Editorial

Editorial

von Jürgen Nieth

„Nach UNHCR-Angaben wurden bei den jüngsten Kämpfen insgesamt 4.000 Menschen vertrieben.“

„Die italienische Küstenwache hat am Samstag mehr als 1.000 Flüchtlinge in Auffanglager gebracht, die aus dem Kosovo geflohen waren.“

„Sie sind um Mitternacht gekommen und haben uns fünf Minuten gegeben. Als wir nach hier oben flohen, haben wir unser Haus schon brennen sehen.“

Können Sie diese Zitate zeitlich zuordnen? Das erste ist vom 04. März 1999, die beiden anderen sind vom Juli und August. Dazwischen liegen 11 Wochen Krieg. Ein Angriffskrieg der NATO geführt im Namen der Menschenrechte.

Den Kriegsverlauf kennen wir: Die Eskalation der Flüchtlingsströme, das Elend, die Bilder von den Opfern fanatisierter Milizen, von Bomben und Raketen. Ein »High-Tech-Krieg«, indem die Zivilbevölkerung die Zeche zahlte. Tausende toter Zivilisten auf der einen Seite, auf der anderen eine Hand voll »verunglückter« NATO-Soldaten und 258 tote jugoslawische Soldaten und Polizisten.

Jetzt sind viele, die während des Krieges geflohen sind oder vertrieben wurden, in ihre verwüstete Heimat zurückgekehrt. Frieden ist nicht eingekehrt. Die Gewalt der Waffen hat Hass geschaffen. Früher wurden die Rechte der Bevölkerungsmehrheit durch die Regierenden beschnitten, heute flüchten die Minderheiten. Auf 200.000 schätzte das UN-Flüchtlingswerk die Zahl der Albaner, die in den zwei Jahren vor dem Krieg aus dem Kosovo flohen. Seit dem Krieg flüchteten 195.000, also 85 Prozent der dort vor dem Krieg lebenden Serben.

Die Tausend Roma, die Anfang Juli an der Küste Italiens anlandeten (siehe Zitat am Anfang) bekamen übrigens kein politisches Asyl.

Es sieht so aus, als hätten die Serben, die Roma und die Goraner im Kosovo keine Zukunft, als hätte der Krieg die Chancen auf eine politische Ordnung, in der Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammenleben können, endgültig zerbombt.

Es sieht so aus, als ob die ethnische »Säuberung« im Kosovo bald vollendet sei. Und das bei Anwesenheit der NATO-Truppen, die vorgaben Krieg zu führen um ethnische Vertreibungen zu verhindern. Die Nachkriegs-Realität: Französische Soldaten in Mitrovica sahen zu, als 7.000 Roma vertrieben und ihr Viertel niedergebrannt wurde; Deutsche Truppen in Prizren gaben militärischen Geleitschutz bei der Flucht von 10.000 Serben – das kann man auch als Beihilfe zur Vertreibung deuten. Die Internationale Polizei aber, die eben diese Entwicklung verhindern und eine ethnisch gemischte örtliche Polizei aufbauen sollte, ist faktisch nicht anwesend. Von der Sollstärke von 3.155 waren zwei Monate nach dem Krieg nicht einmal zehn Prozent vor Ort.

Und nun? 700.000 Serben aus Kroatien und Bosnien leben bereits im Restjugoslawien, dazu noch 200.000, die im Kosovo ihre Heimat verloren haben.

Die Infrastruktur dieses Landes ist zerstört; Brücken, Straßen, Eisenbahnlinien, die größeren Betriebe, die Energieversorgung, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wurden zerbombt. Allein auf die eigene Kraft angewiesen, wird dieses Land auf Jahrzehnte zum Armenhaus Europas und zu einem dauernden Konfliktherd. Nicht der einzige auf dem Balkan, schließlich wurde mit dem Krieg auch die Lage in den Nachbarstaaten destabilisiert, wurden Hass und Nationalismus beflügelt.

Vor diesem Hintergrund ist ein »Stabilitätspakt« für den Balkan, ist Hilfe zur Lösung der humanitären Probleme, zum Aufbau der Infrastruktur, zur Entwicklung demokratischer Strukturen, zur zivilen Konfliktbearbeitung, dringend erforderlich.

Wirksam kann ein solcher Stabilitätspakt aber nur dann sein, wenn alle betroffenen Staaten einbezogen werden, wenn ein Zukunftsprogramm für die Region erarbeitet wird und wenn möglichst schnell ein Hilfsprogramm anläuft, das den Namen tatsächlich verdient. Doch davon sind wir weit entfernt.

Der Ausschluss Jugoslawiens, so lang Milosevic im Amt ist, das ist die Fortsetzung der alten Machtpolitik, das sieht mehr nach Rache aus als nach Lösungssuche. Selbst Außenminister Fischer muss zugeben, dass man ohne die Serben im Boot zu haben, „wesentliche Entscheidungen nicht treffen“ kann.

Die Summen, die bisher für die humanitäre Soforthilfe genannt werden, stimmen auch nicht gerade optimistisch. Auf 100 Milliarden Mark werden die NATO-Kriegskosten veranschlagt, von den 1,5 Milliarden Mark, die das UNHCR und das Rote Kreuz als Mindestsumme genannt haben, um vor dem Wintereinbruch die Grundversorgung für Hunderttausende sicherzustellen, war Anfang August nicht einmal die Hälfte bereitgestellt.

Im Krieg wurde geklotzt, geht's um die Kriegsfolgen, wird gekleckert. »Nachkrieg« im Namen der Menschenrechte?

Jürgen Nieth

Hilfe und Schutz statt Abwehr und Abschottung.

Hilfe und Schutz statt Abwehr und Abschottung.

von Heiko Kauffmann

Im Kosovo eskaliert die Gewalt: Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht, die Zerstörung und ethnische Säuberung ganzer Landstriche ist in vollem Gang, die Bevölkerung – vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen – wird gewaltsam vertrieben, flieht in die Wälder und Berge, in die Nachbarstaaten. Auf über 200.000 ist in den letzten Wochen die Zahl der Flüchtlinge alleine in diesem Jahr angestiegen. 350.000 Kosovo-Albanerinnen und -Albaner waren bereits vorher aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und anhaltenden Repressalien geflohen, davon 140.000 nach Deutschland.

Die Welt versagt im Kosovo“, stellte die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson im Juni dieses Jahres fest. Die Gefahr einer Eskalation der Gewalt, auf die von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen immer wieder hingewiesen wurde, war der Staatengemeinschaft seit langem bekannt. Trotzdem wurde der Kosovo-Konflikt im Dayton-Abkommen ausgeklammert, fanden die jahrelangen Bemühungen der Mehrheit der Kosovo-Albanerinnen und -Albaner und der gemäßigten serbischen Bevölkerung um eine friedliche Beilegung und demokratische Lösung des Konfliktes international und auch seitens der deutschen Politik keine ausreichende und wirksame Unterstützung.

Die katastrophale Entwicklung in der Region ist auch das Ergebnis mangelnden politischen Drucks, kurzsichtiger Krisendiplomatie und sich gegenseitig blockierender Eigeninteressen der westlichen Staaten.

Was die deutsche Politik – ungeachtet der Eskalation der Kämpfe im Kosovo – in diesem Zusammenhang unter »Problemlösung« versteht, machen Äußerungen führender Politiker der Koalition – aber auch der SPD – in den vergangenen Tagen und Wochen klar: „Kinkel will weitere Flüchtlinge abwehren“, „Beckstein fordert Auffanglager in Albanien und Italien“, „Kanther gegen Anerkennung der Bürgerkriegsflüchtlinge“, „Kein Abschiebestopp für Kosovo-Albaner“, „Spranger verlangt regionale Lösung“ – so und ähnlich lauten die Botschaften und Überschriften. Erinnert sei auch an die Weigerung des Bundesaußenministers noch Anfang Mai dieses Jahres, der jugoslawischen Fluggesellschaft die Landerechte zu entziehen, weil dann die Serben der Lufthansa ebenfalls Landerechte verweigern würden. „Dann werden unsere wöchentlichen Rückführungen nicht mehr möglich sein“, wurde Kinkel in Agenturmeldungen zitiert. Und weiter: Im Falle eines Krieges wären die Deutschen Leidtragende, dann würden viele weitere Flüchtlinge kommen.

Um dieses für die deutsche Politik alptraumhafte Szenario zu verhindern, stehen Politik, Ämtern und Behörden nach der Abschaffung eines effektiven Asylgrundrechts eine ganze Reihe von Abwehrmaßnahmen und -instrumenten zur Verfügung. Zum Beispiel:

  • Krieg und Bürgerkrieg gelten nach deutschem Recht nicht als asylrelevant; der im Asylkompromiß vor 5 Jahren (!) beschlossene Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge (§ 32 a AuslG) ist noch immer nicht wirksam umgesetzt. Bund und Länder schieben sich – etwa bei den Erstattungsregelungen für die Unterbringung der Flüchtlinge – gegenseitig die Verantwortung zu.
  • Die meisten Flüchtlinge aus dem Kosovo kommen auf dem Landweg. Werden sie an der Grenze aufgegriffen, werden sie sofort wieder zurückgeschickt. Aber auch von den Flüchtlingen, die ein Asylverfahren durchlaufen, wird gerade jeder Hundertste anerkannt. Bis 30. Juni 1998 stellten 11.333 Personen aus der BR-Jugoslawien Asylanträge beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Anerkennungsquote betrug 1,3 Prozent! Mittlerweile gibt es jedoch eine Reihe positiver Beschlüsse von Verwaltungsgerichten.
  • Die Bundesregierung hält am Rückübernahmeabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien fest, obwohl Menschenrechtsorganisationen seit Beginn der Rückführungen immer wieder über Schikanen, Mißhandlungen und Inhaftierungen berichtet haben. Die Bundesregierung hat es versäumt, im Abkommen Sicherheitsgarantien und Kontrollen für die Betroffenen festzuschreiben und Schutz- und Beobachterfunktionen – etwa durch Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtsorganisationen einzubauen. So läuft der Datentransfer ungehindert weiter. Nach wie vor werden Anfragen durch die Ausländerbehörden nach Belgrad übermittelt.
  • Staatsangehörige aus der BR Jugoslawien fallen aus der Altfallregelung vom 26. März 1996 heraus, obwohl sie ansonsten alle Voraussetzungen (Aufenthaltszeiten, Arbeit, Integration) erfüllen.
  • Obwohl ein genereller Abschiebestopp den effektivsten Schutz für die im Falle der Abschiebung von politischer Verfolgung, schweren Menschenrechtsverletzungen oder konkreten Gefahren für Leib und Leben bedrohten Personen darstellt, wird der entsprechende § 54 AuslG nach einer Vereinbarung der Innenminister vom März 1996 nur noch einvernehmlich – d.h. in der Praxis so gut wie nie – angewandt. Selbst im Juni, als NATO-Stäbe wegen der gefährlichen Zuspitzung der Lage im Kosovo bereits Einsatzpläne entwarfen, sah Bundesinnenminister Kanther „überhaupt keinen Anlaß“, einen Abschiebestopp zu erlassen. Zwar gäbe es in Serbien – so wurde Kanther am 5. Juni in Bremen zitiert – „…sehr sehr unerfreuliche Vorgänge. Aber das Land ist nicht im Ganzen im Bürgerkrieg.“ Um die Abschiebestoppregelungen des § 54 AuslG auch nach der jüngsten Eskalation im Kosovo umgehen zu können, wurden die Behörden unterrichtet, daß Kosovo-Albaner vorläufig nur aus organisatorischen Gründen nicht abgeschoben werden – mit der Konsequenz, daß Flüchtlinge Duldungsverlängerungen jeweils nur für eine Woche erhalten. Das auf EU-Ebene geplante Flugembargo gegenüber der jugoslawischen Fluggesellschaft YAT so zu interpretieren, daß Kosovo-Albanerinnen und -Albaner nun nach Montenegro abgeschoben werden können, wertet PRO ASYL als unverantwortliche Mitwirkung an einem systematischen Vertreibungsprozeß.
  • Gern verweisen die Innenminister auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, um von Schutzregelungen wie der Anwendung des § 54 AuslG keinen Gebrauch machen zu müssen. Diese Berichte sind jedoch oft von diplomatischen Rücksichtnahmen und »Zugeständnissen« gegenüber der jeweiligen Regierung bestimmt oder nach der politischen Opportunität der Regierungspolitik abgefaßt. So wurde im Lagebericht zur BR-Jugoslawien immer wieder auf die Sprachregelung der jugoslawischen Regierung zurückgegriffen, die Oppositionelle und Rückkehrer als „Terroristen“ bezeichnet. Daß die von vielen Menschenrechtsorganisationen geäußerte Vermutung einer absichtsvollen Verharmlosung der Menschenrechtssituation auch im Falle des Kosovo zutrifft, zeigt die Tatsache, daß neuerdings Bedienstete des Bundesamtes an die Deutsche Botschaft in Jugoslawien abgestellt werden, um bei der Erstellung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes mitzuwirken, der dann zur Grundlage bei Asylentscheidungen und bei Abschiebestoppregelungen der Innenminister genommen wird. Was das BAFL hier verschleiernd „Unterstützung der Auslandsvertretungen“ nennt, ist ein drastischer manipulativer Eingriff ins Asylverfahren und in die Asylpolitik – mit dem Ziel vorweggenommener mundgerechter Ablehnungsbescheide oder geschönter Darstellungen der Lage vor Ort.

Diese wenigen Beispiele kennzeichnen den Charakter einer Politik, deren oberste Maxime bei der Wahrnehmung von Konflikten in der Abschottung vor Flüchtlingen besteht. Das ist die verengte Sichtweise und kurzsichtige Perspektive der Politik eines Landes, das – nach Jahren historisch bedingter Abstinenz – Weltpolitik aktiv mitgestalten will und darüber seine besondere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Menschenrechten und Flüchtlingsschutz aus der eigenen Geschichte zu verdrängen und zu vergessen scheint.

Dagegen ist die Forderung nach einer zivilen Politik zu stellen, die nationale Borniertheit überwindet und Flüchtlingen aus dem Kosovo Schutz und Hilfe gewährt. Die Forderungen und Appelle von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sowie des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE an die Verantwortlichen in den jeweiligen Ländern müssen umgesetzt werden. Dazu gehören:

  • Da es im Kosovo erwiesenermaßen zu systematischen Verletzungen der Menschenrechte kommt, die den Charakter einer Verfolgung haben und daher unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, muß das Schutzbedürfnis asylsuchender Menschen aus dem Kosovo anerkannt werden. Die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, keine Flüchtlinge, die um Asyl ersuchen, an den Grenzen zurückzuweisen, gilt absolut.
  • Es ist klar, daß es weder im Kosovo noch in Montenegro oder in Serbien eine interne Fluchtalternative gibt, die die Ablehnung eines Asylgesuches rechtfertigen könnte.
  • Die EU-Innen- und Außenminister sind gefordert, unverzüglich eine EU-Sonderkonferenz einzuberufen, um ein humanitäres Konzept und Sofortprogramm zur Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen zu entwickeln, mit dem UNHCR abzustimmen und finanzielle Mittel dafür bereitzustellen.
  • »Lastenverteilung« heißt, daß alle EU-Staaten entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, der wirtschaftlichen Kapazität und Infrastruktur ihrer Verantwortung gerecht werden und Flüchtlinge aufnehmen.
  • Das Konzept der »Regionalisierung«, d.h. die Unterbringung der Flüchtlinge möglichst nahe ihrer Heimat, muß auch als Anknüpfung an frühere Bindungen und Bezugspunkte verstanden werden, an sprachliche, kulturelle, familiäre und Arbeitsbeziehungen. Es ist nachvollziehbar und verständlich, daß sich viele bedrohte Flüchtlinge zu ihren Verwandten nach Deutschland begeben. Von 400.000 Kosovo-Albanerinnen und -Albanern in Deutschland leben 2/3 als Arbeitsmigrantinnen und -migranten seit vielen Jahren hier.
  • Ein Abschiebestopp in die BR-Jugoslawien ist unverzüglich zu erlassen.
  • Das Rückübernahmeabkommen ist aufzukündigen.

Die Frage, ob Deutschland Flüchtlinge aus dem Kosovo aufnehmen soll, ist uneingeschränkt zu bejahen. Was derzeit im Kosovo geschieht und was die Zivilbevölkerung zu erleiden hat, ist ohne Zweifel als staatliche politische Verfolgung zu bewerten. Es ist unverantwortlich, daß deutsche Politiker angesichts der Dimension der Vertreibung und der humanitären Erfordernisse die anstehenden Probleme prioritär unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung der Flüchtlingsaufnahme angehen. Selbst bei schwer verletzten und frisch operierten Opfern des tragischen Busunfalls von Weißenborn, die alle aus dem Kosovo stammen, liegen die Abschiebeverfügungen auf dem Nachttisch – ein Sinnbild für die politische Kultur dieses Landes und den Umgang mit Menschen, die nur mit knapper Not Kriegswirren und existentiellen Gefahren entrinnen konnten? Angesichts der dramatisch zugespitzten Lage und des wachsenden Flüchtlingselends sind Deutschland, aber auch andere EU-Staaten, dringend gefordert, alle Völkerrechtsinstrumente zum Schutz von Flüchtlingen anzuwenden und voll zur Geltung zu bringen.

Heiko Kauffmann ist Sprecher von PRO ASYL

Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder

Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder

Deutsche Asylpraxis entspricht nicht dem Völkerrecht

von Heiko Kauffmann

Sie kommen z.B. aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus der Türkei, dem Libanon, Irak, aus dem Kosovo, Rumänien oder einem der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aus Angola, Iran oder Vietnam. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst oder Verfolgung, vor Hunger, ökologischen und ökonomischen Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen: Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind – die sogenannten U.M.F., wie es in der Behördensprache heißt: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Weltweit sind nach Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen sechs bis zehn Millionen Kinder allein auf der Flucht, und ihre Zahl wird jährlich größer. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl der Flüchtlingskinder geschätzt, die zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland leben.

Die überwiegende Zahl der alleinstehenden Kinder und Jugendlichen kommt im Zustand des Schocks, der Verzweiflung und des Stresses hierher. Sie leiden besonders an dem Trauma der Trennung, herausgerissen aus allem, was ihnen vertraut ist: der gewohnten Umgebung, der Obhut von Mutter und Vater, der Großfamilie, der Schule und Gemeinschaft und ihrem kulturellen und sozialen Umfeld. Viele von ihnen haben die Situation von Krieg, Bedrohung und Verfolgung erfahren.

Die UN-Kinderrechtskonvention Menschenrechte für Kinder

Die »Charta des Kindes« von 1959 enthielt den Satz: „Die Menschheit schuldet den Kindern das Beste, das sie zu geben hat.“ Dies war eine Willensbekundung, aber kein verbindliches Recht.

Um der massiven Verletzung von Lebenschancen und -perspektiven einer immer größeren Zahl von Kindern in vielen Ländern der Welt wirksam zu begegnen, verabschiedeten die Vereinten Nationen am 20. November 1989 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention). In ihr sind die Menschenrechte für Kinder in sehr präziser Weise formuliert. Dies gilt gerade auch für die Kinder und Gruppen von Kindern, die aufgrund besonderer Umstände und außerordentlicher Gefährdungen und Belastungen besonderer Schutz- und Hilfsmaßnahmen bedürfen. Zu ihnen zählen auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge.

Ihnen gilt die spezielle Regelung in Artikel 22 der Kinderrechtskonvention (KK), nach der jeder Vertragsstaat verpflichtet ist, „geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß sowohl Kinder, die erst die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehren, als auch jene, die bereits den Status nach völker- und innerstaatlichem Recht besitzen, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ erhalten.

Artikel 22 Absatz 2 KK erwähnt die Verpflichtung der hiesigen Behörden, Eltern oder andere Familienangehörige des Kindes ausfindig zu machen, bzw. dann, wenn dies nicht möglich ist, dem Kind denselben Schutz zu gewähren „wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“.

Wichtig für die Anwendung der KK auf die Personengruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist auch Artikel 1, wonach die in dem Übereinkommen verbürgten Rechte für alle Menschen gelten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Gemäß Artikel 3 Absatz 1 KK ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, „das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Aus Artikel 6 Absatz 2 KK folgt, daß die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes (gewährleisten)“. Den besonderen Respekt vor dem Willen und den Bedürfnissen des Kindes drückt Artikel 12 aus, in welchem einem dazu fähigen Kind zugesichert wird, seine eigene Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei äußern zu können und diese Meinung angemessen und entsprechend dem Alter und der Reife zu berücksichtigen.

Nach Artikel 20 KK hat ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird, einen Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Beistand.

Gemäß Artikel 37 KK ist eine Inhaftierung von Kindern – und damit auch Abschiebungshaft bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskindern – grundsätzlich zu vermeiden.

Wir heben diese Artikel besonders hervor, weil Deutschland denjenigen ausländischen Kindern, die ohne die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung deutschen Boden betreten, die Rechte aus der Kinderrechtskonvention vorenthalten möchte.

