsprozess sei der Aufbau einer «Festung Türkei» nach dem Vorbild der «Festung Europa» (vgl. Baklacioglu 2010, S.5). Die Europäisierung der türkischen Asylpolitik führt somit kaum zu einer stärkeren Beachtung von Flüchtlingsrechten in der Türkei, sondern schränkt im Gegenteil die Möglichkeit auf Zutritt zu türkischem Territorium und Asylverfahren ein.

Literatur

Baklacioglu, Nurcan Özgür (2010): Building »Fortress Turkey«: Europeanization of Asylum Policy in Turkey. Aktualisierte Fassung seines Artikels in The Romanian Journal of European Studies, No.7-8/2009.

Cramer-Hadjidimos, Katharina (2011): Eine griechische Tragödie. Europa stößt im Umgang mit irregulären Migranten an seine Grenzen. Internationale Politik 1-2011, S.62-67.

Delegation of the European Union to Turkey (2007): Standard Summary. Project Fiche, Project number: TR 06 01 01, Twinning number: TR 06 IB JH 01.

Edsbäcker, Karolina (2011): Turkey’s Asylum Policy in the Light of EU Accession. The Impact of its Geographical Limitation to the Geneva Convention. Lund University, Department of Political Science.

Euro-Mediterranean Human Rights Network (2013): An EU-Turkey Readmission Agreement – Undermining the Rights of Migrants, Refugees and Asylum Seekers? oppenheimer.mcgill.ca.

Europäische Kommission (2007): Standard Summarized Project Fiche, IPA decentralised National Programmes. Project number: TR 07 02 16, TWINNING NO: TR 07 IB JH 05.

Europäische Kommission (2008): Aeneas programme. Programme for financial and technical assistance to third countries in the area of migration and asylum. Overview of projects funded 2004-2006..

Europäische Kommission (2013): Cecilia Malmström signs the Readmission Agreement and launches the Visa Liberalisation Dialogue with Turkey. Pressemitteilung – IP/13/1259 vom 16.12.13.

Europäischer Rat (2010): The Stockholm Programme – an open and secure Europe serving and protecting citizens (2010/C 115/01).

Frontex (2013): Frontex signs a memorandum with Turkey. frontex.europa.eu, ohne Datumsangabe.

Hurwitz, Agnès (2009): The collective responsibility of states to protect refugees. Oxford: Oxford University Press (Oxford monographs in international law).

Icduygu, Ahmet (2011): The Irregular Migration Corridor between the EU and Turkey: Is it Possible to Block it with a Readmission Agreement? Research Report Case Study, EU-US Immigration Systems 2011/14.

Kaya, Ibrahim (2009): Reform in Turkish Asylum Law: Adopting EU Acquis? Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute Florence (CARIM Research Reports).

Kirisci, Kemal (2012): Turkey’s New Draft Law on Asylum: What to Make of it? In: Seçil Paçacý Elitok und Thomas Straubhaar (eds.): Turkey, migration and the EU. Potentials, challenges and opportunities. Hamburg: Hamburg University Press (Edition HWWI, 5), S.63-80.

Kopp, Karl: In Europa nicht willkommen. Weltsichten 8/2012, S.26-29.

McDonough, Paul; Tsourdi, Evangelia (2012): Putting Solidarity to the Test: Assessing Europe’s Response to the Asylum Crisis in Greece. Hrsg. von UNHCR Policy Development and Evaluation Service (New Issues in Refugee Research, Januar 2012, Research Paper No. 231).

Milner, James (2005): Burden Sharing. In: Matthew J. Gibney und Randall Hansen (eds.): Immigration and asylum. From 1900 to the present. Santa Barbara, Calif, Oxford: ABC-CLIO, S.56-57.

Soykan, Cavidan (2010): The Impact of Common European Union Immigration Policy on Turkey. In: Ethnologia Balkanica 14, S.207-225.

Tokuzlu, Lami Bertan (2010): Burden-Sharing Games for Asylum Seekers between Turkey and the European Union. EUI Working Papers. San Domenico di Fiesole/Italiien: Robert Schuman Centre for Advanced Studies.

UNHCR (2013): 2013 UNHCR country operations profile – Turkey..

Michelle Kerndl-Özcan erwarb an der Universität Marburg einen Masterabschluss in Friedens- und Konfliktforschung. Die Autorin wohnt in München und Istanbul und ist momentan in Elternzeit.

Festung Europa

Festung Europa

von Jürgen Nieth

Das Europäische Parlament hat am 10. Oktober „den Betriebsvorschriften für das elektronische Grenzüberwachungssystem Eurosur mit 479 zu 101 Stimmen bei 20 Enthaltungen klar zugestimmt. Da damit eine politische Einigung zwischen dem Parlament und dem Ministerrat erzielt worden ist, steht der gestaffelten Einführung des Systems ab Anfang Dezember nichts mehr im Wege.“ (NZZ 11.10.13) „Nur die Grünen und die Linke stimmten dagegen.“ (BG 11.10.13)

Hightech-Aufrüstung

„Eurosur soll mit hochwertiger Sicherheitstechnik arbeiten. Dazu zählen Drohnen, offshore-Sensoren, ein Satellitensuchsystem und automatisierte biometrische Identitätskontrollen.“ (ND 11.10.13.) „Mit Eurosur sollen Informationen zwischen Grenzbeamten und Zollbehörden, den Küstenwachen und der Marine schneller ausgetauscht werden. Überwachungsinstrumente wie Satelliten oder Schiffsmeldesysteme ermöglichen über ein geschütztes Kommunikationssystem die Weitergabe in Echtzeit. Das System soll eng mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden.“ (SN 11.10.13.) „In einer ersten Phase werden nationale Systeme modernisiert und elektronisch vernetzt […] Ein maritimes Meldesystem für das Mittelmeer, Teile des Atlantiks (Kanarische Inseln) und das Schwarze Meer soll später in das Netzwerk eingebunden werden.“ (welt-online 12.10.13) „Die Kommission schätzt die Kosten bis 2020 auf 244 Millionen Euro.“ (NZZ 11.10.13) Andere Berechnungen kommen zu wesentlich höheren Zahlen. Die SZ (19.10.13) geht von 340 Millionen Euro aus, und laut einer Studie der Böll-Stiftung „könnten sich die Kosten von Eurosur und dem »Smart border package«, mit dem sämtliche Ein- und Ausreisen von Drittstaaten in die EU erfasst werden sollen, auf bis zu zwei Milliarden Euro belaufen“. (ND 11.10.13.)

Abschottung oder Hilfe?

Die Überschriften der meisten deutschsprachigen Zeitungen sind eindeutig: „Abschottung aus einem Guss“ (taz 09.10. 13), „Moderne Technologie gegen illegale Migration“ (NZZ 11.10.13.), „Neues System zur Grenzüberwachung“ (StZ 11.10. 13), „Über Wachen und Dichtmachen“ (ND 11.10.13), „EU billigt Drohneneinsatz gegen illegale Einwanderung“ (Zeit-online, 10.10.13), „EU kauft Flüchtlingsabwehrsystem“ (FR-online 10.10.13), „EU verschärft Überwachung an den Außengrenzen“ (SZ-online 10.10.13).

Die EU-Innenkommissarin, Cecilia Malmström, spricht zwar davon, das neue System werde helfen, „das Leben jener Menschen zu retten, die sich selbst in Gefahr bringen, um Europas Küsten zu erreichen“, doch der Schwerpunkt liegt offensichtlich nicht auf Hilfe, sondern auf Flüchtlingsabwehr. So schreibt die SZ (11.10.13), laut Gesetzestext solle Eurosur dem Zweck dienen, „illegale Einwanderung und grenzüberschreitende Kriminalität aufzudecken, ihr vorzubeugen und sie zu bekämpfen. Die Rettung von Menschenleben wird zwar im gleichen Absatz, nicht aber im gleichen Atemzug genannt. Weil sich eine Reihe von Mitgliedstaaten dagegen aussprachen, sie zum Ziel zu erheben, soll Eurosur zur Seenotrettung nur mehr »einen Beitrag« leisten.“ Die taz (09.10.13) zitiert den Linken Europa-Abgeordneten Hunko, nach dem „ein Vorschlag des Europäischen Parlaments, die Aufgaben von Eurosur auf die Seenotrettung auszuweiten, von den europäischen Innenministern »geschlossen abgelehnt« wurde“. Und in der SZ (19.10.13) schreibt Heribert Prantl: „Die EU schützt Grenzen und nicht Flüchtlinge […] Der Tod der Flüchtlinge ist Teil der Abschreckungsstrategie.“

Abdrängen statt Hilfe

Die Einschätzung Prantls wird bestätigt durch Recherchen des ARD-Magazins »Monitor« (17.10.13). Danach hat die EU-Grenzschutzbehörde Frontex „zugegeben, was von Menschenrechtsorganisationen bereits seit längerem kritisiert wird: die Beteiligung an illegalen Abdrängungsmanövern, sogenannten Push-Backs im Mittelmeer. Die Statistiken von Frontex wiesen (so Frontex Leiter Ilkka Laitinen) fünf bis zehn Verdachtsfälle pro Jahr auf“. Eine Zahl, die Karl Kopp von Pro Asyl gegenüber dem ND als „rührend“ bezeichnet. „Seine Organisation habe basierend auf Interviews zusammen mit Partnerorganisationen in den letzten zwölf Monaten Push-Back-Fälle der griechischen Küstenwache dokumentiert, die alleine 2.000 Menschen betreffen.“ Trotzdem birgt das Eingeständnis von Frontex gegenüber »Monitor« Brisanz, denn im Februar letzten Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte „die Praxis, Flüchtlinge auf hoher See auch unter Einsatz von Gewalt zurück in das Herkunftsland oder in Länder zu zwingen, wo ihnen Verfolgung droht, […] als menschenrechtswidrig gewertet“. (ND 18.10.13)

Umfassende Flüchtlingsabwehr

Die nordafrikanischen Länder sollen stärker in die Flüchtlingsabwehr einbezogen werden. „Die ersten Partner […] waren die neuen Machthaber Libyens […] Ägypten, Tunesien und Algerien hingegen hatten sich lange jeder Beteiligung […] verweigert […] Doch auf Druck aus Südeuropa signalisierten die drei Länder im September, nun doch beitreten zu wollen.“ (taz 09.10.13) „Mit den sogenannten »Mobilitätspartnerschaften«, die die EU in solchen Fällen eingeht, werden Drittländern zum Beispiel Visaerleichterungen und Informationen über Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten in Europa in Aussicht gestellt, sie müssen sich im Gegenzug aber zu einer Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels und zu einer Rücknahme illegaler Migranten verpflichten.“ (FAZ 04.10.13)

Christopher Ziedler verweist in der StZ (05.1013) darauf, dass durch diese »Rücknahmeabkommen« der Fokus noch stärker auf Flüchtlingsabwehr gelegt wird. „Letztlich können die Behörden über Satelliten und Drohnen künftig sehen, wenn ein Boot an der afrikanischen Küste ablegt, und die Kollegen auf der anderen Seite informieren, damit die dortige Küstenwache die Flüchtlinge aufhält.“ Er zitiert die Grüne Europa-Abgeordnete Keller: „ Das erspart ihnen (den Flüchtlingen) eine tödliche Überfahrt, rettet aber nicht unbedingt ihr Leben, sie haben ja einen Grund zu fliehen.“

Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, hat nach „Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen seit 1998 bereits mehr als 19.000 Menschenleben gekostet“. (NZZ 05.10.13)

Abkürzungen:

Bonner Generalanzeiger (BG), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), Neues Deutschland (ND), Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Stuttgarter Nachrichten (SN), Stuttgarter Zeitung (StZ), Süddeutsche Zeitung(SZ), tageszeitung (taz), Die Welt (Welt).

