Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

Fremdenfeindlichkeit vor den Toren der EU

von Femke van Praagh und Kerstin Zimmer

Lange Zeit galt die Ukraine als eine tolerante multi-ethnische Gesellschaft, als eine Art Musterstaat im sonst von interethnischer Gewalt geprägten postsowjetischen Raum. In den vergangenen beiden Jahren häufen sich jedoch alarmierende Berichte über antisemitisch und rassistisch motivierte Straftaten. Die meisten Opfer sind Roma und Juden, jedoch nehmen Gewalttaten gegenüber Studierenden, Flüchtlingen und Migranten aus Asien und Afrika zu.

Im Folgenden zeigen wir zunächst die gesellschaftlichen Ursachen des aufflammenden Rassismus auf. Die anschließende Darstellung der aktuellen Lage gliedert sich in eine Charakterisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Angriffe sowie der Täter und Opfer. Schließlich beleuchten wir die politischen und gesellschaftlichen Gegenmaßnahmen und bewerten deren Wirksamkeit.

Gesellschaftliche Bedingungen

Unter einer friedlichen gesellschaftlichen Oberfläche befindet sich ein Nährboden für rechte Gewalt. Seit der staatlichen Unabhängigkeit 1991 ist die Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine kontinuierlich angestiegen. Ostslawische Gruppen (Ukrainer, Russen, Weißrussen) werden gesellschaftlich toleriert, während »historische« Nachbarn und Minderheiten wie zum Beispiel Polen, Moldawier, Juden und Krimtataren auf geringere Akzeptanz stoßen.1 Gruppen, die keine »historischen« Wurzeln im Gebiet der heutigen Ukraine haben, werden offen abgelehnt. Dies gilt besonders für »neue« Minderheiten, d.h. Menschen aus Afrika oder Asien. Flüchtlinge und Asylsuchende werden zumeist als illegale Migranten und als Bedrohung der öffentlichen Wohlfahrt und Gesundheit wahrgenommen (ECRI 2008: 16). Einige Nationalitäten/Ethnien – wie Araber oder Tschetschenen – werden mit gewaltsamen Konflikten und Terrorismus in Verbindung gebracht und erfahren eine massive Ablehnung (Panina 2005b). Der Grad der Ablehnung ist der Tabelle 1 zu entnehmen, deren Grafik auf der Bogardus-Skala beruht.

Grad der interethnischen Toleranz Anteil der Bevölkerung mit dem entsprechenden Grad an Toleranz, %
1992 2002 2005
Toleranz 35.2 9.9 10.4
Intoleranz 25.2 16.0 14.8
Segregation
(verdeckte Form der Xenophobie)
33.3 48.1 49.5
Xenophobie
(offene Form)
6.3 27.0 25.2
Tabelle 1:
Grad der allgemeinen interethnischen Toleranz der Bevölkerung der Ukraine nach der Bogardus-Skala (Quelle: Panina 2005a)

Diese fremdenfeindlichen Einstellungen lassen sich durch das Zusammenwirken von Transformationsproblemen und der totalitären Vergangenheit erklären. Sztompka (1993) argumentiert mit einer »unechten Modernität« einer Gesellschaft, die im Sozialismus von oben modernisiert wurde und nur die äußeren Attribute, jedoch nicht die psychologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft aufweist. Außerdem hat die dreifache Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion zu einer wachsenden Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern geführt. Die daraus hervorgehende Verunsicherung und Perspektivlosigkeit, die durch soziale Anomie und Misstrauen verstärkt werden, bieten Mobilisierungspotenziale für Extremisten (Thieme 2007). Besonders ausgeprägt sind intolerante Haltungen bei sozial benachteiligten und arbeitslosen Jugendlichen (Zhdanova 2007). Typisch ist hier eine grundsätzliche Ablehnung von Modernisierung und Demokratie sowie ein Überhöhung der ukrainischen Nation. Diese Grundhaltung zieht die Suche nach Sündenböcken und »leichten Opfern« nach sich.

Rechte Gruppierungen

Die rechte Szene in der Ukraine ist ein buntes Gemisch aus Parteien, Bewegungen und informellen, zum Teil offen gewalttätigen Gruppen. Die organisatorischen und ideologischen Verbindungen und Trennlinien zwischen den Gruppierungen sind zumeist unklar. Viele Gruppen sind nicht eindeutig »nur« rechtsradikal, sondern vertreten auch linksextremistische Positionen, vor allem in sozialen und ökonomischen Fragen.

In der politisch-parlamentarischen Landschaft finden sich ukrainisch-nationalistische Gruppierungen, die sich mehr oder weniger offen fremdenfeindlich äußern. Sie propagieren, Migranten gefährdeten die Zukunft der Ukraine. Einige dieser Parteien oder führende Mitglieder waren bzw. sind Teil der Wahlblöcke von Julia Timoschenko und Viktor Juschtschenko und damit auch im Parlament vertreten. Dies zeigt, dass die Politik den Rechten nicht den Kampf ansagt, sondern sie im anhaltenden Wahlkampfdruck für sich mobilisiert und zum Teil sogar in Wahlbündnisse integriert. 2004 organisierte Viktor Janukowitsch offenbar Skinhead-Gruppen zur Einschüchterung politischer Gegner.

Am äußersten rechten Rand befindet sich die Partei »Freiheitsunion«, die offen gegen Russen und Juden hetzt. Ihre Jugendorganisation griff am 1. Mai 2007 in Charkow vietnamesische Migranten auf und übergab sie den zuständigen Behörden, welche die Abschiebung veranlassten (UCSJ 2007). Rassistische Demonstrationen, wie der »Marsch gegen illegale Migranten« im April 2007, werden meist offiziell genehmigt. Eine weitere Organisation ist die offen nationalsozialistische »Ukrainische Nationalistische Arbeiterpartei« (UNTP). Diese ist nicht als Partei zugelassen und unterhält enge Verbindungen zu gewalttätigen Gruppen wie Skinheads (Bruder 2007). Skinheads, welche nach Medien- und Polizeiberichten die hauptsächliche Tätergruppe bei rassistischen Überfällen sind, werden auch von anderen ultrarechten Parteien und Gruppierungen als Wählerpotential umworben. Nach offiziellen Angaben gibt es in der Ukraine 500 Personen, die sich selbst als Skinheads bezeichnen. Die Organisationsstrukturen sind unklar und eher schwach ausgeprägt. Sie treten eher in Form von Banden in Großstädten und wenig ideologisch organisiert auf. Einige der Gruppen sind international vernetzt, wie zum Beispiel die ukrainische Abteilung der internationalen »Blood & Honour Division«. Eine wichtige Position in der rechten Szene nehmen Musikgruppen mit rassistischen Liedtexten ein. Zudem sind die Trennlinien zwischen den gewalttätigen Skinheads und Teilen der Fußball-Hooligans schwer auszumachen. Skinhead-Gruppierungen organisieren regelmäßig öffentliche Demonstrationen und Konzerte, bei denen faschistische Parolen skandiert werden.

Rassismus gegenüber Migranten

Die Opfer von Übergriffen sind meistens sichtbare Minderheiten, wie z.B. Roma und als solche erkennbare Juden bzw. jüdische Einrichtungen, Menschen dunkler Hautfarbe, aber auch alternative Jugendliche. Zunehmend geraten »neue« Minderheiten, vor allem ausländische Studierende und Einwanderer, ins Visier der gewalttätigen Gruppen. Einwanderung ist für Ukraine zwar kein neues Phänomen, allerdings haben sich die Größenordnung und die Bedingungen seit dem Zerfall der Sowjetunion stark verändert. Zuvor kamen Migranten vorwiegend auf der Grundlage von Studien- und Arbeitsabkommen mit »sozialistischen Bruderstaaten« mit gesichertem Aufenthaltstatus und gefestigtem Einkommen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine änderte sich die Situation grundlegend. Die Zahl der aufgegriffenen irregulären Migranten stieg von 148 im Jahr 1991 auf 25.782 im Jahr 2006.2 Die tatsächliche Zahl der irregulär einreisenden Personen, die in der Regel auf dem Weg in die EU sind, dürfte viel höher liegen; die ukrainische Regierung geht von 35.000-50.000 jährlich aus (Cross-Border Cooperation/Söderköping Process 2007). Obwohl die Ukraine nicht Zielland dieser Migrationsbewegungen ist, sitzen viele Migranten in der Ukraine fest, da die EU-Außengrenze kaum zu überwinden ist. Ihr Leben am Rande der Gesellschaft in den Großstädten ist geprägt von prekären Aufenthalts- und ungünstigen Lebensbedingungen wie hoher Arbeitslosigkeit und Armut, schlechter medizinischer Versorgung, knappem baufälligen Wohnraum und geringen Bildungsmöglichkeiten. Die meisten Migranten stammen aus Russland und anderen GUS-Staaten. Die Zahl »neuer« Einwanderer, zu denen auch viele Flüchtlinge zählen, ist zwar noch verhältnismäßig gering, aber stark ansteigend. Anhand der Asylantragszahlen lässt sich erkennen, dass sie überwiegend aus Afghanistan, Indien, Pakistan, Russland (vor allem Tschetschenien), Bangladesch, Vietnam, China und Irak stammen.3

Auch Rassismus gegenüber diesen Migrantengruppen ist in der Ukraine kein neues Phänomen. Das US Bureau of Democracy, Human Rights and Labor wies bereits 1999 in seinem Bericht zur Menschenrechtslage in der Ukraine darauf hin, dass es häufig zu Bedrohungen von Minderheitengruppen und rassistischer Gewalt gegenüber Migranten aus Afrika und Asien kam (U.S. Department of State 2000). Auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz verzeichnet im Jahresbericht 2001 einen Anstieg rassistischer Personenkontrollen und Übergriffe auf Migranten und Flüchtlinge (ECRI 2002). Dies bestätigt auch der UNHCR, der seit dem Mord an einem ruandischen Flüchtling 2001 vermehrt Problemanzeigen aus Kiew und anderen Städten erhält (UNHCR 2007). Nach Angaben der IOM (International Organization for Migration) ist seit Dezember 2006 die Anzahl fremdenfeindlicher Überfälle stark angestiegen: Im Oktober 2006 wurde ein Flüchtling aus Nigeria durch Neonazis ermordet; 2007 wurden laut UNHCR allein in Kiew 17 rassistische Übergriffe bekannt (UNHCR 2008). Bereits in den ersten beiden Monaten 2008 kam es zu acht Übergriffen auf Migranten durch faschistoide Jugendliche, wovon einer tödlich endete. Offensichtlich ist auch, dass Flüchtlinge und andere sichtbare Minderheiten überproportional von Personenkontrollen betroffen sind: Folterungen und Misshandlungen im Gewahrsam der Polizei und durch Vollzugsbeamte kommen immer häufiger ans Licht der Öffentlichkeit (Amnesty 2007).

Aber nicht nur Flüchtlinge sind Opfer von Rassismus. Einige der 40.000 ausländischen Studierenden sind das Ziel tätlicher Angriffe. Fackelaufmärsche von Neonazis vor den Studierendenunterkünften und Drohungen führen dazu, dass viele Studierende sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen. Im April 2007 veröffentlichte das Bildungsministerium eine Pressemitteilung, in der es sich besorgt zeigte über Gewalttaten neo-faschistischer Gruppen und Skinheads gegenüber ausländischen Studierenden (ECRI 2008). Zudem kam es zu Überfällen auf Personen aus Diplomatenkreisen. Ein afro-amerikanischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft und der ägyptische Botschafter sind Opfer von Neonazigewalt geworden.

Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wie der ukrainische Staat der Situation begegnet. Ukrainische und internationale Menschenrechtler und Experten sind sich einig, dass die Gesetzeslage unzureichend ist. Die Kritik internationaler Organisationen wurde bislang aber nur teilweise umgesetzt.

Probleme der Strafverfolgung

Das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, politischer, religiöser oder anderer Überzeugungen, Geschlecht, ethnischer oder sozialer Herkunft, Besitz, Wohnort, sprachlicher oder anderer Eigenschaften gilt in der Ukraine nur für »Bürger« und nicht allgemein für alle Menschen. Die ukrainische Regierung spielt die Diskrepanz herunter und betont die „faktische Irrelevanz“ des Unterschieds (ECRI 2008: 8). Zudem fehlen gesetzliche Definitionen von »Diskriminierung« und »Rassismus«. Artikel 161 des Strafgesetzbuchs setzt sich mit der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes auseinander und bezieht das Diskriminierungsverbot ebenfalls nur auf »Bürger«. Eine Verurteilung nach diesem Artikel verlangt zudem, dass die rassistische Motivation der Tat eindeutig nachgewiesen wird. Aus diesem Grund wurde dieser Artikel bei Straftaten gegenüber Migranten (Körperverletzung, zum Teil mit Todesfolge) fast noch nie angewandt. Und in nur einem Fall (anti-semitischer Übergriff auf eine Synagoge im Jahr 2002) kam es zu einer Verurteilung des Täters, der allerdings vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Auch wenn Artikel 161 Strafgesetzbuch bei antisemitischen Zeitungen und Zeitschriften häufiger zur Einleitung eines Prozesses geführt hat (weil hier die „Absicht“ leichter nachweisbar ist), kam es auch hier bislang nur einmal zu einer Verurteilung. Eine eindeutige Gesetzesgrundlage für die Strafverfolgung rassistischer Publikationen fehlt bislang. Obwohl Artikel 46 des Informationsgesetzes und Artikel 3 des Gesetzes über Printmedien die Verbreitung von Informationen, die rassistische, ethnische oder religiöse Feindseligkeit schüren, Menschenrechte oder Freiheiten beeinträchtigen verbietet, erschweren Artikel 34 der ukrainischen Verfassung und Artikel 18 des Pressegesetzes eine strafrechtliche Verfolgung, da eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht erlaubt ist.

Ein weiteres Problem ist, dass nur wenige rassistisch motivierte Straftaten als solche angezeigt bzw. verfolgt werden. Die Miliz verbucht selbst viele davon unter „Rowdytum“ und leitet Strafverfahren nach dem entsprechenden Artikel 296 des Strafgesetzbuches ein. Die schlecht bezahlte ukrainische Miliz ist noch nicht wirklich reformiert, so dass sie noch sowjetische Züge trägt und sehr zentralistisch organisiert ist. Noch dazu haben die Opfer Angst, Straftaten anzuzeigen, da die Polizei oftmals selbst rassistisch handelt. Zwar hat die Miliz im Sommer 2007 den Skinheads den Kampf angesagt, aber die Einheiten, die in diesem Zuge geschaffen werden, sollen sich gleichzeitig mit Straftaten gegen und von Ausländern befassen. In den ukrainischen Medien findet dabei ein Aufrechnen statt – und es wird festgestellt, dass Ausländer häufiger Straftaten begehen, als dass sie Opfer von Gewalt werden. Dabei wird nicht nach Arten von Straftaten differenziert und auch nicht bedacht, dass viele Gewalttaten gegenüber Minderheiten nicht angezeigt werden. Hinzu kommt, dass ukrainische Politiker und Strafverfolgungsbehörden das Problem lange Zeit geleugnet haben. Schließlich trägt auch die offizielle Doktrin, die Ukraine sei ein multi-ethnischer und toleranter Staat dazu bei, die Augen zu verschließen. Weiterhin besteht das Problem, dass die Ukraine keine Vergangenheitsbewältigung betreibt, d.h. dass weder Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges – zum Teil in Kooperation mit deutschen und rumänischen Faschisten – geschahen, noch die stalinistischen Verbrechen aufgeklärt werden. Dies schafft eine problematische Grundlage für den Umgang mit rechter Gewalt.

Ansätze antirassistischer Maßnahmen in Staat und Gesellschaft

Konkretes gesellschaftlich-politisches Engagement gegen Rassismus wird von internationalen Organisationen dominiert und finanziert. Geldgeber für Aktionen in der Ukraine sind verschiedene Staaten wie Norwegen, Niederlande, USA, Kanada, England, Schweiz und die von George Soros finanzierte International Renaissance Foundation. Viele ukrainische NGOs haben ihre Wurzeln in der Menschenrechts- und Demokratiebewegung der Sowjetunion. Daher sind ihre Arbeitsschwerpunkte überwiegend Demokratisierungsprozesse, Rechtstaatlichkeit sowie Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte. Das Ausmaß von Rassismus in der Ukraine schätzen sie als eher gering ein. Nur eine NGO – SOS! Racism – hat sich dem Ziel verschrieben, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine mittels Öffentlichkeitsarbeit zu bekämpfen.

Rassismus wird in erster Linie von internationalen Organisationen als Problem wahrgenommen, während die ukrainische politische und intellektuelle Elite weiterhin das Bild einer toleranten Gesellschaft pflegt. Zudem haben die betroffenen Migranten keine Lobby, die auf die Lösung ihrer Probleme drängt. Dies sieht bei den neuerdings von rassistischen Übergriffen betroffenen Diplomaten anders aus: Nachdem auch diese Personengruppe Opfer von Attentaten wurde und auf anhaltendes Drängen der NGOs hat die Regierung Schritte unternommen, um das Problem Rassismus anzugehen. In verschiedenen Ministerien wurden während des Jahres 2007 auf oberster Ebene Sonderabteilungen eingerichtet bzw. Beauftragte eingesetzt, so im Innenministerium, im Außenministerium und beim Geheimdienst. Kritisch zu beobachten bleibt auch die erwähnte Formierung einer speziellen Einheit zur Bekämpfung von Skinheads und straffälligen Ausländern bei der ukrainischen Miliz. Die Verknüpfung dieser beiden Problemfelder mit dem Ziel, die nationale Sicherheit zu wahren und nicht an internationalem Image zu verlieren, ist eine bedenkliche Entwicklung.

Die Gegenmaßnahmen erwecken den Verdacht von Aktionismus, dessen Adressat nicht die ukrainische Gesellschaft sondern die internationale Gemeinschaft ist. Es bleibt abzuwarten, wie handlungsfähig und -willig die verschiedenen neuen Einheiten sind. Es besteht die Gefahr der Zersplitterung aufgrund einer ungenügenden Koordination zwischen den einzelnen Stellen. Zudem blieben bisher konkrete Maßnahmen und Aktionen aus, so dass sich die Frage nach der Zielrichtung und Effektivität stellt. Ohne ein gut koordiniertes, umfassendes Programm zur Bekämpfung von Rassismus auf gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene ist zu befürchten, dass die Ukraine das Problem Fremdenfeindlichkeit vorerst nicht in Griff bekommt.

Literatur

Amnesty International (2007): Jahresbericht 2007, Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2006, Ukraine, http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/44cc9b529851e45ac1256aa1004bb4c0/af443f7c9f6d6cddc12573010034c061?OpenDocument [download 06. Januar 2008]

Cross-Border Cooperation/Söderköping Process (2007): Migration Trends 2004-2006 Söderköping Process Countries, Kiew.

Bruder, Franziska (2007): Wahlen in der Ukraine. Eine neue rechtsradikale Partei tritt an. in: Der Rechte Rand Nr. 108, S.29.

ECRI (2002): Second Report on Ukraine, Adopted on 14 December 2001, CRI(2002)23, http://www.coe.int/t/e/human_rights/ecri/5-Archives/1-ECRI's_work/5-CBC_Second_reports/Ukraine_CBC2_en.pdf [download 29. Februar 2008]

ECRI (2008): European Commission against Racism and Intolerance. Third Report on Ukraine. Adopted on 29 June 2007, Strasbourg: ECRI.

Panina, Nataliya (2005a): Faktory natsional'noi identichnosti, tolerantnosti, ksenofobii i antisemitizma v sovremennoi Ukraine, in: Sotsiologiia: Teoriia, Metody, Marketing, Jg. 4, S.26-45.

Panina, Nataliya (2005b): Sotsiologicheskii monitoring. Ukrainskoe obshchestvo 1994-2005: God pereloma, Kyiv: Institute of Sociology, National Academy of Sciences.

Sztompka, Piotr (1993): Civilizational Incompetence: The Trap of Post-Communist Societies, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 22, Nr. 2, S.85-95.

Thieme, Tom (2007): Extremistische Parteien im postkommunistischen Osteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 43: 21-26.

UNHCR (2007): Ukraine: UNHCR concerned by rise in attacks on asylum seekers, refugees http://www.unhcr.org/news/NEWS/4669266f2.html, [download 29. Februar 2008]

UNHCR (2008): Concern over the murder of an asylum seeker in Ukraine, http://www.unhcr.org/news/NEWS/47a304432.html. [download 29. Februar 2008]

UCSJ (2007): Union of Councils for Jews in the Former Soviet Union: News. Antisemitism and Xenophobia in Ukraine, http://www.fsumonitor.com/. [download: 26. Januar 2008]

U.S. Department of State (2000): Ukraine: Country Reports on Human Rights Practices 1999 Released by the Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor; http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/1999/367.htm, [download 29. Februar 2008]

Zhdanova, Irina (2007): Reiting for ever? O molodoshi i tolerantnosti, real'nosti i virtual'nosti, Zerkalo Nedeli 15.-21. September.

Anmerkungen

1) Die Roma sind hier eine Ausnahme. Trotz ihrer jahrhundertelangen Präsenz werden sie ähnlich stark abgelehnt wie moslemische Minderheiten.

2) Hiervon wurde 18.173 MigrantInnen der Grenzübertritt in die Ukraine verwehrt. Ergänzend gab das Innenministerium 2006 bekannt, dass 8.264 irreguläre MigrantInnen im Landesinneren registriert wurden.

3) Cross-Border Cooperation / Söderköping Process: Asylums Seekers and Refugees http://soderkoping.org.ua/page12484.html?template=print; 29.02.2008.

Femke van Praagh, Diplom-Sozialpädagogin, studiert Friedens- und Konfliktforschung (Master) und arbeitet seit 2003 bei Pro Asyl Dr. Kerstin Zimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg

Hunderttausende auf der Flucht

Hunderttausende auf der Flucht

Hintergründe der Flüchtlingsströme im Tschad

von Martin Zint

Politisch gehört der Tschad zu Westafrika, geographisch liegt er im Herzen Afrikas und seine von den Kolonialherren gezogenen Grenzen zum ostafrikanischen Sudan und zur Zentralafrikanischen Republik scheinen nur auf Landkarten zu existieren. Die dort lebenden Menschen nehmen sie kaum wahr. Bewaffnete Gruppen überschreiten sie regelmäßig in jede Richtung. Zuletzt am 29. Januar 2008 als sich im Sudan ca. 3.000 Aufständische mit über 200 Pickups auf den Weg nach N'Djaména, der Hauptstadt des Tschad, machten, um den tschadischen Präsidenten Idriss Déby zu stürzen. Die folgenden Kämpfe kosteten mehrere hundert Menschenleben, verursachten enorme Sachschäden und endeten am 3. Februar 2008, so sagen die angreifenden Aufständischen, mit dem „Sieg der französischen Truppen“. Der despotische Präsident Déby ist weiter im Amt.

„Wenn Elefanten kämpfen, dann leidet das Gras“

afrikanisches Sprichwort

Auch Déby war 1990 mit seinen Kämpfern aus dem Sudan gekommen und hatte mit Waffengewalt die Macht über den Tschad erobert. Seitdem hält er sie fest, gegen alle inneren und äußeren Widerstände. Mehr noch, er weitet seine Macht ständig aus. Zielstrebig betrieb er die Ausbeutung der nicht unbedeutenden Ölvorkommen des Tschad. Nachdem die Franzosen an der Förderung nicht interessiert schienen, bewog Déby ein Konsortium aus zwei US-amerikanischen und einer malaysischen Firma (ExxonMobil, Chevron, Petronas) vier Milliarden US Dollar zu investieren. Seit 2003 fließt Öl durch die erste Pipeline aus Zentralafrika an die den USA zugewandte Westküste Afrikas. Trotz skandalös niedriger Lizenzgebühren spülte der hohe Ölpreis im Jahr 2007 über eine Milliarde US-Dollar in die von Déby kontrollierte Staatskasse. Schon von der ersten Zahlung des Konsortiums bei Baubeginn hatte der ehemalige Hubschrauberpilot seiner Armee drei Kampfhubschrauber spendiert. Deren Wracks rosten bereits seit langem im Wüstensand. Aber Dank der Petrodollar konnten weitere Flugzeuge und andere Waffen gekauft werden. Um das Ölgeld geht es letztlich auch bei den aktuellen Angriffen auf die Regierung Déby. Politische Forderungen der Aufständischen über die Abtretung von Macht hinaus sind nicht bekannt.

Parallel zur Ölförderung versuchte Déby auch die regionale Vorherrschaft zu erringen. Im März 2003 gelang es seinem Freund Francois Boizizé durch einen Putsch die Macht in der benachbarten Zentralafrikanischen Republik zu erringen. Die Vorbereitung dieses Putsches geschah in aller Ruhe auf tschadischem Territorium, von wo aus der Angriff dann auch gestartet wurde.

Auch der Nachbar im Osten sah sich mit Störmanövern aus dem Tschad konfrontiert. Idriss Déby gehört zur Volksgruppe der Zaghawa, die auf beiden Seite der Grenze Tschad/Sudan siedelt. Eine Miliz aus Angehörigen dieser Gruppe im Sudan versucht seit einigen Jahren die Unabhängigkeit des Darfur von Khartum zu erkämpfen. Der Präsident des Sudan, Ahmad al Bashir, vermutet, dass Déby seine Verwandtschaft kräftig unterstützt. Das entzweite die ehemals guten Freunde. Al Bashir nutzte bestehende Animositäten zwischen den Bevölkerungsgruppen der Region, um die ihm feindlich gesonnenen Milizen zu bekämpfen und gleich auch noch den Tschad zu destabilisieren. Von der Zentralregierung Sudans unterstützte Reitermilizen wüteten grausam unter der Zivilbevölkerung. Seit 2003 sind im Darfur 250.000 Menschen gestorben, über zwei Millionen Menschen mussten fliehen. Die Zahlen sind gigantisch, vor allem wenn man sie in Relation setzt zu der geringen Bevölkerungsdichte in der Region am Übergang von Wüste zur Savanne.

Die Lage im Osten des Tschad

Wer ins Nachbarland Tschad floh, etwa 240.000 Menschen bisher, kam vom Regen in die Traufe. Auch dort marodieren wilde Haufen Bewaffneter, die keinen Deut besser sind als die, vor denen die Menschen geflohen sind. Über die Region schreibt die hier tätige Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz): „…die natürlichen Ressourcen (sind nur) begrenzt verfügbar und teilweise erschöpft, es fehlt an Straßen, Schulen, Krankenstationen, Märkten, Wasserversorgung und anderer Infrastruktur. Der Staat trägt mit seinen Leistungen wenig zur Daseinsfürsorge bei. Die verarmte Bevölkerung selbst ist nur bedingt fähig, den sozialen und ökonomischen Wandel mit zu gestalten, geschweige denn aktiv und selbstbestimmt zu planen, zu organisieren oder gar zu finanzieren.“

Der Tschad ist ein Binnenland ohne nennenswerte Infrastruktur, wenn man mal von zwei Mobilfunknetzen absieht. Nicht einmal 1.000 Kilometer Asphaltstraße erschließen ein Staatsgebiet, das dreieinhalb Mal so groß ist wie Deutschland. Das macht die Versorgung der Flüchtlinge sehr schwierig, zumal die meisten im schwer zugänglichen Osten des Landes leben. Zu Beginn des Flüchtlingsdramas gab es Überlegungen, die Lager in anderen, besser erschlossenen Regionen anzulegen. Dieses Dilemma im Umgang mit Flüchtlingen ist bekannt. Man muss sie zunächst dort versorgen, wo sie gerade sind. Aber das birgt die Tendenz, sie dort festzuhalten, wo ihr langfristiger Aufenthalt schwierig ist. Außerdem wehren sich die Flüchtlinge gegen Maßnahmen, von denen sie meinen, sie würden ihren dauerhaften Aufenthalt vorbereiten. Als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in einem Lager Bäume pflanzen wollten, wurden sie schon 2003 von den Flüchtlingen mit Steinen beworfen und vertrieben. An Umzug ist da nicht zu denken.

