Zerschossene Zukunft

Zerschossene Zukunft

Kinder im Krieg und auf der Flucht

von Tanja Sieber • Andrea Pütz

Noch nie haben so viele Kinder unter Kriegen gelitten wie in diesem Jahrhundert. Sie zählen zu den Opfern von Massakern unter der Zivilbevölkerung, werden Opfer sexueller Gewalt, Zeugen von Greueltaten gegen andere Menschen. Kinder werden zunehmend zur Zielscheibe von Kriegshandlungen, u.a. um die Moral des Gegners zu schwächen, und sie werden in vielen Konflikten mit äußerster Brutalität selbst zum Kriegsdienst gezwungen.

Jeder zweite Flüchtling auf der Welt ist ein Kind. Allein im vergangenen Jahr waren weltweit über 20 Millionen Kinder auf der Flucht. Kriege und Konflikte sind Auslöser für die allgemeine Verschlechterung der Ernährungslage und mangelnde Gesundheitsversorgung, die viele Kinder das Leben kostet. Kinder leiden nicht nur physisch unter Krieg und Gewalt, sondern tragen auch seelische Verletzungen davon. Traumatische Kriegserlebnisse verfolgen die Kinder ihr ganzes Leben lang. In einem Klima der Aggression, des Mißtrauens und der Angst lernen Kinder nicht, wie Konflikte friedlich gelöst werden können und was Sicherheit bedeutet.

Die Massaker in Ruanda kosteten rund 300.000 Kinder und Jugendliche das Leben. Zwischen April 1994 und April 1995 wurden schätzungsweise 16.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt.

In Liberia kämpften zwischen 15.000 und 20.000 Kinder als Soldaten im Bürgerkrieg.

Alle 56 Minuten wird ein Kind durch eine Landmine verstümmelt oder getötet.

Der Bürgerkrieg in Kambodscha hat bis Mitte der 90er Jahre rund 350.000 Kinder zu Waisen gemacht.

In Afghanistan sterben jedes Jahr rund 280.000 Kinder an den indirekten Folgen des seit Jahren andauernden Krieges, weil sie unzureichend ernährt oder nicht medizinisch versorgt werden können.

Die Rechtslage

Den Schutz der Zivilbevölkerung vor kriegerischen Handlungen und Gewalt schreiben eine Reihe internationaler Konventionen fest. Die Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention von 1949, die den Schutz der Zivilbevölkerung fordert, gelten natürlich auch für Kinder. Artikel 23 regelt explizit die Versorgung von schwangeren Frauen, Müttern und Kindern, und Artikel 24 nennt Regelungen für die Behandlung unbegleiteter Kinder. Im ersten Zusatzprotokoll zur Vierten Genfer Konvention von 1977 wird in Artikel 77 der Schutz insbesondere von Kindern gegen unzüchtige Handlungen, vor Rekrutierung, der Verhängung der Todesstrafe und der Unterbringung zusammen mit Erwachsenen im Fall von Haft oder Internierung gefordert. Artikel 78 regelt die Evakuierung von Kindern in Krisensituationen in andere Staaten.

Umfassendere Forderungen zum Schutz von Kindern im Krieg enthält die 1989 verabschiedete Konvention über die Rechte des Kindes (im folgenden als KRK abgekürzt), die mittlerweile von fast allen Staaten ratifiziert wurde. Die Vertragsstaaten werden dazu aufgerufen, den Schutz und die Betreuung von Kindern im Krieg und auf der Flucht sicherzustellen. Neben dem Recht auf Überleben, Gesundheit und Bildung, dem Schutz vor Gewalt und Ausbeutung, dem Recht auf Familienzusammenführung, Namen und Staatsbürgerschaft unterstreicht die Kinderrechtskonvention auch die Notwendigkeit der körperlichen und seelischen Wiederherstellung von minderjährigen Kriegsopfern und ihrer sozialen Reintegration. Zum besseren Schutz von Kindersoldaten wird derzeit ein Zusatzprotokoll erarbeitet, das ein Mindestalter von 18 Jahren für die Rekrutierung von Soldaten vorsieht (Die relevanten Artikel der Konvention über die Rechte des Kindes sind im folgenden den Unterabschnitten vorangestellt).

Kinder im Krieg

„Im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, daß von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden.“ (KRK, Artikel 38:4)

Angesichts der veränderten Dimensionen der Kriege der Gegenwart brauchen Kinder als verletzlichste Gruppe der Gesellschaft besonders dringend Schutz und Hilfe. In bewaffneten Konflikten werden die Rechte der Kinder massiv verletzt: das Recht auf Überleben, auf Gesundheit und Bildung, auf Schutz vor Gewalt und Ausbeutung oder das Recht, mit den Eltern zusammenzuleben.

Schätzungsweise zwei Millionen Kinder starben während der 80er Jahre in kriegerischen Auseinandersetzungen, weitere sechs Millionen trugen lebenslange Behinderungen davon. Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen findet jedoch nicht durch unmittelbare Kampfhandlungen den Tod, sondern stirbt an den »stillen« Folgen des Krieges. UNICEF geht davon aus, daß allein 1993 rund eine halbe Million Kinder ihr Leben durch unzureichende Ernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung und verseuchtes Wasser verloren haben.

Traumatisierte Kinder

„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die physische und psychische Genesung und die soziale Wiedereingliederung eines Kindes zu fördern, das Opfer irgendeiner Form von Vernachlässigung, Ausbeutung oder Mißhandlung, Folter oder einer anderen Form grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe oder aber bewaffneter Konflikte geworden ist.“ (KRK, Artikel 39)

Militärische Gewalt verletzt Menschen nicht nur körperlich – sie schlägt auch tiefe seelische Wunden. Nach UNICEF wurden in den achtziger Jahren weit über zehn Millionen Kinder durch Kriegserlebnisse traumatisiert. Der Verlust der vertrauten Umgebung, die ständige Angst und Unsicherheit belasten die seelische Gesundheit von Kindern. Kinder müssen mit ansehen, wie Eltern, Angehörige oder Freunde mißhandelt, vergewaltigt oder getötet werden, werden selbst Opfer von Gewalt oder zur Gewalt gegen andere gezwungen. Eine Umfrage von UNICEF ergab, daß über die Hälfte der ruandischen Kinder die Massenmorde im April 1994 mit eigenen Augen gesehen haben. Rund 40 Prozent beobachteten andere Kinder beim Töten. In Sarajevo haben fast alle Kinder Granatenangriffe aus nächster Nähe erlebt. Während des Golfkrieges 1991 äußerten 62 Prozent der irakischen Kinder Zweifel daran, daß sie das Erwachsenenalter erreichen würden. Traumatische Kriegserlebnisse können bei Kindern zu Angstzuständen, Alpträumen, Weinkrämpfen, Depressionen, Bettnässen und psychosomatischen Erkrankungen, Sprach- und Lernstörungen führen. Oft stehen die Kinder diesen Erfahrungen allein gegenüber, wenn sie z.B. während der Flucht oder während eines militärischen Angriffs von Eltern und Geschwistern getrennt werden.

Kindersoldaten

„Die Vertragsstaaten treffen alle durchführbaren Maßnahmen, um sicherzustellen, daß Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen.“ (KRK, Artikel 38:2)

Kriege machen Kinder nicht nur zu Opfern. Immer mehr Kinder werden zum Töten mißbraucht. Nach Schätzungen von UNICEF dienen heute ca. 250.000 Jungen und Mädchen unter 18 Jahren als Soldaten. Die meisten leisten Hilfsdienste, doch immer mehr werden auch an vorderster Front eingesetzt. Viele werden zu Greueltaten gegen die eigene Familie oder Nachbarn gezwungen. In Ruanda stehen erstmals in der Geschichte Jugendliche wegen der Beteiligung am Völkermord vor Gericht. Ein Grund für die steigende Zahl der Kindersoldaten ist die massenhafte Verfügbarkeit leichter Waffen. Hinzu kommt, daß in vielen Ländern keine Geburtenregistrierung erfolgt und damit das Alter vieler Heranwachsender nicht eindeutig feststellbar ist. Minderjährige können so nur schwer vor einer Rekrutierung geschützt werden. UNICEF fordert ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, das ein Mindestalter für die Rekrutierung von Soldaten auf 18 Jahre festlegt. Kinder, die den Tod ständig vor Augen hatten oder selbst töten mußten, brauchen Unterstützung bei der Rückkehr ins Zivilleben durch Schul- und Berufsbildungsangebote und psychologische Hilfe.

Landminen

Jedes Jahr fallen ca. 26.000 Menschen Landminen zum Opfer. Zumeist sind es Zivilisten, ein Drittel davon Kinder. Weltweit liegen rund 115 Millionen Minen in 70 Ländern vergraben, zweieinhalb Millionen werden jährlich neu verlegt. Sie verwandeln Weiden, Wasserstellen und Wälder in tödliche Fallen, verhindern die Rückkehr von Flüchtlingen und blockieren auch Jahre nach Kriegsende noch den Anbau von Nahrungsmitteln, den Handel und den Verkehr. Kinder sind durch ihre geringe Körpergröße, ihre Unbekümmertheit und Neugier besonders gefährdet. Unter den 70.000 Minenopfern in Angola waren mindestens 8.000 Kinder, denen Arme und Beine amputiert werden mußten.

Nach jahrelangen Verhandlungen, u.a. im Rahmen des von rund 90 Staaten unterstützten »Ottawa-Prozesses«, wurde in der kanadischen Hauptstadt im Dezember 1997 das sog. Ottawa-Abkommen für ein Verbot von Anti-Personen-Minen unterzeichnet. Der Vertrag umfaßt das Verbot sowohl der Entwicklung, der Produktion und der Lagerung als auch des Handels und Einsatzes von herkömmlichen Minen und modernen »High-Tech«-Minen. Die Unterzeichner verpflichten sich, existierende Minenbestände innerhalb von vier Jahren zu zerstören.

Das Ottawa-Abkommen verpflichtet außerdem zur Räumung von Minen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren. Ungeräumte Minenfelder müssen sofort gekennzeichnet werden. Staaten, die dazu in der Lage sind, sollen bei der Räumung von Minen und der medizinischen Betreuung der Opfer Hilfe leisten. Während die Herstellung einer Mine nur etwa drei US-Dollar kostet, sind die Kosten für Minenräumung mit etwa 300 bis 1.000 US-Dollar pro Mine enorm hoch.

Schwachpunkte des Ottawa-Abkommens sind die Ausnahme von Anti-Panzerminen von dem Verbot, auch wenn sie mit Anti-Personen-Minen gesichert sind. Ein weiterer Schwachpunkt ist, daß sich das Abkommen nicht auf Bürgerkriegsgebiete bezieht, in denen die Konfliktparteien oft rücksichtslos die relativ billigen Minen einsetzen.

In Kraft tritt das Ottawa-Abkommen erst, nachdem es von 40 Staaten ratifiziert wurde. Ende März 1998 hatten 125 Staaten das Abkommen unterzeichnet; sechs Staaten (Kanada, Irland, Mauritius, San Marino, Turkmenistan und der Vatikan) hatten es zu diesem Zeitpunkt ratifiziert. Enttäuschend ist die Verweigerungshaltung der USA, Rußlands, Chinas, Kubas, Nordkoreas und des Iraks gegenüber dem Abkommens.

Die Situation von Mädchen und Frauen

Mädchen und Frauen sind im Krieg besonders gefährdet. Traditionell für die Ernährung und das Wohl ihrer Kinder verantwortlich, können Frauen in Kriegszeiten diesen Aufgaben nur schwer gerecht werden. Die Wege für die Nahrungsbeschaffung, das Wasser- und Feuerholzholen verlängern sich beträchtlich. Fehlende Gesundheitsversorgung macht die Situation für schwangere Frauen und junge Mütter besonders schwierig.

Mädchen und Frauen werden in Kriegszeiten immer wieder Opfer von Vergewaltigungen. Gewalt gegen Frauen als Kriegsstrategie soll den Gegner demoralisieren und den sozialen Zusammenhalt von Familien und Dorfgemeinschaften zerstören. In Bosnien-Herzegowina wurden während des Krieges schätzungsweise 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt. Auch in Flüchtlingslagern wird Mädchen und Frauen oft Gewalt angetan. Häufig müssen sie Männern sexuell dienstbar sein, um Schutz und Nahrungsmittel zu bekommen. Es kommt auch vor, daß Frauen sich prostituieren müssen, um den Unterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern.

Kinder auf der Flucht

„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält…“ (KRK, Artikel 22:1)

Bewaffnete Konflikte und ethnisch oder religiös motivierte Spannungen haben immer zur Folge, daß Menschen entwurzelt werden und ihre Heimat verlassen müssen. 1997 waren weltweit ca. 20 Millionen Kinder auf der Flucht, davon gingen über sieben Millionen außer Landes. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Afghanistan, Bosnien und Liberia.

Kinder leiden besonders unter den Strapazen einer Flucht. Hunger, Entkräftung und Krankheiten wie Cholera, Durchfall oder Masern sind vor allem für Babys und Kleinkinder lebensgefährlich. Auf dem Höhepunkt der Krise in Ost-

Zaire starben z.B. im Lager Tingi-Tingi täglich zwischen 20 und 40 Kinder.

Besonders gefährdet sind Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden: Ganz auf sich allein gestellt, treiben sie oft tagelang im Flüchtlingsstrom, erleben das Massensterben in den Lagern und sind schutzlos der Gewalt ausgeliefert. Häufig werden sie Opfer von Vergewaltigungen oder Entführungen durch Milizen. Während des Krieges in Ruanda 1994 verloren 114.000 Kinder den Anschluß an ihre Eltern. Bis heute ist es gelungen, über 47.000 Kinder wieder mit ihren Eltern oder anderen Verwandten zusammenzubringen.

Vertriebene, die innerhalb der eigenen Landesgrenzen bleiben, sind oft in einer noch schwierigeren Lage als Menschen, die ihr Land verlassen, da sie von Hilfsorganisationen nur schwer erreicht werden. Die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung der Kinder ist deshalb meist wesentlich schlechter als in Flüchtlingslagern. Wenn Vertriebene bei Freunden und Verwandten unterkommen, kommt es häufig zu Konflikten, weil die ohnehin knappen Vorräte für mehr Menschen ausreichen müssen.

Unbegleitete Flüchtlingskinder in Industrieländern

„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind… angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, … und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.“ (KRK, Artikel 22:1)

„Können die Eltern oder andere Familienangehörige nicht ausfindig gemacht werden, so ist dem Kind im Einklang mit den in diesem Übereinkommen enthaltenen Grundsätzen derselbe Schutz zu gewährleisten wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist.“ (KRK, Artikel 22:2)

Überall auf der Welt werden Flüchtlinge trotz ihrer akuten Bedrohung an den Grenzen zurückgewiesen. Auch in Deutschland hat sich die Situation von Flüchtlingskindern seit der Einführung der »Drittstaaten- und Flughafen-Regelung« erheblich verschlechtert. Die Lage unbegleiteter Flüchtlingskinder ist besonders schwierig. Um Asyl zu erhalten, müssen sie sich einem Prüfungsverfahren unterwerfen, das ihren besonderen Schutz- und Betreuungsbedürfnissen nicht gerecht wird. Viele von ihnen sind aufgrund ihrer seelischen und körperlichen Verfassung den Anforderungen des bestehenden Aufnahmeverfahrens nicht gewachsen. Die Nationale Koalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland setzt sich für befristete Aufenthaltsgenehmigungen und die Einrichtung von speziellen Clearingstellen ein, damit in einem kindgerechten Umfeld die Lebensverhältnisse der Kinder sowie die Umstände ihrer Einreise geklärt und weitere Schritte entschieden werden können. Unbegleitete Flüchtlingskinder zwischen 16 und 18 Jahren sollten nicht wie Erwachsene behandelt werden, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Kein Kind sollte abgeschoben werden, wenn seine Betreuung und Versorgung im Heimatland nicht sichergestellt ist.

Wieviele unbegleitete Flüchtlingskinder sich in Deutschland aufhalten, ist unbekannt, da sie nicht gesondert statistisch erfaßt werden. 1996 reisten nach Angaben der Bundesregierung 2.015 unbegleitete Minderjährige unter 16 Jahren ein. Schätzungen zufolge leben allein in Hamburg 10.000 Flüchtlingskinder, 3.000 von ihnen ohne Begleitung. Hauptherkunftsländer sind der kurdische Teil der Türkei, die Bürgerkriegsstaaten Afrikas und das ehemalige Jugoslawien.

Nothilfe für Kinder und Frauen

Als verletzlichste Gruppen der Gesellschaft bedürfen Kinder und Frauen des besonderen Schutzes und der Hilfe während kriegerischer Auseinandersetzungen und den von ihnen ausgelösten Notsituationen. Die Hilfe konzentriert sich im Bereich der Überlebenssicherung auf die medizinische Hilfe, die Sicherung der Ernährungs- und Wasserversorgung sowie die Versorgung der Menschen mit Zelten, Decken und Brennstoffen.

Zu der medizinischen Versorgung gehört neben der Versorgung von akuten Krankheiten oder Verletzungen auch die langfristige Gesundheitsvorsorge. 1997 konnten im afghanischen Bürgerkrieg Feuerpausen ausgehandelt werden, in denen 3,6 Millionen Kinder gegen Polio geimpft wurden.

In Kriegszeiten wird die Wasserversorgung oft unterbrochen oder zerstört. Durch die Benutzung von schmutzigem Regen- oder Flußwasser wächst die Gefahr von Seuchen, für die Kinder besonders anfällig sind. Mit Hilfe von Tankwagen, dem Bau von Brunnen und Pumpen, der Reparatur von Wasserleitungen und Chlortabletten zur Desinfektion muß die Trinkwasserversorgung in Flüchtlingslagern und Kriegsregionen aufrecht erhalten werden.

Langfristige Hilfe

Neben der Sicherung des Überlebens spielen Bildungsmaßnahmen, die psychosoziale Hilfe, der Minenschutz und die Familienzusammenführung für Kinder in Zeiten kriegerischer Konflikte eine große Rolle.

Nothilfeeinsätze im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda haben gezeigt, wie wichtig es für Kinder ist, daß die Schule auch in Kriegszeiten weiter läuft. Regelmäßiger Unterricht und gemeinsames Lernen und Spielen bringen ein Stück »Normalität« in das Chaos des Kriegsalltags. Die Lieferung von Schulmaterial, die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den Unterricht unter Kriegsbedingungen sind die wichtigsten Elemente. Gemeinsam mit der UNESCO entwickelte UNICEF während des Krieges in Ruanda die »Schule in der Kiste« – eine Metallbox, die die Grundausstattung für den Lese-, Schreib- und Mathematikunterricht für 40 Grundschüler sowie Unterrichtsanleitungen enthält.

Das Lehrpersonal muß im Umgang mit traumatisierten Kindern geschult werden. Durch Malen, Zeichnen, Singen und Spielen erhalten Kinder die Möglichkeit, ihre schrecklichen Erlebnisse auszudrücken und zu verarbeiten. Radiosendungen und Plakate wecken Verständnis für Kinder mit seelischen Nöten. Durch gezielte Programme zur Friedenserziehung muß auf Kinder und Jugendliche eingegangen werden, deren Jugend von Krieg und Gewalt geprägt ist und die den Frieden oft erst lernen müssen. Friedenserziehung spielt eine wichtige Rolle für die Förderung des Versöhnungsprozesses eines Landes und verhindert, daß die Kinder von heute die Krieger von morgen werden.

Um Kinder besser vor den Gefahren von Landminen zu schützen, müssen Kinder in minenverseuchten Ländern durch Aufklärungsveranstaltungen und Radioprogramme über das richtige Verhalten aufgeklärt werden.

Die Geborgenheit der Familie ist wichtig für die kindliche Entwicklung. Die beste Hilfe für unbegleitete Flüchtlingskinder ist daher eine möglichst rasche Familienzusammenführung bzw. die Unterbringung bei Verwandten oder Pflegeeltern. Verlassene Kinder müssen versorgt und identifiziert, Photos oder Beschreibungen veröffentlicht werden, um Angehörige zu finden. Bis Mitte Juli 1997 wurden über 8.600 unbegleitete Kinder aus dem Osten des ehemaligen Zaire nach Ruanda ausgeflogen. 150.000 Kinder in Ruanda fanden eine Pflegefamilie. Eine ruandische Familie muß heute im Durchschnitt für 10 bis 17 Kinder sorgen. Schätzungsweise 60.000 Haushalte werden in Ruanda von Kindern geführt. Sie müssen durch regelmäßige Besuche von Sozialarbeitern sowie durch Bildungsangebote und Beratung unterstützt werden.

Die UN-Studie über Kinder im Krieg

Die Vereinten Nationen gaben 1994 eine umfassende Studie zu
den Folgen von Kriegen für Kinder in Auftrag. Zwei Jahre lang sammelte ein Forscherteam
unter der Leitung der ehemaligen mosambikanischen Erziehungsministerin Graça Machel
Informationen über die Lage von Kindern und Frauen in Kriegsgebieten und Ländern im
Wiederaufbau. Im November 1996 wurde die Studie der UN-Vollversammlung vorgestellt.
Gemeinsam mit dem UNICEF-Aktionsprogramm für einen besseren Schutz von Kindern und Frauen
im Krieg und auf der Flucht sollen die Empfehlungen eine weltweite Reform der Not- und
Wiederaufbauhilfe ermöglichen.

Eine wichtige Forderung der Studie, die Einsetzung eines
UN-Sonderbeauftragten zur Überwachung der Umsetzungen der Empfehlungen, wurde mit der
Berufung des Uganders Olara Otunnu im Jahr 1997 erfüllt. Die Forderung nach dem
weltweiten Verbot von Minen wurde durch das »Ottawa-Abkommen« vorangetrieben. Weitere
Forderungen der Studie sind:

1. Der Schutz und die Versorgung von Kindern und Frauen
müssen in Kriegs- und Friedenszeiten Vorrang haben.

2. Kinderrechtsverletzungen müssen dokumentiert und an die
Öffentlichkeit gebracht werden. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sollen zum Thema
Kinderrechte besonders geschult werden.

3. Nothilfe für Kinder muß die gesundheitliche Versorgung,
Schulunterricht und psychosoziale Maßnahmen zur Bewältigung traumatischer
Kriegserlebnisse einschließen.

4. Vergewaltigung muß weltweit als Kriegsverbrechen
geächtet werden. Militärs, Friedenstruppen und Hilfsorganisationen müssen darin
geschult werden, Kinder und Frauen vor sexueller Gewalt besser zu schützen.

5. Bei der Versorgung von Vertriebenen soll UNICEF die
Federführung übernehmen und mit Unterstützung von anderen Hilfsorganisationen gezielte
Maßnahmen für Kinder durchführen.

6. Das Mindestalter für die Rekrutierung von Soldaten soll
auf 18 Jahre angehoben werden. Soldaten unter 18 Jahren müssen sofort demobilisiert
werden und brauchen spezielle Wiedereingliederungshilfen.

7. Sanktionen müssen auf ihre negativen Auswirkungen auf
Kinder hin überprüft werden.

8. Die Ursachen der Gewalt müssen stärker bekämpft und
Konfliktlösungsstrategien entwickelt werden. Waffenlieferungen in Krisengebiete müssen
kontrolliert und weltweit geächtet werden.

Die 10 größten Herkunftsländer von Flüchtlingen
Herkunftsland Hauptasylländer Anzahl der
Flüchtlinge
Afghanistan Iran / Pakistan / GUS / Indien 2 675 000
Bosnien und Herzegowina Kroation / BR Jugoslawien /
Deutschland
1 019 000
Liberia Guinea / Elfenbeinküste / Ghana /
Sierra Leone
758 000
Irak Dschibuti / Äthiopien / Kenia /
Jemen
630 000
Sudan Uganda / Zaire / Kenia / Äthiopien 468 000
Somalia Dschibuti / Äthiopien / Kenia /
Jemen
452 000
Ruanda Burundi / Tansania / Uganda / Zaire 387 000
Eritrea Sudan 349 000
Angola Zaire / Sambia / Kongo / Namibia 324 000
Sierra Leone Guinea / Liberia / Gambia /
Elfenbeinküste
325 000
Geschätzte Zahlen von Februar 1997,
Quelle: UNHCR

Literatur

Black, Maggie (1998): Children in Conflict. A Child Rights Emergency. London.

Machel, Graça (1996): Impact of Armed Conflict on Children. Report submitted pursuant to General Assembly Resolution 48/157, A/51/306.

Stiftung Entwicklung und Frieden (1997): Globale Trends 1998. Fakten Analysen Prognosen, Frankfurt a.M.

UNICEF (1995): Zur Situation der Kinder in der Welt 1996. Frankfurt a.M..

Tanja Sieber, Soziologin, und Andrea Pütz, MA, sind Mitarbeiterinnen des Deutschen Komitees für UNICEF

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

Asylrechtsdemontage verletzt Menschenrechte

von Bettina Höfling-Semnar

Während öffentlich diskutiert und praktiziert wird, wie mit Gesetzes- und Verfahrensänderungen der angeblich die Sicherheit bedrohende Asylstrom nach Europa eingedämmt werden kann, wird die eigentliche Krise des Asylrechts nicht zur Kenntnis genommen: die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen.

Prävention wird auf diesem Hintergrund zum Mittel des Zwecks: Begrenzung des Zustroms. Völlig außer Acht gelassen wird dabei, daß mit der Beschädigung des Asylrechts gleichzeitig die wichtigsten die Völkergemeinschaft tragenden Prinzipien verletzt werden: die Gleichheit und die Würde des Menschen.

Die vielzitierte Krise des Asylrechts offenbart sich zu Beginn des neuen Jahres 1998 in mittlerweile altbekannter Härte, jedoch wie immer auf dem Kopfe stehend: Da kommen Flüchtlinge par excellence, die Kurden nämlich, deren Verfolgungs- und Bedrohungssituation durch jahrelange eindeutige Berichterstattung drastisch bekannt und durch eine überdurchschnittlich hohe Asylanerkennungsquote in Deutschland darüber hinaus richterlich abgesegnet ist, und dennoch sind es einfach »Illegale«, deren Eindringen ins Schengenland verhindert werden muß. Die Italiener, die das Loch in der Schengener Mauer diesmal zu verantworten haben, werden von den Vertragsstaaten, allen voran von Deutschlands Innenminister (!), zur Räson gebracht. Der Verdacht drängt sich auf, daß das Versenken eines Bootes mit Flüchtlingen, so geschehen 1997 mit albanischen Flüchtlingen vor der italienischen Küste, den Schengenern eher liegt, als die zumindest zeitweilige Aufnahme der Flüchtenden. Denn was sollen die Italiener auf dem Wasser eigentlich unternehmen: Am 9. Januar meldet die Tagesschau, italienische Schnellboote hätten Schlauchboote mit einigen hundert Menschen abgedrängt, dabei seien Schüsse gefallen. Schießbefehl an der Schengener Mauer? Auch an der deutschen Ostgrenze wird im übrigen auf der Flucht gestorben.

Die Kurden verursachen nicht die Krise des Asylrechts; sie sind Opfer einer mehreren Staaten zurechenbaren Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik (die bekanntermaßen auch mit deutschen Waffen exekutiert wird) und sollten im besten schlechten Falle als Flüchtlinge das Asylrecht zur Anwendung bringen können.