Jürgen Nieth

In die fremde Heimat

In die fremde Heimat

Die Remigration kurdischer Jugendlicher in den Nordirak

von Simon Moses Schleimer

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 ist ein wachsender Trend der Remigration von kurdischen Familien aus Deutschland in den Nordirak zu verzeichnen. Wie die in Deutschland sozialisierten Kinder und Jugendlichen die Remigration in die traditionelle und patriarchale Gesellschaftsstruktur der Autonomen Region Kurdistan bewerkstelligen, soll mithilfe des »Kulturschock«-Konzepts von Oberg (1960) in diesem Artikel dargestellt werden.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg wurde Kurdistan gegen den Willen der Kurden auf vier Staaten im Mittleren Osten aufgeteilt: Irak, Iran, Syrien und die Türkei. Bei der Aufteilung wurden sowohl Fragen der Selbst- bzw. Mitbestimmung als auch die bestehenden sozialen und kulturellen Strukturen und Traditionen der Kurden von den neu gegründeten Staaten ignoriert oder gar mit Gewalt unterdrückt. Das Hauptaugenmerk dieses Artikels liegt auf der kurdischen Region im Norden des Irak, in der das Regime von Saddam Hussein eine systematische und international geächtete Vernichtungspolitik betrieb, bei der es zu Massendeportationen kurdischer Bevölkerungsteile und zur brutalen Zerstörung von kurdischen Dörfern kam. Bis Mitte der 1990er Jahre flüchteten 70.000 Menschen aus den kurdischen Gebieten des Irak in die Bundesrepublik.

Als die Alliierten nach dem Ende des Golfkrieges 1991 im Norden des Irak eine Schutzzone einrichteten, die ein Flugverbot für die irakische Luftwaffe einschloss, wurde der kurdischen Bevölkerung ermöglicht, eine Verwaltungsstruktur aufzubauen, die unabhängig von der Regierung des Irak besteht. Obwohl bis heute nicht die Rede von einer stabilen Ordnung sein kann, befindet sich die Region in einem kontinuierlichen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 gilt die allgemeine Situation als „relativ stabil“ (UNHCR 2009). Dies ist auch der Grund, warum immer mehr Kurden in die Region zurückkehren bzw. zwangsweise in den Nordirak zurückgeführt werden. Das Statistische Bundesamt (2011) macht deutlich, dass es sich bei den kurdischen Remigrationsbewegungen in den Irak nicht um Einzelerscheinungen handelt, sondern ein deutlich erhöhter Trend zur Rückkehr feststellbar ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge konstatiert, dass irakische Staatsangehörige in den Jahren 2004-2008 zu den fünf größten Rückkehrergruppen zählten (BAMF 2010, S.11). Bis heute sind wohl weit über 2.000 Personen in den Nordirak remigriert.

Durch die Remigration kommen Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien, die oftmals in Deutschland geboren wurden und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne ausreichende Kenntnisse von Sprache, Gesellschaft und Kultur in die Region und müssen sich mit einer ihnen völlig fremden Welt auseinandersetzen. Denn die Jugendlichen werden mit einer patriarchal orientierten Gesellschaft und einer Retraditionalisierung von Geschlechter- und Lebensverhältnissen im Nordirak konfrontiert. Dies ist gerade in der Phase der Adoleszenz, einer zentralen Phase der Identitätsbildung, eine besondere Herausforderung. Denn neben dem „Umwandlungsprozess vom Kind zum Erwachsenen“ (Günther 2009, S.68), der durch umfassende Veränderungen in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht geprägt ist, müssen die Jugendlichen auch die (Re-) Migration verarbeiten. Aus diesem Grunde sprechen King und Schwab (2000) von einer „verdoppelten Transformationsanforderung“.

Das »Kulturschock«-Konzept nach Oberg

Obwohl sich die Region im Norden des Irak während des Aufenthalts der kurdischen Familien in Deutschland deutlich verändert hat, haben die Eltern tendenziell weniger Wiedereingliederungsprobleme als ihre Kinder. Sie wurden in ihrem Herkunftsland sozialisiert und haben ihre kulturellen Werte in der Diaspora nicht aufgegeben oder können diese gegebenenfalls reaktivieren. Dies liegt hauptsächlich an den Gründen ihrer Migration, denn die Flucht aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen war nicht auf Dauer angelegt. So wurde die Migration stets mit der Perspektive der Rückkehr gelebt. Ihre enge Verbindung und Verwurzelung mit der kurdischen Herkunftsgesellschaft wurde über die Jahre der Abwesenheit aufrecht erhalten, was eine Anpassung an die Gegebenheiten nach der Remigration stark erleichtert.

Im Gegensatz dazu vollzieht sich ein vollständiger Wandel und Umbruch der kindlichen und jugendlichen Lebenswelten. Durch die Remigration kommen die kurdischen Jugendlichen in eine Region, die vielfältige kulturelle Besonderheiten aufweist und voller Widersprüche, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist. Lebten sie zunächst in einem Land, in dem die Traditionen den Modernisierungs- und Individualisierungstendenzen gewichen sind, migrieren sie nun in eine Gesellschaft, die sich in einem politischen, ökonomischen und sozialen Transformationsprozess befindet und in welcher Globalisierungstendenzen und die damit einhergehende Modernisierung zugunsten einer Traditionalisierung, Patriarchalisierung und Lokalisierung entwertet werden. Schmidt (2000) macht zwar deutlich, dass die kurdischen Jugendlichen auch in Deutschland innerhalb ihrer familiären Sozialisation mit der kurdischen Kultur konfrontiert sind, was sich insbesondere in der „geschlechterspezifischen Rollenverteilung“ (ebd., S.96) zeigt. Jedoch werden sie im Nordirak mit deutlich repressiveren Umständen konfrontiert. Cassarino (2004) führt aus: „Diese Dichotomie zieht eine Grenze zwischen zwei separierten Welten: den modernen Aufnahmeländern und den traditionellen Ländern der Remigranten.“ (ebd., S.261)

Hinzu kommt, dass die Jugendlichen von ihren Eltern oftmals nicht über das Leben im Nordirak aufgeklärt werden, sodass die Erfahrungen, die sie nach der Remigration machen, desillusionierend wirken. Sie kennen die Region bisher nur aus den subjektiv geprägten Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern und eventuell den episodenhaften Aufenthalten während der deutschen Sommerferien. Dies führt zur starken Romantisierung und Idealisierung der kurdischen Gesellschaft, der Landschaft und des Lebens im Nordirak (vgl. Skubsch 2000, S.117). Dieses Bild nähren zusätzlich Verheißungen der Eltern auf großen materiellen Wohlstand und die Chance, eine erfolgreiche Bildungskarriere im Nordirak zu bestreiten. Die Sicht auf die autonome Region ist damit verklärt und überschattet die Realität, welche die Jugendlichen nach der Rückkehr erwartet. Die Remigration wirkt auf sie wie ein Schock.

Der Anthropologe Kalvero Oberg (1960) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff »Kulturschock«. Dieser ist definiert als „Angst, jegliche bekannten Zeichen und Symbole des sozialen Umgangs zu verlieren“ (ebd., 1960, S.177). Bei einem »Kulturschock« können vier aufeinanderfolgende Phasen klassifiziert werden:

„Der Terminus »honeymoon« kann genutzt werden, um die Initialphase zu beschreiben. In dieser Phase sind Menschen, die in andere Kulturen migrieren, erfreut über all die neuen Dinge, die sie entdecken. Die zweite Phase tritt nach einigen Wochen auf. Diese startet mit einer Serie negativer Erfahrungen und sich ausweitenden Problemen. Ein Kulturschock tritt aufgrund unangemessenen Verhaltens in der neuen Kultur auf, der sich in großem Stress und ansteigender Depression, Angst, Spannung und Verwirrung ausdrückt. Danach folgt die »adjustment stage«, in der sich zunehmend an die neue Kultur angepasst werden kann. Vielfältige Adaptionen werden in dieser Phase erreicht und die negativen Effekte des Kulturschocks werden geringer. Die vierte Phase ist die »mastery stage«, welche oftmals nach eineinhalb Jahren eintritt. In dieser Phase sind die Migranten fähig, Probleme zu lösen und die neue Kultur erfolgreich zu bewältigen. Die Symptome des Kulturschocks verschwinden weitgehend.“ (Xia 2009, S.98)

Fallbeispiel Rebaz

Wie der »Kulturschock« im Kontext kurdischer Remigrationsprozesse verlaufen kann, soll exemplarisch anhand Rebaz’ Geschichte erläutert werden.

Rebaz war zum Zeitpunkt der »Rückkehr« 15 Jahre alt und ist aus dem Süden Deutschlands mit seiner Familie in die Stadt Sulaymaniyah im Nordosten der Region gezogen. Ich lernte ihn wenige Monate nach seiner Rückkehr aus Deutschland über einen gemeinsamen Freund kennen. Gemeinsam schlenderten wir über den großen Bazar der Stadt und entdeckten enge Gassen, welche sich den beschleunigten Modernisierungsschüben der Stadt vehement widersetzen. Während des Bazarbesuchs entwickelte sich ein ausführliches Gespräch über Rebaz’ individuelles Erleben der Remigration. Dabei berichtete er euphorisch über sein neues Leben in der Region. Zu den Vorzügen zählte er einerseits seine Verwandtschaft, die sich nun wieder in unmittelbarer Nähe befindet, das gute Wetter und die für ihn zahlreichen neuen Eindrücke und Erlebnisse, die er als durchweg positiv beschrieb. Andererseits sprach er auch die materiellen Vorzüge an – wie Taschengeld und eigenes Zimmer –, die er seit seiner Rückkehr genießt. Seine Zukunft malte sich Rebaz durchweg positiv aus. So wollte er nicht nur sein Abitur machen und danach ein Medizinstudium beginnen, sondern auch zu großem Reichtum gelangen. An eine Rückkehr nach Deutschland dachte er zu dem Zeitpunkt nicht, zu überwältigend waren die positiven Eindrücke, die er seit seiner Remigration erfuhr.