Ein Großteil der Versorgung erfolgt auf dem Luftweg, in der dreimonatigen Regenzeit ist das der ausschließliche Weg zu den Lagern. Nach eigenen Angaben wurden 2007 durch die United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS) 26.352 Passagiere für über 70 humanitäre Organisationen transportiert. 1.500 ausländische Helfer kümmern sich um die Flüchtlinge allein im Osten des Tschad. Nur wenige Organisationen setzen einheimisches Personal ein. Die katholischen Hilfsorganisationen versuchen das, denn sie verfügen über die notwendigen Kontakte im Land. Vor allem, als in der Krisenlage Anfang Februar alle ausländischen Mitarbeiter evakuiert wurden, konnten sie ihre Arbeit aufrechterhalten. Aber auch die Beschäftigung von Einheimischen stößt an Grenzen. Es gibt im Tschad viel zu wenig qualifiziertes Personal. Die Analphabeten-Quote im Tschad liegt bei über 60%.

Gegenwärtig befinden sich über 240.000 Flüchtlinge aus dem Sudan in 12 Flüchtlingslagern im Osten des Tschad. Dazu kommen 50.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik in vier Lagern im Süden des Tschad. 29 Anlaufstellen haben etwa ca. 170.000 interne Vertriebene im Tschad aufgenommen.

Immerhin bekommen die Flüchtlinge im Osten unter dem Stichwort »Darfur« internationale Aufmerksamkeit. Bis Januar 2008 erbrachte der Aufruf an die Geberländer US$ 264 Millionen für die Tschad- Flüchtlingshilfe, das sind 97% der erbetenen Mittel. Das macht den Mittelaufruf zum Tschad zum weltweit erfolgreichsten in 2007. Aber während einige Bereiche sehr gut finanziert sind, fehlt es in anderen: Für Lebensmittel wurden 132% der benötigten Mittel zugesagt, 100% für Schutz und Non-Food items. Für Wasser und Gesundheitsprojekte gab es nur Zusagen von 45%, 12% für das Bildungswesen.

Ungleich schwieriger ist es, für die Flüchtlinge in anderen Regionen Mittel aufzutreiben, z.B. für die 50.000 Menschen, die aus der Zentralafrikanischen Republik in den Tschad geflohen sind und in Lagern im äußersten Süden leben. Unter anderem die deutsche Johanniter-Auslandhilfe versorgt die Menschen dort in vier Flüchtlingscamps mit lebensnotwendigen Basismaterialien. Das Projekt wird durch Mittel des Auswärtigen Amts ko-finanziert. Der UNHCR (UN Hochkommissar für Flüchtlinge) musste schon mehrfach nachdrücklich an das Schicksal dieser wenig beachteten Flüchtlinge erinnern, um wenigstens die absolut notwendigen Zusagen zu bekommen.

Für die Hilfsorganisationen ist die Kriminalität das größte Problem. Lohngelder und andere Barmittel können nur unter großen Sicherheitsvorkehrungen transportiert werden, Banken gibt es in der Region nicht. Und auch die Transportmittel selber sind in Gefahr. Die Entführung von Allrad-Pickups ist an der Tagesordnung. Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation schätzt dass allein im letzten Vierteljahr 2007 an die 200 Pickups gestohlen wurden. Im wüstenhaften Osten des Tschad, aber auch auf den belebten Straßen der Hauptstadt. Bisher durften Fahrer und Fahrgäste noch immer aussteigen.

Aber spätestens seit der Affäre um die französische Organisation Arche de Zoe – sie wollte 103 angebliche Darfur-Waisen zu Pflegeeltern nach Frankreich ausfliegen – ist das Verhältnis von Einheimischen und Flüchtlingen zum Personal der Hilfsorganisationen sehr gespannt.

In den Flüchtlingslagern funktionieren die bisherigen sozialen Strukturen nicht mehr. Die Alten verlieren an Autorität und besonders Jugendliche sehen ihre einzige Perspektive in der Kriminalität. Waffen sind leicht zu bekommen und solange man nicht selbst ihr Opfer wird, bieten sie spontanen Machtzuwachs. Latente Konflikte entlang äußerer Merkmale wie ethnische Zugehörigkeit oder Sprache gewinnen dann schnell an Bedeutung. Söldnertum stellt zunehmend ein Problem dar. Die Grenzen zwischen politischen Gruppen schwinden, wenn »Kleinunternehmer« mit einem Gewehr als einzigem Geschäftskapital für 500 Euro am Tag mal für den einen und dann wieder für einen anderen kämpfen.

Der Tschad hat ca. 10 Millionen Einwohner. Nicht wenige dieser Bürger des Tschad leben dauerhaft unter Bedingungen, die Flüchtlingen nach internationalen Standards nicht zuzumuten sind. Zudem waren sie in den vergangenen Jahren verschiedenen Krisen ausgesetzt. Heuschrecken, Trockenheit und Vogelgrippe, nichts blieb ihnen erspart und alles hatte desaströse Folgen.

Auf Anregung des UNHCR wurde im Tschad eine »Nationale Kommission zum Beistand für Vertriebene/CNCAPD« gegründet. Das Arbeitsprogramm dieser Kommission, der zahlreiche Hilfswerke angehören, klingt viel versprechend. In 2008 und 2009 soll für über 90% der Flüchtlinge Zugang zu Schulbildung organisiert werden, das Verhältnis Jungen/Mädchen soll dabei 50/50 sein. Opfer von sexueller Gewalt bekommen juristische, medizinische und psychologische Unterstützung. Jeder Flüchtling soll mindestens 15 Liter Wasser pro Tag bekommen. Generell haben nur 42% der tschadischen Bevölkerung Zugang zu sauberem Wasser. Jeder Flüchtling soll Zugang zur einfachen medizinischen Grundversorgung bekommen, das genießen nur 9% der tschadischen Bevölkerung. Und das ist nur ein kleiner Auszug aus einer Liste, die die Tschader zum Träumen bringen könnte. Aber sie kennen ihr Land. Öldollar in Milliardenhöhe haben die Lage des Landes noch nicht einmal ansatzweise verbessert. Im Gegenteil, seit dem Beginn der Ölförderung sank der Tschad im Human Development Index von Platz 165 im Jahr 2003 auf 171 im Jahr 2006. Auch das ambitionierte Vorhaben CNCAPD wird voraussichtlich in Korruption und Misswirtschaft versinken. Aus Kreisen der beteiligten internationalen Hilfswerke ist schon zu hören, dass es an Transparenz bei der Verteilung von Finanzmitteln fehlt und sich die konkrete Arbeit schwierig gestaltet. Die Realität vor Ort ist jedenfalls weit von den Verheißungen entfernt.

Vertreter von Hilfsorganisationen sind zunehmend besorgt über den Ernährungsstatus von Neugeborenen und Kleinkindern, besonders im Westen des Tschad, besonders in der Region Kanem. Die Ursachen dafür sind die Armut der Menschen und unzureichende Ernten der Kleinbauern.

Eine von den Vereinten Nationen und ihren Partnern im November 2007 durchgeführte Untersuchung hat ergeben, dass nur 40% aller lokalen Haushalte für mehr als drei Monate mit Lebensmitteln versorgt sind. Unter den Vertriebenen können dagegen 95% nicht mehr als drei Monate mit den zur Verfügung stehenden Lebensmitteln auskommen. Als Gründe werden Mangel an bebaubarem Land genannt, Mangel an Saatgut und schlechte Wetterbedingungen. 2007 verteilte das Welternährungsprogramm 12.208 Tonnen Lebensmittel an mehr als 170.000 intern Vertriebene und Anwohner im östlichen Tschad.

Angesichts der schlechten Sicherheitslage und als Ergänzung der UN-Mission im sudanesischen Darfur wird gegenwärtig der Einsatz einer Truppe der EU vorbereitet. An der Operation nehmen 21 von 27 Länder der Europäischen Union teil: Frankreich, Irland, Belgien, Polen, Schweden, Österreich, Spanien, Italien, Portugal, Niederlande, Finnland, Griechenland, Slowenien, Rumänien, Ungarn, Litauen, Großbritannien, Deutschland, Tschechien, Slowakei und Zypern. Italien stellt ein Feldhospital, das in Abeché errichtet werden wird. Auch Österreich wird medizinisches Personal zur Verfügung stellen. Belgien beteiligt sich zusätzlich mit einer Transportmaschine und einem Flugzeug für Sanitätstransporte. Polen stellt zwei Transporthubschrauber für Sanitätsdienste. Frankreich liefert zusätzlich neun Transport-Hubschrauber und etwa 500 Soldatinnen und Soldaten für den Bereich Logistik.

Der EUFOR-Truppe sind laut der UNO-Resolution 1778 insbesondere folgende Aufgaben zugedacht: Schutz von Zivilpersonen, insbesondere von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage, um humanitäre Hilfsleistungen zu erleichtern, Schutz von Personal, Einrichtungen und Ausrüstung der UNO sowie Gewährleistung der Bewegungsfreiheit von UNO-Personal. Die zögerliche und wiederholt verschobene Stationierung einer EU Truppe im Osten des Tschad führt zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung bevor die Truppe überhaupt in Erscheinung tritt. Dazu trägt auch die unzulängliche Informationspolitik von EUFOR bei, die es versäumt, die direkt betroffene Bevölkerung über Ziele und Maßnahmen von EUFOR zu unterrichten. Der Zugang zu verlässlicher Information ist generell schwierig. Das verschärft die unsichere Lage zusätzlich. Verschiedene Rebellenbewegungen haben bereits angekündigt, die EUFOR-Truppen als Feinde anzusehen und sie zu bekämpfen.

Perspektiven

Um die Sicherheit für alle in der Region zu erhöhen, ist nach Ansicht von NRO-Vertretern vor allem eine wirksame Kontrolle der zirkulierenden Kleinwaffen sehr wichtig. Dabei könnte eine engere Verzahnung der Arbeit von humanitären Hilfsorganisationen und anderen NRO hilfreich sein. In der praktischen Zusammenarbeit vor Ort haben die Beteiligten festgestellt, dass es oft üble Folgen hat, wenn humanitäre Helfer Gemeinwesenarbeit betreiben oder Menschenrechtsorganisationen Lebensmittel verteilen. Also wenn sich die einen auf das Terrain der anderen begeben, ohne über die notwendigen Erfahrungen und Kompetenzen zu verfügen. Dabei können sich bei einer sinnvollen Abstimmung die Kompetenzen der zivilgesellschaftlichen Gruppen gut mit dem Know-how der Humanitären ergänzen. Insbesondere die im Tschad recht gut aufgestellten Menschenrechtsorganisationen oder der »Aufruf zu Frieden und Versöhnung /CSAPR«, dem 150 Organisationen der Zivilgesellschaft angehören, könnten sehr gut die Kluft zwischen der Welt der Flüchtlinge und der sie umgebenden Gesellschaft überwinden helfen. Außerdem sollten unabhängige Medien gestärkt werden. Verlässliche Information ist in Krisensituationen so wichtig wie Wasser und ärztliche Hilfe.

Besser informiert werden sollte auch über den Einsatz der EU-Truppen mit UN-Mandat. Bisher herrscht noch große Unklarheit über Zeitpunkt, Ort und exaktes Mandat der erwarteten Truppen. CSAPR fordert insbesondere, dass diese Truppen nicht von den Franzosen dominiert werden und einen echten multilateralen Charakter haben. Außerdem sollte die Absicherung eines politischen Friedensprozesses zum Mandat der Truppen gehören. Ob es der UN/EU Truppe gelingt, zumindest im Tschad für den Schutz der Menschen zu sorgen, muss sich erst noch erweisen. Die Skepsis der Betroffenen gegenüber der angekündigten Truppe ist mindestens so groß wie ihre Hoffnung.

Seit Anfang Februar sind auch Tschader auf der Flucht. Nach dem anfangs erwähnten Angriff auf N'Djaména kam es am 1. und 2. Februar zu heftigen Kämpfen. Nachdem sich die Aufständischen aus der Hauptstadt zurückziehen mussten, nutzte Präsident Déby die Gelegenheit, um mit seinen Kritikern aufzuräumen. Soldaten durchkämmten Wohnviertel auf der Suche nach Rebellen und ihren Unterstützern. Etwa 30.000 Menschen flohen vor den Razzien und den damit verbundenen willkürlichen Erschießungen und Vergewaltigungen nach Kamerun.

Martin Zint, Journalist, beschäftigt sich seit 1996 mit dem Tschad/Kamerun Erdölprojekt. Er hielt sich bis Anfang Februar im Tschad auf.

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Flüchtlingslager als Dauereinrichtungen

Wenn der Schutzraum zum Konfliktraum wird

von Leila Mousa

Flüchtlingslager entstehen, wo Flüchtlinge in größerer Zahl aus Angst vor Unterdrückung, Folter, systematischer Diskriminierung oder vor kriegerischen Auseinandersetzungen ihre Herkunftsländer verlassen und auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht eine internationale Grenze überschreiten. Der Artikel geht der Frage nach, welche Konflikte auftreten, wenn Flüchtlingslager zu dauerhaften Einrichtungen werden. Dazu werden verschiedene Flüchtlingssituationen weltweit vergleichend betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass für Flüchtlinge unter Lagerbedingungen Sicherheit, Menschenwürde und Entwicklung häufig nicht gewährleistet sind.

Flüchtlingslager sind Schutzräume höchst widersprüchlichen Charakters: Obgleich mit dem Label »temporär« versehen, werden 70% aller Flüchtlingssituationen zu einem permanenten Zustand, in dem Flüchtlingsgemeinschaften teilweise über Jahrzehnte in ihrem vermeintlichen Übergangsstatus verharren (Loescher & Milner, 2005). Der UNHCR schätzte Ende 2003 ihre Zahl – den Fall der Palästinenser ausgenommen – auf 38, mit einer betroffenen Flüchtlingsbevölkerung von etwa 6.2 Mio. (UNHCR, 2004). Nicht nur wird der »humanitäre« Raum der Lager von zahlreichen internationalen Organisationen versorgt, er ist auch einer Vielzahl von Akteuren und deren politischen und ökonomischen Interessen ausgesetzt. Da er für das Rückkehrrecht seiner Bewohner steht und eine direkte Verbindung zum Herkunftsland und -konflikt darstellt, verfügt er zudem über eine wichtige politische Dimension.

Die Handlungsorientierte Geographische Konfliktforschung bezweckt, verschiedene Akteure herauszuarbeiten, ihre Interessen und Strategien, die den Schutzraumcharakter bestimmen, aber auch gefährden, zu rekonstruieren und die geographischen Implikationen zu klären. Der Ansatz ermöglicht es, die Interessen innerhalb eines konfliktrelevanten Netzwerks zu veranschaulichen. Dabei rücken Akteure und ihr Handeln als die „zentralen Elemente der Interaktion im Konflikt“ (Reuber, 1999, S.4) in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Integration sozial- und politikwissenschaftlicher Teiltheorien in einen handlungstheoretischen Untersuchungsrahmen erlaubt es, Machtpotentiale der Akteure (Ressourcen, Strategien) sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Institutionen, »Spielregeln«) zu beleuchten. In einer konstruktivistischen Perspektive gelten dabei räumliche Bezüge oder Raumbilder als Ressourcen, die für politische oder andere Interessen strategisch eingesetzt werden können.

Methodisch basieren die Erkenntnisse dieses Ansatzes der Konfliktforschung im Wesentlichen auf Projektberichten und Problemanalysen von sowie Interviews mit Vertretern internationaler Nichtregierungsorganisationen (z.B. Human Rights Watch, Médecins Sans Frontières, International Crisis Group) und des UNHCR, die hinsichtlich globaler Flüchtlingserfahrungen in vergleichender Perspektive ausgewertet werden. Zudem wurden zur spezifischen Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon Feldforschungen durchgeführt. Im Folgenden werden einige mit diesem Ansatz gewonnene Hauptergebnisse dargestellt.

Vom Schutzraum zum Konfliktraum

Seit einigen Jahren sind Flüchtlingslager stark in eine Kritik geraten, die sich zu großen Teilen auf selbst produzierte Probleme bezieht. Das Image der Lager als Schutzraum konkurriert mit zahlreichen Negativimages: Schlachtfeld, Angriffsfläche, rechtsfreier Raum, Rückzugsraum, militärisches Trainingscamp, Nachschubzentrum, »Müllhalde des Krieges« …

Mit Lagern können zahlreiche Probleme auftreten, die den zivilen und humanitären Charakter konterkarieren und eine Gewährleistung der Schutzfunktionen in Frage stellen oder unmöglich machen: Angriffe von Seiten des Herkunftslandes, Militarisierung der Lager von innen, Rekrutierung und militärische Ausbildung von Flüchtlingen usw. Erfahrungen aus Ruanda, Kongo und Burundi in den 1990er Jahren, aber auch aus Südost- und Südasien haben gezeigt, dass Lager bereits nach kurzer Zeit destabilisierende Wirkung auf das Aufnahmeland oder die gesamte Region haben können.

Nach nur kurzer Zeit entwickelt sich in Flüchtlingslagern eine differenzierte gesellschaftliche Dynamik. Soziale und wirtschaftliche Aktivitäten entfalten sich, aber v.a. wird die kulturelle und politische Identität der Flüchtlinge zu einem tragenden Faktor. Räumliche Referenzen zum Herkunftsland bzw. der Herkunftsregion sind dabei häufig zu finden: Die Flüchtlinge halten nicht nur an alten räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen fest, sondern neigen zudem zur Bildung von ethnischen oder politischen Zusammenschlüssen (vgl. Brett & McCallin, 2001, S.68) und tragen ihre ethnische, religiöse oder politische Zugehörigkeit entsprechend nach außen. So sind Flüchtlingslager „einerseits materieller Ausdruck des internationalen Flüchtlingsregimes und andererseits segregierte Räume eines kulturell und politisch Anderen“ (Hyndman, 2000, S.88), und neben historischen und Zeitaspekten sind diese Faktoren bestimmend für die Beziehung zwischen den Flüchtlingen und ihrem jeweiligen Aufnahmeland.

Eine weitere Ursache dafür, dass Lager zu Konflikträumen werden, liegt in ihrem strategischen Potential. Hilfsorganisationen sowie Ressourcen sind dank einer veränderten Geberpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges heute umfangreicher denn je. Die Staaten als wichtigste Gebergruppe setzen ihre Mittel verstärkt im Bereich der humanitären Hilfe ein. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Akteure in den Lagern zugenommen. Zahlreiche Akteure versuchen, sich diese enormen Ressourcen, das daran gebundene Versorgungssystem, aber auch den Schutzstatus der Lager zunutze zu machen.

Akteure – Interessen – Impact

Militarisierung: Mit seinen »hilflosen Flüchtlingsmassen« und aufgrund seines zivilen Charakters bietet ein Lager das ideale Versteck (Rekrutierungsraum, Versorgungslager) für politisch-militärische Gruppierungen, die sich aus der Flüchtlingsgemeinschaft konstitutieren und dort von dem Schutzcharakter des Lagers und meist auch von der Unterstützung der Flüchtlingsbevölkerung profitieren. Laut Stedman und Tanner (2003) kommt es in etwa 15% der Flüchtlingskrisen zu einer Militarisierung der Flüchtlinge, „sei es mit dem Ziel der Rückkehr in das Herkunftsland, eines Regimewechsels oder des Aufbaus eines eigenen Staates“ (ebd., 2003, S.3, 6). In den 1970er und 1980er Jahren haben Flüchtlinge in Zentral- und Südafrika, am Horn von Afrika, in Südasien, Südostasien sowie in Zentralamerika gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer gekämpft (ebd., S.5). Die salvadorianischen Lager in Honduras und die palästinensischen Lager im Libanon zeigen, dass Flüchtlingslager selbst in einer feindlich gesonnenen Umgebung eine Zufluchtsstätte für militärische Gruppierungen bieten können (vgl. Terry, 2002, S.9).

Besonders anfällig für Rekrutierungsmechanismen sind permanente Flüchtlingssituationen, in denen Grundrechte nicht gewährleistet sind und wo aufgrund fehlenden politischen Willens keine Perspektiven für eine Verbesserung der Situation bestehen. Für die Flüchtlinge kann die Rekrutierung eine Option zur Verbesserung ihrer Lage darstellen. Oft bedeutet sie einen besseren Zugang zu Statussymbolen, zu Ressourcen und Dienstleistungen, aber auch Prestige oder die Erfüllung einer religiösen Pflicht. Im Unterschied dazu basiert der unfreiwillige Anschluss an eine militärische Gruppierung auf Einschüchterung, Schikane oder physischer Gewalt, in wenigen Fällen sogar auf der Entführung von Flüchtlingen (vgl. Mousa, 2005, S.61-62). Brett & McCallin (2001) stellen allerdings fest, dass die „Scheidelinie zwischen freiwilliger und erzwungener Teilnahme an Kampfhandlungen sehr ungenau und zweideutig“ ist (ebd., S.52), da die Flüchtlinge aufgrund ihrer ökonomischen, kulturellen oder sozialen Umstände indirekten Zwangsmechanismen unterliegen.

Patronage: Für das Aufnahmeland und die Geberländer sind die Versorgungsstrukturen ein ideales Mittel, in Form verdeckter politischer Patronage ihre eigenen Interessen zu verfolgen: In den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan spielten die pakistanischen Behörden eine wichtige Rolle in der gezielten Versorgung der politisch-militärischen Gruppierungen im Lager. Das gesamte Verteilungssystem wurde so strukturiert, dass es den Widerstand unterstützte (Terry, 2002). Auch die Vereinigten Staaten und Saudi Arabien sahen in den 1980er Jahren ihre Interessen in den Lagern vertreten; ihre Gelder flossen über die Flüchtlingslager indirekt zu den Gruppierungen, die die Lager als Operationsbasen gegen die Sowjetunion nutzten (Stedman & Tanner, 2003, S.5).

Machtstrukturen: Die Beteiligung politisch-militärischer Gruppierungen an der Versorgung und Verwaltung der Lager bietet ihnen Mittel und Wege zur Machtergreifung und -ausübung über die Bevölkerung. Dabei sind solche Gruppierungen entweder in einer Mittlerrolle zwischen humanitären Organisationen und Flüchtlingsbevölkerung aktiv oder aber stellen eigene Dienstleistungen zur Verfügung. Diese Position bringt ihnen einen massiven Machtgewinn über die abhängige Flüchtlingsbevölkerung und nicht selten etablieren sich klientelistische Strukturen und selektive Vergabemechanismen.

Humanitäre Organisationen greifen gerne zur Vereinfachung der Lagerverwaltung auf traditionelle Machtstrukturen wie z.B. Bürgermeister oder Ältestenräte zurück. Diese erhalten durch ihre Mittlerstellung offizielle Legitimation und Schlüsselpositionen in der Abwicklung der Hilfe. In den afhganischen Lagern in Pakistan profitierte vor allem die islamische Partei Hizb al islami von ihren Beziehungen zum pakistanischen Flüchtlingskommissar Sheikh Abdallah Khan. Klientelistische Vergabestrukturen, d.h. die Vergabe von Versorgungsgütern im Tausch gegen politische oder ideologische Unterstützung, konnten sich in diesem Kontext ausbreiten. In Ruanda führte die Übernahme der bestehenden Strukturen zur Ermächtigung einer Elite, von der man heute weiß, dass dieselbe Führung für den Genozid in Ruanda verantwortlich war.

Während sich in Ruanda daraufhin zahlreiche Helfer zurückzogen, versuchte der UNHCR in Pakistan den Einfluss alter Eliten einzudämmen, indem er Rationen direkt an Familienoberhäupter vergab. In den palästinensischen Lagern im Libanon stellen politische und religiöse Gruppierungen, die über eigene Ressourcen verfügen, bis heute hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung eine wichtige Konkurrenz zu den humanitären lokalen und internationalen Organisationen dar.

Übergriffe: Die Instrumentalisierung von Flüchtlingslagern, die Unterwanderung ihres humanitären und zivilen Charakters, provoziert vielfach grenzüberschreitende militärische Übergriffe von Gegnern aus dem Herkunftsland. Gleichermaßen können sie Ziel von Übergriffen der Armee oder bewaffneter Gruppen aus dem Aufnahmeland werden (vgl. Mtango, 1989, S.90). Angriffe aus dem Herkunftsland sind meist gegen die bewaffneten Oppositions- oder Rebellengruppen in den Lagern gerichtet, so z.B. die Angriffe Südafrikas in den 1970er und 1980er Jahren auf Flüchtlinge und Exilgruppen in den Anrainerstaaten oder israelische Übergriffe auf Lager in den Anrainerstaaten, allen voran im Libanon. Diese Grenzüberschreitung führt gewissermaßen zu einer Transnationalisierung des Konflikts; er wird dann „zwischen zwei Parteien eines Landes auf dem Boden eines anderen Landes ausgetragen“ (Mousa, 2005, S.67). Nicht selten ist dies Ursache einer aktiven Beteiligung des Aufnahmelandes an den kriegerischen Auseinandersetzungen.

Darüber hinaus stellt das Versorgungssystem einen offenen Markt mit regelmäßigem Zufluss an Ressourcen zur Verfügung. Dies führt zur Ermächtigung einiger Akteure und provoziert immer wieder Übergriffe auf die Lager (z.B. bei den ugandischen Lagern im Südsudan, den zairischen Lagern in Angola) oder auf Transportwege. In Zaire kam es zu Spannungen mit der lokalen Bevölkerung, weil die Flüchtlinge besser versorgt waren als die lokale Bevölkerung. Auch der dortige Staatschef Mobutu fand einen Weg, aus dem Hilfssystem Profit zu schlagen. Er drohte dem UNHCR, die humanitären Helfer zurückzuschicken, wenn er kein Geld mehr bekommen würde.

Und schließlich kommt es in den Lagern zwischen Angehörigen einer Flüchtlingspopulation oder unterschiedlicher Flüchtlingspopulationen immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen, bei denen es entweder um die Verteilung von Macht geht oder aber Konflikte aus dem Herkunftsland sich wiederspiegeln. In Kakuma (Kenia) brachte das Zusammenleben von Flüchtlingspopulationen aus zehn Ländern und 20 verschiedenen ethnischen Gruppierungen (u.a. ruandische Hutu und Tutsi, Amharas, Eritreer, Oromos; sudanesische Christen und somalische Muslime) regelmäßig Konflikte mit sich (vgl. Crisp, 2000, S.629). Auch im Libanon hat die Spaltung innerhalb der politischen Führung 1982 zu wiederholt auftretenden Phasen intensiver Machtkämpfe in den Lagern geführt. Auch heute kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen, welche die interne Spaltung in den besetzten Gebiete wiederspiegeln. Die Eskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen führte mehrfach zur Flucht von Flüchtlingen aus den Lagern.