Die Kinderrechtskonvention wurde 1992 von der Bundesregierung ratifiziert – allerdings mit Vorbehalten: Danach soll keine Bestimmung der Kinderrechtskonvention dahin ausgelegt werden können, daß sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen. Mit anderen Worten: Das deutsche Ausländer- und Asylrecht soll durch die Konvention nicht berührt werden, obwohl das besonders restriktive deutsche Ausländer- und Asylrecht weit hinter den Maßgaben der Konvention zurückbleibt. Mit dieser Vorbehaltserklärung und der derzeitigen Praxis steht Deutschland im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention.

Seit der Ratifizierung der KK durch die Bundesregierung hat sich die Lage der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskinder durch die Verschärfung des Asylrechts und die Änderung des Grundgesetzes weiter verschlechtert: In Deutschland gilt nicht das »Kindeswohl« (the best interest of the child) gemäß der KK als maßgeblich und vorrangig, sondern das restriktive Ausländer- und Asylrecht.

Asyl- und Ausländerrecht werden der besonderen Schutzbedürftigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht.

Hierfür einige Beispiele aus der Praxis:

  • Die Drittstaaten-Regelung,

nach der jede Person, die aus einem sicheren Drittstaat kommt, an der Grenze zurückzuschicken ist, wird unterschiedslos auch auf unbegleitete Flüchtlingskinder angewandt. Ohne Prüfung, ob und welchen Bedarf an Betreuung, Beratung und Hilfe das Kind benötigt, kommt es immer wieder zu Zurückschiebungen von Kindern in Drittstaaten – ebenfalls ohne Prüfung und Garantie, daß dort die Inobhutnahme des Minderjährigen mit den erforderlichen Schutzmaßnahmen und Leistungen nach dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA) gesichert ist.

  • Das sogenannte Flughafenverfahren

ist ein Asyl-Schnellverfahren für alle Asylsuchenden, die über einen Flughafen einreisen wollen und kein gültiges Visum besitzen oder aus einem »sicheren« Herkunftsstaat kommen. Dieses Schnellverfahren wird seit dem Erlaß des Innenministers vom Juli 1994 auch auf Kinder und Jugendliche angewandt. Für die Dauer dieses Verfahrens sind die Flüchtlinge im Transit des Flughafengebäudes untergebracht, das sie nicht verlassen dürfen. Die Umstände der nicht kindgerechten Unterbringung, die Überforderung, Verunsicherung und Verängstigung zum Teil traumatisierter Kinder durch das Schnellverfahren und die Art der Befragung, sowie die Inobhutnahme durch nicht kompetente Personen, Grenzschutzbeamte, widerspricht diametral der Schutzbedürftigkeit und dem Kindeswohl.

  • Die Handlungsfähigkeit von Kindern im Asylverfahren.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren werden im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Ist das Verfahren schon für Erwachsene ohne Hilfe kaum durchschaubar und nicht zu bewältigen, unterstellt der Gesetzgeber Kindern, deren hinreichende Einsichts- und Artikulationsfähigkeit aufgrund vorangegangener Flucht- und Verlusterfahrungen gerade in dieser Situation anzuzweifeln ist, »Handlungsfähigkeit«. Dies bedeutet, daß sie im Asylverfahren keinen Vormund bekommen und zusammen mit Erwachsenen untergebracht werden.

  • Altersbestimmung.

Bei Minderjährigen, die weder einen Paß noch einen Identitätsnachweis besitzen, ist häufig die Frage des Alters ungeklärt. Gegen alle Grundsätze des Kinder- und Jugendschutzes praktizieren bundesdeutsche Behörden zweifelhafte und umstrittene Methoden zur Altersbestimmung, um nach Möglichkeit durch fiktive Altersfestsetzungen (auf 16 Jahre) die Kinder »asylmündig« zu machen. Die umstrittene Methode der Praxis des Zwangsröntgens (des Handwurzelknochens) wurde am Frankfurter Flughafen und in den Bundesländern weitgehend eingestellt, nachdem ein Gutachten von PRO ASYL und dem Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte diese Praxis als rechtswidrig und gesundheitsgefährdend nachwies, deren Anwendung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Bundesgrenzschutz, Polizei und Ausländerbehörden sind dazu übergegangen, eine Altersfeststellung nach bloßer »Inaugenscheinnahme« vorzunehmen, obwohl sie dazu weder geschult noch von ihrer Aufgabenstellung her geeignet sind.

  • Abschiebungshaft.

Immer wieder kommt es auch vor, daß Kinder und Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, denen der Aufenthalt in der Bundesrepublik aufgrund des Asyl- und Ausländerrechts verweigert wird, in Abschiebungshaft genommen werden. Diese Praxis und auch die nicht kindgerechte Unterbringung von Kindern unter haftähnlichen Bedingungen während des Flughafenverfahrens verstößt gegen das Gebot des besonderen Schutzes, der freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern vom Prinzip her ausschließt.

  • Einschränkungen der Entwicklungschancen von Kindern.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder, die den ausländer- und asylverfahrensrechtlichen Regelungen unterliegen, sind auch hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung und notwendiger psychosozialer Betreuung schlechter gestellt als deutsche Kinder und Jugendliche. So werden »asylmündige« Minderjährige zwischen 16 und 18 Jahren verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft mit erwachsenen Asylsuchenden zu wohnen. Die Bedingungen dort entsprechen in der Regel nicht den Anforderungen an eine kind- und jugendgerechte Entwicklung. Die Kinder werden hier wie Erwachsene behandelt, sie erhalten in der Regel keine besondere soziale Betreuung; die Förderung zum Erlernen der deutschen Sprache ist nicht vorgesehen; die besondere Schutzbedürftigkeit zum Beispiel junger Mädchen vor Belästigungen und Übergriffen bleibt genauso unberücksichtigt, wie die Notwendigkeit und der große Bedarf an psychosozialer Betreuung für viele Kinder und Jugendliche, die mit ihren traumatischen Erlebnissen, dem Verlust ihrer Heimat und allem Vertrauten sowie der Konfrontation mit der fremden Umgebung und auch der Erfahrung der Ablehnung nicht fertig werden. Auch in der Gesundheitsfürsorge und im Bereich von Erziehung und Bildung unterliegen minderjährige Flüchtlingskinder gravierenden Einschränkungen, die den Grundsatz des Kindeswohls verletzen.

Die Bundesrepublik hält ihre Verpflichtung zur Schutzgewährung gegenüber Flüchtlingskindern nicht ein. Das innerstaatliche deutsche Recht und die Rechtspraxis stehen nicht im Einklang mit den Bestimmungen der Kinderrechtskonvention. Über 90 Verbände und Institutionen, die sich im Rahmen der »National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland« zusammengeschlossen haben, fordern deshalb u.a.:

  • Uneingeschränkte Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und Rücknahme der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung abgegebenen Erklärung.
  • Aussetzung der »Drittstaaten-Regelung« und des »Flughafenasylverfahrens« für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
  • Kinderschutz bis zur Volljährigkeit.
  • Bestellung kompetenter Vormünder für alle Kinderflüchtlinge unverzüglich nach der Einreise. Vorrangige Bestellung von Einzel-, nicht Amtsvormündern.
  • Einrichtung von Clearingstellen in allen Bundesländern, in denen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sofort nach der Einreise Aufnahme und Unterkunft erhalten und in denen die persönlichen Lebensverhältnisse der Kinder (Identität, Herkunft, Verbleib der Eltern) und die Fluchtumstände unter kindgerechten Bedingungen ermittelt werden können. Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für die Dauer dieses Verfahrens.
  • Regelunterbringung von unbegleiteten Minderjährigen in Jugendhilfeeinrichtungen und nicht in Sammellagern zusammen mit Erwachsenen.
  • Verbot der Abschiebungshaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
  • Berücksichtigung der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen bei der Durchführung des Asylverfahrens.

Der Artikel ist ein Vorabdruck. Er erscheint auch in einer Broschüre von PRO ASYL zum »Tag der Flüchtlings 1998«. Weitere Informationen bei: »National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland« Geschäftsstelle: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, Haager Weg 44, 53127 Bonn, Tel.: 0228 / 91024-0, Fax: 0228 / 91024-66.

Heiko Kauffmann ist Sprecher von PRO ASYL

Zerschossene Zukunft

Zerschossene Zukunft

Kinder im Krieg und auf der Flucht

von Tanja Sieber • Andrea Pütz

Noch nie haben so viele Kinder unter Kriegen gelitten wie in diesem Jahrhundert. Sie zählen zu den Opfern von Massakern unter der Zivilbevölkerung, werden Opfer sexueller Gewalt, Zeugen von Greueltaten gegen andere Menschen. Kinder werden zunehmend zur Zielscheibe von Kriegshandlungen, u.a. um die Moral des Gegners zu schwächen, und sie werden in vielen Konflikten mit äußerster Brutalität selbst zum Kriegsdienst gezwungen.

Jeder zweite Flüchtling auf der Welt ist ein Kind. Allein im vergangenen Jahr waren weltweit über 20 Millionen Kinder auf der Flucht. Kriege und Konflikte sind Auslöser für die allgemeine Verschlechterung der Ernährungslage und mangelnde Gesundheitsversorgung, die viele Kinder das Leben kostet. Kinder leiden nicht nur physisch unter Krieg und Gewalt, sondern tragen auch seelische Verletzungen davon. Traumatische Kriegserlebnisse verfolgen die Kinder ihr ganzes Leben lang. In einem Klima der Aggression, des Mißtrauens und der Angst lernen Kinder nicht, wie Konflikte friedlich gelöst werden können und was Sicherheit bedeutet.

Die Massaker in Ruanda kosteten rund 300.000 Kinder und Jugendliche das Leben. Zwischen April 1994 und April 1995 wurden schätzungsweise 16.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt.

In Liberia kämpften zwischen 15.000 und 20.000 Kinder als Soldaten im Bürgerkrieg.

Alle 56 Minuten wird ein Kind durch eine Landmine verstümmelt oder getötet.

Der Bürgerkrieg in Kambodscha hat bis Mitte der 90er Jahre rund 350.000 Kinder zu Waisen gemacht.

In Afghanistan sterben jedes Jahr rund 280.000 Kinder an den indirekten Folgen des seit Jahren andauernden Krieges, weil sie unzureichend ernährt oder nicht medizinisch versorgt werden können.

Die Rechtslage

Den Schutz der Zivilbevölkerung vor kriegerischen Handlungen und Gewalt schreiben eine Reihe internationaler Konventionen fest. Die Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention von 1949, die den Schutz der Zivilbevölkerung fordert, gelten natürlich auch für Kinder. Artikel 23 regelt explizit die Versorgung von schwangeren Frauen, Müttern und Kindern, und Artikel 24 nennt Regelungen für die Behandlung unbegleiteter Kinder. Im ersten Zusatzprotokoll zur Vierten Genfer Konvention von 1977 wird in Artikel 77 der Schutz insbesondere von Kindern gegen unzüchtige Handlungen, vor Rekrutierung, der Verhängung der Todesstrafe und der Unterbringung zusammen mit Erwachsenen im Fall von Haft oder Internierung gefordert. Artikel 78 regelt die Evakuierung von Kindern in Krisensituationen in andere Staaten.

Umfassendere Forderungen zum Schutz von Kindern im Krieg enthält die 1989 verabschiedete Konvention über die Rechte des Kindes (im folgenden als KRK abgekürzt), die mittlerweile von fast allen Staaten ratifiziert wurde. Die Vertragsstaaten werden dazu aufgerufen, den Schutz und die Betreuung von Kindern im Krieg und auf der Flucht sicherzustellen. Neben dem Recht auf Überleben, Gesundheit und Bildung, dem Schutz vor Gewalt und Ausbeutung, dem Recht auf Familienzusammenführung, Namen und Staatsbürgerschaft unterstreicht die Kinderrechtskonvention auch die Notwendigkeit der körperlichen und seelischen Wiederherstellung von minderjährigen Kriegsopfern und ihrer sozialen Reintegration. Zum besseren Schutz von Kindersoldaten wird derzeit ein Zusatzprotokoll erarbeitet, das ein Mindestalter von 18 Jahren für die Rekrutierung von Soldaten vorsieht (Die relevanten Artikel der Konvention über die Rechte des Kindes sind im folgenden den Unterabschnitten vorangestellt).

Kinder im Krieg

„Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, daß von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.“ (KRK, Artikel 38:4)

Angesichts der veränderten Dimensionen der Kriege der Gegenwart brauchen Kinder als verletzlichste Gruppe der Gesellschaft besonders dringend Schutz und Hilfe. In bewaffneten Konflikten werden die Rechte der Kinder massiv verletzt: das Recht auf Überleben, auf Gesundheit und Bildung, auf Schutz vor Gewalt und Ausbeutung oder das Recht, mit den Eltern zusammenzuleben.

Schätzungsweise zwei Millionen Kinder starben während der 80er Jahre in kriegerischen Auseinandersetzungen, weitere sechs Millionen trugen lebenslange Behinderungen davon. Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen findet jedoch nicht durch unmittelbare Kampfhandlungen den Tod, sondern stirbt an den »stillen« Folgen des Krieges. UNICEF geht davon aus, daß allein 1993 rund eine halbe Million Kinder ihr Leben durch unzureichende Ernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung und verseuchtes Wasser verloren haben.

Traumatisierte Kinder

„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die physische und psychische Genesung und die soziale Wiedereingliederung eines Kindes zu fördern, das Opfer irgendeiner Form von Vernachlässigung, Ausbeutung oder Mißhandlung, Folter oder einer anderen Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe oder aber bewaffneter Konflikte geworden ist.“ (KRK, Artikel 39)

Militärische Gewalt verletzt Menschen nicht nur körperlich – sie schlägt auch tiefe seelische Wunden. Nach UNICEF wurden in den achtziger Jahren weit über zehn Millionen Kinder durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Der Verlust der vertrauten Umgebung, die ständige Angst und Unsicherheit belasten die seelische Gesundheit von Kindern. Kinder müssen mit ansehen, wie Eltern, Angehörige oder Freunde mißhandelt, vergewaltigt oder getötet werden, werden selbst Opfer von Gewalt oder zur Gewalt gegen andere gezwungen. Eine Umfrage von UNICEF ergab, daß über die Hälfte der ruandischen Kinder die Massenmorde im April 1994 mit eigenen Augen gesehen haben. Rund 40 Prozent beobachteten andere Kinder beim Töten. In Sarajevo haben fast alle Kinder Granatenangriffe aus nächster Nähe erlebt. Während des Golfkrieges 1991 äußerten 62 Prozent der irakischen Kinder Zweifel daran, daß sie das Erwachsenenalter erreichen würden. Traumatische Kriegserlebnisse können bei Kindern zu Angstzuständen, Alpträumen, Weinkrämpfen, Depressionen, Bettnässen und psychosomatischen Erkrankungen, Sprach- und Lernstörungen führen. Oft stehen die Kinder diesen Erfahrungen allein gegenüber, wenn sie z.B. während der Flucht oder während eines militärischen Angriffs von Eltern und Geschwistern getrennt werden.

Kindersoldaten

„Die Vertragsstaaten treffen alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, daß Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.“ (KRK, Artikel 38:2)

Kriege machen Kinder nicht nur zu Opfern. Immer mehr Kinder werden zum Töten mißbraucht. Nach Schätzungen von UNICEF dienen heute ca. 250.000 Jungen und Mädchen unter 18 Jahren als Soldaten. Die meisten leisten Hilfsdienste, doch immer mehr werden auch an vorderster Front eingesetzt. Viele werden zu Greueltaten gegen die eigene Familie oder Nachbarn gezwungen. In Ruanda stehen erstmals in der Geschichte Jugendliche wegen der Beteiligung am Völkermord vor Gericht. Ein Grund für die steigende Zahl der Kindersoldaten ist die massenhafte Verfügbarkeit leichter Waffen. Hinzu kommt, daß in vielen Ländern keine Geburtenregistrierung erfolgt und damit das Alter vieler Heranwachsender nicht eindeutig feststellbar ist. Minderjährige können so nur schwer vor einer Rekrutierung geschützt werden. UNICEF fordert ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, das ein Mindestalter für die Rekrutierung von Soldaten auf 18 Jahre festlegt. Kinder, die den Tod ständig vor Augen hatten oder selbst töten mußten, brauchen Unterstützung bei der Rückkehr ins Zivilleben durch Schul- und Berufsbildungsangebote und psychologische Hilfe.

Landminen

Jedes Jahr fallen ca. 26.000 Menschen Landminen zum Opfer. Zumeist sind es Zivilisten, ein Drittel davon Kinder. Weltweit liegen rund 115 Millionen Minen in 70 Ländern vergraben, zweieinhalb Millionen werden jährlich neu verlegt. Sie verwandeln Weiden, Wasserstellen und Wälder in tödliche Fallen, verhindern die Rückkehr von Flüchtlingen und blockieren auch Jahre nach Kriegsende noch den Anbau von Nahrungsmitteln, den Handel und den Verkehr. Kinder sind durch ihre geringe Körpergröße, ihre Unbekümmertheit und Neugier besonders gefährdet. Unter den 70.000 Minenopfern in Angola waren mindestens 8.000 Kinder, denen Arme und Beine amputiert werden mußten.

Nach jahrelangen Verhandlungen, u.a. im Rahmen des von rund 90 Staaten unterstützten »Ottawa-Prozesses«, wurde in der kanadischen Hauptstadt im Dezember 1997 das sog. Ottawa-Abkommen für ein Verbot von Anti-Personen-Minen unterzeichnet. Der Vertrag umfaßt das Verbot sowohl der Entwicklung, der Produktion und der Lagerung als auch des Handels und Einsatzes von herkömmlichen Minen und modernen »High-Tech«-Minen. Die Unterzeichner verpflichten sich, existierende Minenbestände innerhalb von vier Jahren zu zerstören.

Das Ottawa-Abkommen verpflichtet außerdem zur Räumung von Minen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren. Ungeräumte Minenfelder müssen sofort gekennzeichnet werden. Staaten, die dazu in der Lage sind, sollen bei der Räumung von Minen und der medizinischen Betreuung der Opfer Hilfe leisten. Während die Herstellung einer Mine nur etwa drei US-Dollar kostet, sind die Kosten für Minenräumung mit etwa 300 bis 1.000 US-Dollar pro Mine enorm hoch.

Schwachpunkte des Ottawa-Abkommens sind die Ausnahme von Anti-Panzerminen von dem Verbot, auch wenn sie mit Anti-Personen-Minen gesichert sind. Ein weiterer Schwachpunkt ist, daß sich das Abkommen nicht auf Bürgerkriegsgebiete bezieht, in denen die Konfliktparteien oft rücksichtslos die relativ billigen Minen einsetzen.

In Kraft tritt das Ottawa-Abkommen erst, nachdem es von 40 Staaten ratifiziert wurde. Ende März 1998 hatten 125 Staaten das Abkommen unterzeichnet; sechs Staaten (Kanada, Irland, Mauritius, San Marino, Turkmenistan und der Vatikan) hatten es zu diesem Zeitpunkt ratifiziert. Enttäuschend ist die Verweigerungshaltung der USA, Rußlands, Chinas, Kubas, Nordkoreas und des Iraks gegenüber dem Abkommens.

Die Situation von Mädchen und Frauen

Mädchen und Frauen sind im Krieg besonders gefährdet. Traditionell für die Ernährung und das Wohl ihrer Kinder verantwortlich, können Frauen in Kriegszeiten diesen Aufgaben nur schwer gerecht werden. Die Wege für die Nahrungsbeschaffung, das Wasser- und Feuerholzholen verlängern sich beträchtlich. Fehlende Gesundheitsversorgung macht die Situation für schwangere Frauen und junge Mütter besonders schwierig.

Mädchen und Frauen werden in Kriegszeiten immer wieder Opfer von Vergewaltigungen. Gewalt gegen Frauen als Kriegsstrategie soll den Gegner demoralisieren und den sozialen Zusammenhalt von Familien und Dorfgemeinschaften zerstören. In Bosnien-Herzegowina wurden während des Krieges schätzungsweise 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt. Auch in Flüchtlingslagern wird Mädchen und Frauen oft Gewalt angetan. Häufig müssen sie Männern sexuell dienstbar sein, um Schutz und Nahrungsmittel zu bekommen. Es kommt auch vor, daß Frauen sich prostituieren müssen, um den Unterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern.

Kinder auf der Flucht

„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält…“ (KRK, Artikel 22:1)

Bewaffnete Konflikte und ethnisch oder religiös motivierte Spannungen haben immer zur Folge, daß Menschen entwurzelt werden und ihre Heimat verlassen müssen. 1997 waren weltweit ca. 20 Millionen Kinder auf der Flucht, davon gingen über sieben Millionen außer Landes. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Afghanistan, Bosnien und Liberia.