In den kurdisch besiedelten Gebieten im Osten und Südosten der Türkei haben die Menschenrechtsverletzungen an Kurden in den letzten Jahren an Intensität und Systematik zugenommen, direkte Kampfhandlungen, Zerstörungen von Siedlungen und zwangsweise Evakuierungen von ganzen kurdischen Dörfern durch die türkische Armee haben zu einer Fluchtbewegung in die großen Städte geführt. Doch weder in Istanbul, Ankara und Izmir, noch in den mittelgroßen Städten, die Flüchtlinge aufnehmen, ist die Situation heute ungefährlich: Auch hier kommt es zunehmend zu Übergriffen der Sicherheitskräfte (ai 1996: 53-57).

Eine inländische Fluchtalternative, wie sie von deutschen Gerichten oft beschrieben wird, existiert demnach nicht. Kurdische Flüchtlinge, die es in der Vergangenheit bis zu einer Asylantragstellung in Deutschland schafften, berichteten über weitgehendes Desinteresse der Anhörer an Berichten von Folter und an Folterspuren; Zeugen wurden selten gehört.1

ai beklagt, daß bei „zahlreichen Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Menschenrechtssituation in der Türkei verharmlost wird und ein erschreckendes Menschenrechtsverständnis deutlich wird“ (ai 1996: 55).

Dennoch liegt die Anerkennungsquote der Kurden (diese werden zwar nicht separat aufgeführt, die meisten türkischen Asylbewerber sind jedoch Kurden) bei über 20 %, zusammen mit Personen, die nach den 51 und 53 AuslG Abschiebungsschutz erhalten, sind bereits knapp 30 % der asylsuchenden Kurden allein durch die Entscheidung des Bundesamtes vor Abschiebung geschützt. Und dies, obwohl das deutsche Asylrecht nur nachweislich staatlich verfolgten politischen Flüchtlingen zusteht, nicht aber solchen, denen etwa das Dorf zerstört und der Vater erschossen oder die Mutter vergewaltigt wurden, weil das türkische Militär in diesem Dorf PKK-Anhänger vermutete.

Die Krise des Asylrechts liegt nicht im quantitativen Ansteigen der Flüchtlingszahlen. Die Krise des Asylrechts liegt vielmehr in der qualitativen Veränderung von Fluchtursachen, die jedoch weder im deutschen noch im europäischen Asyl- und Flüchtlingsrecht reflektiert werden. Dies hat zur Folge, daß es keinen problemadäquaten Flüchtlingsbegriff gibt, das heißt, es kommt zu einem Auseinanderfallen von Asyl- und Flüchtlingsschutz auf der einen Seite und von realen Fluchtursachen auf der anderen Seite.

Sowohl auf der rechtlichen als auch auf der politischen Ebene erleichtert die Diskrepanz zwischen dem üblichen Flüchtlingsbegriff und den realen Fluchtursachen die Ausblendung konkreter Verfolgungs- und Bedrohungstatbestände und die Verdrängung menschen- und asylrechtlicher Standards aus der deutschen und der europäischen Politik. Zu Befürchten stehen die faktische Demontage der Institution Asyl und die Abkehr von Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts.

Das Auseinanderfallen von Asylrecht und Fluchtursachen

Das 20. Jahrhundert, schon in seiner Mitte zu Recht als »Jahrhundert der Flüchtlinge« apostrophiert, brachte einen grundlegenden Wandel der Person des typischen Flüchtlings mit sich. Während im 19. Jahrhundert der individuell verfolgte politische Flüchtling die Regel bestimmte, brachten schon die 20er Jahre des neuen Jahrhunderts ganz neue Gruppen von Vertriebenen und Flüchtlingen hervor. Otto Kirchheimer betont die neuartige Situation: „Die Überlebenden der türkischen Armeniermassaker, die russischen »Bourgeois« der zwanziger Jahre, die europäischen Juden im Hitlerschen Europa, die spanischen Militärdienstpflichtigen, die im Bürgerkrieg auf seiten der rechtmäßigen republikanischen Regierung gefochten hatten, Angehörige der während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion auf die Proskriptionsliste gesetzten nationalen Minderheiten: alle diese Exilierten neuer Prägung entflohen der drohenden Bestrafung für was sie waren, nicht für was sie getan hatten oder künftighin zu tun vor hatten. Ihr Auftauchen gab dem Asyl eine neue Sinnbedeutung und veranlaßte die Aufnahmeländer, nach neuen Begriffsbestimmungen Ausschau zu halten.“ (Kirchheimer 1985: 515f)

Auch Hannah Arendt charakterisiert die Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg treffend: „Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern aufgrund dessen, was sie unabänderlich von Geburt sind – hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (wie im Falle der spanischen republikanischen Armee). Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach nie sein darf: er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte.“ (Arendt 1986: 459)

Neben dem politisch Verfolgten wie er für das 19. Jahrhundert typisch ist und wie er auch heute in nicht geringer Zahl um Asyl nachsucht, tauchen in immer größerer Zahl ganze Gruppen von Flüchtlingen auf, die zwar vor keiner staatlichen und keiner individuellen Verfolgung fliehen, deren Gefährdung aber der des traditionellen politisch Verfolgten in nichts nachsteht. Eine Vielzahl struktureller Gewaltverhältnisse politischer, wirtschaftlicher und sozialer Provenienz zwingen heute Menschengruppen zur Flucht. Neben die politische Verfolgung tritt die ethnische, die religiöse oder die geschlechtsspezifische. Allgemeine Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Schutz vor Übergriffen nichtstaatlicher Mächte, die Vernichtung der Lebensgrundlagen durch ökonomische oder zunehmend auch ökologische Krisen und nicht zuletzt Kriege und Bürgerkriege treiben Menschen zur Flucht.

Bis heute ist in der Formulierung des internationalen Flüchtlingsbegriffs, der sich im wesentlichen auf den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 bezieht, und des deutschen Begriffs des politisch Verfolgten diese Realität nicht reflektiert und nicht anerkannt worden:

Der Verfolgungsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht genau definiert. Menschenrechtlich orientierte Positionen betonen, daß der Verfolgungsbegriff durch die Schöpfer der GFK ursprünglich im liberalen Sinne entwickelt wurde und die Funktion hat, „ernsthafte Eingriffe wie Gefangenschaft und körperliche Mißhandlung von Maßnahmen mit ausschließlichem Diskriminierungscharakter, wie z. B. unterschiedliche Behandlung bei der staatlichen Daseinsvorsorge, zu unterscheiden.“ (Marx 1991b: 550)Aus Art. 33 GFK, der das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung eines Flüchtlings in ein Land festschreibt, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“ (;Marx 1991a: 222) gehe hervor, daß es sich bei einer asylrelevanten Verfolgung um eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit des Betreffenden handeln müsse, „was sicher einen Teil von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen umfaßt.“ (Köfner/Nicolaus 1986: 161)Das Erleiden von Menschenrechtsverletzungen verschafft jedoch noch kein Anrecht auf die Gewährung von Asyl.

Neben der Definition der Verfolgung spielt auch die Bestimmung des Verfolgers zur Begründung einer Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK eine wichtige Rolle. Aus dem Art. 1 A Absatz 2 GFK wird abgeleitet, daß der Verursacher der Verfolgung der Staat sein muß. Die Genfer Flüchtlingsdefinition stellt demnach ausschließlich auf den Verlust staatlichen Schutzes ab, d.h., Verfolgungsmaßnahmen müssen entweder vom Heimatstaat ausgehen oder ihm zumindest zurechenbar sein. Flüchtlinge jedoch, die das Land ihrer Staatsbürgerschaft aufgrund von Bürgerkriegen, Kriegen, schweren inneren Unruhen, ausländischen Interventionen oder schwerwiegenden Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlassen, können nicht die Flüchtlingseigenschaft der GFK beanspruchen (vgl. Hailbronner 1989: 37).

In der Praxis hat sich diese enge Definition jedoch nicht bewährt. Der United Nations High Commisioner for Refugees (UNHCR), der 1950 als unpolitische, humanitäre und nicht-operative Organisation für die Unterstützung und Anleitung der rechtlichen Integration der vermeintlichen »restlichen« europäischen Flüchtlinge gegründet wurde und dem eine der GFK fast identische Flüchtlingsdefinition zugrunde liegt, mußte früh schon über seine Tätigkeitsbegrenzung und seine Flüchtlingsdefinition hinausgehen: Mit dem Konzept der guten Dienste (»good offices«) wurde UNHCR nach Beschluß der Generalversammlung der Vereinten Nationen erstmals 1957 für chinesische Flüchtlinge in Hongkong aktiv, später dann vor allem für Flüchtlingsgruppen aus afrikanischen Staaten. Dem Konzept der guten Dienste lag die Schwierigkeit zugrunde, im Falle von Massenfluchtbewegungen nicht die individuelle Flüchtlingseigenschaft eines jeden überprüfen zu können. Deshalb lag es nahe, eine ganze Gruppe als Flüchtlingsgruppe zu betrachten. Darüber hinaus wurde akzeptiert, daß es neben den Mandatsflüchtlingen auch Menschen gibt, die sich in »flüchtlingsähnlichen« Situationen befinden, auch wenn nicht Furcht vor Verfolgung die Flucht motivierte (vgl. Jackson 1982).

Anläßlich des Flüchtlingsproblems in und aus dem Sudan erwähnte 1972 eine Resolution der UN-Generalversammlung erstmalig Flüchtlinge und displaced persons zusammen, 1976 wurden diese in einer anderen Resolution quasi dem Mandat des UNHCR unterstellt: „ The eminently humanitarian charakter of the activities of the High Commissioner for the benefit of refugees and displaced persons…“ (Resolution 3454, 1975)

Mitte der 90er Jahre nimmt UNHCR ausdrücklich Abstand von Unterscheidungen zwischen Flüchtlingen, Rückkehrern, Binnenvertriebenen und einheimischer Bevölkerung: In den Grenzregionen beispielsweise von Liberia und Sierra Leone oder Äthiopien und Somalia unterscheidet sich die Situation dieser vier Gruppen nicht. „Aufgrund dieser Entwicklungen läßt sich mittlerweile sowohl bei externen Mitarbeitern als auch bei den humanitären Helfern die Tendenz feststellen, nicht mehr so stark auf die Flüchtlingsdefinition nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahre 1951 zu pochen, sondern allgemeiner von Vertriebenen, entwurzelten Bevölkerungen und unfreiwilligen Migranten zu sprechen.“ (UHNCR 1995: 177)

Eine ähnliche Diskrepanz, wie sie sich zwischen dem unveränderten Rechtsschutzmandat des UNHCR und den jeweiligen pragmatischen Lösungen, die letztlich zu einer Mandatserweiterung führten, abbildet, läßt sich auch im Verhältnis zwischen dem Asylrecht und der bundesdeutschen Asylpraxis der 70er und 80er Jahre nachweisen. Auf der einen Seite steht ein zwar ursprünglich als Grundrecht formuliertes und liberal ausgelegtes Asylrecht, das in der Zeit seiner Beanspruchung durch Flüchtlinge jedoch immer restriktiver ausgelegt wurde, auf der anderen Seite aber eine Praxis, die Flüchtlingen trotz Asylablehnung temporären Schutz gewähren mußte, weil diese aus verschiedenen Gründen, die oftmals Bedrohungs- und Verfolgungstatbestände enthielten, einfach nicht abschiebbar waren (vgl. Höfling-Semnar 1995: 96-139). Neben den politisch begründeten Restriktionen und Maßnahmen zur Desintegration der Flüchtlinge in Deutschland ist vor allem die Zielrichtung des Art. 16 Absatz 2 Satz 2 GG ausschließlich auf den politisch, daß heißt staatlich und individuell und nachweisbar Verfolgten die Ursache dafür, daß viele tatsächlich an Leib und Leben bedrohte Flüchtlinge außerhalb des Asylrechts zu stehen kommen.

Im April 1988 etwa wurden 60% aller abgelehnten Asylbewerber aus politischen, rechtlichen und humanitären Gründen nicht abgeschoben – die Hälfte wegen Gefahr für Leib und Leben und schweren Menschenrechtsverletzungen (Grenz 1992). Die Problematik ist auf europäischer Ebene ähnlich: Hier wurden 1993 von 553.000 Asylbewerbern in Westeuropa nur 49.000 Personen als Asylberechtigte anerkannt, 30% der Asylantragsteller bekamen jedoch legitime Gründe zuerkannt, im Land zu verbleiben (UHNCR 1995: 216).

Diese offensichtlich problematische Situation wird öffentlich als »Krise des Asylrechts« bezeichnet und von interessierter Seite als innenpolitischer Schlagstock genutzt. Mit der deutschen Grundgesetzänderung, die das Asylgrundrecht vor allem durch die Drittstaatenregelung und durch das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten bis zur Unkenntlichkeit einschränkt, wird eine Neurorientierung in der Flüchtlingspolitik versprochen, die vor allem an dem Kern des Problems, nämlich den Fluchtursachen ansetzen will.

Das Kernproblem des Asylrechts aber, nämlich der Sachverhalt, daß im Flüchtlingsbegriff bzw. im Begriff des politisch Verfolgten die Fluchtursachen nicht reflektiert werden, wird eher verschärft.

Flüchtlingspolitik leitet den Ausstieg aus der Asylpolitik ein

Die Neuorientierung der Flüchtlingspolitik, die ein Hauptaugenmerk nun auf die Herkunftsländer und auf das Ziel eines Verbleibs der Flüchtlinge – allerdings in einer befriedeten Umgebung – im Land ihrer Staatsangehörigkeit legt, ist nicht eine Erfindung deutscher Politik, sondern ist Thema des internationalen Flüchtlingsschutzes.

Die Eskalation der Flüchtlingssituationen in Afrika, in Südostasien und in Pakistan 1979/80 geben sowohl dem UNHCR als auch den mit den Flüchtlingen konfrontierten Aufnahmeländern Veranlassung, über präventive Maßnahmen zur Verhinderung der Entstehung von Flüchtlingsströmen nachzudenken. Obwohl die 35.Generalversammlung der Vereinten Nationen schon 1980, übrigens auf eine deutsche Initiative reagierend, über »Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme« diskutierte, dauerte es noch bis 1987, bis der Generalsekretär der UN als ersten Schritt einer neuen, präventiven Flüchtlingspolitik ein »Forschungs- und Informationsbüro« (Office of Research and the Collection for Informations, OCRI) einrichtete.

Das Problem liegt auf der Hand: Präventive Flüchtlingspolitik kann nicht »nur« humanitäre Politik sein, sondern fordert auf zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten, zur Zusammenarbeit und zu selbstkritischer Analyse wirtschaftlicher, politischer und sozialer Verflechtungen. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden vom Völkerbund und von den Regierungen präventive Lösungen der Flüchtlingsproblematik diskutiert und gesucht.

Die Auflösung der bipolaren Weltordnung hat der internationalen Gemeinschaft schließlich mehr Möglichkeiten an die Hand gegeben, alternative Lösungsstrategien für Flüchtlingsprobleme zu entwickeln; viele Gedanken aus der Zwischenkriegszeit wurden wieder aufgegriffen. Während UNHCR früher auf eingetretene Krisen nur reagieren und auch nur im Aufnahmeland aktiv werden konnte, veränderte sich das Vorgehen vor allem dahingehend, daß die Verantwortung des Herkunftslandes der Flüchtlinge ins Blickfeld rückte. Ein Konzept zur Prävention bündelt verschiedene Maßnahmen wie Beobachtung und Frühwarnung, diplomatische Intervention, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Konfliktlösung, Bereitstellung von Informationen und Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten, die alle ohne eine Mitarbeit der fluchtverursachenden Länder nicht durchführbar sind.

Die notwendige Verlagerung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in die Herkunftsländer birgt jedoch Gefahren, die UNHCR angesichts der restriktiven Asylgewährungspraxis verschiedener Flüchtlingsaufnahmeländer in den 90er Jahren deutlich formuliert. UNHCR befürchtet, daß „sich die Übernahme präventiver und auf das Herkunftsland konzentrierter Strategien auf die Bereitschaft der Staaten auswirken wird, die Institution des Asyls und die Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechts aufrechtzuerhalten.“ (UHNCR 1995: 59) Viele Regierungen hätten in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß sie des Flüchtlingsproblems überdrüssig seien, und als einfachste Lösung den Verbleib der Flüchtlinge in den Grenzen des eigenen Landes anstrebten.

Mit dem neuen Paradigma eröffnen sich für flüchtlingsabwehrende Staaten ungeahnte Möglichkeiten der Legitimation: „Leider können einige der zentralen Elemente des neuen Ansatzes zu Flüchtlingsproblemen dazu benutzt werden, diese restriktiven Strategien zu legitimieren. (…) Wie UNHCR und andere humanitäre Organisationen verweisen auch Regierungen zunehmend auf die Notwendigkeit, Flüchtlingsbewegungen zu verhindern, Vertreibungen zu begrenzen und das Recht von Menschen auf das Leben in ihrer Heimat anzuerkennen. Es besteht jedoch die Gefahr, daß Interpretation und Umsetzung solcher Konzepte stark differieren.

In konstruktiver Form kann Prävention beispielsweise dazu benutzt werden, die Ursachen erzwungener Migration zu beseitigen. Sie kann jedoch auch einfach nur darin bestehen, Barrieren zu errichten, um die Opfer von Verfolgung an der Einreise in ein anderes Land zu hindern. (…) Auch das Recht zu bleiben kann fehlinterpretiert werden. Wenn es sich durchsetzen soll, muß es als Recht eines Menschen verstanden werden, in Frieden und Sicherheit in seinem eigenen Land oder in seiner Gemeinschaft zu leben. Es darf nicht zu einer Vorschrift umfunktioniert werden, die Menschen zum Ausharren in Situationen zwingt, in denen sie nicht ausreichend geschützt werden können und es keine Lösung gibt.“ (UHNCR 1995: 60)

UNHCR beschreibt damit in einer für seine Verhältnisse wenig diplomatischen Form die triste Realität internationaler Flüchtlingspolitik am Ende des 20. Jahrhunderts: viel Rhetorik bei sinkender Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe, geschweige denn zur Flüchtlingsaufnahme.

Die Entwicklung der bundesdeutschen Asylpolitik läßt sich dabei als Negativbeispiel heranziehen: Der Verweis auf die Fluchtursachen dient der Legitimation einer anvisierten Zugangsverhinderungspolitik.

Solange bis Ende der 70er Jahre überwiegend Kommunismusflüchtlinge aus Osteuropa um Asyl in der Bundesrepublik nachsuchten, beschränkte sich die Wahrnehmung von Fluchtursachen auf die Kenntnis der Systemgrenzen zwischen Ost und West und auf die selbstverständliche Annahme, daß der Westen Gegenpol der politischen Verfolger sei. Mit dem Auftauchen von Flüchtlingen aus anderen Kontinenten, vor allem aus Asien, an denen sich die sprichwörtliche Asyldebatte entzündete, reduzierte sich die in parlamentarischen Asyldebatten formulierte Kenntnis der Fluchtursachen auf den Topos der massenhaften Wirtschaftsflucht. Die bis heute gültige Problemsicht, daß „90 % aller Asylbewerber nicht aus politischen Gründen Asyl beantragen“ (Spranger 1980), wurde ins öffentliche Meinungsbild zementiert.

Seit 1988 läßt sich eine Umorientierung in der asylpolitischen Thematisierung erkennen: Ausführliche und mitunter problemadäquate Beschreibungen von Fluchtursachen leiten parlamentarische Beiträge, Gesetzesinitiativen und Memoranden ein (vgl. Höfling-Semnar 1995: 153-175).

Beispielhaft betont 1989 das »Memorandum zur Flüchtlingsproblematik«, veröffentlicht vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Dringlichkeit eines verstärkten politischen Handlungsbedarfs angesichts wachsender Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und gleichzeitig abnehmender Aufnahmebereitschaft von Industrie- und Entwicklungsländern. Das in der Folgezeit wenig beachtete Memorandum räumt der Beschreibung von Fluchtursachen großen Raum ein und verweist neben den konventionellen Flüchtlingen, die auch vom UNHCR anerkannt werden, auch auf die Existenz eines „neuen Typus von Flüchtlingen“: Menschen, die beispielsweise vor einem „Klima allgemeiner Gewalt und Repression, vor lebensbedrohenden Bürgerkriegen, vor der Zerstörung des traditionellen Lebensraumes aufgrund schwerer ökologischer Belastungen oder vor unerträglich gewordenen Lebensbedingungen aufgrund von Überbevölkerung, Armut und Arbeitslosigkeit (…)“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 2)fliehen. Nicht zu leugnen sei die Tatsache, daß die „gängige Unterscheidung zwischen »politischen« Flüchtlingen, »Armutsflüchtlingen«, »Umweltflüchtlingen« und »Wirtschaftsflüchtlingen« problematisch ist, zumal gerade die Dialektik von politischer Gewalt und Mißachtung von Menschenrechten einerseits und ökonomisch-sozialen Problemen andererseits nur allzu bekannt ist.“ (Wissenschaftlicher Beirat 1989: 3)

In entwicklungpolitischen Debatten gewinnt die Beschreibung von Fluchtursachen und die Betonung der Notwendigkeit einer faktischen Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs eine zunehmende Bedeutung. 2 Aber auch im asylpolitischen Kontext läßt sich eine, wenn auch zaghafte, Differenzierung bei der Beschreibung der Fluchtursachen nachweisen; Begriffe wie »Asylmißbrauch« und »Wirtschaftsflüchtling« werden vorsichtig hinterfragt.3

Zu Beginn der neunziger Jahre ist es in asylpolitischen parlamentarischen Debatten üblich, sich über Fluchtursachen und die Dimension der Weltflüchtlingsproblematik zu verständigen; überwiegend dient solch eine Beschreibung allerdings zur Begründung, warum das Asylrecht kein Instrument der Problembewältigung darstellt. 4

Deutlich wird diese Haltung am Beispiel der Flüchtlingskonzeption der Bundesrepublik Deutschland von 1990, in der Ansätze für eine zukünftige ressortübergreifende Flüchtlingspolitik versammelt sind, wobei das Ziel einer Bekämpfung der Fluchtursachen erste Priorität gewinnt. Neben allgemeinen Aussagen über flüchtlingsrelevante Aufgaben der Außenpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Wirtschaftshilfe stehen verschiedene Rückführungsprogramme im Mittelpunkt der formulierten Aufgaben. Auch für eine zukünftige Asylpolitik werden Rückführungsprogramme entwickelt: Neben Maßnahmen zur Anreizverminderung sei ein wichtiges Ziel die freiwillige Rückkehr oder die Weiterwanderung von Flüchtlingen. Neben viel Rhetorik – so etwa die Formulierung, der von der UN empfohlene Satz von 0,7 % des BSP als Entwicklungshilfe sei zu bekräftigen, dies vor dem Hintergrund, daß ihn Deutschland heute gerade wenig mehr als zur Hälfte erfüllt – fällt vor allem das völlige Fehlen von Vorschlägen über die zukünftige Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern auf. Fluchtursachenverhinderung heißt auf deutsch: Das „Problem (der Asylpolitik) spitzt sich auf die Frage zu, wie verhindert werden kann, daß das Asylrecht zum Mittel der Einwanderung von Hunderttausenden wird, die nicht politisch verfolgt sind.“ (Bundesminister des Inneren 1990: 9)

Die Asylgrundrechtsänderung vom Mai 1993 schließlich bestätigte den anvisierten Ausstieg aus dem politisch gewollten und rechtlich adäquat umgesetzten Asylrecht: Obwohl die Formulierung des alten Art. 16 II 2 GG, „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im neuen Art.16 GG beibehalten wurde, wird diese durch die neuen Sätze 2 – 4 bis zur Verkehrung ins Gegenteil eingeschränkt. Darüber hinaus werden Bleiberechtsregelungen, die beispielsweise Bürgerkriegsflüchtlingen zumindest temporär Aufenthalt gewährten, bis auf Ausnahmen generell abgeschafft.

Die Neuregelung des verfassungs- und verfahrensrechtlichen Asylrechts bedeutet damit eine weitgehende Präzisierung und Perfektionierung bisheriger asylpolitischer Konzeptionen: umfassende Zugangsverhinderung in Form der Drittstaatenregelung als Kernstück der Asylgrundrechtsänderung, Verfahrensbeschleunigung auf Kosten des Rechtsschutzes und soziale Degradierung und Kriminalisierung von Flüchtlingen, die in Abschiebegefängnissen den bisherigen bundesdeutschen Tiefstand bürokratischer Menschenbehandlung erleiden müssen.

Menschenrechte und Demokratie

Eine Asylpolitik, deren formuliertes Ziel die Abwehr und Rückkehr von Flüchtlingen ist und die sich durch Desintegration und Kriminalisierung von Flüchtlingen ideologische Legitimation besorgt, beschädigt nicht nur das Asylrecht, sondern den Flüchtlingsschutz allgemein.

Dem Asylrecht kommt im normativen und theoretischen System der Vereinten Nationen eine sensible Indikatorfunktion zu. Zum einen ist das Asylrecht selbst ein Teil der auf die Wahrung des Friedens und die Gewährung der Menschenrechte beruhenden Prinzipien, auf die die UN sich beruft, zum anderen aber quasi ein Provisorium zugunsten der Opfer der Mißachtung dieser Prinzipien.

Wer das Asylrecht in Zeiten seiner Beanspruchung beschränkt oder quasi abschafft bis auf Reste eines staatlichen Gnadenrechtes, der verzichtet, wie die deutsche Politik, nicht nur darauf, die umfassende Herausforderung bundesdeutscher, europäischer und völkerrechtlicher Menschenrechtsschutzregelungen, verursacht durch neue Fluchtursachen und moderne Massenfluchtbewegungen, überhaupt erst zu formulieren, sondern der zerstört einen der empfindlichsten und gefährdeten Indikatoren über den Zustand grundlegender Prinzipien der Staatengemeinschaft.

Zur Disposition steht nichts weniger als das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten. Denn es wird nicht nur der Zugang zum Asyl erschwert und die soziale Lage der Flüchtlinge verschlechtert, sondern es werden die Vorstellungen über die Gleichheit aller Menschen, auf denen die deutsche Verfassung genau wie die Charta der Vereinten Nationen beruhen, diskreditiert zugunsten des vorgeblichen Kampfes um Selbstverteidigung. Die westlichen Demokratien, von denen diese menschenrechtswidrige Tendenz ausgeht, werden konstruiert als erlesener Menschengarten von Privilegierten:

„Die Restriktionen des Asylrechts und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheit und die Menschenwürde bergen die Gefahr, daß sich die kollektive Vorstellung von Demokratie verändert. Denn sie verfälschen ihr authentisches Projekt und präsentieren die Demokratie nicht als universellen Wert, sondern als Privileg von bestimmten Gruppen, und innerhalb dieser Gruppen als Diktatur der Mehrheit, die sich von der Achtung grundlegender Rechte lossagt.“ (Sernese 1995)

Die rituelle Kampagne gegen die Kurden, die diese ohne Ansehen ihrer Fluchtgründe und Lebensumstände, quasi prophylaktisch, vor Grenzübertritt als Illegale stigmatisiert, ist ein Mosaiksteinchen auf dem Weg der Abschwächung des Gleichheitsgrundsatzes.

Literatur

ai (1996): Zwei Jahre neues Asylrecht. Auswirkungen des geänderten Asylrechts auf den Rechtsschutz von Flüchtlingen. Bonn.