Restriktion und Repression: Viele Länder greifen zu Restriktions- bzw. Repressionsmaßnahmen wie Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt (Libanon) oder der Bewegungsfreiheit (Kenia), um die Probleme einzudämmen oder die Flüchtlinge langfristig aus dem Land zu vertreiben. Dies geschieht auch, wenn die finanzielle Belastung für das Aufnahmeland zu groß wird oder die Flüchtlingslager wegen ihrer internen Sicherheits- oder Rechtsprobleme (Gewalt, Kriminalität, Prostitution) als rechtsfreie Räume wahrgenommen werden.

Abschließende Überlegungen

Die palästinensischen Flüchtlingslager »feiern« dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen. Über diesen Zeitraum haben zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedliche Formen der Instrumentalisierung des Schutzraums Lager für verschiedene Akteursinteressen stattgefunden: Bewaffnete Konflikte, wiederholte Vertreibung, innerpalästinensische Spaltungen, harsche Restriktionen des libanesischen Staates und ausgeprägte Armut haben diese Flüchtlingsgemeinschaft geprägt und tun dies noch immer. In welchem Grad welche Formen von Konflikten in und um die Lager herum auftreten, unterliegt jedoch zeit-räumlichen Veränderungen, d.h. jede Flüchtlingssituation bringt ihre eigenen Probleme mit sich.

Wie auch immer die Situation aussieht, letztlich leidet in der Regel die Flüchtlingsgemeinschaft selbst am meisten unter den Auswirkungen und ist nicht nur in humanitärer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich ihrer Menschenrechte sowie der sozioökonomischen Entwicklung depriviert. Die Lager sind somit nicht nur ein Ort der Zuflucht, sondern auch ein Ort der Armut. Unter diesen Bedingungen stellen Versuche illegaler Migration, eine starke Informalisierung der Organisations- und Versorgungsstrukturen, eine eigene (billigere) Ökonomie im Lager, aber auch die Bildung klientelistischer Strukturen und militärische Rekrutierung wichtige Überlebensstrategien dar. Eine enorme Außenabhängigkeit bedeutet zudem nicht nur eine extreme Belastung für die Flüchtlinge, sondern gleichermaßen für die internationale Gemeinschaft, die Jahr für Jahr Resourcen zur Verfügung stellt, um das Überleben dieser verwundbaren Gruppe zu garantieren. Unter solchen Umständen gibt es für Flüchtlinge weder Sicherheit noch Menschenwürde noch Entwicklung.

Literatur

Brett, Rachel/McCallin, Margaret (2001): Kinder – Die unsichtbaren Soldaten. Save the Children Sweden [Book on Demand].

Crisp, Jeff (2000): A State of insecurity: The political economy of violence in Kenya's refugee camp. African Affairs, 99, S.601-632.

Hyndman, Jennifer (2000): Managing displacement: The politics of humanitarianism. Minneapolis.

Loescher, Gil/Milner, James (2005): Protracted refugee situations: Domestic and international security implications. Oxford.

Mousa, Leila (2005): Flüchtlingslager als Spielball politischer Interessen. Eine Geographische Konfliktforschung am Beispiel der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Heidelberg.

Mtango, Elly-Elikunda (1989): Military and armed attacks on refugee camps, in: G. Loescher/L. Monahan (Eds.): Refugees and international relations (S.87-121). Oxford.

Reuber, Paul (1999): Raumbezogene politische Konflikte: Geographische Konfliktforschung am Beispiel von Gemeindegebietsreformen. Stuttgart.

Stedman, Stephen John/Tanner, Fred (Eds.) (2003): Refugee manipulation: War, politics, and the abuse of human suffering. Washington.

Terry, Fiona (2002): Condemned to repeat? The paradox of humanitarian action. Cornwell.

UNHCR (2004): Protracted refugee situations. UN Doc. EC/54/SC/CRP.14. Refugee Survery Quarterly, 24, S.150-161 (verfügbar unter: http://www.unhcr.org).

Leila Mousa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im DFG-Projekt »Urban Governance in humanitären Schutzräumen – die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon« am Geographischen Institut der Universität Heidelberg.

Den Krieg von außerhalb führen

Den Krieg von außerhalb führen

Die Rolle der Diaspora im Krieg in Sri Lanka

von Camilla Orjuela

Es war beeindruckend, die Menge von wohl zehntausend Tamilen in einer Veranstaltungshalle in London im vergangenen November zu sehen. Sie hatten sich versammelt, um der Märtyrer des Kampfes um die Befreiung des tamilischen Heimatlandes aus der Gewalt des Staates Sri Lanka zu gedenken. Die Tamilen, die sich aufgestellt hatten, um ihre gefallenen Helden mit Blumen zu ehren, waren noch relativ neu in London, nachdem sie der Not des kriegs-zerrütteten Sri Lanka entkommen waren. Das mindeste, was sie tun konnten, so dachten viele von ihnen, war die ökonomische Unterstützung des tamilischen Freiheitskampfes aus der Distanz und die Bezeugung von Respekt gegenüber den Freiheitskämpfern.

Der Fall Sri Lanka hat oft als Beispiel dafür gedient wie Gemeinschaften in der Diaspora bewaffnete Konflikte anheizen. Dies bezieht sich auf die beträchtlichen Summen, die von im Ausland lebenden Tamilen für die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) gesammelt werden, die als Guerillaorganisation seit mehr als einem Viertel Jahrhundert Krieg gegen die Regierung Sri Lankas für die Selbstbestimmung im Nordosten der Insel führt. Gleichzeitig gibt es innerhalb der aktuellen Forschung und Politik eine Gegenbewegung, die nach den positiven Beiträgen fragt, die die Diaspora für den Frieden in ihrer früheren Heimat leisten können, so beispielsweise durch die Förderung der Aussöhnung und des Dialogs über konflikt-induzierte Grenzziehungen hinweg, durch die Einflussnahme auch zentraler Akteure im Heimatland oder – auf internationaler Ebene – durch die Übernahme aktiver Friedensarbeit und durch die Finanzierung von Entwicklung und Wiederaufbau. Dieser Beitrag hebt die Komplexität hervor, die die Beziehungen zwischen Gewaltkonflikten, Friedensstiftung und dem Engagement der Diaspora charakterisieren, indem er die vielfältigen und gelegentlich widersprüchlichen Rollen untersucht, die MigrantInnen aus den beiden bedeutendsten ethnischen Gruppen – Singhalesen und Tamilen – im fortdauernden Krieg in Sri Lanka spielen.

Der Krieg und die Diaspora aus Sri Lanka

Der Krieg in Sri Lanka wird seit 1983 geführt und hat über 70.000 Leben gefordert. Seitdem die Gewalt im Jahr 2006 dramatisch eskaliert ist, sind über 5.000 Menschen umgekommen, während die Zahl der Entführungen, Fälle von Rekrutierung von Kindern und Angriffe auf Zivilisten anwächst. Während all der Jahre hat es zahlreiche Versuche gegeben, einen Frieden auszuhandeln. Der Friedensprozess, der im Jahr 2002 zwischen der Regierung Sri Lankas und der LTTE mit Unterstützung Norwegens begonnen wurde, hatte nach dem bis dahin vielversprechendsten ausgesehen und zum längsten Waffenstillstand seit Beginn des Krieges geführt. Dennoch brachen die Friedensinitiative und der Waffenstillstand aus einer Reihe von Gründen allmählich zusammen, die mit der Machtbalance zwischen und in den wichtigsten Konfliktparteien, einem Regierungswechsel, singhalesischer nationalistischer Kritik, einer Spaltung bei den LTTE, wiederholten Verstößen gegen den Waffenstillstand und wachsendem Misstrauen zusammenhingen.

In Sri Lanka machen die Singhalesen drei Viertel der Bevölkerung und die Tamilen etwa 18% aus – die sogenannten Indien-Tamilen eingeschlossen, die in den Teeanbaugebieten leben. In der Diaspora in den westlichen Ländern sind die Tamilen jedoch weitaus zahlreicher als die Singhalesen. Die Tamilen können als ein aus dem Konflikt entstandene Diaspora gelten, da ein großer Teil der Migration mit dem Krieg zusammenhängt, der die Tamilen überproportional getroffen hat. Allerdings war der Krieg nicht die einzige Motivation zur Migration. Frühere Generationen sind nach Europa, Nordamerika und Australien ausgewandert, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Seitdem hat es im Zusammenhang mit der tamilischen Migration eine Kombination von ökonomischen und politischen Gründen sowie den Aspekt der Familienzusammenführung gegeben (Fuglerud 1999; Valentine 1996). Tamilen finden sich heute insbesondere in Kanada, Indien, der Schweiz, Norwegen, Großbritannien, den USA und in Australien.

Die Tamilen in der Diaspora pflegen einen »Fern-Nationalismus«. In einigen tamilischen Gebieten wie etwa Scarborough, Toronto, sind Tamilen so zahlreich, dass sie sich in ihrem neuen Wohnort eher als Mehrheit denn als Minderheit fühlen mögen. In diesen Gegenden, aber auch in Gebieten mit weniger Tamilen wird die tamilische Gemeinschaft durch enge Netzwerke und Kommunikationkanäle aufrecht erhalten. Die Bewahrung tamilischer Kultur wird von vielen als wichtig angesehen; Kinder lernen die tamilische Sprache und traditionelle Tänze und es gibt eine Vielzahl tamilischer Geschäfte, Restaurants sowie Fernseh- und Radiostationen. Die LTTE bzw. ihnen nahestehende Gruppen sind zweifellos in der Diaspora vertreten und die Sammlung von finanziellen Ressourcen für die Unterstützung des bewaffneten Kampfes wird durch ein sehr effizientes Netzwerk geleistet (vgl. Human Rights Watch 2006). Tamilen leisten zudem erhebliche ökonomische Beiträge an das Heimatland durch ihre Überweisungen an Familienangehörige und ihr Engagement in humanitären und Entwicklungsorganisationen (vgl. van Hear 2002; Bivand Erdal 2006).

Die Singhalesen sind keine aus einem Konflikt entstandene Diaspora, obwohl einige Sri Lanka aus politischen Gründen verlassen haben. Die meisten im Ausland lebenden Singhalesen sind Arbeitsmigranten im Nahen Osten mit häufig befristeten Verträgen. Diejenigen in Nordamerika, Europas und Australien sind meist ausgewandert, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Die meisten Singhalesen halten sich – abgesehen vom Nahen Osten – in Kanada, Italien, Großbritannien und Australien auf. Einige von ihnen sind in die Politik ihres Heimatlandes engagiert und betrachten den Kampf der Tamilen als Bedrohung für die singhalesische Identität und die Einheit der heiligen buddhistischen Insel Sri Lanka. Es existieren Organisationen, die die Singhala-Kultur bewahren sollen, sich für »Frieden« engagieren und »das Mutterland schützen« wollen. Von Seiten der Diaspora werden in gewissem Umfang auch nationalistische singhalesische Organisationen und politische Parteien in Sri Lanka finanziert.

Krieg führen in internationalem Rahmen

Während es beim Krieg in Sri Lanka sicherlich auch um einen Kampf zur Kontrolle von Territorium geht – die LTTE kontrollieren gegenwärtig einen erheblichen Teil des Landes im Norden Sri Lankas -, ist der Konflikt zwischen den LTTE und der Regierung Sri Lankas auch ein Kampf um internationale Unterstützung. Die beiden Kriegsparteien streben für ihre jeweilige Sichtweise der Konfliktursache und der angestrebten Konfliktlösung nach internationaler Anerkennung. Die Regierung Sri Lankas begründet ihren Kampf mit der Notwendigkeit, die Souveränität des Staates zu sichern und sucht internationale Unterstützung für ihren Kampf gegen den von ihr als LTTE-Terrorismus bezeichneten Gegner. Die LTTE wiederum bezeichnet ihr Handeln als Befreiungskampf und bezieht sich dabei auf das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung. Die Bezeichnung der LTTE im internationalen Kontext als »Freiheitskämpfer« oder als »Terroristen« hat weit reichende Auswirkungen auf die Finanzierung und damit auf die militärische Stärke und die Machtbalance zwischen den kriegführenden Parteien sowie für die Möglichkeiten einer zukünftigen Konfliktlösung.

Gruppen und Individuen in der Diaspora spielen durch ihre Fürsprache, die Verbreitung von Informationen – viele der Internetseiten mit Informationen über Sri Lanka werden von der Diaspora betrieben -, die unmittelbare Beteiligung an Politik (z.B. als Kandidaten oder Unterstützer von Politikern in den Aufnahmeländern, insbesondere wo Tamilen einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft stellen) und durch öffentliche Demonstrationen eine wichtige Rolle in diesem »Krieg« um Legitimation. Auf diese Weise lenken Gruppen in der Diaspora die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka und tragen dazu bei, den Krieg in Sri Lanka auf die Agenda westlicher Regierungen, internationaler Organisationen und der allgemeinen Öffentlichkeit in den Ländern, in denen sie eine neue Heimat gefunden haben, zu heben oder dort zu halten. Dadurch beeinflussen und gestalten sie die Diskussion um den Konflikt mit. Die Polarisierung zwischen den verschiedenen Konfliktpositionen – insbesondere zwischen denen, die die LTTE als Freiheitskämpfer sehen, und denen, für die sie Terroristen sind – spiegelt sich in den Aktivitäten der Diaspora und den (selektiven) Informationen, die verbreitet werden. Tatsächlich hat es eine Politisierung der Menschenrechte und der humanitären Katastrophe in Sri Lanka gegeben, da beide Kriegsparteien und ihre UnterstützerInnen systematisch nur auf die jeweils von der gegnerischen Seite begangenen Menschenrechtsvergehen verweisen, um den eigenen Kampf zu rechtfertigen und den Gegenüber zu diskreditieren.

Die zahlenmäßige Stärke der Tamilen, ihre häufig stark nationalistische Überzeugung und das gut entwickelte Netzwerk der LTTE (und der sie unterstützenden Organisationen) hat die Tamilen in die Lage versetzt, ihre Perspektiven international wirksamer vorzubringen als die Singhalesen. Allerdings nutzt die Regierung Sri Lankas die Botschaften zu Propaganda- und Lobbyzwecken – gelegentlich in Kooperation mit Gruppen der Singhalesischen Diaspora. Im Jahr 2006 stufte die EU die LTTE als terroristische Organisation ein; in den USA, Kanada und Indien ist die LTTE ebenfalls verboten. Die Entscheidungen zum Verbot der LTTE sind in gewissem Umfang wahrscheinlich durch die Fürsprache singhalesischer und tamilischer Anti-LTTE-Gruppen in der Diaspora beeinflusst worden. Als das EU-Verbot in Kraft trat, forderte die LTTE alle Mitglieder der skandinavischen Gesandtschaft, die den Waffenstillstand überwachten, zum Verlassen des Landes auf, da sie nicht neutral seien und ein Hindernis für den ohnehin schwachen Friedensprozess darstellten. Folglich war aus der Perspektive der LTTE das Verbot der EU der letzte Nagel im Sarg des Friedensprozesses. Aus Sicht der Regierung Sri Lankas andererseits waren die Razzien gegen vermutete LTTE-Aktivisten in den USA, Frankreich und Großbritannien im Verlaufe des Jahres 2007 ein Schritt in Richtung Frieden, weil sie die LTTE schwächten.

Zusätzlich zu dem hoch polarisierten nationalistischen Aktivismus beider Seiten in der Diaspora gibt es auch Gruppen in der Diaspora, die für eine gewaltlose, politische Lösung des Konflikts eintreten und die die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen beider Seiten lenken (vgl. etwa www.lankademocracy.org). Allerdings sind diese Anstrengungen klein im Vergleich zu der polarisierten Propaganda anderer, lautstarker Diaspora-Gruppen und sie werden von beiden Seiten als Verrat angesehen.

Die LTTE beanspruchen, alleinige Vertreter des tamilischen Volkes zu sein; es gibt ein starkes Gefühl, dass die Einheit der Tamilen für einen wirksamen Freiheitskampf notwendig ist. Dies hat freilich zu einer Situation geführt, in der es nicht möglich ist, die LTTE oder deren Methoden zu kritisieren. Die Kontrolle der LTTE über die Tamilen reicht bis in die Diaspora. Allerdings ermöglichen die Redefreiheit und die größere Sicherheit in den westlichen Ländern Raum für abweichende Meinungen gegen die LTTE sowie für Versuche, einen mittleren Weg zwischen den polarisierten Pro- und Anti-LTTE-Positionen zu finden. So wurde die Ansicht vertreten, dass das Erleben von Demokratie durch im Westen ansässige Tamilen dazu genutzt werden könne, die LTTE zu einer Demokratisierung des nord-östlichen Sri Lanka zu bewegen. Mit seiner stark hierarchisierten Führungsstruktur im Norden Sri Lankas übt die LTTE mehr Einfluss auf die Diaspora aus als andersherum. Allerdings lässt die starke Präsenz von Tamilen aus der Diaspora bei den jüngsten Friedensverhandlungen und beim Prozess der Formulierung eines LTTE-Entwurfs für eine Übergangsregierung vermuten, dass Tamilen aus der Diaspora an hochrangigen Diskussionen über die Ziele und Strategien der LTTE mitwirken – zumindest während Waffenstillständen.

Wiederaufbau und Entwicklung im Heimatland

Beiträge aus der Diaspora zur Entwicklung und zum Wiederaufbau von Gebieten in den Heimatländern, die vom Krieg zerstört wurden, sind häufig als »Friedensstiftung« bezeichnet worden. Allerdings sind Entwicklung und Wiederaufbau hoch politisch, insbesondere im Krieg oder in einer Nachkriegssituation. Und es kann nicht angenommen werden, dass Geldüberweisungen oder Initiativen aus der Diaspora zum Wiederaufbau von Häusern und Schulen usw. notwendig einen konfliktpräventiven und/oder konfliktlösenden Effekt haben. Wie bei allen Entwicklungsinitiativen hat auch die aus der Diaspora unterstützte ökonomische Entwicklung das Potenzial zum Abbau von Konflikten und zur Unterstützung friedlicher Kooperation – oder zur negativen Beeinflussung der Konfliktsituation, indem militante Akteure und Strukturen oder zunehmende Konkurrenz und Frustration gestärkt werden, die Gewaltanwendung motivieren können.

Aus der Diaspora initiierte Geldtransfers und Entwicklungsprojekte kompensieren bis zu einem gewissen Grade ungleiche Entwicklungsmuster in Sri Lanka, indem marginalisierten Gruppen in armen Regionen (im Süden und im Nordosten) Ressourcen und Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Die verzeichneten Finanzüberweisungen nach Sri Lanka beliefen sich im Jahr 2004 auf $ 1,3 Milliarden, pro Kopf die höchsten in Südasien. Sie machten mehr als das Doppelte der Direktinvestitionsströme aus und kamen nach der Textilindustrie an zweiter Stelle der Ausfuhrgewinne (Lasagabaster, Maimbo, & Hulugalle 2005: 3). Viele dieser Überweisungen stammen von Arbeitsmigranten im Nahen Osten, stellen Einkommen für arme bäuerliche Familien dar und werden vor allem für das tägliche Überleben benötigt (Van Hear 2002).

Solche Geldüberweisungen und die Tätigkeit der aus der tamilischen Diaspora unterstützten humanitären und Entwicklungsorganisationen gleichen zum Teil das Fehlen privater oder öffentlicher Investitionen in den tamilischen Gebieten Sri Lankas aus. Dies kann Frustrationen verringern, die das Risiko in sich tragen, politisiert und zur Unterstützung des Kriegszwecks mobilisiert zu werden.

Freilich scheinen die Möglichkeiten der Diaspora, Geld für Alternativen zu einer kriegerischen Beschäftigung und zur Abhängigkeit von den kämpfenden Parteien zur Verfügung zu stellen, bisher nur in begrenztem Umfang realisiert zu sein. Während Entwicklungsorganisationen in gewissem Umfang neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, geht der Großteil des Geldes aus der Diaspora aufgrund der unsicheren Situation in privaten Konsum und Unterstützungsleistungen statt in langfristig angelegte Entwicklung und Beschäftigung. Geldüberweisungen und andere Einkommen der Diaspora sind wesentliche Ziele für bewaffnete Gruppen, die Zivilisten in den Kriegsgebieten erpressen bzw. besteuern. Das Ausmaß, in dem mit Überweisungen der Diaspora bewaffnete Gruppen direkt oder indirekt unterstützt werden, bedarf weiterer Untersuchungen.

In vielen Dörfern in dem vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Norden ist die Unterstützung aus der Diaspora eine wichtige Quelle für die Entwicklung und die Wohlfahrt. Aber die Einkommen aus der Diaspora können auch neue Ungleichheiten hervorrufen, wenn die Trennungslinie zwischen den Armen und den relativ Vermögenden zwischen denen gezogen wird, die Verwandte im Ausland haben, und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist. Ein weiteres Beispiel für eine durch die Diaspora beeinflusste ungleiche Entwicklung ist das Verhältnis zwischen dem Norden und dem Osten. Da es in der Diaspora eine Dominanz von Personen aus dem Norden gibt, fließen auch deutlich mehr Finanzmittel in diese Gebiete, während der ohnehin vernachlässigte Osten weiter zurückfällt. Die Vernachlässigung des Ostens durch die LTTE-Führung war ein Grund für die Spaltung der LTTE im Jahr 2004.

Ein weiteres Beispiel, wie die Handhabung von Entwicklung und Fürsorge Konflikte verschlimmern kann, zeigen die Nachwehen des Tsunami. Die spontanen Formen der über die ethnische Zugehörigkeit hinausgehenden Solidarität auf lokaler Ebene unmittelbar nach der Katastrophe wurden nicht durch freundliche Beziehungen und Kooperation auf der Makro-Ebene ergänzt. Im Gegenteil: Die Politik des Wiederaufbaus hat die nationalistischen Diskurse auf beiden Seiten gestärkt, was in der Folge wiederum Misstrauen und ein Gefühl ethnischer Diskriminierung an der Basis förderte (vgl. Sirisena 2005). Die LTTE beschuldigten die Regierung, die vom Tsunami betroffenen tamilischen Gebiete zu vernachlässigen und mobilisierten die Unterstützung der Diaspora, indem sie argumentierten, dass die LTTE und die tamilische Diaspora die einzigen Erlöser der notleidenden Tamilen seien. Das Versagen, einen gemeinsamen Mechanismus zur Verteilung der Spendengelder im Nordosten zu finden, gab den LTTE eine Rechtfertigung für diese Anklage. Die LTTE wurden im Gegenzug des Versuches beschuldigt, die in der Diaspora gesammelten Tsunami-Gelder zu monopolisieren, indem Unterstützung in Misskredit gebracht wurde, die nicht durch von den LTTE gebilligte oder kontrollierte Kanäle ging (vgl. UTHR-J 2005). Bei beiden Parteien ist es wahrscheinlich, dass sie den Zufluss an Finanzmitteln zum Wiederaufbau ihrer militärischen Stärke verwandt haben.

Schlussfolgerung: Beiträge der Diaspora zum Frieden?

Die verschiedenen Arten, in denen sich Tamilen und Singhalesen, die aus Sri Lanka ausgewandert sind, in der Politik ihrer Heimat engagieren legt die Vermutung nahe, dass es keine klare Antwort auf die Frage gibt, ob Gruppen in der Diaspora einen Beitrag zum Krieg oder zum Frieden leisten. Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen, dass eine Diaspora kein einheitlicher Akteur ist, der sich in den Konflikten in Sri Lanka auf nur eine Weise betätigt. Vielmehr gibt es zahlreiche verschiedene Auseinandersetzungen und politische Projekte in »einer Diaspora« und wir müssen aufmerksam gegenüber der Art und Weise sein, in denen Aspekte wie Geschlecht, Generationenzugehörigkeit, Aufenthaltsland usw. die Arten beeinflussen, in denen sich Menschen in und in Beziehung zu ihren Heimatländern engagieren.

Um die Rolle der Diaspora bei der Friedensstiftung zu ermessen, müssen wir auch klar bestimmen, was mit einem »Beitrag zum Frieden« gemeint ist. In Sri Lanka argumentieren die meisten Akteure, dass sie danach streben, einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Die LTTE behaupten, dass sie Freiheitskämpfer sind und wahrer Frieden eintreten wird, wenn die tamilische Minderheit im Nordosten des Landes ihre Selbstbestimmung erhält – möglicherweise in Gestalt eines eigenen Staates. Die Regierung Sri Lankas und singhalesische Nationalisten argumentieren andererseits, dass der Konflikt ein terroristisches Problem ist und dass Frieden am besten durch die Vernichtung der Terroristen – d.h. der LTTE – zu erreichen ist. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine große Bandbreite von Ideen, was Frieden ist und wie er erreicht werden sollte.

Eine beunruhigende Verzerrung in der beginnenden Diskussion um den Beitrag der Diaspora zu Friedensprozessen ist die Tendenz, Frieden als »Stabilität« und »Ende der Gewalt« zu bezeichnen statt als »soziale Gerechtigkeit« und »Respekt vor den Menschenrechten«. Es gibt eine starke Voreingenommenheit gegenüber der Finanzierung von bewaffneten Konflikten (oder »Terrorismus«) aus der Diaspora und ein – zuweilen naives – Verlangen der Ermunterung von »Dialog« und »Verständigung«. Wenn Politiker sich bemühen, die Finanzierung bewaffneter Akteure durch die Diaspora zu unterbinden, während sie für Dialogaktivitäten eintreten, gehen sie das Risiko ein, die den Konflikten zugrundeliegenden Ursachen zu übersehen. Häufig wird eine implizite Trennung zwischen den »schlechten« Gruppen in der Diaspora, die terroristische Gruppen unterstützen, und den »guten« gemacht, die den inter-ethnischen Dialog fördern oder die politische Opposition in undemokratischen Staaten unterstützen. Was ein legitimer Kampf ist, wird tendenziell auf dem Wege unüberwindlicher Abneigung durch die internationale Gemeinschaft definiert. Daher müsste eine ernsthafte Diskussion über Beiträge, die die Diaspora für den Frieden leisten kann, ihren Ausgangspunkt in einer expliziten und kritischen Diskussion darüber haben, welche Art von »Frieden« gewünscht und machbar ist. Eine vereinfachende Kategorisierung von Gruppen in der Diaspora in »gut« und »böse« ist irreführend. Stattdessen müssen wir die Politik der Diaspora als komplexen Prozess betrachten, der schließlich zur Deeskalation von Krieg und zu gerechten und dauerhaften Lösungen von politischen Konflikten beiträgt oder auch nicht.

Literatur

Bivand Erdal, M. (2006): Contributing to development? Transnational activities among members of the Tamil diaspora in Norway. Masterarbeit in Human Geography, Universität Oslo.

Fuglerud, Ø. (1999): Life on the outside: The Tamil Diaspora and Long Distance Nationalism. London.

Human Rights Watch (2006): Funding the »Final War«. LTTE Intimidation and Extortion in the Tamil Diaspora, 18 (1).

Lasagabaster, E./Maimbo, S.M./Hulugalle, S. (2005): Sri Lanka's Migrant Labor Remittances: Enhancing the Quality and Outreach of the Rural Remittance Infrastructure, World Bank Policy Research Working Paper 3789. Washington, D.C.

Sirisena, M. (2005): Old Habits Die Hard: Nationhood in the Aftermath of Tsunami, in Polity, 2 (4), S.11-12.

UTHR-J (2005): A Tale of two Disasters and the Fickleness of Terror Politics. Information Bulletin no. 37. Colombo: University Teachers for Human Rights – Jaffna.