Es wird deutlich, dass Rebaz sich zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs in der »honeymoon«-Phase befand, der Initialphase des »Kulturschocks«. Diese Phase ist gekennzeichnet durch die Faszination des Migranten vom Neuen und kann von einigen Tagen bis hin zu sechs Monaten andauern (vgl. Oberg 1960, S.178).

Ein halbes Jahr später traf ich Rebaz zufällig wieder, als ich seine Schule für Forschungszwecke besuchte. In einer Pause hatten wir Gelegenheit, uns ausführlicher zu unterhalten. Der noch vor wenigen Monaten so begeisterte Junge versank mittlerweile in großer Trauer und wünschte sich nichts sehnlicher als die Rückkehr nach Deutschland. Zu schwierig gestaltet sich sein Leben im Nordirak. Während er von der kurdischen Gesellschaft nicht als Einheimischer akzeptiert wird und somit stets den Vorurteilen gegenüber Europäern ausgesetzt ist, scheitert Rebaz auch in der Schule. Er ist durch seinen langjährigen Schulbesuch in Deutschland nicht an das kurdische Lehrsystem gewöhnt, welches noch immer auf dem Buchwesen beruht und auf das Lernen von Fakten und nicht auf das Erlernen von Fähigkeiten ausgerichtet ist (vgl. Salam 2010, S.189). Kritik, Reflexion, Auseinandersetzung oder Diskussion des Unterrichtsstoffs werden zugunsten der Reproduktion und Repetition der Buchinhalte abgelehnt. So gerät Rebaz in ständige Konflikte mit seinen Mitschülern und Lehrern, die nicht selten in gewaltsamen Konflikten eskalieren.

Rebaz hatte nur wenige Monate nach seiner Rückkehr die erste Phase des »honey moon« verlassen und befand sich zum Zeitpunkt des zweiten Treffens in der zweiten Phase, »Kulturschock«. Während Besucher oder Touristen noch vor dem Ende der »honeymoon«-Phase die neue Kultur wieder verlassen, müssen sich die Remigranten nun mit den realen Bedingungen auseinandersetzen und ihr tägliches Leben in der ihnen noch immer neuen Kultur bestreiten. Dabei wich in Rebaz’ Fall die einstige Faszination und Begeisterung aufgrund negativer Erfahrungen einer aggressiven und feindlichen Haltung gegenüber der Region. Aufgrund seiner Sozialisation in Deutschland und der starken traditionellen und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen im Nordirak hat er nicht das Gefühl, sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Die kurdische Region bleibt für ihn fremdartig und verschlossen, und er fühlt sich durch seine in Deutschland ausgebildete hybride Identität nicht akzeptiert.

Loyalitäts- und Identitätskonflikte

Die Erfahrung zeigt, dass die Remigration von kurdischen Familien in den Nordirak eine immense Herausforderung und Belastung für die Jugendlichen und Kinder darstellen kann. Durch ihre Sozialisation in Deutschland haben sie sich in aller Regel einen dezidiert kosmopolitischen Lebensentwurf angeeignet, der keine Zweifel lässt an ihrer auch lokal begründeten Zugehörigkeit zu Deutschland, die für ihre eigene Identität, Persönlichkeit und Denkweise oft sogar entscheidend ist.

Als aufnehmende Umwelt hat die Region einen entscheidenden Einfluss auf die Verarbeitung der Remigration (vgl. Grinberg und Grinberg 1990, S.91ff). Da die Gesellschaft und die Institutionen im Nordirak tendenziell wenig unterstützend wirken, geraten die Jugendlichen in Widerspruch zu traditionellen politischen und ethnischen Vorstellungen der Gesellschaftsstruktur im Nordirak. Weder eine Identifikation mit der ihnen so fremden Heimat noch die verlangte assimilatorische Integration in die kurdische Gesellschaft ist für die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer transnationalen und hybriden Identitätsentwürfe möglich. Dadurch wird es ihnen erschwert, die Remigration zu verarbeiten und den »Kulturschock« erfolgreich zu durchlaufen, dessen Prozessende eine Integration in die Gesellschaft vorsieht. Stattdessen bleiben die jungen Rückkehrer in der zweiten Phase des »Kulturschocks« haften und sehen keinen Weg, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie geraten in Loyalitäts- und Identitätskonflikte und akzeptieren den Nordirak nur als einen transitären sozialen Raum, den sie so schnell wie möglich wieder verlassen wollen. So möchte der Großteil der Kinder und Jugendlichen nach Deutschland zurückkehren, während ihre Familien im kurdischen Norden des Irak verankert sind und dort auch ihren Lebensmittelpunkt haben.

Im Zuge globaler und transnationaler Migration werden sich weitere dieser Remigrantengruppen bilden. Daher ist ihnen zukünftig eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz einzuräumen. Bislang fehlen jedoch nationale wie internationale Studien zu diesem Thema, und es fehlen insbesondere differenzierte, empirische Studien zu den Lebensbedingungen und Perspektiven der »zurück« gewanderten Kinder und Jugendlichen.

Literatur

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Rückkehrunterstützung in Deutschland. Programme und Strategien zur Förderung von unterstützter Rückkehr und zur Reintegration in Drittstaaten. Studie I/2009 im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks (EMN).

Cassarino, J. P. (2004): Theorising return migration: The conceptual approach to return migrants revisited. International Journal on Multicultural Studies 2004/6, S.253-279.

Deutscher Bundestag (2011): Kurdenspezifische Migrationspolitik – Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Inge Höger und der Fraktion DIE LINKE. Bundestags-Drucksache Drucksache 17/4937 vom 28.02.2011.

Grinberg, L. und Grinberg, R. (1990): Psychoanalyse der Migration und des Exils. Aus dem Spanischen von Flavio C. Ribas. München/Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse.

Günther, M. (2009): Adoleszenz und Migration. Adoleszenzverläufe weiblicher und männlicher Bildungsmigranten aus Westafrika. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

King, V. und Schwab, A. (2000): Flucht und Asylsuche als Entwicklungsbedingung der Adoleszenz. Ansatzpunkte pädagogischer Begleitung am Beispiel einer Fallgeschichte. In: King, V. und B.K. Müller (Hrsg.): Adoleszenz und pädagogische Praxis. Bedeutungen von Geschlecht, Generation und Herkunft in der Jugendarbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S.209-232.

Oberg, K. (1960): Culture Shock: Adjustment to New Cultural Environments. Practical Anthropology 7, S.177-182.

Salih, A. (2004): Freies Kurdistan: die selbstverwaltete Region Kurdistans. Hintergründe, Entwicklungen und Perspektiven. Berlin: Köster.

Schmidt, S. (2000): Kurdisch-Sein, mit deutschem Pass! Formale Integration, kulturelle Identität und lebensweltliche Bezüge von Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. Bonn: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Skubsch, S. (2003): Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-) Politik. Beiträge zur Kurdologie. Band 5. Münster: Navend – Zentrum für kurdische Studien.

Statistisches Bundesamt (2011): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Ausländische Bevölkerung – Ergebnisse des Ausländerzentralregisters. Stand 2010.

UNHCR (2009): UNHCR-Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde.

Xia, J. (2009): Analysis of Impact of Culture Shock on Individual Psychology. International Journal of Psychological Studies 1/2, S.97-101.

Simon Moses Schleimer ist Mitarbeiter der Professur für Interkulturelle Erziehung am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg. Zusätzlich lehrt er im Sommersemester 2013 an der Salahaddin-University Hawler Erbil/Irak Deutsch als Fremdsprache. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit den Bildungs- und Lebensverläufen von kurdischen Kindern und -Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien, die in die autonome Region Kurdistan im Irak remigrieren.

(Kein) Grundrecht auf Asyl

(Kein) Grundrecht auf Asyl

von Günter Burkhardt

Bis vor zwanzig Jahren hieß es im deutschen Grundgesetz noch knapp und dennoch klar: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Das war 1949 die Antwort des Parlamentarischen Rates auf die Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Das Grundrecht auf Asyl entzog sich damit der Steuerbarkeit durch die Politik. Es war als subjektives Recht ausgestaltet – einklagbar vor Gericht.

Stimmungsmache in Wahlkämpfen

Als die Flüchtlingszahlen in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre infolge der Balkankriege deutlich anstiegen, wurde politisch Stimmung gemacht. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom „drohenden Staatsnotstand“. Jahrelang trommelten CDU/CSU gegen das Asylrecht. Die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende in Rostock wurde systematisch überbelegt. Neonazis und »brave Bürger« griffen Flüchtlinge und die nebenan wohnenden vietnamesischen Vertragsarbeiter an. Anstatt dem tagelang tobenden Mob entgegenzutreten, denunzierte der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters die Asylsuchenden: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Es folgten Brandanschläge. Die Opfer der rassistischen Attacken wurden nicht in Schutz genommen, sondern instrumentalisiert. Der Vorwurf des »Asylmissbrauchs« verschwieg, dass Krieg kein Asylgrund war (und ist), dass Menschen aus zerfallenden Staaten, die vor einer so genannten nichtstaatlichen Verfolgung fliehen, keine Chance auf Asyl hatten.

Der politische Sündenfall

Am 6. Dezember 1992 kapitulierte die SPD. Mit CDU/CSU und FDP verabredeten sie die Änderung des Grundrechts auf Asyl. PRO ASYL kommentierte damals: „Dies ist ein Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates.“

Die zentrale Einschränkung im »Asylkompromiss« lautete wie folgt: Wer über einen EU-Staat oder einen anderen sicheren Drittstaat einreist, muss seinen Asylantrag dort stellen. Eine praktische Regel, da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist.

Die Drittstaatenregelung führte seither jedes Jahr zur tausendfachen Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze. Das Grundrecht auf Asyl ging für die Flüchtlinge verloren. Unter Bezugnahme auf den seit 1990 explizit (wenn auch noch viel zu schwach) im Ausländerrecht verankerten Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) konnte ein Teil von ihnen trotzdem einen befristeten Aufenthaltsstatus erhalten. Unsere hartnäckigen Kämpfe führten später sowohl zu einer Ausweitung dieses Schutzbereiches der GFK, insbesondere zur Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung, wie auch zu einer rechtlichen Gleichstellung der GFK-Flüchtlinge mit den wenigen überhaupt noch nach dem Grundgesetz anerkannten Flüchtlingen.

Der zentrale politische Sündenfall des Asylkompromisses war aber, dass Deutschland die Zuständigkeit für Asylsuchende an andere Staaten weiterreichte, ohne sich um die Garantie von Menschen- und Flüchtlingsrechten zu scheren. Das Ergebnis sind bis heute ungeschützte, unversorgte, obdachlose, inhaftierte oder misshandelte Schutzsuchende.