Arendt, Hannah(1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986.

Basso-Sekretariat, Hrsg. (1995): Festung Europa auf der Anklagebank. Dokumentation des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa. Münster

Bundesminister des Innern (1990): Flüchtlingskonzeption für die Bundesrepublik Deutschland. Ansätze für eine ressortübergreifende Politik, Bonn.

Grenz, Wolfgang (1992): Verschärfungen des Asylrechts treffen auch die politisch Verfolgten, in: Ludwig, Ralf / Ness, Klaus / Perik, Muzaffer (Hg.), Fluchtpunkt Deutschland, Marburg, S. 26.

Hailbronner, Kay (1989): Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreise- und Asylrechts. Baden-Baden.

Höfling-Semnar, Bettina (1995): Flucht und deutsche Asylpolitik. Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung. Münster.

Jackson, Ivor C. (1982): Flüchtlinge – Ausländer mit besonderem Schicksal, in: Otto Benecke Stiftung (Hg.), Ausländische Mitbürger – In der Fremde daheim? Chancen der Massenmedien. Baden-Baden, S. 35-46.

Kirchheimer, Otto (1985): Politische Justiz. Frankfurt.

Köfner, Gottfried / Nicolaus, Peter (1986): Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland. 2 Bde., Mainz/München.

Marx, Reinhard (1991a): Asylrecht Bd. 1. Baden-Baden.

Marx, Reinhard (1991b): Asylrecht Bd. 2. Baden-Baden.

Resolution 3454 (XXX) vom 9. 12. 1975, zitiert nach Köfner/Nicolaus (1986: 177).

Senese, Salvatore (1995): Völkerrecht, Demokratie und Asylrecht, in: Basso-Sekretariat (1995), S. 149.

Spranger, CDU/CSU (1980): BT PlPr 8/205 vom 6.3.1980, S. 16471.

UNHCR (1995): Zur Lage der Flüchtlinge in der Welt. UNHCR-Report 1995/96. Bonn.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1989).

Anmerkungen

1) Dies berichtet Herbert Leuninger, Europareferent von PRO ASYL, auf dem Basso-Tribunal zum Asylrecht in Europa, in: Basso-Sekretariat (1995:75f). Zurück

2) Vgl. etwa den Antrag der Regierungskoalition vom März 1988 über den entwicklungspolitische(n) Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen“, BT Drs 11/1954 vom 7. 3. 1988, oder die entwicklungspolitische Debatte“ des Bundestages, BT PlPr 12/94 vom 3. 6. 1992. Zurück

3) Vgl. etwa Entschließungsantrag des Landes Hessen, BR Drs 113/89 vom 2. 3. 1989; Ausschußempfehlungen zum hessischen Entschließungsantrag, BR Drs 113/1/89 vom 10. 4. 1989. Ministerpräsident Späth in BR PlPr 597/89, vom 10. 2. 1989, S. 9. Hirsch in BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15032. Zurück

4) Vgl. etwa Bundesinnenminister Schäuble in: BT PlPr 11/195 vom 9. 2. 1990, S. 15025/15026. Ders. in BT PlPr 12/51 vom 18.10. 1991, S. 4214 / 4215. Ministerpräsident Späth in: BR PlPr 597/89 vom 10. 2. 1989, S. 9. Zurück

Dr. Bettina Höfling-Semnar arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt/Main

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Die Ausgrenzung von Minderheiten

Psychologische Erklärungen

von Ulrich Wagner

Minderheiten, also zahlenmäßig kleine oder machtlose Gruppen, haben häufig mit Ablehnung, negativer Stereotypisierung, Diskriminierung bis hin zu tätlichen Angriffen zu kämpfen. Die Psychologie allein kann die Entstehung solcher Ausgrenzungen nicht erklären. Dazu ist die Analyse gesellschaftlicher Prozesse notwendig. Die Beachtung psychischer Prozesse ist aber unabdingbar, um den Umgang mit Minderheiten verstehen zu können. Der folgende Beitrag erläutert zunächst einige wichtige psychische Prozesse zum Verständnis von Ausgrenzung, nämlich das Phänomen der Wahrnehmungsakzentuierung, den Prozeß der Differenzierung zwischen Gruppen und die in diesem Zusammenhang besonders bedeutsame Rolle von Konflikten (vgl. auch Wagner, 1985; Wagner & Zick, 1990). Daran sollen der Wert, aber auch die Grenzen psychologischer Modelle deutlich werden. Schließlich werden, darauf aufbauend, einige sozialwissenschaftliche Technologien zur Verbesserung konflikthafter Begegnungen mit Minderheiten angesprochen.

Die menschliche Informationsverarbeitung scheint so angelegt zu sein, daß sie große Unterschiede in der wahrgenommenen Welt überbetont und kleinere eher vernachlässigt. Diese Akzentuierung läßt sich am besten am Beispiel einer typischen Versuchsanordnung verdeutlichen (vgl. Tajfel & Wilkes, 1964).

Jeder Versuchsperson werden nacheinander verschiedene Linien von unterschiedlicher Länge präsentiert. In der hier relevanten Klassifikationsbedingung werden die kürzeren Linien immer zusammen mit dem Buchstaben A, die längeren immer in Kombination mit dem Buchstaben B dargeboten. Die Aufgabe der Versuchspersonen besteht darin, die Länge der Linien einzuschätzen. Die Ergebnisse zeigen, daß die Etikettierung mit den Buchstaben A und B die Versuchspersonen veranlaßt,

  • die Längenunterschiede zwischen der längsten Linie der Klassen A und der kürzesten Linie der Klasse B zu überschätzen (der sogenannte Inter-Klassen Effekt) und
  • die Unterschiede zwischen der kürzesten und längsten Linie innerhalb jeder Klasse zu unterschätzen (der Intra-Klassen Effekt).

Der allgemeine Satz lautet: Unterschiede zwischen klassifizierten Stimulusserien werden überschätzt, Unterschiede innerhalb klassifizierter Stimulusserien nivelliert. Der beschriebene Mechanismus hat offensichtlich die Funktion, die Umwelt zu vereinfachen. Seine Bedeutung für die hier interessierende Fragestellung liegt ebenfalls auf der Hand, wenn man sich vorstellt, als »Stimulusmaterial« würden statt Linien Menschen verwendet (vgl. z.B. Lilli & Lehner, 1971): Unterschiede zwischen Menschen werden als größer wahrgenommen, wenn diese Menschen nach einem beliebigen Kriterium in unterschiedliche Kategorien eingeordnet werden können, wenn sie beispielsweise wissen, daß sie unterschiedlichen Fußballvereinen anhängen, daß sie der einen oder anderen Nation angehören, unterschiedliche Hautfarbe haben oder unterschiedliches Geschlecht usw. Die Unterschiede werden geringer, wenn Menschen feststellen, daß sie unter irgendeinem Gesichtspunkt derselben Kategorie zugehören: Die Fans von Bayern München und Borussia Dortmund können wunderbar gemeinsam Siege der deutschen Fußball-Nationalmannschaft feiern (vgl. auch Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987; Wagner, 1991).

Differenzierung zwischen Gruppen

Die Akzentuierungstheorie beschreibt, warum Menschen, wenn sie feststellen, daß sie unterschiedlichen Kategorien zuzurechnen sind, Unterschiede zwischen diesen Kategorien besonders hervorheben (vgl. auch Doise, 1978). Die Erfahrung lehrt jedoch: Wenn Menschen unterschiedlichen Gruppen zugehören, dann hat das häufig nicht nur zur Folge, daß die Unterschiede zwischen diesen Gruppen betont werden, sondern auch, daß die Gruppenmitglieder die Mitglieder der jeweils anderen Gruppe abwerten, diskriminieren und mit physischer Gewalt attackieren. Die Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik machen das auf erschreckende Weise deutlich. Eine solche Abwertung von Mitgliedern von Fremdgruppen kann die Akzentuierungstheorie nicht erklären.

Zu Anfang der siebziger Jahre wurde in Bristol, England, eine zur Erklärung dieses Problems wichtige Serie von Experimenten durchgeführt, die sogenannten Minimal-Group-Untersuchungen (Tajfel, Billig, Bundy & Flament, 1971). Die Versuchspersonen wurden nach Zufall, z.B. indem sie Lose aus einer Trommel ziehen konnten (Billig & Tajfel, 1973), in zwei Gruppen eingeteilt. Im zweiten Teil der Untersuchung wurden sie dann unter einem Vorwand aufgefordert, an zwei andere Versuchspersonen nach vorgegebenen Verteilungsmatrizen (vergl. Abbildung 2) Geldbeträge zu verteilen. Wer diese beiden anderen Personen waren, wurde nicht gesagt. Mitgeteilt wurde lediglich, daß die eine dieser Personen derselben Gruppe angehörte wie die jeweilige Versuchsperson und die andere der alternativen Gruppe. Außerdem wurde ausgeschlossen, daß man sich selbst Geldgewinne zuteilen konnte.

Die Ergebnisse zeigen durchgängig, daß unter den geschilderten Bedingungen das Mitglieder der eigenen »Gruppe« systematisch gegenüber dem Mitglied der anderen Gruppe bevorzugt wird. Vor die Alternative gestellt, entweder dem Mitglied der eigenen Gruppe einen maximalen Gewinn und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen nur unwesentlich kleiner Gewinn zuzuweisen oder den Gewinn für das Mitglied der eigenen Gruppe zu reduzieren und gleichzeitig dem Mitglied der fremden Gruppe einen deutlich niedrigeren Gewinn zukommen zu lassen, wird in der Regel die zweite Alternative bevorzugt. Die Befunde der Minimal-Group-Untersuchungen konnten in verschiedenen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern mit unterschiedlichen Versuchspersonen repliziert werden, vergleichbare Ergebnisse zeigen sich außerdem, wenn man statt einer Geldverteilungsaufgabe gegenseitige Beurteilungen von Gruppenmitgliedern erhebt (Wagner, 1994).

Die Befunde der Minimal-Group Untersuchungen machen deutlich:

  • Schon sehr künstliche und auch für die Beteiligten erkennbar artifizielle Klassifikationen von Menschen reichen aus, um bei den Beteiligten ein Bewußtsein von Gruppen und Gruppenmitgliedschaften zu schaffen.
  • Gruppen entstehen aus der Abgrenzung von anderen Gruppen.
  • Intergruppensituationen sind konfliktträchtig. Die bloße Aufteilung in zwei Gruppen ist hinreichend, um eine relative Abwertung der fremden und eine Aufwertung der eigenen Gruppe zu evozieren.

Erklärt werden die Ergebnisse der Minimal-Group-Untersuchungen mit der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979). Die psychologischen Grundannahmen dieser Theorie lassen sich zu drei Sätzen zusammenfassen (Wagner & Zick, 1990).

  • Menschen definieren einen Teil ihrer Identität, ihre soziale Identität, über die Mitgliedschaft in Gruppen.
  • Menschen streben nach einer positiven Identität.
  • Eine positive soziale Identität ergibt sich aus einem positiven Vergleich zwischen einer relevanten Ingroup mit einer oder mehreren Vergleichsgruppen.

Gruppenzugehörigkeiten haben nach dieser Theorie also eine identitätsstiftende Funktion. Um eine positive Identität aus ihrer Gruppenzugehörigkeit ableiten zu können, sind die Gruppenmitglieder bemüht, die eigene Gruppe positiv von wichtigen fremden Gruppen abzugrenzen. Zwei Voraussetzungen für diesen Prozeß müssen gegeben sein: Zum einen müssen die Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizieren. Erst wenn einer Person ihre nationale Gruppenzugehörigkeit relevant ist, wird sie auf Mitglieder fremder nationaler Gruppen mit Intergruppendiskriminierung reagieren. Zum zweiten muß eine Gruppe in einem Interaktionskontext für die Gruppenmitglieder relevant, salient sein: In einer Diskussion um ethnische Konflikte werden ethnische Gruppenmitgliedschaften salient und weniger die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Fußball-Fan-Gruppe.

Die bislang beschriebenen Mechanismen machen deutlich: Die Psychologie kann erklären, warum Gruppenmitglieder feindseliges Intergruppenverhalten zeigen. Sie kann aber nicht verständlich machen, warum es gerade nationale, ethnische, fußballrelevante, das Geschlecht oder beliebige andere Kriterien sind, die zur Gruppeneinteilung herangezogen werden. Die Definition von Gruppen und Gruppengrenzen und die inhaltliche Ausgestaltung der gegenseitigen Gruppenstereotype ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Die Antwort auf die Frage, wer eine Minderheit bildet, ist in politischen und sozialen Abläufen zu suchen. Die Entwicklung der sogenannten Asylproblematik macht dies deutlich. Das Thema Asyl und damit die Outgroup der Asylsuchenden wurde durch eine zunehmend schärfere politische Debatte seit Beginn der achtziger Jahre geschaffen, bekam gesellschaftliche Relevanz. Nicht nur die Asylsuchenden wurde so als wichtige Minderheit konstruiert, gleichzeitig wurden in der politischen Debatte auch die Stereotypen über diese neue Fremdgruppe mitgeliefert, nämlich daß sie „uns“ die Arbeitsplätze, Wohnungen, Frauen und Kindergartenplätze wegnehmen würden. Solche Stereotypen werden deshalb leicht akzeptiert, weil sie das Bedürfnis zur positiven Absetzung der eigenen Gruppe, hier der Deutschen, gegen eine fremde Gruppe, die Asylsuchenden, so hervorragend bedienen. Das Zusammenspiel der beschriebenen politischen und psychischen Einflüsse macht schließlich die Serie gewalttätiger Ausschreitungen zunächst gegen Asylsuchende, später auch gegen Arbeitsmigranten, erklärbar.

Die Bedeutung von Intergruppenkonflikten

Die in den Minimal-Group-Untersuchungen beobachtbare Neigung zur Abwertung von Mitgliedern fremder Gruppen tritt unter bestimmten Bedingungen verstärkt auf. Ein besonders wichtiger Umstand ist das Vorliegen von Konflikten zwischen Gruppen. Auch dieses Phänomen läßt sich anhand einer berühmten Versuchsserie verdeutlichen, die Muzafer Sherif und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits in den vierziger und fünfziger Jahren in den USA durchgeführt haben (vgl. z.B. Sherif & Sherif, 1969). Sherif hat mehrfach „normale protestantische Mittelschichtsjungen von durchschnittlicher Intelligenz“ zu Zeltlagern auf dem Lande eingeladen. Die etwa 11jährigen Jungen kannten sich in der Regel vorher nicht. Die Jungen wurden bei ihrer Ankunft im Zeltlager zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt und ihrer Gruppenzugehörigkeit entsprechend getrennt untergebracht. Für etwa eine Woche ging jede der beiden Gruppen ihren Aktivitäten nach. Es gab zwar schwache Hinweise auf gegenseitige Abgrenzungen zwischen den beiden Gruppen, die nach den Minimal-Group-Untersuchungen zu erwarten sind, aber keine ausgeprägten Feindschaften. Das änderte sich drastisch im zweiten Teil der Untersuchungen: In dieser Phase wurden die Gruppen nämlich zu arrangierten Wettkämpfen gegeneinander aufgefordert. Dazu gehörten alle Formen von Mannschaftssportarten, die nur einen Gewinner zulassen.

Den Mitgliedern der Gruppe, die die mehrtägigen Wettkämpfe erfolgreich abschloß, wurden materielle Gewinne versprochen.

Die Wettkampfsituation hatte eine dramatische Verschlechterung des Klimas zwischen den Gruppen, bis hin zur physischen Auseinandersetzung, zur Folge, gleichzeitig stieg die Solidarität innerhalb der Gruppen. An diesen Untersuchungsergebnisse wird deutlich, wie Auseinandersetzungen um beschränkte materielle Ressourcen zu Intergruppenkonflikten führen können: Wenn die Deutschen annehmen, Einwanderer konkurrierten mit ihnen um die wenigen freien Arbeitsplätze, sollte das zur Ausländerfeindlichkeit beitragen. Wichtig ist dabei, daß die Gruppenmitglieder nur glauben müssen, sie stünden mit den Mitgliedern der fremden Gruppe in einem Konflikt um materielle Güter. Der beschriebene Mechanismus ist somit politisch einsetzbar: Diejenigen, die die öffentliche Meinung kontrollieren, können über die Suggestion von materiellen Konflikten zwischen Gruppen fremde Gruppen und deren gesellschaftlichen Ausschluß kreieren, vielleicht, um auf diese Weise von anderen gesellschaftlichen Problemfeldern abzulenken.

Abbau von Vorurteilen

Sherif hat in einigen seiner Untersuchungen auch nach Möglichkeiten gesucht, Feindseligkeiten zwischen Gruppen abzubauen. Die erfolgreichste Strategie war, die Gruppen mit einem Problem zu konfrontieren, dessen Lösung beide Gruppen anstrebten und das beide Gruppen nur gemeinsam lösen können. Beispielsweise wurde der LKW, der für die Versorgung des Ferienlagers eingesetzt wurde, so präpariert, daß er nicht ansprang. Die Mitglieder einer der beiden Gruppen waren zu schwach, den LKW anzuziehen, nur durch gemeinsamen Einsatz beider Gruppen war das gemeinsame Ziel erreichbar. Die Verfolgung gemeinsamer übergeordneter Ziele kann auch darin bestehen, einen gemeinsamen äußeren Feind abzuwehren. In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele dafür, daß die gemeinsame Auseinandersetzung mit einem äußeren Feind zur Reduktion von Konflikten zwischen vormals verfeindeten Gruppen beiträgt – zumindest für die Zeit der äußeren Bedrohung.

Aus psychologischer Sicht bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten, um individuelle Ressentiments gegen Minderheiten abzubauen, in der Terminologie der Sozialpsychologie, um gegen individuelle Vorurteile gegen Mitglieder fremder Gruppen anzugehen. Die Maßnahmen sollen Ignoranz, Angst und Ablehnung zwischen den Gruppen reduzieren. Je nach theoretischer und politischer Position soll damit eines von zwei Zielen erreicht werden: Entweder die Auflösung von Gruppengrenzen und die Umgestaltung von intergruppalen zu interpersonalen Begegnungen, d. h. Ausländer und Deutsche sollten als Individuen und nicht länger als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppen interagieren. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, daß solche Individualisierungen von Intergruppenbeziehungen zwar die konkrete Interaktion zwischen je zwei Individuen verbessern können, nicht jedoch die ablehnenden Haltungen zur jeweils anderen Gruppe insgesamt (Hewstone & Brown, 1986). Außerdem stoßen solche Strategien häufig auf den Widerstand von Minderheiten, z.B. von Migranten, die ihre Herkunft nicht verleugnen wollen. Oder das Handlungsziel kann darin bestehen, den Gruppenmitgliedern Möglichkeiten aufzuzeigen, mit den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe umzugehen, ohne daß die Interaktionspartner dazu ihre Herkunft, d.h. ihre Gruppenmitgliedschaft, völlig in den Hintergrund stellen müssen. Dies entspricht der Idee einer multikulturellen Gesellschaft (van Dick et al., im Druck).

Die Verfahren lassen sich weiterhin danach gruppieren, ob sie primär auf Interaktionen oder Informationen aufbauen. Interaktionen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen wirken besonders dann konfliktreduzierend, wenn sie unmittelbare persönliche Begegnungen realisieren, die Gruppenmitglieder zumindest in der Interaktionssituation statusgleich sind und wenn sie gemeinsam ein oder mehrere übergeordnete Ziele verfolgen (vgl. Sherif & Sherif, 1969). Kooperative Intergruppeninteraktionen zum Abbau von gegenseitigen Vorurteilen lassen sich beispielsweise in Form kooperativen Unterrichts einsetzen. Dazu werden Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Gruppen zu gemischten Kleingruppen zusammengebracht. Die Einzelmitglieder einer solchen Kleingruppe verfügen über unterschiedliche Informationen, beispielsweise Versatzstücke einer Biographie; das Unterrichtsziel kann in der Kleingruppe nur erreicht werden, wenn alle Mitglieder dieser Kleingruppe ihren spezifischen Beitrag leisten. Solche Programme sind in den USA und in Israel sehr erfolgreich eingesetzt worden, auch wir konnten in dritten und vierten Klassen in NRW die Wirksamkeit solcher Maßnahmen mit ethnisch gemischten Gruppen nachweisen (vgl. Wagner & Avci, 1993).

Im Zusammenhang mit den Arbeiten von Sherif wurde deutlich, daß die Auseinandersetzung um begrenzte Ressourcen, die Feindseligkeiten zwischen Gruppen häufig zugrunde liegt, oft nur auf Hörensagen, vor allem aber auf mediale Vermittlung zurückgeht. Auch diejenigen, die voller Überzeugung behaupten, die Türken nähmen „uns“ die Arbeitsplätze weg, haben den konkreten Konfliktfall kaum persönlich erlebt. Solche Fehlinformationen sind durch Informationen auch wieder richtigzustellen. Zwei Strategien lassen sich hierbei unterschieden: Die Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen „uns“ und den Fremden dort, wo solche Gemeinsamkeiten existieren. Dies ist oft genug der Fall: Die vermeintliche Frauenfeindlichkeit des Islam läßt sich auch in christlichen Religionen finden. Zuweil sind Unterschiede zwischen Gruppen aber real existent, ihre Nichtbeachtung ist weitgehend unmöglich. In solchen Fällen gilt es, die historischen Ursachen der Unterschiede aufzudecken und das Verhalten der Anderen damit verständlich und weniger bedrohlich zu machen.

Literatur

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Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Phillips-Universität Marburg

Editorial

Editorial

von Albert Fuchs

Rassismus und Totalitarismus seien keine unabwendbaren Naturkatastrophen; sie seien verschuldet und ihre Anfänge lägen im kleinen. Das war der Tagespresse zufolge der Kern der Botschaft des deutschen Außenministers zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag im Land der Täter. Wörtlich erklärte Klaus Kinkel 52 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz: „Wir Deutche tragen in besonderer Weise Verantwortung dafür, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.“

All das ist nun gewiß nicht neu, aber deswegen auch nicht überflüssig und noch weniger falsch. Im Gegenteil! Dennoch stört mich einiges an diesen wohlklingenden Worten. Zunächst: Was meint Kinkel eigentlich, wenn er uns Deutsche in besonderer Weise für die Erinnerung an den Holocaust, an diese bis dahin unerhörte Behandlung von Minderheiten durch die Mehrheit eines Staatsvolks, in die Pflicht genommen sieht? Geht es um eine Erinnerung um der Erinnerung willen? Oder geht es darum, daß wir uns aufgrund dieser Erinnerung in besonderer Weise verantwortlich dafür sehen sollten, daß sich das Erinnerte nicht wiederholt? Das ist m.E. ein höchst bedeutsamer Unterschied. Denn so sehr ein gesteigertes Verantwortungsbewußtsein in diesem zweiten Sinn ein besonderes Verantwortungsbewußtsein für die Erinnerung an den Holocaust voraussetzen mag, so wenig ist es damit gegeben. Schließlich pflegen ja auch Alt- und Neu-Nazis die Erinnerung!

Doch kann man nicht darauf vertrauen, daß ein Mitglied der Bundesregierung die »politisch korrekte« Erinnerung fördern will und sich für ein geschärftes Verantwortungsbewußtsein in einem integralen Sinn einsetzt? Ich denke: das erste vielleicht, das zweite keineswegs! Damit bin ich bei meinem tieferen Unbehagen gegenüber wohlklingenden Worten »von oben« zum Thema Holocaust u.ä.: Selbst wenn Kinkel – oder wer auch immer seitens der Regierenden sich zu diesem Thema äußert – ein integrales Verständnis von der politisch-moralischen Verantwortung Deutschlands und der Deutschen haben und vertreten sollte, er oder sie ist unglaubwürdig, er oder sie wird durch die herrschende minoritäts- und ausländerpolitische Praxis, die ja doch von ihm oder ihr mit zu verantworten ist, fortlaufend Lügen gestraft.

Den neuesten Coup diesbezüglich landete Innenminister Kanther knapp 14 Tage vor dem Holocaust-Gedenktag: Seit dem 15. Januar dürfen Türken, Marokkaner, Tunesier und Ex-Jugoslawen unter 16 Jahren, anders als bisher, nur noch mit einem Visum in die Bundesrepublik einreisen, und die hier geborenen und/oder aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen aus diesen ehemaligen Anwerberstaaten benötigen nun eine Aufenthaltsgenehmigung. Der zweite Teil der neuen Verordnung betrifft rund 600.000 in der Bundesrepublik geborene und lebende Kinder und Jugendliche – 600.000 von einem Tag auf den anderen strukturell ausgegrenzt!

Kanthers Diskriminationsakte ist jedoch lediglich ein Beispiel von vielen für die Wiederbelebung eines »amtlichen Rassismus« in Deutschland. Nur an ein zweites sei noch erinnert: In namentlicher Abstimmung votierte im November des vergangenen Jahres die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für eine von der Regierungskoalition vorgeschlagene Verschärfung des Ausländerrechts; u.a. schreibt diese Neuregelung zwingend vor, einen Ausländer – auch einen als asylberechtigt anerkannten politisch verfolgten – abzuschieben, wenn er zu mindestens drei Jahren Haft verurteilt wird. Ausländer sollen in einem solchen Fall also doppelt bestraft werden; für sie gilt die grundgesetzlich garantierte Gleichheit vor dem Gesetz nur noch auf dem Papier (falls der Bundesrat dieser Novelle zustimmt).

Rechnet man zu den Vorgängen dieser Art die gravierenden minoritäts- und ausländerpoltischen Versäumnisse und Unterlassungen der Regierungskoalition hinzu – vor allem den Verzicht auf eine Reform des völkisch gefärbten deutschen Staatsbürgerrechts und den hinhaltenden Widerstand gegen eine Zuwanderungs- und Antidiskriminierungsgesetzgebung –, wird vollends deutlich, daß der diagnostizierte amtliche Rassismus den »Beginn im kleinen« längst hinter sich gelassen hat; er ist längst nicht mehr (nur) Sache der Denk- und Handlungsweise einzelner Individuen – auch nicht einzelner Regierungsmitglieder –, sondern bereits fest in die Organisation des Miteinanders von Mehrheit und Minderheit(en) hierzulande verwoben.

Probleme im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit(en) sind jedoch keine deutsche Spezialität. Auf die Wiederkehr der deutschen Gespenster war hier näher einzugehen, weil es im vorliegenden Heft um diese Gespenster eben nur am Rande oder einschlußweise geht. Angst vor »dem Fremden«, Vorurteile gegenüber »den anderen«, Diskriminierung von Minoritäten, Ausländerfeindlichkeit und die Verwebung dieser Gefühls-, Denk- und Handlungsweisen in die Organisation der Gesellschaft scheinen geradezu zur »condition humaine« zu gehören. Die hier zum Schwerpunktthema »Mehrheiten und Minderheiten« veröffentlichten Arbeiten sind zwar auf die Analyse konkreter Zustände und Vorgänge angewiesen; es geht jedoch durchweg um Aufklärung über Erscheinungsweisen, Entstehungsbedingungen, Funktionen und Bearbeitungsmöglichkeiten dieser Eigenart des menschlichen Soziallebens als anscheinend ubiquitäre Eigenart.