Valentine, D. (1996): Charred Lullabies: Chapters in an Anthropography of Violence. Ewing, NJ.

Van Hear, N. (2002): Sustaining societies under strain: Remittances as a form of transnational exchange in Sri Lanka and Ghana, in: Al-Ali, N./Koser, K. (Hrsg.): New Approaches to Migration? Transnational Communities and the Transformation of Home. London/New York.

Anmerkung

Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Sri Lanka, Kanada, Großbritannien und Norwegen, die vom Schwedischen Forschungsrat finanziell gefördert wurden.

Dr. Camilla Orjuela forscht und lehrt an der School of Global Studies der Universität von Göteborg, Schweden
Übersetzung: Fabian Virchow

Flüchtlinge und das Studium von Bürgerkrieg

Flüchtlinge und das Studium von Bürgerkrieg

von Idean Salehyan

Staatliche Repression, Aufstände und Bürgerkriege haben häufig verheerende Konsequenzen für Gesellschaften, die durch Gewalt geschädigt werden. Solche Phasen sozialer Umbrüche rufen häufig massive Bevölkerungsverschiebungen hervor, da die Individuen gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen und anderswo physische Sicherheit zu suchen. Massenhafte Bevölkerungsverschiebungen haben häufig dauerhafte Auswirkungen auf die Ökonomie, die öffentliche Gesundheitspflege und die sozialen Beziehungen – nicht nur bei den Flüchtlingen selbst, sondern auch in den Herkunfts- und Aufnahmegemeinschaften. Da sich etliche Konflikte zudem einer dauerhaften Lösung entziehen, ziehen sich viele dieser Flüchtlingskrisen über Jahrzehnte hin, in denen die Menschen ohne beständige Bleibe sind.1

Bis vor kurzem haben diejenigen, die zu Bürgerkriegen forschen, erzwungene Migration als einen wichtigen Konfliktfaktor übersehen. Füchtlingsbewegungen über Grenzen und inländische Vertreibungen wurden üblicherweise als unglückliche Auswirkungen der Gewalt und als humanitäre Zwangslage betrachtet und nicht so sehr als Teil der Konfliktdynamik selbst. Theoretische Modelle von Bürgerkriegen berücksichtigen gewöhnlich die Interaktionen zwischen Regierung und Aufständischen2 und ignorieren die Entscheidungen, die von der zivilen Bevölkerung getroffen werden, darunter auch jene zur Flucht. Selbst der Begriff »erzwungene« Migration beinhaltet, dass solche Menschen nur Opfer der Gewalt sind, die nicht über die Handlungsoption zu Entscheidungen verfügen, die ihr Leben beeinträchtigen, statt in ihnen Akteure zu sehen, die strategische, wenn auch schwierige Entscheidungen treffen. Zudem ist der Frage wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, wie Flüchtlingsbewegungen Konfliktprozesse in den Herkunftsländern oder die räumliche Ausbreitung des Konflikts beeinflussen.

Dieser Beitrag behandelt die zunehmende Forschung zu Flüchtlingen und Konflikten. Diese Forschung platziert das Studium erzwungener Migration unmittelbar im Feld der Erforschung politischer Gewalt, indem die komplexe Beziehung von Migration und Konflikten untersucht wird. Flüchtlinge werden dabei als Akteure und nicht einfach nur als Opfer angesehen. Drei grundlegende Aspekte werden im Folgenden behandelt. Erstens werden die Ursachen erzwungener Migration sondiert; zweitens werden die Auswirkungen erzwungener Migration betrachtet und schließlich werden die Antworten der Politik auf erzwungene Migration untersucht.

Politische Gewalt und die Ursachen von Flüchtlingsbewegungen

Die Forschung zu Bürgerkriegen ist in den letzten Jahren aufgeblüht, weil Wissenschaftler anspruchsvolle theoretische und empirische Analysen zu den Anfängen, der Fortdauer und der Lösung von Kriegen durchgeführt haben.3 Eine vielversprechende Forschungslinie strebt danach, die Mikro-Grundlagen individueller Beteiligung an gegen den Staat gerichteter politischer Gewalt aufzudecken.4 Allerdings beschreiben die meisten Untersuchungen die Wahlmöglichkeiten, die Menschen in Zeiten von Bürgerkriegen haben, unvollständig. Wie Albert O. Hirshman in aller Deutlichkeit herausgestellt hat, haben Menschen, die mit dem Status quo unzufrieden sind, die Wahl zwischen Artikulation (Rebellion) und Enthaltung (Emigration).5 Diese Optionen schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus: Viele Flüchtlinge und Diaspora-Gemeinschaften artikulieren sich nach ihrer Flucht durch die Teilnahme an regimekritischen Aktivitäten.

An dieser Stelle sind einige Definitionen notwendig. Die Konvention der UNO zum Status von Flüchtlingen definiert einen Flüchtling als eine Person, die „sich aufgrund wohl begründeter Angst, aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Meinung verfolgt zu werden, außerhalb des Landes seiner Nationalität aufhält und nicht in der Lage – oder aufgrund einer solchen Angst – nicht willens ist, vom Schutz dieses Landes Gebrauch zu machen.“6 Während diese internationale juristische Definition die regierungsseitige Verfolgung gegen Individuen hervorhebt7, ist weitgehend anerkannt, dass auch diejenigen, die allgemeinen Gewaltkonstellationen wie Bürgerkrieg oder Staatsversagen entkommen sind, als Flüchtlinge gelten.8 Zusätzlich zu Personen, die über Staatsgrenzen geflohen sind, fliehen viele Menschen in andere Regionen des Staates. Diese werden als »internally displaced persons« (IDPs) bezeichnet und entbehren des internationalen gesetzlichen Schutzes, welcher internationalen Flüchtlingen geboten wird.

Die allgemeine Vorstellung über Flüchtlingsströme besagt, dass politische Gewalt die Flucht von Menschen verursacht. Allerdings haben Wissenschaftler anspruchsvollere theoretische Betrachtungen erzwungener Migration vorgelegt, die weitere Aspekte wie den Einfluss unterschiedlicher Formen politischer Gewalt auf das Ausmaß der Migration und deren Charakter berücksichtigen. Myron Weiner beispielsweise ordnet Flüchtlingsbewegungen zwischenstaatlichem Krieg, anti-kolonialem Kampf, ethnischem Konflikt, nicht-ethnischem Bürgerkrieg und staatlicher Verfolgung zu und betrachtet die jeweiligen Implikationen.9 Andere haben sich damit befasst, wie ökonomische und politische Bedingungen bei der Produktion von Massenmigration interagieren. Strukturelle Analysen verweisen auf grundlegende Ursachen und ökonomische Faktoren wie Armut, Ungleichheit und Entwicklungsprobleme, die zu politischer Instabilität und Emigration beitragen.10 In diesem Sinne sind ökonomische und politische Gründe für eine Flucht nicht einfach zu trennen.11

In einer wegweisenden statistischen Untersuchung hat Susanne Schmeidl die Gründe für grenzüberschreitende erzwungene Migration länderübergreifend in einer Zeitreihenanalyse betrachtet, die die Jahre 1971-1990 abdeckt.12 Sie berücksichtigt Variablen für Kontextbedingungen, darunter den Grad ökonomischer Entwicklung und Bevölkerungsdruck sowie unmittelbare Gründe wie Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkrieg und ethnischen Konflikt sowie zwischenstaatlichen Krieg. Sie zeigt, dass Genozid, ethnische Kriege und Bürgerkriege – insbesondere im Falle auswärtiger Intervention – signifikant korrelieren mit Fluchtbewegungen. Zudem hat Schmeidl interessante Interaktionseffekte gefunden, die zeigen, dass Armut Flucht verschlimmert, wenn Konflikte gegenwärtig sind.

Davenport, Moore und Poe13 haben darauf aufgebaut, indem sie den zeitlichen Bereich ausgedehnt (1964-1989) und die operativen Indikatoren für Gewalt und Migration verfeinert haben. Die Autoren rücken vom theoretischen Fokus auf strukturelle Gewalt ab, demzufolge das Verhalten von Flüchtlingen als Antwort auf makro-soziale Bedingungen anzusehen ist, und betrachten die Beweggründe von Individuen in Zeiten des Aufruhrs.14 Danach taxieren Menschen ihr Leben, die Freiheit, Besitz, Freunde und Familie und entscheiden sich ihre Heimat zu verlassen, wenn die Bedingungen andernorts ihrer aktuellen Situation vorzuziehen sind. Dieser Fokus auf den Entscheidungsprozess steht in Kontrast zu einer engen Definition dessen, was »erzwungene« Migration impliziert – nämlich, dass Flüchtlinge nicht über Handlungsfähigkeit verfügen -, gleichwohl berücksichtigend, dass die Auswahl unter außergewöhnlich schwierigen Umständen vonstatten geht. Davenport, Moore und Poe haben festgestellt, dass gewaltförmiger Konflikt, Genozid und die Krisenanfälligkeit von Regimen die stärksten Wirkungsvariablen für Flucht sind, während das Bruttosozialprodukt pro Kopf unwesentlich ist.15

Während politische Gewalt als push-Faktor fungiert, der Menschen zur Ausreise veranlasst, müssen die pull-Faktoren in den Zielgebieten ebenfalls berücksichtigt werden. Moore and Shellman analysieren die Wahl zwischen der Flucht über internationale Grenzen oder eine IDP zu werden. Ihre wesentliche Schlussfolgerung ist, dass Regierungen, die mit ihren Maßnahmen auf Zivilisten zielen in größerem Umfang Flüchtlinge als IDPs produzieren als dies bei Bürgerkriegen zwischen Aufständischen und dem Staat der Fall ist. Das ist theoretisch schlüssig, wenn unterstellt wird, dass die wesentliche Aufgabe des Staates darin besteht, physische Sicherheit für seine Bürger bereitzustellen und repressive Regime wenige inländische Zufluchtsorte für diejenigen anbieten, die vor Unheil fliehen. Zudem sind die Umgebungsbedingungen wichtige Wirkungsvariablen für die Flucht über eine Staatsgrenze; insbesondere große Diasporas, hohe Löhne und politische Stabilität in den Zielgegenden erhöhen das Ausströmen von Flüchtlingen.16 In einer anderen Studie von Moore und Shellman betrachten sie die Auswahl internationaler Flüchtlingszielorte unter vollständig dyadischen Rahmenbedingungen, indem sie sowohl die Situation in potenziellen Asylzielorten als auch diejenige in den Herkunftsländern berücksichtigen. Ihre wesentlichen Ergebnisse besagen, dass Flüchtlinge dazu neigen, bereits bestehenden Migrationswellen zu folgen, in die früheren Kolonialmächte zu migrieren und dass Nähe ein wichtiger Einflussfaktor bei der Wahl des Ziels ist.17

Eric Neumayer fokussiert auf die Asylmigration nach Westeuropa und betrachtet die jährliche Zahl von Asylsuchenden nach Herkunftsland. Das Ausmaß politischer Gewalt geht mit einer höheren Zahl von Asylanträgen einher, während ökonomische Faktoren im Herkunftsland, einschließlich höherer Einkommen und Wachstum, die Zahl der Asylsuchenden reduzieren. Neumayer schlussfolgert, dass die Entscheidung zur Migration nach Europa neben politischer Gewalt auch durch die wirtschaftlichen Bedingungen im Herkunftsland beeinflusst wird. Durch die Berücksichtigung der Zielwahl – in diesem Fall Europa – kann Neumayer eine große Wirkung ökonomischer Faktoren zeigen, auf die andere nicht hingewiesen haben.18

Auswirkungen von Flüchtlingsströmen auf bewaffnete Konflikte

Neben den Ursachen für Fluchtbewegungen haben Forscher ihre Aufmerksamkeit auch den Konsequenzen der Migration für die Entsenderegionen, für die Gastgeber und die Beziehungen zwischen beiden zugewandt. Myron Weiner war einer der ersten, der internationale Migration – sowohl Arbeitsmigration als auch Flüchtlingsströme – in einem Sicherheitsbezugssystem diskutierte. Er argumentiert, dass Migration in den Fällen „Konflikte mit und zwischen Ländern generiert“19, bei denen Migranten gegen ihr Heimatland mobil machen, sich an Gewalt gegen ihr Gastland beteiligen und wenn sie als kulturelle oder ökonomische »Bedrohung« angesehen werden. Zahlreiche weitere Wissenschaftler haben einen besonders großen Einfluss von Flüchtlingen auf die Sicherheitslage beobachtet.20 Während humanitäre Angelegenheiten von primärer Bedeutung sein sollten, müssten sich Forscher und politische Entscheidungsträger auch auf die möglichen Sicherheitsrisiken einstellen, die von erzwungener Migration ausgehen.

Zahlreiche Untersuchungen befassen sich mit der Verstrickung von Flüchtlingen in Kombattantengruppen, mit den sogenannten »Flüchtlingskriegern«. Zolberg, Suhrke und Aguayo gehörten zu den ersten, die darauf hingewiesen haben, dass Flüchtlingsgemeinschaften häufig vorzügliche Rekrutierungsgebiete für Kämpfer gewesen sind.21 Flüchtlinge klagen häufig über den Staat, aus dem sie geflohen sind, aufgrund der erlittenen Einbußen; sie haben geringe Opportunitätskosten, wenn sie sich einer Rebellenbewegung anschließen. Zahlreiche Fälle von Gemeinschaften von »Flüchtlingskriegern« illustrieren dieses Phänomen: Afghanen in Pakistan, ruandische Hutus im Congo, Kambodschaner in Thailand und Sudanesen im Tschad, um nur einige zu nennen.

Sarah Lischer hat einen bedeutenden Beitrag zum Studium erzwungener Migration geleistet, indem sie nach den Umständen gefragt hat, bei denen Flüchtlinge am ehesten militarisiert werden.22 Sie argumentiert, dass die Umstände, die zur Flucht geführt haben, ein bedeutender Faktor für nachfolgende Gewaltanwendung sind. Zu den exiliierten Flüchtlingen gehört früheres militärisches oder politisches Leitungspersonal – wie etwa ehemalige ruandische Militärs in der DR Congo; diese sind am ehesten gewaltgeneigt, weil sie über die Organisation verfügen, die für eine Rebellion notwendig ist. Lischer argumentiert zudem, dass das Gastland des Flüchtlings und die internationalen Hilfsorganisationen kritische Faktoren zur Entschärfung eines Konfliktes sind; denn Staaten, die dazu bereit und in der Lage sind, können putschistische Mobilisierungen verhindern und Hilfsorganisationen sollten die Verteilung von Ressourcen an Kämpfer unterbinden.23

In einer früheren Arbeit habe ich zahlreiche dieser Argumente quantitativ überprüft.24 Aufständische sind häufig in der Lage, über die Staatsgrenzen hinweg zu mobilisieren, wo die Sicherheitskräfte sie nicht so einfach bändigen können. Flüchtlingsgemeinschaften stellen besonders attraktive Gebiete für die Mobilisierung von Aufständischen dar, da sich diese politischen Akteure jenseits des Wirkungsbereichs staatlicher Gewaltmittel befinden. Die Ergebnisse zeigen, dass Flüchtlinge in Nachbarstaaten signifikant zur Verlängerung von Bürgerkriegen beitragen, insbesondere dann, wenn sie sich in Staaten aufhalten, die politisch oder militärisch mit dem Herkunftsstaat konkurrieren. Dies legt zudem nahe, dass die Politik von Gastländern die Aktivitäten von »Flüchtlingskriegern« schüren kann, je nachdem wie sich die bilateralen Beziehungen darstellen.

Während diese Untersuchungen sich mit der Beziehung von erzwungener Migration und Konflikt in den Entsendestaaten befassen, haben Flüchtlinge auch bedeutende Auswirkungen auf die Aufnahmegebiete. Vertriebene Personen können eine ökonomische Belastung für die Aufnahmeregionen sein, indem sie knappe Ressourcen in Anspruch nehmen und darüber mit Ortsansässigen in Konkurrenz treten. Adrian Martin hat in Äthiopien den Nachweis gefunden, dass die einheimischen Gemeinschaften häufig besorgt über die ökonomischen Auswirkungen sind, die die aufgenommenen Flüchtlingsgemeinschaften mit sich bringen.25 Ein Bericht der Weltbank hat zudem angemerkt, dass es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und der Ausbreitung von infektiösen Krankheiten wie etwa Malaria und HIV/AIDS gibt.26 Kriegsflüchtlinge können zusätzliche Bürden für Gesundheitsinfrastruktur und Hospitäler darstellen, die oft nicht darauf eingerichtet sind, mit großen Bevölkerungszuwächsen umzugehen – und ganz besonders nicht mit den besonderen Anforderungen, die sich aus erzwungener Migration ergeben.

Salehyan und Gleditsch zeigen einen direkteren Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und politischer Gewalt in den Gastländern.27 Wir argumentieren, dass Flüchtlinge durch ihre eigene geographische Mobilität und durch die Etablierung von Verbindungen mit potenziellen einheimischen Aufständischen verwandter ethnischer Gruppen oder politischer Fraktionen zur Ausbreitung von sozialen Netzwerken von Aufständischen in die Gastgesellschaften beitragen.

Zudem können negative externe Effekte von Flüchtlingen auf die Ökonomie und die demographische bzw. ethnische Balance in den Gastgebieten zu örtlicher Unzufriedenheit führen. In einer quantitativen Analyse für den Zeitraum 1951-2001 haben wir festgestellt, dass die Aufnahme von Flüchtlingen aus benachbarten Staaten das Risiko von inländischen Konflikten signifikant erhöht.

Reaktionen auf Flüchtlinge

Flüchtlingsströme führen auch zu politischen Reaktionen auf Seiten der asylgewährenden Staaten, multilateraler Organisationen und der internationalen Gemeinschaft im Besonderen. Während zahlreiche Autoren die Bedeutung von Menschenrechtsdiskursen für den Schutz verletzbarer Personen einschließlich von Flüchtlingen betont haben28, verwiesen andere darauf, dass die Akzeptanz von Flüchtlingen und Asylsuchenden mehr ist als eine humanitäre Aktion29. Unerwartete Massenmigration kann erhebliche ökonomische und wirtschaftliche Lasten für die Gastregionen bedeuten. Sie kann ebenfalls die Beziehungen zwischen Staaten aufs Spiel setzen, wenn die Aufnahme von Flüchtlingen bedeutet, Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland anzuerkennen und Dissidenten Schutz zu gewähren. Daher müssen Staaten die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes gegen die potentiellen Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen abwägen.

Karen Jacobsen liefert eine umfassende Übersicht über die Bestimmungsgrößen einer liberalen gegenüber einer restriktiven Asylpolitik.30 Sie befasst sich mit mehreren Faktoren, darunter den Beziehungen zwischen Entsende- und Aufnahmestaat, dem Einfluss internationaler Flüchtlingsschutzregime, der örtlichen Aufnahmekapazität des Gastlandes, dem Potenzial von Sicherheitsgefährdungen und den ethnischen Verbindungen zur Flüchtlingsgemeinschaft. Diese Erörterung führt zu einem Set plausibler Hypothesen über Flüchtlingspolitik und Wege zukünftiger Forschung. Kevin Hartigan untersucht die Flüchtlingspolitik von Mexiko und Honduras während der mittelamerikanischen Bürgerkriege und betrachtet, wie strategische außenpolitische Interessen dieser Staaten Gegenstand von Abmachungen mit internationalen Hilfsorganisationen, insbesondere dem UN Hochkommissar für Flüchtlinge, wurden.31 In jüngster Zeit haben Wissenschaftler damit begonnen, die Asylanerkennungspolitik durch quantitative Analysen zu untersuchen. Eric Neumayer geht den Determinanten der Asylanerkennungsquoten in Europa nach.32 Wie erwartet stellt er fest, dass sich Menschenrechtsverletzungen in den Herkunftsstaaten positiv auf die Anerkennungsquoten auswirken. Allerdings drückt hohe Arbeitslosigkeit in den Zielländern die Anerkennungsrate. In ihrer Analyse der Anerkennungsraten in den USA haben Rosenblum und Salehyan die relative Bedeutung von humanitären und interessen-geleiteten Faktoren bei Asylerlaubnissen verfolgt.33 Während des Kalten Krieges gewährten die USA bevorzugt Flüchtlingen Asyl, die dem Kommunismus entkommen waren, während Asylsuchende aus militärisch verbündeten Ländern zurückgewiesen wurden. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges haben die außenpolitischen Beziehungen zu den Entsendestaaten ihre Bedeutung behalten, aber auch die ökonomischen Verbindungen sind bedeutsam geworden. In diesem Zeitraum hat das Anliegen, den »Asylbetrug« und »simulierte« Anträge zu begrenzen, die Anerkennungsquoten reduziert. Den Schutz von Flüchtlingen als internationales öffentliches Gut charakterisierend argumentieren Suhrke34 und Thielemann35, dass internationale Reaktionen auf erzwungene Migration kollektive Handlungsprobleme generieren. Obwohl Teilnehmer des internationalen Systems davon profitieren können, dass die Verantwortung für die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Flüchtlinge – einschließlich Möglichkeiten der Umsiedlung – geteilt wird, würde jedes Land eher als Trittbrettfahrer von den Aktivitäten anderer profitieren. Diese Autoren schlagen eine Reihe von Mechanismen vor, um den »free rider«-Anreiz zu überwinden, darunter geteilte Normen und Werte und die Führerschaft durch einflussreiche Staaten, um andere unter Druck zu setzen, größere Verantwortung zu akzeptieren.

Schlussfolgerung

Die Dynamiken erzwungener Migration sind zentral für das Studium von Bürgerkriegen, Menschenrechten und Einwanderungspolitiken. Insbesondere dieser Themenbereich verspricht einen fruchtbaren Austausch zwischen politischen Entscheidungsträgern und der akademischen Gemeinde. Der Ausgleich zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der Flüchtlinge und den potenziellen Problemen in den Aufnahmeländern – einschließlich der Schwierigkeiten bei Integration und Aufnahme – wird voraussichtlich noch viele Jahre auf der politischen Agenda stehen. Praktische Lösungen für diese Spannungen zu finden – ohne unnötige Phrasen -, ist nicht nur eine humanitäre Aufgabe, sondern auch weise Politik.

Anmerkungen

1) Jeff Crisp (2003): No Solutions in Sight: the Problem of Protracted Refugee Situations in Africa. New Issues in Refugee Research UNHCR Working Paper 75.

2) Vgl. James D. Fearon/David D. Laitin (2003): Ethnicity, Insurgency, and Civil War. American Political Science Review 97/1. S.75-90; Håvard Hegre/Tanja Ellingsen/Scott Gates/Nils Petter Gleditsch (2001): Toward a Democratic Civil Peace? Democracy, Political Change, and Civil War, 1816-1992. American Political Science Review 95/1, S.33-48; Mark I. Lichbach (1987): Deterrence or Escalation? The Puzzle of Aggregate Studies of Repression and Dissent. Journal of Conflict Resolution 31/2, S.266-97.

3) Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffler (2004): Greed and Grievance in Civil War. Oxford Economic Papers 56/4, S.563-595; Karl DeRouen/David Sobek (2004): The Dynamics of Civil War Duration and Outcome. Journal of Peace Research 41/3, S.303-320; James Fearon (2004): Why Do Some Civil Wars Last So Much Longer Than Others? Journal of Peace Research 41/3, S.275-301; T. David Mason/Joseph Weingarten/Patrick Fett (1999): Win, Lose, or Draw: Predicting the Outcome of Civil Wars. Political Research Quarterly 52/2, S.239-268; Barbara F. Walter (1997): The Critical Barrier to Civil War Settlement. International Organization 51/3, S.335-364.

4) Scott Gates (2002): Recruitment and Allegiance: the Microfoundations of Rebellion. Journal of Conflict Resolution 46/1, S.111-130; Jeremy Weinstein (2005): Resources and the Information Problem in Rebel Recruitment. Journal of Conflict Resolution 49/4, S.598-624.

5) Albert O. Hirschman (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge.

6) United Nations Convention Relating to the Status of Refugees, 1951, Article 1. Full text available online at: http://www.unhchr.ch/html/menu3/b/o_c_ref.htm (accessed 25 April, 2006).

7) Leon Gordenker (1987): Refugees in International Politics. New York.

8) BS Chimni (2000): International Refugee Law: A Reader. New Delhi; Aristide Zolberg/Astrid Suhrke/Sergio Aguayo (1989): Escape from Violence: Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World. New York.

9) Myron Weiner (1996): Bad Neighbors, Bad Neighborhoods: and Inquiry into the Causes of Refugee Flows. International Security 21/1, S.5-42.

10) Nora Hamilton/Norma Stoltz Chinchilla (1991): Central American Migration: A Framework for Analysis. Latin American Research Review 26/1, S.75-110.

11) Zolberg et al. (Fußnote 8).

12) Susanne Schmeidl (1997): Exploring the Causes of Forced Migration: A Pooled Time-Series Analysis, 1971-1990. Social Science Quarterly 78/2, S.284-308.

13) Christian Davenport/Will Moore/Steven Poe (2003): Sometimes you Just Have to Leave: Domestic Threats and Refugee Movements, 1964-1989. International Interactions 29/1, S.27-55.

14) Während zahlreiche neuere Arbeiten auf diese Mikro-Motivation fokussieren, um ihre theoretische Argumentation zu entfalten, nutzen die meisten statistischen Analysen zur erzwungenen Migration aufgrund von Beschränkungen im Datenmaterial weiterhin breite, länderbezogene Indikatoren.

15) Vgl. auch Clair Apodaca (1998): Human Rights Abuses: Precursor to Refugee Flight? Journal of Refugee Studies 11/1, S.80-93; Jean-Paul Azam/Anke Hoeffler (2002): Violence Against Civilians in Civil Wars: Looting or Terror? Journal of Peace Research 39/4, S.461-485.

16) Will Moore/Stephen Shellman (2006): Refugee or Internally Displaced Person: To Where Should One Flee? Comparative Political Studies 39/5, S.599-622.

17) Will Moore/Stephen Shellman (2007): Whither Will They Go? A Global Analysis of Refugee's Destinations, 1965-1995. International Studies Quarterly 51/4, S.811-834.

18) Eric Neumayer (2005): Bogus Refugees? The Determinants of Asylum Migration to Western Europe. International Studies Quarterly 49/3, S.389-409.

19) Myron Weiner (1992/1993): Security, Stability, and International Migration. International Security 17/3, S.91-126 (S.91).

20) Alan Dowty/Gil Loescher (1996): Refugee Flows as Grounds for International Action. International Security 21/1, S.43-71; Gil Loescher (1993): Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford; Michael Teitelbaum (1984): Immigration, Refugees, and Foreign Policy. International Organization 38/3, S.429-450; Michael Teitelbaum/Myron Weiner (1995): Threatened Peoples, Threatened Borders: World Migration and US Policy. New York; Zolberg et al. (Fußnote 8).

21) Zolberg et al. (Fußnote 8).

22) Sarah Kenyon Lischer (2005): Dangerous Sanctuaries: Refugee Camps, Civil War, and the Dilemmas of Humanitarian Aid. Ithaca, NY.

23) Vgl. auch: John Stedman/Fred Tanner (2003): Refugee Manipulation: War, Politics, and the Abuse of Human Suffering. Washington, DC.

24) Idean Salehyan (2007): Transnational Rebels: Neighboring States as Sanctuary for Rebel Groups. World Politics 59/2, S.217-242.