Kinder leiden besonders unter den Strapazen einer Flucht. Hunger, Entkräftung und Krankheiten wie Cholera, Durchfall oder Masern sind vor allem für Babys und Kleinkinder lebensgefährlich. Auf dem Höhepunkt der Krise in Ost-

Zaire starben z.B. im Lager Tingi-Tingi täglich zwischen 20 und 40 Kinder.

Besonders gefährdet sind Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden: Ganz auf sich allein gestellt, treiben sie oft tagelang im Flüchtlingsstrom, erleben das Massensterben in den Lagern und sind schutzlos der Gewalt ausgeliefert. Häufig werden sie Opfer von Vergewaltigungen oder Entführungen durch Milizen. Während des Krieges in Ruanda 1994 verloren 114.000 Kinder den Anschluß an ihre Eltern. Bis heute ist es gelungen, über 47.000 Kinder wieder mit ihren Eltern oder anderen Verwandten zusammenzubringen.

Vertriebene, die innerhalb der eigenen Landesgrenzen bleiben, sind oft in einer noch schwierigeren Lage als Menschen, die ihr Land verlassen, da sie von Hilfsorganisationen nur schwer erreicht werden. Die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung der Kinder ist deshalb meist wesentlich schlechter als in Flüchtlingslagern. Wenn Vertriebene bei Freunden und Verwandten unterkommen, kommt es häufig zu Konflikten, weil die ohnehin knappen Vorräte für mehr Menschen ausreichen müssen.

Unbegleitete Flüchtlingskinder in Industrieländern

„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind… angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, … und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.“ (KRK, Artikel 22:1)

„Können die Eltern oder andere Familienangehörige nicht ausfindig gemacht werden, so ist dem Kind im Einklang mit den in diesem Übereinkommen enthaltenen Grundsätzen derselbe Schutz zu gewährleisten wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist.“ (KRK, Artikel 22:2)

Überall auf der Welt werden Flüchtlinge trotz ihrer akuten Bedrohung an den Grenzen zurückgewiesen. Auch in Deutschland hat sich die Situation von Flüchtlingskindern seit der Einführung der »Drittstaaten- und Flughafen-Regelung« erheblich verschlechtert. Die Lage unbegleiteter Flüchtlingskinder ist besonders schwierig. Um Asyl zu erhalten, müssen sie sich einem Prüfungsverfahren unterwerfen, das ihren besonderen Schutz- und Betreuungsbedürfnissen nicht gerecht wird. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer seelischen und körperlichen Verfassung den Anforderungen des bestehenden Aufnahmeverfahrens nicht gewachsen. Die Nationale Koalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland setzt sich für befristete Aufenthaltsgenehmigungen und die Einrichtung von speziellen Clearingstellen ein, damit in einem kindgerechten Umfeld die Lebensverhältnisse der Kinder sowie die Umstände ihrer Einreise geklärt und weitere Schritte entschieden werden können. Unbegleitete Flüchtlingskinder zwischen 16 und 18 Jahren sollten nicht wie Erwachsene behandelt werden, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Kein Kind sollte abgeschoben werden, wenn seine Betreuung und Versorgung im Heimatland nicht sichergestellt ist.

Wieviele unbegleitete Flüchtlingskinder sich in Deutschland aufhalten, ist unbekannt, da sie nicht gesondert statistisch erfaßt werden. 1996 reisten nach Angaben der Bundesregierung 2.015 unbegleitete Minderjährige unter 16 Jahren ein. Schätzungen zufolge leben allein in Hamburg 10.000 Flüchtlingskinder, 3.000 von ihnen ohne Begleitung. Hauptherkunftsländer sind der kurdische Teil der Türkei, die Bürgerkriegsstaaten Afrikas und das ehemalige Jugoslawien.

Nothilfe für Kinder und Frauen

Als verletzlichste Gruppen der Gesellschaft bedürfen Kinder und Frauen des besonderen Schutzes und der Hilfe während kriegerischer Auseinandersetzungen und den von ihnen ausgelösten Notsituationen. Die Hilfe konzentriert sich im Bereich der Überlebenssicherung auf die medizinische Hilfe, die Sicherung der Ernährungs- und Wasserversorgung sowie die Versorgung der Menschen mit Zelten, Decken und Brennstoffen.

Zu der medizinischen Versorgung gehört neben der Versorgung von akuten Krankheiten oder Verletzungen auch die langfristige Gesundheitsvorsorge. 1997 konnten im afghanischen Bürgerkrieg Feuerpausen ausgehandelt werden, in denen 3,6 Millionen Kinder gegen Polio geimpft wurden.

In Kriegszeiten wird die Wasserversorgung oft unterbrochen oder zerstört. Durch die Benutzung von schmutzigem Regen- oder Flußwasser wächst die Gefahr von Seuchen, für die Kinder besonders anfällig sind. Mit Hilfe von Tankwagen, dem Bau von Brunnen und Pumpen, der Reparatur von Wasserleitungen und Chlortabletten zur Desinfektion muß die Trinkwasserversorgung in Flüchtlingslagern und Kriegsregionen aufrecht erhalten werden.

Langfristige Hilfe

Neben der Sicherung des Überlebens spielen Bildungsmaßnahmen, die psychosoziale Hilfe, der Minenschutz und die Familienzusammenführung für Kinder in Zeiten kriegerischer Konflikte eine große Rolle.

Nothilfeeinsätze im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda haben gezeigt, wie wichtig es für Kinder ist, daß die Schule auch in Kriegszeiten weiter läuft. Regelmäßiger Unterricht und gemeinsames Lernen und Spielen bringen ein Stück »Normalität« in das Chaos des Kriegsalltags. Die Lieferung von Schulmaterial, die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den Unterricht unter Kriegsbedingungen sind die wichtigsten Elemente. Gemeinsam mit der UNESCO entwickelte UNICEF während des Krieges in Ruanda die »Schule in der Kiste« – eine Metallbox, die die Grundausstattung für den Lese-, Schreib- und Mathematikunterricht für 40 Grundschüler sowie Unterrichtsanleitungen enthält.

Das Lehrpersonal muß im Umgang mit traumatisierten Kindern geschult werden. Durch Malen, Zeichnen, Singen und Spielen erhalten Kinder die Möglichkeit, ihre schrecklichen Erlebnisse auszudrücken und zu verarbeiten. Radiosendungen und Plakate wecken Verständnis für Kinder mit seelischen Nöten. Durch gezielte Programme zur Friedenserziehung muß auf Kinder und Jugendliche eingegangen werden, deren Jugend von Krieg und Gewalt geprägt ist und die den Frieden oft erst lernen müssen. Friedenserziehung spielt eine wichtige Rolle für die Förderung des Versöhnungsprozesses eines Landes und verhindert, daß die Kinder von heute die Krieger von morgen werden.

Um Kinder besser vor den Gefahren von Landminen zu schützen, müssen Kinder in minenverseuchten Ländern durch Aufklärungsveranstaltungen und Radioprogramme über das richtige Verhalten aufgeklärt werden.

Die Geborgenheit der Familie ist wichtig für die kindliche Entwicklung. Die beste Hilfe für unbegleitete Flüchtlingskinder ist daher eine möglichst rasche Familienzusammenführung bzw. die Unterbringung bei Verwandten oder Pflegeeltern. Verlassene Kinder müssen versorgt und identifiziert, Photos oder Beschreibungen veröffentlicht werden, um Angehörige zu finden. Bis Mitte Juli 1997 wurden über 8.600 unbegleitete Kinder aus dem Osten des ehemaligen Zaire nach Ruanda ausgeflogen. 150.000 Kinder in Ruanda fanden eine Pflegefamilie. Eine ruandische Familie muß heute im Durchschnitt für 10 bis 17 Kinder sorgen. Schätzungsweise 60.000 Haushalte werden in Ruanda von Kindern geführt. Sie müssen durch regelmäßige Besuche von Sozialarbeitern sowie durch Bildungsangebote und Beratung unterstützt werden.

Die UN-Studie über Kinder im Krieg

Die Vereinten Nationen gaben 1994 eine umfassende Studie zu
den Folgen von Kriegen für Kinder in Auftrag. Zwei Jahre lang sammelte ein Forscherteam
unter der Leitung der ehemaligen mosambikanischen Erziehungsministerin Graça Machel
Informationen über die Lage von Kindern und Frauen in Kriegsgebieten und Ländern im
Wiederaufbau. Im November 1996 wurde die Studie der UN-Vollversammlung vorgestellt.
Gemeinsam mit dem UNICEF-Aktionsprogramm für einen besseren Schutz von Kindern und Frauen
im Krieg und auf der Flucht sollen die Empfehlungen eine weltweite Reform der Not- und
Wiederaufbauhilfe ermöglichen.

Eine wichtige Forderung der Studie, die Einsetzung eines
UN-Sonderbeauftragten zur Überwachung der Umsetzungen der Empfehlungen, wurde mit der
Berufung des Uganders Olara Otunnu im Jahr 1997 erfüllt. Die Forderung nach dem
weltweiten Verbot von Minen wurde durch das »Ottawa-Abkommen« vorangetrieben. Weitere
Forderungen der Studie sind:

1. Der Schutz und die Versorgung von Kindern und Frauen
müssen in Kriegs- und Friedenszeiten Vorrang haben.

2. Kinderrechtsverletzungen müssen dokumentiert und an die
Öffentlichkeit gebracht werden. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sollen zum Thema
Kinderrechte besonders geschult werden.

3. Nothilfe für Kinder muß die gesundheitliche Versorgung,
Schulunterricht und psychosoziale Maßnahmen zur Bewältigung traumatischer
Kriegserlebnisse einschließen.

4. Vergewaltigung muß weltweit als Kriegsverbrechen
geächtet werden. Militärs, Friedenstruppen und Hilfsorganisationen müssen darin
geschult werden, Kinder und Frauen vor sexueller Gewalt besser zu schützen.

5. Bei der Versorgung von Vertriebenen soll UNICEF die
Federführung übernehmen und mit Unterstützung von anderen Hilfsorganisationen gezielte
Maßnahmen für Kinder durchführen.

6. Das Mindestalter für die Rekrutierung von Soldaten soll
auf 18 Jahre angehoben werden. Soldaten unter 18 Jahren müssen sofort demobilisiert
werden und brauchen spezielle Wiedereingliederungshilfen.

7. Sanktionen müssen auf ihre negativen Auswirkungen auf
Kinder hin überprüft werden.

8. Die Ursachen der Gewalt müssen stärker bekämpft und
Konfliktlösungsstrategien entwickelt werden. Waffenlieferungen in Krisengebiete müssen
kontrolliert und weltweit geächtet werden.

Die 10 größten Herkunftsländer von Flüchtlingen
Herkunftsland Hauptasylländer Anzahl der
Flüchtlinge
Afghanistan Iran / Pakistan / GUS / Indien 2 675 000
Bosnien und Herzegowina Kroation / BR Jugoslawien /
Deutschland
1 019 000
Liberia Guinea / Elfenbeinküste / Ghana /
Sierra Leone
758 000
Irak Dschibuti / Äthiopien / Kenia /
Jemen
630 000
Sudan Uganda / Zaire / Kenia / Äthiopien 468 000
Somalia Dschibuti / Äthiopien / Kenia /
Jemen
452 000
Ruanda Burundi / Tansania / Uganda / Zaire 387 000
Eritrea Sudan 349 000
Angola Zaire / Sambia / Kongo / Namibia 324 000
Sierra Leone Guinea / Liberia / Gambia /
Elfenbeinküste
325 000
Geschätzte Zahlen von Februar 1997,
Quelle: UNHCR

Literatur

Black, Maggie (1998): Children in Conflict. A Child Rights Emergency. London.

Machel, Graça (1996): Impact of Armed Conflict on Children. Report submitted pursuant to General Assembly Resolution 48/157, A/51/306.

Stiftung Entwicklung und Frieden (1997): Globale Trends 1998. Fakten Analysen Prognosen, Frankfurt a.M.

UNICEF (1995): Zur Situation der Kinder in der Welt 1996. Frankfurt a.M..

Tanja Sieber, Soziologin, und Andrea Pütz, MA, sind Mitarbeiterinnen des Deutschen Komitees für UNICEF

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

von Bettina Höfling-Semnar

Während öffentlich diskutiert und praktiziert wird, wie mit Gesetzes- und Verfahrensänderungen der angeblich die Sicherheit bedrohende Asylstrom nach Europa eingedämmt werden kann, wird die eigentliche Krise des Asylrechts nicht zur Kenntnis genommen: die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen.

Prävention wird auf diesem Hintergrund zum Mittel des Zwecks: Begrenzung des Zustroms. Völlig außer Acht gelassen wird dabei, daß mit der Beschädigung des Asylrechts gleichzeitig die wichtigsten die Völkergemeinschaft tragenden Prinzipien verletzt werden: die Gleichheit und die Würde des Menschen.

Die vielzitierte Krise des Asylrechts offenbart sich zu Beginn des neuen Jahres 1998 in mittlerweile altbekannter Härte, jedoch wie immer auf dem Kopfe stehend: Da kommen Flüchtlinge par excellence, die Kurden nämlich, deren Verfolgungs- und Bedrohungssituation durch jahrelange eindeutige Berichterstattung drastisch bekannt und durch eine überdurchschnittlich hohe Asylanerkennungsquote in Deutschland darüber hinaus richterlich abgesegnet ist, und dennoch sind es einfach »Illegale«, deren Eindringen ins Schengenland verhindert werden muß. Die Italiener, die das Loch in der Schengener Mauer diesmal zu verantworten haben, werden von den Vertragsstaaten, allen voran von Deutschlands Innenminister (!), zur Räson gebracht. Der Verdacht drängt sich auf, daß das Versenken eines Bootes mit Flüchtlingen, so geschehen 1997 mit albanischen Flüchtlingen vor der italienischen Küste, den Schengenern eher liegt, als die zumindest zeitweilige Aufnahme der Flüchtenden. Denn was sollen die Italiener auf dem Wasser eigentlich unternehmen: Am 9. Januar meldet die Tagesschau, italienische Schnellboote hätten Schlauchboote mit einigen hundert Menschen abgedrängt, dabei seien Schüsse gefallen. Schießbefehl an der Schengener Mauer? Auch an der deutschen Ostgrenze wird im übrigen auf der Flucht gestorben.

Die Kurden verursachen nicht die Krise des Asylrechts; sie sind Opfer einer mehreren Staaten zurechenbaren Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik (die bekanntermaßen auch mit deutschen Waffen exekutiert wird) und sollten im besten schlechten Falle als Flüchtlinge das Asylrecht zur Anwendung bringen können.

In den kurdisch besiedelten Gebieten im Osten und Südosten der Türkei haben die Menschenrechtsverletzungen an Kurden in den letzten Jahren an Intensität und Systematik zugenommen, direkte Kampfhandlungen, Zerstörungen von Siedlungen und zwangsweise Evakuierungen von ganzen kurdischen Dörfern durch die türkische Armee haben zu einer Fluchtbewegung in die großen Städte geführt. Doch weder in Istanbul, Ankara und Izmir, noch in den mittelgroßen Städten, die Flüchtlinge aufnehmen, ist die Situation heute ungefährlich: Auch hier kommt es zunehmend zu Übergriffen der Sicherheitskräfte (ai 1996: 53-57).

Eine inländische Fluchtalternative, wie sie von deutschen Gerichten oft beschrieben wird, existiert demnach nicht. Kurdische Flüchtlinge, die es in der Vergangenheit bis zu einer Asylantragstellung in Deutschland schafften, berichteten über weitgehendes Desinteresse der Anhörer an Berichten von Folter und an Folterspuren; Zeugen wurden selten gehört.1

ai beklagt, daß bei „zahlreichen Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Menschenrechtssituation in der Türkei verharmlost wird und ein erschreckendes Menschenrechtsverständnis deutlich wird“ (ai 1996: 55).

Dennoch liegt die Anerkennungsquote der Kurden (diese werden zwar nicht separat aufgeführt, die meisten türkischen Asylbewerber sind jedoch Kurden) bei über 20 %, zusammen mit Personen, die nach den 51 und 53 AuslG Abschiebungsschutz erhalten, sind bereits knapp 30 % der asylsuchenden Kurden allein durch die Entscheidung des Bundesamtes vor Abschiebung geschützt. Und dies, obwohl das deutsche Asylrecht nur nachweislich staatlich verfolgten politischen Flüchtlingen zusteht, nicht aber solchen, denen etwa das Dorf zerstört und der Vater erschossen oder die Mutter vergewaltigt wurden, weil das türkische Militär in diesem Dorf PKK-Anhänger vermutete.

Die Krise des Asylrechts liegt nicht im quantitativen Ansteigen der Flüchtlingszahlen. Die Krise des Asylrechts liegt vielmehr in der qualitativen Veränderung von Fluchtursachen, die jedoch weder im deutschen noch im europäischen Asyl- und Flüchtlingsrecht reflektiert werden. Dies hat zur Folge, daß es keinen problemadäquaten Flüchtlingsbegriff gibt, das heißt, es kommt zu einem Auseinanderfallen von Asyl- und Flüchtlingsschutz auf der einen Seite und von realen Fluchtursachen auf der anderen Seite.

Sowohl auf der rechtlichen als auch auf der politischen Ebene erleichtert die Diskrepanz zwischen dem üblichen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen die Ausblendung konkreter Verfolgungs- und Bedrohungstatbestände und die Verdrängung menschen- und asylrechtlicher Standards aus der deutschen und der europäischen Politik. Zu Befürchten stehen die faktische Demontage der Institution Asyl und die Abkehr von Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts.

Das Auseinanderfallen von Asylrecht und Fluchtursachen

Das 20. Jahrhundert, schon in seiner Mitte zu Recht als »Jahrhundert der Flüchtlinge« apostrophiert, brachte einen grundlegenden Wandel der Person des typischen Flüchtlings mit sich. Während im 19. Jahrhundert der individuell verfolgte politische Flüchtling die Regel bestimmte, brachten schon die 20er Jahre des neuen Jahrhunderts ganz neue Gruppen von Vertriebenen und Flüchtlingen hervor. Otto Kirchheimer betont die neuartige Situation: „Die Überlebenden der türkischen Armeniermassaker, die russischen »Bourgeois« der zwanziger Jahre, die europäischen Juden im Hitlerschen Europa, die spanischen Militärdienstpflichtigen, die im Bürgerkrieg auf seiten der rechtmäßigen republikanischen Regierung gefochten hatten, Angehörige der während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion auf die Proskriptionsliste gesetzten nationalen Minderheiten: alle diese Exilierten neuer Prägung entflohen der drohenden Bestrafung für was sie waren, nicht für was sie getan hatten oder künftighin zu tun vor hatten. Ihr Auftauchen gab dem Asyl eine neue Sinnbedeutung und veranlaßte die Aufnahmeländer, nach neuen Begriffsbestimmungen Ausschau zu halten.“ (Kirchheimer 1985: 515f)

Auch Hannah Arendt charakterisiert die Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg treffend: „Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern aufgrund dessen, was sie unabänderlich von Geburt sind – hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (wie im Falle der spanischen republikanischen Armee). Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach nie sein darf: er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte.“ (Arendt 1986: 459)

Neben dem politisch Verfolgten wie er für das 19. Jahrhundert typisch ist und wie er auch heute in nicht geringer Zahl um Asyl nachsucht, tauchen in immer größerer Zahl ganze Gruppen von Flüchtlingen auf, die zwar vor keiner staatlichen und keiner individuellen Verfolgung fliehen, deren Gefährdung aber der des traditionellen politisch Verfolgten in nichts nachsteht. Eine Vielzahl struktureller Gewaltverhältnisse politischer, wirtschaftlicher und sozialer Provenienz zwingen heute Menschengruppen zur Flucht. Neben die politische Verfolgung tritt die ethnische, die religiöse oder die geschlechtsspezifische. Allgemeine Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Schutz vor Übergriffen nichtstaatlicher Mächte, die Vernichtung der Lebensgrundlagen durch ökonomische oder zunehmend auch ökologische Krisen und nicht zuletzt Kriege und Bürgerkriege treiben Menschen zur Flucht.

Bis heute ist in der Formulierung des internationalen Flüchtlingsbegriffs, der sich im wesentlichen auf den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 bezieht, und des deutschen Begriffs des politisch Verfolgten diese Realität nicht reflektiert und nicht anerkannt worden:

Der Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht genau definiert. Menschenrechtlich orientierte Positionen betonen, daß der Verfolgungsbegriff durch die Schöpfer der GFK ursprünglich im liberalen Sinne entwickelt wurde und die Funktion hat, „ernsthafte Eingriffe wie Gefangenschaft und körperliche Mißhandlung von Maßnahmen mit ausschließlichem Diskriminierungscharakter, wie z. B. unterschiedliche Behandlung bei der staatlichen Daseinsvorsorge, zu unterscheiden.“ (Marx 1991b: 550)Aus Art. 33 GFK, der das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung eines Flüchtlings in ein Land festschreibt, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“ (;Marx 1991a: 222) gehe hervor, daß es sich bei einer asylrelevanten Verfolgung um eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit des Betreffenden handeln müsse, „was sicher einen Teil von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen umfaßt.“ (Köfner/Nicolaus 1986: 161)Das Erleiden von Menschenrechtsverletzungen verschafft jedoch noch kein Anrecht auf die Gewährung von Asyl.