Ihr Albert Fuchs

Mehrheiten versus Minderheiten

Mehrheiten versus Minderheiten

Zur Kritik erklärungsbedürftiger Konzepte

von Christian P. Scherrer

Thema dieses Artikels sind jene Akteure, die bis heute, wie so oft in der Geschichte der Moderne, aus dem System der Nationalstaaten »herausfallen«, mit schweren Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Rede ist von nicht-dominanten Gruppen im Staat. Jeder Staat hat sie, die ethnischen Minderheiten. Im 20. Jahrhundert wurden Minderheitenfragen in Europa wiederholt zum Anlaß genommen, Kriege zu führen. Es handelt sich also wahrlich nicht um ein zweitrangiges Phänomen. C.<0> <>P. Scherrer untersucht den Inhalt von Begrifflichkeiten, befaßt sich mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen, erarbeitet Merkmale zur Definition ethnischer Gemeinschaften und kommt zu der Schlußfolgerung, daß das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung kein Recht auf Sezession beinhaltet.

Wer die Frage nach dem Inhalt von Begriffen wie Mehrheit und Minderheit stellt, sticht in ein Wespennest von Problemen. Beide Begriffe sind einerseits an Form und Größe des jeweiligen Staates gebunden und somit von jeder Veränderung dieser Parameter abhängig. Ein anschauliches Beispiel: Vor unseren Augen zerfiel die Sowjetunion in fünfzehn Nachfolgestaaten, wodurch Hunderte von neuen Minderheiten produziert wurden. Andererseits kommt in den beiden Begriffen eine tiefer verwurzelte Ebene zum Ausdruck, in der Frage nach der ethnisch-kulturellen Basis der Identitäten von Minderheiten und Mehrheiten, von Ethnien und Nationen. Eine weitgehend unbedachte Voraussetzung der Idee des Nationalstaates war die Annahme einer ethnisch-homogenen Basis der Nation, d.h. die Behauptung der Identität von Ethnie und Nation.

Ethien, Völker oder Staatsnationen erscheinen als Mehrheiten oder Minderheiten quasi wertneutral »im demographischen Kleid«. Staaten wollen brave Steuerzahler und folgsame einheitliche »Bürger« (gestern noch Untertanen) haben, die sich in erster Linie als Teil des staatlichen Gemeinwesens definieren. Abweichungen von der Norm sind unerwünscht. Seitens der Staatsklassen wurde über Jahrzehnte der Versuch gemacht, Anderes gleichzumachen und Fremdes zu assimilieren. Anpassung an den jeweiligen »Nationalcharakter« war gefordert. Majoritäre Ethnizität erhielt die Weihe des Nationalen. Minoritäre Ethnizität bzw. das Ethnische schlechthin wurde im politischen Diskurs vorwiegend negativ besetzt, mit Konnotationen wie primitiv, rückständig oder irrational. Das Ethnische und Fremdkulturelle sollte »absterben«. Entgegen den Prognosen der Politik- und Sozialwissenschaften über die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Ethnizität in den letzten Jahrzehnten keineswegs an Bedeutung verloren.

Ethnizität und Identität

Das Gegenteil trat ein: Die Bedeutung und Politisierung des Ethnisch-Kulturellen hat sich in Gewaltkonflikten, zivilen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Aus- und Abgrenzungen bis hin zu Statusfragen verstärkt. Kulturelle Besonderheiten wurden zu identitätsstiftenden Emblemen von Minderheiten. Ethnizität ist in diesem Beitrag die Bezeichnung für eine Vielzahl von Mobilisierungsformen, die letztlich auf die autonome Existenz spezifisch ethnischer Formen der Vergesellschaftung Bezug nehmen und diese politisieren. Kämpfe sozialer Klassen und ethnischer Gruppen lassen sich dabei nicht sauber trennen; bisweilen entspricht die Klassengrenze der ethnischen, oft überschneiden sich die beiden.

Die Bildung ethnisch-kultureller Identität kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern ist das nicht zwangsläufige oder automatische Resultat von Interaktionsprozessen innerhalb einer ethnisch-kulturellen Gruppe, zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und zwischen Ethnie(en) und Staat(en). Von diesen drei Konfliktbereichen wird oft nur der zweite interethnische Bereich beachtet, meist in der Form von Minderheitenkonflikten im Norden und angeblich tribalistischen Konflikten im Süden. Gerade das für den Ethno-Nationalismus signifikante konfliktuelle Verhältnis zwischen Ethnien und Staat(en) wird hingegen vernachlässigt. Ethnische Identität kann z.B. als das Bewußtsein kultureller Eigenständigkeit oder Andersartigkeit interpretiert werden. Dieses kollektive Bewußtsein ist nicht der naturwüchsige Reflex objektiver kultureller Kennzeichen und auch nicht eine Sache »freier Wahl«; es steht aber immer in einem konfliktuellen Zusammenhang.

Die im Zusammenhang mit ethno-nationalen Konflikten oft gebrauchten Begriffe Minderheit vs. Mehrheit sind erklärungsbedürftig. Charakteristika, die eine nationale Minderheit als ethnische Gruppe oder ein indigenes Volk zu einer Nation ohne eigenen Staat machen, bleiben aus machtpolitischen Gründen umstritten. Festlegungen gewinnen heute an politischer Relevanz. Das Verhältnis von nationalen Minderheiten und Staaten kann nicht mehr ausschließlich als innere Angelegenheit deklariert werden, sondern ist vermehrt Teil der internationalen Beziehungen.

Zum Begriff der nationalen Minderheit

Der Begriff der Minderheit und die Realität, in der Minderheiten geschaffen werden und leben müssen, weist eine Vielzahl von Facetten auf, die oft kaum berücksichtigt werden. Diese Bezeichnung ist relativ jung und erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. Minderheit ersetzte den älteren Begriff der Nationalität und betont einseitig die Beziehung zum Staat. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint, daß der Begriff der Minderheit grundsätzlich askriptiver Natur ist:

  • In der Regel wird staatlicherseits definiert, was eine Minderheit ausmacht und auf welchen Personenkreis der Begriff anwendbar ist. Der Staatsapparat ist dominiert von oder im Besitz einer angebbaren ethnischen Gruppe, die sich selbst als Mehrheit definiert, was bisweilen demographisch gesehen nicht zutrifft. (So sind die Malaien in Malaysia keine demographische, sondern eine politische Mehrheit; dasselbe gilt für die Russen in der ehemaligen UdSSR sowie für die Abessinier – Amharen, Tigrai – in Äthiopien.) Der Begriff der Mehrheit ist politisch-territorialer Natur; für sein »Gegenstück« gilt dies ebenso.
  • Minderheiten sind in aller Regel die Mehrheit in den von ihnen bewohnten oder beanspruchten Gebieten. Der Staat versucht oft, solche sog. Minderheiten in ihren Gebieten durch Ansiedlung von Angehörigen des Staatsvolkes zu majorisieren. (Zu größeren Umsiedlungsaktionen kam es in Indonesien, in Äthiopien unter Mengistu und in Bangla Desh).
  • Oft gibt es kein demographisch mehrheitsfähiges Staatsvolk. Nationale Zensen und demographische Statistiken stellen (für alle Akteure) nur ein weiteres Kampfgebiet dar. Statistiken werden üblicherweise nach politischen Vorgaben ausgerichtet.
  • In Extremfällen ist die als Minderheit apostrophierte ethnische Gruppe nur machtmäßig gesehen eine politische Minderheit, stellt aber die demographische Mehrheit (z. B. die Oromo in Äthiopien oder die Maya-Völker in Guatemala. Alle Minderheiten Burmas stellen zusammengenommen die demographische Mehrheit).

Der Begriff der Minderheit ist auch aus einer Serie von »internen« Gründen erklärungsbedürftig. Viele Nationalitäten, welche sich in ihren historischen Rechten von den (neuen) Staaten eingeschränkt sehen, bedrängt, bedroht oder verfolgt werden, verstehen sich selbst nicht als Minderheit. Sie teilen die sozialpsychologischen Charakteristika von Minderheiten nicht; einige pflegen im Gegenteil einen selbstbewußten Nationalismus:

  • Nationalen Minderheiten, die von der dominanten ethno-nationalen Gruppe meist als untergeordnete Segmente komplexer(er) Staatsgesellschaften angesehen werden, erhalten spezielle phänotypische und kulturelle »Eigenheiten« zugeschrieben. Solche »Merkmale« werden von der so bezeichneten Gruppe i.d.R. als befremdlich oder kränkend empfunden. Angehörige solcher Minderheiten fühlen sich von den dominanten Segmenten der Staatsgesellschaften verachtet (z.B. Elemente des Gegensatzes Indios/Latinos in Lateinamerika), mißbraucht und politisch benutzt.
  • Mitgliedschaft in ethnischen Minderheiten beruht gleichwohl auf Deszendenz (reale oder konstruierte Abstammung), deren kohäsive Kräfte nachfolgende Generationen zusammenhalten (z.B. bei den Indianern Nordamerikas oder den Roma in Europa), selbst dann, wenn spezifische phänotypische oder kulturelle Eigenheiten für Außenstehende nicht bemerkbar sind oder sich objektiv verlieren (wie z.B. bei den Nachgeborenen von Arbeitsmigranten in den nördlichen Metropolen).
  • Minderheiten teilen mit vielen traditionalen und indigenen Gesellschaften die Tendenz oder Verpflichtung auf Endogamie, haben wenig oder keinen politischen Einfluß und werden marginalisiert (z.B. als billige Arbeitskräfte in bestimmten Sektoren).
  • Traditional oder tribal strukturierte minoritäre Gesellschaften unterscheiden und reproduzieren sich aufgrund ihrer Nichtintegration (oder Teilintegration) in die Marktökonomien; sie entwickeln eine Vielfalt von autonomen, selbstversorgenden Produktionsweisen (am deutlichsten bei Nomaden- oder Wildbeutergesellschaften).

Das Begriffspaar der nationalen Minderheit hat sich im Diskurs zur Minderheitenfrage und in der zwischenstaatlichen Politik in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt. Einerseits ist dies eine Folge der vermehrten Aufmerksamkeit, die sich in Europa nach dem Kalten Krieg auf die konfliktive Minderheitenfrage richtete, wobei die Minderheitenfrage immer eng mit der Frage der Menschenrechte verbunden ist. Andererseits bedeutet die plötzliche Konjunktur für diese Begriffskombination, daß eine Art Kompromißformel gefunden wurde, welche den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost- und Westeuropa überbrücken bzw. vereinheitlichen sollte. Die OSZE richtete ein Hochkommissariat für Nationale Minderheiten ein (vgl. Scherrer, 1996, S. 218-257).

Das Ethnische an nationalen Minderheiten

Der grundlegende Begriff des Ethnischen ist nicht klar definiert und wird in der Ethnologie in gewissen Grenzen kontrovers aufgefaßt. Die Vielfalt der von den verschiedenen ethnologischen Schulen angebotenen Zuordnungen ist groß; eine Kombination der eingängigen Verortungen ist aber aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und Standards kaum möglich. Die am häufigsten angeführten Nennungen sind gemeinsame Abstammung, Rasse, gleiche Kultur, Religion, Klasse und Sprache(vgl. auch Zimmermann, 1992). Davon sind die drei Nennungen Rasse, Klasse und Religion nicht sinnvoll:

Die ethnische Form der Vergesellschaftung ist von derjenigen der sozialen Klassen zu unterscheiden. Deren Bereiche und Grenzen sind zwar oft deckungsgleich (Klassentrennung entlang ethnischer Linien), können sich in komplexeren Gesellschaften aber auch überschneiden oder – wie in egalitären Gesellschaften – ausschließen. Rasse oder Religion als Kriterien sind gänzlich abzulehnen: Rasse ist als Kategorie schwer belastet; europäische Rassentheorien waren integraler Teil kolonialer Rechtfertigungsideologien. Mit Religion ist ein Teilbereich der ideologischen Superstruktur gemeint; im Rahmen der Kolonialexpansion bedeutet die Durchsetzung einer bestimmten, dort fremden Religion in den meisten Fällen eine Implikation bzw. ein Resultat der kolonialen Unterwerfung.

Wenn von Attributen einer ethnischen Gemeinschaft die Rede ist, denken die meisten Menschen zuerst an Religion. Dies scheint erstaunlich angesichts des empirischen Tatbestandes, wonach importierte (Kolonial-) Religionen und synkretistische Varianten bei den weltweit zwischen 2500 und 6500 Ethnien weit häufiger und/oder dominanter sind als indigene Religionen. Religion ist für Huntington das primäre Kriterium zur Definition dessen, was er unter Zivilisation versteht (Huntington, 1996). Religion kann in der Tat kein ethnisches Merkmal sein, sondern ist – bis zur Moderne – eher ein Merkmal des Staates bzw. seiner Formation innerhalb eines zivilisatorischen Rahmens.

Welche Attribute definieren eine ethnische Gemeinschaft?

Einer unter mehreren möglichen Zugängen zum Thema berücksichtigt Attribute, die auf Bündeln von »Besonderheiten« einer bestimmten Gruppe basieren, welche als »ethnische Merkmale« verstanden werden. Solche Attribute sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant. Oft werden sie erst in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Die Attribute einer ethnischen Gemeinschaft stehen im Rahmen der Ethnologie als Disziplin nicht fest. Es gibt jedoch einen tendenziellen Konsens zumindest bei wenigen Merkmalen. Aus meiner Sicht betreffen diese Merkmale minimal:

1. eine historisch gewachsene oder wiederentdeckte Gemeinschaft von Menschen, welche sich größtenteils selbst reproduziert,

2. einen eigenen Namen, der oft nichts anderes als »Mensch« bedeutet,

3. eine spezifische, andersartige Kultur, insbesondere eine eigene Sprache, bestimmte Vorstellungen vom Verhältnis zur Natur und zur Welt (Kosmologie),

4. ein kollektives (ethnisches) Gedächtnis oder geschichtliche Erinnerung, einschließlich seiner Mythen (Gründermythen gemeinsamer Abstammung), und

5. Solidarität unter den Mitgliedern, was ein Wir-Gefühl vermittelt.

Diese Attribute stellen keine feststehende Check-Liste dar, wohl aber eine Annäherung an das Prinzip des Ethnisch-Kulturellen, dessen Elemente noch hinterfragt, im konkreten Fall spezifiziert und gegen jene der Nation und Zivilisation abgegrenzt werden sollen.1

Hypothesen und theoretische Vorentscheidungen

Ethnische Zugehörigkeit wird aus der Sicht der Betroffenen (emisch) im Regelfall mitnichten als ideologisch produziert aufgefaßt. Sie ist aber andererseits nicht ein quasi organischer Prozeß, vermittelt durch die spezifische Sozialisation als Angehörige(r) einer distinkten sozialen Gruppe. Umgekehrt zur Hypothese der ideologischen Konstruktion oder gar der »Erfindung«2 sprechen einige Autoren von einer Zugehörigkeit aufgrund von traditionaler ethnischer Solidarität, die sich auf Gruppen mit langer geschichtlicher Kontinuität, hoher Kohärenz und sozialer Kohäsion wie z.B. Clans und andere tribale Einheiten bezieht, und welche eine fast naturwüchsige Form ethnischer Solidarität darstelle.

Die Hypothesen zum Thema liegen also ungewöhnlich weit auseinander. Vorerst ist es heuristisch unabdingbar, das Referenzsystem anzugeben und die theoretischen Axiome zu bezeichnen. Aussagen über Gruppenzugehörigkeit und persönliche Identität können je nach den Referenzbedingungen und dem geschichtlichen Kontext unterschiedlich ausfallen. Die ethnische und soziokulturelle Identität eines Individuums variiert:

  • je nach Standort bzw. Standpunkt des Beobachters;
  • Fremdzuordnung und Eigenidentifikation können u.U. sehr verschieden sein;
  • Konfliktsituationen können radikale Veränderungen bewirken.

In der Situation der Bedrohung können einzelne Elemente persönlicher und kollektiver Identität überhöht werden bzw. an Einfluß verlieren. Dabei spielt sowohl die Instrumentalisierung von Mechanismen der Abgrenzung durch die Politik (im Sinne einer Ausgrenzung) eine Rolle, als auch der Rückgriff auf – im Rahmen friedlicher Koexistenz – gesellschaftlich unbewußte Elemente von Gruppenidentität. Identität konstituiert sich über Abgrenzungsprozesse, die nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfinden und deren Modalitäten nicht frei und eigenständig bestimmbar sind. Abstrakte Verschiedenheit von Anderen ist unproblematisch; die Erfahrung konkreter Bedrohung durch Andere bzw. die Konstruktion eines Überlegenheitsgefühls gegenüber Anderen sind dagegen Resultate von Ausgrenzungs- und Polarisationsprozessen.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Aus emischer Sicht ist eine Form gemeinsamer Abstammung zentral. Daß es sich nicht um faktische Abstammung handeln muß, sondern i.d.R. um eine putativ-mythische oder »fiktive«, wird oft übersehen. Weitere zentrale Elemente, welche über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bestimmen, wie die Reproduktionsfähigkeit als Gruppe, gemeinsame kulturelle Konfigurationen und ein sogenanntes Wir-Gefühl, welches Gruppensolidarität impliziert, mögen als zu allgemein gesehen werden, um im Endeffekt präzise empirische Befunde über die ethnische Dimension politischer Vorgänge in einer Konfliktsituation zu ermöglichen. Die nachhaltige Beschädigung zentraler Elemente von außen (oder innen) ruft aber in jedem Einzelfall bestimmte Formen des Widerstandes hervor, die vom Rückzug bis zum bewaffneten Aufstand reichen.

Die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen – und damit die Abgrenzbarkeit der Ethnien – ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, trotzdem scheinen viele Ethnologen und Soziologen solchermaßen definierte Völker als eine Art »Inseln für sich« zu betrachten, die zwecks Beschreibung isoliert, willkürlich aus ihrem sozialen Zusammenhang und ihrem inter-ethnischen Kommunikationsraum herausgenommen werden. Das Überbetonen einzelner Elemente, wie die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kultur oder die soziale Dimension, welche ethnische Gruppen als eine bestimmte Form sozialer Organisation sieht, erscheint problematisch. Nach Barth ist das als zentral angesehene Attribut einer gemeinsamen Kultur eher Implikation.3 Kultur wird oft in fetischisierter Form zur Postulierung einer abstrakten Einheit politisch von oben verordnet und zwecks »nationaler Eindeutigkeit« mißbraucht.4

Eigene Sicht und Fremdidentifikation

Relevant ist die Frage nach der Art und Form der kollektiven und individuellen Wahrnehmung. Von Relevanz sind dabei die Unterscheidungen in Selbst- bzw. Fremd-Identifikation und die Innen/Außen-Perspektive. Nicht nur objektive kulturelle Unterschiede (Differenzen an sich) sind demnach in vielen Fällen zur Identifikation einer bestimmten Gemeinschaft relevant, sondern jene kulturellen Ausdrucksformen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft selbst als signifikant angesehen werden.

Der Signifikanz bezüglich ethnischer Andersartigkeit, die gewissen Unterscheidungsmerkmalen seitens einer bestimmten Gruppe und ihrer Nachbarn zugeschrieben wird, entsprechen oft keine oder ungenügende, »objektiv« von außen feststellbare Differenzen. Diese für Außenstehende nur nuancenhaft verschiedenen Expressionen werden von den Mitgliedern als interne Signale für ethnische Grenzziehungen bzw. als Embleme kultureller Differenz benutzt, während wiederum andere Merkmale in ihrer Bedeutung für die Akteure – aber nicht unbedingt für den Beobachter – zweitrangig erscheinen. Gerade unter den Bedingungen repressiver Diskriminierung sind jedoch auch Fälle der Übernahme von Fremdzuweisungen bekannt, allerdings unter Auswahl bestimmter Elemente oder in modifizierter Form. Die Überbetonung der Fremdzuweisung bei der »Definition« der Ethnie(n), oft mit Kritik am kolonialen social engineering verbunden, läuft Gefahr, den Gegenstand selbst zu negieren. Das Phänomen langer geschichtlicher Kontinuität der Ethnien und ihre (trotz Dynamik und Wandelbarkeit) bemerkenswerte Kohärenz und soziale Kohäsion kann auf diese Weise nicht erklärt werden.

Über welche Symbole und in welcher Intensität ethnische Differenz inszeniert wird, bzw. innere Kohäsion und Abgrenzung gegen außen geschaffen wird, ist variabel; dies ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie dem sozialen und politischen Umfeld, der Art und Weise der Interaktion auf drei Ebenen (innerethnisch, interethnisch, gegenüber dem Staat) und dem Grad der eingebildeten oder realen Bedrohung. Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft bleibt nicht unbeeinflußt von gegenwärtigen Umständen und anhaltenden Bedrohungen. Bezüglich historischer Erinnerungen interethnischer Beziehungen kann dies zu einem kritischen Faktor werden. Bei der Frage der Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sollte aber berücksichtigt bleiben, daß wichtige Inhalte auf generativen Erfahrungen beruhen, die sich nicht problemlos umdeuten lassen.

Die Gewichtung verschiedener Embleme oder Symbole verschiebt sich in der Zeit. Aus dem Arsenal kultureller Symbole werden einige ausgewählt, um die Differenz von »Wir-Gruppe« und Fremdgruppe(n) zu markieren. Die Medien solcher Abgrenzungsprozesse können je nach (Bedrohungs-) Situation andere sein. Welches Emblem aufgegriffen wird, hängt keineswegs nur von den Interessen ethnischer Eliten ab. Die Existenz ethnischer Eliten als gegeben vorauszusetzen, ist oftmals schon eine ideologische Annahme. In vielen Fällen (z.B. bei akephalen und egalitären Gesellschaften) bestehen gar keine Eliten. Die Betonung der Eliten führt generell zu einer Vernachlässigung der dynamischen Beziehung von Eliten und Massen.

Von der nationalen Minderheit zur Nation ohne Staat

Eine nationale Minderheit kann innerhalb des Rahmens sozio-politischer und völkerrechtlich relevanter Kategorisierung als eine Nationalität verstanden werden. Diese Begriffsverschiebung ist als Ergebnis eines politischen Prozesses zu sehen, der in den meisten Fällen konfliktiv verlief. Machtfaktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle.5 Analysen, die gesellschaftliche Bewertungen, Adäquanz und Machtfragen außer Acht lassen, genügen nicht. Der Eroberungs- und Dominanzaspekt ist von zentraler Bedeutung. Dieser konstitutive Aspekt wurde bei der Ausarbeitung neuer Instrumente des Internationalen Rechts zum Schutz indigener und bedrohter Völker anerkannt (Un-CHR, 1993).

Ethnisch-kulturellen Gruppen, die sich nicht zur Nation(alität) umbilden, droht unter den realen, feindlichen Bedingungen der internen oder externen Kolonisation die Vernichtung als eigenständige Einheiten. Eine aufgrund äußeren Drucks seitens der Mehrheit umgebildete, kohäsive, nicht-dominante ethnische Gruppe kann als Nationalität bezeichnet werden, wenn sie trotz der Dominanz- und Souveränitätsansprüche von außen 1. einen Kommunikations- und Interaktionsraum darstellt, d.h. eine eigene Öffentlichkeit zu konstituieren bzw. zu erhalten vermag,

  • über eine mit ihr identifizierbare besondere Produktions- und Lebensweise verfügt und zu reproduzieren vermag,
  • eine wie immer geartete politische Organisation entwickelt,
  • ein angebbares Gebiet bzw. ein begrenztes Territorium besiedelt (bzw. zu verteidigen vermag), und
  • unverwechselbar ist, da ihre Mitglieder sich selbst als solche identifizieren bzw. durch andere einer bestimmten Gemeinschaft zugeordnet werden.

Meine Begriffsbestimmung zu nationaler Minderheit als Ethnie bzw. Nationalität enthält somit insgesamt zehn Kriterien bzw. Charakteristiken.6 Ethnische Merkmale sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant und werden in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Bestimmte sozio-kulturelle Praktiken können gänzlich unwichtig sein, in einer anderen Umgebung aber plötzlich extrem wichtig werden. Auch Hautfarbe, Statur, Physiognomie oder andere phänotypische Eigenschaften sind in vielen Gesellschaften der Dritten Welt (für sie selbst) von untergeordneter Bedeutung, in westlichen Gesellschaften gehören physische Charakteristiken aber zu den zentralen Unterscheidungsmerkmalen, sowohl zu Hause gegenüber Migranten und Flüchtlingen, wie in der Fremde, z.B. am Urlaubsort.

Eine ethnisch-nationale Gemeinschaft, welche über einige zentrale oder alle diese Attribute verfügt, entwickelt eine bestimmte unverwechselbare Kollektividentität; sie könnte im politischen Kampf das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung beanspruchen. Dies impliziert keineswegs ein Recht auf Sezession, das von der Staatengemeinschaft nie anerkannt würde. Die Schaffung neuer Staaten folgt nach politischer Opportunität. Das Völkerrecht spricht von »Völkern«, meint jedoch Staaten; die meisten Staaten sind Vielvölkerstaaten. In der politisch-rechtlichen Praxis wird das Selbstbestimmungsrecht, selbst in der Form interner Selbstverwaltung, nicht respektiert und umgesetzt, weil die meisten Völker in der Regel nicht als solche anerkannt werden, sondern als nationale Minderheiten. Die Rechtsbasis dazu wären die Menschenrechte, die in aller Regel Rechte des Individuums sind. Folglich befinden sich die Rechte ethno-nationaler Gemeinschaften in einer prekären »Grauzone« zwischen kollektivem Völkerrecht und individuellen Menschenrechten.

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Anmerkungen

1) Ethnische Gemeinschaften mögen „vorgestellte“ (Andersons imagined communities) sein, diese Vorstellung ist bedeutend konkreter und faßbarer als jene der Nation oder Zivilisation. Kulturen sind immer lokal, Zivilisationen regional (Tibi 1995, S. 11), verbunden durch Kosmologien (Galtung 1996, S. 211-222, 253ff.). Die Gleichsetzung von Kultur mit Zivilisation ist völlig unzuläßig (Huntington 1996, S. 14). Zurück

2) Im Anschluß an Anderson wurden alle möglichen Formen sozialer und politischer Organisation als Erfindung bezeichnet, so auch die Ethnie (vgl. Elwert 1989, S. 26). Zurück

3) Barth (Ed.) (1969), S. 11. Eine gemeinsame Kultur wäre also nicht eine primäre, definitive Charakteristik einer ethnischen Gruppe, weil dies (seiner Meinung nach) die zeitliche Kontinuität (von der wir ausgehen) und die formbestimmenden Faktoren ethnischer Gruppen einschränken würde. Zurück

4) Politische Folklore unterdrückt jedes Element von latent multipler Zugehörigkeit, löst Volkskultur aus ihrem sozialen Zusammenhang und überhöht die „eigene Kulturleistung“. Die Kritik einer materialistischen Kulturwissenschaft am „Fetisch Kultur“ analysiert die Strukturen der Kommunikation, Formen des gesellschaftlichen Habitus, Fragen nach Rhetorik und Oralität, Sprachgebrauch, Gemeinschaftsrituale, geschlechtspezifische Rollen sowie äußere Symbole (religiöse und politische). Zurück

5) Burgers Definition indigener Völker (1987, S. 9) berücksichtigt den Eroberungs- und Dominanzaspekt, macht jedoch unnötige Einschränkungen wie Nomadismus, Akephalität, „different world-view“. Zurück

6) Der Definitionsversuch stellt eine Verbindung von etwa je zur Hälfte subjektiven und objektiven Merkmalen dar. Die Streitfrage ist bei einigen dieser Nennungen, ob sie als »objektive Merkmale« bezeichnet werden sollen. Zumindest die Namengebung, einige kulturelle Aspekte (Sprache z.B.), die Assoziation mit einem Territorium als Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet, die Produktionsweise und der Grad der politischen Organisiertheit können als objektive, empirisch überprüfbare Merkmale gelten. Zurück

Dr. Christian P. Scherrer ist Ethnosoziologe und Konfliktforscher; Mitarbeiter am Institut für Ethnizitätsforschung und Konfliktbearbeitung (IFEK),Moers; Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR).