25) Adrian Martin (2005): Environmental Conflict Between Refugee and Host Communities. Journal of Peace Research 42/3, S.329-346.

26) Paul Collier/VL Elliot/Haavard Hegre/Anke Hoeffler/Marta Reynal-Querol/Nicholas Sambanis (2003): Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy. Washington, DC.

27) Idean Salehyan/Kristian S. Gleditsch (2006): Refugees and the Spread of Civil War. International Organization 60/2, S.335-366.

28) Martha Finnemore/Kathryn Sikkink (1998): International Norm Dynamics and Political Change. International Organization 52/2, S.887-917; Christian Joppke (ed.) (1998): Challenge to the Nation-State: Immigration in Western Europe and the United States. New York; Yasemin Soysal (1994): Limits of Citizenship. Chicago.

29) Gil Loescher (1993): Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford; Astrid Suhrke (1998): Burden-Sharing During Refugee Emergencies: the Logic of Collective versus National Action. Journal of Refugee Studies 11/4, S.396-415; Teitelbaum (Fußnote 21).

30) Karen Jacobsen (1996): Factors Influencing the Policy Responses of Host Governments to Mass Refugee Influxes. International Migration Review 30/3, S.655-678.

31) Kevin Hartigan (1992): Matching Humanitarian Norms with Cold, Hard Interests: the Making of Refugee Policies in Mexico and Honduras, 1980-1989. International Organization 46/3, S.709-730.

32) Eric Neumayer (2005): Asylum Recognition Rates in Western Europe: the Determinants, Variation, and Lack of Convergence. Journal of Conflict Resolution 49/1, S.43-66.

33) Marc R Rosenblum/Idean Salehyan (2004): Norms and Interests in US Asylum Enforcement. Journal of Peace Research 41/6, S.677-697.

34) Astrid Suhrke (1998): Burden-Sharing During Refugee Emergencies: the Logic of Collective versus National Action. Journal of Refugee Studies 11/4, S.396-415.

35) Eiko Thielemann (2003): Between Interests and Norms: Explaining Burden-Sharing in the European Union. Journal of Refugee Studies 16/3, S.253-273.

Dr. Idean Salehyan lehrt am Department of Political Science der University of North Texas
Übersetzung: Fabian Virchow

Die Unerwünschten

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Verwaltung der Migration: Überwachung, Kontrolle und repressive Exklusion

von Dirk Vogelskamp

Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene »Zuwanderungsgesetz« trägt den deutsch-bürokratischen, weniger zur Selbsttäuschung einladenden Titel »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern«. Das Artikelgesetz ist unmissverständlich: Es will die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitsimmigrant/inn/en regeln, wobei die Vorsilbe »Zu« bereits signalisiert, dass politisch keine dauerhafte Einwanderung beabsichtigt wird, und den Ausschluss derer sicherstellen, die die vorausgesetzten arbeitsmarkt- und aufnahmepolitischen Kriterien nicht erfüllen. Man könnte die letzteren »die Unerwünschten« nennen, die das Land rasch wieder zu verlassen haben.

Demnach entscheidet wesentlich der ökonomisch erwartete Nutzen, den ein Einwanderer oder eine Einwanderin mit- und in die Gesellschaft einbringt, ob ihm oder ihr Zuwanderung und zeitweilige Niederlassung, ein Aufenthalt staatlicherseits gewährt wird. Diese aus einem ökonomischen Nutzenkalkül geschaffene, staatlich mit dem zu schützenden allgemeinen Sicherheits- und Wohlstandsinteresse legitimierte Spaltungslinie zwischen wirtschaftlich erwünschten und unerwünschten Immigrant/inn/en strukturiert das Alltagsbewusstsein derer, die in Behörden mit ihnen zu tun haben, und leitet ihr Handeln an. Die daraus erwachsende Abwehrhaltung prägt und festigt wiederum das institutionelle Selbstbewusstsein der Ausländerverwaltung, das in einer langen Tradition der Gefahrenabwehr wurzelt. Thomas Groß stellt im Migrationsreport 2006 zum Zuwanderungsgesetz ernüchternd fest, es werde immer deutlicher, „dass große Veränderungen ausgeblieben sind und den Behörden keine grundlegenden Abweichungen von den alten Verhaltensroutinen abverlangt werden“.1 Da der politische Bereich Asyl, Einwanderung, Visa sowie Sicherung der Außengrenzen seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) als europäische Gemeinschaftsaufgabe bestimmt wird, greift die Europäische Union über EU-Richtlinien und Verordnungen in die deutschen »Zuwanderungsregelungen« ein und beschneidet somit die nationale Rechtsetzungskompetenz. Es zeichnet sich jedoch ab, dass in dem europäischen »Gesamtansatz zur Migrationsfrage« divergierende nationale Interessen angenähert werden können. Denn sowohl die europäische als auch die nationale Migrationssteuerung orientieren strategisch darauf, die internationalen Wanderungsbewegungen zu kontrollieren, die »illegale« Einwanderung zu bekämpfen und die Arbeitsmigration für die europäischen Arbeitsmärkte bedarfsgerecht zu steuern. Im Bereich der Arbeitsmigration behalten sich die nationalen Regierungen das Recht vor, das Niveau der Arbeitszuwanderung selbst zu bestimmen.

Michael Bommes zeichnet in der Einleitung des erwähnten Migrationsreports die konzeptionelle Gemengelage der herrschenden Migrations- und Integrationsentwürfe nach: „In der einen Perspektive erscheint Migration als unvermeidliches, aber kalkulierbares Risiko, das es durch Entscheidung zu gestalten gilt, und in der anderen als durch Einwanderungspolitik ausgelöste Gefahr, der die Betroffenen ausgesetzt sind und die sich manifestiert in Kosten, Konkurrenz, kultureller Überfremdung und Kulturkampf …“.2 Während Bommes den gesellschaftlichen Umgang mit Migration in Analogie zum Umgang mit Umweltproblemen (!) aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung und ihrer politischen Klasse zu fassen versucht, werde ich eine menschenrechtliche Perspektive wählen, eine, die zumindest die Auswirkungen dieses Migrationsregimes auf die Menschen in den Mittelpunkt rückt, die nach Deutschland geflohen oder eingewandert sind.

Die alltägliche, unauffällige Gewalt der Immigrationsverwaltung

Das zuwanderungsgesetzliche Instrumentarium, Migration zu kontrollieren und zu begrenzen, spaltet die Zuwanderung in weitere verwaltungstechnische abstrakte Kategorien. Eine politisch bewusst enggeführte Flüchtlingsdefinition, die sich zwar an der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 orientiert, in der aber weder politisch produzierte Armut noch existenzielle Perspektivlosigkeit legitime Fluchtgründe darstellen, und die rechtstaatlich verkürzten Asylverfahren, in denen die »Flüchtlingseigenschaft« festgestellt werden soll, unterscheiden zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Flüchtlingen. Aus dieser politisch fest- sowie administrativ und gerichtlich umgesetzten Flüchtlingsdefinition folgt: nur sehr wenige Menschen können überhaupt einen Anspruch auf staatlichen Schutz geltend machen. Seit dem Jahr 1993 sorgt zudem ein wachsender Kranz gesetzlicher Bestimmungen dafür, den Zugang für Flüchtlinge zum Asylverfahren zu versperren. Dazu gehören u.a.: die Regelungen über sichere Dritt- und Herkunftsstaaten, das Flughafenverfahren, das Dubliner Übereinkommen, diverse zwischenstaatliche Rückübernahmeabkommen, Visumspflicht und so genannte »carrier sanctions«. Dass „politisch Verfolgte Asylrecht genießen“ (Art. 16a Abs. 1 GG) oder anderweitig Schutz erhalten, ist in der BRD und europaweit seit Jahren eher die Ausnahme. Das ist menschenrechtlich ebenso inakzeptabel wie die Tatsache, dass über den engen Kreis der nach der Genfer Flüchtlingskonvention definierten politisch Verfolgten hinaus Menschen in existenzieller Not keinen angemessenen Schutz erhalten und dass sie obendrein als Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge diskriminiert und mit großer Wahrscheinlichkeit in die Depressionszonen der Globalisierung und in die Herkunftsregionen, denen sie entflohen sind, zurückgeschafft werden. Die staatliche Abspaltung eines überwiegenden Teils vermeintlich nicht schutzwürdiger Flüchtlinge prägt den behördlichen Umgang ausländerfeindlich. Ihre Anwesenheit gilt pauschal als unberechtigt, als illegitim. Ihr wie auch immer geartetes Vorbringen gilt in der Regel als unglaubwürdig. Sie erscheinen nicht berechtigt, überhaupt soziale oder politische Ansprüche zu stellen. An dieser rechtsstaatlich erst produzierten Tatsache geringer Anerkennungsquoten konnten und können die populistisch rassistischen Kampagnen vom Missbrauch des Asyl- und Sozialrechts mühelos anknüpfen.

Die inzwischen wenigen Flüchtlinge, die notgedrungen versuchen, ihren Aufenthalt über das rechtsstaatliche Nadelöhr »Flüchtlingsschutz« zu legalisieren, werden von der Ausländerverwaltung erst einmal kontrolltechnisch vollständig erfasst, indem ihnen z.B. von allen Fingern Abdrücke für die europäische Fingerabdruck Datenbank (EORODAC) abgenommen werden; danach werden sie wie Stückgut »untergebracht« oder »verlagert« und mit Lebensmittelgutscheinen oder »Essenspaketen« »verpflegt«. Sie werden über Jahre in einem Zustand bürokratischer Abhängigkeit und rechtstaatlicher Willkür gehalten, in denen ihnen bewusst Lebensumstände zugemutet werden, die noch das Niveau hilfebedürftiger deutscher Staatsbürger unterschreiten. Zudem werden sie in verwaisten Gegenden in Massenquartieren und Sammellagern eingepfercht und an den gesellschaftlichen Rand abgeschoben. Damit wird den privilegierten Staatsbürgern unmissverständlich signalisiert, diese nur notdürftig behausten und staatlich verpflegten Menschen sind unerwünscht. In den inzwischen geschaffenen Abschiebelagern werden sie darüber hinaus staatlich zur »freiwilligen Ausreise« genötigt. Inzwischen haben wir uns an die in den Gesetzen verobjektivierende, abwertende Sprache und an die Praxis der Ausländerverwaltung ebenso gewöhnt wie an die Wiederkehr der Lager. Die gesetzlich eingezogenen Trennungslinien zwischen der Mehrheitsbevölkerung und ihrer Minderheit nehmen Gestalt an in den Lagern, im Arbeitsverbot, in der Abhängigkeit von staatlicher »Fürsorge«, in den polizeilichen Kontrollen, in der überwiegend materiellen Armut der Flüchtlinge und ihren minderen Rechten. In der Verwaltungspraxis werden sie zu Objekten staatlicher Migrationspolitik erniedrigt, in der ihre Individualität und Lebensgeschichte hinter einem starren System ausländerrechtlicher Bestimmungen verschwinden.

Der defizitäre »Ausländer«

Diese aus den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen erfolgte Stigmatisierung, die negative Hervor- und Heraushebung eines Teils der nicht-deutschen Minderheit aus der Mehrheitsgesellschaft wird zugleich seit einigen Jahren von einer repressiven öffentlichen Integrationsdebatte begleitet, in der diese gesellschaftliche Minderheit durchweg als politisch und kulturell defizitär dargestellt wird – gleich, ob sie in der dritten oder vierten Generation in Deutschland lebt. Einem Teil der Einwanderer/innen wird gar unterstellt, sie verweigerten sich der »Integration« oder seien gänzlich integrationsunfähig. Es finden sich in der öffentlichen Debatte fast keine positiven Eigenschaften, die mit den Einwanderern verbunden werden, es sei denn, sie sind der deutschen Wirtschaft als Saison- und Wissensarbeiter/innen von Nutzen.

Rassismus und Migrationssteuerung

Diese legale ausländerrechtliche Praxis der Entrechtung, der Herabsetzung sowie der Ab- und Aussonderung von Flüchtlingen und Einwanderern wirkt machtstrukturierend auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ein, beeinflusst soziale Beziehungen zwischen Bevölkerungsmehrheit und ihrer »ausländischen« Minderheit, formt individuelles und kollektives Bewusstsein. An diese Praxis können sich rassistische, fremdenfeindliche und vorurteilsbeladene Deutungsmuster problemlos anheften. Rassistische Einstellungen und xenophobe Ängste in der Bevölkerung scheinen mit der staatlichen Praxis sozialen Ausschlusses und Diskriminierung allein aufgrund ausländerrechtlicher Kategorien in Einklang zu stehen, machen ihr diese Praxis plausibel und annehmbar. Sie erscheint ebenso gerechtfertigt, wie die eigene fremdenfeindliche Haltung bestätigt wird. Sie erfährt Zuspruch. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit werden insofern selbst zu einem Steuerungselement der Migration, das bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig ist und das immer wieder aufgerufen werden kann, um staatliche Maßnahmen politisch durchzusetzen und zu rechtfertigen.

Die politische Produktion »illegaler Migration«

Zwei grundlegende soziale Verhältnisse moderner Nationalstaaten gewinnen eine wichtige Bedeutung in diesem Kontext. Zum einen das über die Staatsbürgerschaft geregelte Zuordnungsverhältnis von Person und Staat. Wer als Staatsangehöriger anzusehen ist oder wer die Staatsangehörigkeit erwerben kann, wird seitens des Staates gesetzlich festgelegt. Daraus erfolg zwangsläufig die Abgrenzung zu Nicht-Staatsangehörigen, zu Fremden oder »Ausländern«, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzen oder staatenlos sind. Von den staatsbürgerlichen Grundrechten bleiben sie ausgeschlossen. Sie können sich lediglich auf die unverbindlichen und stets prekären Menschenrechte berufen, die im gesetzgeberischen Regelfall der staatlichen Flüchtlingsabwehrpolitik untergeordnet werden. Die fremde Staatszugehörigkeit schließt insofern schon eine soziale und rechtliche Ausgrenzung ein, die alle weiteren Machtverhältnisse zwischen Immigrant/inn/en und Ausländerverwaltung asymmetrisch bestimmen. Die »Fremden« sind rechtsschwach. Sie werden von vornherein staatlich in der Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten eingeschränkt (Bildung, Beruf, politische Teilnahme …). In dieser Ungleichheit nistet die strukturell fremdenfeindliche Gewalt der Ausländerverwaltung.

Zum anderen können alle souveränen, durch Grenzen festgelegten Nationalstaaten das Recht beanspruchen, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu kontrollieren und festzulegen, wer sich zu welchem Zweck in demselben aufhalten darf und wer nicht. Mit der staatlichen Inanspruchnahme dieses Rechts gehen bestimmte Einschließungs- und Ausschließungspraktiken einher. Dies wird mit dem Aufenthaltsgesetz geregelt. Werden die legalen Zugangsmöglichkeiten rechtlich verstopft (s.o.), nehmen irreguläre Wanderungsbewegungen zu. »Illegale Migration« wird derart rechtlich und sozial erst hergestellt. Die politisch intendierte Migrationssteuerung und -kontrolle konstruiert ausländerrechtlich die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt und macht sie zugleich strafbewehrt. Damit werden wiederum politisch die extensiven staatlichen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen legitimiert.

Die Aussonderung der Unerwünschten

Durch ein weitgespanntes und engmaschiges Kontrollnetz der Bundespolizei und der Länderpolizeien konnten im Jahr 2006 insgesamt 64.605 Personen aufgegriffen und registriert werden, die sich »illegal« im Bundesgebiet aufhielten.3 Diese anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrollen, sogenannte Schleierfahndungen, haben die Schleusen für diskriminierende polizeiliche Arbeitsroutinen weit geöffnet. Ihnen liegt immer schon ein Verdachtskonstrukt zu Grunde. Im Kontext der »Bekämpfung der illegalen Migration« werden die Kriterien für die Kontrollmaßnahmen anhand äußerlicher Merkmale (Hautfarbe, Aussehen), Sprache oder Religionszugehörigkeit vorgenommen (racial profiling). Da nicht einmal ein »begründeter Anfangsverdacht« für diese Kontrollen vorliegen muss, lässt sich von einem institutionellen Rassismus sprechen, der dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3, Abs. 3) radikal widerspricht.

In den o.a. Zahlen sind die von Polizei- und Zollbehörden im grenznahen Raum aufgegriffenen »illegal« Eingereisten (26.679) enthalten. Viele von ihnen werden entweder nach dem Dubliner Abkommen zwangsweise an einen Nachbarstaat überstellt, in dem sie sich zuerst aufgehalten hatten und dort über EURODAC erfasst wurden. Oder sie werden, um ihre Abschiebung sicherzustellen, wie es im Amtsdeutsch heißt, in Abschiebehaft genommen. Abschiebehaft ist eine reine Verwaltungshaft im Gegensatz zur Strafhaft und kann für sechs Monate angeordnet und maximal um 12 Monate verlängert werden. Nach Angaben der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) starben zwischen 1993 und 2006 allein 50 Menschen in Abschiebehaft durch Suizid. Nach den sehr sorgfältig jährlich erstellten Dokumentationen der ARI kamen in Folge „staatlicher Maßnahmen“ (ARI) in dem angegeben Zeitraum 351 Menschen ums Leben: an den deutschen Außengrenzen, auf der Flucht vor staatlichen Organen, in den Abschiebeknästen, bei Abschiebungen.4 Wieder andere Illegalisierte werden ausgewiesen oder zwangsweise abgeschoben. Allein im Jahr 2006 wurden 13.894 Immigrant/inn/en gegen ihren Willen außer Landes geschafft, d.h. zumindest unter Anwendung physischen Drucks. 4.729 Personen wurden laut Statistik an den Außengrenzen einschließlich der EU-Binnengrenzen „zwangsweise“ zurückgeschoben. Diese Erfolgsbilanz staatlicher Migrationsverwaltung unterschlägt, dass bei allen diesen gewaltförmigen Verwaltungs- und Polizeimaßnahmen die Grund- und Menschenechte regelmäßig verletzt werden (körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Diskriminierungsverbot, informationelle Selbstbestimmung). Die Sprache der Verwaltung unterschlägt systematisch die Leiden, die seelischen Verletzungen und Ängste derjenigen Menschen, die den »Maßnahmen« der Einwanderungskontrolle ausgesetzt sind.

Die staatliche Illegalisierung von Flüchtlingen, Migranten und Migrantinnen ist ein zentraler Mechanismus der Immigrationskontrolle, um die Aussonderung der Unerwünschten betreiben zu können – wohlwissend, dass das nie vollständig gelingt und ein nützlicher Anteil an Illegalisierten für die untersten Segmente des Arbeitsmarktes verbleibt.

Informationelle Sonderbehandlung

Zur Bekämpfung der »illegalen Migration« steht den deutschen Behörden ein informationstechnisch hochgerüsteter Apparat zur Verfügung. Im Ausländerzentralregister (AZR) werden die personenbezogenen, aufenthaltsrechtlichen und statusbezogenen Daten aller Ausländer erfasst, auf das nicht nur Polizeien, Nachrichtendienste und Ausländerbehörden, sondern auch Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere öffentliche Stellen wie Arbeits- und Sozialverwaltung Zugriff haben. Im Mai 2006 wurde darüber hinaus das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GASIM) eingerichtet, das auf Grundlage institutioneller Kooperation der mit der Verwaltung der Immigration beauftragten Behörden und Stellen die »Bekämpfung der illegalen Migration« bündeln soll. Die Kontrolle, Festsetzung und Aussonderung des unerwünschten Fremden setzt ihre informationelle Sonderbehandlung voraus. »Illegalität« ist inzwischen ein alltägliches Feld polizeilicher und administrativer Intervention sowie sozialarbeiterischer Dienste geworden. Auch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit hat sich unaufgeregt dieser Praxis aus Gewalt, informationellem und fürsorglichem Zugriff angepasst. Die Verwaltung der Migration und der Ausschluss der Unerwünschten gehen mit einem hohen Maß an legalem Zwang, legalen Eingriffen in die persönliche Freiheit und legaler Gewalt einher: bei den Deportationen, Überstellungen und polizeilichen Kontrollen, in den Lagern und Abschiebegefängnissen.

Die politische Produktion des »gefährlichen Ausländers«

Nach dem 11. September 2001 wurde der Krieg gegen »den Terrorismus« im Inneren der Gesellschaften präventiv und repressiv vorangetrieben. Eine Reihe von Maßnahmen wurde gesetzlich erlassen, die die polizeilichen Eingriffsschwellen weiter heruntersetzten und nachrichtendienstliche Befugnisse ausweiteten. Die Sicherheitsapparate wurden massiv aufgerüstet. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass diese neuen Eingriffsmöglichkeiten vor allem selektiv gegen Einwanderer/innen eingesetzt wurden – von der Rasterfahndung bis zu den anlassunabhängigen Kontrollen. »Ausländer« stehen seitdem unter generellem Verdacht und werden »polizeipflichtig«. Sie werden ohne konkreten Anlass in die nachrichtendienstlichen und polizeilichen Ermittlungen einbezogen (biometrische Daten in Ausweisen und Visa; die Fingerabdrücke werden für den Spurenabgleich im BKA gespeichert; raschere Abschiebemöglichkeiten; präventive Datenerhebung; …). Die Sicherheitskonzepte fußen auf präventiver Logik. Die vermeintlichen Gefahren und Straftaten müssen vorbeugend erkannt und verhindert werden. Damit wird der Verdacht, die Vermutung, die Wahrscheinlichkeit aufgrund von Datenhäufungen grundlegend für die Arbeit der Sicherheitsapparate. Sie setzt deshalb weit im Vorfeld konkreter Anhaltspunkte für Straftaten ein. Auch hier stehen die Aktivitäten von Immigrant/inn/en im Focus der sicherheitspolitischen Aufmerksamkeit, Kontrolle und Überwachung.

Mit dem Sammelbegriff »Ausländerkriminalität« wird schon seit vielen Jahren – besonders zu Wahlkampfzeiten – das Vorurteil des kriminellen »Ausländers« geschürt. In Verbindung mit den aktuellen antiterroristischen Maßnahmen wird der Begriff des »Ausländers«, der lediglich einen Bezug zu seinem Aufenthaltsstatus und seiner Staatszugehörigkeit zulässt, zu einer beinahe ausschließlich kriminalpolitischen Kategorie.

Die politischen entgrenzten Sicherheitskonzeptionen lassen die Trennung zwischen innerer und äußere Sicherheit verschwimmen. Diese werden durchlässig. »Sicherheit« wird zu einer Querschnittsaufgabe der Politik. Seit den Attentaten des 11. September 2001 werden die Themen Migration und »Sicherheit« fest miteinander verwoben. In allen relevanten militärischen Strategiekonzeptionen werden die globalen Sicherheitsrisiken neben anderen Bedrohungswahrnehmungen in der »illegalen Einwanderung« ausgemacht, die mit grenzüberschreitender Kriminalität einherginge. Dementsprechend werden die »europäischen Schutzinteressen« bestimmt, die die Staatengemeinschaft, die sich über die Produktion innerer und äußerer Sicherheit und der Aufrechterhaltung von Ordnung legitimiert, zu verfolgen habe. Deshalb wurde das feierliche Bekenntnis, „die illegale Einwanderung“ zu bekämpfen, noch in letzter Minute in den Erklärungsentwurf der EU anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2007 aufgenommen.5 „Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Einwanderung“ werden in diesem Text gleichwertig zu Sicherheitsrisiken Europas erkoren. In ihrer Unbestimmtheit eignen sich die Phänomene trefflich dazu, in den Bevölkerungen fortwährend latente Bedrohungsängste und Verunsicherung zu erzeugen. Sie sind Konstrukte einer innen- und außenpolitischen Feinderklärung. Mit den Phänomenen »Terrorismus« und »Organisierte Kriminalität« werden allgemein schwerste Verbrechen assoziiert. Nun wird seit ein paar Jahren die »illegale Migration« in dieses grobe Feindbildraster aufgenommen, die die Sicherheit der Menschen und ihre Bürgerrechte in der EU angeblich gefährdet.

Mit der gesellschaftlichen Produktion des »gefährlichen Ausländers« wird versucht, die repressive Immigrationskontrolle und die technische Hochrüstung der Überwachungsapparate zu legitimieren, mit denen die »Weltüberflüssigen« von den Zitadellen des Reichtums ferngehalten und die Bedingungen globaler Ungleichheit aufrecht gehalten werden, in denen zugleich selbstbestimmte Formen von Migration immer erneut ihren Ausgang nehmen werden. Der Brennpunkt der Konflikte mit den Migrationsbewegungen und dem in ihnen verkörperten Anspruch auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit wird sich zwar weiter an die europäischen Außengrenzen und in die Schutzzonen und Schutzlager in Afrika und anderswo verschieben, sein Widerschein jedoch wird auch die Metropolen erhellen.

Anmerkungen

1) Vgl. Thomas Groß (2006): Die Verwaltung der Migration nach der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes, in: Migrationsreport 2006, Für den Rat für Migration herausgegeben von Michael Bommes und Werner Schiffauer. Frankfurt/New York, S.31-61 (31).

2) Vgl. Michael Bommes (2006): Einleitung: Migration- und Integrationspolitik in Deutschland zwischen institutioneller Anpassung und Abwehr, in: Migrationsreport 2006, a.a.O., S.9-29 (19).

3) Alle angeführten statistischen Daten sind dem Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung (Migrationsbericht 2006) entnommen (S.153-171).

4) Vgl. Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (2007): Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (2 Bände), 14. aktualisierte Auflage. Berlin.

5) Vgl. Dirk Vogelskamp (2007): Gewaltsame Zonierung und Wege der Migration, in: WeltTrends 57 (Winter), 15. Jg. 2007/2008, S.116-122.

Dirk Vogelskamp ist Mitarbeiter des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Sterben für eine Tasse Kaffee?

Sterben für eine Tasse Kaffee?

Der Tod von Migranten an der US-mexikanischen Grenze im Zeitalter des Neoliberalismus

von Joseph Nevins

Die Zahl der Toten, die mit dem unerlaubten Überqueren der Grenzen zwischen den USA und Mexiko zusammenhängt, ist seit 1994 beträchtlich gestiegen, als die Clinton-Administration eine erhebliche Verstärkung des Systems der Grenz- und Einwanderungskontrolle initiierte. Nach konservativen Schätzungen haben mehr als 4.000 »illegale« MigrantInnen ihr Leben zwischen dem 1. Oktober 1994 und dem 30. September 2007 verloren, als sie ohne Erlaubnis versuchten, von Mexiko aus in die USA einzureisen.1

Einer der bekanntesten Fälle ist der Tod der sogeannten »Yuma 14« – vierzehn MigrantInnen, die im Mai 2001 in der Wüste im Süden Arizons beim Grenzübertritt starben. Die meisten von ihnen waren aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz und lebten vom Kaffee – ein Sektor, der zum Zeitpunkt ihrer Migration wegen der niedrigen Preise, die die ProduzentInnen und ErntearbeiterInnenin für die Kaffeebohnen erhielten, in einer Krise steckte. Von dieser waren sie als Bauern, ArbeiterInnen oder als Familienangehörige von Kaffeeproduzenten betroffen.2

Mehrere Berichte über die Tragödie der »Yuma 14« haben deutlich gemacht, dass viele der toten MigrantInnen im Kaffeesektor gearbeitet haben und dass die niedrigen Kaffeepreise ein zentraler Faktor war, der sie zur Auswanderung in die USA veranlasst hatte.3 Insgesamt betrachtet haben viele journalistische Reportagen der letzten Jahre angeführt, dass die niedrigen Kaffeepreise signifikant zum Anstieg der Auswanderung aus Mexiko und Zentralamerika beigetragen haben und dass dieses Bestreben manchmal im zunehmend scharfen Kontrollregime im US-mexikanischen Grenzgebiet mit dem Tod endet. Aber mit wenigen Ausnahmen findet in den Berichten die Kaffeekrise keine Erwähnung und wenn dies der Fall ist, dann wird der Fall der Kaffeepreise als ein naturhafter Vorgang dargestellt und auf das Überangebot von Kaffee hingewiesen, ohne jedoch dessen Ursache zu erklären.