Das leere Versprechen eines europäischen Asylrechts

Der Deutsche Bundestag begründete die Änderung des Grundrechts auf Asyl vom 26. Mai 1993 auch mit der Notwendigkeit, das deutsche Asylrecht europafähig zu machen „Wir […] haben immer gesagt, dass mit der Abschaffung der Binnengrenzen in Europa eine Harmonisierung des Asylrechts zwingend notwendig wird“, so der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Schäuble. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem ist jedoch immer noch in weiter Ferne. Es gilt die Regel, dass derjenige Staat für einen Flüchtling zuständig ist, in dem der Flüchtling in die Europäische Union eingereist ist. Der Mangel an Solidarität unter den EU-Staaten bedingt somit einen Mangel an Solidarität gegenüber Schutzsuchenden. Europa schützt seine Grenzen – nicht jedoch die Flüchtlinge.

Abschottung um jeden Preis

In ihrer Verzweiflung begeben sich Flüchtlinge in immer unsichereren und kleineren Booten auf immer längere und gefährlichere Fluchtwege über das Mittelmeer. Gleichzeitig wird die Abschottung perfektioniert. So soll das Überwachungssystem EUROSUR die Außengrenzen mit Drohnen und Satelliten überwachen, die europäische Grenzagentur FRONTEX wird stetig ausgebaut, und die Überwachung des Grenzbereichs wird nach Nordafrika und in die Türkei vorverlagert. Die Proteste gegen diese Politik sind bei uns inzwischen fast versiegt.

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von PRO ASYL.

Arabischer Frühling

Arabischer Frühling

… und Europa lässt sterben

von Karl Kopp

2.000 Menschen sind allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres auf dem Weg von Nordafrika nach Europa ums Leben gekommen. Berichte über unterlassene Hilfeleistung durch Militärverbände oder kommerzielle Schiffe mehren sich. Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer verschärft sich – und Europa schaut zu.

Die italienischen Küsten erreichten bisher ca. 52.000 Bootsflüchtlinge. 27.000 von ihnen flüchteten aus Libyen, die übrigen aus Tunesien. Das kleine Tunesien hat mehrere hunderttausend Flüchtlinge und Migranten aufgenommen. Gerade einmal zwei Prozent der Menschen, die aus Libyen geflohen sind, kamen nach Europa.

Alte Geschäftsgrundlage existiert nicht mehr

Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid/Tunesien war das traurige Fanal einer epochalen Entwicklung in den nordafrikanischen Staaten und weit darüber hinaus. Auf die Demokratiebestrebungen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderswo war und ist die Europäische Union nicht vorbereitet. Europa verliert im Zuge der revolutionären Umwälzungen seine willfährigen Partner. Die jahrelange Kooperation mit diktatorischen Regimen bei der Flüchtlingsbekämpfung und im so genannten Krieg gegen den Terrorismus ist eine moralische Bankrotterklärung. Europa, das sich außer in Sonntagsreden nicht um Demokratie und Menschenrechte scherte, muss sich völlig neu ausrichten. Auch wenn wir heute noch nicht wissen, wie die Demokratisierungsprozesse in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderswo weitergehen: Die alte Geschäftsgrundlage – Geld für Diktatoren bei der Flüchtlingsabwehr, egal wie hoch der menschenrechtliche Preis ist – existiert nicht mehr. Ob Europa aus dem Scheitern seiner fatalen Flüchtlings- und Nachbarschaftspolitik lernt, ist äußerst fraglich.

Mit den revolutionären Umbrüchen in Nordafrika zu Beginn des Jahres 2011 kam es unerwartet zu einer kurz- und mittelfristigen Aussetzung der Migrationskontrollen an den Küsten Nordafrikas. Tausende Flüchtlinge setzten sich Richtung Europa in Bewegung. Zwar wurde europaweit beteuert, dass der demokratische Wandel im Norden Afrikas begrüßt werde. Jedoch setzt man in Brüssel und in den südlichen Mitgliedstaaten weiter auf Abwehr. Italien rief bereits nach den ersten angelandeten Flüchtlingsbooten den »Notstand« aus und forderte die Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Indessen verschlechterten sich die Bedingungen auf der italienischen Insel Lampedusa für die Flüchtlinge dramatisch. Viel zu spät fanden erste Transfers auf italienisches Festland statt. Die italienische Regierung ist bis heute nicht willens, ein geregeltes und menschenwürdiges Verfahren zur Aufnahme von Flüchtlingen zu garantieren, und eine EU-weite solidarische Aufnahmepolitik von Bootsflüchtlingen liegt noch immer in weiter Ferne.

Rückblick: Tabubruch

Die Europäische Union scheute nicht davor zurück, über Jahre mit einer Diktatur zusammenzuarbeiten, in der Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Insbesondere Italien spielte aufgrund der geographischen Nähe zu Libyen eine Vorreiterrolle bei der Blockade der Fluchtroute über das Mittelmeer.

So kooperierte Italien bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit der Diktatur Libyen. Ein Ziel war es, die Flucht- und Migrationsbewegungen im Mittelmeer zu unterbinden. Allen Warnungen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen zum Trotz hofierte auch die Europäische Union seit 2004 den früheren libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi.

Die italienische Küstenwache hat allein seit Mai 2009 über 2.000 Bootsflüchtlinge in die »libysche Hölle« zurückverwiesen. In den Auffanglagern dort kam es regelmäßig zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen – so das Europäische Parlament am 17. Juni 2010.1 Italiens Innenminister Maroni dagegen lobte die gemeinsamen Operationen mit Libyen und sprach von einem „Modell für Europa“. Italien versenkte die Menschenrechte im Mittelmeer, und die EU- Kommission, die Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, haben geschwiegen. Statt die Regierung in Rom zu sanktionieren, verhandelte Brüssel unter Hochdruck mit Tripolis über ein »Kooperations- und Partnerschaftsabkommen«, um die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsbekämpfung zu intensivieren. Jahrelang hofierten die EU und ihre Mitgliedsstaaten das Regime Gaddafi. Libyen wurde mit Schiffen, Grenzüberwachungstechnik, Leichensäcken und Geldern für Abschiebungsflüge beliefert.

Die EU-Kommissarin Cecilia Malmström hat mit der libyschen Regierung im Oktober 2010 während eines Besuchs in Tripolis ein erstes Abkommen über Migrationszusammenarbeit geschlossen. Malmström erhielt Beifall von den EU-Innenministern: ein bisschen »Asyl« in Libyen anstatt Schutz in Europa. Die EU wollte den libyschen Behörden beim Screening derjenigen helfen, die internationalen Schutz brauchen. Ein paar wenige Flüchtlinge könnte dann auch Europa abnehmen. Der Rest muss zurück. Alles vertraute Ideen: Als der frühere Bundesinnenminister Otto Schily 2004 sein Konzept der Flüchtlingsabwehr, „Lager in Nordafrika“, vorstellte, entbrannte allerdings noch ein Sturm der Entrüstung.

Immerhin: Die EU-Kommissarin beschrieb in ihrem Blog im Oktober 2010, dass sie nach Gesprächen mit inhaftierten Flüchtlingen in Libyen sehr schlecht geschlafen habe. PRO ASYL hatte bereits im September 2010 an das Europäische Parlament appelliert, die klare Verurteilung Libyens vom Juni in politisches Handeln umzusetzen und die Kommission zu stoppen. Alle Kooperationen mit dem Regime im Politikfeld Flucht und Migration sollten unverzüglich eingestellt werden.

Erst am 22. Februar 2011, als Gaddafi wegen seiner blutigen Niederschlagung des Aufstands international bereits völlig isoliert war, verkündete die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, dass die Verhandlungen mit Libyen über ein so genanntes Rahmenabkommen ausgesetzt werden. Die Einsicht, dass man mit dem Diktator Gaddafi keine schmutzigen Deals machen kann, kam viel zu spät. Gaddafi wurde von Europa im wahrsten Sinne des Wortes jahrelang für die Flüchtlingsbekämpfung aufgerüstet. EU-Kommissarin Malmström streute zwar bei jeder Erklärung zu dieser „schwierigen Partnerschaft“ ein, dass die EU-Kommission die Grundrechte von Flüchtlingen und Migranten in Libyen ins Zentrum aller Bemühungen stellen möchte. Das jahrelange Anbiedern an das libysche Regime verfolgte jedoch nur einen Zweck: Schutzsuchende um jeden Preis an der Weiterflucht nach Europa zu hindern.

Die verdammt kurze Begeisterung

Europas Haltung war bereits bei Ankunft der ersten Bootsflüchtlinge aus Tunesien nicht geprägt von Solidarität und Humanität, vielmehr dominierte eine populistische »Notstandsrhetorik« die Debatte. Bezeichnenderweise diente die Ankunft von circa 25.000 tunesischen Staatsbürgern in Europa – was in Umbruchsituationen relativ normal ist – als Grund, die Wiedereinführung von innereuropäischen Grenzkontrollen zu diskutieren und in einigen Ländern auch zu praktizieren.

Und auch so genannte Rückübernahmeabkommen standen schon rasch wieder auf der Agenda. Am 5. April 2011 schloss Italien eine entsprechende Vereinbarung mit Tunesien. Und bereits Mitte März 2011 kündigte der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments an, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit Libyen fortzusetzen, sobald das Land eine neue Regierung habe.2 Dem ließ die italienische Regierung Taten folgen, als sie am 17. Juni 2011 mit Libyen ein »Abkommen zur Bekämpfung irregulärer Migration« unterzeichnete und am 30. September in Tripolis über eine Reaktivierung des italienisch-libyschen Freundschaftsabkommens von 2008 sprach.3

Noch in diesem Jahr soll die europäische Grenzschutzagentur Frontex eine neue Verordnung bekommen. An einigen Stellen des überarbeiteten Textes wird im Gegensatz zur bisherigen Verordnung explizit auf zentrale Instrumente des Flüchtlingsschutzes hingewiesen. Auch sollen etwa Frontex-Mitarbeiter künftig ausdrücklich dazu verpflichtet werden, Menschen in Seenot zu retten. Angesichts des tausendfachen Sterbens von Flüchtlingen im Mittelmeer und im Atlantik ist diese Klarstellung schon lange überfällig. In Hinblick auf die Mandatserweiterung ergeben sich jedoch neue Gefahren für den Flüchtlingsschutz. Die Agentur soll weitere Kompetenzen bei der Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie Ägypten, Tunesien, Marokko, Libyen etc. erhalten. Im aktuellen Entwurf steht, dass es sich bei den entsprechenden Drittstaaten um Länder handeln soll, die „Mindestmenschenrechtsstandards“ respektieren – eine höchst problematische Formulierung.4 Menschenrechte sind unteilbar. PRO ASYL befürchtet, dass die Mandatserweiterung zum Ausbau der vorverlagerten Abwehrpolitik der EU dient und Menschenrechte dabei eine höchstens untergeordnete Rolle spielen.5

Untersuchung: Europa lässt sterben

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates kündigte am 21. Juni 2011 eine Untersuchung an, in der ermittelt werden soll, ob europäische Staaten mitverantwortlich sind für das Massensterben auf See. „Europa spielt bei dieser Sache eine Rolle“, schrieb Thomas Hammarberg, der Menschenrechtskommissar des Europarates, in Hinblick auf die weit über tausend Flüchtlinge, die allein dieses Frühjahr im Mittelmeer ums Leben kamen. „Die europäischen Regierungen und Institutionen tragen weit mehr Verantwortung für diese Krise, als sie bislang eingestanden haben.“6

Die Politik der EU-Staaten, die Bootsflüchtlinge durch abschreckende Maßnahmen daran hindern will, das Meer zu überqueren, habe keinen Erfolg, so Hammarberg. „Dies hat die Menschen nicht von ihren Versuchen abgehalten, Europa zu erreichen, aber es hat ihre Reise gefährlicher gemacht.“ Die Überfahrten würden dadurch teurer, die Boote überfüllter, umso mehr von ihnen kenterten.