Flüchtlingsströme und Großmachtinteressen

Flüchtlingsströme und Großmachtinteressen

von Bettina Gaus

Wieder einmal ist in den letzten Wochen in Zusammenhang mit Afrika der Weltöffentlichkeit suggeriert worden, bei der seit langem vorhersehbaren Zuspitzung einer politischen Krise handele es sich in erster Linie um eine humanitäre Katastrophe. Bilder endloser Flüchtlingsströme und dringliche Appelle, den Notleidenden zu helfen, ersetzten weitgehend die Analyse, wie es zu der Situation überhaupt kommen konnte und welche Lösungen der Probleme vorstellbar sind.

Bei der Entwicklung im Osten von Zaire standen neben rivalisierenden Kräften der Region auch ausländische Mächte und ihre Interessen Pate. Die noch immer nicht beendete Debatte um einen militärischen UNO-Einsatz wirft ein Schlaglicht darauf, daß die Regierungen in Washington und Paris in Afrika unterschiedliche Ziele verfolgen und einander an strategisch wichtigen Punkten immer wieder ins Gehege kommen.

Frankreich ist eine der wenigen Industrienationen, die in Afrika noch Machtpolitik im alten Stil betreiben. Regierungen kommen an die Macht und werden gestürzt von Gnaden des Elysee. Staaten wie Djibouti und die Zentralafrikanische Republik wären ohne Paris nicht lebensfähig.

Auch die alte Regierung in Ruanda, die nach dem Mord an der Tutsi-Minderheit 1994 gestürzt wurde, hatte sich jahrelang nur mit massiver Militärhilfe Frankreichs der später siegreichen Rebellenbewegung erwehren können. Als nach dem Ende des Bürgerkrieges Hunderttausende von Ruandern nach Zaire geflüchtet waren, hat Frankreich UNO-Berichten zufolge den ruandischen Soldaten und Milizen unter den Flüchtlingen weiterhin in großen Umfang Waffen geliefert. Es gab zahlreiche Hinwise darauf, daß die alten ruandischen Machthaber nicht zuletzt dank dieser Militärhilfe planten, einen Angriffskrieg gegen die neuen Herren in Kigali zu führen.

Bei der Unterstützung für das alte Regime in Kigali ging es Paris weniger um das, was Ruanda in Einzelnen zu bieten hat, als vor allem darum, die französische Einflußzone so vollständig wie irgend möglich zu erhalten. Befürchtungen in Paris sind nicht unbegründet, denen zufolge ein herausgebrochener Stein den Einsturz des gesamten Gebäudes nach sich ziehen kann: Die Grenzstädte Bukavu und Goma wurden – daran ändern auch noch so viele Dementis nichts – mit aktiver Hilfe der neuen ruandischen Armee erobert, die die bedrohlichen Flüchtlingslager im Grenzbereich endgültig nicht mehr dulden wollte. Sollte es nun innerzairischen Rebellen tatsächlich gelingen, mit ruandischer Unterstützung das ganze Land zu destabilisieren, dann hätte das Auswirkungen auf die politische Landkarte des gesamten Kontinents.

Die neue Regierung in Kigali ist für Paris kein Verhandlungspartner. Gestützt von Uganda und mit engen Beziehungen zu Washington führt sie das Land schrittweise in den anglophonen Einflußbereich Afrikas. An vielen Schulen Ruandas wird heute schon ausschließlich auf englisch unterrichtet. Die dringenden Bemühungen Frankreichs um ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates für die Stationierung eigener Truppen in der Region waren ein verzweifelter Versuch zu retten, was noch zu retten war. Ruanda hat aber nie einen Zweifel daran gelassen, daß es französische Blauhelme nie als »neutrale Kraft« akzeptieren werde.

Washington verfolgt andere Interessen. Die USA wollen in Afrika vor allem ein Vordringen des islamischen Fundamentalismus verhindern, dabei jedoch selbst so wenig wie möglich in Erscheinung treten. Im islamisch regierten Sudan prallen die unterschiedlichen Interessen der Industriemächte besonders heftig aufeinander: Während es ein offenen Geheimnis ist, das die USA Sympathien für die südsudanesischen Rebellen haben, soll Frankreich die Regierung in Khartoum mit Satellitenbildern des umkämpften Südsudan versorgen.

Eine militärische UNO-Intervention im Osten Zaires, die sich vor allem auf afrikanische Bodentruppen stützte und allenfalls logistische Hilfe der USA in Anspruch genommen hätte, wäre dem gegenwärtigen Kurs Washingtons sehr nahe gekommen. Als kürzlich mit Warren Christopher zum ersten Mal seit über 15 Jahren ein US-Außenminister Afrika besuchte, propagierte dieser den Plan einer afrikanischen Kriseninterventionstruppe. Die USA signalisierten dafür sogar erhebliche Finanzhilfe.

Paris hat Washington zunächst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die wieder und wieder erklärte Bereitschaft der Franzosen, Soldaten in die Krisenregion zu entsenden, brachte die USA in Zugzwang. Immer mehr sah es so aus, als ob die Vereingten Staaten sich einer massiven eigenen Beteiligung nicht würden entziehen können. Da bekamen sie Hilfe von unerwarteter.Seite: Zu Hunderttausenden gingen die Flüchtlinge, ganz ohne ausländische Truppen, einfach nach Hause. Das brisante Thema ist nun erst einmal vertagt.

Bettina Gaus hat viele Jahre als Journalistin in Afrika gearbeitet. Für die TAZ war sie im November in Ruanda.

FRONTEX

FRONTEX

Der Europäische Grenzschutz und seine Agentur

von Timo Tohidipur

Der Barbar ist die Gefahr. So ähnlich könnte man den Blick der Römer auf die ihrem Imperium angrenzenden Völker, beispielsweise die jenseits des Limes angesiedelten germanischen Stämme, umschreiben. Die Konsequenz bedeutete unnachgiebige Behandlung vermeintlich illegaler Grenzübertritte bei gleichzeitiger Zulassung handelsfördernder Kontakte. Die Zeiten ändern sich, doch dieser Blick auf den Fremden scheint auf dem europäischen Kontinent eine gewisse Kontinuität aufzuweisen.

Tausende Migranten versuchen Monat für Monat, ausgelöst durch Bürgerkriege, Verfolgung oder wirtschaftliche Not, das Gebiet der EU zu erreichen und sehen sich dabei einem ausgefeilten Sicherheitsapparat gegenüber, der sie bereits vor Erreichen des Festlandes abwehrt oder nach Erreichen kollektiv kaserniert, offen kriminalisiert und schnellstmöglich abschiebt. Die Wahrung der Sicherheit der Bürger im Inneren, auch mittels Abschirmung vor Gefahren von Außen, ist eine der stets hervorgehobenen Aufgaben des Staates. Die organisatorische Hoheit über Fragen der Migration und der Sicherheit liegt indes nicht mehr allein beim Staat als Mitgliedstaat der EU, vielmehr gerät die Grenzsicherung verstärkt in das Blickfeld einer auf einheitlicher Steuerung und Koordination bedachten Europapolitik. Dazu gehört eine neue Verwaltungseinrichtung, die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union«: FRONTEX (abgeleitet von Frontières Extérieures). Der bereits enorme Umfang operativer Befugnisse, die koordinierend-integrierende Funktionsausrichtung und die politische Bedeutungszuschreibung machen eine eingehende Auseinandersetzung mit ihr notwendig. Dabei führen die Betrachtung der internen Struktur und die anschließende Darlegung der weitreichenden Befugnisse zu Fragen nach den Bedingungen politischer und rechtlicher Verantwortlichkeit im Kontext einer interpretationsoffenen bis beliebigen Vorstellung von Sicherheit.

FRONTEX als Gemeinschaftsagentur

Die institutionelle Ausgestaltung von FRONTEX beruht auf den Vorgaben einer EG-Verordnung aus dem Jahre 2004 (FRONTEX-VO)1, die sich auf die gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen über die Regulierung von Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen stützt. Dabei enthält das Primärrecht (also die Verträge über die EG bzw. die EU: EGV und EUV) keine explizite organisationsrechtliche Kompetenz zur Schaffung von Agenturen. Doch bereits seit den 1970er Jahren werden solche Agenturen in der Form sekundärrechtlich (i.d.R. durch eine Verordnung) begründeter Verwaltungseinrichtungen errichtet, die zunächst nicht mehr als ein Forum für Informations- und Erfahrungsaustausch waren, und erst später zunehmend hoheitsrechtliche Befugnisse erhielten.2 Das stetig anwachsende Agenturwesen ist und bleibt legitimatorisch nicht unproblematisch, wurde aber zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt. Die eigenständige Ausdifferenzierung verwaltungsorganisatorischer Strukturen wird letztlich mit der auf die Gemeinschaft übertragenen Sachkompetenz begründet.

FRONTEX ist durch die Verleihung eigener Rechtspersönlichkeit rechtsverbindliches Handeln in eigenem Namen möglich. Der ihr vorstehende Exekutivdirektor ist in seiner Funktion unabhängig gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten und sonstigen Stellen. Er wird von dem Verwaltungsrat ernannt, der sich aus je einem Vertreter der Mitgliedstaaten und zwei Vertretern der Europäischen Kommission zusammensetzt. Diesem Verwaltungsrat gegenüber bleibt der Exekutivdirektor hinsichtlich der Tätigkeitsberichte für das jeweils vergangene Jahr und der Festlegung der Arbeitsprogramme für das jeweils zukünftige Jahr verantwortlich. Eine über Berichtspflichten hinausgehende parlamentarische Verantwortlichkeit oder gar Steuerung der Agentur ist nicht vorgesehen. Nur bei Änderungen oder Erweiterungen der Rechtsgrundlage kann das Europäische Parlament mitentscheiden. Das Spezifikum der Agenturen besteht darin, dass sie in der Diktion der EU »autonome« Verwaltungseinrichtungen der EU sind. Die Agentur bleibt damit, jenseits des Potentials öffentlicher Skandalisierung, »im Schatten« demokratischer Kontrollen. Lediglich die allgemeine Haushaltskompetenz des Europäischen Parlaments lässt eine begrenzte finanzielle Kontrolle durch Genehmigung der Haushaltsmittel entsprechend der Stellen- und Bedarfslage zu.

Europäischer Grenzschutz als integrierte Verwaltungskooperation

In den Begründungserwägungen der FRONTEX-VO wird ausdrücklich betont, dass der integrierte Schutz der Außengrenzen der EU das Ziel der Gemeinschaftspolitik ist. Der im Rahmen des Binnenmarktes und auf der Grundlage der Schengener Vereinbarungen umfassend garantierte freie Personenverkehr innerhalb der EU soll durch ein einheitliches und hohes Kontroll- und Überwachungsniveau an den Außengrenzen ermöglicht werden. Da die grundsätzliche Verantwortung und rechtliche Kompetenz für die Überwachung der Außengrenzen noch bei den Mitgliedstaaten liegt, setzt das angestrebte Kontroll- und Überwachungsniveau eine besondere Koordinierung voraus, die insbesondere durch FRONTEX geleistet werden soll. Gemeinsam ist den bisherigen Formen der Zusammenarbeit im europäischen Grenzschutzregime die horizontale Vernetzung von mitgliedstaatlichen Behörden, mit einer Betonung der Dimension »Informationsvernetzung«. Die Errichtung von FRONTEX erweitert das System um die entscheidende vertikale Komponente.

Während beispielsweise die 2007 neu konstituierte »Europäische Agentur für Grundrechte« lediglich Forschungs-, Beratungs- und Informationsrechte hat, enthält die FRONTEX-VO folgende umfassende Aufgabenzuweisung an die Agentur, die auch hoheitsrechtliches Handeln ermöglicht:

  • Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten einschließlich der Festlegung gemeinsamer Ausbildungsnormen;
  • Durchführung von Risikoanalysen;
  • Verfolgung der Entwicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen relevanten Forschung;
  • Unterstützung der Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern;
  • Bereitstellung der notwendigen Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen.

Entsprechend dem Arbeitsprogramm für 2007 verfügt FRONTEX derzeit über ein Budget von 22 Mio. Euro und hat 78 Bedienstete, wobei deren Anzahl im Laufe des Jahres auf 140 erhöht werden soll. In den eineinhalb Jahren ihres Bestehens hat die Agentur in den drei Kernbereichen ihres Tätigkeitsfeldes bereits beträchtliche Aktivitäten entfaltet.

Operatives Handeln

Die größte Herausforderung für die Implementierung des Grenzkontrollregimes besteht nach Einschätzung von FRONTEX auf vier Hauptrouten der Migration in die EU, d.h. die Routen über die südlichen Seeaußengrenzen, die östlichen Landaußengrenzen, über den Balkan und über bedeutende internationale Flughäfen.3 Dabei werden Fragen nach dem Umgang mit Migranten im Kontext (menschen)rechtlicher Verpflichtungen und sicherheitspolitischer Anforderungen aufgeworfen.

Unter der Beteiligung von FRONTEX haben im Jahr 2006 die Grenzschutzaktionen »Hera I und II«, »Nautilus« sowie »Jason I« im Mittelmeerraum stattgefunden.4 Die mit dem Codenamen »Hera« versehenen Aktionen bezeichneten den Einsatz im Gebiet der Kanaren, der Kapverden und vor dem Senegal. Die Probleme des europäischen Grenzkontrollregimes manifestieren sich hier sehr deutlich. Die Einsätze zielten auf die Identifikation von Migranten und die Bestimmung ihres Herkunftsstaates sowie den Einsatz von Grenzüberwachungsgeräten zur Kontrolle des Meerabschnittes zwischen der Afrikanischen Küste und den Kanarischen Inseln. Zudem wurden zwischen August und Oktober 2006 mit der Unterstützung von FRONTEX insgesamt 3887 Menschen „nahe der Afrikanischen Küste abgefangen und umgeleitet“.5 In ähnlicher Form sollen die Operationen im Jahr 2007 für die Kanarischen Inseln und die Afrikanische Küste ablaufen.6

Während die bisherigen Einsätze bloße »Unterstützungseinsätze« darstellten, bei denen die FRONTEX-Experten und die durch FRONTEX koordinierten nationalen Unterstützungsteams keine eigenen exekutiven Kompetenzen innehatten, sollen in Zukunft Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (Rapid Border Intervention Teams, RABITs) gebildet werden, denen einsatzbezogen hoheitliche Befugnisse im jeweiligen Mitgliedstaat übertragen werden. Das Einsatzfeld dieser RABITs ist die zeitlich befristete Unterstützung von Mitgliedstaaten, die sich an bestimmten Stellen ihrer Außengrenzen einer voraussehbar übergroßen Anzahl an einreisewilligen Migranten gegenübersehen. Diese vom Exekutivdirektor ausdrücklich betonte Beschränkung auf zeitlich begrenzte Einsätze7 überzeugt nicht, denn der Versuch des massenhaften Grenzübertritts über das Mittelmeer ist aus Sicht des Grenzschutzes ein erkennbar kontinuierliches und eben kein punktuelles Problem.

Die entsprechende neue EG-Verordnung (RABIT-VO)8 konturiert den Umfang und die Grenzen der temporär zu übertragenden Hoheitsbefugnisse für die Einsätze der RABITs und versucht das für die jeweiligen Konstellationen eines Einsatzes geltende Recht zu definieren. Hier offenbaren sich, gemessen an Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz, Defizite. Denn während einerseits die entsandten Teammitglieder das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht des Einsatzmitgliedstaates einhalten sollen, sind sie beispielsweise im Hinblick auf die benutzbare Ausrüstung (Dienstwaffe etc.) an das Recht des Herkunftsmitgliedstaates gebunden. Überaus problematisch ist in diesem Zusammenhang die für den speziellen Einsatz bestehende Weisungskompetenz der Beamten des Einsatzstaates gegenüber den RABIT-Beamten, da gleichzeitig der Exekutivdirektor von FRONTEX den maßgeblichen Einsatzplan für die RABIT-Beamten verbindlich erstellt. Eine zusätzliche Ebene rechtlicher Verantwortlichkeit wird dadurch implementiert, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen RABIT-Beamten allein gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat besteht. Der einzelne Beamte sieht sich damit im Einsatz zumindest drei unterschiedlichen Rechtsmaßen gegenüber, die nicht immer klar zu trennen sind. Noch weniger überschaubar ist diese Rechtskonstruktion – und damit der daran anknüpfende Rechtsschutz im Einzelfall – aus der Sicht des von Maßnahmen betroffenen Flüchtlings. Hier offenbaren sich Defizite greifbarer rechtlicher Verantwortlichkeit, die spätestens dort notwendig wird, wo hoheitsrechtliche Befugnisse potentiell in Rechte Einzelner einzugreifen geeignet sind. Der Grundsatz des umfassenden und effektiven Rechtsschutzes ist über das Rechtsstaatsprinzip in Art. 6 EU und darüber hinaus in Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verankert und beansprucht so als allgemeiner Rechtsgrundsatz Geltung für die EU und damit auch für die Handlungen von FRONTEX. Hier spielt die Frage des exterritorialen Anwendungsbereichs der Grund- und Menschenrechte eine entscheidende Rolle.9

Zusammenarbeit und Informationsvernetzung

Politische Zielvorgabe der EU ist die in den Art. 61 ff. des EG-Vertrages fixierte Schaffung eines so genannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die besondere Fokussierung auf den Aspekt der Sicherheit zeigt sich in der Errichtung einer Vielzahl verschiedenster Agenturen und ihrer Vernetzung: so sind für den »Außenbereich« dieser Sicherheitspolitik der EU insbesondere die Agenturen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, also namentlich die Europäische Verteidigungsagentur (EDA), das Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (ISS) und das Satellitenzentrum der Europäischen Union (EUSC) zuständig. Die Verwirklichung des »Innenbereichs« obliegt dem Europäischen Polizeiamt (Europol), der Europäischen Polizeiakademie (EPA), dem Europäischen Organ zur Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit (Eurojust), der Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF und eben FRONTEX. In ihren verschiedenen Ausrichtungen bilden diese Agenturen eine umfassende operative Basis. Die enge Kooperation zwischen Europol, Eurojust, OLAF und selbst dem EUSC mit FRONTEX ist über Arbeitsvereinbarungen garantiert.

Besondere Bedeutung kommt der Erleichterung des interinstitutionellen und mitgliedstaatlichen Informationsaustauschs zu, der ein in der FRONTEX-VO ausdrücklich festgeschriebenes Ziel der Agentur ist. FRONTEX wird daher Zugang zum Informationsnetz der Migrationsbehörden der Mitgliedstaaten erhalten und kann in der Zusammenarbeit mit Europol auf dessen umfangreiche Datenbestände zugreifen.10 Zugleich forciert die FRONTEX-VO eine Öffnung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen FRONTEX und internationalen Organisationen sowie Behörden von Drittstaaten, die für vergleichbare Aufgabenbereiche zuständig sind. So ist die Verstärkung der Beziehungen zu den nord- und westafrikanischen Drittländern, die so genannte »Herkunfts- oder Transitländer« für illegale Migranten sind, ein wesentliches Ziel der Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung illegaler Einwanderung. Überdies ist sogar eine Zusammenarbeit von FRONTEX mit Geheimdiensten nachdrücklich erwünscht.11

Die integrative Kraft der Vernetzung bezieht sich auch auf die Zusammenlegung von grenzschutzrelevanten Ressourcen. FRONTEX verwaltet eine Toolbox, die einmal schweres technisches Gerät wie Flugzeuge, Hubschrauber, Schiffe und sonstige Fahrzeuge, sowie, in der »humanen« Version, Grenzschutzspezialisten mit ihren spezifischen Einsatzpotentialen umfasst. Aus diesem Pool werden die koordinierten Einsätze »bestückt«. Der Vergleich zur schnellen (militärischen) Eingreiftruppe drängt sich hier förmlich auf.

Migrationssteuerung als Sicherheitsproblem

Die gesamte Einsatzstruktur von FRONTEX und ihres umgebenden Grenzschutzregimes ist auf Abwehr ausgerichtet. Die Vollstreckung dieser Strategie erfolgt im Kern auf drei Wegen: Erreichen Migranten das europäische Festland, werden sie (bisweilen in fragwürdigen Auffanglagern) kaserniert, bis ihre Identität und/oder ihr Herkunftsstaat festgestellt ist, und sodann abgeschoben. Werden Migranten bereits auf dem Weg zum Gebiet der EU aufgespürt, erfolgt entweder eine unmittelbare Rückführung oder sie werden, wenn dies nicht sofort vertretbar scheint, erst aufgenommen und dann nach obigem Verfahren abgeschoben. Der dritte Weg – und damit die für die EU »sauberste« Lösung – liegt darin, bereits die Abreise des Flüchtlings aus seinem Heimatland zu verhindern.

Der Erfolg von FRONTEX wird in dieser Logik stets in Zahlen gemessen: Wenn bis September 2006 noch zwischen 4.500 und 7.000 Migranten monatlich das Gebiet der Europäischen Union erreichten und nach koordinierten Maßnahmen von FRONTEX nur noch ca. 600 im Oktober 2006 so weit kamen, dann wird dies als Erfolg bewertet.12 Der logistische Aufwand, den FRONTEX zur Abwehr illegaler Migranten betreibt, ist dabei enorm. Gerade darin zeigt sich die Problematik dieses speziellen Politikbereichs, dessen Organisation mehr und mehr einem Kampfeinsatzszenario gleicht denn einer nachhaltigen Reaktion auf katastrophale humanitäre Umstände. So wird beispielsweise die zivile Seenotrettung materiell und institutionell vernachlässigt.

Der Ansatz, die Staaten einzubeziehen, aus denen die meisten Migranten aufbrechen oder die als Transitstaaten dienen, ist richtig, doch darf er nicht unter dem Vorzeichen radikaler Abschottung ohne Ansehung des Kontextes und der flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen geschehen. Ansonsten werden sich die Flüchtlingsströme – und hier ist der Vergleich mit dem Wasserstrom ausnahmsweise angebracht – neue Wege erschließen, die dann noch unmenschlichere Strapazen bedeuten. Dauerhaft kann dies nicht durch Abschottung und Aufrüstung der Grenzbehörden verhindert werden. Die Probleme der USA an der hochaufgerüsteten Grenze zu Mexiko sind nur ein Beispiel des Scheiterns einer ähnlichen Strategie. Eine nachhaltige Strategie kann nicht allein auf einem Regime integrierter Sicherheitsbehörden gegründet werden, sondern muss notwendig auch Strategien der Entwicklungsförderung und konstruktiven Kooperation einbeziehen.

Stellt sich die EU diesen Herausforderungen nicht auf eine Weise, die der unbestreitbar existenten Migrationsproblematik gerecht wird, also ohne diese allein auf der Ebene einer Sicherheitspolitik zu lösen, die die stets nach außen reklamierten grund- und menschenrechtliche Grundsätze ebenso wie rechtsstaatliche Verfahrensgarantien in eigener Anwendung selbst partiell zu suspendieren geneigt ist, so bleibt die Frage: Wer ist der Barbar?

Anmerkungen

1) Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 v. 26. Oktober 2004, ABl. EG L 349/1 v. 25.11.2004.

2) Zur Historie: Robert Uerpmann, Mittelbare Gemeinschaftsverwaltung durch gemeinschaftsgeschaffene juristische Personen des öffentliches Rechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 125 (2000), S.551 ff.

3) FRONTEX, Pressemitteilung v. 22.02.2007, http://www.eu2007.de/de/News/Press_Releases/February/0222BMIFrontex.html.

4) Ein Überblick über die bisherigen Operationen findet sich bei Roderick Parkes, Gemeinsame Patrouillen an Europas Südflanke, SWP-Aktuell 44 (09/2006).

5) FRONTEX, statistische Angaben zu den Operationen HERA I und II v. 19.12.2006, http://www.frontex.europa.eu/gfx/frontex/files/hera-statistics.pdf

6) FRONTEX, Presseerklärung v. 15.02.2007, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art13.html.

7) Ilkka Laitinen, Frontex – Facts and Myths, http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art26.html.

8) Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des EP und des Rates v. 11. Juli 2007, ABl. EG L 199/30 v. 31. Juli 2007

9) Andreas Fischer-Lescano/Timo Tohidipur, Europäisches Grenzkontrollregime, in: ZaöRV 4/2007 (im Erscheinen).

10) Zu den Vernetzungen von FRONTEX: Mark Holzberger, Europols kleine Schwester. Die Europäische Grenzschutzagentur „FRONTEX“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006), S.56 ff.

11) Entschließung des Europäischen Parlaments zur externen Dimension der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, 15.02.2007, P6_TA-PROV(2007)0050, Ziff. 33 lit. k).

12) Exekutivdirektor Laitinen im Tagesspiegel v. 30.10.2006, http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite; art705,2277672.

Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für öffentliches Recht der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

»Festung Europa«

»Festung Europa«

von Gabriele del Grande

Täglich sterben Menschen beim Versuch, auf ihrer Flucht vor Krieg und Verfolgung, Elend, Umweltzerstörung und Gewalt nach Europa zu gelangen. Für uns im Norden sind sie namenlos, aber ihre Angehörigen bangen und hoffen, von ihnen ein Lebenszeichen zu hören. Die Initiative »fortresseurope« bemüht sich darum, die tödlichen Ergebnisse der EU-Abschottungspolitik zu erfassen. Wir dokumentieren den Bericht für den Monat September.

Unseren internationalen Presseberichten nach sind mindestens 99 Personen im September dieses Jahr an den Pforten Europas gestorben. Es gibt 1.096 Opfer seit Anfang des Jahres, 10.355 Migranten sind seit 1988 gestorben. Im letzten Monat sind 43 Personen vor den Kanarischen Inseln ertrunken; 19 auf dem Weg zu der französischen Insel Mayotte im Indischen Ozean, 11 Leute starben auf dem Weg zwischen der algerischen und spanischen Küste, 13 starben im Kanal von Sizilien und 10 vor den griechischen Inseln. Drei tschetschenische Mädchen, im Alter von 6, 10 und 13 Jahren sind beim Versuch, mit ihrer Mutter von der Ukraine zu Fuß nach Polen zu gelangen, erfroren. Die Zahl der Ankünfte über See nimmt ab (-75% in Spanien und -7% in Italien), nicht aber die Zahl der Opfer. Unterwegs zwischen Libyen und Spanien, sind dieses Jahr bereits 500 Personen gestorben, verglichen mit den 302 des ganzen vorigen Jahres. Inzwischen geht in Libyen das Leiden der 600 Eritreer weiter, die in Misratah gefangen sind. Aber Europa schaut weg und Frattini kündigt ein neues Abkommen mit Tripoli an, um Migranten, die im Meer aufgegriffen werden, zurückzuschicken.