Es bleibt die ungeklärte Frage, in welchem Umfang der Fall der Kaffeepreise die Migration beeinflusst – insbesondere die Migration derjenigen, die in Mexiko und Zentralamerika vom Kaffeeanbau abhängig sind. Und was sie womöglich mit dem Land zu tun hat, das die meisten dieser MigrantInnen zu erreichen versuchen: die USA. Insgesamt gibt es starke Anhaltspunkte dafür, dass es eine kausale Verbindung zwischen der US-Politik, der Kaffeekrise4 und der Auswanderung aus »neoliberalisierten« Agrargebieten gibt. Deren Ergebnis führt zusammen mit der Verstärkung des Systems der US-Grenz- und Einwanderungskontrolle zum Tod von MigrantInnen, die die sozio-ökonomisch verwüsteten Kaffeeregionen in Richtung USA verlassen. In diesem Sinne sind die Tode von MigrantInnen – wie der der »Yuma 14« – alles andere als Unfälle. Vielmehr sind sie das logische Ergebnis einer neoliberalen Ära, die durch die gleichzeitige »Öffnung« von Landesgrenzen für ökonomische Aktivitäten und die »Schließung« für »unerwünschte« MigrantInnen gekennzeichnet ist.

Die internationalen Ursachen und Auswirkungen der Kaffeekrise

Während Entwicklungen auf der lokalen und der nationalstaatlichen Ebene wichtige Einflussfaktoren für die Preise sind, die den Kaffeebauern (hier: den Kleinbauern) und den PlantagenarbeiterInnen gezahlt werden, findet die Preisfestsetzung für Kaffeebohnen zunehmend auf der internationalen Ebene durch transnationale Konzerne und auf internationalen Warenmärkten statt. Diese Verlagerung von der nationalen zur transnationalen Ebene ist untrennbar mit der abnehmenden Fähigkeit von einzelnen Anbau- und Produktionsländern verbunden, die Kaffeepreise oder gar die gesamte Handelskette zu beeinflussen. Dies ist auch ein Ergebnis miteinander verbundener Veränderungen in der Struktur der internationalen Produktkette von Kaffee, die zwischen der Mitte der 1970er und Mitte der 1990er Jahre stattgefunden hat und eine Ursache in einem langem Kampf um die Verteilung der Einkünfte aus den Ernten hatte.5

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Länder der »Dritten Welt« verschiedene Ansätze ausprobiert, um den ausbeuterischen Charakter des internationalen Kaffeeregimes zu begrenzen und größere Kontrolle auszuüben sowie sich einen größeren Anteil an den Profite zu sichern.6 Dieser Prozess führte 1962 zur Unterzeichnung des International Coffee Accord (ICA), dessen offizieller Zweck es war „eine angemessene Balance zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen“ und „faire Preise“ 7 zu sichern. Zu den Unterzeichnenden gehörten nicht nur die meisten Kaffee-produzierenden Länder, sondern auch die meisten der Verbraucherländer. Der ICA, der aus verschiedenen Vereinbarungen bestand, die im Laufe der Jahre abgeschlossen wurden, führte zur Etablierung eines Regelungssystems, das einen Zielpreis für Kaffee festsetzte und den Produktionsländern Exportquoten zuwies. Obwohl es mit diesem System Probleme gab, waren sich die Meisten – einschließlich der Weltbank – darin einig, dass es zu stabilen Preisen und höheren Einkommen für Kaffeebauern führte, als es ohne dieses System der Fall gewesen wäre.8

Die USA spielten eine wichtige Rolle bei der Entstehung des ICA. Die Unterstützung Washingtons ergab sich aus einer umfassenden antikommunistischen Geopolitik und aus dem Bestreben, das Erstarken links-orientierter Regierungen in der sogenannten Dritten Welt zu verhindern, insbesondere in Lateinamerika, aus dem zu jener Zeit etwa 70% der weltweiten Kaffeeexporte stammten. Aus der Perspektive Washingtons trugen höhere Kaffeepreise und damit eine Zunahme politischer Stabilität in Lateinamerika ganz zentral zu einer Erreichung des genannten Ziels bei.

Aus verschiedenen Gründen zerfiel der ICA 1989.9 Zu den wichtigsten Faktoren zählte eine veränderte Sichtweise Washingtons auf den ICA – verursacht durch die Zunahme marktfundamentalistischer Ansichten in der politischen Elite der USA – und Veränderungen in der US-Politik gegenüber Lateinamerika in den 1980er Jahren. Zu der Veränderung trug maßgeblich bei, dass es den USA – und dem Westen insgesamt – gelungen war, progressive Regierungen in verschiedenen Ländern zu schwächen und die Solidarität innerhalb der »Dritten Welt«, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte, zu untergraben. Mittels verschiedener Methoden, darunter auch die Unterstützung oder die Entfaltung entsetzlicher Gewalt, gelang es den USA und ihren westlichen Alliierten, einige Länder so unter Druck zu setzen, dass sie ihre Ökonomien liberalisierten, deregulierten und für ausländische Investitionen »öffneten« – eine Entwicklung, die durch die Schuldenkrise, Strukturanpassungen und internationale Finanzinstitutionen befördert wurde. Darüber hinaus wurde – insbesondere in Mexiko10 – technokratisches, neoliberales Führungspersonal ausgebildet und wurden – im Falle der USA – Allianzen aus der Zeit des Kalten Krieges mit den regierenden Eliten Zentralamerikas gebildet, um im Land entstandene Aufstände zu bekämpfen, die sich gegen ungerechte soziale Verhältnisse richteten. Ein Ergebnis war, dass Länder wie Mexiko, Honduras und Guatemala 1989 mit den USA (diese als einziger der größeren Kaffeeimporteure) einer Resolution zustimmten, die das ICA-Quotensystem beendete.11

Auf der globalen Ebene führte der Zusammenbruch des ICA-Systems in Kombination mit der zunehmenden Macht der transnationalen Kaffeekonzerne12 zu negativen Auswirkungen auf die Kaffeebauern und Herstellerländer. Die Preise wurden sehr viel sprunghafter und die Erträge verschoben sich signifikant von den Bauern und Erzeugerländern auf die Händler.13 Absolut gesehen fielen die internationalen Kaffeepreise zwischen 1998 und 2001 um 50%.14 Inflationsbereinigt waren die Preise in den Jahren 2000 und 2001 die niedrigsten der letzten hundert Jahre.15 Während die Kaffeepreise in den letzten Jahren wieder angezogen sind, hat die hohe Verschuldung, die sich bei vielen Bauern in den Jahren zuvor angehäuft hat, zusammen mit der ständigen Unsicherheit durch die zunehmenden Preisschwankungen (und damit deren Unvorhersehbarkeit) dazu geführt, dass die Bauern entweder nicht in der Lage oder nicht willens sind, in die Anbaupflanzen zu investieren. Zugleich sind die höheren Preise, die am Weltmarkt erzielt werden, nicht zu den Kleinbauern, die häufig an Zwischenhändler verkaufen, oder zu den Arbeitern durchgesickert.16

Auswanderung im Kontext der Krise und befestigter Grenzen

Innerhalb Mexikos ist die Migration derjenigen, die im Kaffeesektor arbeiten, immer mit der Kaffeeproduktion assoziiert worden. Bis vor kurzem handelte es sich jedoch um saisonale und binnenländische Migration. Seit etwa 1990 ist die Migration derjenigen, die zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf den Kaffeeanbau angewiesen sind, zunehmend dauerhaft und international geworden – in signifikantem Ausmaß aufgrund der sinkenden Kaffeepreise, die große Belastungen in den Kaffee-produzierenden Gebieten Mexikos und andernorts in der sogenannten Dritten Welt hervorgerufen haben. Im Jahr 2002 kostete beispielsweise das Pfund Kaffee etwa 50 US Cent bei durchschnittlichen Produktionskosten von etwa 80 US Cent pro Pfund.17

Aufgrund der Erlöse für die Kaffeebauern Mexikos und des Verlustes des Marktwertes und der Brauchbarkeit anderer ländlicher Erzeugnisse, der ungenügenden Wachstumsraten der Ökonomie und der niedrigen Löhne in den Städten hat die internationale Auswanderung aus den Kaffeeregionen deutlich zugenommen.18 Im mexikanischen Bundesstaat Veracruz beispielsweise hat diese Migration zwischen 1990 und 1995 um 50% zugenommen, d.h. dass etwa 800.000 Menschen den Staat verlassen haben.19 In einigen Kaffee-produzierenden Gebieten von Veracruz haben über 20% der örtlichen Bevölkerung das Gebiet verlassen; ein großer Teil dieser Migration war international.20 Im Jahr 1992 war Veracruz auf Platz 30 der mexikanischen Bundesstaaten, aus denen MigrantInnen in die USA gingen; im Jahr 2002 lag er auf Platz 4.21

Angesichts dieser Fakten wäre es falsch, die Krise in Mexiko und andernorts auf diese relativ kurz zurückliegende Preisverschiebung auf den internationalen Märkten zu reduzieren. Dennoch legt das globale Ausmaß der Krise nahe, bei der Erklärung der Misere der Kleinbauern und ArbeiterInnen des Kaffee-Sektors die Entwicklungen auf der internationalen Ebene hervorzuheben. Der Stand der Dinge und die damit verknüpften Veränderungen des internationalen Kaffeeregimes sind ein Ausdruck des Neoliberalismus und der mit ihm verbundenen Politik der Privatisierung, Deregulation und Liberalisierung der Volkswirtschaften, womit eine wesentliche Schwächung der sozialstaatlichen Aspekte des Staates einhergeht. Im Falle des ländlichen Mexikos haben diese Änderungen in der ersten Hälfte der 1980er begonnen und umfassten für Kleinbauern den schrittweisen Rückzug des Staates. Die neue Situation hat generell zu einem Absinken des Lebensstandards derjenigen geführt, die besonders vom Kaffeesektor des Landes abhängig sind.22

Die Neoliberalisierung des weltweiten Kaffeeregimes ist ein wesentlicher Bestandteil umfassenderer neoliberaler Anstrengungen, die nachhaltige Auswirkungen auf das Leben in den ländlichen Räumen Mexikos gehabt haben. Bezüglich der Landarbeit beispielsweise hat ein mit der NAFTA (North American Free Trade Agreement) zusammenhängendes, die USA begünstigendes Handelsdefizit zwischen 1994 und 2002 zum Verlust von etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätzen in Mexikos Agrarsektor geführt.23 Während eine komplexe Ordnung von Faktoren die Entscheidung zur Auswanderung und den damit verbundenen Belastungen beeinflusst24, scheint es nicht von der Hand zu weisen zu sein, dass die Schäden, die den ländlichen Regionen Mexikos durch die neoliberale Politik entstanden sind und die im Zuge der Umsetzung der NAFTA-Regelungen 1994 verstärkt wurden, dazu beitrugen, die Auswanderung in die USA anzuheizen.

Sowohl Vertreter Mexikos als auch der USA hatten in den frühen 1990er Jahren öffentlich gegenüber skeptischen BürgerInnen mit dem Argument für das Handelsabkommen geworben, dass es zu einem Rückgang »illegaler« Migration führen werde. Allerdings deuten verschiedene Studien darauf hin, dass die Umsetzung der NAFTA-Regelungen und die damit verbundene verstärkte Liberalisierung der mexikanischen Ökonomie die Migrationsprozesse verstärken und zu einer Zunahme der Migration aus Mexiko in die USA führen würden25 – eine Entwicklung, der sich die Clinton-Administration sehr wohl bewusst war. Das NAFTA gehörte jedoch nicht zu den wichtigsten Faktoren, die die US-Regierung zum massiven Aufbau der Grenzkontrollen entlang der Grenze zu Mexiko veranlasste. Es gab andere Gesichtspunkte und Entwicklungen für diese Stärkung, deren Ursache sich nicht durch einzelne kurzfristige Faktoren erklären lässt.26

Da NAFTA allerdings ein zentraler Bestandteil eines umfassenderen neoliberalen Prozesses ist, der die Beziehungen zwischen den USA und Mexiko (bzw. darüber hinaus) vermehrt und auf diesem Wege Unterschiede zwischen den beiden Staatsgebieten untergraben hat, hat das Handelsabkommen ohne Zweifel zu der nationalistischen Reaktion in den USA beigetragen, aus der die Forderung nach einer Stärkung der Staatsgrenzen entsteht, welche zum Teil durch die NAFTA-typischen Entwicklungen geschwächt werden. Gleichzeitig und unabhängig von der Stärke (oder Schwäche) der kausalen Beziehungen zwischen der Neoliberalisierung und der Stärkung des Grenzkontrollapparats entlang der US-mexikanischen Grenze sind diese Reaktionen zeitlich und räumlich damit verbunden, dass die Liberalisierung der ländlichen Ökonomie zu einem Strom unbefugter MigrantInnen über die internationale Grenze beigetragen hat. Stellt man deren zunehmend »harten« Charakter in Rechnung – seit 1994 hat sich beispielsweise die Zahl des US-Grenzkontrollpersonals fast vervierfacht -, führt das zu der wachsenden Zahl MigrantInnen, die bei nicht genehmigten Grenzübertritten den Tod finden.

In einem solchen politisch-geographischen Kontext hat der Preis von Kaffee – und die Aktivitäten und Orte, durch die der Preis zustandekommt – fatale Implikationen.

Anmerkungen

Eine ausführliche Fassung dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift Geopolitics 12/2 (April 2007), S.228-247.

1) Nevins, J. (2008): Dying to live: A Story of U.S. Immigration in an Age of Global Apartheid. San Francisco.

2) Urrea, L.A. (2004): The Devil's Highway: A True Story. New York.

3) Vgl. etwa Wallengren, M.: Coffee Crisis Sends Mexico Producers to Death in Mexico, Dow Jones Newswire (May 29, 2001); (http://www.globalexchange.org/campaigns/fairtrade/coffee/dowjones052901.html)

4) Vgl. Talbot, J.M. (2004): Grounds for Agreement: The Political Economy of the Coffee Commodity Chain. Lanham.

5) Ebd. Kapitel 5. Einen historischen Überblick über die langfristigen Verschiebungen bei der Kontrolle des Kaffeehandels gibt Topik, S. (2003): The Integration of the World Coffee Market, in: S. Topik/W.G. Clarence-Smith (Hrsg.): The Global Coffee Economy in Africa, Asia, and Latin America, 1500-1989. Cambridge, S.21-49.

6 Ein Überblick hierzu findet sich bei Talbot (Fußnote 4), Kapitel 3.

7) Zit. nach Talbot (Fußnote 4), S.58.

8) Ayikama, T. (2001): Coffee Market Liberalization Since 1990, in: T. Ayikama et al. (Hrsg.): Commodity Market Reforms: Lessons of Two Decades. Washington, D.C., S.83; Bates, R.H. (1997): Open-Economy Politics: The Political Economy of the World Coffee Trade. Princeton.

9) Vgl. Talbot (Fußnote 4).

10) Vgl. Babb, S. (2001): Managing Mexico: Economists from Nationalism to Neoliberalism. Princeton.

11) Talbot (Fußnote 4), S.85, 91-97.

12) Vgl. Talbot (Fußnote 4).

13) Charveriat, C. (2001): Bitter Coffee: How the Poor are Paying for the Slump in Coffee Prices. Oxford; Oxfam America (2005): The Coffee Crisis Continues: Situation Assessment and Policy Recommendations for Reducing Poverty in the Coffee Sector, S.24 (http://www.oxfamamerica.org/newsandpublications/publications/research_reports/crisis_continues); vgl. auch Talbot (Fußnote 4).

14) Charveriat (Fußnote 13).

15) Varengis, P. et al. (2003): Dealing with the Coffee Crisis in Central America: Impacts and Strategies, Policy Research Working Paper 2993. Washington, D.C., S.3.

16) Oxfam America (Fußnote 13).

17) Homes, S./Smith, G. (2002): For Coffee Growers, Not Even a Whiff of Profits, Business Week (Sept. 9, 2002).

18) Navarro, L. Hernández (2004): To Die a Little: Migration and Coffee in Mexico and Central America, published online by the Americas Program, Interhemispheric Resource Center, Dec. 13, 2004; (http://www.americaspolicy.org/reports/2004/0412coffee.html).

19) Monterosas, M. Perez (2003): Las Redes Sociales de la Migración Emergente de Veracruz a los Estados Unidos, Migraciones Internacionales 2/1 (January-June 2003), S.106-136.

20) Benquet, F. Mestries (2003): Crisis Cafetalera y Migración Internacional en Veracruz, Migraciones Internacionales 2/2 (July-Dec. 2003), S.121-148.

21) Monterosas, Perez (Fußnote 19). Vgl. auch Lewis, J.M. (2005): Strategies for Survival: Migration and Fair-Trade Organic Coffee Production in Oaxaca, Mexico (Working Paper 118). San Diego: Center for Comparative Immigration Studies, University of California (http://www.ccis-ucsd.org/PUBLICATIONS/wrkg118.pdf).

22) Vgl. Torres, M. E. Martínez (2004): Survival Strategies in Neoliberal Markets: Peasant Organizations and Organic Coffee in Chiapas, in: Otero, G. (Hrsg.): Mexico in Transition: Neoliberal Globalism, the State and Civil Society. Nova Scotia, S.169-185.

23) Polaski, S. (2003): Jobs, Wages, and Household Income, in: Papademetriou, D. et al. (Hrsg.): NAFTA's Promise and Reality: Lessons from Mexico for the Hemisphere. Washington, D.C., S.17-19 (http://www.carnegieendowment.org/files/nafta1.pdf).

24) Vgl.Massey, D.S./Durand, J./Malone, N.J. (2002): Beyond Smoke and Mirrors: Mexican Immigration in an Era of Economic Integration. New York.

25) Vgl. Andreas, P. (1998): The Escalation of U.S. Immigration Control in the Post-NAFTA Era, Political Science Quarterly 113/4 (1998-99), S.591-615.

26) Vgl. hierzu im Detail Nevins (Fußnote 1).

Dr. Joseph Nevins forscht und lehrt am Department of Earth Science and Geography am Vassar College in Poughkeepsie (NY). Übersetzung: Fabian Virchow

Migration als Katalysator der Rüstung

Migration als Katalysator der Rüstung

von Christoph Marischka

Bei nahezu allen Interventionen der letzten Jahre hat zumindest vordergründig der Schutz von Flüchtlingen eine Rolle gespielt, selbst der letzte EU-Einsatz in der DR Congo, bei dem in der entfernten Hauptstadt Kinshasa eine Wahl abgesichert werden sollte, wurde vom deutschen Verteidigungsminister Jung u.a. damit begründet, man würde es ansonsten „mit einem großen Flüchtlingsproblem in ganz Europa zu tun bekommen“.1 Erst Anfang März 2008 beschwor EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner in einem internen Papier „Sicherheitsszenarien ohne Präzedenzfall“. Durch Klimawandel, Ressourcenkonflikte und scheiternde Staaten müsse Europa „mit deutlich erhöhtem Migrationsdruck rechnen“. Solche Bedrohungsanalysen und die durch sie erzeugten Ängste dienen als Katalysator für Rüstungsprojekte und Einsatzkonzepte, die sich weniger zum Einsatz gegen imaginierte Ströme als vielmehr für eine umfassende Kontrolle der Bevölkerung und permanente Aufstandsbekämpfung eignen.

In ihrem Buch »The Turbulent Decade«2 beschreibt die damalige UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata, die Flüchtlingspolitik nach dem zweiten Golfkrieg als Ausgangspunkt eines fundamentalen Bruchs: „Die Kurden-Krise war der Auftakt zu internationalen Interventionen in innerstaatliche [sic] Kriege zum Schutz von Flüchtlingen und zu militärischem Engagement in humanitären Notlagen, mit verschiedenen Konsequenzen, die bedacht werden müssen. Sie brachte die humanitäre Community dazu, neue Methoden im Umgang mit Flüchtlingen zu entwickeln (…). Seit der Kurden-Krise wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede militärischer und humanitärer Ziele immer wichtiger für die Operationen des UNHCR“. Damals hatte das UNHCR akzeptiert, dass die Türkei ihre Grenzen für die Flüchtlinge aus dem Nordirak schloss, die von Vergeltungsmaßnahmen durch die irakischen Truppen bedroht waren. Stattdessen unterstützte es die militärische Operation Provide Comfort, die de facto im Namen des Flüchtlingsschutzes den nördlichen Irak unter die militärische Kontrolle der USA, Großbritanniens und Frankreichs stellte. Diese kontrollierten eine Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades und führten Vergeltungsmaßnahmen (z.B. Operation Desert Strike) durch, welche die Infrastruktur der irakischen Armee nachhaltig schwächten. Im Nachhinein lässt sich die Operation Provide Comfort problemlos als Vorbereitung für den Angriff auf den Irak 2003 und als erste Umsetzung der US-Pläne für neue Grenzziehungen im Mittleren Osten lesen.3

»Forced Migration«, das ist häufig eine paramilitärisch induzierte Landflucht, da insbesondere die Bevölkerung auf dem Land schutzlos plündernden Milizen ausgesetzt ist. Szenarien, die von den Armeen der ersten Welt insbesondere für den afrikanischen Kontinent durchgespielt werden, gehen oft davon aus, dass die Entdeckung und Ausbeutung von Rohstoffquellen paramilitärische Konflikte auslöst. Quasi als Nebeneffekt der Rohstoffausbeutung wird die Region gleichzeitig militarisiert und entvölkert, was wiederum ein internationales Eingreifen und damit auch die Kontrolle über die jeweiligen Rohstoffquellen legitimiert.4 Die Vertriebenen würden sich spontan in die Städte aufmachen und deren unkontrolliertes Wachstum noch beschleunigen. Gleichzeitig bieten Städte Anschluss an den Rest der Welt und können somit »Binnenvertriebene« zu internationalen Migranten machen. Beides verhindert das UNHCR, indem es von der internationalen Gemeinschaft finanzierte Flüchtlingslager errichtet. Ein solches Finanzierungsprogramm der EU ist das »Regional Protection Program« in Tansania. Obwohl es die Situation vor Ort verbesserte, beschleunigt die EU durch solche zweckgebundenen Finanzierungen die Neuausrichtung des UNHCR weg von der Durchsetzung des Asylrechts für politische Flüchtlinge hin zu einer heimatnahen Unterbringung von Kriegsvertriebenen.

Bei der Planung von Flüchtlingslagern müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden: Eine ausreichende Distanz zu den umliegenden Städten, realisierbare Transportwege, Nähe zu lebenswichtigen Ressourcen (insbesondere Wasser und Holz), andererseits auch eine ausreichende Entfernung zu als schützenswert eingeschätzten Ökosystemen. Eine Hilfestellung dazu will die von der EU-Kommission und der Europäischen Weltraumagentur ins Leben gerufene Initiative Global Monitoring for Environment and Security (GMES) mit ihrem LIMES-Projekt bieten. Neben der Überwachung der internationalen Schifffahrtswege sowie von Grenzen und »kritischer Infrastruktur« an Land durch Satelliten liefert es geographische Daten für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau: „Zur Katastrophenvor- und nachsorge werden Informationen angeboten über die Verteilung der Bevölkerung und das Vorhandensein von Resourcen (Nahrung, Wasser, Infrastruktur) (…). Hauptnutznießer sind die EU, internationale Agenturen, der Bevölkerungsschutz und NGOs.“5

Keine Flucht in die EU!

An dieser Stelle ist es notwendig, einen gedanklichen Schnitt zu machen. Das Bild, das u.a. Verteidigungsminister Jung suggerieren wollte, ist hochgradig irreführend und gefährlich. Es trifft nicht zu, dass die Flucht bspw. vor Milizen in Afrika ohne UNHCR, die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX und europäische Militäreinsätze überwiegend in der EU enden würde. »Forced Migrations« fanden auch in den letzten 50 Jahren überwiegend innerhalb des eigenen Heimatlandes oder der Herkunftsregion statt und machen im Umfang – gemessen an den globalen Wanderungsbewegungen (geschätzte 200 Mio. MigrantInnen weltweit) – nur einen kleinen Anteil aus. Das US Committee for Refugees and Migrants (USCRM) schätzte die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden 2005 weltweit auf 11,5 Mio., die der Internal Displaced Persons (IDPs, die innerhalb ihres Herkunftslandes geflohen sind) auf 21,3 Mio. Der größte Teil der Fluchtbewegungen findet innerhalb und zwischen den ärmsten Staaten sowie im Mittleren Osten statt.

Italien und Spanien spielen in dem Bild, das Jung und FRONTEX vermitteln wollen, die Rolle der »Frontstaaten« gegen afrikanische Bürgerkriegsflüchtlinge. Italien allerdings nannte 2002 als Länder, aus denen der größte »Migrationsdruck« bestehe, Marokko, Albanien, Rumänien, die Philippinen, China und Tunesien.6 Auch in Deutschland wird auf einen Blick deutlich, dass das beschriebene Szenario unrealistisch ist. 2005 legte das Statistische Bundesamt Zahlen über die ausländische Bevölkerung und diejenige mit Migrationshintergrund vor. 23,6% aller Zugewanderten entstammen demnach den Ländern der damaligen EU (EU-25), 38,1% dem restlichen Europa. Als die vier bedeutsamsten Herkunftsländer werden die Türkei (mit 14,2% aller Zugewanderten), die Russische Föderation (9,4%), Polen (6,9%) und Italien (4,2%) genannt. Lediglich 376.200 Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne in Deutschland stammen aus Afrika.7

Flüchtlinge aus näher liegenden Bürgerkriegsregionen machen allerdings einen überproportionalen Teil derjenigen Menschen aus, die dauerhaft mit einem prekären Status in Europa leben. In Deutschland sind dies die Menschen mit einer so genannten »Duldung«. Von den 178.326 Menschen, die sich mit diesem Status im Oktober 2006 in Deutschland aufhielten, stammten 62.590 aus dem ehemaligen Jugoslawien, 10.682 aus dem Irak und 5.073 aus Afghanistan.8

Abwehr- und Kontrollstrategien

Der vermutlich massivste Zustrom von Flüchtlingen aus einer Krisenregion in die EU fand zwischen 1990 und 1993 statt. Die Bilder von überfüllten Booten voller Menschen aus Albanien – alleine im März 1991 geschätzte 24.000, weitere 21.000 im August 1991 – weckten in ganz Europa nationalistische Ängste einer »Überflutung«. In Italien wich in kurzer Zeit eine breite Solidarität für die Ankömmlinge ebenfalls einer rassistischen Ablehnung. Bereits im August 1991 wurde das italienische Militär mobilisiert, erklärte eine »Notsituation« und verbrachte die MigrantInnen in das militärisch abgesicherte Stadion von Bari. Im Folgemonat startete die italienische Armee eine Mission, die als Prototyp vorverlagerter Migrationskontrolle gelten kann: „Unter dem Namen ‚Operation Pelikan' stationierte das italienische Militär ab September 1991 eintausend Soldaten in Albanien. In einer Mischung aus militärischer Drohpräsenz in den Häfen, aus denen die Flüchtlingsschiffe ausliefen, und aus einer militarisierten Lebensmittelhilfe baute das italienische Militär Operationsbasen in Durazzo und Vlore sowie 27 kleinere Basen in Albanien auf.“ 9 Somit war das italienische Militär auch für die Abwehr der nächsten beiden Fluchtbewegungen über den gerade 71 km breiten Kanal von Otranto gerüstet, die sich im Jahre 1997 in Folge des albanischen Lotterieaufstandes und 1999 im Zuge des Krieges gegen Jugoslawien ereigneten. Dabei entwickelte sich die »Drohpräsenz« zunehmend zu einem Kleinkrieg gegen die Bevölkerung und die Schleppernetzwerke. Einen traurigen Höhepunkt fand dieser am 28. März 1997, als ein Boot der italienische Küstenwache das albanische Schiff »Kater I Rades« rammte und 83 Auswanderer ertranken.