Neben der Definition der Verfolgung spielt auch die Bestimmung des Verfolgers zur Begründung einer Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK eine wichtige Rolle. Aus dem Art. 1 A Absatz 2 GFK wird abgeleitet, daß der Verursacher der Verfolgung der Staat sein muß. Die Genfer Flüchtlingsdefinition stellt demnach ausschließlich auf den Verlust staatlichen Schutzes ab, d.h., Verfolgungsmaßnahmen müssen entweder vom Heimatstaat ausgehen oder ihm zumindest zurechenbar sein. Flüchtlinge jedoch, die das Land ihrer Staatsbürgerschaft aufgrund von Bürgerkriegen, Kriegen, schweren inneren Unruhen, ausländischen Interventionen oder schwerwiegenden Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlassen, können nicht die Flüchtlingseigenschaft der GFK beanspruchen (vgl. Hailbronner 1989: 37).

In der Praxis hat sich diese enge Definition jedoch nicht bewährt. Der United Nations High Commisioner for Refugees (UNHCR), der 1950 als unpolitische, humanitäre und nicht-operative Organisation für die Unterstützung und Anleitung der rechtlichen Integration der vermeintlichen »restlichen« europäischen Flüchtlinge gegründet wurde und dem eine der GFK fast identische Flüchtlingsdefinition zugrunde liegt, mußte früh schon über seine Tätigkeitsbegrenzung und seine Flüchtlingsdefinition hinausgehen: Mit dem Konzept der guten Dienste (»good offices«) wurde UNHCR nach Beschluß der Generalversammlung der Vereinten Nationen erstmals 1957 für chinesische Flüchtlinge in Hongkong aktiv, später dann vor allem für Flüchtlingsgruppen aus afrikanischen Staaten. Dem Konzept der guten Dienste lag die Schwierigkeit zugrunde, im Falle von Massenfluchtbewegungen nicht die individuelle Flüchtlingseigenschaft eines jeden überprüfen zu können. Deshalb lag es nahe, eine ganze Gruppe als Flüchtlingsgruppe zu betrachten. Darüber hinaus wurde akzeptiert, daß es neben den Mandatsflüchtlingen auch Menschen gibt, die sich in »flüchtlingsähnlichen« Situationen befinden, auch wenn nicht Furcht vor Verfolgung die Flucht motivierte (vgl. Jackson 1982).

Anläßlich des Flüchtlingsproblems in und aus dem Sudan erwähnte 1972 eine Resolution der UN-Generalversammlung erstmalig Flüchtlinge und displaced persons zusammen, 1976 wurden diese in einer anderen Resolution quasi dem Mandat des UNHCR unterstellt: „ The eminently humanitarian charakter of the activities of the High Commissioner for the benefit of refugees and displaced persons…“ (Resolution 3454, 1975)

Mitte der 90er Jahre nimmt UNHCR ausdrücklich Abstand von Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen, Rückkehrern, Binnenvertriebenen und einheimischer Bevölkerung: In den Grenzregionen beispielsweise von Liberia und Sierra Leone oder Äthiopien und Somalia unterscheidet sich die Situation dieser vier Gruppen nicht. „Aufgrund dieser Entwicklungen läßt sich mittlerweile sowohl bei externen Mitarbeitern als auch bei den humanitären Helfern die Tendenz feststellen, nicht mehr so stark auf die Flüchtlingsdefinition nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahre 1951 zu pochen, sondern allgemeiner von Vertriebenen, entwurzelten Bevölkerungen und unfreiwilligen Migranten zu sprechen.“ (UHNCR 1995: 177)

Eine ähnliche Diskrepanz, wie sie sich zwischen dem unveränderten Rechtsschutzmandat des UNHCR und den jeweiligen pragmatischen Lösungen, die letztlich zu einer Mandatserweiterung führten, abbildet, läßt sich auch im Verhältnis zwischen dem Asylrecht und der bundesdeutschen Asylpraxis der 70er und 80er Jahre nachweisen. Auf der einen Seite steht ein zwar ursprünglich als Grundrecht formuliertes und liberal ausgelegtes Asylrecht, das in der Zeit seiner Beanspruchung durch Flüchtlinge jedoch immer restriktiver ausgelegt wurde, auf der anderen Seite aber eine Praxis, die Flüchtlingen trotz Asylablehnung temporären Schutz gewähren mußte, weil diese aus verschiedenen Gründen, die oftmals Bedrohungs- und Verfolgungstatbestände enthielten, einfach nicht abschiebbar waren (vgl. Höfling-Semnar 1995: 96-139). Neben den politisch begründeten Restriktionen und Maßnahmen zur Desintegration der Flüchtlinge in Deutschland ist vor allem die Zielrichtung des Art. 16 Absatz 2 Satz 2 GG ausschließlich auf den politisch, daß heißt staatlich und individuell und nachweisbar Verfolgten die Ursache dafür, daß viele tatsächlich an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge außerhalb des Asylrechts zu stehen kommen.

Im April 1988 etwa wurden 60% aller abgelehnten Asylbewerber aus politischen, rechtlichen und humanitären Gründen nicht abgeschoben – die Hälfte wegen Gefahr für Leib und Leben und schweren Menschenrechtsverletzungen (Grenz 1992). Die Problematik ist auf europäischer Ebene ähnlich: Hier wurden 1993 von 553.000 Asylbewerbern in Westeuropa nur 49.000 Personen als Asylberechtigte anerkannt, 30% der Asylantragsteller bekamen jedoch legitime Gründe zuerkannt, im Land zu verbleiben (UHNCR 1995: 216).

Diese offensichtlich problematische Situation wird öffentlich als »Krise des Asylrechts« bezeichnet und von interessierter Seite als innenpolitischer Schlagstock genutzt. Mit der deutschen Grundgesetzänderung, die das Asylgrundrecht vor allem durch die Drittstaatenregelung und durch das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten bis zur Unkenntlichkeit einschränkt, wird eine Neurorientierung in der Flüchtlingspolitik versprochen, die vor allem an dem Kern des Problems, nämlich den Fluchtursachen ansetzen will.

Das Kernproblem des Asylrechts aber, nämlich der Sachverhalt, daß im Flüchtlingsbegriff bzw. im Begriff des politisch Verfolgten die Fluchtursachen nicht reflektiert werden, wird eher verschärft.

Flüchtlingspolitik leitet den Ausstieg aus der Asylpolitik ein

Die Neuorientierung der Flüchtlingspolitik, die ein Hauptaugenmerk nun auf die Herkunftsländer und auf das Ziel eines Verbleibs der Flüchtlinge – allerdings in einer befriedeten Umgebung – im Land ihrer Staatsangehörigkeit legt, ist nicht eine Erfindung deutscher Politik, sondern ist Thema des internationalen Flüchtlingsschutzes.

Die Eskalation der Flüchtlingssituationen in Afrika, in Südostasien und in Pakistan 1979/80 geben sowohl dem UNHCR als auch den mit den Flüchtlingen konfrontierten Aufnahmeländern Veranlassung, über präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Entstehung von Flüchtlingsströmen nachzudenken. Obwohl die 35.Generalversammlung der Vereinten Nationen schon 1980, übrigens auf eine deutsche Initiative reagierend, über »Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme« diskutierte, dauerte es noch bis 1987, bis der Generalsekretär der UN als ersten Schritt einer neuen, präventiven Flüchtlingspolitik ein »Forschungs- und Informationsbüro« (Office of Research and the Collection for Informations, OCRI) einrichtete.

Das Problem liegt auf der Hand: Präventive Flüchtlingspolitik kann nicht »nur« humanitäre Politik sein, sondern fordert auf zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten, zur Zusammenarbeit und zu selbstkritischer Analyse wirtschaftlicher, politischer und sozialer Verflechtungen. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden vom Völkerbund und von den Regierungen präventive Lösungen der Flüchtlingsproblematik diskutiert und gesucht.

Die Auflösung der bipolaren Weltordnung hat der internationalen Gemeinschaft schließlich mehr Möglichkeiten an die Hand gegeben, alternative Lösungsstrategien für Flüchtlingsprobleme zu entwickeln; viele Gedanken aus der Zwischenkriegszeit wurden wieder aufgegriffen. Während UNHCR früher auf eingetretene Krisen nur reagieren und auch nur im Aufnahmeland aktiv werden konnte, veränderte sich das Vorgehen vor allem dahingehend, daß die Verantwortung des Herkunftslandes der Flüchtlinge ins Blickfeld rückte. Ein Konzept zur Prävention bündelt verschiedene Maßnahmen wie Beobachtung und Frühwarnung, diplomatische Intervention, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Konfliktlösung, Bereitstellung von Informationen und Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten, die alle ohne eine Mitarbeit der fluchtverursachenden Länder nicht durchführbar sind.

Die notwendige Verlagerung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in die Herkunftsländer birgt jedoch Gefahren, die UNHCR angesichts der restriktiven Asylgewährungspraxis verschiedener Flüchtlingsaufnahmeländer in den 90er Jahren deutlich formuliert. UNHCR befürchtet, daß „sich die Übernahme präventiver und auf das Herkunftsland konzentrierter Strategien auf die Bereitschaft der Staaten auswirken wird, die Institution des Asyls und die Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts aufrechtzuerhalten.“ (UHNCR 1995: 59) Viele Regierungen hätten in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß sie des Flüchtlingsproblems überdrüssig seien, und als einfachste Lösung den Verbleib der Flüchtlinge in den Grenzen des eigenen Landes anstrebten.

Mit dem neuen Paradigma eröffnen sich für flüchtlingsabwehrende Staaten ungeahnte Möglichkeiten der Legitimation: „Leider können einige der zentralen Elemente des neuen Ansatzes zu Flüchtlingsproblemen dazu benutzt werden, diese restriktiven Strategien zu legitimieren. (…) Wie UNHCR und andere humanitäre Organisationen verweisen auch Regierungen zunehmend auf die Notwendigkeit, Flüchtlingsbewegungen zu verhindern, Vertreibungen zu begrenzen und das Recht von Menschen auf das Leben in ihrer Heimat anzuerkennen. Es besteht jedoch die Gefahr, daß Interpretation und Umsetzung solcher Konzepte stark differieren.

In konstruktiver Form kann Prävention beispielsweise dazu benutzt werden, die Ursachen erzwungener Migration zu beseitigen. Sie kann jedoch auch einfach nur darin bestehen, Barrieren zu errichten, um die Opfer von Verfolgung an der Einreise in ein anderes Land zu hindern. (…) Auch das Recht zu bleiben kann fehlinterpretiert werden. Wenn es sich durchsetzen soll, muß es als Recht eines Menschen verstanden werden, in Frieden und Sicherheit in seinem eigenen Land oder in seiner Gemeinschaft zu leben. Es darf nicht zu einer Vorschrift umfunktioniert werden, die Menschen zum Ausharren in Situationen zwingt, in denen sie nicht ausreichend geschützt werden können und es keine Lösung gibt.“ (UHNCR 1995: 60)

UNHCR beschreibt damit in einer für seine Verhältnisse wenig diplomatischen Form die triste Realität internationaler Flüchtlingspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts: viel Rhetorik bei sinkender Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe, geschweige denn zur Flüchtlingsaufnahme.

Die Entwicklung der bundesdeutschen Asylpolitik läßt sich dabei als Negativbeispiel heranziehen: Der Verweis auf die Fluchtursachen dient der Legitimation einer anvisierten Zugangsverhinderungspolitik.

Solange bis Ende der 70er Jahre überwiegend Kommunismusflüchtlinge aus Osteuropa um Asyl in der Bundesrepublik nachsuchten, beschränkte sich die Wahrnehmung von Fluchtursachen auf die Kenntnis der Systemgrenzen zwischen Ost und West und auf die selbstverständliche Annahme, daß der Westen Gegenpol der politischen Verfolger sei. Mit dem Auftauchen von Flüchtlingen aus anderen Kontinenten, vor allem aus Asien, an denen sich die sprichwörtliche Asyldebatte entzündete, reduzierte sich die in parlamentarischen Asyldebatten formulierte Kenntnis der Fluchtursachen auf den Topos der massenhaften Wirtschaftsflucht. Die bis heute gültige Problemsicht, daß „90 % aller Asylbewerber nicht aus politischen Gründen Asyl beantragen“ (Spranger 1980), wurde ins öffentliche Meinungsbild zementiert.

Seit 1988 läßt sich eine Umorientierung in der asylpolitischen Thematisierung erkennen: Ausführliche und mitunter problemadäquate Beschreibungen von Fluchtursachen leiten parlamentarische Beiträge, Gesetzesinitiativen und Memoranden ein (vgl. Höfling-Semnar 1995: 153-175).

Beispielhaft betont 1989 das »Memorandum zur Flüchtlingsproblematik«, veröffentlicht vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Dringlichkeit eines verstärkten politischen Handlungsbedarfs angesichts wachsender Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und gleichzeitig abnehmender Aufnahmebereitschaft von Industrie- und Entwicklungsländern. Das in der Folgezeit wenig beachtete Memorandum räumt der Beschreibung von Fluchtursachen großen Raum ein und verweist neben den konventionellen Flüchtlingen, die auch vom UNHCR anerkannt werden, auch auf die Existenz eines „neuen Typus von Flüchtlingen“: Menschen, die beispielsweise vor einem „Klima allgemeiner Gewalt und Repression, vor lebensbedrohenden Bürgerkriegen, vor der Zerstörung des traditionellen Lebensraumes aufgrund schwerer ökologischer Belastungen oder vor unerträglich gewordenen Lebensbedingungen aufgrund von Überbevölkerung, Armut und Arbeitslosigkeit (…)“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 2)fliehen. Nicht zu leugnen sei die Tatsache, daß die „gängige Unterscheidung zwischen »politischen« Flüchtlingen, »Armutsflüchtlingen«, »Umweltflüchtlingen« und »Wirtschaftsflüchtlingen« problematisch ist, zumal gerade die Dialektik von politischer Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits nur allzu bekannt ist.“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 3)

In entwicklungpolitischen Debatten gewinnt die Beschreibung von Fluchtursachen und die Betonung der Notwendigkeit einer faktischen Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs eine zunehmende Bedeutung. 2 Aber auch im asylpolitischen Kontext läßt sich eine, wenn auch zaghafte, Differenzierung bei der Beschreibung der Fluchtursachen nachweisen; Begriffe wie »Asylmißbrauch« und »Wirtschaftsflüchtling« werden vorsichtig hinterfragt.3

Zu Beginn der neunziger Jahre ist es in asylpolitischen parlamentarischen Debatten üblich, sich über Fluchtursachen und die Dimension der Weltflüchtlingsproblematik zu verständigen; überwiegend dient solch eine Beschreibung allerdings zur Begründung, warum das Asylrecht kein Instrument der Problembewältigung darstellt. 4

Deutlich wird diese Haltung am Beispiel der Flüchtlingskonzeption der Bundesrepublik Deutschland von 1990, in der Ansätze für eine zukünftige ressortübergreifende Flüchtlingspolitik versammelt sind, wobei das Ziel einer Bekämpfung der Fluchtursachen erste Priorität gewinnt. Neben allgemeinen Aussagen über flüchtlingsrelevante Aufgaben der Außenpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Wirtschaftshilfe stehen verschiedene Rückführungsprogramme im Mittelpunkt der formulierten Aufgaben. Auch für eine zukünftige Asylpolitik werden Rückführungsprogramme entwickelt: Neben Maßnahmen zur Anreizverminderung sei ein wichtiges Ziel die freiwillige Rückkehr oder die Weiterwanderung von Flüchtlingen. Neben viel Rhetorik – so etwa die Formulierung, der von der UN empfohlene Satz von 0,7 % des BSP als Entwicklungshilfe sei zu bekräftigen, dies vor dem Hintergrund, daß ihn Deutschland heute gerade wenig mehr als zur Hälfte erfüllt – fällt vor allem das völlige Fehlen von Vorschlägen über die zukünftige Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern auf. Fluchtursachenverhinderung heißt auf deutsch: Das „Problem (der Asylpolitik) spitzt sich auf die Frage zu, wie verhindert werden kann, daß das Asylrecht zum Mittel der Einwanderung von Hunderttausenden wird, die nicht politisch verfolgt sind.“ (Bundesminister des Inneren 1990: 9)

Die Asylgrundrechtsänderung vom Mai 1993 schließlich bestätigte den anvisierten Ausstieg aus dem politisch gewollten und rechtlich adäquat umgesetzten Asylrecht: Obwohl die Formulierung des alten Art. 16 II 2 GG, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im neuen Art.16 GG beibehalten wurde, wird diese durch die neuen Sätze 2 – 4 bis zur Verkehrung ins Gegenteil eingeschränkt. Darüber hinaus werden Bleiberechtsregelungen, die beispielsweise Bürgerkriegsflüchtlingen zumindest temporär Aufenthalt gewährten, bis auf Ausnahmen generell abgeschafft.

Die Neuregelung des verfassungs- und verfahrensrechtlichen Asylrechts bedeutet damit eine weitgehende Präzisierung und Perfektionierung bisheriger asylpolitischer Konzeptionen: umfassende Zugangsverhinderung in Form der Drittstaatenregelung als Kernstück der Asylgrundrechtsänderung, Verfahrensbeschleunigung auf Kosten des Rechtsschutzes und soziale Degradierung und Kriminalisierung von Flüchtlingen, die in Abschiebegefängnissen den bisherigen bundesdeutschen Tiefstand bürokratischer Menschenbehandlung erleiden müssen.

Menschenrechte und Demokratie

Eine Asylpolitik, deren formuliertes Ziel die Abwehr und Rückkehr von Flüchtlingen ist und die sich durch Desintegration und Kriminalisierung von Flüchtlingen ideologische Legitimation besorgt, beschädigt nicht nur das Asylrecht, sondern den Flüchtlingsschutz allgemein.

Dem Asylrecht kommt im normativen und theoretischen System der Vereinten Nationen eine sensible Indikatorfunktion zu. Zum einen ist das Asylrecht selbst ein Teil der auf die Wahrung des Friedens und die Gewährung der Menschenrechte beruhenden Prinzipien, auf die die UN sich beruft, zum anderen aber quasi ein Provisorium zugunsten der Opfer der Mißachtung dieser Prinzipien.

Wer das Asylrecht in Zeiten seiner Beanspruchung beschränkt oder quasi abschafft bis auf Reste eines staatlichen Gnadenrechtes, der verzichtet, wie die deutsche Politik, nicht nur darauf, die umfassende Herausforderung bundesdeutscher, europäischer und völkerrechtlicher Menschenrechtsschutzregelungen, verursacht durch neue Fluchtursachen und moderne Massenfluchtbewegungen, überhaupt erst zu formulieren, sondern der zerstört einen der empfindlichsten und gefährdeten Indikatoren über den Zustand grundlegender Prinzipien der Staatengemeinschaft.

Zur Disposition steht nichts weniger als das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten. Denn es wird nicht nur der Zugang zum Asyl erschwert und die soziale Lage der Flüchtlinge verschlechtert, sondern es werden die Vorstellungen über die Gleichheit aller Menschen, auf denen die deutsche Verfassung genau wie die Charta der Vereinten Nationen beruhen, diskreditiert zugunsten des vorgeblichen Kampfes um Selbstverteidigung. Die westlichen Demokratien, von denen diese menschenrechtswidrige Tendenz ausgeht, werden konstruiert als erlesener Menschengarten von Privilegierten:

„Die Restriktionen des Asylrechts und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheit und die Menschenwürde bergen die Gefahr, daß sich die kollektive Vorstellung von Demokratie verändert. Denn sie verfälschen ihr authentisches Projekt und präsentieren die Demokratie nicht als universellen Wert, sondern als Privileg von bestimmten Gruppen, und innerhalb dieser Gruppen als Diktatur der Mehrheit, die sich von der Achtung grundlegender Rechte lossagt.“ (Sernese 1995)

Die rituelle Kampagne gegen die Kurden, die diese ohne Ansehen ihrer Fluchtgründe und Lebensumstände, quasi prophylaktisch, vor Grenzübertritt als Illegale stigmatisiert, ist ein Mosaiksteinchen auf dem Weg der Abschwächung des Gleichheitsgrundsatzes.

Literatur

ai (1996): Zwei Jahre neues Asylrecht. Auswirkungen des geänderten Asylrechts auf den Rechtsschutz von Flüchtlingen. Bonn.

Arendt, Hannah(1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986.

Basso-Sekretariat, Hrsg. (1995): Festung Europa auf der Anklagebank. Dokumentation des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa. Münster

Bundesminister des Innern (1990): Flüchtlingskonzeption für die Bundesrepublik Deutschland. Ansätze für eine ressortübergreifende Politik, Bonn.