Am 10. September überwachten Frontex-Patrouillen den Kanal von Sizilien und den Süden von Sardinien, von Annaba aus, entlang der algerischen Route nach Italien. Im ersten Teil ihrer Mission, genannt »Nautilus II«, die im Juni und Juli 2007 stattgefunden hat, wurden 464 Migranten festgenommen und 166 gerettet. Der EU Kommissar Frattini hat vor kurzem mitgeteilt, dass diese Patrouillen ab 2008 permanent eingesetzt werden und dass Libyen dann mitarbeiten wird. Der Kommissar hat bereits 30 Millionen Euro zusätzlich erbeten, mit denen das Frontex-Budget aufgestockt werden soll (34 Millionen Euro in 2007) – und das, obwohl ein Verfassungszusatz des Europäischen Parlaments verlangt hat sofort 30% der administrativen Ausgaben einzufrieren. Momentan ist »fortresseurope« sehr besorgt über die zukünftige Zusammenarbeit mit Libyen, um Migranten zurückzuschicken.

Frontex schickt sie bereits in Mauretanien und Senegal zurück, wo mehr als 1.500 Personen in 2007 abgefangen wurden und wo mehr als 18.000 Senegalesen im Jahr 2006 von Europa aus abgeschoben wurden. Human Rights Watch teilt mit, dass sie große Besorgnis über Misshandlungen und Folter von Migranten in Libyen hege. Aber Europa schaut weg. Frontex hat bereits Kontakt mit libyschen Offiziellen aufgenommen. Brüssel schenkt Gaddafi ein elektronisches Sicherheitssystem, um die südlichen Grenzen zum Niger, Tschad und Sudan zu überwachen, von wo aus Tausende Menschen jedes Jahr ins Land eindringen und manchmal weiter nach Lampedusa reisen. Frattini wird in Kürze eine Truppe nach Tripoli schicken, um die Geräte zu installieren, wie der italienischen Innenminister Giuliano Amato am 18. September verkündete.

Am selben Tag – was für ein schizophrenes Europa! – hat eine offizielle Mitteilung der Europäischen Union das „ernste Missachten der Menschenrechte“ in Eritrea verurteilt. Aber kein Wort wurde über die 2.589 eritreischen Flüchtlinge verloren, die im Jahr 2006 an der sizilianischen Küste ankamen, nachdem sie der Diktatur entflohen waren. Sie machen 12% der 22.016 Migranten aus, die im letzten Jahr illegal in Italien angekommen sind, und 20,8% der 10.438 AsylbewerberInnen der gleichen Zeit. Und nichts wurde gesagt über die 600 Eritreer, die seit einem Jahr und 6 Monaten in Misratah gefangen sind, 200 km östlich von Tripoli, unter menschenunwürdigen Verhältnissen, darunter drei schwangere Frauen, zwei Babies und mehr als zehn Kinder. Weitere 70 Eritreer wurden in Zawiyah in einer Razzia in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 2007 festgenommen. Viele von ihnen sind vom Flüchtlingshilfswerk der UNO anerkannte Flüchtlinge, die versuchen eine Umsiedlung zu organisieren. Die meisten von ihnen sind der Armee und dem Krieg entflohen. Sie haben die Sahara durchquert und haben versucht durchs Mittelmeer nach Italien zu gelangen und politisches Asyl zu beantragen. Wenn sie zurückgebracht werden, steht ihr Leben auf dem Spiel, so wie das der 161 Kriegsdienstverweigerer, die im Jahr 2005 nach Angaben von amnesty international in Eritrea erschossen wurden. Die eritreische Diaspora demonstrierte am 18 September überall in Europa für ihre Freilassung.

Das Grünbuch der EU zum Thema Asyl vermerkt, dass es eine Vermischung der Arbeitsmigration mit den Flüchtlingen ohne Papiere gibt. Europäische Statistiken zeigen, dass im Jahr 2006 192.000 Migranten in den 27 EU-Ländern um Asyl nachgesucht haben; das ist nur ein Fünftel der 670.000 Anfragen im Jahr 1992 in damals 15 Ländern. Die Anzahl der Asylanträge ist in den letzten fünf Jahren um die Hälfte zurückgegangen. Das ist das Ergebnis der Jagd auf die illegale Migration, die die meisten der Iraker, Sudanesen, Afghanen und anderen Flüchtlinge dazu zwingt, Europa auf illegalem Weg zu erreichen. Europa wehrt sich gegen sie mit Armeen, rassistischen Gesetzen, Mauern und Gefängnissen und bringt sie zurück in ihren Krieg.

Sie kommen aus dem Irak, Afghanistan und Iran und sie gelangen in Patras und Igoumenitsa an Bord von Touristenschiffen aus Griechenland und erreichen so Italien. Täglich findet die italienische Polizei Dutzende von Migranten ohne Papiere in den Häfen der Adria. Sie werden an Bord festgehalten, bis das Schiff wieder nach Griechenland zurückkehrt, wo sie dann festgenommen werden und vielleicht in die Türkei abgeschoben werden, die sie dann wiederum in ihre Heimatländer abschiebt. Nach italienischen Pressemitteilungen vom September wurden 194 Migranten zurückgeschickt; davon waren 95 Iraker, 30 Türken und 19 Afghanen. Die meisten von ihnen wurden in Griechenland wieder »aufgenommen«. Am 19. September wurde eine irakische Familie – Mutter, Vater und 4 Kinder im Alter von einem bis acht Jahren, vom Hafen in Ancona nach Griechenland zurückgeschickt. Im August wurden mindestens 362 Personen auf die gleiche Art zurückgebracht. Vom Hafen von Bari aus – so die Angaben der Grenzpolizei – wurden im Jahr 2006 850 Migranten nach Griechenland zurückgebracht, davon waren 300 Iraker und 170 Afghanen. Am 9. April 2007 wurden – wiederum von Bari aus – an einem einzigen Tag mindestens 150 Iraker auf die gleiche Weise zurückgebracht; 120 Iraker waren es im August 2007 und 43 im September.

Einen Asylbewerber zurückzuschicken, ist nach italienischem Gesetz sowie nach UN-Konvention für Flüchtlinge verboten. Das europäische Parlament und das UNHCR haben Empfehlungen gegen die Wiederaufnahme von Irakern in Griechenland ausgesprochen.

Einem EU-Bericht nach hat Griechenland noch kein einziges Mal einen Iraker als Flüchtling anerkannt. Im Gegenteil: Griechenland hat im Jahr 2001 einen Rückführungsvertrag mit der Türkei unterschrieben. In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres haben die griechischen Behörden über 4.500 Migranten festgenommen, wovon viele in die Türkei abgeschoben wurden, darunter auch Iraker. Und von der Türkei aus wurden im Juli dieses Jahres 135 Iraker deportiert, so die UNHCR. Am 11. September habe die türkischen Behörden 145 Migranten bei Durchsuchungen in Edirne und Ipsala festgenommen. Die Orte liegen nahe der griechischen Grenze. 50 Afghanen, 21 Somalier und 74 Iraker, Mauretanier, Ruander, Georgier, Palästinenser und Birmesen.

In der Zwischenzeit wird in der Türkei eine 473 km lange Mauer entlang der irakischen Grenze gebaut, um den bewaffneten Kampf der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und das Eindringen von Migranten zu stoppen. Syrien hat die östliche Grenze Tanaf geschlossen und Saudi Arabien hat 3,2 Billionen Dollar investiert, um einen 900 km langen Stacheldrahtzaun zur irakischen Grenze zu ziehen. Wundert sich da noch jemand, dass die Zahl der Asylanträge rückläufig ist?!

Zäune, die an die von Ceuta und Melilla erinnern und die die Geister der 17 Migranten rufen, die von der Marokkanischen »Forces Auxiliaires« und der Spanischen »Guardia Civil« im Sommer und Herbst 2005 erschossen wurden. Zwei Jahre später, am 21. Oktober, wird eine Karawane zu diesen Orten zurückkehren, eine Karawane der Solidarität, um an die Opfer eines Krieges zu erinnern. Ein Krieg gegen die Migranten, der noch nicht vorbei ist und der seine Opfer ebenfalls an der östlichen Front fordert.

Der neue Vorhang verläuft von der Slowakei über Polen, Ungarn und Rumänien. Die externe Grenze der EU ist der Ukraine anvertraut. Auch dort ist die Behandlung von Flüchtlingen und Asylsuchenden jedoch häufig nicht an menschenrechtlichen Standards orientiert. „Die Ukraine misshandelt regelmäßig Migranten und Asylbewerber, sperrt sie unter unmöglichen Bedingungen ein, verübt Gewalt, Folter und Ausbeutung und schiebt sie danach ab, zurück in die Folter und die Gefangenschaft“, so ein Bericht von Human Rights Watch (HRW) im November 2005. „Das Asylsystem funktioniert kaum, und das führt zu Zwangsrückführungen in Länder, in denen die Einwohner Folter und Verfolgung riskieren“. Daher verlangt HRW von der EU, dass zunächst eine Reihe von Verbesserungen hinsichtlich der Behandlung von Asylsuchenden mit der Ukraine vereinbart werden müssen, bevor irgend ein neuer Rückführungsvertrag unterschrieben wird. Es gibt bereits Rückführungsverträge zwischen der Ukraine und ihren EU-Nachbarn, um Migranten und Asylsuchende in die Ukraine abzuschieben. Dies ruft zum Teil große Sorge hervor, weil dabei Asylbewerber aus Tschetschenien und Usbekistan oft nach Russland abgeschoben werden – trotz des Risikos der Verfolgung, dem sie dort ausgesetzt sind.

Die Ukraine hat im Jahre 2004 5.000 Migranten und in den ersten 6 Monaten des Jahres 2005 2.346 Migranten zurückgeschickt – 50% davon nach Russland, die anderen nach China, Indien, Pakistan und Bangladesh. Die EU wusste davon Bescheid, doch Brüssel hat am 18. Juni 2007 bereits einen Wiederaufnahme-Vertrag mit Kiew unterzeichnet. Der Vertrag soll noch vor Ende dieses Jahres in Kraft treten. Der HRW-Bericht wurde vor zwei Jahren veröffentlicht, aber der kürzlich erschienene Bericht von Pawschino, einer ukrainischen Organisation, verdeutlicht, das sich nichts zum Positiven verändert hat.

Gabriele del Grande ist Mitarbeiter des Projektes »fortresseurope« (fortresseurope.blogspot)

Verraten, vergessen, verlassen Palästinensische Flüchtlinge im Libanon

Verraten, vergessen, verlassen Palästinensische Flüchtlinge im Libanon

von Barbara Dietrich

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF) e.V.

„Ein Lager ist ein schmerzlicher Mikrokosmos einer wesentlich größeren Realität. Es ist ein abscheuliches Geschwür, wo der eingesperrte Mensch nach und nach seine Würde und Kampfbereitschaft verliert, um so mehr, da er als Entwurzelter auch keine Identität mehr besitzt. Der Palästinenser, und vor allem der junge, der dazu verdammt ist, in diesen ungesunden Ghettos dahinzuvegetieren, kann auf niemanden hoffen, außer auf seine eigene zerstörerische Energie und den Einsatz seiner eigenen Gewalt, für die allein er die Gesetze und Praktiken schaffen wird.“
Rachid Boudjedra, Das Palästina Tagebuch (Paris 1972), Mainz 1991, S. 68 f.

Der Krieg im Kosovo ist kaum zu Ende und die »akute Bedrohung« der europäischen Staaten durch die »Flüchtlingsströme«der Kosovo-AlbanerInnen abgeklungen, schon sind die Flüchtlinge selber – immerhin sind es etwa 1 Million Menschen, die aus diesem Teil Jugoslawiens vertrieben wurden oder geflohen sind (60, S. 7) – aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Ähnlich erging es den KurdInnen, die während des Golfkrieges um die Jahreswende 1991/92 aus dem Irak in die Türkei flohen oder zu fliehen versuchten und zeitweilig von türkischen Soldaten mit Gewehren davon abgehalten wurden. Die Beispiele für dieses äußerst kurzfristige öffentliche Interesse an Flüchtlingen ließen sich beliebig ergänzen: Den ZeitungsleserInnen begegnen Flüchtlinge dann wieder in kleineren Meldungen, z. B. über den UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, in denen es um materielle Hilfeleistungen für oder um Rückführung von Flüchtlingen geht und darum wer beides finanziert. Oder wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht: um das „Feilschen um Zahlen, Kontingente, Lastenverteilung und Einreisemodalitäten“ (61, S. 44).

Eine schon seit Jahrzehnten vergessene Gruppe von Flüchtlingen sind die PalästinenserInnen im Libanon. Der nachfolgende Bericht entstand nach einer Studienreise in dieses Land im Oktober 1998. Thematischer Schwerpunkt der Reise waren die Lebensbedingungen der dort in Lagern lebenden palästinensischen Flüchtlinge.

Ursache für die Flucht von PalästinenserInnen aus ihrem eigenen Land war die Ausrufung des Staates Israel am 14. 5. 1948 auf der Grundlage des UN-Teilungsplanes, der die Errichtung eines arabischen und eines jüdischen Staates auf palästinensischem Territorium und eine Internationalisierung Jerusalems vorsah (53, S. 21 ff.). Damals lebten in Palästina etwa 1,365 Mio. AraberInnen und ca. 710.000 JüdInnen (13, S. 23), dennoch wurde das Territorium den AraberInnen nur zu 45 %, den JüdInnen dagegen zu 55 % zugesprochen. Das den JüdInnen zugeteilte Gebiet enthielt zudem die fruchtbarsten Gebiete des palästinensischen Territoriums, wiewohl die Landwirtschaft wichtigste Existenzgrundlage der arabischen Bevölkerung war (12, S. 2).

Der als Folge dieser Entscheidung zwischen Israel und den arabischen Staaten ausgetragene Krieg dauerte mehr als ein Jahr und hatte zum Ergebnis, dass Israel mehr als 75 % der Gesamtfläche Palästinas sowie Westjerusalem unter seine Kontrolle brachte (13, S. 24). Etwa 150.000 PalästinenserInnen blieben in Israel (3; 12, S. 2), etwa 750.000 PalästinenserInnen wurden aus den von Israelis besetzten Gebieten vertrieben oder flohen aus Angst um ihr Leben und suchten Zuflucht in Ghaza, im Westjordanland, in den arabischen Nachbarstaaten sowie im Libanon (12, S. 2; 44, S. 153 f.; 31, S. 5).

Neuere Forschungen haben – im Gegensatz zu früher offiziell verbreiteten Darstellungen – ergeben, dass es sich hier um eine gezielte Vertreibungspolitik seitens Israels handelte, die bereits vor der Staatsgründung begonnen hatte und im April 1948 mit dem Angriff auf das arabische Dorf Deir Yassin bei Jerusalem einen vorläufigen Höhepunkt erreichte (2, S. 36 f.; 13, S. 25; 16).

Auch in späteren Kriegen in dieser Region kam es immer wieder zu Fluchtbewegungen der PalästinenserInnen – im Verlaufe des 6-Tage-Krieges im Jahre 1967 waren es zum Beispiel etwa
500 000 Menschen (31, S.4), sodass Ende des Jahres 1996

  • 1.300.000 PalästinenserInnen in Jordanien,
  • 352.700 im Libanon,
  • 347.400 in Syrien,
  • 247.800 in Saudi Arabien,
  • 71.000 in Ägypten, Kuweit und Jemen (12, S. 3; 11),

insgesamt also etwa 2,4 Mio PalästinenserInnen außerhalb ihres eigenen Landes leben mussten. Von ihnen waren etwa 850.000 in Flüchtlingslagern untergebracht, die übrigen lebten verstreut in Städten und Dörfern (31, S. 5).

Rechtsstatus der PalästinenserInnen im Nahen Osten

Keines der arabischen Aufnahmeländer hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) aus dem Jahre 1951 unterzeichnet, so der Stand am 23.7.1996 (43). Dies bedeutet, dass die palästinensischen Flüchtlinge, die in diesen Ländern leben, sich nicht auf den Schutz nach diesem Abkommen berufen können (4, S. 162). Sollte der eine oder andere dieser Staaten die Unterzeichnung der GFK vornehmen, würde auch in diesem Fall der Schutz der GFK gegenüber palästinensischen Flüchtlingen unter Umständen nicht zur Geltung kommen: Artikel 1 D der GFK besagt nämlich, dass sie keine Anwendung findet auf Personen, welche zum Zeitpunkt ihres Zustandekommens (28.7.1951) bereits den Schutz einer UN-Organisation genießen. Dies trifft für die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und auch im Libanon zu, sie unterstehen UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugees in the Near East), der bereits im Jahre 1949 eigens zum Schutz der palästinensischen Flüchtlinge ins Leben gerufenen UN-Organisation (51, S. 23 ff.). Hält sich ein palästinensicher Flüchtling allerdings in einem Land außerhalb der Operationsgebiete von UNRWA auf, so kann er sich auf die GFK berufen, sofern bzw. nachdem das Land seines Aufenthaltes der GFK beigetreten ist (26, Kap. IV B Ziff. 142 f.; 14, S. 73).

Ein weiteres Problem der palästinensischen Flüchtlinge liegt darin, dass sie Staatenlose sind. Palästina war bis zum Jahre 1948 britisches Mandatsgebiet. Die PalästinenserInnen besaßen folglich den Status als Mandatszugehörige, doch begründete weder dieser, noch die Zugehörigkeit zur palästinensischen Nation eine Staatsangehörigkeit im völkerrechtlichen Sinne (4, S. 162). In den arabischen Aufnahmeländern sind die PalästinenserInnen nicht in den Genuss der jeweiligen Staatsangehörigkeit gekommen, außer in Jordanien, dessen Regierung ihnen seit 1952 das Recht die jordanische Staatsangehörigkeit zu erwerben zuerkannt hatte (14, S. 120).

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung der palästinensischen Flüchtlinge nach Rückkehr in das ehemalige Mandatsgebiet Palästina, so wie es in der Resolution Nr. 194 (III) der UN-Vollversammlung vom 11.12.1948 vorgesehen ist (53, S. 24), von besonderer Brisanz und in unmittelbarem Zusammenhang zu sehen mit der nunmehr anvisierten Gründung eines Staates Palästina, welche die Schaffung einer palästinensischen Staatsangehörigkeit für die dort lebenden PalästinenserInnen – und damit eine wesentliche Status-Verbesserung – implizieren würde (33; 4, S. 162).

Palästinensische Flüchtlinge
im Libanon

Aufenthaltsrechtlicher Status

Was den Rechtsstatus der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon angeht, so sind die Flüchtlinge in diesem Land – über das bisher Gesagte hinaus – massiven rechtlichen Diskriminierungen bis hin zur Verweigerung der bürgerlichen Freiheitsrechte ausgesetzt.

Bezogen auf das Aufenthaltsrecht hat sich der Status der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Zwar wird ihnen grundsätzlich ein Recht auf Aufenthalt zugestanden, vorausgesetzt sie sind bei UNRWA registriert. Ab dem Jahr 1962 erhielten sie auch das Recht auf freie Ausreise aus dem und Einreise in den Libanon, wenn sie entsprechende Reisedokumente vorweisen konnten (9, S. 5).

Diese Situation änderte sich jedoch schlagartig, als die libysche Regierung im September 1995 die Ausweisung aller dort lebenden PalästinenserInnen – also auch der etwa 10.000 palästinensischen Flüchtlinge aus dem Libanon – verfügte: Durch Beschluss des libanesischen Innenministers Nr. 478 vom 23. 9. 1995 wurde festgeschrieben, dass PalästinenserInnen mit Wohnsitz im Libanon das Land nur mit Ausreiseerlaubnis verlassen dürften; vor allem aber mussten sich PalästinenserInnen, die sich außer Landes befinden, bei den libanesischen diplomatischen Vertretungen ihres jeweiligen Aufenthaltslandes ein Visum für die Einreise in den Libanon beschaffen, wobei dies nicht für LibanesInnen galt, die in Syrien lebten (14, S. 146 f.). Gleichzeitig wurden die diplomatischen Vertretungen im Ausland seitens der libanesischen Regierung angewiesen, PalästinenserInnen kein derartiges Einreisevisum auszustellen (14, S. 37 f.).

Die Massenausweisung der PalästinenserInnen aus Libyen bot eine willkommene Gelegenheit, diese schon lange vorher konzipierte Maßnahme umzusetzen. Begründet wurde die neue Regelung damit, dass der Libanon eine solch große Anzahl von Flüchtlingen nicht aufnehmen könne, dass man den Aufenthalt von nicht registrierten Flüchtlingen verhindern und – nicht zuletzt – deren endgültige Niederlassung im Libanon unterbinden wolle. In diesem Zusammenhang fiel denn auch der entlarvende Satz des damaligen Regierungsmitglieds, Nicolas Fattusch, demzufolge der Libanon „keine Halde für Menschenmüll“ werden dürfe (14, S. 40 ff.).

Seit Einführung der Maßnahme vom September 1995 unterlag also vor allem die Einreise und damit die Gewährung eines Aufenthaltsrechts für palästinensische Flüchtlinge der willkürlichen Entscheidungsgewalt der libanesischen Regierung. Es liegt auf der Hand, dass diese Restriktionen und ebensolche in anderen Bereichen jeglicher Zuwanderung einen Riegel vorschieben bzw. den Auswanderungsdruck auf die palästinensischen Flüchtlinge intensivieren sollten (14, S. 23 ff.).

Für die Regierung des Libanon schien es ohne Belang, dass sie mit dem Beschluss Nr. 478 gegen das Protokoll von Casablanca verstieß, in dem sich die Staaten der Arabischen Liga einschließlich Libanon im Jahre 1965 verpflichtet hatten, die PalästinenserInnen bezüglich Reisefreiheit und Aufenthaltsrecht ebenso zu behandeln wie die Bürger des jeweiligen eigenen Landes (9, S. 5; 14, S. 73).

Neuen Informationen zufolge soll die Maßnahme vom September 1995 inzwischen wieder aufgehoben worden sein (0).

Unterbringung

Die vielen Benachteiligungen, welche Flüchtlinge im Libanon erfahren müssen, wurden uns deutlich während der Besuche, die wir in den Flüchtlingslagern Burj Al-Shimali bei Tyros, Bourj Al-Barajneh und= Shatila machten.

Mehr als die Hälfte der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon leben in den 12 über das Land verstreuten Lagern (14, S.13). Diese sind inzwischen völlig überfüllt: Das Lager Burj Al-Shimali z.B. war anfangs, d.h. nach 1948, für 5.000 Personen vorgesehen. Heute leben dort ca. 20.000 Menschen. Vergleichbar ist die Entwicklung auch in den anderen Lagern (10, S. 9).

Die Überfüllung ist zum einen dem natürlichen Bevölkerungszuwachs geschuldet, zum anderen der Tatsache, dass andere Lager – es waren nach 1948 insgesamt mindestens 14 gewesen (9, S. 5; 1, S. 20) – während des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieges im Libanon (1975–1990) oder in Folge israelischer Angriffe teilweise oder ganz zerstört wurden. So wurde im Jahr 1976 im Lager Tell Al-Za'ter in der Nähe von Beirut von rechten Milizen ein Massaker angerichtet und es schließlich völlig zerstört; die Lager Shatila und Sabra wurden durch christliche Milizen nach dem Einmarsch der israelischen Armee in den Libanon im Jahr 1982 mit Billigung der israelischen Militärführung nach einem Massaker ebenfalls zerstört (14, S. 7, 129; 9, S. 5). Das Lager Shatila ist seit seiner Gründung insgesamt viermal zerstört und wieder aufgebaut worden (0).

Viele Flüchtlinge wurden infolge der Angriffe obdachlos und waren gezwungen andernorts, vor allem in anderen Lagern, Unterschlupf zu suchen. Der libanesische Staat begegnete dem mit äußerster Härte. Durch Verwaltungsanordnung wurden verboten:

  • die flächenmäßige Erweiterung der bestehenden Lager,
  • die mehrstöckige Bebauung,
  • die nachträgliche Aufstockung von Gebäuden.

Außerdem ist der Wiederaufbau der zerstörten Lager untersagt, ebenso wie die Errichtung neuer Lager oder das Bauen außerhalb der Lager. Auch die Trinkwasser- und Stromversorgung sowie die Kanalisation wurden in den zerstörten Lagern nicht wieder hergestellt (9, S. 6; 14, S. 23 f.).

Dass in diesen Lagern viel zu viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben wird schon offensichtlich, wenn man an Ort und Stelle nur herumgeht. Dieser Eindruck bestätigte und intensivierte sich durch Besuche bei verschiedenen Familien: Hier wohnen z.B. acht Personen in zwei Räumen oder fünf Personen in einem Raum, sieben Personen haben eineinhalb Räume zur Verfügung usw.

Darüber hinaus hinterlässt aber auch der Gesamtzustand der Lager einen erschütternden Eindruck, vor allem, wenn man bedenkt, dass viele Menschen hier bereits seit 50 Jahren ihr Leben zubringen müssen. Die Behausungen selbst – aus Brettern oder Steinen zusammengestellt – sind äußerst notdürftig. Der jeweilige Innenraum ist dunkel, klein – gemessen an der Zahl der Personen, die darin leben müssen – und es sind nur ein paar Sitzgelegenheiten vorhanden: Kissen oder Tücher auf dem Boden oder einige Stühle aus Plastik, übereinander gestapelt. Anstelle von Betten sieht man Matten auf den Betonböden liegen. Die Wellbleche, mit denen die Wohnräume überdeckt sind, sind undicht, sodass es hinein regnen kann. Die jeweilige »Küche« ist ein winziger Raum, darin einige wenige Geräte und Töpfe.

Jede Familie hat in ihrer Unterkunft eine Sickergrube; Wasserversorgung gibt es hingegen in den Unterkünften meist nicht. Um die Wasserzapfhähne draußen sieht man vielmehr oftmals kleinere Menschenansammlungen stehen und warten: 20 bis 30 Familien müssen sich einen Zapfhahn teilen. Die Wasserzufuhr wird außerdem zeitweilig abgeschaltet. Überall auf den Wegen die durch die Lager führen sieht man – trotz strahlenden Sonnenscheins und sehr warmer Temperaturen – Pfützen, die nicht weg trocknen: die Wasserleitungen, die an den Häuserwänden entlang laufen, sind undicht, Brauchwasser und Trinkwasser mischen sich. Wo man hinsieht liegen kleinere Müllhaufen oder gar Müllhalden in den engen Gassen oder auf Plätzen.

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es nur zwei befestigte Straßen für die durch das Lager fahrenden Busse, ansonsten sind die Wege unbefestigt, die Gassen eng und dunkel. Auch dieses Lager wurde im Jahre 1982 durch die Israelis bombardiert: Vom Meer aus schossen sie direkt und gezielt auf einzelne Unterkünfte, sodass schließlich 150 Personen getötet und 15 vermisst wurden. Ein vor fünf Jahren bei UNRWA eingebrachter Antrag, wegen der gesundheitlichen Gefahren für die BewohnerInnen Mittel für die Sanierung dieses Lagers zur Verfügung zu stellen, blieb ohne Resonanz (0).

Im Lager Shatila leben heute neben palästinensischen Flüchtlingen zu 50 % auch LibanesInnen, KurdInnen und SyrerInnen, die wegen ihrer extremen Armut keine andere Unterkunft finden können(0).