Geschätzte 180.000 Menschen haben Europa während der 1990er Jahre über das Mittelmeer erreicht, davon mindestens 100.000 aus Albanien.10 Angesichts der engen wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen Italien und Albanien, einer italienischen Annexion 1939 und einer bereits seit dem 15. Jhdt. in Italien lebenden albanischen Minderheit eigentlich kein Grund zur Panik. Dennoch rüstet sich nun die EU gemeinsam für multinationale Einsätze nach dem italienischen Vorbild. Unter der Ägide von FRONTEX wurde von Rat und Parlament die Aufstellung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke, so genannte RABITs, beschlossen: „Die Entsendung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke, die für einen begrenzten Zeitraum Unterstützung leisten sollen, sollte in Ausnahme- und Notsituationen erfolgen.“ 11 FRONTEX jedoch hat auch zur Kenntnis genommen, dass die spektakulär inszenierten Migrationen übers Meer eine eher marginale Rolle spielen und deshalb die RABITs bei ihrer ersten Übung im November 2007 eher als Expertenteam in Sachen gefälschte Dokumente präsentiert: Auf der Grundlage einer fiktiven Notlage entsandte FRONTEX Beamte aus 16 Mitgliedsstaaten mit hoheitlichen Befugnissen, um die Dokumente von Reisenden am Flughafen von Porto zu prüfen und eindringliche Befragungen durchzuführen.

Auch die Hera-Missionen von FRONTEX auf den Kanaren bestanden in einem ersten Schritt darin, die Nationalität der Angekommenen festzustellen und diese zu ihrer Migrationsroute zu befragen, was zu zahlreichen Verhaftungen im Senegal durch die dortigen Behörden führte. Erst in einem zweiten Schritt patrouillierten spanische Schiffe unter der Koordination von FRONTEX gemeinsam mit Verbindungsbeamten der »Gastländer« vor den Küsten Senegals, Mauretaniens und der Kapverden. Diese Zusammenarbeit wird nicht nur durch Entwicklungshilfegelder erkauft, sondern zumindest im Falle Mauretaniens und Libyens auch durch die Lieferung von Polizeiausrüstung.

Zur Abwehr der Migration auf die Kanaren konnte FRONTEX auf die Hilfe des EU-Satellitenzentrums (EUSC) nahe Madrid zurückgreifen, welches die westafrikanische Küste überwachte, „um potentielle Infrastruktur für den Bau von Schiffen sowie alle anderen Begebenheiten, die mit illegaler Migration in Verbindung stehen, aufzuklären“.12 Dessen Auftrag besteht eigentlich darin, durch Satellitenaufklärung „Unterstützung bei der Entscheidungsfindung der Union im Rahmen der GASP und insbesondere der ESVP“ zu leisten. Dementsprechend ist es in die Struktur der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eingebettet, die politische Aufsicht obliegt, wie auch bei militärischen Auslandseinsätzen, dem Politischen und Sicherheitspolitischen Kommitee (PSC). Bei den multinationalen FRONTEX-Einsätzen vor Nord- und Westafrika (Hera und Nautilus) kommen militärische Aufklärungsflugzeuge verschiedener Mitgliedsstaaten zum Einsatz. Die in ihrer Größenordnung marginale clandestine Migration über das Mittelmeer diente zugleich als Anlass, die Gendarmerien der südeuropäischen Länder massiv aufzurüsten, so dass sie mittlerweile über eigene Schiffs-, Hubschrauber- und teilweise auch Flugzeugflotten verfügen.13

Zivil-militärische Vernetzung und Rüstung

Für das Mittelmeer hat FRONTEX bereits am 14. Juli 2006 eine Machbarkeitsstudie (MEDSEA) vorgelegt, welche empfahl, insgesamt 16 Ministerien und 24 Behörden Frankreichs, Griechenlands, Italiens und Spaniens zu vernetzen, um kostengünstig eine möglichst hohe Kontrolldichte auf dem Mittelmeer zu realisieren. Hierzu sollten die zivilen und die militärischen Stellen in Echtzeit über nationale Koordinationszentren (NCC) kommunizieren. Die Studie wurde mittlerweile weitgehend im Europäische Patrouillennetz (EPN) umgesetzt. Eine weitere Machbarkeitsstudie der Agentur (BORTEC) zielte auf die Schaffung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) ab. Die BORTEC-Studie ist unveröffentlicht, liegt aber offensichtlich den Rüstungsunternehmen Thales und Finmeccanica vor, die sich mit einem entsprechenden Projekt (SEASAME) beim EU-Forschungsrahmenprogramm 7 (FRP7) beworben haben. Dieses Projekt soll nach eigenen Angaben mit den Ergebnissen der BORTEC-Studie „völlig übereinstimmen“ und sieht vor, die nationalen Überwachungstechnologien in drei Phasen zu erfassen, aufzurüsten und kompatibel zu machen, um die dort gesammelten Daten zuletzt zu einem „permanenten und umfassenden Lagebild“ zusammenzuführen.14 Am 13. Februar 2008 veröffentlichte die Kommission Vorschläge zur Ausgestaltung von EUROSUR, die denen des SEASAME-Programms entsprechen. Das Kommissionspapier spricht sich explizit dafür aus, das siebte Forschungsrahmenprogramm der EU intensiv zu nutzen, „um die Leistungsfähigkeit und den Einsatz von Überwachungsinstrumenten zu verbessern, damit das erfasste Gebiet ausgeweitet werden kann, mehr verdächtige Aktivitäten aufgedeckt, potenziell verdächtige Zielobjekte leichter identifiziert werden können und der Zugriff auf Daten hochauflösender Beobachtungssatelliten erleichtert wird.“ 15 Das FRP7 entpuppt sich somit als heimlicher Rüstungsetat.

Gemeinsam mit dem Joint Research Center (JRC) der Europäischen Kommission hat FRONTEX weitere Studien erstellt, die u.a. einen Überblick über biometrische Verfahren beim Grenzschutz und den möglichen Einsatz unbemannter Flugzeuge und U-Boote geben. Um entsprechende Projekte realisieren zu können, betreibt der JRC ein Projekt, mit dem die Europäischen Rüstungsfirmen und ihre jeweiligen Fähigkeiten erfasst werden (MEDI, Mapping of the European Defence Industry). FRONTEX wurde darüber hinaus von der Kommission und dem Rat mehrfach aufgefordert, mit dem im Aufbau befindlichen EU-Auslandsgeheimdienst (SITCEN) zusammen zu arbeiten.16 Auch dieser wurde im Rahmen der GASP geschaffen mit der Aufgabe, vertrauliche Dossiers über Krisen- und Konfliktregionen für das PSC sowie den Militärstab der Europäischen Union (EUMC) zu erstellen.

Die Rüstungsunternehmen, die sich um die Ausgestaltung des Grenzüberwachungssystems EUROSUR bewerben, weisen auf dessen multifunktionalen Charakter hin. Es geht nicht nur um die Kontrolle illegaler Migration, sondern auch um die Sicherheit der Handelsschifffahrt, insbesondere vor Organisierter Kriminalität bzw. Piraterie und Terrorismus. So entwickeln gerade zahlreiche IT- sowie Logistik-Anbieter und Rüstungsunternehmen »International Monitoring- and Transport-Escorting-Systems« (IMTS), welche insbesondere in der Containerschifffahrt eine lückenlose Kontrolle der gesamten »Supply Chain« garantieren sollen. IBM und der weltgrößte Logistik-Dienstleister Maersk planen, so genannte »Intelligente Echtzeit-Überwachungsgeräte« (Tamper-Resistant Embedded Controllers, TREC) zukünftig an möglichst allen Containern anzubringen: „Die Geräte sammeln automatisch Informationen über jeden einzelnen Container, einschließlich des per GPS ermittelten Standorts und weiterer Parametern wie Temperatur und Feuchtigkeit. Sogar das unauthorisierte [sic] Öffnen eines Containers kann sofort entdeckt werden.“ 17 Diese Daten sollen „Herstellern, Händlern, Logistik- und Transport-Unternehmen sowie Regierungen“ in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden können und beispielsweise den Zollbehörden eine Risikoeinschätzung der jeweiligen Ware erleichtern. Container, die mit TREC ausgerüstet sind, werden wesentlich seltener kontrolliert („eine Art Business Class Container“). Zudem beinhaltet TREC ein »Geofencing-System«: „Abweichungen von der vorgedachten Route lösen einen Alarm aus“.18

Aufklärung, Paramilitarisierung und soziale Kontrolle

Der behauptete Zusammenhang zwischen Migration, Organisierter Kriminalität und Terrorismus ist nicht neu. Migration dient auch in der Berliner Erklärung der deutschen Ratspräsidentschaft19 als Teil derjenigen Bedrohungstriade, vor der sich die Ausgestaltung des „Raumes der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ vollzieht. In diesem knapp zweiseitigen Dokument heißt es: „Wir werden den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam bekämpfen.“ FRONTEX wird entsprechend vom Rat der EU auch als Teil der Terrorismusbekämpfung verstanden.20

Aufgrund dieser und Hunderter ähnlicher diskursiver Verknüpfungen wurde Migration »versicherheitlicht«. Vertreter der Kopenhagener Schule der Internationalen Beziehungen verstehen hierunter einen »Sprechakt«, der ein Thema aus der Sphäre normaler Politik herausnimmt und es stattdessen in diejenige eines Notstandes überführt, in der auch außerordentliche, ja widerrechtliche Maßnahmen legitim und notwendig seien.21 William Walters schlug 2005 vor, anstatt von europäischer Migrationspolitik von »Counter-Illegal-Immigration«-Politik zu sprechen. Durch die Silbe »Counter« werde eine Parallele zu »Counterinsugency« und »Counterterrorism« deutlich, denn diese Politiken gingen weit darüber hinaus, nur etwas zu bekämpfen. Sie beinhalten auch eine produktive Komponente sozialer Kontrolle: „'Counterinsurgency' richtete sich niemals nur gegen revolutionäre Bestrebungen, sondern zielte stets auf weit mehr ab: ein ganzes Bündel von Interventionen, um die politische Ordnung nach dem Bild der dahinter stehenden Macht zu formen.“ 22

Counterinsurgency – Aufstandsbekämpfung – ist auch der Titel des Field Manual 3-24 des US-Oberkommandieren im Irak, David Patraeus, und das Schlagwort, mit dem sich der dortige Strategiewechsel seit Januar 2007 beschreiben lässt. Timo Noetzel und Benjamin Schreer von der Stiftung Wissenschaft und Politik forderten jüngst, auch Deutschland solle für den Afghanistan-Einsatz die Lehren aus dem Irak ziehen und den „Operationsschwerpunkt Aufstandsbekämpfung“ anerkennen: „Wie im Irak bestehen auch dort klassische Herausforderungen durch Aufständische, die möglichst wirksam bekämpft werden müssen.“ 23

Die entsprechende Sicherheitsdoktrin umfasst neben einer militärischen Präsenz in der Fläche die engen Verflechtung ziviler, polizeilicher, geheimdienstlicher und militärischer Akteure, wie sie im Leitbild der »Vernetzten Sicherheit« propagiert und u.a. von FRONTEX sehr effektiv umgesetzt wird. Die enge zivil-militärische Zusammenarbeit, die Ausbildung lokaler, paramilitärischer Polizei, die Verwendung von Gendarmerie-Einheiten, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung, deren biopolitische Ghettoisierung sowie die sensorischen Markierung von Verdächtigen wird im »Kampf gegen illegale Migration« erprobt und legitimiert. In einer Union, die sich auf weltweite Stabilisierungs- bzw. Aufstandsbekämpfungsmissionen ausrichtet, dient Migration als willkommener Katalysator, um die notwendigen sicherheitspolitischen Umstrukturierungen vorzunehmen.

Anmerkungen

1) Zit. nach: Pflüger, Tobias: Kongo-Militäreinsatz: Es geht um EU-Interessen, in: W&F 3/2006.

2) Ogata, Sadako (2005): The Turbulent Decade: Confronting the Refugee Crises of the 1990s, New York.

3) Peters, Ralph: Blood Borders – How a better Middle East would look, in: Armed Forces Journal, June 2006.

4) Ein entsprechendes Szenario lag bspw. der RECAMP IV-Übung 2004 in Ghana zu Grunde. URL: http://www.recamp4.org/uk/synopsis.php.

5) Beschreibung des LIMES-Projekts auf http://www.gmes.info (26.2.2008).

6) Kosic, Ankica/Triandafyllidou, Anna (2005): Active Civic Participation of Immigrants in Italy, Country Report Prepared for the European Research Project POLITIS, IBKM sowie Presidenza del Consiglio de Ministri (2004): Documento Programmatico Relativo alla Politica dell´Immigrazione e Degli Stranieri nel Territorio dello Stato per il 2004-2006.

7) Statistisches Bundesamt Deutschland 2005: Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005 – Fachserie 1 Reihe 2.2 – 2005.

8) BT-Drucksache 16/7089.

9) Forschungsstelle Flucht und Migration (2002): Italien – Legalisierung von Flüchtlingen – Militarisierung der Grenzen, Assoziation A.

10) Monzini, Paola 2004: Migrant Smuggling via Maritime Routes, CeSPI, URL: http://www.cespi.it/cnr/Monzini-ing.pdf.

11) Verordnung (EG) Nr. 863/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007.

12) EUSC Annual Report 2006.

13) Lutterbeck, Derek: Policing Migration in the Mediterranean, in: Mediterranean Politics 11 (2006), sowie: Marischka, Christoph: Das EU-Grenzregime als Laboratorium der Entrechtung, in: AUSDRUCK 2/2007.

14) Green Paper Thales's Contribution to the Consultation Process on Maritime Safety and Security (MSS), veröffentlicht auf www.statewatch.org (29.2.2008).

15) KOM(2008) 68 endg.

16) Marischka, Christoph (2008): FRONTEX – Die Vernetzungsmaschine an den Randzonen des Rechtes und der Staaten, in: Pflüger, Tobias / IMI: Was ist Frontex? Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen.

17) IBM Medienstelle Schweiz: „IBM und Maersk Logistics erhöhen die Sicherheit im weltweiten Container- und Gütertransport“, PM vom 21.9.2005.

18) „Container in der Business Class – Die Logistikkette von IBM soll Sicherheit und Effizienz versöhnen“, Interview mit Andreas Pohler und Steffen Schaefer, in: Homeland Security (cpm) 2/2007.

19) http://eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf (29.2.2008)

20) Beispielhaft: Council of the European Union: EU Action Plan on Combating Terrorism (7233/07), überarbeitete Fassung vom 9.3.2007.

21) Buzan, Barry/Waever, Ole/de Wilde, Jaap (1998): Security – a new framework for analysis, Boulder.

22) Walters, William (2005): On the Political Logic of Anti-Illegal Immigration Policy, Working Paper for the Politics of Scale Conference, York University, Canada, 2005. William Walters hat sein Konzept seit dem weiterentwickelt und spricht nun allerdings von „antipolicy“.

23) Noetzel, Timo/Schreer, Benjamin (2008): Strategien zur Aufstandsbekämpfung Neue Ansätze für die ISAF-Mission, SWP-Aktuell 2008/A 03.

Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) und forscht zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen illegalisierter MigrantInnen sowie zur FRONTEX-Agentur.

Gender, Flüchtlinge und bewaffnete Konflikte

Gender, Flüchtlinge und bewaffnete Konflikte

von Annelise Ebbe

Bilder von Menschen, die in überfüllten Booten das Mittelmeer passieren und dabei ihr Leben riskieren, zeigen uns vorwiegend Männer, die auf der Flucht sind oder zur Migration getrieben werden. Die Vorstellung, dass Migration ein männliches Phänomen ist, täuscht allerdings.

Während Armeen zu 90% aus männlichen Soldaten bestehen, sind es in Flüchtlingslagern die Frauen, die 80% der Erwachsenen stellen. Diese Beobachtung ist für die folgende, genderwissenschaftliche Betrachtung der Flüchtlingsthematik grundlegend, da sie Aufschluss auf die Rollenverteilung in der heutigen Welt gibt. Eigenschaften wie Stärke und Ehre gelten als typisch für Männer und werden mit Gewalt und Dominanz in Zusammenhang gebracht. Demgegenüber werden Eigenschaften wie Sanftheit oder Fürsorglichkeit generell Frauen zugedacht und gelten als Zeichen der Schwäche und Unterwerfung. Die Geschlechterforschung über bewaffnete Konflikte hebt insbesondere die Unterschiede zwischen Frauen und Männern hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen und Bedürfnisse sowie ihres Zugangs zu Ressourcen und Entscheidungsprozessen in Post-Konfliktsituationen hervor.

Infolge von bewaffneten Konflikten steigt der Anteil der von Frauen geführten Haushalte. Wenn ihre Männer einberufen, verhaftet oder im Krieg verschleppt werden, müssen die Frauen die Verantwortung für Kinder und Angehörige übernehmen. Sie sind dann zugleich Familienoberhaupt und Ernährerin, sorgen für Haushalt und Lebensunterhalt und übernehmen Aktivitäten außerhalb des Hauses. Da sie ohne ihre Männer größeren Gefahren ausgesetzt sind, veranlasst sie die prekäre Sicherheitslage häufig zur Flucht. Daher stellen sie 80% der weltweiten Flüchtlingszahlen.

Flüchtlinge in Tuzla

1995 besuchte ich ein Flüchtlingslager in Tuzla, einer Stadt im Osten Bosnien-Herzegowinas, wo sich vor allem Flüchtlinge aus Srebrenica aufhielten. Da der Großteil der männlichen Bevölkerung Srebrenicas dem Massaker der Serben zum Opfer gefallen war, befanden sich in dem Flüchtlingslager hauptsächlich Frauen. Durch die Gespräche mit ihnen bekam ich erstmals eine Vorstellung davon, was es bedeutete, auf der Flucht zu sein. Sie alle hatten ihr Hab und Gut verloren, ihre Ehemänner und Söhne, ihre Existenzgrundlage und ihre Heimat. Ihre Not schien mir endlos. Eine Frau aber sorgte sich um ein Problem, das keine der anderen erwähnt hatte: Sie beklagte, dass sie sich nun einen neuen Zahnarzt suchen müsse. Es war nicht so, als ob ein neuer Zahnarzt irgendeine Bedeutung für sie gehabt hätte. Doch später wurde mir klar, dass in diesem Moment ihr ganzes Trauma zur Sprache kam. Verglichen mit dem Verlust ihres Ehemanns, ihres Sohns, ihres Hauses und ihrer Existenzgrundlage war der Wechsel des Zahnarzt nichts dagegen. Dennoch musste sie ihn hinzufügen, denn alles andere war für sie unfassbar, erdrückend und in höchstem Maße traumatisierend. Sie konnte ihre Not nicht wirklich begreifen, doch um sie mir gegenüber zu kommunizieren, musste sie von Dingen erzählen, die nichts mit ihren traumatisierenden Erfahrungen zu tun hatten. Diese Begegnung hinterließ einen tiefen Eindruck auf mich.

Den Frauen von Srebrenica boten sich in Tuzla nur sehr wenige Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ihnen fertigten Stickarbeiten, doch diese Arbeit verlieh ihnen vielmehr ein Gefühl der Nutzlosigkeit, da sie von dem, was sie produzierten, unmöglich leben konnten. Lediglich Besucher aus dem Ausland, die die multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Stadt Tuzla besuchten, nahmen ihre Produkte ab; andere Absatzmöglichkeiten gab es nicht.

Die Männer, die den Krieg überlebt hatten und nach Tuzla zurückkehrten, fanden nun eine von Frauen dominierte Stadt vor. Infrastruktur, Schulen und andere öffentliche Bereiche – vormals Domänen der Männer – wurden im Laufe des Krieges von Frauen übernommen. Viele der zurückgekehrten, traumatisierten Männer konnten sich in dieser »neuen«, von Frauen bestimmten Gesellschaft nicht mehr zurechtfinden. Hinzu kam, dass jetzt die US-Soldaten das Kommando von der NordBat Truppe übernahmen. Während die skandinavische NordBat Truppe bislang ohne Waffen in den Straßen patrouilliert hatte, waren die US-Soldaten niemals unbewaffnet. Dadurch wurde die Situation für Frauen – sowohl für die lokal ansässigen Frauen, als auch für die Flüchtlingsfrauen aus Srebrenica – extrem gefährlich. Der Grad an Gewalt in der Gesellschaft als solche sowie konkret die Gewalt gegen Frauen nahm extreme Ausmaße an.

Vertreibung, soziale Exklusion und Armut

Die Erfahrungen aus Tuzla zeigen, dass Flüchtlingsfrauen unverhältnismäßig benachteiligt werden. Dies gilt für ihre begrenzten Möglichkeiten, die Verantwortung für ihre Familien zu erfüllen, sowie für das gewachsene Maß an körperlicher und emotionaler Gewalt, dem sie ausgesetzt werden.

Flucht und Vertreibung implizieren soziale Exklusion und Armut. Wenn Probleme wie Lebensmittelknappheit oder die ungleiche Verteilung von Hilfsmitteln in Zeiten bewaffneter Konflikte verstärkt werden, sind Frauen und Mädchen in besonderem Maße von Unterernährung betroffen. Dies gilt vor allem für Schwangere und für stillende Mütter und muss beachtet werden, wenn Flüchtlingslager mit nationalen oder internationalen Hilfspaketen versorgt werden.

Mit dem Verlust ihrer Heimat verlieren viele Frauen auch ihr zu Hause als den traditionellen Ort ihrer Autorität und Privatsphäre. Dies bekommen sie besonders dann zu spüren, wenn sie sich in der öffentlichen Sphäre nicht ungezwungen bewegen können. Die fehlende Privatsphäre führt bei Vielen zu Gefühlen der Verzweiflung, die die äußeren Unannehmlichkeiten weit überwiegen. Nicht nur die eigenen Belange erfüllen sie mit Sorge, sondern vor allem diejenigen ihrer Kinder und ihrer weiteren Angehörigen.

Das UNHCR und geschlechtsspezifische Rechtsansprüche

In einem Diskussionspapier über „Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung“ des UNHCR wird konstatiert: „Die gewaltsame oder trügerische Rekrutierung von Frauen oder Minderjährigen zum Zwecke der Zwangsprostitution ist eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt. Frauen, die davor flüchten, müssen mit ernsthaften Konsequenzen rechnen, wie mit Vergeltungsschlägen von Schlepperbanden oder mit schweren Diskriminierungen. In einzelnen Fällen können daher Menschen, die Opfer des illegalen Handels zum Zweck der Zwangsprostitution wurden, Anspruch auf den Flüchtlingsstatus erheben, wenn ihr Heimatland nicht willens oder nicht fähig war, sie vor solchem Unrecht zu schützen.“ (UNHCR, Diskussionspaper 1/ 2005).

Frauenhandel

Bei einem Workshop in Serbien im Jahr 2004 zum Thema »Frauenhandel« stellte sich heraus, dass sowohl die jungen binnenvertriebenen Frauen, als auch die jungen serbischen Frauen vor Ort massiv von Schlepperbanden bedroht waren. Diese warben in Zeitungen um Frauen, die bei der „Betreuung von Kindern im Ausland“ etc. mithelfen sollten. In Wahrheit erwiesen sich die meisten dieser Anzeigen als Vorwand, um mit Frauen in Kontakt zu kommen, die dann zu Zwecken der Zwangsprostitution verschleppt wurden.

Wenn es kaum Zukunftsperspektiven gibt, was für viele junge Frauen – und vor allem für die binnenvertriebenen Frauen – in Serbien gilt, ist das Risiko, an eine Schlepperbande zu geraten, extrem hoch. Ich begegnete Frauen, die in ganz Serbien Workshops für Schulmädchen veranstalteten, um vor den Praktiken solcher Banden zu warnen.

Flüchtlingsfrauen und reproduktive Gesundheit

Diverse Studien zeigen, dass Frauen, die Vertreibung und Exil erfahren, verschiedenen gesundheitlichen Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Das größte Problem stellt der Kontrollverlust über den eigenen Körper dar. Der Mangel an Nahrung wirkt sich beispielsweise auf Frauen und Männer unterschiedlich aus. Frauen sind besonders von dem Mangel an Eisen, Kalzium, Jod und Vitamin C betroffen. Gerade der Eisenmangel kann für schwangere Frauen lebensbedrohlich sein. In der Schwangerschaft oder in der Stillzeit können unterernährte Frauen ihre Kinder nur unzureichend mit Nährstoffen versorgen und damit ihr Überleben kaum sichern. Hilfslieferungen müssen daher vor allem die Bedürfnisse dieser speziell gefährdeten Gruppen berücksichtigen. Allerdings hilft das bloße Bereitstellen der am meisten benötigten Nahrungsmittel nicht, das Problem der Unterernährung an sich zu lösen. In vielen Gemeinschaften ist es üblich, die Männer als erstes zu versorgen, was wiederum bedeutet, dass die Frauen und Kinder am meisten leiden, sobald die Vorräte knapp werden. Wenn Nahrung zu einer stark begrenzten Ressource wird, entsteht ein Wettbewerb um den Zugang und um die Kontrolle von Nahrungsmitteln, bei dem die Frauen in der Regel verlieren.

Der Zusammenhang zwischen Flüchtlingen, Maskulinität und Krieg

Es gilt, die Beziehung zwischen Männern, Patriarchat und Krieg ebenso zu untersuchen wie das Verhältnis zwischen Frauen und Frieden. Männer und Frauen erleben den Krieg sehr unterschiedlich, von Phasen des Konflikts bis hin zu Phasen des Friedens und diversen Übergangsphasen. Frauen sind dabei einem weit höheren Risiko ausgesetzt, zur Flucht getrieben zu werden, wohingegen Männer wesentlich mehr gefährdet sind, einberufen zu werden und im Krieg umzukommen. Der bereits erwähnte Prozentsatz der Männer (90) in Armeen muss im Vergleich zum Anteil der Frauen (80) in Flüchtlingslagern näher analysiert werden. Wenn die Eigenschaften, die traditionell Männern zugeordnet werden, tatsächlich Stärke und Ehre sein sollen, und die Merkmale, die Frauen zugeordnet werden, Zartheit und Fürsorge sein sollen – was im Kontext von Flüchtlingsfrauen von höchster Bedeutung ist -, zeichnet sich am Ende auf beiden Seiten ein unvollständiges Bild des Menschen ab.