Auch für unterlassene Hilfeleistung macht Hammarberg die europäischen Regierungen und Institutionen verantwortlich: „Die verbindlichen Prinzipien der Seenotrettung müssen nicht nur von jenen befolgt werden, die sich in der Nähe eines sinkenden Schiffes befinden.“ Die europäischen Staaten müssten dringend Maßnahmen zur Seenotrettung von Flüchtlingen ergreifen.

Aber selbst wenn die Rettung erfolgt, zeigt sich, dass es um die Solidarität bei der Aufnahme von Schiffbrüchigen schlecht bestellt ist. Am 11. Juli 2011 rettete eine spanische Fregatte im NATO-Einsatz 114 Bootsflüchtlinge. Es folgte dann das übliche europäische Trauerspiel: Niemand war bereit, die Geretteten aufzunehmen. Die NATO-Zentrale, die Regierungen in Madrid, Rom und Valletta schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Am 15. Juli wurden die Bootsflüchtlinge in internationalen Gewässern von einem tunesischen Patrouillenboot aufgenommen und nach Tunesien gebracht. Ein Sprecher des UN-Flüchtlingskommissariats stellte fest, es sei „bemerkenswert“, dass sie in das „Land gebracht werden, das den Löwenanteil der Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen hat“.

Vergebliche Appelle

Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guteres, appelliert seit Anfang März 2011 immer wieder an die EU-Staaten, Flüchtlinge, die vor den Kämpfen in Libyen fliehen, aufzunehmen. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström versucht, die EU-Mitgliedsstaaten dazu zu bewegen, Schutzsuchende aus Eritrea, Somalia und anderswo, die in Tunesien gestrandet sind, nach Europa zu evakuieren. Doch alle Appelle für ein europäisches Resettlement-Programm stoßen in Berlin und anderswo weitgehend auf Ablehnung und Ignoranz. Bundesinnenminister Friedrich hat bis jetzt lediglich angekündigt, Malta durch die Aufnahme von 150 Flüchtlingen zu entlasten, da die kleine Insel überfordert sei. Das ist eine sehr bescheidene Geste innereuropäischer Solidarität, die durch die hartherzige Politik konterkariert wird. Zu einem Abschiebestopp nach Malta konnte sich das Bundesinnenministerium nämlich nicht durchringen. Deutschland will weiterhin andere Asylsuchende auf Grundlage der europäischen Asylzuständigkeitsregel nach Valletta abzuschieben.

Ohne Perspektive – Leben in Choucha

Eine Delegation des Europäischen Parlaments hat im Juli 2011 Flüchtlingslager in Tunesien besucht, unter anderem das Camp Choucha, in dem derzeit noch knapp 4.000 Menschen ausharren. Flüchtlinge berichteten der Delegation, das, was sie in ihrer Lage wirklich bräuchten, sei die Aufnahme in Drittstaaten. Auch der Bürgermeister von Choucha forderte die Delegation auf, sich zu engagieren: „Die internationale Gemeinschaft muss reagieren. Wir haben bis jetzt keine konkreten Taten gesehen.“ In einer gemeinsamen Erklärung schreiben die Abgeordneten, die harten Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die extremer Hitze, Sandstürmen und Wassermangel ausgesetzt seien, hätten sie betroffen gemacht – ebenso wie die Gastfreundschaft und Solidarität der tunesischen Bevölkerung gegenüber den aus Libyen geflohenen Menschen. Die Delegation forderte: „Die EU sollte sich mehr um Aufnahmeplätze für Flüchtlinge bemühen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurück können.“

Die Gewalt in Libyen geht weiter

Auch unter der De-facto-Regierung des libyschen Übergangsrates reißt die Gewalt gegen tausende ehemaliger Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in Libyen nicht ab. Seit Beginn der Umwälzungen in Libyen sind Migranten und Flüchtlinge, die hauptsächlich aus dem Tschad, Sudan, Niger und Mali kommen, rassistischen Übergriffen, Misshandlungen und willkürlichen Festnahmen ausgesetzt.

Die Organisation malischer Abgeschobener »Association Maliénne des Expulsés«, ein Projektpartner von medico international und PRO ASYL, forderte in einer Stellungnahme vom 2. September 2011 die internationale Gemeinschaft auf, die betroffenen Migranten und Flüchtlinge humanitär zu unterstützen und für ihre Sicherheit sowohl in Libyen als auch in den Grenzregionen und auf Hoher See zu sorgen.

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch äußerte sich am 4. September 2011 besorgt. So beklagte Sarah Leah Whitson, „Es ist eine gefährliche Zeit für dunkelhäutige Menschen in Tripolis“, da sie Gefahr liefen, willkürlich verhaftet zu werden. Zudem seien die Bedingungen in der Abschiebehaft äußerst schlecht: Die Zellen seien überfüllt, die Wasserversorgung äußerst unzureichend, und es fehlten sanitären Anlagen.

Was tun?

Unerlässlich ist eine Initiative zur Rettung der Flüchtlinge aus Libyen, die verhindert, dass sich die Schutzsuchenden dem Todesrisiko einer Überfahrt nach Europa aussetzen müssen. Europa kann nur dann etwas an Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen zurückgewinnen, wenn es eine solidarische Aufnahme dieser Flüchtlinge gewährleistet.

Darüber hinaus muss Europa nach jahrzehntelanger Kumpanei mit Diktatoren alles dafür tun, dass im arabischen Raum stabile demokratische und freiheitliche Strukturen entstehen können. Die Staaten im demokratischen Umbruch dürfen nicht zu »Türstehern Europas« degradiert werden, sondern verdienen eine partnerschaftliche Perspektive. Ihnen muss jegliche wirtschaftliche und politische Hilfe zu teil werden. Dazu gehören auch Ausbildungs- und Studienplätze in Europa sowie legale Migrationsmöglichkeiten.

Anmerkungen

1) Europäisches Parlament: Hinrichtungen in Libyen. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juni 2010 zu den Hinrichtungen in Libyen. Dokument P7_TA-PROV(2010)0246.

2) European Parliament Press Service – Committee: Foreign Afairs: Flight from north African unrest: a long-term solution needed. 16.3.2011.

3) In dem Abkommen sichern sich die beiden Vertragsparteien „gegenseitige Unterstützung und Kooperation bei der Bekämpfung von illegaler Migration, einschließlich bei der Rückführung illegaler Migranten“ zu. Der italienische Außenminister Frattini wurde in Medienberichten zitiert, dass Italien „bereit ist, dem Nationalen Übergangsrat genauso […] zu helfen wie Tunesien, u.a. durch die Bereitstellung von Ausrüstung für Patroullien und für die Verhinderung der illegalen [Boots-] Fahrten“. Der libysche Premier Jabril sagte diesen Berichten zu Folge, dass die „illegale Immigration unserer Meinung nach in den nächsten 25 Jahren die Beziehungen zwischen Europa und Afrika prägen wird“. Siehe Eintrag im Blog »Migrants at Sea« vom 17. Juni 2011.

4) Europäische Kommission: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 des Rates zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX). Brüssel, den 24.2.2010, KOM(2010) 61 endgültig – 2010/0039 (COD); abrufbar auf der Website proasyl.de unter »Themen – Eu-Recht – FRONTEX«.

5) EU-Parlament stimmt Mandatswerweiterung von Frontex zu. PRO ASYL news fom 21.9.2011.

6) Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarates: African migrants are drowning in the Mediterranean. Blogeintrag vom 8. Juni 2011.

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASLY. Er vertritt die Organisation im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles) und ist verantwortlich für die europaweite Vernetzung von PRO ASYL mit Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen.

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

Europa am Ende – Arabien im Aufbruch

von Elias Bierdel

Europa findet angesichts der atemberaubenden Umbrüche in der arabischen Welt keine schlüssige Antwort – und offenbart damit immer mehr den jämmerlichen Zustand seiner Eliten und Institutionen. Von kluger Nachbarschaftspolitik im Süden keine Spur. Beiträge zur konstruktiven Gestaltung der Übergangsprozesse? Friedenspolitik? Fehlanzeige! Europa schafft sich ab.

Besonders schlimm treibt es die deutsche Bundesregierung, die mit ihrem Schlingerkurs vom Auftritt des Außenministers auf dem Tahir-Platz über die Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat und die nachfolgende Lieferung von Bomben und Raketen an Großbritannien für deren Libyen-Einsatz bis hin zu den geheim gehaltenen Panzerlieferungen an Saudi-Arabien immerhin ein klares Signal an die mutigen Aufständischen sendet: Wenn es um Eure Freiheit geht – rechnet nicht mit uns! Zur Bestätigung verliest ein Unionsabgeordneter im Deutschen Bundestag den Brief des Krauss-Maffei-Betriebsrates, in dem dieser wegen der „schlechten Auftragslage“ des Rüstungskonzerns barmt. Heuchlerischer geht es nimmer.

Auf keinem Gebiet aber wird der moralisch-politische Bankrott so sichtbar, wie beim Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen, die zu hunderttausenden die Kriegs- und Nachkriegsregionen verlassen (müssen), von denen aber nur wenige die Überfahrt nach Europa wagen.

Kaum waren nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes die ersten Boote auf Lampedusa eingetroffen, rief Italien den »humanitären Notstand« aus. Die vorsätzlich geschürte Hysterie griff planmäßig umgehend auf den Rest der nervlich stark angegriffenen (Euro-Krise!) EU-Mitgliedsländer über. Auch aus Bayern war reflexhaft der Ruf zu hören, wonach „notfalls die Schlagbäume wieder geschlossen“ werden müssten. Frankreich stoppte internationale Fernzüge, nachdem die Regierung in Rom für die ohne Einladung eingereisten Nordafrikaner Reisepapiere ausgestellt hatte. Am Ende richtete dann Dänemark jene regulären Grenzkontrollen wieder ein, deren Abschaffung bis dato als Spitzenprodukt des »Acquis Communitaire«, der zivilisatorischen EU-Errungenschaften, galt. Freizügigkeit in der Schengenzone? War einmal.

Dabei geht es nicht nur um ein paar lieb gewonnene Reisefreiheiten für Wohnwagen-Touristen: Die gesamte Union gibt ihre Identität als internationale Hüterin der Menschenrechte preis, wenn Flüchtlinge zunehmend als reines »Sicherheitsproblem« definiert und behandelt werden.

Die wahren Dramen spielen sich freilich ein paar tausend Kilometer weiter südlich ab: Dort sind seit Jahresbeginn unter den Augen europäischer Grenzwächter und diverser Marineeinheiten bereits mehr als 1.800 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken oder verdurstet; die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Es häufen sich Berichte von Überlebenden, die schildern, wie große Schiffe (darunter auch solche der NATO-Kriegsmarine) ohne Halt an ihnen vorüberfuhren, während unter den Verzweifelten das Sterben schon begonnen hatte. Die Unseligen werden zum Tode auf See verurteilt, weil sich Europa für unzuständig und überfordert erklärt. In einzelnen Fällen, wie wir sie seit Jahren mit »borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen« dokumentieren konnten, schoben Küstenwacht-Einheiten Flüchtlingsboote wochenlang hin und her, bis am Ende von über 80 Bootsinsassen nur noch fünf am Leben waren.

Angesichts der revolutionären Ereignisse jenseits des Mittelmeeres verstärkt die EU die Abschottung, wo doch entschlossene humanitäre Hilfe nötig wäre. Die Regierungschefs einigten sich in Rekordzeit auf eine Verstärkung der Grenzsicherungsagentur FRONTEX. Rund 400 Millionen Euro sagte die zunehmend klamme EU allein Tunesien als „Unterstützung für den Staatsaufbau“ zu. Gemeint ist damit vor allem die Stärkung des Sicherheitsapparates, von dem effiziente Maßnahmen erwartet werden, um die Weiterreise unerwünschter MigrantInnen in Richtung Europa zu unterbinden. Waffensysteme und Schiffe zum entsprechenden Einsatz sind bereits nach Tunis unterwegs. Wie das wirtschaftlich geschwächte Tunesien aber mit der Last zehntausender Libyen-Flüchtlinge im eigenen Land fertig werden soll, das bleibt unklar.

Wo die EU politisch wie moralisch auf der ganzen Linie versagt, ist es der 1949 gegründete Europarat, der die Staaten des »Kontinents der Menschenrechte« an ihren historischen Auftrag erinnert: „Ihr Schweigen und ihre Passivität sind schwer zu akzeptieren“, kritisierte der Menschenrechtsbeauftragte der Länderorganisation. Anstatt den Flüchtlingen zu helfen, versuche Europa vor allem, sie von seinen Grenzen fernzuhalten. Damit habe man die Flucht noch gefährlicher gemacht und den Schleppern einen Grund gegeben, ihre Tarife zu erhöhen.

Wohl wahr. Es steht allerdings zu befürchten, dass genau dies auch beabsichtigt ist. „BürgerInnen Europas, empört Euch!“ (©: Stéphane Hessel)

Elias Bierdel ist Menschenrechtsaktivist (borderline-europe.de), Buchautor (»Ende einer Rettungsfahrt«) und seit 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ÖSFK/Friedensburg Schlaining.

Friedenspreis für Pro Asyl

Friedenspreis für Pro Asyl

Göttingen, 6. März 2010

von Jürgen Nieth

In Würdigung seiner langjährigen Arbeit für die Belange der Flüchtlinge und insbesondere für die erfolgreiche Realisierung der Kampagne »Stoppt das Sterben« hat die Stiftung Dr. Roland Röhl den Förderverein Pro Asyl e.V. am 6. März mit dem »Göttinger Friedenspreis 2010« ausgezeichnet.

Der Göttinger Friedenspreis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 3.000 Euro dotiert. In seinem Grußwort betonte der Präsident der Georg-August-Universität, Prof. Dr. Kurt von Figura: „Die Universität ist froh, alljährlich der Ort für die Verleihung dieses außergewöhnlichen Preises sein zu dürfen und so das Anliegen Dr. Röhls unterstützen zu können. Dem diesjährigen Preisträger Pro Asyl gratulieren wir sehr herzlich zu dieser Auszeichnung. Für die künftige Arbeit wünschen wir Pro Asyl weiterhin viel Erfolg.“ Dr. von Figura hob hervor, dass Dr. Roland Röhl Anfang der 1980er Jahre als Wissenschaftler zum Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie nach Göttingen gekommen sei und später als Wissenschaftsjournalist sich besonders dem Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung zugewandt und dort großes Renommee erworben habe. Roland Röhl starb 1997 im Alter von 42 Jahren. Zuvor hatte er Vorkehrungen getroffen, eine Stiftung zu errichten, die dazu verhelfen soll, der Konflikt- und Friedensforschung Geltung zu verschaffen. Mit ihrer Hilfe wird seither der Göttinger Friedenspreis verliehen.

In der diesjährigen Begründung zur Preisverleihung heißt es dazu unter anderem:

„Pro Asyl lässt sich seit seiner Gründung 1986 von dem Prinzip leiten, dass Flüchtlinge einen Anspruch auf Respektierung ihrer Menschenrechte und auf Schutz vor Verfolgung haben. Pro Asyl engagiert sich für ein humanes und gerechtes Asylrecht in Deutschland und ganz Europa.

Immer häufiger werden Flüchtlinge … ohne Prüfung ihres Asylbegehrens in das EU-Land zurückgeschoben, über das sie eingereist sind. Auf Familienbindungen oder humanitäre Verpflichtungen wird dabei selbst bei Jugendlichen zumeist keine Rücksicht genommen. In einigen Grenzländern der EU sind seit Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen bis hin zu schweren Misshandlungen zu verzeichnen.

Neben einer Vielzahl anderer Aktivitäten unterstützt und organisiert Pro Asyl schwerpunktmäßig Flüchtlingsprojekte an den Außengrenzen der EU … Pro Asyl mischt sich in politische Debatten ein und setzt sich für humane Aufnahmebedingungen Schutzsuchender und für die Einhaltung menschenrechtlicher Standards in Europa ein. Es appelliert an das Europäische Parlament, seine humanitäre Aufgabe zu erfüllen und die Flüchtlings- und Menschenrechte ernst zu nehmen. Kritisiert werden unterschiedliche und restriktive Aufnahmebedingungen, Druck gegenüber den ärmeren Grenzländern, Brutalisierungstendenzen im Umgang mit Schutzsuchenden. Konkret wird die Einstellung der FRONTEX-Einsätze gefordert.

Um immer wieder auf das Schicksal von Flüchtlingen aufmerksam zu machen, betreibt Pro Asyl eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Es informiert per Pressemitteilungen, Pressekonferenzen, Flugblättern und Broschüren sowie regelmäßigen Mitglieder- und Spenderinformationen. Es sorgt für vertiefende und fachkundige Informationen durch themenspezifische Materialsammlungen, Bücher und Angebote im Internetportal. Es steht den Schutzsuchenden bei Behörden und Gerichten mit Recherchen, Gutachten und Rechtshilfen zur Seite.

Pro Asyl tritt an einer zentralen Schnittstelle von innerer und äußerer Friedensförderung für die Gebote menschlicher Sicherheit ein und wirkt damit als wichtige »Stimme der Humanität«…“

Es ist nicht der erste Friedenspreis, mit dem die Arbeit von Pro Asyl gewürdigt wurde. 1998 wurde der Verein bereits mit dem Bonhoeffer-Preis ausgezeichnet und 2001 erhielt Pro Asyl den Aachener Friedenspreis.

Für Pro Asyl nahmen deren Geschäftsführer Günter Burkhardt und der Europareferent Karl Kopp den Preis entgegen. In seiner Dankesrede schilderte Günter Burkhardt die traurige Realität an Europas Außengrenzen:

„Die Menschenrechte und internationale Flüchtlingsschutzstandards werden täglich an den EU-Außengrenzen eklatant verletzt. Schutzsuchende werden in Transitländer wie Libyen, die Türkei, Mauretanien und die Ukraine zurück transportiert – egal wie es dort um die Menschenrechte bestellt ist. Die Todesrate bei den Einreiseversuchen an der Seegrenze nach Europa ist unvermindert hoch. Über 500 Bootsflüchtlinge sind allein 2009 im Kanal von Sizilien ums Leben gekommen. Häufig schauen Mitgliedstaaten einfach nur zu, wie Bootsflüchtlinge verzweifelt um ihr nacktes Überleben kämpfen und streiten sich derweil über Zuständigkeitsfragen bei der Seenotrettung. Schiffscrews, die Flüchtlinge aus dem Wasser fischen, müssen befürchten mit skandalösen Verfahren wegen Beihilfe zur »illegalen Einreise« überzogen zu werden. Die fatale Botschaft dieser Gerichtsverfahren: Schiffsbesatzungen schaut weg, fahrt weiter und legt euch nicht mit der Festung Europa an. Entlang der europäischen Küsten und Landgrenzen entstehen immer mehr Haftanstalten für die neu ankommenden Flüchtlinge. Potentiellen Schutzsuchenden auf der anderen Seite des Meeres soll vermittelt werden, dass an den europäischen Küsten nur die Inhaftierung, der Rücktransport oder der nasse Tod auf sie warten.“

Eindringlich schilderte er am Beispiel zweier Prozesse wie Lebensretter kriminalisiert werden sollen. Während der Kapitän Stefan Schmidt und Elias Bierdel, die zusammen mit der Crew der Cap Anamur im Juni 2004 37 Bootsflüchtlinge vor dem sicheren Tod retteten, nach einem fast dreijährigen Prozess – wohl auf Grund des großen internationalen Drucks – freigesprochen wurden, gab es Haftstrafen für tunesische Fischer.

„Die beiden tunesischen Kapitäne der »Morthada« und der »Mohamed El Hedi« wurden (in Italien) wegen angeblichem Widerstand gegen die Staatsgewalt und gegen ein Kriegsschiff zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt …

Der damals diensthabende Kommandant der italienischen Küstenwache vertrat im Prozess die Auffassung, die Bootsflüchtlinge seien nicht in Lebensgefahr gewesen. Deshalb habe es sich nicht um eine Rettungsaktion gehandelt. Es sei die Pflicht der Küstenwache gewesen, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern. Die Manöver, mit denen die Kapitäne einer Kollision mit den Marineschiffen auswichen, wurden ihnen nun zur Last gelegt.

Fakt ist: Den Flüchtlingen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Der Fischer Zenzeri erzählte: »Eine Schwangere hätte Lampedusa nicht mehr lebend erreicht, wenn wir ihr nicht mit traditionellen Mitteln geholfen hätten. Sie war sonnenverbrannt und am Verdursten. Alle 15 Minuten haben wir ihr frische Tücher aufgelegt, sie konnte kaum die Augen öffnen, war fast tot.« Allein drei Bootsflüchtlinge mussten umgehend nach ihrer Ankunft auf Lampedusa mit dem Rettungshubschrauber nach Sizilien ausgeflogen werden.

Die beiden verurteilten Kapitäne gehen nun in die Berufung. Ihre Schiffe wurden konfisziert, ihre Fischereilizenzen nicht erneuert.“ Damit wurde ihre Existenz vernichtet.

Zu den Auswirkungen solcher Urteile zitiert Burkhardt den Fischer Mohamed Anine Bayoud: „Ich bin 22 und ich habe keine Zukunft. Die Italiener haben ihr Ziel erreicht: viele Fischer sagen sich, sie wollen nicht helfen, damit es ihnen nicht ergeht wie Zenzeri und meinem Vater.“

Burkhardt kündigte an, dass Pro Asyl das Preisgeld des Göttinger Friedenspreises in Höhe von 3.000 Euro den tunesischen Fischern zukommen lassen wird. „Solidarität heißt, diese Lebenesretter zu unterstützen.“ Zusätzlich wird Pro Asyl Mittel bereitstellen für den weiteren Prozess.

Der Geschäftsführer von Pro Asyl verwies auf erste Erfolge der Kampagne »Stoppt das Sterben!«: „Als Pro Asyl vor rund drei Jahren (2008) diese Kampagne startete, war das Sterben an Europas Grenzen kaum ein Thema in Deutschland. Die (Frontex)Agentur und ihr oft menschenrechtsverletzendes Handeln kannte kaum jemand. Heute hat sich dies geändert, vor allem im Sommer wird die Tragödie an Europas Grenzen öffentlich.“ Kritisch stellte er dann fest, dass für die Regierungen aber offensichtlich nach wie vor »Stoppt das Sterben!« heißt, „macht es unsichtbar!

Im Süden Lybiens soll ein elektrischer Zaun gebaut werden – finanziert mit Mitteln der Europäischen Union. Mit der Türkei wird über ein Rückübernahmeabkommen verhandelt. Wirtschaftliche Vorteile und Geld dürften in Aussicht gestellt werden für eine regidere Grenzkontrolle.“

Burkhardt verweist darauf, dass nebulös und unpräzise bleibt, was konkret die Grenzschützer unter Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention an Europas Grenzen tun sollen. „Wie wird geprüft, ob Personen schutzbedürftig sind? Wie wird ggf. ein Zugang zu einem Asylverfahren gewährt? Und vor allem: Wer ist verantwortlich, wenn bei einem -Einsatz mehrere Mitgliedstaaten mit gemischten Polizeiteams koordiniert zusammenarbeiten? Was ist mit Personen auf Hoher See, die erkennbar besonderen Schutz im Sinne der Flüchtlingsaufnahmerichtlinien der Europäischen Union bedürfen – so z.B. Minderjährige, Behinderte, Schwangere oder ältere Menschen? All dies ist offen. Gibt es Anfragen im Deutschen Bundestag, etwa von der Fraktion der Grünen oder der Linken – sind die Antworten nebulös… (Wird z.B. präzise) gefragt, welche Übereinkünfte es von EU-Staaten mit anderen Staaten gibt. Die Antwort: »Die Bundesregierung sieht sich außerstande, für alle an Einsatzmaßnahmen teilnehmenden Staaten alle hier in Frage kommenden zwei- oder mehrseitigen Übereinkünfte aufzuführen.« Dabei weiß die Regierung sehr genau, welche Abkommen es gibt, so z.B. Italien mit Libyen. Im Februar wurden nun drei weitere Schnellboote von Italien zur Verfügung gestellt, die patrouillieren. Insgesamt waren es sechs. Libyen verhindert so, dass Flüchtlinge, vor allem aus Eritrea, Italien erreichen. Italien schiebt zurück. Kommen Boote doch in die Nähe italienischer Gewässer, werden libysche Einheiten gerufen und die Menschen zurück verfrachtet.“

Kritisch beleuchtete auch Jürgen Trittin, Bundesminister a.D. und Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, in seiner Laudatio die EU-Abschottungspolitik: „Die EU reagiert auf das Elend vor den Toren Europas mit einer immer massiveren Abschottung. Zur koordinierten Abschottung wurde im Jahr 2004 eine Europäische Grenz-Agentur mit dem Namen Frontex gegründet. Über Jahre hinweg agiert diese Agentur, ohne dass sich die EU-Regierungen mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen von Frontex ernsthaft auseinandergesetzt hätten. Monat für Monat werden Flüchtlingsboote im Mittelmeer oder dem Atlantik durch Frontex-Schiffe abgefangen und an ihrer Weiterfahrt in die EU gehindert.

Dabei sollten die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, einheitliche Auslegung des Seerechts, einheitliche Definition von Seenot, bessere Zusammenarbeit mit dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) und die parlamentarische Kontrolle durch den Bundestag und das Europäische Parlament eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Das Refoulement-Verbot – das Verbot, Flüchtlingsboote zurückzuweisen – muss auch auf hoher See gelten und aufgegriffene Schiffbrüchige sollen auf das Territorium des flaggeführenden oder nächstgelegenen Mitgliedstaats gebracht werden. Dort muss dann entschieden werden, wer schutzbedürftig ist und wer zurück muss.“

Jürgen Nieth

Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa

Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa

The Security – Migration Nexus II

von Clara Fischer

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung übersteigt in Afrika südlich der Sahara die Süd-Süd Migration die Süd-Nord Migration um ein erhebliches Maß. Über 2/3 aller Migrantinnen und Migranten aus Ländern südlich der Sahara migrieren innerhalb der Region. Unfreiwillige Migration macht dabei einen großen Anteil der Bevölkerungsbewegungen aus. Etwa 20 Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung (ca. 2,3 Millionen; UNHCR, 2008) und etwa die Hälfte der weltweit 25 Millionen Binnenvertriebenen (IDPs) (12,7 Mio; IDMC, 2007) leben in Afrika. Neben Flüchtlingen und Binnenvertriebenen aufgrund von Konflikten gelten zunehmend auch durch Umweltkatastrophen, Umweltzerstörung und Entwicklungsprojekte Vertriebene als unfreiwillige Migrantinnen und Migranten.

Am 13. und 14. Februar 2009 führte das Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC) in Bonn eine internationale Konferenz »Migration and Displacement in Sub-Saharan Africa. The Security – Migration Nexus II« durch. Die Veranstaltung fand im Haus der Deutschen Welle statt und wurde unterstützt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Rund 150 Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft waren der Einladung des BICC gefolgt und diskutierten Ursachen und Erscheinungsformen der Süd-Süd-Migration in Afrika. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz, die von Dr. Doris Witteler-Stiepelmann, BMZ, Winfried Mengelkamp, MGFFI (Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen), und Peter J. Croll, BICC, eröffnet wurde, gehörten u.a. prominente Vertreterinnen und Vertreter aus Forschung, relevanten Ministerien und afrikanischen Regionalorganisationen sowie lokalen und internationalen humanitären Organisationen.

Der erste Konferenztag hatte einen wissenschaftlich-analytischen Fokus und befasste sich primär mit Ursachen und unterschiedlichen Formen unfreiwilliger Migration in Afrika südlich der Sahara sowie mit den sozialen und politischen Auswirkungen auf betroffenen Länder der Region. Die Abgrenzung von freiwilliger und unfreiwilliger Migration – sei es innerhalb eines Staates oder grenzüberschreitend – ist vor allem aufgrund der Komplexität von Migrationsursachen schwierig und die Anwendung wissenschaftlicher Konzepte in der Praxis nicht immer sinnvoll. In seinem Impulsreferat betonte Dr. John Oucho (Universität von Warwick, Coventry), dass es sich bei beiden Phänomenen weniger um einen Gegensatz denn um ein Kontinuum handele.

Dr. Wim Naudé (UNU-WIDER, Helsinki) präsentierte seine Forschungsergebnisse zu den Ursachen internationaler Migration in Afrika südlich der Sahara. Demnach stellen Konflikte den wichtigsten Faktor, der zur Entstehung von Flüchtlingsströmen führt, dar. Umweltfaktoren können auch, insofern sie die Wahrscheinlichkeit für das Ausbrechen von Konflikten erhöhen und das wirtschaftliche Wachstum der betroffenen Staaten behindern, eine indirekte Ursache für internationale Migration darstellen. Dr. Koko Warner (UNU-EHS, Bonn) widmete sich in ihrem Vortrag insbesondere dem Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migration in Westafrika.

Darüber hinaus diskutierte die Konferenz humanitäre, legale und soziale Konsequenzen von unfreiwilliger Migration auf die betroffenen Menschen sowie die Auswirkungen unfreiwilliger Zu- und Abwanderung, Umsiedlung und Rückkehr auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Herkunfts-, Transit- und Aufnahmeländer. Joseph Chilengi (Africa IDP Voice, Lusaka) ging in seinem Vortrag auf die soziale Vulnerabilität von Flüchtlingen und IDPs ein. Nuur Mohamud Sheekh vom Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Genf konzentrierte sich auf die Situation und die besonderen Bedürfnisse von Binnenvertriebenen sowie auf Fortschritte und Hindernisse bei der Implementierung der vor zehn Jahren verabschiedeten »Guiding Principles on Internal Displacement« anhand der Fallbeispiele Somalia und Kenia.

Dr. Sadia Hassanen vom Centre for Research in International Migration and Ethnic Relations (CEIFO), Stockholm, widmete sich in ihrem Vortrag der Rückkehr, Wiederansiedlung und Reintegration eritreischer Flüchtlinge im Sudan. Die von Andrea Warnecke (BICC) moderierte Podiumsdiskussion zum Nexus zwischen Migration und Sicherheit hatte die Auswirkungen unfreiwilliger Migration auf die betroffenen Menschen und die Aufnahmegemeinschaften von Flüchtlingen unter dem besonderen Aspekt der menschlichen Sicherheit zum Inhalt.

Am zweiten Konferenztag standen konkrete Handlungsansätze und Instrumente der »Migration Governance« im Mittelpunkt. Dr. Khoti Kamanga (Centre for the Study of Forced Migration (CSFM), University of Dar es Salaam) präsentierte zusammenfassend die am ersten Tag diskutierten Ansätze und die sich daraus ergebenden Herausforderungen an Politik, Zivilgesellschaft und internationale Organisationen. Dr. Loren B. Landau (Universität von Witwatersrand, Johannesburg) hielt ein Impulsreferat zur politischen Agenda und hinterfragte kritisch die Rolle der internationalen Akteure. Anschließend diskutierten Vertreterinnen und Vertreter nationaler Regierungen und Regionalorganisationen auf dem von Dimitria Clayton (MGFFI) moderierten Podium konkrete Instrumente und Handlungsansätze auf nationaler und regionaler Ebene. Busisiwe J. Mkhwebane-Tshehla (South African Department of Home Affairs, Pretoria) erläuterte unter anderem die in der Republik Südafrika entwickelte Integrationsstrategie für Flüchtlinge. Veronica Eragu Bichetero, ehemaliges Mitglied der Menschenrechtskommission in Uganda (UHRC, Kampala) stellte die Lage von Flüchtlingen und IDPs in Uganda sowie die ugandische Gesetzgebung zu Flüchtlingen und IDPs vor. Dr. Anthony Barclay (Economic Community Of West African States (ECOWAS), Abuja) diskutierte die Ansätze, die ECOWAS als Regionalorganisation zur Begegnung von Flüchtlingsaufkommen in der Region entwickelt hat. Dr. Kamel Esseghairi (African Mediterranean Institute of Peace and Sustainable Development, Bardo) sowie Mehari Taddele Maru (Afrikanische Union, Addis Ababa) stellten Initiativen der Afrikanischen Union, Flucht und Vertreibung zu begegnen, vor.

Schließlich sprachen auf einem Podium zur Rolle von Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen Steven Corliss (UNHCR, Genf), Anne Zeidan, International Committee of the Red Cross (ICRC), Genf), Lisbeth Pilegaard (Norwegian Refugee Council (NRC), Oslo), Sicel’mpilo Shange-Buthane (Consortium for Refugees and Migrants in South Africa (CoRMSA), Johannesburg), Charles A. Kwenin (International Organization for Migration (IOM), Addis Ababa) sowie als Vertreterin der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Claudia Bürkin (KfW Entwicklungsbank, Frankfurt a.M.) über unterschiedliche Perspektiven und komplementäre Ansätze im Bereich Flucht und Vertreibung in Subsahara-Afrika. Betont wurde insbesondere die Notwendigkeit des »burden-sharing« zwischen Aufnahmeländern von Flüchtlingen und der internationalen Gemeinschaft.

Eine Zusammenfassung der während der Konferenz erarbeiteten Empfehlungen und einen Ausblick gab Baffour Amoa vom West African Action Network on Small Arms (WAANSA), Accra. Er rief dazu auf, die Forschung zu Migration in Afrika voranzutreiben sowie Forschung und Politik enger zu verknüpfen. Von großer Dringlichkeit sei es, die Datenlage zu Flucht und Vertreibung in Afrika sowie den Daten- und Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Akteuren zu verbessern. Er betonte zudem, dass unfreiwillige Migration ein Phänomen sei, das eines interdisziplinären Ansatzes und der Einbeziehung aller beteiligten Akteure, einschließlich der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen selbst, bedürfe. Unfreiwillige Migration sei vor allem ein Menschenrechtsthema, für das primär die betroffenen Staaten Verantwortung tragen müssten. Die Konferenz regte zudem ein Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit an. Prävention und die Bearbeitung der Fluchtursachen müssten mehr in den Fokus der internationalen Gemeinschaft rücken und das Thema Migration zum festen Bestandteil der Entwicklungspolitik werden.

In seinem Schlusswort kündigte BICC Direktor Peter Croll an, die Konferenz zum Ausgangspunkt für die Etablierung eines Netzwerkes von Wissenschaftlern und Praktikern zur Förderung von Austausch und Kooperation im Bereich Migration und Vertreibung zu machen. BICC plant zudem weitere Workshops im Themenfeld Migration und Konflikte sowie eine Folgekonferenz, die 2010 nach Möglichkeit in Afrika stattfinden soll.

Alle Konferenzbeiträge werden in Form eines BICC briefs Anfang Mai 2009 veröffentlicht.

Von Clara Fischer

The Security-Migration Nexus

The Security-Migration Nexus

Challenges and Opportunities of African Migration to EU Countries

von Andrea Warnecke und Peter J. Croll

Über 150 nationale und internationale Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft folgten der Einladung des BICC (Bonn International Center for Conversion), vom 22. bis 23. Februar 2008 in Bonn auf einer internationalen Konferenz Herausforderungen und Chancen der afrikanischen Migration nach Europa zu diskutieren. Die zweitägige Veranstaltung mit dem Titel »The Security – Migration Nexus. Challenges and Opportunities of African Migration to EU Countries« im Haus der Deutschen Welle wurde unterstützt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Sowohl die öffentliche als auch ein Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Migration und Sicherheit ist von Bedrohungsszenarien geprägt. Diese reichen von Befürchtungen hinsichtlich einer unkontrollierbaren irregulären Zuwanderung, der damit einhergehenden organisierten Kriminalität (Menschenhandel), bis hin zu Überfremdungsängsten hinsichtlich eines erwarteten »demographischen Ungleichgewichts« infolge sinkender Geburtenraten in vielen europäischen Industrienationen. Weitere Szenarien beschäftigen sich mit der Entstehung sogenannter »Parallelgesellschaften« infolge gescheiterter bzw. fehlender Integrationsbemühungen sowie – und dass nicht erst seit den Terroranschlägen des 11. September – mit dem vielfach angenommenen Kausalzusammenhang von Migration und der Expansion des internationalen Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund hatte es sich die Konferenz zum Ziel gesetzt, die komplexen Verknüpfungen, d.h. den Nexus von Migration und Sicherheit, anhand der Interessenlagen und Sicherheitsbedürfnisse der drei beteiligten Akteursgruppen – Migranten, Herkunfts- und Aufnahmeländer – aufzuzeigen. Als Gegenwicht zu den vorwiegend an staatlichen Parametern orientierten Sicherheitsdiskursen in den Gesellschaften der Aufnahmeländer wollte die Konferenz die Bedürfnisse und Anliegen aller am Migrationgeschehen Beteiligten gleichermaßen beleuchten.

Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Erich Stather, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Winfried Mengelkamp, Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI), Bärbel Dieckmann, Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn, Miodrag Soric, Chefredakteur DW-Radio, und Peter J. Croll, Direktor des BICC.

Das Programm gliederte sich in zwei Teile. Im Anschluss an eine allgemeine Einführung in die Thematik diente der erste Konferenztag unter der Überschrift »The Three Dimensions of International Migration. The Feasibility of Triple-Win?« der Identifizierung und Diskussion der jeweiligen Sicherheitsinteressen von Migranten sowie der Gesellschaften in den Herkunfts- und Aufnahmeländern.

In ihrem Impulsreferat zur Konferenz betonte Bundestagspräsidentin a.D. Prof. Rita Süßmuth, Vorsitzende der »EU Hochrangigen Beratergruppe (High Level Group) für Integration von benachteiligten ethnischen Minderheiten in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt« sowie Mitglied im Kuratorium des OECD Entwicklungszentrumprojekts »Bereicherung durch Migration«: „Die weltweite Migration ist keine Bedrohung, sondern ein bereichernder Tatbestand, wenn wir sie zum Vorteil aller Beteiligten gestalten. Migranten sind ein Teil der Lösung unserer nationalen und globalen Probleme.“

Auch Dr. Steffen Angenendt (Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP) sprach sich nicht zuletzt angesichts demographischer Entwicklungen für eine Politik der »offenen Tür« aus.

Ebenfalls mit Blick auf die Entwicklung eines weltweiten Migrationsmanagements forderte die stellvertretende Generalsekretärin der International Organization for Migration (IOM), Frau Ndioro Ndiaye, die europäischen Regierungen zu mehr Politikkohärenz und einer verbesserten Abstimmung der für Migrationsthemen zuständigen Ministerien auf.

Im einzelnen konzentrierten sich die Diskussionen auf die Lebensbedingungen und Sicherheitsbedürfnisse afrikanischer Migranten in Europa, den Einfluss von Diaspora-Organisationen auf Konflikte und Friedensprozesse in den Herkunftsländern sowie die Auswirkungen von Diasporaaktivitäten auf die Sicherheitsinteressen der Aufnahmeländer.

Dabei stand wiederholt der von Dr. Claudia Aradau (The Open University, UK) und Dr. Fiona Adamson (University of London) angesprochene Aspekt der Gleichheit bzw. Ungleichheit im Vordergrund. Im modernen Nationalstaat beziehe sich »Sicherheit« vorrangig auf die eigenen Subjekte, so dass Migranten unter einer strukturell bedingten Ungleichbehandlung litten. Der Schaffung von Sicherheit, sei es in rechtlicher, wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht, müsse daher zunächst eine Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung von Migranten vorausgehen.

Mit Blick auf eine Stärkung transnationaler Diasporanetzwerke zur Förderung der Friedensarbeit in den Herkunftsländern wies auch Dr. Awil Mohamoud (African Diaspora Policy Centre, ADPC, Amsterdam) darauf hin, dass ein erfolgreiches und effektives Engagement dieser Gruppen eine Verbesserung der Lebensbedingungen und damit der sozialen Sicherheit vieler Migranten bzw. Diasporamitglieder voraussetze.

Am zweiten Tag der Veranstaltung wurde diese Diskussion dann praxisorientiert unter Einbeziehung von Vertretern staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen im Anschluss an den Vortrag von Andrea Warnecke (BICC) zu den wesentlichen Herausforderungen des »Security-Migration Nexus« sowie einer Einführung von Margit Fauser (Center on Migration, Citizenship and Development, COMCAD, Universität Bielefeld) zu den Akteuren des internationalen Migrationsmanagements erweitert.

An dem von Dimitria Clayton (MGFFI) moderierten »Stakeholder Panel« nahmen Andrea Riester von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Dr. Axel Kreienbrink vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Eugène Kandekwe vom MIDA-Programm der International Organization for Migration (IOM), Ababacar Seck vom Afrikanischen Dachverband NRW e.V., Mehari Taddele Maru von der African Rally for Peace and Development (ARPD) in Addis Abeba sowie Dr. Anne Hünnemeyer von der KfW Entwicklungsbank teil. Zentrale Punkte waren die unterschiedlichen Perspektiven, Rollen und Ansätze der jeweiligen Organisationen im Migrationsgeschehen sowie mögliche Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkte.

Die Teilnehmer der Konferenz kamen aus zahlreichen afrikanischen und europäischen Ländern, darunter auch Melkamu Adisu, Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW), Äthiopien, Eugène Kandekwe, Migration for Development (MIDA), Ruanda, Dr. Tamer Afifi, United Nations University (UNU – EHS), Bonn sowie Boris Nieswand, Max Planck Institut für Sozialanthropologie, Halle.