Das Projekt »Beirut 2 000«, ein gigantisches Großprojekt zum Wiederaufbau, zur Sanierung und Modernisierung der Innenstadt von Beirut unter Federführung des bis Ende 1998 amtierenden Ministerpräsidenten und Milliardärs Rafik Hariri, ist mitten im Gang und das mit Priorität geförderte und mittlerweile restaurierte Bankenviertel ein gelungenes Vorzeigeobjekt (41; 22, S. 16). Im Verlaufe der Realisierung dieses Konzepts sollen die vier um Beirut angesiedelten Flüchtlingslager, u.a. auch Shatila und Bourj Al-Barajneh, aufgelöst werden, weil durch das jeweilige Lagergebiet eine breite Autotrasse gelegt werden soll. Die dort lebenden Flüchtlinge sollen eventuell in den Norden und in die Bekaa-Ebene umgesiedelt werden – in das Gebiet also, das am weitesten von Palästina entfernt liegt und von dem nicht klar ist, ob dort ein Existenzminimum überhaupt gewährleistet sein wird (9, S. 11; 0)

Arbeitsmöglichkeiten, Einkommen, Armut

Die palästinensischen Flüchtlinge unterliegen im Libanon äußerst restriktiven Regulierungen im Hinblick auf Möglichkeiten einer Arbeitsaufnahme. In ungefähr 65 – insbesondere akademischen – Berufen ist ihnen seit 1982 eine Beschäftigung untersagt. Durch ein Dekret der libanesischen Regierung vom Dezember 1995 wurde dieses gesetzliche Berufsverbot nochmals bestätigt und festgeschrieben, dass bestimmte Berufe nur von LibanesInnen ausgeübt werden dürfen (9, S. 5; 14, S. 24). Es sind dies u.a. Berufe im Bereich Management und Buchführung, Informatik, Handel, Geldwechsel sowie die meisten Handwerksberufe, juristische, medizinische, pharmazeutische Berufe, ArchitektIn und IngenieurIn (10, S. 50, 54).

Für die Ausübung aller übrigen Berufe – dazu zählen Berufe in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Textil- und Reinigungsgewerbe, in der Gastronomie und der Krankenpflege – bedürfen palästinensische Flüchtlinge einer Arbeitserlaubnis, die allerdings nur sehr selten erteilt wird: Im Jahr 1994 waren es gerade eben 100 (14, S. 24) und auch im Jahr 1995 nur 354 Arbeitsgenehmigungen (14, S. 24; 10, S. 54). Demgegenüber hat die Regierung des Libanon inzwischen ArbeiterInnen aus anderen Ländern (Sri Lanka, Ägypten, Indien, Philippinen), vor allem aber über 1 Mio. syrische Arbeitskräfte, ins Land geholt bzw. gelassen: diese sind überwiegend im Baugewerbe – das zuvor insbesondere den palästinensischen Flüchtlingen vorbehalten war – und im hauswirtschaftlichen Bereich beschäftigt (29, S. 666; 22, S.16; 9, S. 5). Hier ist die Praxis der Erteilung von Arbeitsgenehmigungen weitaus liberaler: Im Jahr 1995 erhielten mehr als 1.000 SyrerInnen, etwa 11.600 ÄgypterInnen und 14.253 Sri LankerInnen eine solche (10, S. 54).

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es nur zwei befestigte Straßen für die durch das Lager fahrenden Busse, ansonsten sind die Wege unbefestigt, die Gassen eng und dunkel. Auch dieses Lager wurde im Jahre 1982 durch die Israelis bombardiert: Vom Meer aus schossen sie direkt und gezielt auf einzelne Unterkünfte, sodass schließlich 150 Personen getötet und 15 vermisst wurden. Ein vor fünf Jahren bei UNRWA eingebrachter Antrag, wegen der gesundheitlichen Gefahren für die BewohnerInnen Mittel für die Sanierung dieses Lagers zur Verfügung zu stellen, blieb ohne Resonanz (0).

Im Lager Shatila leben heute neben palästinensischen Flüchtlingen zu 50 % auch LibanesInnen, KurdInnen und SyrerInnen, die wegen ihrer extremen Armut keine andere Unterkunft finden können(0).

Das Projekt »Beirut 2 000«, ein gigantisches Großprojekt zum Wiederaufbau, zur Sanierung und Modernisierung der Innenstadt von Beirut unter Federführung des bis Ende 1998 amtierenden Ministerpräsidenten und Milliardärs Rafik Hariri, ist mitten im Gang und das mit Priorität geförderte und mittlerweile restaurierte Bankenviertel ein gelungenes Vorzeigeobjekt (41; 22, S. 16). Im Verlaufe der Realisierung dieses Konzepts sollen die vier um Beirut angesiedelten Flüchtlingslager, u.a. auch Shatila und Bourj Al-Barajneh, aufgelöst werden, weil durch das jeweilige Lagergebiet eine breite Autotrasse gelegt werden soll. Die dort lebenden Flüchtlinge sollen eventuell in den Norden und in die Bekaa-Ebene umgesiedelt werden – in das Gebiet also, das am weitesten von Palästina entfernt liegt und von dem nicht klar ist, ob dort ein Existenzminimum überhaupt gewährleistet sein wird (9, S. 11; 0)

Gesundheit

Im Flüchtlingslager Burj Al-Shimali wurden uns Einzelheiten zur gesundheitlichen Situation und Versorgung der Flüchtlinge berichtet. Mehr als die Hälfte der 20.000 in diesem Lager lebenden Menschen sind nach Einschätzung des Sozialarbeiters, der uns begleitete, krank. Die am häufigsten vorkommenden Krankheiten sind Diabetes, zu hoher Blutdruck und Herzkrankheiten. 55 Personen leiden an Thalassämia, einer erblichen Krankheit, bei der sich die weißen Blutkörperchen zu stark vermehren. Aus finanziellen Gründen bleiben chronisch kranke Flüchtlinge in der Regel ohne ärztliche Therapie (14, S. 29); dies gilt insbesondere für PatientInnen mit der zuletzt genannten – unter Umständen lebensverkürzenden – Krankheit, deren Therapie sich über ein Jahr hinziehen und pro Behandlung 100 US$ kosten würde (0). Eingeschränkt werden Behandlungsmöglichkeiten durch das Alter. Für PatientInnen über 60 Jahre wird von UNRWA keine Behandlung mehr finanziert (0; 9, S. 8).

Im Lager Burj Al-Shimali gibt es eine Klinik, in der libanesische und palästinensische ÄrztInnen arbeiten. Innerhalb der Flüchtlingslager besitzt das Berufsverbot – wie gesagt – keine Geltung. Die ÄrztInnen behandeln im Schnitt 200 PatientInnen pro Tag; in diesem Lager kommen auf einen Arzt ca. 17.000 PatientInnen, so wurde uns im Gespräch berichtet. Verglichen mit der gesetzlichen Regelung, wonach auf eine Ärztin/einen Arzt etwa 6.000 PatientInnen kommen sollen, ist dies eine Verdreifachung (0). Die Behandlung durch ÄrztInnen und ZahnärztInnen ist für die Flüchtlinge kostenlos, die Kosten werden von UNRWA übernommen (0). Im Falle eines Krankenhausaufenthaltes übernimmt UNWRA 2/3 der Kosten für ein Krankenhausbett; Arzthonorar, Untersuchungs- und Behandlungskosten müssen die PatientInnen selbst bezahlen (10, S.51).

Der krasse Unterschied zwischen diesem Niveau der Gesundheitsversorgung und dem im Libanon allgemein in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht gültigen, wird deutlich an der Einschätzung des Auswärtigen Amtes der deutschen Bundesregierung, wonach der Libanon „ – bei leichten regionalen Unterschieden – ein Land mit einem recht hohen Niveau medizinischer Versorgung“ ist. Mehr als dezent erscheint hingegen der anschließende Hinweis, „Palästinensische Flüchtlinge werden von den Gesundheitsdiensten der UNWRA im Rahmen deren Möglichkeiten versorgt“ (58, S. 11 f.).

Bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass Hizb Allah (Partei Gottes), die im Jahre 1982 nach der Invasion Israels im Libanon gegründete schiitische Organisation (1, S. 20; 35, S. 89), in Beirut seit 1988 ein Krankenhaus mit inzwischen 130 Betten unterhält: Hier, im Stadtrandgebiet von Beirut, wird therapiert, operiert, es werden Kinder zur Welt gebracht und alle können die dort angebotenen Möglichkeiten kostenlos in Anspruch nehmen (0). Diese Art außerstaatlicher Sozialpolitik erscheint charakteristisch für die Hizb Allah, die z.B. im Lager Bourj Al-Barajneh und in verschiedenen Vororten Beiruts auch Wassertanks installiert hat und diese täglich mehrmals mit Trinkwasser auffüllt (0; 10, S. 21). Im Gespräch mit dem Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden des Rates der Hizb Allah, Hajj Mohamad Raad, wurde deutlich, dass sich die Organisation inzwischen als politische Partei organisiert hat – sie ist seit den Wahlen im Jahre 1996 wieder mit 7 Abgeordneten im Parlament vertreten (15, S. 6) – die einerseits den bewaffneten Widerstand gegen die Besetzung des Südlibanon durch die israelische Armee an- und fortführt, andererseits ihre politischen und parlamentarischen Aktivitäten auf sozialpolitische Bereiche – medizinische und soziale Grundversorgung, Schulbildung und Ausbildung – konzentriert (0; 35, S. 89; 15, S. 6).

Schule, Ausbildung

In allen von uns besuchten Flüchtlingslagern gibt es Hauptschulen, die von UNRWA betrieben werden. Die Klassengröße liegt bei 40 bis 45 SchülerInnen. Das libanesische Gesetz sieht dagegen eine maximale Klassengröße von 25 SchülerInnen vor (0). Insgesamt unterhält UNRWA im Libanon 75 Schulen der Grund- und Mittelstufe (9, S. 12). Zwei Gymnasien stehen für 650 SchülerInnen zur Verfügung (0).

Immer wieder, so berichtete uns die Sozialarbeiterin mit der wir im Lager Bourj Al-Barajneh sprachen, sei es notwendig Zusammenkünfte für Mütter von Kindern oder Jugendlichen zu organisieren um das Thema »Schulbesuch statt Kinderarbeit« zu besprechen. Diesbezügliche Angaben von UNRWA zeigten für die Jahre 1993/94, dass 56% der palästinensischen Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und neunzehn Jahren nicht in die Schule gingen. Bei den bis 17-Jährigen waren es knapp über 70%, bei den 18- bis 19-Jährigen sogar 93% (9, S. 12).

Die Analphabetenrate unter den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon betrug in den Jahren 1994/95 bei Männern 8%, bei Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren 19% (9, S. 12); sie ist im Steigen begriffen (0; 14, S. 30).

Demokratische Partizipation

Das Recht auf Meinungsfreiheit, auf gewerkschaftliche Betätigung und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf politische Betätigung und Schutz vor staatlicher Willkür und auch der Erwerb von Eigentum sind den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon verwehrt (14, S. 148 ff.). Hier ist allerdings anzumerken, dass die Missachtung von Grundrechten auch gegenüber libanesischen Staatsbürgern zum politischen Alltag gehört (47; 40, S. 369 ff.; 11, S. 462 f.).

Der Erwerb der libanesischen Staatsangehörigkeit wird v.a. von Seiten christlicher Politiker zu verhindern versucht, wiewohl ein Gesetz aus dem Jahre 1925 vorsieht, dass eingebürgert werden kann, wer seit fünf Jahren legal im Libanon ansässig ist (30, S. 236).

Dass dies vorerst so bleiben wird, hängt u.a. mit dem Konfessionsproporz zusammen, der im Libanon bereits im 19. Jahrhundert etabliert und durch die Verfassung aus dem Jahre 1926 und den (ungeschriebenen) Nationalpakt von 1943 bestätigt wurde (35, S.86; 30, S. 246). Inhalt dieses Proporzes ist die Regelung, dass Regierungsämter und Ämter des öffentlichen Dienstes im Verhältnis 6 : 5 an ChristInnen und MuslimInnen zu vergeben sind (35, S. 86 f.).

Im Nationalpakt kam man überein, diesen Proporz auch in Bezug auf die Besetzung der Parlamentssitze anzuwenden (30, S. 246). In dem nach Beendigung des Bürgerkrieges im Jahre 1989 geschlossenen Abkommen von Ta'if wurde der Konfessionsproporz schließlich dahingehend revidiert, dass die Parlamentssitze nunmehr im Verhältnis 50 : 50, also paritätisch von ChristInnen und MuslimInnen zu besetzen seien (14, S. 130).

Auch in dieser reformierten Fassung ist der Konfessionsproporz jedoch historisch überholt und undemokratisch, beruht er doch dem Grunde nach noch immer auf der Volkszählung aus dem Jahre 1932. Damals waren 51,2 % der Bevölkerung im Libanon christlichen und 48,2 % muslimischen Glaubens (19, S. 17; 1, S. 19). Inzwischen hat die muslimische Bevölkerung überproportional zugenommen (35, S. 87), sodass das Verhältnis bereits im Jahre 1986 mit 60–73 % MuslimInnen und 26-39 % ChristInnen angegeben wurde (8, S. 471; 11, S. 461; 30, S. 236f.). Würde nunmehr den palästinensischen Flüchtlingen, die muslimischen Glaubens – überwiegend sunnitischer Prägung – sind, die libanesische Staatsbürgerschaft zuerkannt, so käme der Konfessionsproporz in eine noch weitaus größere Schieflage und wäre politisch sicherlich nicht mehr aufrechtzuerhalten (14, S. 63; 15, S.11).

Allerdings ist hier anzumerken, dass auch die palästinensischen Flüchtlinge selbst die libanesische Staatsbürgerschaft nicht anstreben bzw. an einer dauerhaften Ansiedlung im Libanon kein Interesse haben. Dies wurde uns in unseren Gesprächen mehrfach erklärt und gilt jedenfalls noch derzeit. Zur Begründung verwiesen die GesprächsteilnehmerInnen darauf, dass die wenigen eingebürgerten (christlichen) PalästinenserInnen auch keine Wohnung und keine Arbeit besäßen. Zudem sehen die Flüchtlinge darin eine Aufgabe ihrer Rückkehroption bzw. einen Verzicht auf ihren Flüchtlingsstatus und des damit implizierten Rückkehr- und/oder Entschädigungsanspruchs sowie eine Aufgabe ihrer nationalen Identität (0; 14, S. 63).

Welche wesentliche Rolle die Pflege und Bewahrung der nationalen Identität als PalästinenserInnen für die Flüchtlinge in den Lagern spielt, wurde u.a. daran deutlich, dass überall in den von uns besuchten Räumen entsprechende Symbole (Nationalfahnen, Landkarten von Palästina, Verwendung der Nationalfarben in Handarbeiten und als Wandbemalung) verwendet wurden und dass uns am Ende jeden Gesprächs Jugendliche traditionelle Tänze in traditioneller Kleidung vorführten und uns den jeweiligen Herkunftsort dieser Tänze in Palästina nannten und genau beschrieben.

Beit Atfal Assumoud

Im Lager Mar-Elias sprachen wir mit dem Geschäftsführer der Stiftung Beit Atfal Assumoud – Haus der standhaften Kinder. Am Eingang des Lagers fällt eine mehrere Meter hohe und breite Müllhalde auf, in der Erwachsene und Kinder nach Brauchbarem herumsuchen – vor allem nach Kleidung, wie uns gesagt wurde.

Der Gesprächspartner stellt uns die Stiftung vor, die im Jahre 1976, kurz nach Beginn des Bürgerkrieges, als Haus für Waisenkinder gegründet wurde. Anlass war ein Massaker im Flüchtlingslager Tell Al-Za'ter, das die christlichen Phalangisten mit Rückendeckung der syrischen Regierung angerichtet hatten und bei dem 4.000 Menschen getötet und viele Kinder zu Waisen wurden. Für sie wurde die Organisation ins Leben gerufen. Heute werden von den MitarbeiterInnen der Stiftung 1.300 Kinder und Jugendliche in 770 Familien betreut. 600 Kinder besuchen die acht Kindergärten, die von Beit Atfal Assumoud in den verschiedenen Lagern eingerichtet wurden weil UNRWA keine solchen betreibt (9, S. 12). Außerdem gibt es elf von der Stiftung etablierte Sozialzentren in den verschiedenen Lagern. Darüber hinaus werden Angebote für Frauen und junge Mädchen gemacht: Alphabetisierungskurse, Ausbildung im Nähen, im Kunsthandwerk. Für männliche Jugendliche gibt es u.a. Arbeitsmöglichkeiten im Bauhandwerk sowie sprachliche, sportliche und kulturelle Angebote; Büchereien und Feriencamps stehen allen zur Verfügung.

Trotz all dieser Bemühungen nimmt die Aggressivität unter den Jugendlichen in den Flüchtlingslagern nach der Einschätzung unseres Gesprächspartners zu. Man erinnert sich dabei an die eingangs zitierte Vorwarnung von Rachid Boudjedra, die er bereits vor mehr als 25 Jahren notierte.

Die Arbeit von Beit Atfal Assumoud wird mit Hilfe von Spenden einzelner Personen aus dem In- und Ausland sowie kirchlicher und gemeinnütziger Organisationen finanziert. Unser Gesprächspartner verweist mehrfach und mit großem Nachdruck darauf, dass UNRWA ursprünglich als eine Organisation konzipiert war, die den palästinensischen Flüchtlingen gleichermaßen Hilfe und Unterstützung gewähren sollte, dass deren Präsenz und materielle Hilfeleistungen für die Flüchtlinge im Libanon aber in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen sei (0; 38).

Die Rolle der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)

UNRWA wurde am 8.12.1949 auf der Grundlage der Resolution Nr. 302 der UN-Vollversammlung gegründet um „die fortgesetzte Unterstützung der Palästinaflüchtlinge“ bis zur politischen Lösung des Palästinaproblems zu gewährleisten. Dabei sollte Hilfe bei der „Vermeidung von Hunger und Elend“ geleistet und „friedliche und stabile Verhältnisse“ gefördert werden (51; 17, S. 208; 2, S. 37). Die wichtigsten GeldgeberInnen sind derzeit die USA, die EU und Japan, wobei die Höhe der Geldbeträge dem Ermessen der Geberländer anheimgestellt ist (2, S. 38; 31, S. 6).

Die Registrierung als Flüchtling durch das UNRWA ist für die PalästinenserInnen von existenzieller Bedeutung, berechtigt sie doch zum Empfang von Leistungen. Ein Palästinaflüchtling, so wurde von der UNO im Jahre 1950 definiert, „ist eine Person, deren gewöhnlicher Wohnort mindestens zwei Jahre vor dem Konflikt von 1948 Palästina gewesen ist, die infolge dieses Konflikts ihre Unterkunft sowie ihren Lebensunterhalt verlor und 1948 in eines der Länder flüchtete, in denen das UNRWA Hilfe leistet. Flüchtlinge im Rahmen dieser Definition und deren direkte Nachkommen haben ein Anrecht auf die Unterstützung des Hilfswerks, wenn sie

  • vom UNRWA erfasst wurden,
  • in Gebieten leben, in denen das UNRWA aktiv ist,
  • bedürftig sind“ (31, S. 5).

Die Registrierung durch UNRWA ist aber auch die einschlägige Rechtsgrundlage für das Recht auf Rückkehr und/oder zukünftige Entschädigungsansprüche (14, S. 75, 80; 2, S. 38): Bei der Gründung von UNRWA war man davon ausgegangen, dass die Palästinafrage alsbald politisch gelöst sein werde, sodass die palästinensischen Flüchtlinge wieder in ihr Heimatland zurückkehren könnten oder aber in dem jeweiligen arabischen Land verbleiben würden. Demgemäß hatte die UN-Generalversammlung die Losung »Repatriierung oder Entschädigung« ausgegeben (53, S. 24; 31, S. 5).

Entgegen der Resolution Nr. 194 (III). der UN-Vollversammlung aus dem Jahre 1948 (53) und Nr. 237 des UN-Sicherheitsrates vom 14. 6. 1967 (52) verweigert Israel den palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr und leugnet damit zugleich die Verantwortung für ihre Vertreibung (44, S. 154; 13, S. 28). Gleichermaßen lehnten die meisten arabischen Aufnahmeländer eine dauerhafte Ansiedlung der Palästinaflüchtlinge ab (2, S. 37; 14, S. 24f., 63). Dem entspricht, dass das Mandat von UNRWA jeweils auf drei Jahre befristet wird und kontinuierlich verlängert werden muss: Das derzeitige Mandat reicht bis zum 30. Juni 1999 (31, S. 5; 10, S. 55).

Heute sind etwa 3,3 Mio. palästinensische Flüchtlinge bei UNRWA registriert, davon etwas mehr als 350.000 (knapp 11%) im Libanon, von denen wiederum 194.000 in Lagern leben (17, S. 213; 9, S. 4; 15, S. 10; 58, S.4). Zusätzlich gibt es im Libanon noch 100.000 bis 150.000 palästinensische Flüchtlinge, die nicht bei UNRWA registriert sind (21, S. 198).

Zunächst lag das Schwergewicht der Arbeit von UNRWA auf der Entwicklung von Siedlungsprogrammen und Programmen zur Arbeitsbeschaffung mit dem Ziel der Integration der palästinensischen Flüchtlinge in die jeweiligen Aufnahmeländer. Da dies wegen der geschilderten Vorbehalte auf beiden Seiten ohne Erfolg blieb (4, S. 162), verlagerte UNRWA ihren Arbeitsschwerpunkt nunmehr auf die materielle Versorgung der Flüchtlinge, auf Soziales, Gesundheit, einschließlich Versorgung mit sanitärer Infrastruktur, auf Bildung und Ausbildung (21, S. 201; 2, S. 37). So betrieb UNRWA im Haushaltsjahr 1990/91 insgesamt 632 Grund- und Hauptschulen mit 10.902 LehrerInnen und 365.625 SchülerInnen, 104 Gesundheitszentren, in denen sechs Mio. PatientInnen behandelt wurden. Es gab damals noch acht Berufsschulen mit 5.146 Studienplätzen und Hochschulstipendien für 641 Flüchtlinge (31, S. 5).

Die Tatsache, dass für die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ein fast vollständiges Arbeitsverbot besteht und dass sich die PLO im Jahr 1982 aus dem Libanon zurückziehen musste (37, S. 472) und seit 1991 ihre Unterstützungsleistungen erheblich reduziert hat, führt dazu, dass UNRWA eine um so wichtigere Rolle bei der Sicherung der Existenzbedingungen für die Flüchtlinge in den libanesischen Lagern spielt (14, S. 16, 19, 57; 2, S. 36). Nicht zuletzt ist UNRWA mit insgesamt 22.000 Arbeitsplätzen, davon 2.500 Beschäftigten in den libanesischen Flüchtlingslagern, der wichtigste Arbeitgeber für PalästinenserInnen im Libanon. (17, S. 213; 10, S. 55).

Allerdings entspricht dieser gewachsenen Bedeutung keine Heraufsetzung des Budgets: Vielmehr befand sich UNRWA im Jahr 1997 in der schwersten Finanzkrise seit ihrer Gründung. Das Haushaltsdefizit in Höhe von 20 Mio. US$ war deshalb für den Generalkommissar von UNRWA Anlass, die Aufrechterhaltung des bisherigen Leistungsniveaus grundlegend in Zweifel zu ziehen (17, S. 213).

Diese Entwicklung schlägt sich unmittelbar zum Nachteil der palästinensischen Flüchtlinge nieder: So musste die Unterstützung pro Flüchtling von 120$ (1992) auf 90$ (1997) im Jahr reduziert werden (2, S. 39). Die Zahl der zu betreuenden Flüchtlinge hatte in den vorangegangenen Jahren zu-, die Geldspenden der Geberländer dagegen abgenommen oder sie waren gleich geblieben, ohne dass UNRWA Möglichkeiten hatte, dieses durch anderweitige Geldein- oder aufnahmen zu kompensieren (17, S. 213).

Die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind von diesen finanziellen Restriktionen überproportional betroffen, konzentriert sich doch die Geldverteilung sowohl für allgemeine als auch für besondere Hilfsprogramme seitens UNRWA schon seit längerem auf die palästinensischen Autonomieregionen, insbesondere auf Ghaza (14, S. 83; 9, S. 7; 17, S. 209 f.; 2, S. 38).

Dies steht im Zusammenhang mit der im Jahre 1991 begonnenen Diskussion, der zufolge sich UNRWA nach der Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblems in Ghaza und der Westbank (!) „auflösen und seine Einrichtungen, Strukturen und Dienste an die entstehenden palästinensischen Institutionen übergeben“ soll (31, S. 10). Im Juni 1994 kündigte der Generalsekretär der Vereinten Nationen öffentlich an, der Sitz des UNRWA werde von Wien nach Ghaza verlegt und verwies zur Begründung darauf, dass die Probleme der palästinensischen Flüchtlinge dort am größten seien und UNRWA den Friedensprozess unmittelbar am Ort des Geschehens am wirksamsten unterstützen könne. Diese Entscheidung wurde im Juli 1996 realisiert und eine enge Kooperation zwischen UNRWA und der palästinensischen Autonomiebehörde entwickelt (17, S. 210 f.; 9, S.7): Vorstufe der anvisierten Übergabe ?!

Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Verlegung der UNRWA-Zentrale nach Ghaza zugleich eine „bewusste Marginalisierung der Flüchtlingsfrage bedeute“. Indem der Autonomieregion absoluter Vorrang – nicht nur hinsichtlich der Zuteilung der finanziellen Ressourcen – eingeräumt wird, werden die externen Flüchtlinge im Libanon und in Syrien (nicht dagegen in Jordanien) benachteiligt und in den Hintergrund gedrängt (9, S. 7).

Für die palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind diese Veränderungen deshalb besonders belastend, weil UNRWA die einzige Organisation ist, die sich noch um sie kümmert (17, S. 213). Es „macht sich Verzweiflung unter den Flüchtlingen breit und wirkt in hohem Maße politisch destabilisierend“, so beschrieb der Generalkommissar von UNRWA, Peter Hansen, im Jahre 1997 die Lage vor Ort (17, S. 213; 48, S.1). Er selber hatte im August 1997 angesichts des hohen Haushaltsdefizits drastische Sparmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung und Schulausbildung angekündigt – z. B. sollten SchülerInnen, die UNRWA-Schulen besuchten, ein Schulgeld in Höhe von 14 US$ pro Jahr bezahlen, eine für die Betroffenen hohe und nicht bezahlbare Summe. Gegen diese Forderung hatte sich allenthalben massiver Protest erhoben (2, S. 35f.).

Die Marginalisierung der palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 Palästina verlassen mussten, ist aber auch Kennzeichen der seit 1993 zwischen Israel und den PalästinenserInnen geschlossenen Friedensverträge. In Art. 5 der »Prinzipienerklärung über Vereinbarungen zur übergangsweisen Selbstverwaltung« vom 19.9.1993 (Gaza-Jericho-Abkommen, auch Oslo I genannt; 45, S. 1255; 44, S. 171) ist geregelt, dass Verhandlungen über einen dauerhaften Status zwischen Israel und PalästinenserInnen sobald wie möglich, spätestens aber mit dem Beginn des 3. Jahres der insgesamt fünf Jahre währenden Übergangsperiode beginnen müssen, und dass sie unter anderem das Thema Flüchtlinge zum Beratungsgegenstand haben werden (18, S. 1281ff.; 44, S. 172). Diese sogenannten Endstatusverhandlungen (61) wurden zwar im Mai 1996 termingerecht eröffnet, mehr geschah allerdings in Anbetracht der damals neu gewählten Regierung Netanyahu nicht (14, S.106; 20, S.198). Die palästinensischen Flüchtlinge aus der Zeit um 1948 werden auch in den nachfolgenden Abkommen vom 29.4.1994 (Paris-Abkommen) und vom 28.9.1995 (Taba-Abkommen, auch Oslo II genannt; 45, S. 1257) nicht erwähnt (14, S. 107f.).

Anders dagegen wurde mit den 1967 während des Sechs-Tage-Krieges aus Ghaza und der Westbank vertriebenen PalästinenserInnen verfahren: Für sie ist gemäß Art. 12 der Prinzipienerklärung ein Komitee vorgesehen, das über die Modalitäten ihrer Zulassung in die Autonomiegebiete entscheiden wird. Dieses Komitee wurde unter Beteiligung palästinensischer VertreterInnen, Israels, Ägyptens und Jordaniens gegründet und hat im März 1995 mit seiner Arbeit begonnen (14, S. 74).

Sicherheitszone

Ein letzter Besuch führte uns in den Südteil des Landes, in ein kleines Dorf – En Nmairiyé – in der Nähe der Stadt Nabatiye und nur einige Kilometer von der »Sicherheitszone« entfernt. Trotz der sehr schönen Berglandschaft spürte man hier mehr noch als andernorts die Anspannung der Menschen, die angesichts der in dieser Region ständig stattfindenden Kampfhandlungen in dauernder Gefährdung leben. Wir sprachen mit einer jungen palästinen sischen Flüchtlingsfamilie, die aus der BRD zurückgekehrt war und nun in diesem Ort zusammen mit ihren Eltern ihr Auskommen suchte. Im Verlaufe unseres Gespräches hörten wir immer wieder Schüsse.

Die Sicherheitszone, ca. 850 qkm groß und ca. 9% des libanesischen Territoriums umfassend, ist ein etwa 15 km breiter Gürtel im Süden Libanons, im Grenzgebiet zu Israel und Syrien, dessen Besetzung durch Israel im Jahre 1978 erfolgte (22, S. 17; 1, S. 21). Innerhalb dieses Gebietes leben etwa 150.000 Menschen, überwiegend SchiitInnen (1, S. 21), aber auch ChristInnen (34, S. 52). Israel hat dort etwa 1.000 Soldaten ständig stationiert und unterhält außerdem eine Söldnermiliz, die südlibanesische Armee (SLA) mit einer Stärke von 3.000 bis 4.000 Mann (58, S. 5). Die SLA ist damit beauftragt, im Bereich der Sicherheitszone jegliche Kooperation mit der Hizb Allah zu verhindern, Einreise in die und Ausreise aus der Sicherheitszone zu kontrollieren und Infiltrationsversuchen in dieses Gebiet entgegenzuwirken. Die militärischen Operationen – vor allem Angriffe gegen die Hizb Allah innerhalb der Sicherheitszone und auf palästinensische Guerillastellungen nördlich davon – liegen in der Verantwortung der israelischen Militärs; die SLA hat dabei lediglich unterstützende Obliegenheiten (24, S. Lib 001.024.001).

Die Hizb Allah wiederum ist eine nach der israelischen Invasion im Jahr 1982 entstandene, von Syrien und dem Iran unterstützte Miliz mit einer Stärke von 3.000 bis 5.000 Mann (58, S.6), die als einzige der vielen Milizen im Libanon nicht entwaffnet worden ist, weil sie ihre Aufgabe, gegen die israelische Besatzung im Südlibanon zu kämpfen, weiterhin erfüllen und aus syrischer Sicht als Druckmittel gegenüber Israel im Hinblick auf die Rückgabe der von Israel besetzten Golan-Höhen eingesetzt werden sollte (35, S. 88 f.; 11, S. 463; 1, S. 22).

Nicht nur die Sicherheitszone, sondern der Südlibanon insgesamt ist eine Region in der permanent bewaffnete Kämpfe stattfinden. In Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Libanon, Syrien und Israel wurde mehrmals vereinbart, dass ausschließlich militärische Ziele angegriffen werden dürfen, doch werden diese Vereinbarungen »unfriedlicher Koexistenz« (34, S. 51) nicht eingehalten, vielmehr immer wieder von beiden Seiten gezielt durchbrochen, sodass Menschen innerhalb und außerhalb der Sicherheitszone getötet werden oder fliehen müssen (11, S. 463; 20, S. 403 ff.; 34, S. 51).

Ein Beispiel für die großen Gefahren, in denen die Bevölkerung dort lebt, ist die Offensive der Israelis gegen die Hizb Allah im April 1996 während der israelische Artillerie-, See- und Luftstreitkräfte Gebiete im Südlibanon unter Beschuss nahmen. 300.000 bis 400.000 Personen mussten fliehen, über 150 ZivilistInnen verloren ihr Leben. Allein bei dem Angriff auf das kleine Dorf Qana, bei dem auf einen dort stationierten Hangar der UNIFIL-Truppen (UN Interim Forces in Lebanon) geschossen wurde, kamen mehr als 100 ZivilistInnen ums Leben und wurden etwa 100 Personen verletzt. Zusätzlich starben sechs Menschen, die in einem Krankenwagen aus der Gefahrenzone heraus transportiert werden sollten und währenddessen von einem Hubschrauber aus unter Raketenbeschuss genommen wurden (39, S. 341,346; 34, S. 52; 20, S. 403 f.).

Wir haben den eigens aus diesem Anlass eingerichteten Friedhof, der zugleich Mahnmal ist, in Qana besucht. Am Ortseingang hängt quer über der Straße ein Spruchband mit der Aufschrift: „Our victims blood is our voice to the world“.

Auch die Resolution Nr. 425 des UNO-Sicherheitsrates aus dem Jahr 1978 (56, S. 69), in der Israel zum sofortigen und bedingungslosen Rückzug seines Militärs aus dem Libanon aufgefordert worden war, ist folgenlos geblieben. Erst nach Jahren, im April 1998, bot die israelische Regierung an, ihre Truppen aus dem Südlibanon zurückzuziehen. Damit verband sie folgende Bedingungen: Frieden und Sicherheit müssten durch Auflösung der libanesischen Widerstandsbewegung –vor allem der Hizb Allah – garantiert werden, die libanesische Armee müsse die Kontrolle über die bisher von der Hizb Allah beherrschten Gebiete übernehmen und die Milizionäre der SLA amnestiert werden. Die Regierung des Libanon hat dieses Ansinnen in Absprache mit Syrien, der Patronatsmacht des Libanon, abgelehnt und damit begründet, dass in der UNO-Resolution von 1978 ein Abzug Israels ohne Bedingungen verlangt werde (27; 28).

Ein weiterer Vorschlag des damaligen Ministers für Infrastruktur im Kabinett Netanyahu, Ariel Sharon ( der als ehemaliger Verteidigungsminister Israels Verantwortung trägt für das Massaker im Jahre 1982; 27) vom November 1998, die israelischen Truppen einseitig aus dem Libanon abzuziehen, wurde von Netanyahu stante pede abgelehnt (32; 33).

Für die Bevölkerung in und um die Sicherheitszone bedeutet dies, dass sie auch weiterhin ständig Angst um Leib und Leben haben muss (23, S. 28; 32; 33; 36; 25). Dies hat sich auch in jüngster Zeit wieder gezeigt, als von beiden Seiten Waffen eingesetzt wurden und es Tote und Verletzte gab (FR 2. 3. und 3. 3. 1999). Das Versprechen, das der seit Mitte 1999 amtierende israelische Premierminister Ehud Barak (Arbeitspartei) während des Wahlkampfes abgab und während der Regierungsbildung bekräftigte, die Truppen aus dem Süden Libanons innerhalb eines Jahres abzuziehen, könnte Hoffnung aufkommen lassen, doch wird eine diesbezügliche Vereinbarung mit der Regierung des Libanon nur mit Zustimmung Syriens und unter Einbeziehung der Golanhöhen zustande kommen können (59, S.796; 58, S. 1). Barak hat für den Fall, dass diese Vereinbarung nicht zustande kommen sollte, allerdings einen einseitigen Abzug der israelischen Truppen aus Südlibanon in Aussicht gestellt (63).

Der massive Einfluss Syriens auf die Politik im Libanon, so sei hier zum besseren Verständnis hinzugefügt, gründet sich auf das bereits erwähnte Abkommen von Ta'if aus dem Jahre 1989, das zur Beendigung des Bürgerkrieges im Libanon geschlossen wurde, und auf das Sicherheitsabkommen zwischen Syrien und Libanon aus dem Jahr 1991, in dem eine weitreichende Kooperation libanesischer und syrischer Armee- und Sicherheitskräfte festgelegt wurde. Syrien erhielt das Recht, 35.000 Soldaten im Libanon zu stationieren, die zusammen mit einer größeren Anzahl syrischer Geheimdienst- und Sicherheitskräfte für die Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit nach Ende des Bürgerkrieges im Libanon zu sorgen hatten (58, S. 7). Im Bereich der Sicherheits- und Regionalpolitik bestimmt somit Syrien die Politik im Libanon, im wirtschaftlichen Bereich hat die Regierung Libanons dagegen freie Hand im eigenen Land (14, S. 131).

Perspektiven

Hält man sich die gegenwärtige Lage der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon und in den anderen Ländern vor Augen und überlegt die potenziellen politischen Perspektiven, so scheinen die Aussichten zu einer befriedigenden Lösung zu kommen nicht eben gut, denn das Desinteresse und die Abwehr gegenüber den palästinensischen Flüchtlingen besteht auf Seiten aller in dieses Problem involvierten Regierungen: Es ist einerseits offenkundig, dass die meisten Aufnahmeländer die Flüchtlinge nicht dauerhaft bei sich aufnehmen und integrieren wollen. Es ist andererseits offenkundig, dass Israel die Rückkehr einer so großen Zahl von Flüchtlingen in ihre Heimatgebiete bisher vehement abgelehnt hat, weil darin eine Gefahr für die nationale Sicherheit und auch eine individuelle Bedrohung gesehen wird. Eine gleiche Sichtweise hat Israel im Hinblick auf eine Reintegration der palästinensischen Flüchtlinge in die Autonomiegebiete.

Diese Option ist aber auch deswegen unrealistisch weil das den PalästinenserInnen zugesprochene Gebiet insgesamt nicht ausreicht um die Flüchtlinge aus der Diaspora aufzunehmen; insbesondere Ghaza ist bereits jetzt vollständig überfüllt. Aber auch im Westjordanland sind die palästinensischen Flüchtlinge als zusätzliche KonkurrentInnen um Land, Arbeitsplätze, Wohnungen und Hilfeleistungen nicht willkommen.

Nicht zuletzt ist auch das Interesse der PLO selbst an den Flüchtlingen inzwischen gering, dies wird z.B. anhand der bereits erwähnten Vertragsbestimmungen deutlich. Interesse an den ExilpalästinenserInnen seitens der PLO besteht wohl allenfalls dann, wenn es sich bei den Flüchtlingen um finanzkräftige Investoren oder um qualifizierte Intellektuelle handelt; die aber sind unter den rückkehrwilligen Flüchtlingen nicht eben häufig bzw. zeigen keine Neigung zurückzukehren (14, S. 61 f.; 49, S. 197 f.).

Was die neue Regierung Israels angeht, so erscheint bemerkenswert, dass Barak im Vorfeld seiner ersten Begegnung mit Yassir Arafat angekündigt hat, er wolle seinen Gesprächspartner dafür gewinnen, die Endstatus-Verhandlungen, bei denen es u.a. um die Ansprüche der palästinensischen Flüchtlinge aus den Kriegen von 1967 und 1948 geht, sofort in die laufenden Friedensverhandlungen einzubeziehen (62). Kurze Zeit später kündigte Barak an, er wolle die Vereinbarungen über den Endstatus bis Ende des Jahres 2000 abgeschlossen haben (63). Es ist nunmehr denkbar, dass der Problemkomplex »palästinensische Flüchtlinge« in absehbarer Zeit Verhandlungsgegenstand zwischen Israel und Arafat – unter Einschluss anderer beteiligter Regierungen – werden könnte. Im Vorgriff auf den Inhalt dieser Verhandlungen äußerte Barak allerdings bereits Zweifel im Hinblick auf eine potenzielle Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen nach Israel. Er sagte dazu, es sei „besser, wenn man für sie dort, wo sie jetzt leben, eine Lösung finden“ könnte (64). Damit bestätigt er die zuvor dargestellte Grundposition Israels – jedenfalls hinsichtlich der Ablehnung der Rückkehroption.

Exkurs: Palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon in der BRD

Nach Angaben im Ausländerzentralregister leben in der BRD 26.147 abgelehnte AsylbewerberInnen libanesischer Staatsangehörigkeit (Stand 31.7.1997; 55, S. 10 f.). Unklar ist, wie viele von ihnen palästinensische Flüchtlinge sind, da im Ausländerzentralregister die Staatsangehörigkeit, nicht aber die Volkszugehörigkeit erfasst wird (48, S.4).

PalästinenserInnen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen, werden im Register unter der Kategorie »ungeklärt« erfasst: hierunter waren am 31.12.1996 47.439 Personen registriert. Schätzungen zufolge sollen 3/4 dieser Personen palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon sein, darunter etwa 9.600 Ausreisepflichtige (57, S. 6; 48, S. 3).

Wiewohl die Bundesregierung die Lebensbedingungen der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon vor allem im Hinblick auf Arbeitslosigkeit, Gesundheitsversorgung, Unterkunft und Ausbildung als schlecht beurteilt (54, S. 3), reicht dieser Umstand allein nach allgemeiner Ansicht nicht aus, um einen Flüchtlingsstatus oder einen Daueraufenthalt zu begründen – so die Position der Bundesregierung im September 1997 (55, S. 12).

Auch die Gerichte erkennen palästinensische Flüchtlinge aus dem Libanon nicht als asylberechtigt an. Eine Durchsicht der Rechtsprechung in Asylangelegenheiten der Jahre 1994 bis 1998 in der BRD (5; 6; 7) zeigt, dass weder die Zugehörigkeit zum Volk der PalästinenserInnen als Asylgrund gewertet, noch eine Gruppenverfolgung angenommen wird (5, S. 218).

Das Bundesverwaltungsgericht stellte schon am 24.10.1995 – also kurz nach dem bereits erwähnten Dekret Nr. 478 des libanesischen Innenministeriums (s.o. S.5) – fest, dass die Einreiseverweigerung der libanesischen Regierung gegenüber PalästinenserInnen keine asylrelevante politische Verfolgung darstelle, sondern aus bevölkerungspolitischen, sozialen und sicherheitspolitischen Überlegungen eingeführt worden sei (6, S. 260).

Auch in anderen Verfahren im Jahre 1995 kamen die Gerichte zum Ergebnis, dass PalästinenserInnen im Libanon keinen asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind (6, S. 260 f.), wobei allerdings Fragen der Glaubwürdigkeit im Vordergrund der Urteile standen.

Einen anderen Ausgang nahm das Asylverfahren eines Palästinensers aus dem Libanon durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5.8.1998. Der Antragsteller hatte im Libanon Flugblätter verteilt, in denen er zum Boykott der Wahlen von 1992 aufgerufen und seine Befürchtung geäußert hatte, dass infolge des Wahlausgangs Syrien und Iran zukünftig übermäßig starken Einfluss im Libanon haben werden. Er wurde deswegen verhaftet und gefoltert. Dem Strafverfahren, das mit einer Strafe bis zu 10 Jahren Haft hätte enden können, entzog er sich durch Flucht.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die aktive Umsetzung der eigenen politischen Meinung im Schutzbereich des Art. 16 a GG liege und darauf gegründete staatliche Verfolgung als politische Verfolgung anzusehen sei – jedenfalls dann, wenn der Antragsteller im Vergleich zu anderen Tätern eine härtere Behandlung, z. B. Folter erlitten habe oder wenn die Folter wegen der politischen Überzeugung in schärferer Form angewendet worden sei (50).

In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, darauf hinzuweisen, dass Menschenrechtsverletzungen im Libanon gegenüber politischen GegnerInnen durchaus an der Tagesordnung sind. Darunter fallen z.B. willkürliche Verhaftungen, Anwendung von Folter gegenüber politischen und kriminellen Gefangenen und Gerichtsverfahren unter unfairen Bedingungen. Insbesondere aber verdient die Tatsache Beachtung, dass im März 1994 durch Gesetz die Anwendbarkeit der Todesstrafe erweitert worden ist und seitdem 12 Todesurteile vollstreckt wurden (39; 40; 47, Kap. IV bis VIII).

Schließlich soll noch auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1993 hingewiesen werden, in dem es um die Einbürgerung eines palästinensischen Kindes ging, das im Jahr 1982 in der BRD geboren wurde, nachdem seine Eltern – PalästinenserInnen aus dem Libanon – 1981 als Asylsuchende in die BRD eingereist waren. Nachdem das Asylgesuch rechtskräftig abgelehnt worden war, wurde der Familie mit Rücksicht auf den damals herrschenden Bürgerkrieg eine Duldung erteilt; später erhielt das Kind eine befristete Aufenthaltsbefugnis. Im Jahre 1987 beantragten die Eltern des Kindes seine Einbürgerung.

Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass das Kind Anspruch auf die Einbürgerung habe. Grundsätzlich sei es für Staatenlose, insbesondere für Staatenlose wie die PalästinenserInnen, welche die Bindung an ihre Volksgruppe nicht aufgeben wollen, nicht erforderlich, dass sie sich – wie es die Einbürgerungsrichtlinien normalerweise verlangten – in die deutschen Lebensverhältnisse eingeordnet haben müssten; Voraussetzung der Einbürgerung Staatenloser sei vielmehr allein deren dauerhafter Aufenthalt, d.h., dass sie auf unabsehbare Zeit in der BRD leben. Dies sei im Hinblick auf das Kind anzunehmen angesichts des (zum Zeitpunkt der Entscheidung) herrschenden Bürgerkrieges im Libanon, dessen Ende nicht abzusehen sei. Aus diesem Grunde sei auch keine Abschiebung möglich, denn es fehlten entsprechende Reisedokumente und der Rückreiseweg sei versperrt. Ausschlaggebend sei vielmehr allein, dass das Kind sich seit 5 Jahren rechtmäßig in der BRD aufgehalten habe (42).

Anmerkungen

Literatur

0) Information durch Gespräch.

1) Frank Wullkopf, Die Macht der Milizen. Der Bürgerkrieg im Libanon zwischen 1975 und 1990, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 3/1997, S. 19 ff.

2) Ronald Ofteringer, Palästinensische Flüchtlinge in Aufruhr, in: Komitee für Grundrech- te und Demokratie, Jahrbuch '97/98,
Köln 1998, S. 35 ff.

3) Hans-Christian Rößler, In palästinensischen Flüchtlingslagern wächst die Ver-zweiflung. Die dritte Generation wartet auf eine Rückkehr, in: FAZ 11.4.1998.

4) Hermann Weber/Takkenberg, Lex, The Status of Palestinian Refugees in International Law, in: Vereinte Nationen, Heft 4/1998, S. 162.

5) Zentrale Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e. V. (ZDWF), Rechtsprechungsübersicht 1994, Schriftenreihe Nr. 60, Siegburg 1995, S. 218 ff.

6) ZDWF, Rechtsprechungsübersicht 1995, Schriftenreihe Nr. 64, Siegburg 1996, S. 260 ff.

7) ZDWF, Rechtsprechungsübersicht 1998, Schriftenreihe Nr. 73, Teil 2, Siegburg 1998, S. 332 ff.

8) Stichwort Libanon, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Lexikon Dritte Welt, Reinbek 1998, S.470 ff.

9) PDS im Bundestag, Palästinensische Flüchtlinge im Libanon, Bonn 1997.

10) Said Arnaout und Manfred Budzinsky, Gespräche im Libanon. Ein Überblick über die aktuelle Lage, Besuche bei Familien, Ansichten »vor Ort«, Perspektiven, epd-Dokumentation Nr. 5/1999 vom 25. Januar 1999.

11) Fischer Weltalmanach. Zahlen, Daten. Fakten '98, Frankfurt/M. 1997.

12) Bertold Meyer, Der nahöstliche Frieden – verbaut oder noch zu retten?, in: HSFK – Standpunkte Nr. 6 / Oktober 1998.

13) Ludwig Watzal, Friedensfeinde. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1998.

14) Ronald Ofteringer (Hsg.), Palästinensische Flüchtlinge und der Friedensprozess. PalästinenserInnen im Libanon, Frankfurt/M., 1997.

15) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Libanon, Bonn, September 1997.

16) Wolfgang Köhler, Ein glänzender Eroberungsakt. In der arabischen Welt ist die Erinnerung an das Massaker von Deir Jassin wach geblieben, in: FAZ 29.4.1998.

17) Peter Hansen, Wechsel nach Gaza als neue Herausforderung. Das UNRWA und der Friedensprozess im Nahen Osten, in: Vereinte Nationen, Heft 6 /1997, S. 208 ff.

18) Dokumente zum Friedensprozess im Nahen Osten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10/1993, S. 1280 ff.

19) Wolfgang Günter Lerch, Der Bürgerkrieg im Libanon. Ein Minderheitenkonflikt im Nahen Osten, 1991, S. 6 ff.

20) Fischer Weltalmanach. Zahlen, Daten, Fakten 1997, Frankfurt/M., 1996.

21) Peter J. Opitz, Das Weltflüchtlingsproblem, München 1988, S. 196 ff.

22) Thomas Scheffler, Libanon 1996, Wirtschaft und politische Rahmendaten, in: Beiruter Blätter (Hrsg. Deutsches Orient Institut, Beirut), 1997, S. 13 ff.

23) Hisbollah attackiert Israels Verbündete, in: FR 11.9.1998.

24) Libanon, Stichwort in: ZDWF (Hsg.), Handbuch der Fluchtländer, Stand 4. Erg. Lieferg.

25) Netanyahu droht Libanon mit Vergeltung, in: Süddeutsche Zeitung 1./2.1.1999.

26) Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979, Kap. IV B.

27) Wolfgang Köhler, Misstrauen mit guten Gründen, in: FAZ 7.4.1998.

28) Netanyahu erwägt Rückzug, in: FR 28.11.1998.

29) Theodor Hanf, Libanon Konflikt, in: Udo Steinbach et al. (Hsg.), Der Nahe und der Mittlere Osten, Band 1, Opladen 1988, S. 663 ff.

30) Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach et al., Der Nahe und der Mittlere Osten, Band 2, Opladen 1988, S. 235 ff.

31) Alexandra Senfft, Zwischen Intifada und Besatzung. Gegenwärtige Aufgaben und Probleme des UNRWA, in: Vereinte Nationen, Heft 1/1992, S. 4 ff.

32) Scharon plädiert für Truppenabzug aus Libanon , in: FR 30.11.1998.

33) Abzug aus Libanon abgelehnt, in: FR 1.12.1998.

34) Michael Gaebel, Die »Früchte des Zorns« und das Begräbnis zu Qana, in: Beiruter Blätter (Hrsg. Orient Institut, Beirut), 1997, S. 51f.

35) Andreas Rieck, Der Libanon: Ein Prüfstein muslimisch-christlicher Koexistenz, in: Gerbot Rotter (Hrsg.), Die Welten des Islam: Neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen, Frankfurt/M., 1993, S. 85 ff.

36) Hisbollah feuert auf israelische Grenzstädte, in: FR 24.12.1998.

37) Syrien, Stichwort in: Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt, Reinbek 1998, S. 714 ff.

38) Flüchtlingskinder im Libanon e.V., Faltblatt, herausgegeben von dem Gemeinnützigen Verein zur Unterstützung palästinensischer Flüchtlingskinder im Libanon, o.O., o. J.

39) Libanon (Republik), in: amnesty international, Jahresbericht 1997, Frankfurt/M., 1997, S. 341 ff.

40) Libanon (Republik), in: amnesty international, Jahresbericht 1998, Frankfurt/M. 1998, S. 368 ff.

41) Elias Khoury, Im Krieg sind die Grenzen zwischen den Dingen zerstört, in: FR, 21. 12. 1996.

42) Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.2.1993, AZ IC 45.90, in: Informationsbrief Ausländerrecht 1993, S. 268 ff.

43) UNHCR, States Parties (Including Reservations and Declarations) to the 1951 Convention, 23.7.1996.

44) Mohsen Massarat (Hrsg.), Mittlerer und Naher Osten, Münster 1996.

45) Norman Paech, Das verlorene Territorium des palästinensischen Staates, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 10/1996, S. 1252 ff.

46) Rachid Boudjedra, Das Palästina Tagebuch, Paris 1972, Mainz 1991.

47) amnesty international, Lebanon. Human Rights Developments and Violations, London o. J. (1997 oder 1998).

48) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8770 vom 14.10.1997: Antwort der Bundesregierung. Verhandlungen mit dem Libanon über die Rücknahme und die Abschiebung von Flüchtlingen und Hilfe für die palästinensischen Flüchtlinge.

49) Klaus Timm, Nahostverhandlungen: Hürden und Optionen, in: Vereinte Nationen, Heft 6/1997, S. 193 ff.

50) Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 5.8.1998, AZ 2 BvR 153/96.

51) The General Assembly, Resolution Nr. 302 (IV). Assistance to Palestine refugees, 8 December 1949, in: United Nations, Official Records of the Fourth Session of the General Assembly, Resolutions 20 September – 10 December 1949, New York o.J., S.23 f.

52) Security Council, Resolution 237 (1967) of 14 June 1967, in: Resolutions and Decisions of the Security Council 1967, United Nations, New York 1968, S. 5.

53) The General Assembly, Resolution Nr. 194 (III). Palestine – Progress Report of the Unites Nations Mediator, 11 December 1948, in: United Nations, Official Records of the Third Session of the General Assembly, Part 1, 21 September – 12 December 1948, Paris o.J., S. 21 ff.

54) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8192 vom 10. 7.1997, Antwort der Bundesregierung – Rückführungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Libanon.

55) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8470 vom 5. 9.1997, Antwort der Bundesregierung – Verhandlungen und Abkommen über die Rückübernahme von Flüchtlingen.

56) Sicherheitsrat, Resolution 425 (1978) vom 19. März 1978 – Aufstellung einer Interimstruppe für den Südlibanon, in: Vereinte Nationen 2/1978, S. 69.

57) Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/8409 vom 22. 8. 1997 – Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 18. August 1997 eingegangenen Antworten der Bundesregierung.

58) Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Situation im Libanon, Stand September 1998, Bonn 1998.

59) Margret Johannsen, Israel: Licht am Ende des Tunnels?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/1999, S. 794 ff.

60) Jürgen Nieth, Humanität oder Macht?, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2/1999, S.7 ff.

61) Heiko Kauffmann, Helfen statt bomben, in: Wissenschaft und Frieden, Heft 2/1999, S. 43 f.

62) Gespräche zwischen Barak und Arafat über Friedensprozess im Nahen Osten, in: FAZ 12.7.1999.

63) Arafat zeigt sich »äußerst optimistisch«, in: FAZ 19.7.1999.

64) Barak strebt gundlegende Einigung binnen 15 Monaten an, in: FAZ 20.7.1999.

Prof. Dr. Barbara Dietrich lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden; ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspolitik und Friedensforschung.