Grenz, Wolfgang (1992): Verschärfungen des Asylrechts treffen auch die politisch Verfolgten, in: Ludwig, Ralf / Ness, Klaus / Perik, Muzaffer (Hg.), Fluchtpunkt Deutschland, Marburg, S. 26.

Hailbronner, Kay (1989): Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreise- und Asylrechts. Baden-Baden.

Höfling-Semnar, Bettina (1995): Flucht und deutsche Asylpolitik. Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung. Münster.

Jackson, Ivor C. (1982): Flüchtlinge – Ausländer mit besonderem Schicksal, in: Otto Benecke Stiftung (Hg.), Ausländische Mitbürger – In der Fremde daheim? Chancen der Massenmedien. Baden-Baden, S. 35-46.

Kirchheimer, Otto (1985): Politische Justiz. Frankfurt.

Köfner, Gottfried / Nicolaus, Peter (1986): Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland. 2 Bde., Mainz/München.

Marx, Reinhard (1991a): Asylrecht Bd. 1. Baden-Baden.

Marx, Reinhard (1991b): Asylrecht Bd. 2. Baden-Baden.

Resolution 3454 (XXX) vom 9. 12. 1975, zitiert nach Köfner/Nicolaus (1986: 177).

Senese, Salvatore (1995): Völkerrecht, Demokratie und Asylrecht, in: Basso-Sekretariat (1995), S. 149.

Spranger, CDU/CSU (1980): BT PlPr 8/205 vom 6.3.1980, S. 16471.

UNHCR (1995): Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt. UNHCR-Report 1995/96. Bonn.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1989).

Anmerkungen

1) Dies berichtet Herbert Leuninger, Europareferent von PRO ASYL, auf dem Basso-Tribunal zum Asylrecht in Europa, in: Basso-Sekretariat (1995:75f). Zurück

2) Vgl. etwa den Antrag der Regierungskoalition vom März 1988 über den entwicklungspolitische(n) Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen“, BT Drs 11/1954 vom 7. 3. 1988, oder die entwicklungspolitische Debatte“ des Bundestages, BT PlPr 12/94 vom 3. 6. 1992. Zurück

3) Vgl. etwa Entschließungsantrag des Landes Hessen, BR Drs 113/89 vom 2. 3. 1989; Ausschußempfehlungen zum hessischen Entschließungsantrag, BR Drs 113/1/89 vom 10. 4. 1989. Ministerpräsident Späth in BR PlPr 597/89, vom 10. 2. 1989, S. 9. Hirsch in BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15032. Zurück

4) Vgl. etwa Bundesinnenminister Schäuble in: BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15025/15026. Ders. in BT PlPr 12/51 vom 18.10. 1991, S. 4214 / 4215. Ministerpräsident Späth in: BR PlPr 597/89 vom 10. 2. 1989, S. 9. Zurück

Dr. Bettina Höfling-Semnar arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt/Main

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Psychologische Erklärungen

von Ulrich Wagner

Minderheiten, also zahlenmäßig kleine oder machtlose Gruppen, haben häufig mit Ablehnung, negativer Stereotypisierung, Diskriminierung bis hin zu tätlichen Angriffen zu kämpfen. Die Psychologie allein kann die Entstehung solcher Ausgrenzungen nicht erklären. Dazu ist die Analyse gesellschaftlicher Prozesse notwendig. Die Beachtung psychischer Prozesse ist aber unabdingbar, um den Umgang mit Minderheiten verstehen zu können. Der folgende Beitrag erläutert zunächst einige wichtige psychische Prozesse zum Verständnis von Ausgrenzung, nämlich das Phänomen der Wahrnehmungsakzentuierung, den Prozeß der Differenzierung zwischen Gruppen und die in diesem Zusammenhang besonders bedeutsame Rolle von Konflikten (vgl. auch Wagner, 1985; Wagner & Zick, 1990). Daran sollen der Wert, aber auch die Grenzen psychologischer Modelle deutlich werden. Schließlich werden, darauf aufbauend, einige sozialwissenschaftliche Technologien zur Verbesserung konflikthafter Begegnungen mit Minderheiten angesprochen.

Die menschliche Informationsverarbeitung scheint so angelegt zu sein, daß sie große Unterschiede in der wahrgenommenen Welt überbetont und kleinere eher vernachlässigt. Diese Akzentuierung läßt sich am besten am Beispiel einer typischen Versuchsanordnung verdeutlichen (vgl. Tajfel & Wilkes, 1964).

Jeder Versuchsperson werden nacheinander verschiedene Linien von unterschiedlicher Länge präsentiert. In der hier relevanten Klassifikationsbedingung werden die kürzeren Linien immer zusammen mit dem Buchstaben A, die längeren immer in Kombination mit dem Buchstaben B dargeboten. Die Aufgabe der Versuchspersonen besteht darin, die Länge der Linien einzuschätzen. Die Ergebnisse zeigen, daß die Etikettierung mit den Buchstaben A und B die Versuchspersonen veranlaßt,

  • die Längenunterschiede zwischen der längsten Linie der Klassen A und der kürzesten Linie der Klasse B zu überschätzen (der sogenannte Inter-Klassen Effekt) und
  • die Unterschiede zwischen der kürzesten und längsten Linie innerhalb jeder Klasse zu unterschätzen (der Intra-Klassen Effekt).

Der allgemeine Satz lautet: Unterschiede zwischen klassifizierten Stimulusserien werden überschätzt, Unterschiede innerhalb klassifizierter Stimulusserien nivelliert. Der beschriebene Mechanismus hat offensichtlich die Funktion, die Umwelt zu vereinfachen. Seine Bedeutung für die hier interessierende Fragestellung liegt ebenfalls auf der Hand, wenn man sich vorstellt, als »Stimulusmaterial« würden statt Linien Menschen verwendet (vgl. z.B. Lilli & Lehner, 1971): Unterschiede zwischen Menschen werden als größer wahrgenommen, wenn diese Menschen nach einem beliebigen Kriterium in unterschiedliche Kategorien eingeordnet werden können, wenn sie beispielsweise wissen, daß sie unterschiedlichen Fußballvereinen anhängen, daß sie der einen oder anderen Nation angehören, unterschiedliche Hautfarbe haben oder unterschiedliches Geschlecht usw. Die Unterschiede werden geringer, wenn Menschen feststellen, daß sie unter irgendeinem Gesichtspunkt derselben Kategorie zugehören: Die Fans von Bayern München und Borussia Dortmund können wunderbar gemeinsam Siege der deutschen Fußball-Nationalmannschaft feiern (vgl. auch Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; Wagner, 1991).

Differenzierung zwischen Gruppen

Die Akzentuierungstheorie beschreibt, warum Menschen, wenn sie feststellen, daß sie unterschiedlichen Kategorien zuzurechnen sind, Unterschiede zwischen diesen Kategorien besonders hervorheben (vgl. auch Doise, 1978). Die Erfahrung lehrt jedoch: Wenn Menschen unterschiedlichen Gruppen zugehören, dann hat das häufig nicht nur zur Folge, daß die Unterschiede zwischen diesen Gruppen betont werden, sondern auch, daß die Gruppenmitglieder die Mitglieder der jeweils anderen Gruppe abwerten, diskriminieren und mit physischer Gewalt attackieren. Die Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik machen das auf erschreckende Weise deutlich. Eine solche Abwertung von Mitgliedern von Fremdgruppen kann die Akzentuierungstheorie nicht erklären.

Zu Anfang der siebziger Jahre wurde in Bristol, England, eine zur Erklärung dieses Problems wichtige Serie von Experimenten durchgeführt, die sogenannten Minimal-Group-Untersuchungen (Tajfel, Billig, Bundy & Flament, 1971). Die Versuchspersonen wurden nach Zufall, z.B. indem sie Lose aus einer Trommel ziehen konnten (Billig & Tajfel, 1973), in zwei Gruppen eingeteilt. Im zweiten Teil der Untersuchung wurden sie dann unter einem Vorwand aufgefordert, an zwei andere Versuchspersonen nach vorgegebenen Verteilungsmatrizen (vergl. Abbildung 2) Geldbeträge zu verteilen. Wer diese beiden anderen Personen waren, wurde nicht gesagt. Mitgeteilt wurde lediglich, daß die eine dieser Personen derselben Gruppe angehörte wie die jeweilige Versuchsperson und die andere der alternativen Gruppe. Außerdem wurde ausgeschlossen, daß man sich selbst Geldgewinne zuteilen konnte.

Die Ergebnisse zeigen durchgängig, daß unter den geschilderten Bedingungen das Mitglieder der eigenen »Gruppe« systematisch gegenüber dem Mitglied der anderen Gruppe bevorzugt wird. Vor die Alternative gestellt, entweder dem Mitglied der eigenen Gruppe einen maximalen Gewinn und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen nur unwesentlich kleiner Gewinn zuzuweisen oder den Gewinn für das Mitglied der eigenen Gruppe zu reduzieren und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen deutlich niedrigeren Gewinn zukommen zu lassen, wird in der Regel die zweite Alternative bevorzugt. Die Befunde der Minimal-Group-Untersuchungen konnten in verschiedenen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern mit unterschiedlichen Versuchspersonen repliziert werden, vergleichbare Ergebnisse zeigen sich außerdem, wenn man statt einer Geldverteilungsaufgabe gegenseitige Beurteilungen von Gruppenmitgliedern erhebt (Wagner, 1994).

Die Befunde der Minimal-Group Untersuchungen machen deutlich:

  • Schon sehr künstliche und auch für die Beteiligten erkennbar artifizielle Klassifikationen von Menschen reichen aus, um bei den Beteiligten ein Bewußtsein von Gruppen und Gruppenmitgliedschaften zu schaffen.
  • Gruppen entstehen aus der Abgrenzung von anderen Gruppen.
  • Intergruppensituationen sind konfliktträchtig. Die bloße Aufteilung in zwei Gruppen ist hinreichend, um eine relative Abwertung der fremden und eine Aufwertung der eigenen Gruppe zu evozieren.

Erklärt werden die Ergebnisse der Minimal-Group-Untersuchungen mit der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979). Die psychologischen Grundannahmen dieser Theorie lassen sich zu drei Sätzen zusammenfassen (Wagner & Zick, 1990).

  • Menschen definieren einen Teil ihrer Identität, ihre soziale Identität, über die Mitgliedschaft in Gruppen.
  • Menschen streben nach einer positiven Identität.
  • Eine positive soziale Identität ergibt sich aus einem positiven Vergleich zwischen einer relevanten Ingroup mit einer oder mehreren Vergleichsgruppen.

Gruppenzugehörigkeiten haben nach dieser Theorie also eine identitätsstiftende Funktion. Um eine positive Identität aus ihrer Gruppenzugehörigkeit ableiten zu können, sind die Gruppenmitglieder bemüht, die eigene Gruppe positiv von wichtigen fremden Gruppen abzugrenzen. Zwei Voraussetzungen für diesen Prozeß müssen gegeben sein: Zum einen müssen die Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizieren. Erst wenn einer Person ihre nationale Gruppenzugehörigkeit relevant ist, wird sie auf Mitglieder fremder nationaler Gruppen mit Intergruppendiskriminierung reagieren. Zum zweiten muß eine Gruppe in einem Interaktionskontext für die Gruppenmitglieder relevant, salient sein: In einer Diskussion um ethnische Konflikte werden ethnische Gruppenmitgliedschaften salient und weniger die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Fußball-Fan-Gruppe.

Die bislang beschriebenen Mechanismen machen deutlich: Die Psychologie kann erklären, warum Gruppenmitglieder feindseliges Intergruppenverhalten zeigen. Sie kann aber nicht verständlich machen, warum es gerade nationale, ethnische, fußballrelevante, das Geschlecht oder beliebige andere Kriterien sind, die zur Gruppeneinteilung herangezogen werden. Die Definition von Gruppen und Gruppengrenzen und die inhaltliche Ausgestaltung der gegenseitigen Gruppenstereotype ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Die Antwort auf die Frage, wer eine Minderheit bildet, ist in politischen und sozialen Abläufen zu suchen. Die Entwicklung der sogenannten Asylproblematik macht dies deutlich. Das Thema Asyl und damit die Outgroup der Asylsuchenden wurde durch eine zunehmend schärfere politische Debatte seit Beginn der achtziger Jahre geschaffen, bekam gesellschaftliche Relevanz. Nicht nur die Asylsuchenden wurde so als wichtige Minderheit konstruiert, gleichzeitig wurden in der politischen Debatte auch die Stereotypen über diese neue Fremdgruppe mitgeliefert, nämlich daß sie „uns“ die Arbeitsplätze, Wohnungen, Frauen und Kindergartenplätze wegnehmen würden. Solche Stereotypen werden deshalb leicht akzeptiert, weil sie das Bedürfnis zur positiven Absetzung der eigenen Gruppe, hier der Deutschen, gegen eine fremde Gruppe, die Asylsuchenden, so hervorragend bedienen. Das Zusammenspiel der beschriebenen politischen und psychischen Einflüsse macht schließlich die Serie gewalttätiger Ausschreitungen zunächst gegen Asylsuchende, später auch gegen Arbeitsmigranten, erklärbar.

Die Bedeutung von Intergruppenkonflikten

Die in den Minimal-Group-Untersuchungen beobachtbare Neigung zur Abwertung von Mitgliedern fremder Gruppen tritt unter bestimmten Bedingungen verstärkt auf. Ein besonders wichtiger Umstand ist das Vorliegen von Konflikten zwischen Gruppen. Auch dieses Phänomen läßt sich anhand einer berühmten Versuchsserie verdeutlichen, die Muzafer Sherif und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits in den vierziger und fünfziger Jahren in den USA durchgeführt haben (vgl. z.B. Sherif & Sherif, 1969). Sherif hat mehrfach „normale protestantische Mittelschichtsjungen von durchschnittlicher Intelligenz“ zu Zeltlagern auf dem Lande eingeladen. Die etwa 11jährigen Jungen kannten sich in der Regel vorher nicht. Die Jungen wurden bei ihrer Ankunft im Zeltlager zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt und ihrer Gruppenzugehörigkeit entsprechend getrennt untergebracht. Für etwa eine Woche ging jede der beiden Gruppen ihren Aktivitäten nach. Es gab zwar schwache Hinweise auf gegenseitige Abgrenzungen zwischen den beiden Gruppen, die nach den Minimal-Group-Untersuchungen zu erwarten sind, aber keine ausgeprägten Feindschaften. Das änderte sich drastisch im zweiten Teil der Untersuchungen: In dieser Phase wurden die Gruppen nämlich zu arrangierten Wettkämpfen gegeneinander aufgefordert. Dazu gehörten alle Formen von Mannschaftssportarten, die nur einen Gewinner zulassen.

Den Mitgliedern der Gruppe, die die mehrtägigen Wettkämpfe erfolgreich abschloß, wurden materielle Gewinne versprochen.

Die Wettkampfsituation hatte eine dramatische Verschlechterung des Klimas zwischen den Gruppen, bis hin zur physischen Auseinandersetzung, zur Folge, gleichzeitig stieg die Solidarität innerhalb der Gruppen. An diesen Untersuchungsergebnisse wird deutlich, wie Auseinandersetzungen um beschränkte materielle Ressourcen zu Intergruppenkonflikten führen können: Wenn die Deutschen annehmen, Einwanderer konkurrierten mit ihnen um die wenigen freien Arbeitsplätze, sollte das zur Ausländerfeindlichkeit beitragen. Wichtig ist dabei, daß die Gruppenmitglieder nur glauben müssen, sie stünden mit den Mitgliedern der fremden Gruppe in einem Konflikt um materielle Güter. Der beschriebene Mechanismus ist somit politisch einsetzbar: Diejenigen, die die öffentliche Meinung kontrollieren, können über die Suggestion von materiellen Konflikten zwischen Gruppen fremde Gruppen und deren gesellschaftlichen Ausschluß kreieren, vielleicht, um auf diese Weise von anderen gesellschaftlichen Problemfeldern abzulenken.

Abbau von Vorurteilen

Sherif hat in einigen seiner Untersuchungen auch nach Möglichkeiten gesucht, Feindseligkeiten zwischen Gruppen abzubauen. Die erfolgreichste Strategie war, die Gruppen mit einem Problem zu konfrontieren, dessen Lösung beide Gruppen anstrebten und das beide Gruppen nur gemeinsam lösen können. Beispielsweise wurde der LKW, der für die Versorgung des Ferienlagers eingesetzt wurde, so präpariert, daß er nicht ansprang. Die Mitglieder einer der beiden Gruppen waren zu schwach, den LKW anzuziehen, nur durch gemeinsamen Einsatz beider Gruppen war das gemeinsame Ziel erreichbar. Die Verfolgung gemeinsamer übergeordneter Ziele kann auch darin bestehen, einen gemeinsamen äußeren Feind abzuwehren. In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, daß die gemeinsame Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind zur Reduktion von Konflikten zwischen vormals verfeindeten Gruppen beiträgt – zumindest für die Zeit der äußeren Bedrohung.

Aus psychologischer Sicht bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten, um individuelle Ressentiments gegen Minderheiten abzubauen, in der Terminologie der Sozialpsychologie, um gegen individuelle Vorurteile gegen Mitglieder fremder Gruppen anzugehen. Die Maßnahmen sollen Ignoranz, Angst und Ablehnung zwischen den Gruppen reduzieren. Je nach theoretischer und politischer Position soll damit eines von zwei Zielen erreicht werden: Entweder die Auflösung von Gruppengrenzen und die Umgestaltung von intergruppalen zu interpersonalen Begegnungen, d. h. Ausländer und Deutsche sollten als Individuen und nicht länger als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppen interagieren. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, daß solche Individualisierungen von Intergruppenbeziehungen zwar die konkrete Interaktion zwischen je zwei Individuen verbessern können, nicht jedoch die ablehnenden Haltungen zur jeweils anderen Gruppe insgesamt (Hewstone & Brown, 1986). Außerdem stoßen solche Strategien häufig auf den Widerstand von Minderheiten, z.B. von Migranten, die ihre Herkunft nicht verleugnen wollen. Oder das Handlungsziel kann darin bestehen, den Gruppenmitgliedern Möglichkeiten aufzuzeigen, mit den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe umzugehen, ohne daß die Interaktionspartner dazu ihre Herkunft, d.h. ihre Gruppenmitgliedschaft, völlig in den Hintergrund stellen müssen. Dies entspricht der Idee einer multikulturellen Gesellschaft (van Dick et al., im Druck).

Die Verfahren lassen sich weiterhin danach gruppieren, ob sie primär auf Interaktionen oder Informationen aufbauen. Interaktionen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen wirken besonders dann konfliktreduzierend, wenn sie unmittelbare persönliche Begegnungen realisieren, die Gruppenmitglieder zumindest in der Interaktionssituation statusgleich sind und wenn sie gemeinsam ein oder mehrere übergeordnete Ziele verfolgen (vgl. Sherif & Sherif, 1969). Kooperative Intergruppeninteraktionen zum Abbau von gegenseitigen Vorurteilen lassen sich beispielsweise in Form kooperativen Unterrichts einsetzen. Dazu werden Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Gruppen zu gemischten Kleingruppen zusammengebracht. Die Einzelmitglieder einer solchen Kleingruppe verfügen über unterschiedliche Informationen, beispielsweise Versatzstücke einer Biographie; das Unterrichtsziel kann in der Kleingruppe nur erreicht werden, wenn alle Mitglieder dieser Kleingruppe ihren spezifischen Beitrag leisten. Solche Programme sind in den USA und in Israel sehr erfolgreich eingesetzt worden, auch wir konnten in dritten und vierten Klassen in NRW die Wirksamkeit solcher Maßnahmen mit ethnisch gemischten Gruppen nachweisen (vgl. Wagner & Avci, 1993).

Im Zusammenhang mit den Arbeiten von Sherif wurde deutlich, daß die Auseinandersetzung um begrenzte Ressourcen, die Feindseligkeiten zwischen Gruppen häufig zugrunde liegt, oft nur auf Hörensagen, vor allem aber auf mediale Vermittlung zurückgeht. Auch diejenigen, die voller Überzeugung behaupten, die Türken nähmen „uns“ die Arbeitsplätze weg, haben den konkreten Konfliktfall kaum persönlich erlebt. Solche Fehlinformationen sind durch Informationen auch wieder richtigzustellen. Zwei Strategien lassen sich hierbei unterschieden: Die Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen „uns“ und den Fremden dort, wo solche Gemeinsamkeiten existieren. Dies ist oft genug der Fall: Die vermeintliche Frauenfeindlichkeit des Islam läßt sich auch in christlichen Religionen finden. Zuweil sind Unterschiede zwischen Gruppen aber real existent, ihre Nichtbeachtung ist weitgehend unmöglich. In solchen Fällen gilt es, die historischen Ursachen der Unterschiede aufzudecken und das Verhalten der Anderen damit verständlich und weniger bedrohlich zu machen.

Literatur

Billig, M. & Tajfel,H. (1973). Social categorization and similarity in intergroup behaviour. European Journal of Social Psychology, 3, S. 27-52.

Doise, W. (1978). Groups and individuals. Cambridge: Cambridge University Press.

Dick van, R., Wagner, U., Adams, C., Petzel, T. (in Druck). Einstellungen zur Akkulturation: Erste Evaluation eines Fragebogens an sechs deutschen Stichproben. Gruppendynamik.

Hewstone, M. & Brown,R. (1986). Contact is not enough: An intergroup perspective on the „contact hypothesis“. In M. Hewstone & R. Brown (Hg.), Contact and conflict in intergroup encounters, S. 1-44. Oxford: Blackwell.

Lilli, W. & Lehner, F. (1971). Stereotype Wahrnehmung: Eine Weiterentwicklung der Theorie Tajfels. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 2, S. 285-294.

Sherif, M. & Sherif, C. W. (1969). Social psychology. New York: Harper & Row.

Tajfel, H., Billig, M. G., Bundy, R. P. & Flament, C. (1971). Social categorization and intergroup behavior. European Journal of Social Psychology, 1, S. 149-178.

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In W. G. Austin & S. Worchel (Hg.), The social psychology of intergroup relations, S. 33-47. Monterey, Cal.: Brooks/Cole.

Tajfel, H. & Wilkes, A. L. (1964). Salience of attributes and commitment to extreme judgements in the perception of people. British Journal of Social and Clinical Psychology, 3, S. 40-49.

Turner, J. C., Hogg, M. A., Oakes, P. J., Reicher, S. D. & Wetherell, M. S. (1987). Rediscovering the social group. Oxford: Blackwell.

Wagner, U. (1985). Sozialpsychologie der Intergruppenbeziehungen – Überblick über einen Forschungsbereich. Gruppendynamik, 16, S. 5-17.

Wagner, U. (1991). Zugehörigkeit zu Gruppen und Gruppenprozessen als Einflußgrößen für Attraktion und Zuneigung. In M. Amelang, H. J. Ahrens & H. W. Bierhoff (Hg.), Attraktion und Liebe, Brennpunkte der Persönlichkeitsforschung, Bd. 3, S. 105-123. Göttingen: Hogrefe.

Wagner, U. (1994). Sozialpsychologie der Intergruppenbeziehungen. Göttingen: Hogrefe.

Wagner, U. & Avci, M. (1993). Möglichkeiten der Reduktion von ethnischen Vorurteilen und ausländerfeindlichem Verhalten. In A. Thomas (Hg.), Psychologie und multikulturelle Gesellschaft.

Wagner, U. & Zick, A. (1990). Psychologie der Intergruppenbeziehungen: Der „Social Identiy Approach“. Gruppendynamik, 21, S. 319-330.

Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Phillips-Universität Marburg

Editorial

Editorial

von Albert Fuchs

Rassismus und Totalitarismus seien keine unabwendbaren Naturkatastrophen; sie seien verschuldet und ihre Anfänge lägen im kleinen. Das war der Tagespresse zufolge der Kern der Botschaft des deutschen Außenministers zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag im Land der Täter. Wörtlich erklärte Klaus Kinkel 52 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz: „Wir Deutche tragen in besonderer Weise Verantwortung dafür, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.“

All das ist nun gewiß nicht neu, aber deswegen auch nicht überflüssig und noch weniger falsch. Im Gegenteil! Dennoch stört mich einiges an diesen wohlklingenden Worten. Zunächst: Was meint Kinkel eigentlich, wenn er uns Deutsche in besonderer Weise für die Erinnerung an den Holocaust, an diese bis dahin unerhörte Behandlung von Minderheiten durch die Mehrheit eines Staatsvolks, in die Pflicht genommen sieht? Geht es um eine Erinnerung um der Erinnerung willen? Oder geht es darum, daß wir uns aufgrund dieser Erinnerung in besonderer Weise verantwortlich dafür sehen sollten, daß sich das Erinnerte nicht wiederholt? Das ist m.E. ein höchst bedeutsamer Unterschied. Denn so sehr ein gesteigertes Verantwortungsbewußtsein in diesem zweiten Sinn ein besonderes Verantwortungsbewußtsein für die Erinnerung an den Holocaust voraussetzen mag, so wenig ist es damit gegeben. Schließlich pflegen ja auch Alt- und Neu-Nazis die Erinnerung!

Doch kann man nicht darauf vertrauen, daß ein Mitglied der Bundesregierung die »politisch korrekte« Erinnerung fördern will und sich für ein geschärftes Verantwortungsbewußtsein in einem integralen Sinn einsetzt? Ich denke: das erste vielleicht, das zweite keineswegs! Damit bin ich bei meinem tieferen Unbehagen gegenüber wohlklingenden Worten »von oben« zum Thema Holocaust u.ä.: Selbst wenn Kinkel – oder wer auch immer seitens der Regierenden sich zu diesem Thema äußert – ein integrales Verständnis von der politisch-moralischen Verantwortung Deutschlands und der Deutschen haben und vertreten sollte, er oder sie ist unglaubwürdig, er oder sie wird durch die herrschende minoritäts- und ausländerpolitische Praxis, die ja doch von ihm oder ihr mit zu verantworten ist, fortlaufend Lügen gestraft.

Den neuesten Coup diesbezüglich landete Innenminister Kanther knapp 14 Tage vor dem Holocaust-Gedenktag: Seit dem 15. Januar dürfen Türken, Marokkaner, Tunesier und Ex-Jugoslawen unter 16 Jahren, anders als bisher, nur noch mit einem Visum in die Bundesrepublik einreisen, und die hier geborenen und/oder aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen aus diesen ehemaligen Anwerberstaaten benötigen nun eine Aufenthaltsgenehmigung. Der zweite Teil der neuen Verordnung betrifft rund 600.000 in der Bundesrepublik geborene und lebende Kinder und Jugendliche – 600.000 von einem Tag auf den anderen strukturell ausgegrenzt!

Kanthers Diskriminationsakte ist jedoch lediglich ein Beispiel von vielen für die Wiederbelebung eines »amtlichen Rassismus« in Deutschland. Nur an ein zweites sei noch erinnert: In namentlicher Abstimmung votierte im November des vergangenen Jahres die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für eine von der Regierungskoalition vorgeschlagene Verschärfung des Ausländerrechts; u.a. schreibt diese Neuregelung zwingend vor, einen Ausländer – auch einen als asylberechtigt anerkannten politisch verfolgten – abzuschieben, wenn er zu mindestens drei Jahren Haft verurteilt wird. Ausländer sollen in einem solchen Fall also doppelt bestraft werden; für sie gilt die grundgesetzlich garantierte Gleichheit vor dem Gesetz nur noch auf dem Papier (falls der Bundesrat dieser Novelle zustimmt).

Rechnet man zu den Vorgängen dieser Art die gravierenden minoritäts- und ausländerpoltischen Versäumnisse und Unterlassungen der Regierungskoalition hinzu – vor allem den Verzicht auf eine Reform des völkisch gefärbten deutschen Staatsbürgerrechts und den hinhaltenden Widerstand gegen eine Zuwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung –, wird vollends deutlich, daß der diagnostizierte amtliche Rassismus den »Beginn im kleinen« längst hinter sich gelassen hat; er ist längst nicht mehr (nur) Sache der Denk- und Handlungsweise einzelner Individuen – auch nicht einzelner Regierungsmitglieder –, sondern bereits fest in die Organisation des Miteinanders von Mehrheit und Minderheit(en) hierzulande verwoben.

Probleme im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit(en) sind jedoch keine deutsche Spezialität. Auf die Wiederkehr der deutschen Gespenster war hier näher einzugehen, weil es im vorliegenden Heft um diese Gespenster eben nur am Rande oder einschlußweise geht. Angst vor »dem Fremden«, Vorurteile gegenüber »den anderen«, Diskriminierung von Minoritäten, Ausländerfeindlichkeit und die Verwebung dieser Gefühls-, Denk- und Handlungsweisen in die Organisation der Gesellschaft scheinen geradezu zur »condition humaine« zu gehören. Die hier zum Schwerpunktthema »Mehrheiten und Minderheiten« veröffentlichten Arbeiten sind zwar auf die Analyse konkreter Zustände und Vorgänge angewiesen; es geht jedoch durchweg um Aufklärung über Erscheinungsweisen, Entstehungsbedingungen, Funktionen und Bearbeitungsmöglichkeiten dieser Eigenart des menschlichen Soziallebens als anscheinend ubiquitäre Eigenart.

Ihr Albert Fuchs

Mehrheiten versus Minderheiten

Mehrheiten versus Minderheiten

Zur Kritik erklärungsbedürftiger Konzepte

von Christian P. Scherrer

Thema dieses Artikels sind jene Akteure, die bis heute, wie so oft in der Geschichte der Moderne, aus dem System der Nationalstaaten »herausfallen«, mit schweren Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Rede ist von nicht-dominanten Gruppen im Staat. Jeder Staat hat sie, die ethnischen Minderheiten. Im 20. Jahrhundert wurden Minderheitenfragen in Europa wiederholt zum Anlaß genommen, Kriege zu führen. Es handelt sich also wahrlich nicht um ein zweitrangiges Phänomen. C.<0> <>P. Scherrer untersucht den Inhalt von Begrifflichkeiten, befaßt sich mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen, erarbeitet Merkmale zur Definition ethnischer Gemeinschaften und kommt zu der Schlußfolgerung, daß das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung kein Recht auf Sezession beinhaltet.

Wer die Frage nach dem Inhalt von Begriffen wie Mehrheit und Minderheit stellt, sticht in ein Wespennest von Problemen. Beide Begriffe sind einerseits an Form und Größe des jeweiligen Staates gebunden und somit von jeder Veränderung dieser Parameter abhängig. Ein anschauliches Beispiel: Vor unseren Augen zerfiel die Sowjetunion in fünfzehn Nachfolgestaaten, wodurch Hunderte von neuen Minderheiten produziert wurden. Andererseits kommt in den beiden Begriffen eine tiefer verwurzelte Ebene zum Ausdruck, in der Frage nach der ethnisch-kulturellen Basis der Identitäten von Minderheiten und Mehrheiten, von Ethnien und Nationen. Eine weitgehend unbedachte Voraussetzung der Idee des Nationalstaates war die Annahme einer ethnisch-homogenen Basis der Nation, d.h. die Behauptung der Identität von Ethnie und Nation.

Ethien, Völker oder Staatsnationen erscheinen als Mehrheiten oder Minderheiten quasi wertneutral »im demographischen Kleid«. Staaten wollen brave Steuerzahler und folgsame einheitliche »Bürger« (gestern noch Untertanen) haben, die sich in erster Linie als Teil des staatlichen Gemeinwesens definieren. Abweichungen von der Norm sind unerwünscht. Seitens der Staatsklassen wurde über Jahrzehnte der Versuch gemacht, Anderes gleichzumachen und Fremdes zu assimilieren. Anpassung an den jeweiligen »Nationalcharakter« war gefordert. Majoritäre Ethnizität erhielt die Weihe des Nationalen. Minoritäre Ethnizität bzw. das Ethnische schlechthin wurde im politischen Diskurs vorwiegend negativ besetzt, mit Konnotationen wie primitiv, rückständig oder irrational. Das Ethnische und Fremdkulturelle sollte »absterben«. Entgegen den Prognosen der Politik- und Sozialwissenschaften über die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Ethnizität in den letzten Jahrzehnten keineswegs an Bedeutung verloren.

Ethnizität und Identität

Das Gegenteil trat ein: Die Bedeutung und Politisierung des Ethnisch-Kulturellen hat sich in Gewaltkonflikten, zivilen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Aus- und Abgrenzungen bis hin zu Statusfragen verstärkt. Kulturelle Besonderheiten wurden zu identitätsstiftenden Emblemen von Minderheiten. Ethnizität ist in diesem Beitrag die Bezeichnung für eine Vielzahl von Mobilisierungsformen, die letztlich auf die autonome Existenz spezifisch ethnischer Formen der Vergesellschaftung Bezug nehmen und diese politisieren. Kämpfe sozialer Klassen und ethnischer Gruppen lassen sich dabei nicht sauber trennen; bisweilen entspricht die Klassengrenze der ethnischen, oft überschneiden sich die beiden.

Die Bildung ethnisch-kultureller Identität kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern ist das nicht zwangsläufige oder automatische Resultat von Interaktionsprozessen innerhalb einer ethnisch-kulturellen Gruppe, zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und zwischen Ethnie(en) und Staat(en). Von diesen drei Konfliktbereichen wird oft nur der zweite interethnische Bereich beachtet, meist in der Form von Minderheitenkonflikten im Norden und angeblich tribalistischen Konflikten im Süden. Gerade das für den Ethno-Nationalismus signifikante konfliktuelle Verhältnis zwischen Ethnien und Staat(en) wird hingegen vernachlässigt. Ethnische Identität kann z.B. als das Bewußtsein kultureller Eigenständigkeit oder Andersartigkeit interpretiert werden. Dieses kollektive Bewußtsein ist nicht der naturwüchsige Reflex objektiver kultureller Kennzeichen und auch nicht eine Sache »freier Wahl«; es steht aber immer in einem konfliktuellen Zusammenhang.

Die im Zusammenhang mit ethno-nationalen Konflikten oft gebrauchten Begriffe Minderheit vs. Mehrheit sind erklärungsbedürftig. Charakteristika, die eine nationale Minderheit als ethnische Gruppe oder ein indigenes Volk zu einer Nation ohne eigenen Staat machen, bleiben aus machtpolitischen Gründen umstritten. Festlegungen gewinnen heute an politischer Relevanz. Das Verhältnis von nationalen Minderheiten und Staaten kann nicht mehr ausschließlich als innere Angelegenheit deklariert werden, sondern ist vermehrt Teil der internationalen Beziehungen.

Zum Begriff der nationalen Minderheit

Der Begriff der Minderheit und die Realität, in der Minderheiten geschaffen werden und leben müssen, weist eine Vielzahl von Facetten auf, die oft kaum berücksichtigt werden. Diese Bezeichnung ist relativ jung und erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. Minderheit ersetzte den älteren Begriff der Nationalität und betont einseitig die Beziehung zum Staat. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint, daß der Begriff der Minderheit grundsätzlich askriptiver Natur ist:

  • In der Regel wird staatlicherseits definiert, was eine Minderheit ausmacht und auf welchen Personenkreis der Begriff anwendbar ist. Der Staatsapparat ist dominiert von oder im Besitz einer angebbaren ethnischen Gruppe, die sich selbst als Mehrheit definiert, was bisweilen demographisch gesehen nicht zutrifft. (So sind die Malaien in Malaysia keine demographische, sondern eine politische Mehrheit; dasselbe gilt für die Russen in der ehemaligen UdSSR sowie für die Abessinier – Amharen, Tigrai – in Äthiopien.) Der Begriff der Mehrheit ist politisch-territorialer Natur; für sein »Gegenstück« gilt dies ebenso.
  • Minderheiten sind in aller Regel die Mehrheit in den von ihnen bewohnten oder beanspruchten Gebieten. Der Staat versucht oft, solche sog. Minderheiten in ihren Gebieten durch Ansiedlung von Angehörigen des Staatsvolkes zu majorisieren. (Zu größeren Umsiedlungsaktionen kam es in Indonesien, in Äthiopien unter Mengistu und in Bangla Desh).
  • Oft gibt es kein demographisch mehrheitsfähiges Staatsvolk. Nationale Zensen und demographische Statistiken stellen (für alle Akteure) nur ein weiteres Kampfgebiet dar. Statistiken werden üblicherweise nach politischen Vorgaben ausgerichtet.
  • In Extremfällen ist die als Minderheit apostrophierte ethnische Gruppe nur machtmäßig gesehen eine politische Minderheit, stellt aber die demographische Mehrheit (z. B. die Oromo in Äthiopien oder die Maya-Völker in Guatemala. Alle Minderheiten Burmas stellen zusammengenommen die demographische Mehrheit).

Der Begriff der Minderheit ist auch aus einer Serie von »internen« Gründen erklärungsbedürftig. Viele Nationalitäten, welche sich in ihren historischen Rechten von den (neuen) Staaten eingeschränkt sehen, bedrängt, bedroht oder verfolgt werden, verstehen sich selbst nicht als Minderheit. Sie teilen die sozialpsychologischen Charakteristika von Minderheiten nicht; einige pflegen im Gegenteil einen selbstbewußten Nationalismus:

  • Nationalen Minderheiten, die von der dominanten ethno-nationalen Gruppe meist als untergeordnete Segmente komplexer(er) Staatsgesellschaften angesehen werden, erhalten spezielle phänotypische und kulturelle »Eigenheiten« zugeschrieben. Solche »Merkmale« werden von der so bezeichneten Gruppe i.d.R. als befremdlich oder kränkend empfunden. Angehörige solcher Minderheiten fühlen sich von den dominanten Segmenten der Staatsgesellschaften verachtet (z.B. Elemente des Gegensatzes Indios/Latinos in Lateinamerika), mißbraucht und politisch benutzt.
  • Mitgliedschaft in ethnischen Minderheiten beruht gleichwohl auf Deszendenz (reale oder konstruierte Abstammung), deren kohäsive Kräfte nachfolgende Generationen zusammenhalten (z.B. bei den Indianern Nordamerikas oder den Roma in Europa), selbst dann, wenn spezifische phänotypische oder kulturelle Eigenheiten für Außenstehende nicht bemerkbar sind oder sich objektiv verlieren (wie z.B. bei den Nachgeborenen von Arbeitsmigranten in den nördlichen Metropolen).
  • Minderheiten teilen mit vielen traditionalen und indigenen Gesellschaften die Tendenz oder Verpflichtung auf Endogamie, haben wenig oder keinen politischen Einfluß und werden marginalisiert (z.B. als billige Arbeitskräfte in bestimmten Sektoren).
  • Traditional oder tribal strukturierte minoritäre Gesellschaften unterscheiden und reproduzieren sich aufgrund ihrer Nichtintegration (oder Teilintegration) in die Marktökonomien; sie entwickeln eine Vielfalt von autonomen, selbstversorgenden Produktionsweisen (am deutlichsten bei Nomaden- oder Wildbeutergesellschaften).

Das Begriffspaar der nationalen Minderheit hat sich im Diskurs zur Minderheitenfrage und in der zwischenstaatlichen Politik in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt. Einerseits ist dies eine Folge der vermehrten Aufmerksamkeit, die sich in Europa nach dem Kalten Krieg auf die konfliktive Minderheitenfrage richtete, wobei die Minderheitenfrage immer eng mit der Frage der Menschenrechte verbunden ist. Andererseits bedeutet die plötzliche Konjunktur für diese Begriffskombination, daß eine Art Kompromißformel gefunden wurde, welche den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost- und Westeuropa überbrücken bzw. vereinheitlichen sollte. Die OSZE richtete ein Hochkommissariat für Nationale Minderheiten ein (vgl. Scherrer, 1996, S. 218-257).

Das Ethnische an nationalen Minderheiten

Der grundlegende Begriff des Ethnischen ist nicht klar definiert und wird in der Ethnologie in gewissen Grenzen kontrovers aufgefaßt. Die Vielfalt der von den verschiedenen ethnologischen Schulen angebotenen Zuordnungen ist groß; eine Kombination der eingängigen Verortungen ist aber aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und Standards kaum möglich. Die am häufigsten angeführten Nennungen sind gemeinsame Abstammung, Rasse, gleiche Kultur, Religion, Klasse und Sprache(vgl. auch Zimmermann, 1992). Davon sind die drei Nennungen Rasse, Klasse und Religion nicht sinnvoll:

Die ethnische Form der Vergesellschaftung ist von derjenigen der sozialen Klassen zu unterscheiden. Deren Bereiche und Grenzen sind zwar oft deckungsgleich (Klassentrennung entlang ethnischer Linien), können sich in komplexeren Gesellschaften aber auch überschneiden oder – wie in egalitären Gesellschaften – ausschließen. Rasse oder Religion als Kriterien sind gänzlich abzulehnen: Rasse ist als Kategorie schwer belastet; europäische Rassentheorien waren integraler Teil kolonialer Rechtfertigungsideologien. Mit Religion ist ein Teilbereich der ideologischen Superstruktur gemeint; im Rahmen der Kolonialexpansion bedeutet die Durchsetzung einer bestimmten, dort fremden Religion in den meisten Fällen eine Implikation bzw. ein Resultat der kolonialen Unterwerfung.

Wenn von Attributen einer ethnischen Gemeinschaft die Rede ist, denken die meisten Menschen zuerst an Religion. Dies scheint erstaunlich angesichts des empirischen Tatbestandes, wonach importierte (Kolonial-) Religionen und synkretistische Varianten bei den weltweit zwischen 2500 und 6500 Ethnien weit häufiger und/oder dominanter sind als indigene Religionen. Religion ist für Huntington das primäre Kriterium zur Definition dessen, was er unter Zivilisation versteht (Huntington, 1996). Religion kann in der Tat kein ethnisches Merkmal sein, sondern ist – bis zur Moderne – eher ein Merkmal des Staates bzw. seiner Formation innerhalb eines zivilisatorischen Rahmens.

Welche Attribute definieren eine ethnische Gemeinschaft?

Einer unter mehreren möglichen Zugängen zum Thema berücksichtigt Attribute, die auf Bündeln von »Besonderheiten« einer bestimmten Gruppe basieren, welche als »ethnische Merkmale« verstanden werden. Solche Attribute sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant. Oft werden sie erst in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Die Attribute einer ethnischen Gemeinschaft stehen im Rahmen der Ethnologie als Disziplin nicht fest. Es gibt jedoch einen tendenziellen Konsens zumindest bei wenigen Merkmalen. Aus meiner Sicht betreffen diese Merkmale minimal:

1. eine historisch gewachsene oder wiederentdeckte Gemeinschaft von Menschen, welche sich größtenteils selbst reproduziert,

2. einen eigenen Namen, der oft nichts anderes als »Mensch« bedeutet,

3. eine spezifische, andersartige Kultur, insbesondere eine eigene Sprache, bestimmte Vorstellungen vom Verhältnis zur Natur und zur Welt (Kosmologie),

4. ein kollektives (ethnisches) Gedächtnis oder geschichtliche Erinnerung, einschließlich seiner Mythen (Gründermythen gemeinsamer Abstammung), und

5. Solidarität unter den Mitgliedern, was ein Wir-Gefühl vermittelt.

Diese Attribute stellen keine feststehende Check-Liste dar, wohl aber eine Annäherung an das Prinzip des Ethnisch-Kulturellen, dessen Elemente noch hinterfragt, im konkreten Fall spezifiziert und gegen jene der Nation und Zivilisation abgegrenzt werden sollen.1

Hypothesen und theoretische Vorentscheidungen

Ethnische Zugehörigkeit wird aus der Sicht der Betroffenen (emisch) im Regelfall mitnichten als ideologisch produziert aufgefaßt. Sie ist aber andererseits nicht ein quasi organischer Prozeß, vermittelt durch die spezifische Sozialisation als Angehörige(r) einer distinkten sozialen Gruppe. Umgekehrt zur Hypothese der ideologischen Konstruktion oder gar der »Erfindung«2 sprechen einige Autoren von einer Zugehörigkeit aufgrund von traditionaler ethnischer Solidarität, die sich auf Gruppen mit langer geschichtlicher Kontinuität, hoher Kohärenz und sozialer Kohäsion wie z.B. Clans und andere tribale Einheiten bezieht, und welche eine fast naturwüchsige Form ethnischer Solidarität darstelle.

Die Hypothesen zum Thema liegen also ungewöhnlich weit auseinander. Vorerst ist es heuristisch unabdingbar, das Referenzsystem anzugeben und die theoretischen Axiome zu bezeichnen. Aussagen über Gruppenzugehörigkeit und persönliche Identität können je nach den Referenzbedingungen und dem geschichtlichen Kontext unterschiedlich ausfallen. Die ethnische und soziokulturelle Identität eines Individuums variiert:

  • je nach Standort bzw. Standpunkt des Beobachters;
  • Fremdzuordnung und Eigenidentifikation können u.U. sehr verschieden sein;
  • Konfliktsituationen können radikale Veränderungen bewirken.

In der Situation der Bedrohung können einzelne Elemente persönlicher und kollektiver Identität überhöht werden bzw. an Einfluß verlieren. Dabei spielt sowohl die Instrumentalisierung von Mechanismen der Abgrenzung durch die Politik (im Sinne einer Ausgrenzung) eine Rolle, als auch der Rückgriff auf – im Rahmen friedlicher Koexistenz – gesellschaftlich unbewußte Elemente von Gruppenidentität. Identität konstituiert sich über Abgrenzungsprozesse, die nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfinden und deren Modalitäten nicht frei und eigenständig bestimmbar sind. Abstrakte Verschiedenheit von Anderen ist unproblematisch; die Erfahrung konkreter Bedrohung durch Andere bzw. die Konstruktion eines Überlegenheitsgefühls gegenüber Anderen sind dagegen Resultate von Ausgrenzungs- und Polarisationsprozessen.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Aus emischer Sicht ist eine Form gemeinsamer Abstammung zentral. Daß es sich nicht um faktische Abstammung handeln muß, sondern i.d.R. um eine putativ-mythische oder »fiktive«, wird oft übersehen. Weitere zentrale Elemente, welche über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bestimmen, wie die Reproduktionsfähigkeit als Gruppe, gemeinsame kulturelle Konfigurationen und ein sogenanntes Wir-Gefühl, welches Gruppensolidarität impliziert, mögen als zu allgemein gesehen werden, um im Endeffekt präzise empirische Befunde über die ethnische Dimension politischer Vorgänge in einer Konfliktsituation zu ermöglichen. Die nachhaltige Beschädigung zentraler Elemente von außen (oder innen) ruft aber in jedem Einzelfall bestimmte Formen des Widerstandes hervor, die vom Rückzug bis zum bewaffneten Aufstand reichen.

Die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen – und damit die Abgrenzbarkeit der Ethnien – ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, trotzdem scheinen viele Ethnologen und Soziologen solchermaßen definierte Völker als eine Art »Inseln für sich« zu betrachten, die zwecks Beschreibung isoliert, willkürlich aus ihrem sozialen Zusammenhang und ihrem inter-ethnischen Kommunikationsraum herausgenommen werden. Das Überbetonen einzelner Elemente, wie die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kultur oder die soziale Dimension, welche ethnische Gruppen als eine bestimmte Form sozialer Organisation sieht, erscheint problematisch. Nach Barth ist das als zentral angesehene Attribut einer gemeinsamen Kultur eher Implikation.3 Kultur wird oft in fetischisierter Form zur Postulierung einer abstrakten Einheit politisch von oben verordnet und zwecks »nationaler Eindeutigkeit« mißbraucht.4

Eigene Sicht und Fremdidentifikation

Relevant ist die Frage nach der Art und Form der kollektiven und individuellen Wahrnehmung. Von Relevanz sind dabei die Unterscheidungen in Selbst- bzw. Fremd-Identifikation und die Innen/Außen-Perspektive. Nicht nur objektive kulturelle Unterschiede (Differenzen an sich) sind demnach in vielen Fällen zur Identifikation einer bestimmten Gemeinschaft relevant, sondern jene kulturellen Ausdrucksformen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft selbst als signifikant angesehen werden.

Der Signifikanz bezüglich ethnischer Andersartigkeit, die gewissen Unterscheidungsmerkmalen seitens einer bestimmten Gruppe und ihrer Nachbarn zugeschrieben wird, entsprechen oft keine oder ungenügende, »objektiv« von außen feststellbare Differenzen. Diese für Außenstehende nur nuancenhaft verschiedenen Expressionen werden von den Mitgliedern als interne Signale für ethnische Grenzziehungen bzw. als Embleme kultureller Differenz benutzt, während wiederum andere Merkmale in ihrer Bedeutung für die Akteure – aber nicht unbedingt für den Beobachter – zweitrangig erscheinen. Gerade unter den Bedingungen repressiver Diskriminierung sind jedoch auch Fälle der Übernahme von Fremdzuweisungen bekannt, allerdings unter Auswahl bestimmter Elemente oder in modifizierter Form. Die Überbetonung der Fremdzuweisung bei der »Definition« der Ethnie(n), oft mit Kritik am kolonialen social engineering verbunden, läuft Gefahr, den Gegenstand selbst zu negieren. Das Phänomen langer geschichtlicher Kontinuität der Ethnien und ihre (trotz Dynamik und Wandelbarkeit) bemerkenswerte Kohärenz und soziale Kohäsion kann auf diese Weise nicht erklärt werden.

Über welche Symbole und in welcher Intensität ethnische Differenz inszeniert wird, bzw. innere Kohäsion und Abgrenzung gegen außen geschaffen wird, ist variabel; dies ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie dem sozialen und politischen Umfeld, der Art und Weise der Interaktion auf drei Ebenen (innerethnisch, interethnisch, gegenüber dem Staat) und dem Grad der eingebildeten oder realen Bedrohung. Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft bleibt nicht unbeeinflußt von gegenwärtigen Umständen und anhaltenden Bedrohungen. Bezüglich historischer Erinnerungen interethnischer Beziehungen kann dies zu einem kritischen Faktor werden. Bei der Frage der Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sollte aber berücksichtigt bleiben, daß wichtige Inhalte auf generativen Erfahrungen beruhen, die sich nicht problemlos umdeuten lassen.

Die Gewichtung verschiedener Embleme oder Symbole verschiebt sich in der Zeit. Aus dem Arsenal kultureller Symbole werden einige ausgewählt, um die Differenz von »Wir-Gruppe« und Fremdgruppe(n) zu markieren. Die Medien solcher Abgrenzungsprozesse können je nach (Bedrohungs-) Situation andere sein. Welches Emblem aufgegriffen wird, hängt keineswegs nur von den Interessen ethnischer Eliten ab. Die Existenz ethnischer Eliten als gegeben vorauszusetzen, ist oftmals schon eine ideologische Annahme. In vielen Fällen (z.B. bei akephalen und egalitären Gesellschaften) bestehen gar keine Eliten. Die Betonung der Eliten führt generell zu einer Vernachlässigung der dynamischen Beziehung von Eliten und Massen.

Von der nationalen Minderheit zur Nation ohne Staat

Eine nationale Minderheit kann innerhalb des Rahmens sozio-politischer und völkerrechtlich relevanter Kategorisierung als eine Nationalität verstanden werden. Diese Begriffsverschiebung ist als Ergebnis eines politischen Prozesses zu sehen, der in den meisten Fällen konfliktiv verlief. Machtfaktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle.5 Analysen, die gesellschaftliche Bewertungen, Adäquanz und Machtfragen außer Acht lassen, genügen nicht. Der Eroberungs- und Dominanzaspekt ist von zentraler Bedeutung. Dieser konstitutive Aspekt wurde bei der Ausarbeitung neuer Instrumente des Internationalen Rechts zum Schutz indigener und bedrohter Völker anerkannt (Un-CHR, 1993).

Ethnisch-kulturellen Gruppen, die sich nicht zur Nation(alität) umbilden, droht unter den realen, feindlichen Bedingungen der internen oder externen Kolonisation die Vernichtung als eigenständige Einheiten. Eine aufgrund äußeren Drucks seitens der Mehrheit umgebildete, kohäsive, nicht-dominante ethnische Gruppe kann als Nationalität bezeichnet werden, wenn sie trotz der Dominanz- und Souveränitätsansprüche von außen 1. einen Kommunikations- und Interaktionsraum darstellt, d.h. eine eigene Öffentlichkeit zu konstituieren bzw. zu erhalten vermag,

  • über eine mit ihr identifizierbare besondere Produktions- und Lebensweise verfügt und zu reproduzieren vermag,
  • eine wie immer geartete politische Organisation entwickelt,
  • ein angebbares Gebiet bzw. ein begrenztes Territorium besiedelt (bzw. zu verteidigen vermag), und
  • unverwechselbar ist, da ihre Mitglieder sich selbst als solche identifizieren bzw. durch andere einer bestimmten Gemeinschaft zugeordnet werden.

Meine Begriffsbestimmung zu nationaler Minderheit als Ethnie bzw. Nationalität enthält somit insgesamt zehn Kriterien bzw. Charakteristiken.6 Ethnische Merkmale sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant und werden in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Bestimmte sozio-kulturelle Praktiken können gänzlich unwichtig sein, in einer anderen Umgebung aber plötzlich extrem wichtig werden. Auch Hautfarbe, Statur, Physiognomie oder andere phänotypische Eigenschaften sind in vielen Gesellschaften der Dritten Welt (für sie selbst) von untergeordneter Bedeutung, in westlichen Gesellschaften gehören physische Charakteristiken aber zu den zentralen Unterscheidungsmerkmalen, sowohl zu Hause gegenüber Migranten und Flüchtlingen, wie in der Fremde, z.B. am Urlaubsort.

Eine ethnisch-nationale Gemeinschaft, welche über einige zentrale oder alle diese Attribute verfügt, entwickelt eine bestimmte unverwechselbare Kollektividentität; sie könnte im politischen Kampf das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung beanspruchen. Dies impliziert keineswegs ein Recht auf Sezession, das von der Staatengemeinschaft nie anerkannt würde. Die Schaffung neuer Staaten folgt nach politischer Opportunität. Das Völkerrecht spricht von »Völkern«, meint jedoch Staaten; die meisten Staaten sind Vielvölkerstaaten. In der politisch-rechtlichen Praxis wird das Selbstbestimmungsrecht, selbst in der Form interner Selbstverwaltung, nicht respektiert und umgesetzt, weil die meisten Völker in der Regel nicht als solche anerkannt werden, sondern als nationale Minderheiten. Die Rechtsbasis dazu wären die Menschenrechte, die in aller Regel Rechte des Individuums sind. Folglich befinden sich die Rechte ethno-nationaler Gemeinschaften in einer prekären »Grauzone« zwischen kollektivem Völkerrecht und individuellen Menschenrechten.

Literatur

Anderson, Benedikt (1988);: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a/M.

Barth, Frederik (Ed.) (1969): Ethnic groups and boundaries. Boston.

Burger, Julian (1987): Report from the frontier. The state of the world's indigenous peoples. London.

Elwert, Georg/Waldmann, Peter (Eds.) (1989): Ethnizität im Wandel. Saarbrücken.

Galtung, Johan (1996): Peace by peaceful means. Peace and conflict, development and civilization. London.

Gurr, Ted Robert (1993): Minorities at risk. A global view of ethnopolitical conflict. Washington.

Heinz, Marco (1993): Ethnizität und ethnische Identität. Eine Begriffsgeschichte. Bonn.

Horowitz, Donald L.(1985): Ethnic groups in conflict. Berkeley, Los Angeles.

Huntington, Samuel P. (1996): Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). München/Wien.

Ryan, Stephen (1990): Ethnic conflict and international relations. Aldershot.

Scherrer, Christian P. (1997): Ethno-Nationalismus: Ursachen, Strukturmerkmale und Dynamik ethnischer Gewaltkonflikte. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 2. Münster, i. E.

Scherrer, Christian P. (1996): Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Prävention, Konfliktbearbeitung und die Rolle der internationalen Gemeinschaft. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 1. Münster.

Tibi, Bassam (1995): Krieg der Zivilisationen. Hamburg.

UN-CHR (1993): Universelle Deklaration der Rechte indigener Völker. E/CN.4/Sub.2/ 1993/26.

Zimmermann, Klaus (1992): Sprachkontakt, ethnische Identität und Identitätsbeschädigung. Frankfurt a/M.

Anmerkungen

1) Ethnische Gemeinschaften mögen „vorgestellte“ (Andersons imagined communities) sein, diese Vorstellung ist bedeutend konkreter und faßbarer als jene der Nation oder Zivilisation. Kulturen sind immer lokal, Zivilisationen regional (Tibi 1995, S. 11), verbunden durch Kosmologien (Galtung 1996, S. 211-222, 253ff.). Die Gleichsetzung von Kultur mit Zivilisation ist völlig unzuläßig (Huntington 1996, S. 14). Zurück

2) Im Anschluß an Anderson wurden alle möglichen Formen sozialer und politischer Organisation als Erfindung bezeichnet, so auch die Ethnie (vgl. Elwert 1989, S. 26). Zurück

3) Barth (Ed.) (1969), S. 11. Eine gemeinsame Kultur wäre also nicht eine primäre, definitive Charakteristik einer ethnischen Gruppe, weil dies (seiner Meinung nach) die zeitliche Kontinuität (von der wir ausgehen) und die formbestimmenden Faktoren ethnischer Gruppen einschränken würde. Zurück

4) Politische Folklore unterdrückt jedes Element von latent multipler Zugehörigkeit, löst Volkskultur aus ihrem sozialen Zusammenhang und überhöht die „eigene Kulturleistung“. Die Kritik einer materialistischen Kulturwissenschaft am „Fetisch Kultur“ analysiert die Strukturen der Kommunikation, Formen des gesellschaftlichen Habitus, Fragen nach Rhetorik und Oralität, Sprachgebrauch, Gemeinschaftsrituale, geschlechtspezifische Rollen sowie äußere Symbole (religiöse und politische). Zurück

5) Burgers Definition indigener Völker (1987, S. 9) berücksichtigt den Eroberungs- und Dominanzaspekt, macht jedoch unnötige Einschränkungen wie Nomadismus, Akephalität, „different world-view“. Zurück

6) Der Definitionsversuch stellt eine Verbindung von etwa je zur Hälfte subjektiven und objektiven Merkmalen dar. Die Streitfrage ist bei einigen dieser Nennungen, ob sie als »objektive Merkmale« bezeichnet werden sollen. Zumindest die Namengebung, einige kulturelle Aspekte (Sprache z.B.), die Assoziation mit einem Territorium als Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet, die Produktionsweise und der Grad der politischen Organisiertheit können als objektive, empirisch überprüfbare Merkmale gelten. Zurück

Dr. Christian P. Scherrer ist Ethnosoziologe und Konfliktforscher; Mitarbeiter am Institut für Ethnizitätsforschung und Konfliktbearbeitung (IFEK),Moers; Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR).

Flüchtlingsströme und Großmachtinteressen

Flüchtlingsströme und Großmachtinteressen

von Bettina Gaus

Wieder einmal ist in den letzten Wochen in Zusammenhang mit Afrika der Weltöffentlichkeit suggeriert worden, bei der seit langem vorhersehbaren Zuspitzung einer politischen Krise handele es sich in erster Linie um eine humanitäre Katastrophe. Bilder endloser Flüchtlingsströme und dringliche Appelle, den Notleidenden zu helfen, ersetzten weitgehend die Analyse, wie es zu der Situation überhaupt kommen konnte und welche Lösungen der Probleme vorstellbar sind.

Bei der Entwicklung im Osten von Zaire standen neben rivalisierenden Kräften der Region auch ausländische Mächte und ihre Interessen Pate. Die noch immer nicht beendete Debatte um einen militärischen UNO-Einsatz wirft ein Schlaglicht darauf, daß die Regierungen in Washington und Paris in Afrika unterschiedliche Ziele verfolgen und einander an strategisch wichtigen Punkten immer wieder ins Gehege kommen.

Frankreich ist eine der wenigen Industrienationen, die in Afrika noch Machtpolitik im alten Stil betreiben. Regierungen kommen an die Macht und werden gestürzt von Gnaden des Elysee. Staaten wie Djibouti und die Zentralafrikanische Republik wären ohne Paris nicht lebensfähig.

Auch die alte Regierung in Ruanda, die nach dem Mord an der Tutsi-Minderheit 1994 gestürzt wurde, hatte sich jahrelang nur mit massiver Militärhilfe Frankreichs der später siegreichen Rebellenbewegung erwehren können. Als nach dem Ende des Bürgerkrieges Hunderttausende von Ruandern nach Zaire geflüchtet waren, hat Frankreich UNO-Berichten zufolge den ruandischen Soldaten und Milizen unter den Flüchtlingen weiterhin in großen Umfang Waffen geliefert. Es gab zahlreiche Hinwise darauf, daß die alten ruandischen Machthaber nicht zuletzt dank dieser Militärhilfe planten, einen Angriffskrieg gegen die neuen Herren in Kigali zu führen.

Bei der Unterstützung für das alte Regime in Kigali ging es Paris weniger um das, was Ruanda in Einzelnen zu bieten hat, als vor allem darum, die französische Einflußzone so vollständig wie irgend möglich zu erhalten. Befürchtungen in Paris sind nicht unbegründet, denen zufolge ein herausgebrochener Stein den Einsturz des gesamten Gebäudes nach sich ziehen kann: Die Grenzstädte Bukavu und Goma wurden – daran ändern auch noch so viele Dementis nichts – mit aktiver Hilfe der neuen ruandischen Armee erobert, die die bedrohlichen Flüchtlingslager im Grenzbereich endgültig nicht mehr dulden wollte. Sollte es nun innerzairischen Rebellen tatsächlich gelingen, mit ruandischer Unterstützung das ganze Land zu destabilisieren, dann hätte das Auswirkungen auf die politische Landkarte des gesamten Kontinents.

Die neue Regierung in Kigali ist für Paris kein Verhandlungspartner. Gestützt von Uganda und mit engen Beziehungen zu Washington führt sie das Land schrittweise in den anglophonen Einflußbereich Afrikas. An vielen Schulen Ruandas wird heute schon ausschließlich auf englisch unterrichtet. Die dringenden Bemühungen Frankreichs um ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates für die Stationierung eigener Truppen in der Region waren ein verzweifelter Versuch zu retten, was noch zu retten war. Ruanda hat aber nie einen Zweifel daran gelassen, daß es französische Blauhelme nie als »neutrale Kraft« akzeptieren werde.

Washington verfolgt andere Interessen. Die USA wollen in Afrika vor allem ein Vordringen des islamischen Fundamentalismus verhindern, dabei jedoch selbst so wenig wie möglich in Erscheinung treten. Im islamisch regierten Sudan prallen die unterschiedlichen Interessen der Industriemächte besonders heftig aufeinander: Während es ein offenen Geheimnis ist, das die USA Sympathien für die südsudanesischen Rebellen haben, soll Frankreich die Regierung in Khartoum mit Satellitenbildern des umkämpften Südsudan versorgen.

Eine militärische UNO-Intervention im Osten Zaires, die sich vor allem auf afrikanische Bodentruppen stützte und allenfalls logistische Hilfe der USA in Anspruch genommen hätte, wäre dem gegenwärtigen Kurs Washingtons sehr nahe gekommen. Als kürzlich mit Warren Christopher zum ersten Mal seit über 15 Jahren ein US-Außenminister Afrika besuchte, propagierte dieser den Plan einer afrikanischen Kriseninterventionstruppe. Die USA signalisierten dafür sogar erhebliche Finanzhilfe.

Paris hat Washington zunächst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die wieder und wieder erklärte Bereitschaft der Franzosen, Soldaten in die Krisenregion zu entsenden, brachte die USA in Zugzwang. Immer mehr sah es so aus, als ob die Vereingten Staaten sich einer massiven eigenen Beteiligung nicht würden entziehen können. Da bekamen sie Hilfe von unerwarteter.Seite: Zu Hunderttausenden gingen die Flüchtlinge, ganz ohne ausländische Truppen, einfach nach Hause. Das brisante Thema ist nun erst einmal vertagt.

Bettina Gaus hat viele Jahre als Journalistin in Afrika gearbeitet. Für die TAZ war sie im November in Ruanda.

FRONTEX

FRONTEX

Der Europäische Grenzschutz und seine Agentur

von Timo Tohidipur

Der Barbar ist die Gefahr. So ähnlich könnte man den Blick der Römer auf die ihrem Imperium angrenzenden Völker, beispielsweise die jenseits des Limes angesiedelten germanischen Stämme, umschreiben. Die Konsequenz bedeutete unnachgiebige Behandlung vermeintlich illegaler Grenzübertritte bei gleichzeitiger Zulassung handelsfördernder Kontakte. Die Zeiten ändern sich, doch dieser Blick auf den Fremden scheint auf dem europäischen Kontinent eine gewisse Kontinuität aufzuweisen.

Tausende Migranten versuchen Monat für Monat, ausgelöst durch Bürgerkriege, Verfolgung oder wirtschaftliche Not, das Gebiet der EU zu erreichen und sehen sich dabei einem ausgefeilten Sicherheitsapparat gegenüber, der sie bereits vor Erreichen des Festlandes abwehrt oder nach Erreichen kollektiv kaserniert, offen kriminalisiert und schnellstmöglich abschiebt. Die Wahrung der Sicherheit der Bürger im Inneren, auch mittels Abschirmung vor Gefahren von Außen, ist eine der stets hervorgehobenen Aufgaben des Staates. Die organisatorische Hoheit über Fragen der Migration und der Sicherheit liegt indes nicht mehr allein beim Staat als Mitgliedstaat der EU, vielmehr gerät die Grenzsicherung verstärkt in das Blickfeld einer auf einheitlicher Steuerung und Koordination bedachten Europapolitik. Dazu gehört eine neue Verwaltungseinrichtung, die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union«: FRONTEX (abgeleitet von Frontières Extérieures). Der bereits enorme Umfang operativer Befugnisse, die koordinierend-integrierende Funktionsausrichtung und die politische Bedeutungszuschreibung machen eine eingehende Auseinandersetzung mit ihr notwendig. Dabei führen die Betrachtung der internen Struktur und die anschließende Darlegung der weitreichenden Befugnisse zu Fragen nach den Bedingungen politischer und rechtlicher Verantwortlichkeit im Kontext einer interpretationsoffenen bis beliebigen Vorstellung von Sicherheit.

FRONTEX als Gemeinschaftsagentur

Die institutionelle Ausgestaltung von FRONTEX beruht auf den Vorgaben einer EG-Verordnung aus dem Jahre 2004 (FRONTEX-VO)1, die sich auf die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen über die Regulierung von Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen stützt. Dabei enthält das Primärrecht (also die Verträge über die EG bzw. die EU: EGV und EUV) keine explizite organisationsrechtliche Kompetenz zur Schaffung von Agenturen. Doch bereits seit den 1970er Jahren werden solche Agenturen in der Form sekundärrechtlich (i.d.R. durch eine Verordnung) begründeter Verwaltungseinrichtungen errichtet, die zunächst nicht mehr als ein Forum für Informations- und Erfahrungsaustausch waren, und erst später zunehmend hoheitsrechtliche Befugnisse erhielten.2 Das stetig anwachsende Agenturwesen ist und bleibt legitimatorisch nicht unproblematisch, wurde aber zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt. Die eigenständige Ausdifferenzierung verwaltungsorganisatorischer Strukturen wird letztlich mit der auf die Gemeinschaft übertragenen Sachkompetenz begründet.

FRONTEX ist durch die Verleihung eigener Rechtspersönlichkeit rechtsverbindliches Handeln in eigenem Namen möglich. Der ihr vorstehende Exekutivdirektor ist in seiner Funktion unabhängig gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten und sonstigen Stellen. Er wird von dem Verwaltungsrat ernannt, der sich aus je einem Vertreter der Mitgliedstaaten und zwei Vertretern der Europäischen Kommission zusammensetzt. Diesem Verwaltungsrat gegenüber bleibt der Exekutivdirektor hinsichtlich der Tätigkeitsberichte für das jeweils vergangene Jahr und der Festlegung der Arbeitsprogramme für das jeweils zukünftige Jahr verantwortlich. Eine über Berichtspflichten hinausgehende parlamentarische Verantwortlichkeit oder gar Steuerung der Agentur ist nicht vorgesehen. Nur bei Änderungen oder Erweiterungen der Rechtsgrundlage kann das Europäische Parlament mitentscheiden. Das Spezifikum der Agenturen besteht darin, dass sie in der Diktion der EU »autonome« Verwaltungseinrichtungen der EU sind. Die Agentur bleibt damit, jenseits des Potentials öffentlicher Skandalisierung, »im Schatten« demokratischer Kontrollen. Lediglich die allgemeine Haushaltskompetenz des Europäischen Parlaments lässt eine begrenzte finanzielle Kontrolle durch Genehmigung der Haushaltsmittel entsprechend der Stellen- und Bedarfslage zu.

Europäischer Grenzschutz als integrierte Verwaltungskooperation

In den Begründungserwägungen der FRONTEX-VO wird ausdrücklich betont, dass der integrierte Schutz der Außengrenzen der EU das Ziel der Gemeinschaftspolitik ist. Der im Rahmen des Binnenmarktes und auf der Grundlage der Schengener Vereinbarungen umfassend garantierte freie Personenverkehr innerhalb der EU soll durch ein einheitliches und hohes Kontroll- und Überwachungsniveau an den Außengrenzen ermöglicht werden. Da die grundsätzliche Verantwortung und rechtliche Kompetenz für die Überwachung der Außengrenzen noch bei den Mitgliedstaaten liegt, setzt das angestrebte Kontroll- und Überwachungsniveau eine besondere Koordinierung voraus, die insbesondere durch FRONTEX geleistet werden soll. Gemeinsam ist den bisherigen Formen der Zusammenarbeit im europäischen Grenzschutzregime die horizontale Vernetzung von mitgliedstaatlichen Behörden, mit einer Betonung der Dimension »Informationsvernetzung«. Die Errichtung von FRONTEX erweitert das System um die entscheidende vertikale Komponente.

Während beispielsweise die 2007 neu konstituierte »Europäische Agentur für Grundrechte« lediglich Forschungs-, Beratungs- und Informationsrechte hat, enthält die FRONTEX-VO folgende umfassende Aufgabenzuweisung an die Agentur, die auch hoheitsrechtliches Handeln ermöglicht:

  • Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten einschließlich der Festlegung gemeinsamer Ausbildungsnormen;
  • Durchführung von Risikoanalysen;
  • Verfolgung der Entwicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen relevanten Forschung;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern;
  • Bereitstellung der notwendigen Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen.

Entsprechend dem Arbeitsprogramm für 2007 verfügt FRONTEX derzeit über ein Budget von 22 Mio. Euro und hat 78 Bedienstete, wobei deren Anzahl im Laufe des Jahres auf 140 erhöht werden soll. In den eineinhalb Jahren ihres Bestehens hat die Agentur in den drei Kernbereichen ihres Tätigkeitsfeldes bereits beträchtliche Aktivitäten entfaltet.

Operatives Handeln

Die größte Herausforderung für die Implementierung des Grenzkontrollregimes besteht nach Einschätzung von FRONTEX auf vier Hauptrouten der Migration in die EU, d.h. die Routen über die südlichen Seeaußengrenzen, die östlichen Landaußengrenzen, über den Balkan und über bedeutende internationale Flughäfen.3 Dabei werden Fragen nach dem Umgang mit Migranten im Kontext (menschen)rechtlicher Verpflichtungen und sicherheitspolitischer Anforderungen aufgeworfen.

Unter der Beteiligung von FRONTEX haben im Jahr 2006 die Grenzschutzaktionen »Hera I und II«, »Nautilus« sowie »Jason I« im Mittelmeerraum stattgefunden.4 Die mit dem Codenamen »Hera« versehenen Aktionen bezeichneten den Einsatz im Gebiet der Kanaren, der Kapverden und vor dem Senegal. Die Probleme des europäischen Grenzkontrollregimes manifestieren sich hier sehr deutlich. Die Einsätze zielten auf die Identifikation von Migranten und die Bestimmung ihres Herkunftsstaates sowie den Einsatz von Grenzüberwachungsgeräten zur Kontrolle des Meerabschnittes zwischen der Afrikanischen Küste und den Kanarischen Inseln. Zudem wurden zwischen August und Oktober 2006 mit der Unterstützung von FRONTEX insgesamt 3887 Menschen „nahe der Afrikanischen Küste abgefangen und umgeleitet“.5 In ähnlicher Form sollen die Operationen im Jahr 2007 für die Kanarischen Inseln und die Afrikanische Küste ablaufen.6

Während die bisherigen Einsätze bloße »Unterstützungseinsätze« darstellten, bei denen die FRONTEX-Experten und die durch FRONTEX koordinierten nationalen Unterstützungsteams keine eigenen exekutiven Kompetenzen innehatten, sollen in Zukunft Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) gebildet werden, denen einsatzbezogen hoheitliche Befugnisse im jeweiligen Mitgliedstaat übertragen werden. Das Einsatzfeld dieser RABITs ist die zeitlich befristete Unterstützung von Mitgliedstaaten, die sich an bestimmten Stellen ihrer Außengrenzen einer voraussehbar übergroßen Anzahl an einreisewilligen Migranten gegenübersehen. Diese vom Exekutivdirektor ausdrücklich betonte Beschränkung auf zeitlich begrenzte Einsätze7 überzeugt nicht, denn der Versuch des massenhaften Grenzübertritts über das Mittelmeer ist aus Sicht des Grenzschutzes ein erkennbar kontinuierliches und eben kein punktuelles Problem.

Die entsprechende neue EG-Verordnung (RABIT-VO)8 konturiert den Umfang und die Grenzen der temporär zu übertragenden Hoheitsbefugnisse für die Einsätze der RABITs und versucht das für die jeweiligen Konstellationen eines Einsatzes geltende Recht zu definieren. Hier offenbaren sich, gemessen an Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz, Defizite. Denn während einerseits die entsandten Teammitglieder das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht des Einsatzmitgliedstaates einhalten sollen, sind sie beispielsweise im Hinblick auf die benutzbare Ausrüstung (Dienstwaffe etc.) an das Recht des Herkunftsmitgliedstaates gebunden. Überaus problematisch ist in diesem Zusammenhang die für den speziellen Einsatz bestehende Weisungskompetenz der Beamten des Einsatzstaates gegenüber den RABIT-Beamten, da gleichzeitig der Exekutivdirektor von FRONTEX den maßgeblichen Einsatzplan für die RABIT-Beamten verbindlich erstellt. Eine zusätzliche Ebene rechtlicher Verantwortlichkeit wird dadurch implementiert, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen RABIT-Beamten allein gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat besteht. Der einzelne Beamte sieht sich damit im Einsatz zumindest drei unterschiedlichen Rechtsmaßen gegenüber, die nicht immer klar zu trennen sind. Noch weniger überschaubar ist diese Rechtskonstruktion – und damit der daran anknüpfende Rechtsschutz im Einzelfall – aus der Sicht des von Maßnahmen betroffenen Flüchtlings. Hier offenbaren sich Defizite greifbarer rechtlicher Verantwortlichkeit, die spätestens dort notwendig wird, wo hoheitsrechtliche Befugnisse potentiell in Rechte Einzelner einzugreifen geeignet sind. Der Grundsatz des umfassenden und effektiven Rechtsschutzes ist über das Rechtsstaatsprinzip in Art. 6 EU und darüber hinaus in Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verankert und beansprucht so als allgemeiner Rechtsgrundsatz Geltung für die EU und damit auch für die Handlungen von FRONTEX. Hier spielt die Frage des exterritorialen Anwendungsbereichs der Grund- und Menschenrechte eine entscheidende Rolle.9

Zusammenarbeit und Informationsvernetzung

Politische Zielvorgabe der EU ist die in den Art. 61 ff. des EG-Vertrages fixierte Schaffung eines so genannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die besondere Fokussierung auf den Aspekt der Sicherheit zeigt sich in der Errichtung einer Vielzahl verschiedenster Agenturen und ihrer Vernetzung: so sind für den »Außenbereich« dieser Sicherheitspolitik der EU insbesondere die Agenturen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, also namentlich die Europäische Verteidigungsagentur (EDA), das Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (ISS) und das Satellitenzentrum der Europäischen Union (EUSC) zuständig. Die Verwirklichung des »Innenbereichs« obliegt dem Europäischen Polizeiamt (Europol), der Europäischen Polizeiakademie (EPA), dem Europäischen Organ zur Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit (Eurojust), der Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF und eben FRONTEX. In ihren verschiedenen Ausrichtungen bilden diese Agenturen eine umfassende operative Basis. Die enge Kooperation zwischen Europol, Eurojust, OLAF und selbst dem EUSC mit FRONTEX ist über Arbeitsvereinbarungen garantiert.

Besondere Bedeutung kommt der Erleichterung des interinstitutionellen und mitgliedstaatlichen Informationsaustauschs zu, der ein in der FRONTEX-VO ausdrücklich festgeschriebenes Ziel der Agentur ist. FRONTEX wird daher Zugang zum Informationsnetz der Migrationsbehörden der Mitgliedstaaten erhalten und kann in der Zusammenarbeit mit Europol auf dessen umfangreiche Datenbestände zugreifen.10 Zugleich forciert die FRONTEX-VO eine Öffnung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen FRONTEX und internationalen Organisationen sowie Behörden von Drittstaaten, die für vergleichbare Aufgabenbereiche zuständig sind. So ist die Verstärkung der Beziehungen zu den nord- und westafrikanischen Drittländern, die so genannte »Herkunfts- oder Transitländer« für illegale Migranten sind, ein wesentliches Ziel der Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung illegaler Einwanderung. Überdies ist sogar eine Zusammenarbeit von FRONTEX mit Geheimdiensten nachdrücklich erwünscht.11

Die integrative Kraft der Vernetzung bezieht sich auch auf die Zusammenlegung von grenzschutzrelevanten Ressourcen. FRONTEX verwaltet eine Toolbox, die einmal schweres technisches Gerät wie Flugzeuge, Hubschrauber, Schiffe und sonstige Fahrzeuge, sowie, in der »humanen« Version, Grenzschutzspezialisten mit ihren spezifischen Einsatzpotentialen umfasst. Aus diesem Pool werden die koordinierten Einsätze »bestückt«. Der Vergleich zur schnellen (militärischen) Eingreiftruppe drängt sich hier förmlich auf.

Migrationssteuerung als Sicherheitsproblem

Die gesamte Einsatzstruktur von FRONTEX und ihres umgebenden Grenzschutzregimes ist auf Abwehr ausgerichtet. Die Vollstreckung dieser Strategie erfolgt im Kern auf drei Wegen: Erreichen Migranten das europäische Festland, werden sie (bisweilen in fragwürdigen Auffanglagern) kaserniert, bis ihre Identität und/oder ihr Herkunftsstaat festgestellt ist, und sodann abgeschoben. Werden Migranten bereits auf dem Weg zum Gebiet der EU aufgespürt, erfolgt entweder eine unmittelbare Rückführung oder sie werden, wenn dies nicht sofort vertretbar scheint, erst aufgenommen und dann nach obigem Verfahren abgeschoben. Der dritte Weg – und damit die für die EU »sauberste« Lösung – liegt darin, bereits die Abreise des Flüchtlings aus seinem Heimatland zu verhindern.

Der Erfolg von FRONTEX wird in dieser Logik stets in Zahlen gemessen: Wenn bis September 2006 noch zwischen 4.500 und 7.000 Migranten monatlich das Gebiet der Europäischen Union erreichten und nach koordinierten Maßnahmen von FRONTEX nur noch ca. 600 im Oktober 2006 so weit kamen, dann wird dies als Erfolg bewertet.12 Der logistische Aufwand, den FRONTEX zur Abwehr illegaler Migranten betreibt, ist dabei enorm. Gerade darin zeigt sich die Problematik dieses speziellen Politikbereichs, dessen Organisation mehr und mehr einem Kampfeinsatzszenario gleicht denn einer nachhaltigen Reaktion auf katastrophale humanitäre Umstände. So wird beispielsweise die zivile Seenotrettung materiell und institutionell vernachlässigt.

Der Ansatz, die Staaten einzubeziehen, aus denen die meisten Migranten aufbrechen oder die als Transitstaaten dienen, ist richtig, doch darf er nicht unter dem Vorzeichen radikaler Abschottung ohne Ansehung des Kontextes und der flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen geschehen. Ansonsten werden sich die Flüchtlingsströme – und hier ist der Vergleich mit dem Wasserstrom ausnahmsweise angebracht – neue Wege erschließen, die dann noch unmenschlichere Strapazen bedeuten. Dauerhaft kann dies nicht durch Abschottung und Aufrüstung der Grenzbehörden verhindert werden. Die Probleme der USA an der hochaufgerüsteten Grenze zu Mexiko sind nur ein Beispiel des Scheiterns einer ähnlichen Strategie. Eine nachhaltige Strategie kann nicht allein auf einem Regime integrierter Sicherheitsbehörden gegründet werden, sondern muss notwendig auch Strategien der Entwicklungsförderung und konstruktiven Kooperation einbeziehen.

Stellt sich die EU diesen Herausforderungen nicht auf eine Weise, die der unbestreitbar existenten Migrationsproblematik gerecht wird, also ohne diese allein auf der Ebene einer Sicherheitspolitik zu lösen, die die stets nach außen reklamierten grund- und menschenrechtliche Grundsätze ebenso wie rechtsstaatliche Verfahrensgarantien in eigener Anwendung selbst partiell zu suspendieren geneigt ist, so bleibt die Frage: Wer ist der Barbar?

Anmerkungen

1) Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 v. 26. Oktober 2004, ABl. EG L 349/1 v. 25.11.2004.

2) Zur Historie: Robert Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen des öffentliches Rechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 125 (2000), S.551 ff.

3) FRONTEX, Pressemitteilung v. 22.02.2007, http://www.eu2007.de/de/News/Press_Releases/February/0222BMIFrontex.html.

4) Ein Überblick über die bisherigen Operationen findet sich bei Roderick Parkes, Gemeinsame Patrouillen an Europas Südflanke, SWP-Aktuell 44 (09/2006).

5) FRONTEX, statistische Angaben zu den Operationen HERA I und II v. 19.12.2006, http://www.frontex.europa.eu/gfx/frontex/files/hera-statistics.pdf

6) FRONTEX, Presseerklärung v. 15.02.2007, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art13.html.

7) Ilkka Laitinen, Frontex – Facts and Myths, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art26.html.

8) Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des EP und des Rates v. 11. Juli 2007, ABl. EG L 199/30 v. 31. Juli 2007

9) Andreas Fischer-Lescano/Timo Tohidipur, Europäisches Grenzkontrollregime, in: ZaöRV 4/2007 (im Erscheinen).

10) Zu den Vernetzungen von FRONTEX: Mark Holzberger, Europols kleine Schwester. Die Europäische Grenzschutzagentur „FRONTEX“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006), S.56 ff.

11) Entschließung des Europäischen Parlaments zur externen Dimension der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, 15.02.2007, P6_TA-PROV(2007)0050, Ziff. 33 lit. k).

12) Exekutivdirektor Laitinen im Tagesspiegel v. 30.10.2006, http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite; art705,2277672.

Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für öffentliches Recht der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main