Das Patriachat ist nicht nur von hierarchischen, pyramidenförmigen Machtstrukturen gekennzeichnet, sondern auch von aggressiven Rollenkonzeptionen. Patriachale Strukturen implizieren neben der Bevorzugung von Männern bzw. von klassischen, männlichen Verhaltensmustern auch eine Kultur des Krieges. Männer nehmen diese patriachale Kultur des Krieges von frühester Kindheit an. Auch wenn die meisten ihre Spielzeugwaffe oder auch jede andere Waffe später wieder ablegen, bleibt die patriarchale Gewalt in ihrem Inneren weiterhin bestehen.

Es ist unsere Pflicht und Verantwortung als Frauen- und/oder Feministinnen, die für eine Kultur des Friedens eintreten, über diese Problematik zu sprechen, sich der Strukturen bewusst zu werden und gegen sie anzugehen. Wir müssen die Frauen, Mädchen, Männern und Jungen in unserer Umgebung lehren, dass wir eine bessere Welt erschaffen können, gemeinsam, ohne eine Kultur des Krieges. Wenn wir nach einer sicheren Welt streben, brauchen wir Frauen wie Männer, die als gleichberechtigte Partner die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit übernehmen. Das Wissen über Geschlechterrollen kann dazu beitragen, Frieden zu erreichen.

Literatur

Ebbe, Annelise (2005): Women, Non-Violence and a Patriarchal Culture of War, in: International Peace Update 70 (2005) 2.

UN ESCWA Centre for Women (2006): ESCWA Newsletter, Vol. 1, Issue 1.

UNHCR (2005): The UN Refugee Agency, Discussion Paper 1 (2005).

United Nations Security Council (2006): Resolution 1674 on Protection of Civilians in Armed Conflicts.

Walker, Bridget (1995): The question on gender, RPN 20, Oxfam.

Women's International League for Peace and Freedom (2008): International Women's Day Disarmament Seminar. Statement and Report.

Annelise Ebbe, M.A., ist Präsidentin der Internationalen Frauenliga für den Frieden (WILPF) und lebt in Kopenhagen. Im Jahr 2005 wurde sie als eine der »1000 Frauen für den Frieden« für den Friedensnobelpreis nominiert. Übersetzung: Editha von Colberg

Internationale Migration

Internationale Migration

Perzeptionen – Realitäten – Wirkungszusammenhänge der Globalisierung

von Franz Nuscheler

Internationale Migration wird in den Ländern des Nordens häufig in erster Linie als Bedrohung von Besitzständen wahrgenommen; tatsächlich handelt es sich um ein Phänomen, das im Zuge der Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat, von dem andere Teile der Erde jedoch viel massiver und nachhaltiger betroffen sind als die »OECD-Welt«.

1. Der »globale Marsch«: Von »low politics« zu »high politics«

Migration ist ein konfliktreiches Bewegungselement der Weltgeschichte. Ohne die weltumspannenden Bevölkerungsbewegungen, die der Kolonialismus in Gang setzte, sähen die Staatenwelt und Kulturenlandschaft völlig anders aus. Migration und Flucht, die durch den Grad des Zwanges unterschieden werden können, sind Begleit- und Folgeerscheinungen von Kriegen, Eroberungen, Verfolgung, Ressourcenkonflikten und unsicheren Lebensbedingungen. Neben diesen existenzbedrohenden Schubfaktoren gab und gibt es zwar auch eine freiwillige Migration, aber die große Mehrheit von Migranten verlässt ihre Heimatgebiete, weil sie hier nicht mehr findet, was Heimat ausmacht: Sicherheit vor Existenzbedrohungen vielfältiger Art.

Migration schafft auch in den Zielländern Konflikte und liefert häufig den Nährboden für ausländerfeindliche und rassistische Abwehrreaktionen. Sie ist zu einem globalen Struktur- und Ordnungsproblem geworden, weil immer mehr Länder als Herkunfts- oder Zielländer in das internationale Migrationsgeschehen einbezogen und mit verschiedenartigen Problemen und Konflikten konfrontiert werden.

Obwohl dem 20. Jahrhundert die Hypothek von mindestens 250 Mio. Flüchtlingen angelastet werden muss, wurde das Weltflüchtlingsproblem lange zuvörderst als ein völkerrechtliches und humanitäres Problem behandelt. Solange nach der Bewältigung der Fluchttragödie, die der Zweite Weltkrieg verursacht hatte, nur etwa 10% der weltweit registrierten Flüchtlinge die westlichen Länder erreichten und der »Eiserne Vorhang« eine größere Ost-West-Wanderung blockierte, blieb die internationale Migration ein Thema von »low politics«, das nur beim Überschwappen größerer Flüchtlingswellen nach Europa in Gestalt von Asylsuchenden innenpolitische Brisanz erhielt.

Dies änderte sich, mehr in der Perzeption denn in der Dimension des Problems, nach der weltpolitischen Zeitenwende von 1989/90 und schlagartig nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Internationale Migration avancierte nun zu einem Kernbereich von »high politics« und zu einem Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung (vgl. Nuscheler/Rheims 1997). Sie wurde nun auf die Liste »neuer Risiken« oder »neuer Bedrohungen« gesetzt und in das Problembündel der »erweiterten Sicherheit« einbezogen.

Nun beschäftigten sich nicht nur Migrationsforscher aus verschiedenen Disziplinen, sondern auch sicherheitspolitische Denkfabriken mit Bedrohungsszenarien, die sie besonders an den Nahtstellen zwischen dem Norden und Süden ausmachten. Die Dramaturgie des Filmes »Der Marsch«, die Peter J. Opitz (1997) zum Bühnenbild eines »globalen Marsches« erweiterte, nährte auch in seriösen Medien Halluzinationen eines unkontrollierbaren »Sturms auf Europa« und in der Politik Bemühungen, Mauern um die »Festung Europa« hochzuziehen.

2. Verwirrung von Begriffen, Zahlen und Realitäten

Solche Bedrohungsszenarien entstehen auch, weil die Diskussion über das internationale Migrationsgeschehen unter der Verwirrung von Begriffen und Zahlen und noch mehr unter verzerrten Wahrnehmungen der Realität leidet. Viele Publikationen reden vom »Weltflüchtlingsproblem« und meinen damit häufig andere Menschen als der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), der auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 nur solche Personen als Flüchtlinge anerkennt, die sich aus „wohl begründeter Furcht vor Verfolgung“ im Ausland aufhalten.

Der World Migration Report 2006 schätzte die Zahl der internationalen Migranten – also der Personen, die nicht in dem Land leben, wo sie geboren wurden – auf rund 200 Millionen. Dies sind zwar nur 2,7% der Weltbevölkerung, aber immerhin das Zweieinhalbfache der deutschen Bevölkerung. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kamen jährlich weltweit etwa drei Millionen neue Migranten (beiderlei Geschlechts) zum sog. »Migrationssockel« hinzu. Diese Zahl umfasst allerdings nur Personen, die legal in ein anderes Land eingereist sind oder nachträglich mit legalisierenden Dokumenten ausgestattet wurden – und nicht die weit größere Zahl von »irregulären Migranten«, die auf verschiedenen Wegen, Umwegen und Irrwegen in einem anderen Land ankamen.

Die Grauzone der »irregulären Migration« lässt eine große Bandbreite der Schätzungen über das Volumen der internationalen Migration zu. Die Behörden vieler Entwicklungsländer wissen nicht, wie viele Ausländer irgendwo in den Grenzregionen oder im Dschungel der Großstädte untertauchen. Aber auch gut organisierte Staatswesen haben solche Lücken in den Bevölkerungsstatistiken. So kann die Einwanderungsbehörde der USA nur schätzen, dass jedes Jahr zusätzlich zu den rund 700.000 mit legalisierenden Dokumenten ausgestatteten Zuwanderern etwa 275.000 »Illegale« über die lange Südgrenze zu Mexiko oder mit Booten aus der Karibik ins Land kommen und sich zu den rund 12 Millionen »Illegalen« gesellen, die sich bereits in dem großen Land aufhalten. Für Deutschland schwanken die Schätzungen zwischen 600.000 und einer Million, in der gesamten EU um acht Millionen.

Das Wachstum der »irregulären Migration«, das auch der Verengung der legalen Migrationspfade geschuldet ist, stellt mehr als das Weltflüchtlingsproblem die eigentliche globale Herausforderung dar. In dieser Grauzone findet auch statt, was auf den Begriff der Umweltflucht gebracht wurde. Zu Beginn des neuen Millenniums veröffentlichten verschieden internationale Organisationen geradezu furchterregende Prognosen über den drohenden Zuwachs von »Umweltflüchtlingen« im Gefolge sich häufender Umweltkrisen und des Klimawandels.

3. Irreguläre Migration: Kriminalisiert – toleriert – ausgebeutet

Die Verengung der legalen Migrationspfade in die »OECD-Welt«, die Verschärfung des Asylrechts, die auch »echten« Flüchtlingen den Zugang durch die »Hintertür« des Asyls erschwerte, und der Frauenhandel auf dem internationalen Prostitutionsmarkt machten das Phänomen der illegalen bzw. »irregulären Migration« zum eigentlichen Migrationsproblem. Sie unterläuft einerseits den Kontrollanspruch der Staaten über Einreisen und Aufenthalte von Ausländern und versetzt andererseits die Betroffenen in einen prekären Zustand der Unsicherheit.

Die »irreguläre Migration« über Kontinente hinweg brachte auch internationale Schlepperorganisationen ins Geschäft und machte den Menschenschmuggel (Trafficking) zu einem lukrativen Element der transnational organisierten Kriminalität, also zu einer Begleiterscheinung der Globalisierung. Die Menschenhändler sind häufig mit modernster Logistik, großer Skrupellosigkeit und krimineller Energie ausgestattet.

In der gesamten »OECD-Welt« wurde die »irreguläre Migration« nicht nur zu einem politisch-administrativen Ordnungsproblem, sondern unter dem Druck steigender Arbeitslosigkeit auch zu einem Problem des Arbeitsmarktes, auf der Seite vieler Unternehmer allerdings zu einem lukrativen Geschäft. In Italien und Spanien ernten die »Illegalen« mit Wissen der Polizei auf Plantagen weit unter Tariflohn Orangen, Zitronen oder Tomaten, in Frankreich waren sie in großen Scharen am Bau von Autobahnen beteiligt, in Deutschland hätten ohne sie die Bauten in der neuen Hauptstadt Berlin nicht so schnell vollendet werden können, in den USA wäre es längst zu einem Pflegenotstand gekommen.

Die Theorie des dualen Arbeitsmarktes geht davon aus, dass moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften einen ständigen und flexibel verfügbaren Bedarf an Arbeitsmigration haben, bei restriktiven Einwanderungsbedingungen auch an »irregulärer Migration«, weil einheimische Arbeitskräfte unsichere und schlecht bezahlte Tätigkeiten vermeiden, die aber besonders »Illegale« bereitwillig übernehmen. Die Politik lässt verlauten, ihre Einwanderungspolitik nicht an solchen betriebswirtschaftlichen Bedarfskalkulationen, sondern an übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohlinteressen und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten zu orientieren. Sie tut deshalb etwas anderes: Sie toleriert, was sie offiziell verbietet. Der Migrationsforscher Klause Bade (2000a) attackierte deshalb die Scheinheiligkeit vieler westlicher Regierungen, die unter dem Druck der Öffentlichkeit lauthals der irregulären Zuwanderung den Kampf ansagen, sie aber stillschweigend dulden, weil ein Bedarf besteht.

4. Der »globale Marsch« findet auf vielen Wegen und in viele Richtungen statt

Der World Migration Report 2000 fasste kurz und bündig zusammen: „Internationale Migranten kommen aus allen Teilen der Welt und gehen in alle Teile der Welt“. Die öffentliche Wahrnehmung einer »Invasion der Armen« geht jedoch davon aus, dass der »globale Marsch« nur eine einzige Richtung kennt: Vom Süden gen Norden und nach dem Abbruch des Eisernen Vorhangs auch aus dem Osten gen Westen, also aus den Armutsregionen in die reiche »OECD-Welt«. Gelegentlich wird dieser Wanderungsbewegung wie in einem anscheinend plausiblen System kommunizierender Röhren ein Automatismus des Wohlstandsgefälles zugrunde gelegt: Die Armen gehen dorthin, wo sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen. Sie würden, wenn sie könnten.

Entgegen allerlei Befürchtungen spielt sich aber das internationale Migrationsgeschehen weiterhin größtenteils innerhalb und zwischen Ländern der Dritten Welt ab: zu rund einem Drittel allein in dem von Krisen und Katastrophen heimgesuchten subsaharischen Afrika, zur Hälfte im bevölkerungsreichen Asien. Auch der Großteil der Flüchtlinge verbleibt in den jeweiligen Herkunftsregionen. Nicht die reichen Industrieländer, sondern die afrikanischen und asiatischen Nachbarländer von Krisenregionen nehmen die meisten Flüchtlinge auf. Hier endet der angeblich »globale Marsch« meistens in überfüllten und notdürftig von Hilfsorganisationen versorgten Flüchtlingslagern in den Grenzregionen der Krisengebiete. Die »OECD-Welt« finanziert die weltweiten Einsätze des UNHCR und anderer Hilfsorganisationen, um die Flüchtlinge von den eigenen Grenzen fern zu halten (vgl. Nuscheler 2002).

Es sind inzwischen vor allem junge, gut ausgebildete und zahlungsfähige Angehörige der Mittelschichten, die das Wagnis einer interkontinentalen Wanderung mit ungewissem Ausgang eingehen. Sie können am ehesten Mittel für teure Schlepperdienste aufbringen, wenn ihnen legale Wege versperrt sind. Die meisten sog. »Wirtschaftsflüchtlinge« stammen nicht aus den ärmsten Entwicklungsländern, sondern vielmehr aus Ländern mit mittlerem Einkommen. Armen Bevölkerungsgruppen in entfernten Entwicklungsländern fehlt es an Ressourcen, Informationen und Verbindungen, um in andere Kontinente auszuwandern. Wenn sie wandern, dann in aller Regel im eigenen Land oder in die näherliegenden Regionen.

Ob und auf welchen Wegen die Migranten aus dem Süden, die nicht in das Beziehungsgeflecht der Elitenmigration eingebunden sind, ihr Ziel im Norden erreichen: Hier erleben sie selten, was sie sich erhofft hatten. Ihre Migration bleibt vielfach in einem aussichtslosen Asylverfahren stecken, das mit der Abschiebung endet, oder in einem höchst prekären Leben in der Illegalität, die keinen Rechtsschutz und keine soziale Sicherheit bietet.

5. Globalisierung und Migration: Entgrenzung von Arbeitsmärkten und Lebenswelten

Die Geschichte der internationalen Migrationen lehrt, dass sie einerseits durch politische und sozio-ökonomische Erschwernisse in den Herkunftsländern in Gang gesetzt wurden, andererseits auf dem »Weltmarkt für Arbeitskraft« die Funktion hatten, möglichst billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Sowohl Binnenwanderungen als auch die grenzüberschreitenden Arbeitsmigrationen waren eng mit wirtschaftlichen Strukturveränderungen in den Herkunfts- und Zielregionen verbunden. Ohne den transkontinentalen Sklavenhandel wären der Aufbau von Plantagenökonomien in der »neuen Welt«, ohne die großräumige koloniale Arbeitsmarktpolitik nicht die Besiedlung von Kolonialterritorien und die Versorgung der Metropolen mit agrarischen und mineralischen Rohstoffen, ohne Urbanisierung und den Nachschub von billigen Arbeitskräften aus dem ländlichen Raum nicht ihre Industrialisierung und ohne Arbeitsmigranten aus Südeuropa, der Türkei, Jugoslawien, dem Maghreb und den ehemaligen Kolonien die Entwicklung der EWG zu einem florierenden Wirtschafts- und Sozialraum nicht möglich gewesen.

Die bereits von der »Europäisierung der Welt« eingeleitete und in den letzten Jahrzehnten beschleunigte Globalisierung hat die Ursachen, Formen und Folgen der internationalen Migration verändert. Sie bedeutet die zunehmende Entgrenzung der nationalen Ökonomien, die Vermehrung und Verdichtung transnationaler Interaktionen und Interdependenzen sowie die durch das Regelwerk der WTO (World Trade Organization) forcierte Öffnung der Grenzen für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Kommunikationsmedien. Obwohl das WTO-Regime den politisch sensiblen Bereich des Arbeitsmarktes ausklammerte und sich nicht daran wagte, auch der Freizügigkeit der Arbeitskräfte (mit Ausnahme des Führungspersonals von multinationalen Unternehmen) Bahn zu brechen, haben die vieldimensionalen Globalisierungsprozesse auch Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen.

Erstens verengte die Revolutionierung des Verkehrswesens die Räume, vergrößerte die Mobilität der Menschen auch über größere Entfernungen und beförderte damit eine »Entregionalisierung« der internationalen Migration, allerdings nur für Gruppen, die sich weite Reisen auch leisten können. Niemals zuvor in der Weltgeschichte konnten so viele Menschen in kurzer Zeit so weite Wege zurücklegen. Dennoch fand der Großteil der grenzüberschreitenden Migration innerhalb der Regionen statt.

Zweitens hat die Auslagerung von Produktionsstätten in die »Billiglohnländer«, die neben niedrigen Arbeitskosten in den »Weltmarktfabriken« auch die zunehmende Freizügigkeit von Kapital und Gütern nutzen kann, nicht nur Binnenwanderungen, sondern auch – wie wie beispielhaft in Südostasien – intraregionale Migrationsschübe ausgelöst. Die Globalisierung verstärkt die Marginalisierung peripherer Regionen, »Entbäuerlichung« und Urbanisierung.

Drittens hat die Globalisierung der Produktions- und Arbeitsmarktstrukturen neben der Formenvielfalt auch eine soziale Klassendifferenzierung der Migration hervorgebracht. Manager und Ingenieure zirkulieren als hoch bezahlte Beschäftigte von multinationalen Unternehmen, Wissenschaftler als Angehörige der zunehmend internationalisierten scientific community, Diplomaten als Mitglieder der Vielzahl von internationalen Organisationen und das Führungspersonal der zunehmend transnational organisierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) rund um den Globus. Migranten mit geringen Qualifikationen finden als billige Arbeitskräfte Beschäftigung in privaten Haushalten oder als Saisonarbeiter in Gastronomie und Landwirtschaft. Am unteren Ende der sozialen Leiter stehen die »neuen Heloten« der internationalen Arbeitsteilung: rechtlose irreguläre Arbeitsmigranten und die Opfer des internationalen Frauenhandels.

Viertens fördert die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung die Elitenmigration. Die Industrieländer, bisher allen voran die USA, picken sich aus allen Weltregionen die besten Köpfe heraus, fördern sie durch kapitalkräftige Stiftungen und Universitäten und können sich sogar erlauben, das eigene Bildungswesen zu vernachlässigen. Es zeichnet sich ein weltweiter Wettbewerb um diese »besten Köpfe« ab. Auf der anderen Seite der Medaille steht der »Brain Drain«, der in den Herkunftsländern zu einem schwerwiegenden Substanzverlust an Humankapital führen kann.

Fünftens bewirkte die Globalisierung der Telekommunikation eine kommunikative Vernetzung der Welt. Sie erzeugt neben gewollten Wirkungen des Wertetransfers und der Konsumanreize auch ungewollte Migrationsanreize, weil sie die Bilder vom besseren Leben anderswo bis in die letzten Slumhütten transportiert und das internationale Wohlstandsgefälle sichtbar macht. Je schlechter die Lebensbedingungen sind, desto größer ist die Sogwirkung solcher Bilder, die alle Schwierigkeiten der Migration und des Lebens in den medial konstruierten Scheinwelten verschweigen.

Sechstens erzeugt die Globalisierung durch die ungleiche Verteilung ihrer Risiken und Wohlfahrtsgewinne negative Interdependenzketten: in den marginalisierten Peripherien eine weitere Verarmung, größere Verwundbarkeiten der Gesellschaften und politische Instabilitäten, eine Vermehrung und Brutalisierung von Verteilungskonflikten und im Gefolge von Gewalteruptionen Fluchtbewegungen.

Siebtens hat die Globalisierung die Herausbildung von transnationalen Netzwerken befördert, zu denen auch das international organisierte Schlepperwesen gehört, das zu einem wichtigen Steuerungsinstrument der irregulären Migration wurde. Der Soziologe Ludger Pries (1997, 35) entdeckte das qualitativ Neue der Globalisierung in der Lockerung der Kongruenz von Territorialstaat und Lebensraum und im Anwachsen von »transnationalen sozialen Räumen«. Viele Migrationsforscher gehen davon aus, dass die Globalisierung in den nächsten Jahrzehnten Ausmaß und Richtung von Wanderungsbewegungen maßgeblich beeinflussen wird:

die Einbeziehung von immer mehr Ländern, sei es als Herkunfts- oder Zielländer, in das Migrationsgeschehen;

eine weitere Zunahme der Migrationsströme aufgrund der Verschärfung von strukturellen Schubfaktoren;

eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Migrationsformen und Migrationspfade;

eine zunehmende Feminisierung der Migration, die zwar schon immer viele Fluchtbewegungen kennzeichnete, aber zunehmend auch zu einem Phänomen der legalen und illegalen Arbeitsmigration wurde.

6. Feminisierung der Migration

Der wachsende Anteil von Frauen, nicht nur unter Flüchtlingen, sondern auch innerhalb der regulären und irregulären Arbeitsmigration, ist eine Folge der globalisierten Nachfrage nach frauenspezifischen Dienstleistungen in Haushalten, Pflegeberufen und auf dem Prostitutionsmarkt sowie nach billigen Arbeitskräften in Hunderten von »Weltmarktfabriken«. Die »globalisierte Frau« gehört zur Reservearmee globalisierter Arbeitsmärkte (vgl. Wichterich 1998). Für Migrantinnen gibt es eine Vielzahl von Motiven und Chancen zur internationalen Migration: Sie reichen von der Überlebenssicherung der Familien durch temporäre Arbeit im Ausland über den Willen, aus familiärer Bevormundung und gesellschaftlicher Diskriminierung auszubrechen, bis zur Partnersuche in fernen Landen.

Zur häufig irregulären Migration von Frauen gehört auch der von international operierenden Schleuserbanden organisierte Frauenhandel auf dem globalisierten Prostitutionsmarkt. Hier geht es nach Schätzungen von UNIFEM (UN Development Fund for Women) um Hunderttausende oder gar Millionen von Frauen und Mädchen, die – als moderne Form der Sklaverei – wie Waren gehandelt werden. Wie die meisten Wanderungsbewegungen verlaufen auch die internationalen Schlepperrouten, auf denen der Frauenhandel stattfindet, von armen zu reichen Ländern bzw. zu Ländern im Süden (wie am Golf oder in Südostasien), wo eine kaufkräftige Nachfrage besteht oder durch Touristen hergestellt wird.

7. Neue Einsichten und Perspektiven: Vom Sicherheitsproblem zum Entwicklungspotenzial?

Der 2005 vorgelegte Bericht der Global Commission on International Migration (GCIM) dokumentierte die im Migrationsdiskurs wachsende Einsicht, dass die internationale Migration nicht nur ein unaufhaltsamer Prozess der sich herausbildenden Weltgesellschaft ist, sondern sowohl für die Herkunftsregionen als auch für die Zielregionen neben Risiken auch Chancen eröffnen kann, sofern es gelingt, die Migrationsprozesse durch internationale Kooperationen zu steuern und durch Schutzregime zu humanisieren.

Zu diesem Paradigmenwechsel trugen – neben der von demographischen Fakten diktierten Einsicht, dass die an Alterssklerose leidenden Industriegesellschaften zur eigenen Wohlstandssicherung Zuwanderung brauchen – auch Berechnungen der Weltbank bei, die mit einigen statistischen Unsicherheiten nachwiesen, dass die Geldüberweisungen (remittances) der legalen und irregulären Arbeitsmigranten/innen an die zurückgebliebenen Familien mehr als das Doppelte der internationalen ODA (Official Development Assistance) betragen. Sie leisten damit einen wirksameren Beitrag zur Armutsbekämpfung als staatliche Transferleistungen, die häufig im Gestrüpp der Korruption versickern.

Auch die Perzeption der internationalen Migration als ein Sicherheitsproblem eröffnet Chancen für kooperatives Denken und Handeln: Zwar erwächst aus ihrer Einbindung in Bedrohungsszenarien die Gefahr, dass militärisch gestützte Abwehrmaßnahmen, wie sie bereits an den Ost- und Südgrenzen der EU und am Rio Grande zwischen Nord- und Südamerika ergriffen werden, zum bestimmenden Faktor der Problembearbeitung werden und eine präventive Friedens- und Entwicklungspolitik zur Eindämmung der Migrationsursachen gar nicht mehr versucht wird.

Die sicherheitspolitische Problemperzeption enthält aber auch die Chance, dass aus der Erkenntnis der eigenen Verwundbarkeit und aus der Wahrnehmung gemeinsamer Gefährdungen neue internationale Kooperationsformen zur konstruktiven Problem- und Konfliktbearbeitung erwachsen. Die Konzepte der »erweiterten Sicherheit« und »human security« lassen solche Einsichten durchaus erkennen (vgl. BAKS 2001). Verschiedene Mitteilungen der EU-Kommission und Resolutionen des Europäischen Parlaments setzten, aufgeschreckt durch die Fluchttragödien am und auf dem Mittelmeer, nicht nur auf eine nur begrenzt wirksame militärische Absicherung der »Festung Europa«, sondern auch auf pro-aktive Vorwärtsstrategien mittels einer umfassenden Kooperationspolitik mit den Herkunfts- und Transitländern. Es fand ein migrationspolitischer Lernprozess statt, der zwar weiterhin auf die Aufrüstung der Grenzsicherung setzt, aber auch Lehren aus der Erfolglosigkeit militärischer Abschottungspolitik zog. Die migrationspolitischen Einsichten und Absichtserklärungen müssen allerdings noch den Implementationstest bestehen.

Literatur

Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung, München.

ders. (2000a): Pfade in die Festung, in: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Mai 2000.

BAKS (Bundessicherheitsakademie für Sicherheitspolitik) (Hrsg.) (2001): Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, Hamburg.

Butterwegge, Christoph/Gudrun Hentges (Hrsg.) (2006): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung, 3. Aufl., Wiesbaden.

Castles, Stephen/Mark J. Miller (1993): The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, New York.

Global Commission on International Migration (2005): Migration in einer interdependenten Welt: neue Handlungsprinzipien, Berlin.

Husa, Karl/Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hrsg.) (2000): Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main.

Kennedy, Paul (1993): In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main.

Nuscheler, Franz (2004): Internationale Migration. Flucht und Asyl, 2. Aufl., Wiesbaden.

ders. (2002): Nord-Süd-Migration: ein »globaler Marsch?«, in: Klaus J. Bade/Rainer Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2002, S.99-118.

Nuscheler, Franz/Birgit Rheims (1997): Migration und Sicherheit: Realitäten und Halluzinationen, in: Ludger Pries, S.317-328.

Opitz, Peter J. (Hrsg.) (1997): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem, München.

Pries, Ludger (Hrsg.) (1997): Transnationale Migration. Soziale Welt/Sonderband 12, Baden-Baden.

Wichterich, Christa (1998): Die globalisierte Frau, Reinbek.

Dr. Franz Nuscheler war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 Professor für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität Duisburg-Essen und leitete von 1990 bis Mai 2006 als Direktor das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF).