Vergrenzung der EU


Vergrenzung der EU

Grenzvorverlagerung, Profit und Behinderung der Demokratie

von Jacqueline Andres

Innerhalb der letzten Jahrzehnte vervielfachte sich die Errichtung von High-tech-Grenzanlagen weltweit. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die europäische Sicherheitsbranche sind maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Die EU treibt nicht nur selbst eine rasante Vergrenzung entlang ihrer Außengrenzen voran, sondern forciert auch eine stetige Grenzvorverlagerung, die mit einem Technologietransfer an repressive Staaten einhergeht und dort für eine effizientere Kontrolle nach innen eingesetzt werden kann. Die Grenzsicherung ist ein boomender Markt, der bereits jetzt zur Behinderung demokratischer Prozesse in den Herkunfts- und Transitstaaten der Geflüchteten beiträgt und die Fluchtursachen verschärft.

In den letzten Jahren erstellte die EU zahlreiche Aktionspläne, Programme und Projekte mit dem Ziel, die Migration nach Europa einzudämmen und die Anzahl der ablegenden Boote von Migrant*innen entlang der nordafrikanischen Küste drastisch zu reduzieren.

Schwerpunkt Migrationsbekämpfung

Bei einem Treffen von EU-Politiker*innen mit libyschen und tunesischen Amtskolleg*innen am 20. März 2017 in Rom wurde eine ständige Kontaktgruppe geschaffen, und die dort vertretenen Politiker*innen erklärten sich bereit, gemeinsam an der Migrationsbekämpfung zu arbeiten und Migrant*innen vor der gefährlichen Mittelmeerüberfahrt zu »bewahren«. Auch Algerien war eingeladen, doch der Maghrebstaat entsandte aus Protest über die von der EU gestellten Forderungen keine*n Diplomat*in.

Im Laufe der letzten Monate häuften sich die Treffen, Verhandlungen und Abkommen mit nordafrikanischen Staaten. Diese Häufung verdeutlicht die Besorgnis innerhalb der EU um die aktuelle Entwicklung an der nordafrikanischen Küste: Der Vertragspartner der EU in Libyen – die von der internationalen Gemeinschaft, nicht jedoch vom Großteil der eigenen Bevölkerung anerkannte Einheitsregierung unter Präsident Fayiz as-Sarradsch – hat keine Kontrolle über die Küste. Noch immer legen nach Schätzung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) rund 90 % der Boote, die Italien erreichen, aus Libyen ab. Die restlichen Boote kommen hauptsächlich aus Tunesien, Algerien und Ägypten, Tendenz steigend. Umso wichtiger erscheint es daher, die Migrant*innen daran zu hindern, Libyen zu erreichen, bzw. sie in Libyen festzuhalten. Gleichzeitig soll auch dafür gesorgt werden, dass weniger Boote aus den Nachbarstaaten ablegen.

Thomas de Mazière fasste die Ansprüche zusammen: „Die europäischen und nordafrikanischen Staaten müssten gemeinsam versuchen, die Menschen aus Afrika daran zu hindern, sich durch Libyen auf den Weg zu machen. Wir müssen den Grenzschutz verstärken, den Küstenschutz auch Libyens, und wir müssen entschlossen diejenigen zurückführen aus Europa, die dann doch angekommen sind.“ (Deutsche Welle 2016)

Diese Einschätzung teilen auch die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Bei der EU-Gipfeltagung in Bratislava im September 2016 kamen Vertreter*innen aus 27 Mitgliedsstaaten zusammen. In dem während der Tagung entstandenen Bratislava-Fahrplan erklärte die EU die Migrationsabwehr zu einer ihrer Prioritäten und setzt sich u.a. folgendes Ziel: „Vollkommener Ausschluss einer Wiederholung der unkontrollierten Migrationsströme des […] Jahres [2015] und weitere Verringerung der Anzahl irregulärer Migranten“ (Europäischer Rat 16.9.2016, S. 3). Erst wenige Monate zuvor hatte die EU einen neuen Migrationspartnerschaftsrahmen verabschiedet, in welchem sie ebenfalls die Migrationskontrolle zu einem Hauptfokus ihrer Außenpolitik machte. U.a. transformiert dieser Migrationspartnerschaftsrahmen die EU-Entwicklungshilfe in ein Instrument der Migrationsabwehr. Die Instrumente der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik sollen genutzt werden, um die Kapazitäten in den Herkunfts- und Transitstaaten „in den Bereichen Grenzkontrolle, Asyl, Bekämpfung der Schleuserkriminalität und Wiedereingliederung“ (Europäische Kommission 7.6.2016 ) zu stärken. 500 Mio. Euro sollen dafür aus der Reserve des Europäischen Entwicklungsfonds kommen. Die EU machte den mit Menschenrechtsverletzungen einhergehenden EU-Türkei-Deal zum Vorbild für den Partnerschaftsrahmen, strebt ähnliche Pakte mit Jordanien, Libanon, Niger, Nigeria, Senegal, Mali sowie Äthiopien an und will die Zusammenarbeit mit Tunesien und Libyen verstärken.

Aufrüstung der Grenzen

Zuvor hatte die Europäische Union ihre Nachbarschaftspolitik schon einmal neu ausgerichtet, nämlich nach dem durch Massenprotesten herbeigeführten Sturz der repressiven Langzeitpräsidenten von Tunesien und Ägypten im Jahr 2011. Gleich als erstes Ziel nannten die EU-Mitgliedsstaaten damals die verstärkte Unterstützung „beim Aufbau einer vertieften Demokratie“ als Priorität. Diese wird definiert als eine Demokratie, die von Dauer ist, weil neben dem Wahlrecht auch das Recht auf Redefreiheit, auf die Bildung konkurrierender politischer Parteien, auf eine unparteiische und unabhängige Justiz, auf Sicherheit, die durch eine rechenschaftspflichtige Polizei und Armee gewährleistet wird, und auf Zugang zu einem kompetenten und nicht korrupten öffentlichen Dienst sowie weitere Bürger- und Menschenrechte wie die Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit, die für viele Europäer selbstverständlich sind, garantiert werden“ (Europäische Kommission 2011, S. 2).

Inzwischen aber richtet sich die EU-Außenpolitik mit ihrem Schwerpunkt Migrationsabwehr gegen die Bedürfnisse der so genannten Zivilgesellschaft in diesen Ländern, u.a. indem deren Reisefreiheit eingeschränkt wird. Niger erklärte Schleusertätigkeiten 2015 zur Straftat, Ägypten im Jahr 2016. Denn die Vorverlagerung der EU-Grenzen setzt gesetzliche Änderungen zur Einschränkung des Personenverkehrs und zur Kriminalisierung von Schleusertätigkeiten sowie den Aufbau der dafür erforderlichen Kapazitäten in den betroffenen Herkunfts- und Transitstaaten voraus.

Durch die von der EU forcierte Grenzvorverlagerung und den damit einhergehenden Technologietransfer droht den Transit- und Herkunftsstaaten eine grundlegende Umstrukturierung. In zahlreichen Staaten kann die Aufrüstung staatlicher Sicherheitskräfte, welche auch repressiv gegen Oppositionelle und Migrant*innen vorgehen und damit selbst Fluchtursachen schaffen, negative Folgen für die Menschen vor Ort haben. Für europäische Sicherheits- und Rüstungsunternehmen hingegen stellt sie einen Profit versprechenden Absatzmarkt dar. Seit Beginn der Kriminalisierung »irregulärer« Migrant*innen und ihrer Einordnung als »Bedrohung« leistet die voranschreitende Vergrenzung der inneren, äußeren und vorverlagerten Grenzräume der EU einen essentiellen Beitrag zur Entwicklung der europäischen Rüstungs- und Sicherheitsbranche.

Die Technologisierung der Grenzkontrollen beginnt bereits bei der sich ausweitenden Biometrisierung von Ausweisen, welche anhand von Merkmalen wie Fingerabdrücken die einfachere und zuverlässigere Feststellung gefälschter Dokumente ermöglichen soll. Zeitgleich erlaubt der Aufbau von abgleichbaren biometrischen Datenbanken in den Herkunftsstaaten von Migrant*innen der EU die einfache Identifizierung und Feststellung der Staatsangehörigkeit von Personen, die abgeschoben werden sollen. Besonders seitdem die EU einen biometrischen Ausweis zur Grundvoraussetzung für den Erhalt eines Schengenraum-Visums erklärte und Staaten dazu drängt, biometrische Ausweise einzuführen, ist die Biometrisierung ein millionenschwerer Markt. Zu den für die Biometrisierung und die automatisierte Identitätsüberprüfung notwendigen Technologien zählen Fingerabdruck-Scanner, Digitalkameras, biometrische Ausweise, Lesegeräte, Kontrollschleusen sowie die dazugehörigen Datenbanken, Computerprogramme und Server.

Die Überwachung von See- und Landgrenzen wiederum setzt ganz andere Sicherheits- und Rüstungsprodukte voraus. Mit Stacheldraht gekrönte Zäune und Mauern prägen die traditionelle Idee von Grenzanlagen, doch mittlerweile sind diese durch zahlreiche Komponenten ergänzt oder gar ersetzt: Drohnen, Glasfasersysteme, Sensoren, Radarsysteme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras und Überwachungskameras sollen die Überwachung verbessern, während die bewaffneten Grenzschützer*innen mit Geländewagen, Patrouillenbooten und –flugzeugen weitläufig einsatzbereit sein sollen. An Häfen werden Röntgengeräte, Herzschlagmesser, Atemluftscanner und ausgebildete Spürhunde eingesetzt, um »blinde Passagiere« u.a. in LKWs, unter größeren Fahrzeugen oder auf Schiffen ausfindig zu machen.

Nach Angaben des Beratungsunternehmens Visiongain stieg der Wert der globalen Grenzsicherung von 15 Mrd. Euro im Jahr 2015 auf 16,7 Mrd. Euro im Jahr 2016 und soll bis 2021 um etwa 8 % jährlich wachsen (Akkermann 2016, S. 12). Laut dem US-amerikanischen Marktforschungsunternehmen Global Information Inc. (GII) wird das Marktvolumen von Radarsicherheit von 17,85 Mrd. US$ 2016 mit einem Wachstum von rund 6 % jährlich auf 25,17 Mrd. US$ im Jahr 2022 anwachsen. Der größte Anteil entfällt auf die Grenz­überwachung, und es sei laut GII zu erwarten, dass diese den Markt bis 2022 dominieren wird (Global Information Inc. 29.7.2016). Im Bereich der Drohnen sieht es nicht anders aus: Bis 2022 soll der globale Drohnenmarkt laut dem Marktforschungsunternehmen Research and Markets einen Wert von 21,23 Mrd. US$ erreichen. Der größte Anteil militärischer Drohnen soll für die Grenzsicherung verkauft werden (Business Wire 13.10.2016).

Zahlreiche europäische Unternehmen tragen zur Vergrenzung unterschiedlicher Regionen bei – auch, weil die EU ihre Konkurrenzfähigkeit stärkt. Im Jahr 2012 erkannte die Europäische Kommission die Gefahr, dass „die globalen Marktanteile europäischer Unternehmen in den nächsten Jahren einen beträchtlichen Rückgang erleben könnten, sofern keine Maßnahmen zur Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ergriffen werden“ (Europäische Kommission 2012). Im folgenden Jahr verkündete die EU das neue rund 80 Mrd. Euro schwere Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm »Horizon 2020« (Europäischer Rat 2013), welches das zuvor ausgelaufene 7. Forschungsrahmenprogramm ablöste. »Horizon 2020« finanziert unter dem Titel »Sichere Gesellschaften« u.a. Sicherheitsforschung mit Fördergeldern in Höhe von 1,7 Mrd. Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Ziel des Rahmenprogramms ist die Stärkung von „Synergien zwischen der nationalen und europäischen Sicherheitsforschung“, um diese im globalen Konkurrenzkampf zu unterstützen. Einer der acht Schwerpunkte, die unter dem Stichwort »Sichere Gesellschaften« gefördert werden, ist explizit die „Erhöhung der Sicherheit durch Grenzüberwachung“ (BMBF o.J.).

Angesichts dieser Aussichten überrascht es nicht, dass sich europäische IT-, Rüstungs-, Sicherheits- und Logistikunternehmen in Lobbyverbänden zusammenschlossen, um sich Aufträge zu sichern.

Lobbyarbeit treibt Technologisierung und Militarisierung voran

Ein wichtiger Akteur in diesem Feld ist die European Organisation for Security (EOS), welche sich auf ihrer Website auch als „europäische Stimme der Sicherheit“ bezeichnet. Seit 2007 bringt dieser Interessenverband Vertreter*innen der europäischen Sicherheitsindustrie und -forschung mit Politiker*innen unterschiedlicher EU-Institutionen in Brüssel zusammen. Zu den Themenschwerpunkten der Organisation zählt neben Cybersicherheit, Schutz kritischer Infrastruktur und Bevölkerungsschutz auch der Grenzschutz. Im Vorstand der EOS sitzen momentan mit Helmut Huegle von Airbus und Gerd Müller von Secunet auch Vertreter aus Deutschland. Ein weiterer Interessensverband, der Europäische Verband der Luftfahrt-, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie (ASD), ist im EOS-Vorstand durch Jan Pie vertreten. Im Vorstand von ASD wiederum sitzen Thomas Diehl, Präsident und Vorstands­chef der Firma Diehl, Thomas Enders, Vorstandchef von Airbus, und Volker Thum vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie.

Sachverständige der Protection And Security Advisory Group des Rahmenforschungsprogramms »Horizon 2020« der EU sind häufig selbst in den Unternehmen und Forschungsinstituten tätig, die sich anschließend auf die Förderungsausschreibungen bewerben. Zu den neunzehn Mitgliedern dieser Gruppe zählen auch deutsche Sachverständige: der Präsident des Technischen Hilfswerks, Albrecht Broemme; die Geschäftsführerin der Microfluidic ChipShop GmbH, Dr. Claudia Gärtner; Merle Missoweit von der Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung; Klaus Keus vom Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik und Petra Hoepner vom Fraunhofer Institut FOKUS (Europäische Kommission 2017). Durch ihre doppelte Rolle als Berater*innen und Vertreter*innen potenzieller Bewerberunternehmen auf Ausschreibungen von »Horizon 2020« können sie maßgeschneiderte Ausschreibungen für die von ihnen vertretenen Institutionen erwirken. Von dieser Lobbyarbeit und der Einbindung in institutionalisierte Expert*innengruppen profitieren auch deutsche Universitäten, Forschungsinstitute und Unternehmen, wenn sie weltweit um entsprechende Projekte konkurrieren.

Deutschlands Beitrag und Profit

Zu den bedeutenden Einrichtungen und Unternehmen, die von der EU-Förderung bislang profitierten, zählen der deutsch-französische Konzern Airbus, welcher 2004 bis 2015 zwölf Aufträge im Wert von 9,784 Mio. Euro erhielt, und die Institute der Fraunhofer Gesellschaft, die für etwa 200 Projekte, an denen sie beteiligt waren 68,59 Mio. Euro erwirtschafteten. Weitere Schwergewichte der europäischen Sicherheitsindustrie, die oftmals auch Standorte in der Bundesrepublik unterhalten – z.B. Thales (31,57 Mio Euro., Indra (12,27 Mio. Euro), Leonardo S.p.A. und Safran –, profitieren ebenfalls vom EU-Rahmenforschungsprogramm (Biermann und Fuchs 23.2.2017).

Die von der EU geforderten Maßnahmen zur Grenzsicherung und Migrationssteuerung in den Nachbarschaftsregionen gehen meist mit konkreten Angeboten einher, welche oftmals von EU-Geldern, wie dem eigens eingerichteten European Trust Fonds, finanziert werden. Bei seinem Besuch in Marokko im März 2016 schloss Innenminister Thomas de Mazière mit seinem Amtskollegen Vereinbarungen zur erleichterten Abschiebung marokkanischer Staatsangehöriger ab, in denen Marokko auch einem biometrischen Datenabgleich abzuschiebender Personen zustimmte (Guerra 9.12.2016). Das Unternehmen Veridos erhielt kurze Zeit später den Auftrag, dem Königreich Marokko ein »innovatives« nationales Grenzkontrollsystem zu liefern, welches zahlreiche Komponenten umfasst, u.a. Passlesegeräte und automatisierte Grenzkontrollschleusen, so genannte eGates. Teil der Lieferung sind 140 mobile Grenzüberwachungsausstattungen, die aus Laptops, Fingerabdruckscannern des Hamburger Unternehmens DERMALOG Identification Systems und den zugehörigen Lesegeräten bestehen. Veridos richtet 1.600 stationäre Grenzkontrollstationen ein – inklusive einer Hauptzentrale und mehreren regionalen Servern (Veridos 2016). Veridos ist ein Zusammenschluss des IT-Unternehmens Giesecke & Devrient und der Bundesdruckerei GmbH, die sich seit 2009 wieder im Staatsbesitz befindet und weltweit von der Einführung biometrischer Meldewesen profitiert.

Die Verbindung zwischen dem Staat und privaten Unternehmen können auch im Bereich der Grenztechnologien eng sein, wie der Fall der High-tech-Grenzanlage von Saudi Arabien zeigt. Im Jahr 2009 erhielt Airbus, damals EADS, den milliardenschweren Auftrag, eine 900 Kilometer lange Grenzanlage zwischen Saudi Arabien und Irak zu errichten. Teil des Deals war die Ausbildung saudischer Grenzschützer durch die Bundespolizei; seither waren 110 Bundespolizisten und eine Bundspolizistin dafür vor Ort. Die Bundespolizei unterhält zur Koordination der Maßnahmen seit 2009 ein Projektbüro in Riad, in dem fünf Polizeivollzugsbeamte eingesetzt sind (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Für die logistische und administrative Abwicklung wurde die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit eingebunden.

Der damals für die Zustimmung zuständige Entwicklungsminister Dirk Niebel übernahm 2015 internationale Aufgaben bei Rheinmetall und unterstützt seither „die Mitglieder des Konzernvorstands von Rheinmetall in allen Fragen und Aufgaben der internationalen Strategieentwicklung und beim Ausbau der globalen Regierungsbeziehungen“ (Rheinmetall 2014). Und Rheinmetall profitiert von der Stärkung des Grenzschutzes anderer Länder. Die Bundesregierung übergab der jordanischen Armee zum Grenzschutz im Dezember 2016 sechzehn Schützenpanzer des inzwischen in die Jahre gekommenen und überholten Typs »Marder«; weitere 34 Panzer sollen bis Ende 2017 geliefert werden. Bezahlt werden die sonst vermutlich schwer verkaufbaren Modelle vom Außen- und Verteidigungsministerium (ZEIT ONLINE 11.12.2016). Mit den Panzern soll Jordanien seine nördliche Grenze nach Syrien gegen den so genannten Islamischen Staat sichern. Im Juni 2016 erklärte die jordanische Regierung diese Grenze zu einer Militärzone und verweigert seither weiteren Geflüchteten den Zutritt nach Jordanien. Der Kommandeur der jordanischen Grenzschützer, General Aqeel, betonte noch im März 2017: „Die Grenzen sind für Flüchtlinge komplett geschlossen.“ (Azzeh 2017) Nur Personen, die dringend medizinische Versorgung benötigen, würden in Jordanien behandelt und anschließend wieder zurück vor die Grenze gebracht werden. Im Niemandsland von Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze hat sich seither ein Camp mit geschätzt 75.000 Geflüchteten gebildet. Die Panzer werden folglich nicht nur gegen eine mögliche Bedrohung durch den IS eingesetzt, sondern auch gegen Grenzübertritte von Flüchtlingen.

Ähnlich verhält es sich mit den drei GSM-Interceptor-Einheiten, die Anfang des Jahres 2017 an das jordanische Königreich übergeben werden sollten. Diese dienen der „aktiven und passiven Gesprächsaufklärung“ und können Hunderte Mobilfunkverbindungen zeitgleich belauschen (ZEIT ONLINE 2016). Es ist naheliegend, dass die jordanische Regierung diese Lauschtechnik auch gegen Regimekritiker*innen einsetzen wird. Weitere Schenkungen erfolgten u.a. an Tunesien: Die Bundesregierung übergab dem tunesischen Grenzschutz Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, optische Sensoren und Radarsysteme von Airbus.

Auch in Algerien sind Panzer von Rheinmetall (»Fuchs«) für die Überwachung der Landgrenzen im Einsatz. Der algerischen Regierung reichte jedoch eine Lieferung nicht, sondern sie wollte an der Produktion beteiligt werden: Fast tausend Fuchs-Radpanzer sollen in der Nähe der algerischen Stadt Constantine von der im März 2011 gegründeten Firma Rheinmetall Algerie mit Bausätzen aus Deutschland zusammengebaut werden. Aus Deutschland werden auch Baupläne geliefert, damit Algerien selbst Radaranlagen, Infrarotkameras und Kommunikationsgeräte herstellen kann. Um dies zu ermöglichen, hat sich die Deutsche Elektronik Gesellschaft für Algerien mbH (Degfa) im Jahr 2012 mit der Société commune algérienne de fabrication des systèmes électroniques (Scafse) zu einer Joint Venture zusammengeschlossen. Die Degfa wiederum ist ein Zusammenschluss von Airbus, Rohde & Schwarz und Carl Zeiss (German Foreign Policy 2017). Rheinmetall International Engineering feiert die Möglichkeit, „komplette Infrastrukturen für Verteidigung schlüsselfertig“ bauen zu können und damit dem „Trend zu folgen, dass Staaten selbst in die Produktion eingebunden werden wollen (Rheinmetall Defence o.D.).

Anhand der Beteiligung von deutschen Unternehmen bzw. von Firmen mit Zweigstellen in Deutschland an internationalen Messen zum Thema Grenzsicherheit wird schnell deutlich, dass durch die Aufnahme von Grenztechnologie in die Produktpaletten mittelständischer Unternehmen und großer Konzerne die Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen in vielen deutschen Großstädten und selbst in zahlreichen kleinen Kommunen beginnt: Airbus DS Electronics and Border Security GmbH (Ulm) entwickelt Radarsysteme für Grenzanlagen, das mittelständische Unternehmen Steiner Optik GmbH (Bayreuth) vertreibt das für den Grenzschutz geeignete M1580 Fernglas, Carl Zeiss Optronics GmbH (Wetzlar) Nachtsichtgeräte, InfraTec (Dresden) Infrarotkameras, ConVi GmbH (Wangen im Allgäu) Grenzkontrollsysteme und VTQ Videotronik GmbH (Querfurt) Langstrecken-Transmitter und Sensoren.

Die EU-Migrationspolitik behindert Selbst­bestimmungsprozesse

Der durch die EU-Migrationspolitik forcierte Technologie- und Politiktransfer bereichert jedoch nicht nur zahlreiche Unternehmen in Deutschland und ganz Europa, sondern droht die Herkunfts- und Transitstaaten – und langfristig sogar die EU selbst – zu ändern.

Die EU-Migrationspolitik verknüpft geschickt die politischen mit den wirtschaftlichen Interessen Europas; als Folge stärkt sie repressive Regierungen. Mit dem für die staatliche Kontrolle nach außen erforderlichen Kapazitätsaufbau nimmt gleichzeitig auch die technologische Fähigkeit der Kontrolle nach innen zu. Für ihre Repression berüchtigte Sicherheitskräfte von Algerien, Sudan, Südsudan und Tschad werden gestärkt, weil die zur Grenzsicherung, zur Bekämpfung von Schleuser*innen und Terrorist*innen gelieferte Ausstattung und Ausbildung ebenso gut zur Überwachung und Repression regimekritischer Stimmen taugt. Im vierten Quartal des Jahres 2016 erhielt die ägyptische Grenz- und Hafenpolizei 100 Dokumentenprüfgeräte für Kontrollbeamte (Docu-Viewer) zur Unterstützung der Dokumenten- und Urkundensicherheit sowie für polizeiliche Identitätsprüfungen. Dies kommt der Militärdiktatur sicher nicht ungelegen. Nach Angaben der Bundesregierung wurde 2016 deutlich mehr politischen Aktivist*innen und Angehörigen von Nichtregierungsorganisationen die Ausreise aus Ägypten untersagt (Deutscher Bundestag 7.3.2017). Die ägyptischen Sicherheitskräfte erhalten zugleich ähnliche Lehrgänge und Ausstattungshilfen von der französischen und italienischen Regierung.

Dabei findet geheimdienstliche und polizeiliche Zusammenarbeit auch mit den Behörden statt, welche für die Inhaftierung politischer Gefangener verantwortlich sind (nach Angaben des Arab Network for Human Rights 2016 allein in Ägypten 60.000). Diese wurden oftmals in Prozessen ohne ausreichende rechtsstaatliche Kriterien verurteilt oder ohne Anklage und Prozess inhaftiert. Die Stärkung des ägyptischen Sicherheitsapparats und die Aufwertung des Militärdiktators as-Sisi zu einem Partner der EU in der Migrationsbekämpfung ist ein harter Schlag gegen all diejenigen, die 2011 mit der Forderung nach »Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit« zusammenkamen.

Zudem ist es höchst unwahrscheinlich, dass Migration tatsächlich durch die Technologisierung der Grenzüberwachung steuerbar ist, denn die Grenzpolizeien, deren Kapazitäten ausgebaut werden sollen, sind oftmals Komplizen von Schleuser*innen. Durch die Illegalisierung und offizielle Bekämpfung von Migration erhöhen sich u.a. die Bestechungsgelder, wodurch die Migration noch teurer und riskanter wird, jedoch nicht unmöglich. Dies beginnt bereits innerhalb der EU selbst: Im August 2016 wurde die Leitung der Grenzpolizei von Bulgarien wegen schwerwiegender Korruptionsvorwürfe entlassen. Der ehemalige Chef der bulgarischen Grenzpolizei, Valeri Gigorov, bestätigte in einem Interview mit der Deutschen Welle, es bestünde eine »Geschäftspartnerschaft« zwischen den Schmuggler*innen und den Grenz- und Inlandspolizist*innen (Andreev 2016).

Die Stärkung des europäischen Sicherheitsmarktes, seine Suche nach neuen Absatzmärkten und die schrittweise Ausweitung von Sicherheitskontrollen wirken auch auf die EU zurück. Seit 2016 werden auf Initiative von Innenminister de Mazière biometriebasierte Datenbanken der EU-Sicherheitsbehörden zu einem „Kernsystem“ (Monroy 2016) zusammengeführt. Die Datenbanken sollen vorerst um durchsuchbare Gesichtsbilder von Asylsuchenden ergänzt werden, diese Fähigkeit kann aber jederzeit auch auf Unionsbürger*innen ausgeweitet werden. Die Bundespolizei nutzt so genannte »präventive erkennungsdienstliche Behandlungen«, bei denen von politischen Aktivst*innen die Fingerabdrücke genommen werden; Italien und Frankreich erlassen gegen Unionsmitbürger*innen aus dem No-Border-Spektrum Einreiseverbote. So wird die umfassende Überwachung auch in der EU selbst zunehmend zur Normalität.

Literatur

Akkermann, M. (2016): Border Wars II – An Update on the Arms Industry Profiting from Europe’s Refugee Tragedy, War and Pacification. Briefing December 2016. Amsterdam: Transnational Institute.

Andreev, A. (16.8.2016): Grenzpolizisten als Komplizen der Schleuser? Deutsche Welle; dw.com.

Azzeh, L. (16.3.2017): Army rises to Rakban camp challenge, security threats. Jordan Times.

Biermann, K. und Fuchs, C. (23.2.2017): 800.000 Euro für einen Terror-Airbag, der nie fertig wurde. ZEIT ONLINE. Der Text ist Teil des investigativen Rechercheprojektes »Security for Sale« (securityforsale.eu), das seit 2007 Daten der EU-Kommission über Fördermittel analysiert und Verflechtungen der Sicherheitsindustrie mit Politik und Wissenschaft untersucht [d.Red.].

Bundesministerium für Bildung und Forschung/BMBF (o.J.): Europäische Förderung zur Sicherheitsforschung; bmbf.de.

Business Wire (13.10.2016): Global UAV Drones Market Worth USD 21.23 Billion by 2022 – Analysis, Technologies & Forecasts – Vendors: 3DR, Aerovironment, BAE Systems – Research and Markets.

Deutsche Welle (19.3.2017): Gipfeltreffen zur Flüchtlingskrise in Rom. dw.com.

Deutscher Bundestag (3.2.2017): Anwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Sicherheitspolitische Kooperation mit der Regierung in Ägypten zur Migrationskontrolle und Grenzüberwachung. Drucksache 18/11098.

Deutscher Bundestag (7.3.2017): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Die Zusammenarbeit Deutschlands mit Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten. Drucksache 18/11389.

Europäische Kommission (25.5.2011): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel.

Europäische Kommission (7.6.2016): Pressemitteilung. Kommission stellt neuen Migrationspartnerschaftsrahmen vor – Zusammenarbeit mit Drittländern verstärken, um Migration besser zu steuern.

Europäische Kommission (18.11.2015): Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik.

Europäische Kommission (30.7.2012): Pressemitteilung. Sicherheitsbranche – Kommissionsvorschlag für ein Programm zur Wachstumsförderung.

Europäische Kommission (7.3.2017): Register of Commission Expert Groups and Other Similiar Entities, Horizon 2020 Protection And Security Advisory Group (E03010).

Europäischer Rat (16.9.2016): Erklärung von Bratislava.

German Foreign Policy (21.2.2017): Flüchtlingsabwehr in Nordafrika (I).

Global Information Inc.(29.7.2016): Radar Security Market by Surveillance Type (Ground, Air, Marine), Range (Long, Medium, Short), Appli­cation (Border Security, Seaport and ­Harbor, Critical Infrastructure), and Geography – ­Global Forecast to 2022. giiresearch.com.

Guerra, P.W. (9.12.2016): Durchsichtige Afrikaner – Mit Geld und Technologie aus Europa wird Afrika biometrisiert. tageszeitung.

Rheinteall Defence (ohne Datum): Türöffner zu neuen Märkten und Geschäftschancen.

Veridos (21.3.2016): Veridos Supplies Innovative Border Control Solution to the Kingdom of Morocco.

ZEIT ONLINE (11.12.2016): Jordanien – Deutschland liefert nicht nur Schützenpanzer.

Jacqueline Andres ist Politikwissenschaftlerin und Beirätin der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. ­militärische Landschaften und die Militarisierung der EU-Migrationspolitik.

Solidarische Städte – Städte der Zuflucht


Solidarische Städte – Städte der Zuflucht

von Dirk Vogelskamp

Um die aktuellen Flucht- und Wanderungsbewegungen über das Mittelmeer zu unterbinden und zu kontrollieren, werden seitens der Europäischen Union vermehrt und hektisch diplomatische Anstrengungen unternommen, afrikanische Regierungen, darunter despotische Regime, in die Migrationsabwehr einzuspannen. Dagegen ist Widerstand möglich, u.a. im weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities«.

Von der Europäischen Union wird eine vertiefte Zusammenarbeit (Migrationspakte) im Bereich der Migrationskontrolle und -steuerung mit einer Reihe von Herkunfts- und Transitstaaten in Afrika (u.a. Niger, Nigeria, Senegal, Mali, Äthiopien, Sudan, Tunesien, Ägypten, Libyen …) angestrebt. Acht Milliarden Euro werden dafür bis ins Jahr 2020 in Aussicht gestellt. Die jeweiligen Pakte zielen darauf, die unerwünschten Migrationsbewegungen einerseits bereits in den ausgewählten Regionen wirksam zu verhindern, also noch bevor sich Menschen auf der Flucht von den nordafrikanischen Küsten nach Europa aufmachen. Andererseits verfolgen sie den Zweck, Abschiebungen »irregulärer Migranten« in die Herkunfts- oder Transitstaaten weit umfänglicher als bisher zu ermöglichen (Rückübernahmeabkommen). Unverhohlen wird in neokolonialer Manier gedroht, notfalls auch handels- und entwicklungspolitische »Instrumente« einzusetzen, um migrationspolitisches Wohlverhalten zu erzwingen.

Mit diesen Abkommen sollen Schutzsuchende schon außerhalb Europas festgesetzt und an der Weiterwanderung gehindert werden. Der Nebeneffekt: Menschen auf der Flucht, Migrantinnen und Migranten, die unerträglichen Lebensbedingungen zu entkommen suchen, werden aus europäischer Perspektive unsichtbar gemacht. Ebenso werden dadurch die tatsächlichen Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migration, die, grob formuliert, in weltweit kapitalistisch betriebener und zwangsweise aufrecht erhaltener Ungleichheit liegen, ausgeblendet. Es ist ein »cash for migrants«-Programm, eingewickelt in humanitäre Phrasen und einen »Marshall-Plan mit Afrika«, das die europäische Öffentlichkeit vorsätzlich täuscht.

Politisch enger verzahnt werden Wirtschaftshilfe und Entwicklungsgelder mit dem europäischen Migrationsmanagement. Dazu gehört unter anderem die technische Grenzaufrüstung und die Ausbildung afrikanischer Grenztruppen. Durch diese Abschottungskooperationen wird der »Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz« auf afrikanisches Territorium ausgelagert. Zugleich steigen die Todeszahlen an Europas Außengrenzen weiter an: Im Jahr 2017 gelten bis Anfang März bereits 487 Menschen als tot oder vermisst.

In den Kontext dieser Abschottungskooperationen mit afrikanischen Regierungen gehört auch die von Innenminister de Maizière und dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Oppermann, lancierte Debatte um Auffanglager in Nordafrika, die bislang noch kontrovers geführt wird.

Eine Krise der Menschenrechte

»Die Menschenrechte«, denen sich die europäische Staatengemeinschaft nicht nur verpflichtet fühlen müsste, sondern die sich alle Staaten der EU rechtsverbindlich zur Grundlage ihrer eigenen Ordnung gemacht haben, werden angesichts der immensen Fluchtmigration obsolet. Denn was bleibt von »den Menschenrechten« im weltweiten Lager­universum, in dem jene zwangsweise ihr Leben zu fristen verdammt sind, die keine Aufnahme in Europa gefunden haben, keinen sozialen Ort finden, an dem die Grundlagen ihrer sozialen und politischen Existenz garantiert werden? Was bleibt von »den Menschenrechten«, von der Würde und der Freiheit all derjenigen, die zwangsweise aus Europa in ihre (vermeintlichen) Herkunftsstaaten deportiert werden, denen sie doch entfliehen wollten? Was ist mit den Menschen, die, Not und Elend, Krieg und Gewalt soeben entkommen, täglich, Jahr für Jahr, im Mittelmeer auch aufgrund europäischer Grenzsicherung ertrinken? Wer schützt ihre Menschenrechte? Die Brüchigkeit der liberalen Menschenrechtskonstruktion wird offensichtlich.

In den Menschen auf der Flucht, ganz gleich, aus welchen Gründen sie aufgebrochen sind, und in ihren Bedürfnissen nach einem sicheren und sozialen Ort kommt damit der Dissens zu den gegebenen nationalstaatlich geordneten Herrschaftsverhältnissen in einer durch abgrundtiefe Ungleichheit gespaltenen Welt zum Ausdruck. Sie sind die Subjekte der Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um die stets umstrittenen Menschenrechte. Es ist ihr Kampf um ein Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und einen sozialen Ort, an dem sie Gemeinschaft selbst- und mitbestimmend leben können. Und – hätten wir sie nicht zu unterstützen?

Was können wir tun?

Auch in Deutschland werden zurzeit viele Aktivistinnen und Aktivisten von dem weltweiten Netzwerk der »Sanctuary Cities« (Zufluchtsstädte/solidarische Städte) inspiriert. Das sind Städte und Gemeinden, die allen ihren Stadtbewohnern und Stadtbewohnerinnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und sich weigern, Repressionen gegen Migranten/Migrantinnen ohne Aufenthaltsrecht auszuüben oder an Abschiebungen mitzuwirken. Dabei werden Bündnisse von flüchtlingssolidarischen Aktionsgruppen teilweise mit kommunalen Verwaltungen, Gesundheitsbehörden, Schulen, Gewerkschaften und sogar Polizeiorganisationen geschlossen, die die Spaltung der Bürgerschaft in legale, »illegale« oder lediglich geduldete Bürgerinnen und Bürger nicht mitbetreiben wollen. Ein städtisches Existenzrecht für alle. Allein in den USA gehören bereits über 200 Städte und Bezirke dieser Bewegung an. Auch unsererseits wäre über das Menschenrecht auf einen sozialen Ort als unabdingbare Voraussetzung der Menschen- und Bürgerrechte verstärkt und neu nachzudenken.

Dirk Vogelskamp arbeitet als Referent im Komitee für Grundrechte und Demokratie zu den Schwerpunkten Flucht, Asyl, Migration und Menschenrechte.

Dieser Text erschien in einer leicht ge­­kürzten Fassung bereits in den »Informationen« 01/2017 (März) des Komitees für Grundrechte und Demokratie ­(grundrechtekomitee.de).

Wolf im Schafspelz


Wolf im Schafspelz

Welche Hilfe ist im Asylkontext hilfreich?

von Nadine Knab

„Wenn jeder dem anderen helfen wollte, wäre allen geholfen.“ Dieses Zitat der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach trifft keineswegs immer zu, besonders dann nicht, wenn die Hilfestellung zwischen unterschiedlichen Gruppen erfolgt, denn dann können bestimmte Formen von Hilfe zur Aufrechterhaltung von Machthierarchien führen. Der Artikel betrachtet die Rolle von Hierarchen bei der Interaktion zwischen Hilfegebenden und Hilfenehmenden im Asylkontext aus sozialpsychologischer Sicht.

Man erinnert sich noch leicht an die Bilder, die im Sommer 2015 veröffentlicht wurden: Menschen aus Deutschland heißen Geflüchtete mit Schokolade, Teddys und Blumen »Willkommen«; unzählige Menschen spenden Kleidung und helfen bei der Essensausgabe. Es scheint, diese Menschen sind motiviert, den Geflüchteten schnell zu helfen. Oder helfen sich diese Menschen letztlich nur selbst?

Hilfe und Hierarchie

Helfen wird von der Gesellschaft als positiv und sozial erwünscht angesehen. Wie kann es dann dazu kommen, dass Personen bestimmte Hilfsangebote ablehnen? Personen, die im Flucht- und Asylkontext arbeiten, werden häufig damit konfrontiert, dass ihre Tipps und Ratschläge von den Geflüchteten nicht angenommen werden. Es herrscht dann oft Unverständnis. Manchmal wird die Vermutung geäußert, die Geflüchteten seien einfach undankbar. Worin könnte dieses Verhalten begründet sein – in der Persönlichkeit der (aller) Ablehner*innen? Oder gibt es situationelle Umstände, die dazu beitragen?

Hilfsinteraktionen ist inhärent, dass die Gebenden Ressourcen zur Verfügung haben, die den Empfangenden zugute kommen können. Das heißt, zwischen einzelnen Personen besteht ein Machtungleichgewicht. Dieses Machtungleichgewicht kann z.B. in Form von physischer Überlegenheit (wenn eine erwachsene Person einem Kind hilft, etwas zu tragen), finanziellen Möglichkeiten (wenn Personen die Möglichkeiten haben, anderen Personen Geld zu spenden oder zu leihen) und im Flucht- bzw. Asylkontext auftreten, z.B. durch die eingeschränkten Sprachkenntnisse einer Person.

Hilfsinteraktionen kommen aber nicht nur zwischen einzelnen Personen, sondern auch zwischen Gruppen vor. Je nach Art der Interaktion kann dabei die Gruppenzugehörigkeit der Interagierenden sehr präsent sein. Sozialpsycholog*innen untersuchen seit ein paar Jahren Ursachen für und Reaktionen auf Hilfsangebote im Intergruppenkontext, insbesondere in Situationen, in denen eine privilegierte Gruppe Hilfe anbietet.

Unterschiedliche Formen von Hilfe

Neben dem Machtungleichgewicht, das in Hilfssituationen vorhanden ist, spielt zudem eine Rolle, ob Hilfe den Weg zur sozialen Gerechtigkeit ebnet, d.h. welche Art der Hilfe angeboten wird. Wie bereits angedeutet können bestimmte Formen von Hilfsverhalten dazu führen, bestehende Machtverhältnisse beizubehalten (Nadler 2002), und damit paradoxerweise langfristig zur Verschlechterung der Lage einzelner Personen oder Gruppen führen, denen Hilfe angeboten wird.

Es werden dabei zwei Arten von Hilfsangeboten unterschieden: abhängigkeitsorientierte Hilfe und autonomieorientierte Hilfe (vgl. Jackson und Esses 2000). Bei Ersterem wird die Lösung für ein Problem bereitgestellt, sodass die Abhängigkeit bei erneutem Auftreten des Problems wieder zutage tritt. Autonomieorientierte Hilfe hingegen versucht eher, die Werkzeuge an die Hand zu geben, um zukünftig selbst Probleme lösen zu können. Möchte man daher nur, dass die Geflüchteten mit genügend Kleidung und Nahrung versorgt sind, nicht aber auch mit Zugang zum Arbeitsmarkt, Sprachkursen, der Möglichkeit zur Teilhabe an kulturellen und politischen Ereignissen oder Entscheidungen, könnte es naheliegen, dass das Verhalten von einer Art Paternalismus geprägt ist. Unter Paternalismus versteht man eine nach außen positive Einstellung gegenüber Gruppen mit geringerem Status, die durch Dominanz und damit eine diskriminierende Haltung geprägt ist (vgl. Jackman 1994), was sich durch das Anbieten abhängigkeitsorientierter Hilfe zeigen kann. Ein Beispiel könnte im Asylkontext sein, wenn Geflüchteten statt Bargeld Gutscheine oder Sachleistungen zugesprochen werden, wie es im Sommer 2015 von einigen Politiker*innen gefordert wurde. Durch Gutscheine und Sachleistungen wird den Betroffenen jedoch das eigenständige Bestimmen über die Verwendung der finanziellen Mittel abgesprochen.

Die Form der Hilfe bestimmt daher oftmals, ob diese Hilfe angenommen wird oder nicht. Dieser Mechanismus kann mit Hilfe der Sozialen Identitätstheorie (Tajfel und Turner 1986) erklärt werden. Demnach sind wir bestrebt, eine positive Sicht auf uns und unsere Gruppe zu haben. Um zu einem Urteil zu gelangen, vergleichen wir uns dabei mit anderen Gruppen auf bestimmten Vergleichsdimensionen (z.B. Fähigkeiten, finanzielle Möglichkeiten, Status in der Gesellschaft). Personen einer Gruppe mit geringerem Status sind demnach mit zwei konkurrierenden Gedanken konfrontiert: zum einen mit der Motivation, ihre eigene Gruppe als positiv wahrzunehmen, zum anderen mit der Tatsache, dass die Bewertung ihrer Gruppe bei einem Vergleich mit der statushöheren Gruppe eher negativ ausfällt. Dabei kann allein schon die Hilfssituation an sich den Hilfesuchenden das Stigma von Abhängigkeit und Minderwertigkeit vermitteln (z.B. Nadler und Fisher 1986).

Personen, die dieses Machtungleichgewicht zwischen den Gruppen anerkennen, werden Hilfsangebote unabhängig von ihrer Art annehmen. Wenn der geringere Status internalisiert wurde, kann dies sogar soweit gehen, dass die statushöhere Gruppe positiver als die eigene bewertet wird (Sachdev und Bourhis 1987; Jost und Hunyady 2005). Wenn Personen dieses Machtungleichgewicht aber als nicht legitim ansehen, kann eine Möglichkeit darin bestehen, Hilfsangebote abzulehnen, um sich gegen dieses Machtungleichgewicht zu stellen. Somit kann die Ablehnung von Hilfe auch eine Art der Selbstermächtigung und eine Möglichkeit der Wiedererlangung einer positiven Gruppenbewertung darstellen.

Abhängigkeitsorientierte Hilfe: des Vorurteils kleine Schwester

Helfen ist daher nicht immer nur ein Zeichen von gutem Willen. Doch wann ist das Angebot abhängigkeits- oder autonomieorientierter Hilfe wahrscheinlicher?

Das Angebot abhängigkeitsorientierter Hilfe und offen geäußerte Vorurteile haben eine (von vielen verschiedenen) gemeinsame kausale Variable: die Wahrnehmung von Bedrohung. So konnten zum Beispiel Nadler et al. (2009) in zwei Studien zeigen, dass paradoxerweise der Gruppe mehr Hilfe angeboten wird, die als Bedrohung für die eigene Gruppe eingestuft wird. Diese Hilfe war allerdings nicht sensibel gegenüber dem Problem und damit der tatsächlichen Bedürftigkeit des/der Hilfesuchenden. Die Autor*innen erklären dies damit, dass die Gruppe, die sich bedroht fühlte, mit dem Hilfsangebot eine positive Wahrnehmung der eigenen Gruppe beibehält und gleichzeitig die Selbstermächtigung der anderen Gruppe verhindert.

Ähnliche Ergebnisse gibt es von Jackson und Esses (2000). Die Forscher*innen konnten nachweisen, dass Personen weniger bereit sind, Geflüchteten zur Selbstermächtigung oder autonomieorientierten Lebensweise zu verhelfen, wenn sie sich z.B. ökonomisch bedroht fühlen. In dieser Studie wurde den Teilnehmenden gesagt, dass es Immigrant*innen mit Erfolg geschafft hätten, Fuß auf dem kanadischen Arbeitsmarkt zu fassen. Die Teilnehmenden nahmen daher die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen auf dem kanadischen Markt für Personen, die bereits in Kanada wohnen, als geringer wahr als Teilnehmende der Studie, die die Information über die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration nicht erhalten hatten.

An einer weiteren Studie (Nadler et al., 2009) nahmen Schüler*innen einer prestigeträchtigen High School aus Israel teil. Ihnen wurde gesagt, dass sie und Schüler*innen einer anderen Schule Analogie-Aufgaben lösen sollten. Einem Teil der Schüler*innen wurde gesagt, dass die andere, weniger prestigeträchtige Schule in den letzten fünf Jahren in ihren Leistungen stets konstant geblieben war; einem anderen Teil wurde gesagt, dass die anderen Schüler*innen sich in den letzten fünf Jahren stetig verbessert hatten. Danach wurden die Analogie-Aufgaben gestellt. Den Schüler*innen der prestige-trächtigen Schule wurde dann gesagt, dass ein Schüler/eine Schülerin in der anderen Schule Schwierigkeiten bei der Lösung einiger Aufgaben habe. Sie hatten die Möglichkeit, dem anderen Schüler/der anderen Schülerin abhängigkeitsorientierte Hilfe (die gesamte Lösung einfach mitteilen), autonomieorientierte Hilfe (einen Hinweis zur Lösung geben) oder gar keine Hilfe anzubieten. Wenn zuvor die getrennte Gruppenzugehörigkeit bewusst gemacht worden war, boten die Teilnehmenden mehr abhängigkeitsorientiere Hilfe an.

Neben dem Befund, dass ein Gefühl der Bedrohung zum Angebot abhängigkeitsorientierter Hilfe führt, gibt es auch Indizien, dass nicht einmal eine Bedrohung empfunden werden muss, sondern der wahrgenommene Status des Hilfesuchenden schon bestimmt, welche Art von Hilfe angeboten wird. Wird dem/der Hilfesuchenden ein geringer Status zugesprochen, dann werden aufgrund von Attributionsprozessen (z.B. Weiner 2006) geringere Fähigkeiten als Ursache für das Hilfsgesuch vorausgesetzt und abhängigkeitsorientierte Hilfe angeboten (Nadler und Chernyak-Hai 2014). Das Hilfsgesuch von Personen aus einer statushohen Gruppe hingegen wird eher auf situationelle, veränderbare und externe Ursachen zurückgeführt, sodass diesen autonomieorientierte Hilfe angeboten wird.

Personen im ehrenamtlichen Kontext sollten sich daher regelmäßig die Frage stellen, welche Hilfe den Geflüchteten tatsächlich langfristig helfen kann, sich als selbstständiges, zugehöriges Individuum in den neuen Gegebenheiten zurechtzufinden.

Um Machthierarchien aufrechtzuerhalten, sind also nicht immer offen geäußerte Vorurteile notwendig – sozial erwünschtes Verhalten in Form von (abhängigkeitsorientierter) Hilfe zu zeigen, kann zum selben Ergebnis führen. Wenn Geflüchtete nur als Opfer gesehen werden, ohne eigene (politische) Gestaltungsmöglichkeiten, fungiert Hilfe als Methode zur Aufrechterhaltung des Machtungleichgewichts. Im Bereich der Entwicklungshilfe wird diese Form von positiv erscheinender Machtausübung schon seit langer Zeit diskutiert (z.B. Bauer 1993) – vor der eigenen Haustüre, bei der ähnliche Interaktionsmuster auftreten, noch zu wenig.

Literatur

Bauer, P. (1993): Development Aid – End It or Mend It. International Center for Economic Growth, Occasional Papers Nr. 43. Oakland, California: Ics Press.

Jackman, M. (1994): The Velvet Glove – Paternalism and Conflict in Gender, Class, and Race Relations. Berkeley: University of California Press.

Jackson, L.M. and Esses, V.M. (2000): Effects of Perceived Economic Competition on People’s Willingness to Help Empower Immigrants. Group Processes & Intergroup Relations, 3(4), S. 419-435.

Jost, J.T. and Hunyady, O. (2005): Antecedents and Consequences of System-Justifying Ideologies. Current Directions in Psychological Science, 14(5), S. 260-265.

Nadler, A. (2002): Inter-Group Helping Relations as Power Relations – Maintaining or Challenging Social Dominance Between Groups Through Helping. Journal of Social Issues, 58, S. 487-502.

Nadler, A. and Chernyak-Hai, L. (2014): Helping Them Stay Where They Are – Status Effects on Dependency/Autonomy-Oriented Helping. Journal of Personality and Social Psychology, 1, S. 58-72.

Nadler, A. and Fisher, J.D. (1986): The Role of Threat to Self-Esteem and Perceived Control in Recipient Reactions to Help – Theory Development and Empirical Validation. In L. Berkowitz (ed.): Advances in Experimental Social Psychology (Vol. 19). New York: Academic Press, S. 81-122.

Nadler, A.; Harpaz-Gorodeisky, G.; Ben-David, Y. (2009): Defensive Helping – Threat to Group Identity, Ingroup Identification, Status Stability, and Common Ingroup Identity as Determinants of Intergroup Helping. Journal of Personality and Social Psychology, 5, S. 823-834.

Sachdev, I. and Bourhis, R.Y. (1985): Social Categorization and Power Differentials in Group Relations. European Journal of Social Psychology, 15(4), S. 415-434.

Tajfel, H. and Turner, J.C. (1986): The Social Identity Theory of Intergroup Behavior. Psychology of Intergroup Relations, 5, S. 7-24.

Weiner, B. (2006): Social Motivation, Justice, and the Moral Emotions? An Attributional Approach. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.

Nadine Knab, Mitglied der W&F-Redaktion, ist Doktorandin im Themenbereich Friedenspsychologie an der Universität Koblenz-Landau im Fachbereich Psychologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei den Themen Interventionen bei Intergruppenkonflikten, soziale Gerechtigkeit und verschiedene Formen kollektiven Handelns.

Flüchtlings­verantwortung


Flüchtlings­verantwortung

Europäische Asylpolitik in der Krise

von Anna Lübbe

Die so genannte europäische Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der Zuordnung (Allokation) von Flüchtlingsverantwortung: Welcher Staat übernimmt das Asylverfahren und gewährt gegebenenfalls den Schutz und die weiteren in der Genfer Konvention vorgesehenen Rechte? Dürfen Flüchtlinge sich ihren Asylstaat aussuchen? In diesem Beitrag wird zunächst dargestellt, was die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zur Zuordnungsfrage sagt. Dann werden die Allokationsmechanismen des geltenden »Dublin-Systems« und die aktuellen Reformvorschläge der Europäischen Kommission diskutiert und bewertet.

Die 1951 verabschiedete GFK enthält kaum Bestimmungen darüber, welcher Vertragsstaat für welche Flüchtlinge die Verantwortung tragen soll.1 Der Notwendigkeit der Verantwortungsteilung war man sich aber bewusst, die Präambel mahnt zwecks Vermeidung unzumutbarer Belastungen für einzelne Staaten eine internationale Zusammenarbeit an.

Aus dem Flüchtlingsbegriff der GFK lässt sich immerhin ableiten, dass die Konvention nicht als völkerrechtliches Instrument konzipiert ist, das nur die Anrainerstaaten von Verfolgerstaaten (Erstaufnahmestaaten) in die Pflicht nimmt. Als Flüchtling ist nicht definiert, wer den Antragsstaat unmittelbar von einem Verfolgerstaat aus betritt, sondern wer sich irgendwo außerhalb seines Staatsangehörigkeitsstaates befindet und verfolgungshalber nicht in ihn zurückgeschickt werden kann. Die GFK geht davon aus, dass Flüchtlinge die vorgesehenen Gewährleistungen im Zweifel dort erhalten, wo sie sie nachfragen. Ein völkerrechtlicher Konsens, die GFK enthalte ein Recht der Betroffenen auf freie Wahl des Asylstaates, hat sich jedoch nicht etablieren können (Foster 2007, S. 235). Staaten können sich entscheiden, von der Zuordnung qua Antragsort durch Zuständigkeits- und Übernahmeabsprachen abzuweichen, also Allokationsregime zu errichten, die für die Betroffenen auch mit Zwangszuordnungen verbunden sein können.

Mangels Konsens über die Verantwortungsteilung haben sich in den Vertragsstaaten unterschiedliche Strategien und Missstände im Umgang mit realen oder befürchteten Überlastungen etabliert (Hathaway und Gammeltoft-Hansen 2015). Die Erstaufnahme- und Transitstaaten gewähren zwar zumeist Refoulement-Schutz,2 aber keine dauerhafte Lebensperspektive. In der Folge halten sich dort teils sehr viele Flüchtlinge auf, jedoch vielfach unter prekären Umständen. Die so genannten Fluchtzielstaaten, darunter Deutschland, tendieren dazu, die Weiterwanderung von Flüchtlingen von Erstaufnahme- und Transitstaaten aus als sekundäre Migration anzusehen und sich dagegen teils unter Einsatz enormer Ressourcen abzugrenzen. Verbreitet etablieren sich Mechanismen, irregulär ins Land gekommene Schutzsuchende rückwärts entlang der Fluchtrouten auf andere Schutzstaaten zurückzuverweisen.

In Zeiten steigenden Flüchtlingsaufkommens, wie aktuell, tendiert der Allokationskonflikt dazu, in unilateralen Abwehrmaßnahmen zu eskalieren. Es kommt vermehrt zu Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Schutzsuchenden, zu Refoulement-Verstößen, unverhältnismäßigen Inhaftierungen, Versorgungsmissständen und »in orbit«-Situationen.3 Zäune werden gebaut, Aufnahme- und Verfahrensstandards werden gesenkt, und Forderungen nach der Setzung nationaler Obergrenzen greifen um sich.

Das Dublin-System

Die Allokation im so genannten Dublin-System ist von ihrem Ursprung im Schengen-Recht4 her nicht solidarisch, sondern sicherheitsorientiert konzipiert. Im Zuge des Abbaus der Binnengrenzen sollte die Grenzsicherung an den Außengrenzen des Kooperationsraumes intensiviert werden. Dazu passt das im Dublin-System vorherrschende Ersteintrittsprinzip: Für den Umgang mit Drittstaatlern soll derjenige Staat verantwortlich sein, der sie in den Kooperationsraum hineingelassen hat. Als Zuordnungsprinzip für Flüchtlingsverantwortung taugt das nicht: Die Staaten dürfen Asylantragsteller*innen nicht zurückweisen, und ohne Bereitstellung regulärer Zugangsmöglichkeiten mindestens für die Schutzbedürftigen unter den Migrant*innen ist die Abwehr irregulärer Migration auch nicht uneingeschränkt legitim.

Im Zuge der Erweiterungen der Europäischen Union, der Supranationalisierung des Asylrechts auf der Grundlage des Vertrags von Amsterdam (1999) und der Reform des Dublin-Systems zur Dublin-III-Verordnung (2013) blieb es bei der Herrschaft des Ersteintrittsprinzips. Es lag im Interesse der einflussreicheren, nicht am südlichen und östlichen Rand des Kooperationsraumes gelegenen Mitgliedstaaten, die Asylverantwortung von sich fernzuhalten und die Randstaaten des Dublin-Raumes zur Abgrenzung nach außen anzuhalten. So ist der Allokationskonflikt mit seinen prekären, kompetitiven Abgrenzungsstrategien an den Außengrenzen des Kooperationsraumes umso schärfer hervorgetreten – mit tödlichen Folgen für viele Tausend Schutzsuchende.

Effizient realisieren ließ sich das Dublin-System bekanntlich nicht (Lübbe 2015). Ungeachtet aller Abgrenzungsbemühungen kommen Schutzsuchende in großer Zahl auf irregulären Wegen nach Europa. Die überproportional belasteten Ersteintrittsstaaten boykottierten das System, indem sie ankommende Schutzsuchende weiterwandern ließen, statt sie zu registrieren. Und die Schutzsuchenden folgen nicht den Zwangszuordnungen des Dublin-Systems, sondern ihren Verbindungsinteressen und Lebenschancen. Die irregulären Dublin-Realitäten führen zu aufwendigen behördlichen und gerichtlichen Mehrfachbefassungen und werfen eine Fülle schwieriger Rechtsfragen auf. Insgesamt kann man sagen, dass sich das europäische Allokationsregime, das als knappes Vorverfahren vor dem Asylverfahren im jeweils zuständigen Staat gedacht war, zum bürokratischen Wasserkopf des Asylverfahrens entwickelt hat, soweit es nicht – von Anfang an und verstärkt unter der Krise – dem Vollzugsdefizit anheimfiel.

Kritik und Reformüberlegungen insbesondere zur Lastenteilung haben die europäische Asylkoordination stets begleitet. An Vorschlägen ist neben der freien Asylwahl und Varianten einer Zuordnung nach Länderquoten die Einräumung europäischer Freizügigkeit für die Anerkannten unter den Schutzsuchenden zu nennen (Sachverständigenrat 2015, S. 61ff). Keiner dieser Vorschläge wurde aufgegriffen. Noch bei der 2014 in Kraft getretenen Reform zur Dublin-III-Verordnung gab es nur unwesentliche Veränderungen des Bisherigen. Verspätete Bemühungen der EU-Kommission, während der Krise über die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie und über Umverteilungen doch noch mehr Lastenteilung zu realisieren, scheiterten bzw. kamen mangels Beteiligungsbereitschaft kaum voran.

Reformvorschläge der EU-Kommission

In Reaktion auf die Krise entwickelt die EU derzeit neue Strategien (Europäische Kommission 2016). Die Lastenteilung innerhalb des Dublin-Raumes soll durch einen Umverteilungsmechanismus erreicht werden, der automatisch einsetzt, wenn ein Mitgliedstaat gemessen an einem relativen Soll, das sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientiert, über 150 % Anträge zu verzeichnen hat. Die Asylkooperation innerhalb Europas soll durch Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten ergänzt werden, auf deren Basis möglichst alle irregulär in Europa ankommenden Schutzsuchenden an außereuropäische Transitstaaten zurückverwiesen werden sollen.

Dem Vorschlag liegt die Idee zugrunde, dass Europa Flüchtlinge künftig möglichst kontingentweise und kontrolliert aufnehmen soll. Dass Schutzsuchende irregulär nach Europa kommen, soll weiterhin und verstärkt verhindert werden. Wer dennoch durchdringt, soll im Ersteintrittsstaat aufgefangen und mit seinem inhaltlich ungeprüften Schutzgesuch von den außereuropäischen »Migrationspartnerstaaten« zurückgenommen werden. Zu den auszuhandelnden Gegenleistungen kann neben finanzieller Unterstützung des Kapazitätsaufbaus vor Ort auch die kontingentweise Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem außereuropäischen Ausland (Resettlement)5 gehören. Einmal angenommen, diese Strategie ließe sich für alle großen Zugangsrouten realisieren, liefe das für Europa auf eine Art Obergrenze hinaus, die ich im Unterschied zu Obergrenzen im nationalen Alleingang »kooperative Obergrenze« nennen möchte. Sie funktioniert nicht mit (innereuropäischen) Grenzzäunen, Wasserwerfern und Tränengas, sondern mit »Hotspot-Lagern«, Schnellverfahren und Rückführungen.

Für die Aufnahme von Resettlement-Kontingenten aus dem außereuropäischen Ausland, speziell aus Staaten, die unstreitig weit belasteter sind als Europa und in denen sich Schutzbedürftige unter dauerhaft nicht erträglichen Umständen aufhalten, spricht viel. Fluchtmigration im Rechtssinne ließe sich dabei besser von der sonstigen Migration trennen und in geordnetere, weniger aufwendige und kalkulierbarere Bahnen lenken. Auch fielen die aufwendigen Zuordnungs- und Asylverfahren und damit integrationsschädlich lange Phasen des prekären Aufenthalts weg. Den Ausgewählten würde diese Form des Zugangs lebensgefährliche Fluchtwege und Investitionen in Fluchthelfer ersparen. Und sie eröffnete gerade auch jenen eine Chance, die besonders dringend eine brauchen, weil sie es aus eigener Kraft bis zu einem für sie erträglichen Schutzort nicht schaffen. Schließlich ließe sich so vermeiden, dass durch die Flucht Familien zerrissen werden, denn die würde man als Ganze aufnehmen. Wenn solche regulären Zugangswege in relevantem Ausmaß zur Verfügung stünden, würde gewiss auch mancher Flüchtling, der zunächst nicht ausgewählt wurde, eher noch auf seine Chance warten, als es auf irregulärem Weg zu versuchen. Dadurch ließe sich das Migrationsgeschehen in ruhigere Bahnen lenken, anstelle von Wellen, die möglicherweise nicht nur auf akut schwankenden Schutzbedarfen, sondern auch auf selbstverstärkenden Mechanismen beruhen und die grundsätzlich vorhandene Aufnahmekapazitäten überlasten und -bereitschaften kippen lassen können.

Problematisch ist allerdings die Vorstellung, die Asylverantwortung ließe sich durch die Rückverweisung irregulär ankommender Schutzsuchender an außereuropäische Transitstaaten auf humane, effiziente und solidarische Weise im Wesentlichen auf die kontrolliert aufgenommenen Personen begrenzen. Ein umfangreiches Rückverweisungsregime in Hotspots am Rande Europas wäre auf menschenrechtsgerechte Weise wohl kaum zu realisieren (Markard und Heuser 2016). Und die Einordnung insbesondere der Türkei als tauglicher Verweisungszielstaat ist bis auf Weiteres mit zwingenden, in der Asylverfahrensrichtlinie niedergelegten Voraussetzungen unvereinbar (Peers 2016; Marx 2016).

Bedenken gegen die vorgeschlagene Reform bestehen auch im Hinblick auf die Familieneinheit. Zwar ist zu begrüßen, dass im Entwurf für eine neue Dublin-Verordnung die Relevanz familiärer Beziehungen für die Zuordnung auf Geschwisterbeziehungen und auf Beziehungen erweitert werden soll, die auf der Flucht eingegangen wurden. Jedoch geht in dem Entwurf die Rückführung in Länder außerhalb Europas solchen Zuordnungen zwingend vor. Dass dabei keinerlei Rücksicht auf familiäre Verbindungen in Europa genommen werden soll, ist mit dem Menschenrecht auf Familienleben unvereinbar (Lübbe 2017a).

Positiv ist zu bewerten, dass künftig Schutzsuchenden von Anfang an ein Rechtsbeistand gestellt werden soll. Das effizienzsteigernde Potential von mehr Verfahrensgerechtigkeit anstelle der Reduktion von Verfahrensrechten wird bisher verkannt. Hinsichtlich der Verteilung setzt das neue europäische System indessen nicht auf eine möglichst kooperative und interessengerechte Zuordnung, sondern auf Repression. Die Weiterwanderung Schutzsuchender soll mit drastischen Sanktionen unterbunden werden. Es ist zweifelhaft, ob sich die Zuordnungen auf diese Weise effizient realisieren lassen werden, zumal wenn die Gerichte nach und nach die menschenrechtlichen Grenzen der Anwendung dieser Vorgaben auf die entstehenden Realitäten herausarbeiten.

Im Hinblick auf die Lastenteilung wäre der innereuropäische Umverteilungsmechanismus ein Fortschritt. Inwieweit er allerdings Anwendung findet, hängt davon ab, in welchem Umfang es angesichts der zwingend vorrangigen Rückführungen an außereuropäische Transitstaaten noch zu innereuropäisch zu verteilenden Zugängen käme. Bei einer Überlastung der Ersteintrittsstaaten dürfte es jedenfalls bleiben. Der Ersteintrittsstaat muss vor der Dublin-Zuordnung prüfen, ob das Schutzgesuch auf einen außereuropäischen Staat verwiesen werden, wegen Zugehörigkeit des Betroffenen zu einem so genannten sicheren Herkunftsstaat im Schnellverfahren abgehandelt oder aus Sicherheitsgründen abgelehnt werden kann. Nur Gesuche, bei denen all das nicht der Fall ist, kämen überhaupt noch in das innereuropäische Zuordnungsverfahren.

Global gesehen wäre die kontingentierte Aufnahme Schutzbedürftiger aus dem Ausland an und für sich ein Kristallisationskeim für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Idee der »geteilten Verantwortung« würde aber zur »verschobenen Verantwortung« pervertiert, würde das Resettlement künftig davon abhängig gemacht, dass die begünstigten Staaten in großem Stil irregulär zugewanderte Schutzsuchende zurücknehmen. Es ist nicht der Sinn des Resettlement, »kooperative Obergrenzen« für hoch entwickelte Regionen durchzusetzen.

Fazit

Eine kooperative Lösung für das Allokationsproblem ist unabdingbar, wenn der Dublin-Raum nicht in einem eskalierenden Abgrenzungswettbewerb ins Inhumane zerfallen soll. Der Lösungsversuch der EU-Kommission enthält positive Ansätze zu mehr innereuropäischer Lastenteilung, stellt sich aber zugleich als Steigerung der das europäische Asylregime ohnehin prägenden Tendenzen dar, die Lasten nach Kräften zu externalisieren. Das ist keine nachhaltige Strategie und verweist auf die Notwendigkeit, die Allokation von Flüchtlingsverantwortung global zu denken (Lübbe 2017b, sub IV.5.). Ein Anreiz für eine global gerechtere Lastenteilung könnte die Überzeugung sein, dass Humanität und Solidarität Werte sind, die zu achten sich auch deshalb lohnt, weil von Fluchtursachen bzw. Überforderung in anderen Zeiten andere Menschen bzw. Staaten betroffen sein können. Der Aufbau eines humanen und effizienten, globalen Regimes zur Allokation von Flüchtlingsverantwortung wird wohl ein längerer Prozess werden. Den im Zuge dieser Umstellung zu Tage tretenden inneren und äußeren Konflikten wird man sich stellen müssen.

Anmerkungen

1) Zuordnungsregeln sind in der GFK insofern enthalten, als Schutzbedürftige, die innerhalb ihres Heimatstaates oder in einem Staat einer weiteren Staatsangehörigkeit Schutz finden können, vom Konventionsflüchtlingsschutz ausgenommen sind (Art. 1(A)2 GFK), ebenso Menschen, die sich in einem Staat mit Rechten wie Staatsangehörige aufhalten (Art. 1(E) GFK). Eine negative Zuordnungsregel ist das Refoulement-Verbot (Art. 33 GFK), das nicht nur die Verweisung der Schutzbedürftigen auf den verfolgenden Heimatstaat, sondern auch auf jeden anderen Verfolgerstaat verbietet.

2) Refoulement-Schutz ist die Nicht-Zurückweisung in Verfolgerstaaten oder Staaten, die ihrerseits in Verfolgerstaaten abzuschieben drohen.

3) Als »refugee in orbit« bezeichnet man einen Flüchtling, der nirgends Zugang zu einem Anerkennungsverfahren und zu den Statusrechten findet.

4) Zum Schengen-Raum gehören bis auf Großbritannien und Irland und die Teilanwender Bulgarien, Rumänien, Zypern und Kroatien sämtliche EU-Staaten sowie die Nicht-EU-Staaten Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island.

5) Zum Ausbau des Resettlement enthalten die Reformvorschläge allerdings nichts Verbindliches, die Realisierung wird von der Bereitschaft der einzelnen Mitgliedstaaten abhängen. Immerhin besteht insofern ein Anreiz, als Resettlement-Aufnahmen auf den innereuropäischen Lastenteilungsmechanismus angerechnet werden sollen.

Literatur

Europäische Kommission (2016): Vollendung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – eine effiziente, faire und humane Asylpolitik. Pressemitteilung, 13. Juli 2016.

Foster, M. (2007): Protection Elsewhere – The Legal Implications of Requiring Refugees to Seek Protection in Another State. Michigan Journal of International Law, 28(2), S. 223-286.

Hathaway, J.C. and Gammeltoft-Hansen, T. (2015): Non-Refoulement in a World of Co­­operative Deterrence. Columbia Journal of Transnational Law 52(2), S. 235-84.

Lübbe, A. (2015): Zur Reform des Europäischen Asylzuständigkeitssystems. Vortrag beim Georg-August-Zinn-Forum 2015 der ASJ/SPD, 11. Juli 2015, Frankfurt am Main; fluechtlinge-mtk.de/uploads/infos/104.pdf.

Lübbe, A. (2017a): Migrationspartnerschaften – Verweisung auf Transitstaaten ohne Rücksicht auf die Familieneinheit? Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 2017/1, S. 15.

Lübbe, A. (2017b): Allokation von Flüchtlingsverantwortung. Jahrbuch für Recht und Ethik, i.E..

Markard, N. und Heuser, H. (2016): Möglichkeiten und Grenzen einer menschenrechtkonformen Ausgestaltung von sogenannten »Hotspots« an den europäischen Außengrenzen. Gutachten, Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg, Stand 4. April 2016.

Marx, R. (2016): Rechtsgutachten zur unionsrechtlichen Zulässigkeit des Plans der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, die Türkei als sicherer Drittstaat zu behandeln. im Auftrag von Pro Asyl, 14. März 2016.

Peers, S. (2016): The final EU/Turkey refugee deal – a legal assessment. eulawanalysis.blogspot.de, 18. March 2016.

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015): Unter Einwanderungsländern – Deutschland im internationalen Vergleich. Jahresgutachten 2015; svr-migration.de.

Anna Lübbe, Juristin und Mediatorin, ist Professorin für Öffentliches Recht und ADR an der Hochschule Fulda. Unter anderem zu den in diesem Beitrag behandelten Fragen hat sie 2016 für das Jahresgutachten 2017 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration eine Expertise geschrieben.

Die Fluchtkrise


Die Fluchtkrise

Sozialpsychologische Analysen und Implikationen

von Ulrich Wagner und Patrick F. Kotzur

Mit dem Anwachsen der Geflüchtetenzahlen im Sommer 2015 ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch Deutschland. Gleichzeitig gab es durchgängig auch ablehnende Stimmen, die sich gegen Geflüchtete und für Begrenzungen aussprachen. Dieser Beitrag diskutiert einige sozialpsychologische Mechanismen im Zusammenhang mit der Debatte um Flucht und Geflüchtete sowie politische und gesellschaftliche Implikationen, die sich daraus ergeben.

Die Welt in Kategorien einzuteilen, ist eine wichtige und grundlegende Fähigkeit, die hilft, den Alltag zu gestalten: Wie selbstverständlich ordnen wir Reize unserer Umwelt ein und reagieren entsprechend. Wir stellen z.B. fest: Ein Gegenstand nähert sich, kategorisieren ihn als Auto und bleiben stehen.

Kategorisierung

Kategorisierung ist aber auch eine wesentliche Grundlage von Stereotypisierung, Vorurteilen und Diskriminierung. Kategorisierung, so hilfreich und notwendig sie ist, führt auch zu Fehlschlüssen, z.B. übermäßiger Homogenisierung: Menschen innerhalb einer Kategorie werden als zueinander sehr viel ähnlicher wahrgenommen, als sie tatsächlich sind. »Flüchtlingen« werden gemeinsame Eigenschaften, Stereotype, zugeschrieben, die sie als Einzelpersonen nicht zwangsläufig besitzen. Stereotype über Personengruppen gehen oft auf (negative) Erfahrungen mit Einzelmitgliedern zurück, die wir auf die gesamte Gruppe generalisieren. Manchmal reicht es dafür schon, vom negativem Verhalten eines Gruppenmitglieds gehört oder in der Presse gelesen zu haben.

Stereotype über Gruppen knüpfen häufig an existierende gesellschaftlich geteilte Vorstellungen über Gruppen an, wie das Bild des angeblich bedrohlichen schwarzen Mannes – ein Stereotyp, das vermutlich zur Rechtfertigung der europäischen Eroberung Afrikas entwickelt wurde (Fredrickson 2002). Die (lancierte) Geschichte einer Straftat eines einzelnen afrikanischen Geflüchteten fällt damit auf fruchtbaren Boden; sie deckt sich mit dem, was man sowieso schon zu wissen glaubte, möglicherweise fernab der Realität (vgl. Gehrsitz and Ungerer 2017).

Fazit

Vorsicht bei der Betonung von Gruppenmitgliedschaften, vor allem, wenn es sich um negative Verhaltensweisen Einzelner handelt. Ist es zum Beispiel für Rezipient*innen einer politischen Botschaft oder eines Presseberichts wirklich wichtig zu wissen, ob es sich bei einem Strafverdächtigen um eine Person mit Migrationshintergrund handelt? Ist der Migrationshintergrund für die Einordnung der Tat von Bedeutung (z.B. durch Marginalisierung motivierte Taten) oder nicht (z.B. auf andere Motive rückführbare Straftaten, wie Affekt)? Wenn nicht, sollte darauf verzichtet werden, um negative Folgen unnötiger Generalisierungen zu vermeiden. Der Pressekodex des Presserates forderte bis vor Kurzem sehr richtig, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen und Straftäter*innen zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt werden soll, wenn ein begründbarer Sachbezug zur Tat besteht.

Gruppenmitgliedschaften und Eigengruppenaufwertung

Von besonderer Bedeutung sind Kategorisierungen, bei denen wir selbst einer der Kategorien zugehören. Wir neigen dazu, »unsere« Gruppe auf- und »fremde« Gruppen abzuwerten. Dieses Phänomen der Eigengruppenbevorzugung geht nach der Theorie der sozialen Identität (Tajfel 1978) auf zwei Prozesse zurück: Erstens sind Gruppenmitgliedschaften identitätsstiftend. Zweitens streben wir nach einer positiven Identität. Die Abwertung anderer dient der Aufwertung der eigenen Gruppe und somit uns selbst. Eine Voraussetzung für Eigengruppenbevorzugung ist, dass wir uns mit einer zugeschriebenen Gruppenmitgliedschaft identifizieren (Wagner und Butenschön 2014; Wagner et al. 2012). Eine zweite Voraussetzung ist, dass diese Gruppenzugehörigkeit in einer Situation von Bedeutung, d.h. salient, ist: Ein Gespräch mag ruhig verlaufen, bis die Gesprächspartner*innen feststellen, dass sie unterschiedlichen Nationalitäten angehören. Die saliente Nationalität wird somit urteils- und verhaltenswirksam.

Fazit

Bestimmte Gruppenmitgliedschaften hervorzuheben sollte vermieden werden, da die Gefahr besteht, dass Menschen, die diese Mitgliedschaft nicht teilen, abgewertet werden. Nationalismus birgt genau diese Gefahr.

Ressourcenkonflikte

Kategorisierung wird besonders dann erlebens- und verhaltensrelevant, wenn Gruppenmitglieder glauben, mit anderen Gruppen in Konflikte um materielle oder kulturelle Ressourcen eingebunden zu sein (Sherif and Sherif 1969), z.B. um Wohlstand, Wohnraum, Arbeitsplätze oder auch um »Leitkultur«. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung eines Konflikts hinreichend.

Fazit

Auseinandersetzungen um vermeintliche Konflikte um Ressourcen zwischen einheimischer Bevölkerung und Geflüchteten sind zu vermeiden. Sachverhalte sollten richtiggestellt und alternative, sachlich korrekte Narrative gemeinsamen Nutzens angeboten werden, wie z.B. Möglichkeiten des Erhalts gefährdeter Infrastruktur im ländlichen Raum oder der gemeinsamen Entwicklung einer weltoffenen Gesellschaft.

Konditionierung von Emotionen

Beziehungen zwischen Gruppen verschlechtern sich besonders dann, wenn Fremdgruppen mit negativen Emotionen, z.B. Angst, verknüpft werden (Stephan and Renfro 2002). Angst kann durch Einzelereignisse konditioniert werden. Dabei ist es ausreichend, von angstauslösenden Ereignissen nur indirekt zu erfahren, beispielsweise durch Medien (Paterson et al., in prep). Außerdem kann Angst, z.B. vor einem Attentäter, auf andere Menschen generalisieren, die dem Attentäter ähnlich erscheinen, im Fall des Berliner Weihnachtsmarktanschlags 2016 auf andere Geflüchtete. Angst mündet in Vermeidungs- und Rückzugsverhalten und wird damit sowohl für die Ängstlichen als auch für die Gemiedenen problematisch. Angst kann in Hass umschlagen. Dies scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn sich mehrere Menschen gegenseitig von ihrer Ablehnung gegen Fremde und deren vermeintlichem Fehlverhalten überzeugen. Hass führt zur Attacke und zu Gewalt gegen das Hassobjekt, also gegebenenfalls gegen Menschen, die Geflüchteten ähneln (Wagner and Christ 2007).

Fazit

Angst- und Vermeidungsspiralen können negative Folgen für alle Beteiligten mit sich bringen und Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung verstärken. Was hilft? Eine Möglichkeit besteht darin, über die Gründe der eigenen Angst zu reflektieren und sich deren mangelnder Rationalität bewusst zu werden.

Politische Instrumentalisierung

Wir können mit Unsicherheit nur schwer umgehen (Festinger 1954). Deshalb suchen wir nach Antworten, auch auf die Frage, wie mit Veränderungen im Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingskrise umgegangen werden soll. Demagog*innen verstehen es, durch das Streuen von Gerüchten und durch die Übertreibung von Gefährdungslagen die Aufmerksamkeit Verunsicherter auf sich und ihre Argumente zu lenken – um sich dabei gleichzeitig als Lösung für die selbst heraufbeschworene Bedrohung anzubieten.

Zum einen führt das Heraufbeschwören von Bedrohung zu konservativeren Einstellungen und zur vehementeren Ablehnung von Unbekanntem (Burke et al. 2013). Zum anderen wollen wir unsere einmal gefassten Überzeugungen bestätigen (Festinger1954). Wenn wir verunsichert sind, suchen wir daher nicht nach Informationen, die diese Befürchtungen eindämmen könnten, sondern nach solchen, die unsere Erklärungen für die gefühlte Bedrohung bestätigen. Soziale Netzwerke unterstützen die Abkapselung und die Ausgrenzung von Andersdenkenden (Del Vicario et al. 2016), was sich auch in der »Lügenpresse«-Debatte artikuliert.

Fazit

Der Verbreitung falscher Informationen über Fremdgruppen muss entschieden entgegengetreten werden. Politisch Verantwortliche müssen Lösungsstrategien nachvollziehbar begründen und breit kommunizieren.

Gegenmaßnahmen: Sanktionierung, Information und Kontakt

Strafrechtlich relevante Ausgrenzung von Fremdgruppen, wie Hasskriminalität, muss sanktioniert werden. Sanktionierung stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn die Ablehnung die Schwelle der Strafbarkeit nicht überschreitet.

Zwei Strategien sind besonders effizient, um gegen Stereotypisierung, Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen: Informationskampagnen und Kontaktprogramme. Informationskampagnen sind vor allem dann effektiv, wenn sie empathisch auf die benachteiligte Situation der Ausgegrenzten hinweisen (Lemmer and Wagner, in prep). Kontakt zwischen Mitgliedern von Gruppen, die einander ablehnen, führt ebenfalls effektiv zur Reduktion von Vorurteilen (Pettigrew and Tropp 2006; Lemmer and Wagner 2015), wenn er nicht unter äußerst ungünstigen Bedingungen stattfindet. Kontakt führt zum Abbau negativer Emotionen, vermittelt Kenntnisse über die andere Gruppe und ermöglicht, Empathie zu entwickeln und damit Kategoriengrenzen zu entschärfen.. Kontakterfahrungen erlauben auch einen neuen und aufgeklärteren Blick auf die eigene Gruppe (Pettigrew and Tropp 2008). Es gibt eine Reihe von Kontaktinterventionen, die gezielt Kontakte zwischen Geflüchteten und Einheimischen initiieren, um auf diesem Wege Vorurteile zu reduzieren (Lanphen 2011).

Gerade diejenigen, die fremde Gruppen besonders ablehnen, vermeiden anderslautende Informationen und Kontakte (Kauff et al. 2013). Hilfreich ist daher, wenn die stark Ablehnenden feststellen, dass in ihrem Umfeld durchaus Kontakte mit der jeweils anderen Gruppe gepflegt werden und Offenheit der Gesellschaft zur sozialen Norm gehört (Brune et al. 2016).

Fazit

Gesetzesübertretungen bedürfen der Verfolgung und Sanktionierung. Kampagnen gegen Falschinformationen helfen, der Ausbildung von Übergeneralisierungen entgegenzuwirken. Informationskampagnen gegen abgeschlossene Echoräume im Internet erfordern allerdings einen langen Atem. Kontakte mit Mitgliedern fremder Gruppen helfen ebenfalls, Vorurteile abzubauen. Das setzt Kontaktmöglichkeiten voraus. Notwendig sind z.B. kleine Unterbringungseinheiten für Geflüchtete in den Gemeinden, die Kontakt mit dem Umfeld erlauben. Ghettos sind aus der Perspektive der Kontakttheorie schädlich.

Integration

Integration ist eine Form des Zusammenlebens, die es Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ermöglicht, gemeinsame Kulturstandards zu entwickeln. Wenn sich lediglich eine Gruppe einer anderen anpassen soll, spricht man von Assimilation (Berry 1997). Die gegenwärtige politische Diskussion dreht sich häufig um die Assimilation von Geflüchteten an die Mehrheitsgesellschaft in Sprache, Bildung und Ausbildung. Die Forderung nach der Einhaltung des Grundgesetzes und der Menschenrechte ist ebenfalls eine Forderung nach Assimilation – nach unserer Auffassung berechtigt. Darüber hinaus gibt es aber einen breiten Spielraum der Gestaltung einer Einwanderungsgesellschaft, die gemeinsam ausgehandelt werden sollte, wie beispielweise Antworten auf Fragen nach der Gestaltung von Religionsunterricht oder von Feiertagen.

Fazit

Die Förderung interkultureller Kompetenz auf allen Seiten ist das hervorragende Bildungsziel. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion darüber, in welchen Lebensbereichen die Assimilation an einheimische Vorstellungen eine legitime Forderung ist und wo gemeinsam integrative Ziele neu entwickelt werden können.

Radikalisierung

Nährboden für Radikalisierung und Terrorismus sind Gefühle ungerechtfertigter Ausgrenzung, kombiniert mit der politischen oder religiösen Legitimation, gegen diese Ausgrenzung mit Gewalt vorgehen zu dürfen (Moghaddam 2004). Integrationsangebote, welche der Ausgrenzung entgegenarbeiten und die Schaffung einer gemeinsamen sozialen Identität bestärken, gehören daher zu den besten Maßnahmen primärer Prävention von Radikalismus und Terrorismus.

Fazit

Benachteiligung und Diskriminierung müssen reduziert werden, die – gerechtfertigt oder nicht – als Rechtfertigung für Radikalisierung herhalten. Unsicherheiten, wie lange Phasen eines unsicheren Aufenthaltsstatus, sind zu vermeiden. Vorübergehende Aufenthaltsrechte, z.B. zur eigenen Weiterqualifikation, wären auch bei zweifelhaftem Asylstatus eine Maßnahme zur Erhöhung der inneren Sicherheit.

Literatur

Berry, J. (1997): Immigration, acculturation and adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-34.

Brune, A.; Asbrock, F.; Sibley, C.G. (2016): Meet your neighbours – Authoritarians engage in intergroup contact when they have the opportunity. Journal of Community & Applied Social Psychology, 26(6), S. 567-580.

Burke, B.L.; Kosloff, S.; Landau, M.J. (2013): Death goes to the polls – A meta-analysis of mortality salience effects on political attitudes. Political Psychology, 34(2), S. 183-200.

Del Vicario, M.; Bessi, A.; Zollo, F.; Petroni, F.; Scala, A.; Caldarelli, G.; Quattrociocchi, W. (2016): The spreading of misinformation online. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(3), S. 554-559.

Festinger, L. (1954): A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, S. 117-140.

Fredrickson, G.M. (2002): Racism – A short history. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Gehrsitz, M. and Ungerer, M. (2017): Jobs, crime, and votes – A short-run evaluation of the refugee crisis in Germany. Bonn: IZA – Institute of Labor Economics; IZA Discussion Paper No. 19414.

Kauff, M.; Asbrock, F.; Thörner, S.; Wagner, U. (2013): Side effects of multiculturalism – The interaction effect of multicultural ideology and authoritarianism on prejudice and diversity beliefs. Personality and Social Psychology Bulletin. 39, S. 305-320.

Lanphen, J. (2011): Kooperatives Lernen und Integrationsförderung – Eine theoriegeleitete Intervention in ethnisch heterogenen Schulklassen. Münster: Waxmann.

Lemmer, G. and Wagner, U. (2015): Can we reduce prejudice outside the lab? A meta-analysis of direct and indirect contact interventions. European Journal of Social Psychology, 45, S. 152-168.

Lemmer, G. and Wagner, U. (in prep): The benefits of walking in the shoes of an outgroup – A meta-analysis of information interventions to reduce ethnic prejudice.

Moghaddam, F. (2004): Cultural preconditions for potential terrorist groups – Terrorism and societal change. In: Moghaddam, F. and Marsella, A. (eds.): Understanding terrorism. Washington DC: American Psychological Association, S. 103-117.

Paterson, J.; Brown, R.; Walters, M.; Carrasco, D. (in prep): Feeling others’ pain – Indirect effects of hate crime in two victimized communities.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2006): A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90, S. 751-783.

Pettigrew, T. and Tropp, L. (2008): How does intergroup contact reduce prejudice? Meta-analytic tests of three mediators. European Journal of Social Psychology, 38, S. 922-934.

Sherif, M. and Sherif, C.W. (1969): Social psychology. New York: Harper & Row.

Stephan, W.G. and Renfro, C.L. (2002): The role of threat in intergroup relations. In: Mackie, D.M. and Smith, E.R. (eds.): From prejudice to intergroup relations. New York: Psychology Press, S. 191-207.

Tajfel, H. (1978): Differentiation between social groups. London: Academic Press.

Wagner, U.; Becker, J.; Christ, O.; Pettigrew, T.; Schmidt, P. (2012): A longitudinal test of the relation between German nationalism, patriotism and outgroup derogation. European Sociological Review, 28, S. 319-332.

Wagner, U. und Butenschön, C. (2014): Zur Entwicklung des Gegenübers – Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten. W&F 1-2014, S. 6-9.

Wagner, U. and Christ, O. (2007): Intergroup aggression and emotions: A framework and first data. In: Gollwitzer, M. and Steffen, G. (eds.): Emotions and aggressive behavior. Göttingen: Hogrefe & Huber, S. 133-148.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.
Patrick F. Kotzur ist Doktorand in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg.

Sozialpsychologie und Flucht


Sozialpsychologie und Flucht

von Helen Landmann, Anette Rohmann und Stefan Stürmer

Migration durch Flucht birgt Konfliktpotential. Als 2015 die Anzahl der Menschen, die nach Deutschland fliehen, plötzlich anstieg, verfünffachte sich die Anzahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zeitweise (Bundeskriminalamt 2016). Sozialpsychologische Forschung kann einen Beitrag leisten, um solche Konflikte zu vermeiden und ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zu fördern. Die Autor*innen beleuchten daher, welche Implikationen aus sozialpsychologischer Forschung abgeleitet werden können. Grundlage dafür bietet der Sammelband »Die Flüchtlingsdebatte in Deutschland – Sozialpsychologische Perspektiven« (2017), herausgegeben von Anette Rohmann und Stefan Stürmer.

In der aktuellen sozialpsychologischen Forschung im Bereich Flucht sind insbesondere drei Themenbereiche auszumachen, die Hinweise auf die Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens geben können: Kontakt, Partizipation und interkulturelle Kompetenz. Interventionen, die auf Basis dieser drei Prinzipien entwickelt wurden, lassen sich sehr gut mit psychologischer Forschung begründen und scheinen auch in der Praxis wirkungsvoll zu sein.

Kontakt: respektvolle persönliche Begegnungen

Das erste dieser drei Prinzipien ist Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung. Menschen in Deutschland, die Kontakt zu Geflüchteten hatten, haben tendenziell eine positivere Einstellung gegenüber Geflüchteten als andere (Becker, Ksenofontov, Benz, Borgert 2017; Wagner 2017). Dieser Zusammenhang zwischen Kontakt und Einstellung lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Kontakt Ängste reduziert und gleichzeitig Empathie und Wissen über die andere Gruppe erhöht (Landmann, Aydin, van Dick, Klocke 2017). Dies verdeutlicht, wie wichtig die Integration in Bildung und Arbeit, aber auch einfach Unterhaltungen, beispielsweise im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeiten, sind. Neben dem praktischen Nutzen solcher Bemühungen bieten sie wichtige Kontaktmöglichkeiten, die die Einstellung von Menschen mit und ohne Fluchterfahrung wesentlich beeinflussen können.

Kontakt beeinflusst die gegenseitigen Einstellungen besonders positiv, wenn er auf Augenhöhe stattfindet, wenn an einem gemeinsamen Ziel gearbeitet wird und wenn der Kontakt von der Gesellschaft erwünscht ist (Wagner 2017). Diese Bedingungen in der Organisation von gemeinsamer (ehrenamtlicher) Arbeit umzusetzen, scheint daher empfehlenswert. Konkurrenzsituationen und Statusunterschiede sollten möglichst vermieden werden. Projekte, die die Arbeit an einem gemeinsamen Ziel beinhalten, sollten gefördert werden.

Allerdings kann Kontakt auch dann positiv wirken, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Wichtig ist nur, dass der Kontakt von den Beteiligten nicht als negativ erlebt wird (Landmann et al. 2017). Ein positives Erleben von Kontakt wird wiederum wesentlich wahrscheinlicher, wenn sich die Beteiligten mit Respekt begegnen (Naegler und Kessler 2017). Respekt bedeutet, eine Person als gleichberechtigt anzuerkennen, sie ernst zu nehmen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Demzufolge kann schon durch bloßes Zuhören zwischen Ehrenamtlichen und Geflüchteten Respekt vermittelt und positiver Kontakt hergestellt werden (Naegler und Kessler 2017).

Neben diesen direkten Interaktionen findet Kontakt auch indirekt statt, zum Beispiel durch Medienberichte. Der Darstellung von Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung in den Medien kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Sie kann sich förderlich oder hinderlich auf solidarisches Verhalten als Grundlage gelungener Integration auswirken (Imhoff und Lamberty 2017).

Zusammengenommen heißt das, Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung ist elementar für ein friedliches Zusammenleben. Dabei müssen lediglich die Grundregeln gegenseitigen Respekts eingehalten werden.

Wichtig ist allerdings auch, von Geflüchteten nicht »zu viel« Kontakt einzufordern. Die Erfahrung von Flucht, unsicherem Aufenthaltsstatus und schwierigen Unterbringungsbedingungen ist enorm aufreibend. In dieser stressigen Zeit erleben Geflüchtete Kontakt zu ihrer eigenen Gruppe – zu Menschen, die sie kennen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder die einfach ihre Sprache sprechen – als wichtige Unterstützung (Ager und Strang 2008). Kontakt zur Aufnahmegesellschaft sollte nicht zu Lasten dieser unterstützenden Kontakte gehen. Glücklicherweise schließen sich Kontakte mit der eigenen Gruppe – so genannte »soziale Bindungen« (social bonds) – und Kontakte zur Aufnahmegesellschaft – »soziale Brücken« (social bridges) – nicht aus (Ager und Strang 2008). Als ideal kann daher gelten, wenn eine Aufnahmegesellschaft den Geflüchteten beides ermöglicht: positiven Kontakt zu Menschen mit und ohne Fluchterfahrung.

Partizipation: Teilhabe in Form von Arbeit, Bildung und Mitbestimmung

Ein weiteres zentrales, auf sozialpsychologischer Forschung aufbauendes Prinzip, ist das der Partizipation (Rohmann und Stürmer 2017). Neben gesellschaftlicher Teilhabe durch Arbeit ist damit auch die Mitbestimmung bei Entscheidungsprozessen gemeint. Beispielsweise können Geflüchtete die Abläufe in Flüchtlingsunterkünften selbst mitbestimmen oder Integrationsprojekte mitgestalten. Diese Partizipationsprozesse finden aber selten statt, was das Risiko birgt, dass Integrationsprojekte nicht auf die Bedürfnisse abgestimmt und dadurch nicht nachhaltig sind (BAMF 2014). Partizipation ist eine organisatorische Herausforderung, kann aber enorm hilfreich sein. Partizipationsprozesse ermöglichen es, das Wissen der Betroffenen einzubinden, sie können die Identifikation mit dem Projekt fördern und wirken insgesamt stärkend auf die betroffene Gruppe (Doná 2007).

Auch im Rahmen ehrenamtlicher Arbeit kann die Teilhabe und Autonomie Geflüchteter gefördert werden. Man spricht hier von autonomieorientierter Hilfe, die im Gegensatz zu abhängigkeitsorientierter Hilfe darauf ausgerichtet ist, die Selbständigkeit Geflüchteter zu fördern (Becker et al. 2017). Das Bereitstellen materieller Güter wie Kleiderspenden stellt beispielsweise abhängigkeitsorientierte Hilfe dar. Hilfe zur Selbsthilfe hingegen, wie Unterstützung beim Lernen der Sprache oder bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, ist autonomieorientierte Hilfe. Wo möglich, sollte diese Hilfsform gewählt werden, da sie die Selbständigkeit fördert und von den Hilfeempfängern als angenehmer erlebt wird (Siem 2017).

Aufseiten der Aufnahmegesellschaft ist Mitbestimmung ebenfalls wichtig (Larsen, Arant, Grossert, Boehnke 2017). Nicht wenige Menschen in Deutschland nehmen die aktuelle Flüchtlingspolitik als einen Verlust an Kontrolle wahr. Dem kann die Möglichkeit zur Mitbestimmung, beispielsweise bei der Suche nach geeigneten Plätzen für Flüchtlingsunterkünfte oder durch die Mitgestaltung von Integrationsprozessen, entgegenwirken.

Interkulturelle Kompetenz: Trainings und Supervision

Ein drittes Prinzip, das sich aus unterschiedlichen Forschungssträngen ableiten lässt, ist interkulturelle Kompetenz – die Fähigkeit, mit kulturellen Unterschieden umzugehen. Konflikte und Spannungen können durch Missverständnisse aufgrund kulturellen Unwissens entstehen (Aydin, Kleber, Oelkrug, Leuschner, Wutti 2017). Interkulturelle Trainings können helfen, solche Missverständnisse zu vermeiden und damit einen respektvollen Umgang und positiven Kontakt zu ermöglichen (Mazziotta, Piper und Rohmann 2016).

In interkulturellen Trainings wird häufig auch Wissen über Stereotype vermittelt und darüber, wie schwer man diese Vorstellungen (»der typische Syrer« oder »der typische Flüchtling«) abschalten kann. Dieses Wissen kann beispielsweise Lehrer*innen helfen, die eigenen Stereotype zu reflektieren und Unsicherheiten im Umgang mit Schüler*innen und deren Familienangehörigen zu vermeiden (Martiny und Froehlich 2017).

Stereotype stellen außerdem die Grundlage für Diskriminierung, für negatives Verhalten gegenüber einer Person aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit dar (Wagner 2017). Diskriminiert zu werden wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden aus. Dies kann die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen und zu Feindseligkeit führen (Maaitah, Harth, Kessler 2017). Diskriminierung zu vermeiden ist daher ein wichtiger Ansatz, um den Kreislauf gegenseitiger Feindseligkeit zu unterbrechen.

Zusätzlich zur Förderung der interkulturellen Kompetenz wäre eine Begleitung von Menschen, die direkt mit Geflüchteten zusammenarbeiten, sinnvoll. Für viele Ehren-, aber auch Hauptamtliche stellt die Arbeit mit Geflüchteten noch immer eine vergleichsweise neue Situation dar, auf die sie kaum vorbereitet werden konnten (Aydin et al. 2017). Regelmäßige Supervision ist an diesen Stellen dringend nötig.

Die drei Prinzipien – Kontakt, Partizipation und interkulturelle Kompetenz – bieten Ansatzpunkte, die in der praktischen Arbeit und für die Konzeption von Interventionen zur Konfliktvermeidung genutzt werden können. Hierbei sollte eine systematische Evaluation der umgesetzten Maßnahmen erfolgen. Ein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis kann dieses evidenzbasierte Vorgehen fördern.

Literatur

Ager, A., und Strang, A. (2008): Understanding integration – A conceptual framework. Journal of Refugee Studies, 21(2), S. 166-191.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge/BAMF (Hrsg.) (2014): Möglichkeiten und Grenzen der Nachhaltigkeit von Integrationsprojekten. Nürnberg.

Bundeskriminalamt (2016): Kriminalität im Kontext von Zuwanderung – Bundeslagebild 2015. Wiesbaden.

Doná, G. (2007): The microphysics of participation in refugee research. Journal of Refugee Studies, 20(2), S. 210-229.

Landmann, H.; Aydin, A.L.; Van Dick, R.; Klocke, U. (2017): Die Kontakthypothese – Wie Kontakt Vorurteile gegenüber Geflüchteten reduzieren und Integration fördern kann. The Inquisitive Mind, de.in-mind.org, i.E.

Mazziotta, A.; Piper, V.; Rohmann, A. (2016): Interkulturelle Trainings – Ein wissenschaftlich fundierter und praxisrelevanter Überblick. Heidelberg: Springer.

Alle weiteren Referenzen sind Teil des folgenden Sammelbandes:

Rohmann, A. und Stürmer, S. (2017). Die Flüchtlingsdebatte in Deutschland – Sozialpsychologische Perspektiven. Beiträge zur Angewandten Psychologie, Band 2. Frankfurt: Peter Lang.

Helen Landmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Community Psychology der FernUniversität in Hagen. Sie forscht zur Rolle von Emotionen für das soziale Zusammenleben. Neben grundlegenden Mechanismen von moralischem Ärger und Gefühlen des Bewegtseins interessiert sie sich besonders für Interventionsansätze in den Bereichen Umweltschutz, Flucht und Integration.
Prof. Dr. Anette Rohmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Community Psychology an der FernUniversität in Hagen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Akkulturation, der Förderung interkultureller Kompetenzen, des Abbaus von Vorurteilen und der Gestaltung eines erfolgreichen Austauschs zwischen Theorie und Praxis.
Prof. Dr. Stefan Stürmer ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Intergruppenforschung.

Klima – Gewalt – Flucht


Klima – Gewalt – Flucht

Das Beispiel Syrien

von Jürgen Scheffran und Christiane Fröhlich

Seit 2015 beherrscht die Debatte über Zuwanderung die deutsche und europäische Politik. Weltweit fliehen Millionen von Menschen, besonders aus den Krisenregionen Afrikas und des Nahen Ostens; Hunderttausende gelangten nach Europa. Viele Menschen gefährden nach wie vor ihr Leben bei dem Versuch, mit überfüllten Booten das Mittelmeer zu überqueren oder auf dem Landweg über die Balkanroute nach Europa zu gelangen. Die Ursachen von Migration und Flucht sind auf komplexe Weise mit anderen Krisenerscheinungen verbunden, auch mit dem Klimawandel. Dieser Beitrag beleuchtet das Problemgeflecht zwischen Klimawandel, Konflikt und Migration am Beispiel Syrien und diskutiert mögliche Konzepte und Alternativen.

Es ist nicht neu, dass Menschen wandern und dabei Grenzen überschreiten. Die Geschichte ist geprägt von großen Völkerwanderungen, umherziehenden Nomadenvölkern und »Landflucht« in urbane Zentren. Die Antriebsfaktoren und Motive sind vielfältig und reichen von der Suche nach Ressourcen, Einkommen und Lebens­chancen bis zur Flucht vor Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen (Black et al. 2011; Fröhlich 2016a). Angesichts von Bevölkerungswachstum und Globalisierung nehmen Migrationsbewegungen heute ein neues Ausmaß an. Die Wanderung vom Land in die Städte verstärkt die Urbanisierung und die Bevölkerungskonzentration in Megastädten, was mit sozialen und ökologischen Problemen verbunden ist. Die grenzüberschreitende Migration von Arbeitskräften hat ökonomische und kulturelle Implikationen, die das internationale System transformieren. Menschenunwürdige Lebensbedingungen und die Verschlechterung der ökonomischen, ökologischen, politischen und sozialen Lebensgrundlagen nötigen Millionen von Menschen zur Flucht.

Wechselwirkungen zwischen Gewaltkonflikten und Fluchtbewegungen

Neben politischer Verfolgung als Fluchtmotiv gibt es enge Verflechtungen zwischen Flucht und Gewaltkonflikten, die schon länger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und politischer Debatten sind. Bewaffnete Konflikte und ihre Beendigung sind und waren eine der wesentlichen Triebkräfte für Fluchtbewegungen, darunter die beiden Weltkriege, das Ende des Kalten Krieges, die (Bürger-) Kriege im ehemaligen Jugoslawien, in Darfur, Afghanistan, Irak, Libyen und zuletzt in Syrien. Weltweit wurden 2015 etwa 8,6 Millionen Menschen durch Gewalt und Konflikte vertrieben (IDMC 2016), wobei die kriegsbedingten Anteile in Afrika, Nahost und der Ukraine am höchsten waren. Teilweise wurden die vor bewaffneten Konflikten flüchtenden Menschen selbst zu einem Konfliktfaktor, bedingt durch überfüllte Flüchtlingscamps oder mögliche Probleme und Differenzen zwischen einheimischen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen. Damit verbundene Krisenerscheinungen betreffen Konflikte in der arabischen Welt ebenso wie die Terrorismusgefahr, Rechtspopulismus, Nationalismus und die politische Spaltung der Europäischen Union. Die EU wurde in der »Flüchtlingskrise« von 2015 davon überrascht, dass so viele Menschen über alle Grenzen hinweg in die Mitte Europas gelangen konnten. Viele der Flüchtlinge stammten aus Kriegs- und Krisengebieten, allen voran aus dem syrischen Bürgerkrieg, wo mehr als fünf Millionen Menschen in die Nachbarländer flüchteten (UNHCR 2017), v.a. in den Libanon und den Irak sowie nach Jordanien und in die Türkei. Einige Hunderttausend erreichten Europa.

Aufgrund des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der weitgehend unkontrollierten Zuwanderung entwickelten sich Differenzen innerhalb der EU, verstärkt durch Proteste und Widerstände gegenüber Zuwanderung, bis hin zu gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln 2015/16 heizten die Stimmung gegen alle »Fremden« weiter auf. In Europa taten sich Risse auf, die zum Kampf der Kulturen und Religionen hochstilisiert wurden, verstärkt durch den »Islamischen Staat«, Terroranschläge in europäischen Zentren und die zunehmende rhetorische Vermischung von Flucht und Terrorgefahr, die zwar ohne empirische Grundlage ist, aber schnell politisches Momentum aufnahm (Bank et al. 2017).

Vielleicht am deutlichsten manifestiert sich diese Entwicklung in der Wahl von US-Präsident Donald Trump, der mit seiner Polemik gegen Zuwanderer, Terroristen und den Islam erfolgreich war. Konfliktträchtig sind insbesondere die angekündigte Mauer an der Grenze zwischen USA und Mexiko als Manifestierung eines verschärften Nord-Süd-Konflikts sowie die islamophoben Einreisebeschränkungen, die die Regierung Trump (bislang erfolglos) umzusetzen sucht.

Debatte über Klimawandel und Migration

Vor diesem Hintergrund sind auch der Klimawandel und andere Umweltveränderungen zu sehen, die die Lebensbedingungen von Menschen untergraben sowie umweltbedingte Konflikte und Migration zur Folge haben können. Historische Studien haben herausgearbeitet, wie Veränderungen der Umwelt und des Klimas mit gesellschaftlichen Umbrüchen, Kriegen und Migrationsbewegungen verbunden waren (Fagan 2009). Die natürliche Klimavariabilität, der Wechsel zwischen den Eis- oder Kältezeiten und die Schwankungen des Meeresspiegels setzten wiederholt gesellschaftliche Stabilität unter Druck. In vielen Fällen vermischten sich globale oder regionale Klimaänderungen mit lokalen Umweltproblemen, wie der Abholzung oder der Übernutzung von Böden, und den politischen und sozioökonomischen Bedingungen.

Die Debatte über »Klimaflucht« war schon früh Teil des Diskurses über den Klimawandel. So warnte der erste Bericht des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) bereits 1990, dass Klimaveränderungen zu großen Migrationsbewegungen führen könnten. Die Europäische Kommission rechnete 2008 mit einem „wesentlich erhöhten Migrationsdruck“ (EU 2008), und der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen sah in der klimabedingten Migration eines der künftigen Konfliktfelder der internationalen Politik, besonders in regionalen Brennpunkten (WBGU 2007). Nach einer Zusammenstellung im IPCC-Bericht von 2014 wurde in 18 Fallstudien Evidenz für verstärkte Migration gefunden, in sechs Fällen eine Verminderung von Migration und in sieben Fällen ein nach sozialen Gruppen unterschiedliches Migrationsverhalten (IPCC 2014, S. 770).

Für die Zukunft wird konstatiert, dass mit zunehmendem Klimawandel die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen von Menschen wie auch die politische Stabilität von Gesellschaften untergraben werden, besonders in fragilen Regionen und Risikozonen, wo verarmte und marginalisierte Bevölkerungsschichten zur Abwanderung gedrängt werden (Gemenne et al. 2015). Am direktesten wirkt Klimawandel durch Naturkatastrophen, wie Stürme und Überflutungen, die Menschen in die Flucht treiben, um das eigene Überleben zu sichern. Nach Schätzungen des Internal Displacement Management Center (IDMC) wurden alleine im Jahr 2015 weltweit etwa 19,2 Millionen Menschen durch Naturkatastrophen vertrieben, mit Abstand am häufigsten in Asien (China, Indien, Philippinen, Nepal, Myanmar), aber auch in Teilen Afrikas, Australiens und in Nord- und Lateinamerika (IDMC 2016).

Bei zunehmender Trockenheit und Dürre werden die landwirtschaftlichen Produktionsfaktoren Wasser und Boden knapp, besonders in agrarisch geprägten Subsistenzwirtschaften. Wenn der Ertrag nicht mehr reicht, sind Hunger und Armut die Folge. Betroffen sind Menschen durch Trockenheit und Wassermangel im Mittelmeerraum, Dürren in der Sahelzone und Zentralasien, Stürme und Überschwemmungen in Mittelamerika, Süd- und Ostasien oder durch den Meeresspiegelanstieg in kleinen Inselstaaten, wie den Malediven. Bislang fehlen die empirischen Grundlagen, um abschätzen zu können, wieviele Menschen als Folge des Klimawandels auswandern werden (Jakobeit and Methmann 2012).

Der Nexus-Ansatz

Die komplexen Zusammenhänge, die es schwierig machen, die verschiedenen Fluchtmotive voneinander zu unterscheiden und die Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu erkennen, wurden frühzeitig benannt (Scheffran 1994) und sind bis heute noch wenig verstanden (Burrows and Kinney 2016). Im Beziehungsgeflecht (Nexus) von Klimawandel, Migration und Konflikten sind komplizierte Wechselwirkungen und Reaktionsketten möglich, die sich unter Umständen gegenseitig aufschaukeln können: je mehr Konflikte, umso mehr Migration, was weitere Konflikte und Migration nach sich zieht. Solche Verstärkereffekte sind typisch für komplexe Systeme und Netzwerke, in denen Rückkopplungen, Kipppunkte und Risikokaskaden auftreten können. Entsprechend wurde der Klimawandel als möglicher »Risikoverstärker« angesehen, der im Zusammenspiel mit anderen Konnektoren (u.a. globalisierte Märkte, Handel, Transport, digitale Kommunikation und soziale Medien) verschiedene Problem- und Konfliktfelder zu internationalen Risiko- und Krisenlandschaften verknüpft (siehe die Diskussion in Scheffran 2016).

Die Vorstellung einer linearen Kausalität zwischen globalem Umweltwandel und Konflikten über klimabedingte Migration enthält mehrere Missverständnisse. Zunächst sind Migrationsentscheidungen komplex und nicht nur von ökologischen Faktoren bestimmt; innergesellschaftliche Probleme spielen meist eine größere Rolle. Die Migrationsforschung hat fünf Auslöser von (Binnen- und internationaler) Migration identifiziert: ökonomische, politische, demografische, soziale und ökologische Faktoren (Fröhlich 2016b). Sie alle sind eng miteinander verwoben und wirken durch Institutionen und Strukturen wie auch durch bestehende Migrationskanäle und -netzwerke. Doch selbst wenn die Motive für Migration zunehmen, können die Möglichkeiten zur Wanderung beeinträchtigt werden. Dies führt zu den so genannten »trapped populations«, die nicht die Fähigkeit zur Umsiedlung haben und ganz besonders verletzlich sind.

Es besteht in keinem Fall ein Automatismus zwischen Klimaschwankungen, Naturkatastrophen und Konflikt oder Flucht. Der Klimawandel kann sowohl gesellschaftliche Problemlagen verstärken als auch eine gesellschaftliche Transformation zur nachhaltigen Friedenssicherung anstoßen.

Der vertrackte Bürgerkrieg in Syrien

Die widersprüchlichen Entwicklungen lassen sich am Fall Syrien verdeutlichen. Die syrische Republik leidet wie die gesamte Levante schon seit Jahren an den Folgen der globalen Erderwärmung. Zuletzt suchte eine lange Dürreperiode zwischen 2007 und 2009 das Land heim. Während dieser Jahrhundertdürre“, wie sie von Einheimischen genannt wird, kam es zu wiederholten Ernteausfällen in Teilen des Landes, zu Viehsterben sowie zu einer deutlichen Zunahme der Binnenmigration. Eine wachsende Zahl von Kommentatoren und Analysten zieht die Binnenmigration vermehrt als Erklärung für Zeitpunkt und Intensität der syrischen Revolution heran (Werrell et al. 2015; Kelley et al. 2015).

Nun gibt es wenig Zweifel daran, dass der Klimawandel in Syrien reale Effekte hat. In den letzten zwanzig Jahren wurden zehn der zwölf trockensten Winter weltweit im Mittelmeerraum gemessen (NOAA 2011). Besonders dramatisch war eine Dürreperiode von 2007-9 (Fröhlich 2016a), die im Vorfeld der Revolution zu verstärkter Binnenmigration geführt haben soll. Um den tatsächlichen Einfluss der Dürre auf Ausmaß und Muster der Migration vor 2010 einschätzen zu können, ist es allerdings nötig, Zusammenhänge mit anderen Migrationsauslösern zu berücksichtigen. Zwischen 2002 und 2008 schrumpften Syriens Wasserressourcen um die Hälfte, zumindest teilweise auch wegen Übernutzung und Verschmutzung. Die Grundwasserressourcen werden seit Langem übernutzt. Kleinbauern und Landwirte sind deshalb stark von Regenbewässerung abhängig, was sie gegenüber Wetterextremen, Dürren und Niederschlagsvariabilität besonders empfindlich macht. Darüber hinaus führte das Missmanagement der alten und neuen Bewässerungssysteme zu einer graduell zunehmenden Bodenunfruchtbarkeit. Zusammenfassend kann man sagen, dass ökologische Herausforderungen in Syrien in der Tat zahlreicher geworden zu sein scheinen, dass dies aber auch durch schlechte Regierungsführung bedingt war.

Auch wirtschaftliche Faktoren haben die Binnenmigration in Syrien beeinflusst. Modernisierung, Landflucht und die nur langsame Integration ehemaliger Landarbeiter in andere Wirtschaftssektoren hatten sowohl in den ländlichen Gebieten als auch in den Städten ihre Spuren hinterlassen. Während die Landflucht von Arbeitskräften in urbane Räume die Produktivität der ländlichen Gebiete drosselte, stieg die Produktion in den Städten nicht schnell genug an, um eine gesunde Urbanisierung zu ermöglichen. Im Agrarsektor, der für ein Verständnis der Effekte einer Langzeitdürre am relevantesten ist, standen Landlose unter dem stärksten Druck, ihr Einkommen zu diversifizieren. Über die Jahre war saisonale Migration deshalb zu einer Überlebensstrategie geworden: Männer aus den nördlichen Provinzen Deir az-Zur, Rakka und Hasakah verbrachten dabei meist die Sommersaison als Arbeiter auf den Feldern im Süden und Westen und kehrten nach der Ernte nach Hause zurück. Dabei folgten sie oftmals etablierten Migrationskorridoren; solche Korridore erleichtern folgende Migrationsbewegungen, da Neuankömmlinge auf bereits bestehende soziale Netzwerke unter den Migrant*innen zurückgreifen können, also nicht ganz neu beginnen müssen. Auch soziopolitische und demografische Faktoren dürfen nicht vernachlässigt werden, etwa Patronagenetzwerke und der »youth bulge« (besonders hoher Anteil unter 25-Jähriger an der Bevölkerung), der Syrien wie viele andere nah­öst­liche Gesellschaften prägte.

Synergieeffekte und Anpassungsstrategien

In vertrackten Konfliktkonstellationen, wie in Syrien, ist es schwierig, geeignete Regulierungs- und Steuerungsmechanismen zu finden, um Stabilisierung zu erreichen. Dazu bedarf es einer antizipativen und adaptiven Politik, die hochriskante Pfade ausschließt. Dabei ist es sinnvoll, nicht nur den beschriebenen Nexus von Migration, Klimawandel und Konflikten zu analysieren, sondern auch mögliche Synergie-Effekte zwischen den politischen Bewältigungsstrategien in den jeweiligen Bereichen zu finden (Gioli et al. 2016).

Gelingt es etwa durch Klimapolitik, den Klimawandel einzudämmen, werden damit auch mögliche Konflikt- und Migrationsursachen verringert. Umgekehrt leisten kooperative Strukturen und Strategien des Konfliktmanagements einen Beitrag dazu, die Ursachen und Folgen von Klimawandel und Flucht abzuschwächen und gemeinsam zu bewältigen. Migrations- und Flüchtlingspolitik schließlich können die Integration und den Zusammenhalt von Gesellschaften stärken, was bessere Voraussetzungen schafft, um Konflikte und Klimafolgen in den Griff zu bekommen, auch für Migrant*innen selbst. Solche Synergieeffekte, die sich die komplexen Verflechtungen in konstruktiver Weise zunutze machen, sind erst ansatzweise im Blick.

Bislang diente die Warnung vor »Klimaflüchtlingen« dazu, die Dringlichkeit von Klimapolitik zu begründen. Dies wurde deutlich während der Verhandlungen über den Klimavertrag von Paris 2015, als öffentliche Repräsentanten, von US-Präsident Barack Obama bis zu Prince Charles, die hypothetisierte Bedrohung durch massenhafte Klimaflucht zur Begründung für ein Klimaabkommen benutzten. Für die französische Regierung diente dies als Hebel, um die europäische Verantwortung für die Vermeidung klimabedingter Migration herauszustreichen; dementsprechend wurde in Paris eine Task Force zu klimabedingter Zwangsmigration ins Leben gerufen. In diesem Kontext wurde betont, dass vorbeugende Investitionen in Emissionsvermeidung und Klimaanpassung effizienter seien als nachsorgendes Katastrophen- und Migrationsmanagement.

Rechtliche Instrumente und Regelungen im Umgang mit klimabedingter Migration sind noch Neuland. Es fehlen klare Definitionen oder rechtliche Regelungen zum Status der umwelt- oder klimabedingten Migration. Der Begriff »Klimaflüchtling« ist bisher keine rechtlich relevante Kategorie, und es ist schwer vorherzusehen, ob eine Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention ein gangbarer und sinnvoller Weg wäre. Ein möglicher Ausgangspunkt sind die 2015 verabschiedete Nansen-Initiative, die auf humanitäre Schutzmaßnahmen zur Stärkung der Resilienz von Flüchtlingen setzt, und das Sendai-Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge, Risikovermeidung und humanitäre Hilfe (Nash 2017). Ohne wirksame Maßnahmen besteht die Gefahr einer weiteren Versicherheitlichung der Debatte, die auf sicherheitstechnische Reaktionen setzt (Scheffran und Vollmer 2012).

Auch wenn die Vermeidung von Klimafolgen weiterhin die zentrale Aufgabe bleibt, kann die Anpassung an den Klimawandel einige Probleme in den betroffenen Ländern abschwächen. Dabei kann Migration selbst als Anpassungsstrategie gegenüber Klimafolgen angesehen werden (Black et al. 2011), welche die Handlungsfähigkeit betroffener Gemeinden stärkt. Migrationsnetzwerke können individuelle und kollektive Handlungsfähigkeiten ausbauen sowie zur Schaffung stabiler Strukturen zwischen Herkunfts- und Zielländern beitragen, etwa durch den Transfer von Geld, Wissen und Technologie in die Heimatländer, wo sie zum Volkseinkommen beitragen (Scheffran et al. 2012). Damit die Last nicht allein auf den Betroffenen liegt (was an Resilienz-Konzepten kritisiert wird), ist die Unterstützung durch staatliche oder internationale Institutionen wichtig, insbesondere durch Regierungen in Herkunfts- und Zielländern (co-development).

Literatur

Bank, A.; Fröhlich, C.; Schneiker, A. (2017): The Political Dynamics of Human Mobility – Migration out of, as and into Violence. Global Policy, 8, S. 12-18.

Black, R. et al. (2011): Migration and Global Environmental Change – Future Challenges and Opportunities. Final Foresight Project Report. London: Government Office for Science.

Burrows, K. and Kinney, P.L. (2016): Exploring the Climate Change, Migration and Conflict Nexus. International Journal of Environmental Research and Public Health, 13, S. 443.

EU (2008): Klimawandel und Internationale Sicherheit. Papier des Hohen Vertreters und der Europäischen Kommission für den Europäischen Rat. Abrufbar unter consilium.europa.eu.

Fagan, B. (2009): The Great Warming – Climate Change and the Rise and Fall of Civilizations. New York: Bloomsbury Press.

Fröhlich, C. (2016a): Climate migrants as protestors? Dispelling misconceptions about global environmental change in pre-revolutionary Syria. Contemporary Levant, 1(1), S. 38-50.

Fröhlich, C. (2016b): Menschliche Mobilität im Kontext ökologischer und politischer Krisen – Das Beispiel Syrien. In: Johannsen, M.; Schoch, B.; Mutschler, M.M.; Hauswedell, D.; Hippler, J. (Hrsg.): Friedensgutachten 2016. Münster: LIT, S. 89-100.

Gemenne, F.; Zickgraf, C.; Ionesco, D. (2015): The State of Environmental Migration 2015. Paris: Institute for Sustainable Development and International Relations, International Organization for Migration.

Gioli, G.; Hugo, G.; Manez Costa, M.; Scheffran, J. (2016): Human Mobility, Climate Adaptation, and Development. Introduction to Special Issue of Migration and Development, S. 1-6.

Internal Displacement Monitoring Centre/IDMC (2016): Global Report on Internal Displacement (GRID). Geneva, May 2016.

Intergovernmental Panel on Climate Change/IPCC (2014): Climate Change 2014 – Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Fifth Assessment Report, Working Group II Report. Geneva.

Jakobeit, C. and Methmann, C. (2012): Climate Refugees’ as Dawning Catastrophe? A Critique of the Dominant Quest for Numbers. In: Scheffran, J.; Brzoska, M.; Brauch, H.G.; Link, P.M.; Schilling, J. (eds.): Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Berlin: Springer, S. 301-314.

Kelley, C.P.; Mohtad, S.;Cane, M.A.; Seager, R.; Kushnir, Y. (2015): Climate change in the Fertile Crescent and implications of the recent Syrian drought. PNAS, 112(11), S. 3247-3252.

Nash, S. (2017): From Cancun to Paris – an Era of Policymaking on the Migration and Climate Change Nexus. Dissertation, Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

National Oceanic and Atmospheric Administration/NOAA (2011): NOAA study – Human-caused climate change a major factor in more frequent Mediterranean drought; noaanews.noaa.gov, October 27, 2011.

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Scheffran, J. und Vollmer, R. (2012): Migration und Klimawandel – globale Verantwortung der EU statt Angstdebatte. In: Schoch, B.; Hauswedell, D.; Kursawe, J.; Johannsen, M. (Hrsg.): Friedensgutachten 2012. Münster: LIT, S. 209-221.

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Werrell, C.E.; Femia, F.; Sternberg, T. (2015): Did We See It Coming? State Fragility, Climate Vulnerability, and the Uprisings in Syria and Egypt. SAIS Review of International Affairs 35(1), S. 29-46.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen/WBGU (2007): Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin/Heidelberg: Springer.

Dr. Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.
Dr. Christiane Fröhlich ist PostDoc in ­CLISEC und Research Fellow am Insti­tut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität ­Hamburg.

Fluchtursachen und Verantwortung


Fluchtursachen und Verantwortung

Das Beispiel Afghanistan

von Katja Mielke

Das Beispiel Afghanistan verdeutlicht, wie klassische Fluchtursachen – vordergründig Krieg und Gewalt sowie damit verbunden fehlende Rechtstaatlichkeit, Diskriminierung und Verfolgung – durch das Fehlschlagen der internationalen militärischen, insbesondere aber auch der zivilen Intervention in den letzten 15 Jahren verstärkt wurden. Der gescheiterte Wiederaufbau des Landes kann aus dieser Perspektive durchaus als eigenständige Fluchtursache gelten, bedingt er doch die steigende Armut, zunehmende soziale Ungleichheit und als Ergebnis wachsende Perspektivlosigkeit. Daraus ergibt sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit.

Im April 2017 beginnt das vierzig­ste Kriegsjahr in Afghanistan. Der Gewaltkonflikt hat geschätzte 4,8 Millionen Menschen veranlasst, ihr Heimatland zu verlassen: Etwa 15 Prozent der Afghan*innen sind laut UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) über internationale Grenzen geflüchtet.1 Zum Jahresende 2015 wurden weltweit etwa 2,67 Millionen Afghan*innen offiziell als Flüchtlinge anerkannt; von ihnen ist fast jede/r Zweite (49 %) jünger als 18 Jahre (UNHCR 2016, S. 16). Afghan*innen stellen weltweit die zweitgrößte Flüchtlingsbevölkerung (die größte kommt aus Syrien). Hinzu kommt die immense interne Vertreibung. Sie belief sich allein im Jahr 2016 auf mehr als eine halbe Million Menschen (UN OCHA 2016). Mit den bereits vor 2016 vertriebenen 1,17 Millionen Binnenvertriebenen (Amnesty International 2016, S. 13) beläuft sich die offiziell registrierte Zahl der Vertriebenen im Inland auf 1,7 Millionen Menschen.2

Fluchtursache Gewalt und Krieg

Die Vertreibungszahlen spiegeln die zunehmende Unsicherheitslage in Afghanistan wider. Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen ist von 2010 bis heute stetig fast um das Fünffache gestiegen. Parallel weist auch die Zahl ziviler Opfer von politischer Gewalt jedes Jahr neue Rekordwerte auf. Im letzten Jahr (2016) wurden 7.929 Zivilisten getötet und 3.498 verletzt, darunter immer mehr Kinder (923 getötet, 2.589 verletzt) (UNAMA 2016).

Zum Jahresende 2016 waren so genannte »Taliban« – eigentlich ein Kon­glomerat diverser bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen auf lokaler Ebene und mehr ein Label als eine kohärente Bewegung – so sehr erstarkt wie seit 2001 nicht mehr. Das Ausmaß der Kontrolle von Landesteilen durch regierungsfeindliche Truppen ist zum Politikum geworden. Trotz der sehr unterschiedlichen Einschätzung zwischen unabhängigen Beobachtern und US-Militär auf der einen und zwischen den Regierungen der USA und Afghanistans auf der anderen Seite ist unbestritten, dass die Regierung Einfluss und Kontrolle verliert.

Laut US-Militär (Roggio 2016) kontrollierten Taliban (»Aufständische«) Ende August 2016 lediglich acht von 407 Distrikten und besaßen Einfluss in weiteren 25 Distrikten, während die Regierung 88 Distrikte vollständig kontrollierte und in 170 Distrikten Einfluss ausübte (7,1 % weniger als Ende Januar 2016 und 15 % weniger als Ende November 2015); in 28,5 % der Distrikte konkurrierten die »Auständischen« und die Regierung um den Kontrollanspruch. Schon drei Monate später, Ende November 2016, hatte die Regierung weitere 6,2 % der Distrikte verloren (SIGAR 2017). Unabhängige Beobachter*innen schätzen die Regierungszahlen überdies als zu hoch ein. In Wirklichkeit hätten die Taliban bereits Ende Oktober 2015 70 Distrikte unter ihrer Kontrolle gehabt und bis November 2016 weitere 27 Distrikte hinzugewonnen, würden also knapp ein Viertel der Distrikte kontrollieren (Rogio 2016). Zudem waren bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen in der Lage, landesweit mehrere militärische Offensiven gleichzeitig zu koordinieren, zum Beispiel in Helmand, Urusgan, Kundus, Farah und Baghlan. Die respektiven Provinzhauptstädte befinden sich seit Monaten, wenn nicht Jahren, permanent in Gefahr, von Taliban erobert zu werden. Die zeitweise Eroberung von Kundus durch Taliban Ende September 2015 war daher keine Ausnahme, sondern ist symptomatisch für den Kontrollverlust der Regierung.

Im Januar 2017 lebte fast ein Drittel der afghanischen Bevölkerung (9,2 Millionen) in Gebieten, die zwischen Regierung und Aufständischen »umkämpft« sind. Etwa zweieinhalb Millionen Personen lebten noch in Gebieten, die von Aufständischen, also Taliban oder Daesh (IS-Khorasan), kontrolliert werden, die meisten Bewohner der von Daesh kontrollierten Gebiete (vier Distrikte in der östlichen Provinz Nangarhar) sind wohl geflohen.

Diese Zahlen sind jedoch nur ein Aspekt, der das Ausmaß der Unsicherheit, dem die Bewohner*innen Afghanistans ausgesetzt sind, beschreibt. Die kürzlich erfolgten Anschläge – wie auf das Krankenhaus in Kabul im Februar 2017 – zeigen, dass auch die urbanen Zentren nicht mehr sicher sind. In Großstädten wie Kabul (ca. 4 Mio. Einwohner), Dschalalabad (mehr als 350.000) und Herat (über 800.000) sind die Menschen täglich in Gefahr, Selbstmordattentaten und Entführungen zum Opfer zu fallen. Der Verkehr außerhalb der Städte ist sehr riskant. Neben diversen Taliban-Fraktionen kämpfen zahlreiche andere bewaffnete Gruppen gegen den Staat, teilweise auch miteinander. In den ländlichen Gebieten hat sich die Unsicherheit nach der strategisch motivierten (Wieder-) Aufrüstung vormals entwaffneter Milizen seit 2009 enorm verschärft. So gibt es beispielsweise aus verschiedenen Provinzen, u.a. Baghlan, Berichte, dass Angehörige der staatlichen Afghan Local Police (ALP) ihre Waffen und Munition an »Aufständische« verkaufen.

Komplexe Unsicherheitslage

Der geschilderte Grad tatsächlicher und wahrscheinlicher physischer Unsicherheit – insbesondere die quantifizierbaren Faktoren von Unsicherheit, wie die Frequenz und Opferzahlen von Anschlägen, – sind ein harter Indikator dafür, dass Afghanistan kein sicheres Land ist. Zwei Aspekte verstärken diese Einschätzung zusätzlich: zum einen die Volatilität der (Un-) Sicherheitssituation, zum anderen das grundlegende Fehlen rechtstaatlicher Strukturen.

Volatilität der Sicherheitssituation meint, dass die Gewaltdynamiken in Afghanistan grundsätzlich unberechenbar sind und keine Planungsgewissheiten bestehen. Manche Distrikte befinden sich offiziell unter Regierungskontrolle, aber nur, weil Distriktbeamte zwischen 10 und 14 Uhr im Verwaltungsgebäude der Distriktregierung ihrer Tätigkeit nachgehen. Wenn sie allerdings gezwungen sind, ab 14:30 Uhr den Heimweg in die wenige Kilometer entfernte Provinzhauptstadt anzutreten, weil sie sonst Gefahr laufen, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, scheint die Einstufung »unter Regierungskontrolle« höchst fragwürdig. Regional verschieben sich zudem Einflussbereiche auch ad hoc und in nicht vorhersehbarer Weise, zum Beispiel wenn Taliban-Anhänger in ein Gebiet vordringen und im Namen ihrer Gruppe gewaltsam Steuern erheben, aber auch dann, wenn – wie unter Vize-Präsident Dostum in Farjab – regierungsloyale Fraktionen und afghanische Sicherheitskräfte Militäroperationen gegen regierungsfeindliche bewaffnete Gruppen unternehmen. Für Letzteres belegen die Statistiken steigende zivile Opferzahlen (UNAMA 2016).

Der Grad der Verwobenheit von Regierungsvertretern und Beamten mit kriminellen Netzwerken, korrupten Praktiken und wenig durchsetzungsfähigen Justizorganen bedingt zudem, dass die Bevölkerung bislang kaum Vertrauen in rechtstaatliche Institutionen aufbauen konnte. Solange derjenige mit den umfangreicheren Machtressourcen (Geld, Waffen, Gefolgschaft, traditioneller Status) Rechtsprechungsinstitutionen (ob Ältestenräte auf lokaler Gemeindeebene oder staatlich benannte Richter und Gerichte) zu seinen Gunsten beeinflussen kann, regiert das »Recht des Stärkeren«, und Diskriminierung und Verfolgung der Schwächeren sind an der Tagesordnung.

Die afghanische Regierung ist in dem Dilemma, dass sie ihrer Bevölkerung und zurückkehrenden Flüchtlingen trotz gegenteiliger Proklamationen weder physische Sicherheit noch Rechtssicherheit garantieren kann. Häufig sind Regierungspraktiken, insbesondere das Handeln von Regierungsvertretern (Ministern, Angehörigen der Streitkräfte, Verwaltungsbeamten auf subnationaler Ebene, Parlamentsabgeordneten) eine wesentliche Ursache der Unsicherheit oder tragen maßgeblich dazu bei. Zum Beispiel unterhalten einzelne Parlamentsabgeordnete private Milizen, die je nach Interessenslage auch gegen öffentliche Interessen und staatliche Politik ausgespielt werden. Diese Sachlage verschärft das Legitimationsdefizit der afghanischen Regierung zusätzlich und demonstriert, wie hochkomplex die Unsicherheitslage ist.

Fluchtursache fehlgeschlagene Intervention

Die internationale Gemeinschaft trägt Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation in Afghanistan. Dies wird in drei Bereichen besonders deutlich:

  • Erstens haben Militär und zivile Interventen die Wahl ihrer Partner nicht ausreichend hinterfragt. Dies zeigte sich zum Beispiel auf nationaler Ebene in der bedenkenlosen Unterstützung der Nordallianzfraktion, die mit Schützenhilfe der USA im November 2001 Kabul einnehmen konnte und der die Ausrichter der kurz danach durchgeführten Petersberg-Konferenz die Besetzung von Schlüsselpositionen im Zuge der Regierungsneubildung ermöglichten. Parallel erfolgte der Ausschluss der Verliererfraktion, der Taliban, von den Friedensverhandlungen. In den Folgejahren wurden »die Taliban« zum Feindbild Nummer Eins stilisiert, nachdem die internationalen Truppen Osama bin Ladens, dem Drahtzieher hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht habhaft werden konnten. Die daraus abgeleitete systematische Delegitimierung der Taliban als abzulehnend und zu bekämpfend (Schetter und Mielke 2016) erfolgte parallel zu einer tendenziösen Gleichsetzung von Paschtunen – einer Ethnie – mit Taliban, wodurch vorhandene anti-paschtunische Tendenzen in der afghanischen Bevölkerung weiter Aufwind erfuhren. Seitens der Paschtunen hat dies wiederum zu Ablehnung und Radikalisierung geführt. So lässt sich beispielsweise in etlichen Regionen der Provinz Kundus beobachten, dass ein wichtiger Grund für den erneut zunehmenden Einfluss von Taliban in der systematischen Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung von Ressourcen durch die Nordallianz-dominierte Provinzregierung besteht. Die gegenwärtige Stärke von Taliban speist sich in beträchtlichem Maß aus dem Zulauf von Männern verschiedener ethnischer Herkunft (zunehmend Nicht-Paschtunen), die sich von der Unterstützung der Taliban versprechen, ihre Interessen und Teilhabeansprüche besser durchsetzen zu können.
  • Zweitens war die Entscheidung folgenreich, ab 2009 den Ausbau staatsnaher paramilitärischer Verbände (direkt) und privater Milizen (indirekt) zu fördern, nachdem in den Jahren zuvor umfangreiche Bemühungen für eine Demobilisierung potenzieller Kämpfer stattgefunden hatte und deren Waffen eingesammelt worden waren.
  • Drittens führten der Wiederaufbau sowie die Ausrichtung der Wirtschaft und des Beschäftigungssektors, die sich einseitig an den Bedürfnissen der Interventen orientierten, dazu, dass ab Mitte 2013 schon die bloße Ankündigung des Abzugs der westlichen Truppen zum Jahresende 2014 zu einem Einbruch der Wirtschaft führte. Dieser ökonomische Schock konnte bis heute weder durch lokale Nachfrage noch durch einen an lokalen Bedarfen orientierten Umbau des Beschäftigungssektors aufgefangen werden (Mielke und Grawert 2016).

Ausblick

Die Interventionspolitik der internationalen Gemeinschaft trug maßgeblich dazu bei, dass breite Bevölkerungsschichten nach 2001 nicht in den Genuss einer »Friedensdividende« kamen. Die genannten drei Faktoren verstärken die desolaten sozioökonomischen Indikatoren, die Afghanistan nach 15 Jahren Wiederaufbau aufweist: Die Armut steigt, mehr als ein Drittel der Bevölkerung kann sich nicht ausreichend ernähren, die soziale und Einkommensungleichheit ist seit 2001 stetig gewachsen.

Die afghanische Regierung ist in der gegenwärtigen Situation nicht in der Lage, Anreize zum Bleiben zu schaffen, also die Aussicht zu erhöhen, dass ein Verbleib in Afghanistan eine genauso aussichtsreiche und valide Option zur Lebensgestaltung bietet wie die Abwanderung ins Ausland. Zwar beharrt die afghanische Regierung im Rahmen ihrer Strategie für breitere Eigenständigkeit (Reformprogramm »Realizing Self-Reliance«) auf der Absorptions- und Integrationsfähigkeit aller afghanischen Flüchtlinge, de facto verfügt sie aber nicht über die Durchsetzungskraft (Kapazität und Willen), Bevölkerung und Rückkehrer*innen ausreichend Schutz und Sicherheit zu bieten, inklusive der Wahrung ihrer Persönlichkeits- und Menschenrechte, Schutz vor interner Vertreibung und Zukunftsperspektiven.

Bei der jährlichen Meinungsumfrage der Asia Foundation in Afghanistan gaben 52 % der befragten Afghan*innen 2016 an, dass sie Afghanistan verlassen würden, um eine Beschäftigung zu finden, wenn sie könnten (Burbridge et al. 2016). Gleichzeitig war Unsicherheit der meistgenannte Grund für Pessimismus (49 % der Befragten), noch vor Arbeitslosigkeit und schlechter Wirtschaftslage (38 %).

Aus dem Befund, dass nach 15 Jahren ziviler und militärischer Intervention die Schaffung menschengerechter Lebensverhältnisse in Afghanistan nicht erreicht wurde, leitet sich eine internationale Verantwortung für die würdevolle Aufnahme und Betreuung der geflüchteten Afghan*innen in Deutschland, Europa und weltweit ab.

Anmerkungen

1) Die Zahl 4,8 Millionen bezieht sich auf den offiziellen Stand Ende 2015 (UNHCR 2016). Es gibt keine vergleichbaren neueren Angaben; UNHCR aktualisiert die Statistiken jeweils zum Juni des laufenden Jahres (zum Weltflüchtlingstag am 20.6.). Allerdings ist davon auszugehen, dass die Zahl in etwa unverändert ist, denn die Zahl der Geflüchteten im Jahresverlauf 2016 muss mit der Zahl der (zum großen Teil de facto unfreiwillig) Repatriierten aus Pakistan (511.762 bis 20.11.16) und Deportierten aus Iran (406.022 bis 20.11.16) aufgerechnet werden.

2) Addiert man zu den 1,7 Millionen Binnenvertriebenen die Zahl der 2016 Repatriierten und Deportieren (= 1.023.840 Personen, siehe Endnote 1), die vermutlich zum großen Teil ebenfalls kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren können, so muss von einer Zahl von bis zu 2,7 Millionen Entwurzelten innerhalb der Grenzen Afghanistans ausgegangen werden.

Literatur

Burbridge, H. et al. (2016): A survey of the Afghan people – Afghanistan in 2016. Washington, D.C.: Asia Foundation.

Amnesty International (2016): My children will die this winter – Afghanistan’s broken promise to the displaced. London: Amnesty International.

Mielke, K. und Grawert, E. (2016): Warum ­Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist. BICC Policy Brief 1/2016. Bonn: Internationales Konversionszentrum Bonn (BICC).

Roggio, B. (2016): Analysis – US military assessment of Taliban control of Afghan districts is flawed. Long War Journal, 2.11.16.

Schetter, C. und Mielke, K. (2016): Was von Kundus bleibt – Intervention, Gewalt und soziale Ordnung. Politische Vierteljahresschrift 57(4), S. 614-642.

Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction/SIGAR (2017): High Risk List 2017. Arlington/Virginia, January 11. 2017. SIGAR ist eine Einrichtung der US-Regierung.

United Nations Assistance Mission in Afghanistan/UNAMA (2016): Afghanistan – Protection of civilians in armed conflict. Annual Report 2016. Kabul, February 2017.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global trends. Forced displacement in 2015. Geneva.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs/UN OCHA (2016): Afghanistan: Conflict induced displacements (as of 27 November 2016).

Katja Mielke, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) und beschäftigt sich seit 2005 intensiv mit Afghanistan.

Migration und Flucht als Prozess


Migration und Flucht als Prozess

Die individuelle und gesellschaftliche Perspektive

von Yuriy Nesterko und Heide Glaesmer

Im Jahr 2015 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung, davon ca. ein Drittel über die Staatsgrenzen des jeweiligen Herkunftslandes hinweg (UNHCR 2016). Dies ist die höchste Zahl Schutzsuchender bzw. Vertriebener seit Ende des Zweiten Weltkrieges und spiegelt die Zunahme an bewaffneten Konflikten wider. Die Geflüchteten sind häufigen und wiederholten Belastungen und Traumatisierungen ausgesetzt, wobei diese nicht nur im Herkunftsland, sondern auch während und nach der Flucht erlebt werden. Sie stellen einen zentralen Risikofaktor für die psychische und physische Gesundheit dieses Personenkreises dar. Dieser Artikel erläutert den prozesshaften Charakter von Migration und Flucht aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive.

In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Konzepte zur Beschreibung von Migration entwickelt. In einigen Ansätzen wird die Migrationserfahrung als kritisches Lebensereignis oder gar als traumatisch aufgefasst. Andere Autoren gehen von einer weniger defizitorientierten Betrachtung aus und sehen Migration als Chance (Faltermeier 2001). Im Folgenden werden das Akkulturationsmodell von Berry (1997), das Migrationsphasenmodell von Sluzki (2001) sowie die Fluchtprozessmodelle von Berry (1991), Keilson (1979) und Becker (2006) vorgestellt.

Strategien der Akkulturation

Im Akkulturationsmodell von Berry werden Akkulturationsstrategien als Anpassungen an eine neue bzw. andere kulturelle Umgebung beschrieben (Berry 1997). Hier ist zwischen der Ebene der Gesellschaft und der des Individuums zu unterscheiden.

Manche Gesellschaften akzeptieren kulturelle Diversität und fördern diese, andere erwarten von Zuwanderer*innen eine Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, wieder andere grenzen Migrant*innen aus (Berry 2005). Berry beschreibt zwei Dimensionen der Orientierung: die Aufrechterhaltung der Herkunftskultur und die Hinwendung zur Aufnahmekultur. Er nimmt an, dass eine Ausprägung auf beiden Dimensionen hoch oder niedrig sein kann, was in vier Akkulturationsorientierungen resultiert (siehe Abb. 1). Dies gilt für die gesellschaftliche Ebene (Migrationspolitik, Einstellungen) wie auch für das Individuum. Wenn es das politische Ziel ist, die Migrant*innen an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen, spricht Berry (2005) von einem »Melting Pot«, und wenn sowohl die Herkunftskultur aufrechterhalten als auch eine Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft stattfinden soll, von »Multikulturalität«. Wenn die Integration der Einwanderer*innen nicht gewollt ist, können diese entweder ihre eigene Kultur weiter leben und sich in ethnischen Gruppen zusammenschließen (Segregation) oder ihnen wird die Aufrechterhaltung der Ursprungskultur verwehrt, was zur Exklusion führt.

Mehr noch als die Orientierungen auf gesellschaftlicher Ebene werden die auf der individuellen Ebene diskutiert. Analog zu der gesellschaftlichen Ebene spricht Berry (1997) von Assimilation, wenn Individuen ihre Herkunftskultur aufgeben und sich der Mehrheitskultur zuwenden, wenn sie im Gegenteil nur die »alte« Kultur aufrechterhalten und die neue Kultur nicht annehmen, von Separation. Wenn an beiden Kulturen partizipiert wird, wird von Integration gesprochen, und wenn ein Verlust der Ursprungskultur stattfindet, aber auch kein Interesse an der Aufnahmekultur besteht, von Marginalisierung. Auf individueller Ebene ändern sich nach Berry (1990, zitiert nach Schrader 2010) durch Akkulturation Verhalten, Identität, Werte und Einstellungen und nach Trimble (2003, zitiert nach Schrader 2010) auch Affekte und religiöse Glaubenssätze. Die individuelle und die gesellschaftliche Ebene sind nicht unabhängig voneinander. Es kann nur aus allen vier Strategien gewählt werden, wenn die Gesellschaft offen und inklusiv ist und dies zulässt (Berry 2005). Weiterhin wird die Orientierung der Gesamtgesellschaft von der Orientierung einzelner Personen beeinflusst.

Ausgehend von einer Vielzahl empirischer Untersuchungen bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen der Akkulturationsstile wird davon ausgegangen, dass die Integrationsstrategie auf längere Sicht zur nachhaltigen Reduktion von Akkulturationsstress führt und daher mit dem größten Wohlbefinden einhergeht (Schmitz 2001; Gavranidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Phasen der Migration

Ähnlich wie Berry beschreibt Sluzki (2001) Migration als ein Stress verursachendes Ereignis. Er erkennt im Prozess der Migration „[… -] sowohl über kulturelle Grenzen hinweg als auch innerhalb ähnlicher Kulturräume – eine erstaunliche Regelhaftigkeit“ und spricht sogar von einer „kulturübergreifenden Validität“ seines Modells. Den Verlauf der Migration unterteilt er in fünf Phasen (Abb.2).

Bei der Beschreibung der Phasen wird der Schwerpunkt auf Konflikte, Krisen und Anpassungserfordernisse aus dem Blickwinkel der Migrant*innen und ihres familiären Systems gelegt.

In der Vorbereitungsphase werden Informationen gesammelt, die die Entscheidung auszuwandern unterstützen bzw. in Frage stellen. Die meisten Migrant*innen bewältigen diese Phase recht erfolgreich (Gavronidou und Abdallah-Steinkopff 2007).

Als nächstes folgt der eigentliche Akt der Migration, der in seiner Dauer variieren und je nach Umständen Krisen verursachen kann.

In der Überkompensierungsphase sieht der Autor die erste Anpassung an die neue Umgebung. In dieser Zeit ist der Migrant/die Migrantin darauf bedacht, das Alltagsleben effektiv zu organisieren und neigt dazu, Widersprüchen und Unstimmigkeiten aus dem Weg zu gehen, indem diese »verleugnet« und «schöngeredet« werden. Die Phase ist durch erhöhte Anspannung gekennzeichnet, die oft in die Bereitschaft und den Wunsch mündet, sich möglichst gut der neuen Situation anzupassen. Diese Herangehensweise kann allerdings nicht dauerhaft aufrechterhalten werden, da „Träume und Sehnsüchte unter dem Druck der Realität zusammenbrechen“, was zu erneuten Spannungen führen kann.

Die Phase der Dekompensation ist durch Konflikte gekennzeichnet. Es ist die Zeit, in der Widersprüche realistisch eingeschätzt werden, die Anforderungen der Aufnahmegesellschaft eventuell zu hoch sind und die gewohnten Bewältigungsmechanismen nicht greifen. Infolgedessen können psychische und körperliche Symptome auftreten. Gavranidou und Abdallah-Steinkopff (2007) sehen in dieser Phase eine Verbindung zu Berrys Akkulturationsmodell, weil ein Abwägen zwischen den kulturellen Riten, Normen und Werten des Herkunftslandes und der Kultur der Aufnahmegesellschaft stattfindet.

Beendet wird der Prozess der Migration mit der Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse und der Integration. In diesem Stadium kommt es innerhalb der Familie zu Auseinandersetzungen mit noch offenen Migrationskonflikten und noch nicht bewältigten Anpassungsleistungen. Diese Aufgaben haben gegebenenfalls Vertreter*innen der nachfolgenden Generationen zu lösen.

Die Dauer der Phasen kann sehr unterschiedlich sein, und je nach Fragestellung kann das Modell unterschiedlich angewendet werden. Man kann die Stadien als biographiebezogene Etappen des Migrationsprozesses betrachten, gleichzeitig kann man die Phasen auf ein kurzes migrationsspezifisches Ereignis projizieren. Das Modell von Sluzki ist nicht nur wegen des dynamischen Verständnisses von Migration interessant, es liefert auch Hinweise für Reifungsschritte während des Verlaufs und berücksichtigt damit den Entwicklungsaspekt einer jeden Migration.

Menschen, die aufgrund bewaffneter Auseinandersetzungen, organisierter Gewalt und Verfolgung ihr Heimatland verlassen, sich lebensbedrohlichen Situationen während der Flucht aussetzen und nicht selten unter schwierigen Verhältnissen in dem Aufnahmeland leben, sind nicht nur im Hinblick auf ihre psychische Verfassung, d.h. auf der Individualebene, von den »regulären« Migranten zu unterscheiden. Auf Grundlage einer Vielzahl rechtlicher Bestimmungen der Herkunfts- und Aufnahmeländer, variierender politischer Haltungen innerhalb des jeweiligen Aufnahmelandes und folglich eines sehr breiten Spektrums an unterschiedlichen Institutionen, die die Aufnahme koordinieren bzw. übernehmen, durchlaufen die meisten Geflüchteten einen von der »regulären« Migration stark abweichenden Einwanderungsprozess.

Phasen der Flucht

Berry, der mit der oben beschriebenen Akkulturationstheorie die Migrationsforschung nachhaltig prägte, hatte einige Jahre zuvor bereits ein Modell vorgelegt, welches die typischen Phasen einer Flucht beschreibt. Neben den sechs aufeinanderfolgenden Phasen postuliert Berry (1991) eine Reihe von typischen Ereignissen und Erfahrungen, die Geflüchtete und Asylsuchende während der Flucht durchlaufen.

Mit der Aufbruchsphase wird vor allem der Zeitraum beschrieben, der die größte Notlage des Geflüchteten markiert. Je nach Umständen und Möglichkeiten kann es sich um eine kürzere oder längere Phase handeln, die häufig von Kriegsgeschehen, wirtschaftlicher Not, Verfolgung, Inhaftierung, politischer Unterdrückung, direkter körperlicher Gewalt und/oder anderen existentiellen Bedrohungslagen gekennzeichnet ist. Die Länge und Schwere dieser Phase haben einen direkten Einfluss auf den späteren Akkulturationsprozess, auch weil die Entscheidung hinsichtlich eines potentiellen Aufnahmelandes, d.h. die Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Leben im Exil, in dieser Zeit stattfindet.

Die Fluchtphase, die in ihrer Dauer ebenfalls stark variieren kann, geht meist mit weiteren traumatischen Erfahrungen, wie Ausbeutung, physischen und sexuellen Übergriffen, Verletzungen oder Tod und nicht zuletzt gefährlichen Reiserouten, einher. Eine zusätzliche Belastung in dieser Phase kann die Trennung von Familie bzw. die Abwesenheit von nahen sozialen Kontakten bedeuten.

Die erste Asylphase ist die Zeit der Unterbringung in Camps für Geflüchtete, meist nahe der Grenze zum Herkunftsland, die mit der Gefahr von Bombardierung, Inhaftierung oder Rückführung, aber auch mit häufig sehr widrigen Lebensumständen, wie mangelnder Hygiene, Wasser- und Nahrungsmangel, begrenzten bzw. nicht vorhandenen Rückzugsmöglichkeiten u.ä., einhergeht. Der überwiegende Anteil der aktuell Geflüchteten weltweit verbleibt in dieser Phase.

Ist das Zielland erreicht, folgt die Phase der Antragsstellung, womit das Warten auf die rechtliche Anerkennung beginnt. Diese Zeit, in der das Individuum auf institutioneller Ebene mit dem Fehlen von Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten im Hinblick auf seine Zukunft konfrontiert wird, ist oft von Unsicherheit, sozialer Isolation, unklaren Aufenthaltsbestimmungen und zum Teil drohender Abschiebung geprägt.

Nach einer Entscheidung im Asylprozess – sofern diese keine Rückführung nach sich zieht – folgt die Phase der Niederlassung. Erst hier, im anerkannten Asylstatus, sind die notwendigen Grundlagen für den Prozess der Akkulturation geschaffen. Diese Phase wird, vergleichbar mit Erfahrungen anderer Migrant*innen, durch »klassische« Migrationsbarrieren, wie z.B. Erlernen der neuen Sprache, erlebter Diskriminierung, erschwerter Arbeitssuche oder Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem, charakterisiert.

Abschließend wird im Sinne der erfolgreichen Akkulturation die Adaptionsphase postuliert, in der Integrationsbemühungen der Geflüchteten und der Aufnahmegesellschaft ineinandergreifen. Berry (1991) betont, dass nicht alle diese Phase erreichen und im Vergleich zu den »regulären« Migranten die persönlichen Ressourcen zur erfolgreichen Bewältigung aufgrund der vorangegangenen Belastungen bei Geflüchteten oft schwächer ausgeprägt sind.

Sequentielle Traumatisierung

Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung von Keilson (1979) gewinnt in den letzten Jahren vermehrt an Aufmerksamkeit. In einer Reihe von Untersuchungen, die auf der therapeutischen Arbeit mit in den Niederlanden verfolgten jüdischen Kriegswaisen basieren, postuliert Keilson drei Sequenzen des Traumaerlebens, die sich aus den Erfahrungen dieser Jugendlichen vor, während und nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten manifestierten. Im Kern seiner theoretischen Überlegungen erweitert Keilson das klassische, auf der Individualebene stattfindende Konzept der Traumatisierung um einen größeren sozialen und politischen Rahmen, der zum Bedingungsfeld des individuell erlebten Traumas erklärt wird. Eine weitere bedeutende Erkenntnis seiner langjährigen Forschung ist die Beschreibung der kumulativen Wirkung der erlebten Belastung in der jeweiligen Phase, wobei der letzten Sequenz – der Wiedereingliederungsphase nach dem Nationalsozialismus – die stärkste kumulative Wirkung des erlebten Traumas zugeschrieben wird. Genau diese Zeit, d.h. der Neuanfang und die Rückkehr zur Normalität, wurde von den erwachsenen Befragten Jahrzehnte später als die schwierigste Zeit beschrieben (Keilson, 1979).

In Anlehnung an Keilsons Idee der gesellschaftlichen Kontextualisierung eines jeden traumatischen Erlebnisses erweiterten Becker und Weyermann (2006) auf Grundlage ihrer Arbeit mit politisch Verfolgten in Chile das Modell der sequentiellen Traumatisierung um drei weitere Sequenzen.

Die erste Sequenz nach Becker und Weyermann beschreibt den Beginn des traumatischen Prozesses, das heißt die Vorbedingungen, wie etwa Krieg oder politische Verfolgung, wirtschaftliche und soziale Not. Die zweite Sequenz ist die Phase der Eskalation der Bedingungen vor Ort, die jedoch noch keine unmittelbare Bedrohung des Einzelnen bedeutet. Die dritte Sequenz ist die Phase der akuten Verfolgung, die durch extreme existentielle Erfahrungen, wie Verhaftung, Folter, Kriegsgeschehen oder Tod, gekennzeichnet ist. Die vierte Phase, auch Chronifizierungsphase genannt, beschreibt neben der anhaltenden akuten Bedrohung die kurzen Zeiten des Wartens zwischen den unmittelbaren Verfolgungs- bzw. Bedrohungssituationen. Die fünfte Sequenz definiert die Zeit des Übergangs nach der akuten Bedrohung. Die Phase ist durch kontextuelle Umbrüche und persönliche Krisen gekennzeichnet. Je länger diese Sequenz dauert, umso traumatischer wird sie erlebt. Die sechste und letzte Sequenz ist die Zeit nach der Verfolgung, in der der traumatische Prozess weiter andauert, auch wenn die eigentliche Bedrohung nicht mehr existiert. Ähnlich der dritten Sequenz von Keilson ist es die Phase der Wiedereingliederung sowohl auf individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Ebene.

In einer weiterführenden Arbeit übertrug Becker (2006) das Sechs-Sequenzen-Konzept auf die Situation der Geflüchteten und entwickelte ein Verlaufsmodell der potentiell traumatischen Sequenzen im Kontext von Flucht und Zwangsmigration (Abb. 3).

Die einzelnen Phasen bzw. Sequenzen sind dem Konzept von Berry (1991) sehr ähnlich und markieren die einzelnen, zum Teil von außen geschaffenen, institutionellen Stationen, die die meisten Geflüchteten durchlaufen. Eine Besonderheit des Ansatzes von Becker stellt die vierte Sequenz dar, die Chronifizierung der Vorläufigkeit. Es ist die Zeit, in der über den Asylantrag entschieden wird und Unklarheit hinsichtlich der eigenen Zukunft vorherrscht. Ein Ankommen im Aufnahmeland ist strukturell und innerpsychisch kaum möglich, der Bruch mit der Heimat setzt jedoch bereits ein. Diese Phase, in der der Einzelne eines wesentlichen Aspekts der eigenen Identität, nämlich der kulturellen bzw. ethnischen Zugehörigkeit, beraubt und als Geflüchteter seitens der Aufnahmegesellschaft stigmatisiert wird, kann unter Umständen mehrere Jahre dauern.

Psychische Belastungen

Die oben vorgestellten Modelle verdeutlichen den Prozesscharakter von Flucht und Migration aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Die verfügbaren Befunde zu psychischen Belastungen bei Geflüchteten in Deutschland und international weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung auf ein deutlich erhöhtes Risiko für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und andere psychische Störungen. Auch wenn verlässliche epidemiologische Daten fehlen, müssen wir davon ausgehen, dass mindestens 30-40 % der Geflüchteten klinisch relevante psychische Störungen aufweisen. In manchen Subgruppen mit besonders schwerwiegenden und langfristigen traumatischen Erfahrungen (z.B: Folteropfer, Kindersoldaten, Opfer sexualisierter Kriegsgewalt) dürfte die Häufigkeit psychischer Störungen deutlich höher sein (BAfF, 2015; Böttche et al. 2016).

Generell erleben Geflüchtete häufig lang andauernde, wiederholte und interpersonelle Traumatisierungen wie Krieg, Verfolgung und Folter (Johnson and Thompson 2008). Dazu kommen die Erfahrungen während der Flucht, in manchen Fällen über Wochen, Monate oder gar Jahre andauernd, welche mit weiteren traumatischen Ereignissen einhergehen können, aber auch mit Veränderungen, die sowohl kulturelle Werte als auch den sozioökonomischen Status und die sozialen Bezüge betreffen können (Assion et al. 2011).

Im Aufnahmeland erleben Geflüchtete häufig weitere Belastungssituationen, wie die Unsicherheit über den Aufenthalt und den Ausgang des Asylverfahrens. Zudem bietet das Leben in einer Erstaufnahmeeinrichtung bzw. einer Notunterkunft auf engstem Raum mit fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und kaum vorhandenen Beschäftigungsangeboten unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten, um angemessen mit Traumafolgen umzugehen (Steel et al. 2009). Betrachtet man Flucht als Prozess, der mit der Ankunft im Zielland nicht abgeschlossen ist, so spielen die Bedingungen und Erfahrungen im Aufnahmeland für den Verlauf psychischer Belastungen sowie für die Fähigkeiten zur Akkulturation eine wichtige Rolle. Die psychosoziale und therapeutische Betreuung kann dabei nur einen Teil leisten; bei der Verbesserung der Gegebenheiten und Regularien im Aufnahmeland (z.B. Unterbringung, Länge des Asylverfahrens, Arbeitserlaubnis) sind vor allem die Akteure auf politischer und Verwaltungsebene gefragt.

Unterscheidung zwischen Flucht und Migration

Ziel des Aufsatzes war es, theoretische Konzepte aus der Migrationsforschung heranzuziehen, um sich mit Migration und Flucht als Prozess auseinanderzusetzen und dessen Implikationen herauszuarbeiten. Zentraler Punkt ist die Betonung des Prozesscharakters der Migration bzw. der Flucht und dessen Bedeutung für die psychische Verfassung von Geflüchteten vor, während und nach der Flucht. Eine zu frühe Intervention oder eine pauschale Pathologisierung aller Geflüchteten als »Traumatisierte«, hinter der sich oft die Erwartung verbirgt, dass alle Geflüchteten psychische Probleme haben, ist in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll.

Vor dem Hintergrund der teilweise sehr kontrovers geführten Migrations- bzw. Integrationsdebatten in den meisten Aufnahmeländern sollte die Unterscheidung zwischen »regulären« Migranten und Asylsuchenden stets mitgedacht werden. Aus der Theorie wissen wir, dass die strukturell vorgegebenen und individuell erlebten Etappen eines »klassischen« Migrationsprozesses keinesfalls mit den Phasen einer Flucht gleichzusetzen sind. Wir wissen, dass bei »regulären« Migranten der Prozess der Akkulturation mit der Ankunft im Aufnahmeland einsetzt, wohingegen Geflüchtete erst in einem anerkannten Status in der Lage sind, der politisch und medial häufig zu lautstark geforderten Forderung nach Integration nachzukommen.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass das von Berry (1997) entwickelte und definierte Konzept der erfolgreichen Akkulturation (im Sinne der Integration bzw. Multikulturalismus) eine zweiseitige Auseinandersetzung – d.h. sowohl seitens der Migrant*innen bzw. Geflüchteten als auch vonseiten der Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft – mit der neuen und unbekannten Kultur meint. Ebenfalls psychologisch bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die unter Umständen über Monate und Jahre andauernde Phase des Wartens auf die Entscheidung über den Asylantrag, die Becker (2006) als „chronifizierte Vorläufigkeit“ beschreibt. Es ist naheliegend, dass sich in dieser Zeit die kumulative Wirkung eines erlebten Traumas mit schwerwiegenden Folgen für die psychische und physische Gesundheit des Betroffenen potenziert. Daher ist von großer Bedeutung, dass die aus der Forschung gewonnen Befunde und Erkenntnisse eine stärkere Berücksichtigung in der unmittelbaren Arbeit mit Geflüchteten erfahren – sowohl auf der Ebene der Versorgung als auch in der politischen und medialen Auseinandersetzung.

Literatur

Assion, H.; Bransi, A.; Koussemou, J. (2011): Migration und Posttraumatische Belastungsstörung. In: Seidler, G.H.; Freyberger, H.J.; Maercker, A. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 528-536.

Becker, D. (2006): Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten. Berlin: Edition Freitag.

Becker, D and Weyermann, B. (2006): Toolkit – Gender, Conflict Transformation and the Psychosocial Approach. Bern: Swiss Development Co-operation.

Berry, J.W. (1991): Refugee Adaption in Settlement Countries – An Overview with an Emphasis on Primary Prevention. In: Ahearn, F.L. and Athey, J.L. (eds.): Refugee children – theory, research, and services. The John Hopkins series in contemporary medicine and public health. Baltimore: John Hopkins University Press, S. 20-38.

Berry, J.W. (1997): Immigration, Acculturation, and Adaptation. Applied Psychology – An International Review, 46, S. 5-68.

Berry, J.W. (2005): Acculturation – Living successfully in two cultures (Special Issue: Conflict, negotiation, and mediation across cultures – highlights from the fourth biennial conference of the International Academy for Intercultural Research). International Journal of Intercultural Relations, 29(6), S. 697-712.

Böttche, M.; Heeke, C; Knaevelsrud, C. (2016): Sequenzielle Traumatisierungen, Traumafolgestörungen und psychotherapeutische Behandlungsansätze bei kriegstraumatisierten erwachsenen Flüchtlingen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59, S. 621-626.

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer/BafF (2015): Frühfeststellung und Versorgung traumatisierter Flüchtlinge – Konzepte und Modelle zur Umsetzung der EU-Richtlinien für besonders schutzbedürftige Asylsuchende. Verfügbar unter baff-zentren.org.

Faltermeier, T. (2001): Migration und Gesundheit – Fragen und Konzepte aus einer salutogenetischen und gesundheitspsychologischen Perspektive. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 93-113.

Gavranidou, M. und Abdallah-Steinkopff, B. (2007): Brauchen Migrantinnen und Migranten eine andere Psychotherapie? Psychotherapeutenjournal, 4, S. 353-361.

Johnson, H. and Thompson, A. (2008): The development and maintenance of post-traumatic stress dis-order (PTSD) in civilian adult survivors of war trauma and torture – A review. Clinical Psychology Review, 28, S. 36-47.

Keilson, H. (1979 [2005]). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern – Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1979. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Schrader, A.-C. (2010): Die Gesundheit spanischer Migranten in Deutschland – Effekte nach Migration aus interkultureller, stresspsychologischer und gesundheitspsychologischer Sicht. Dissertation; verfügbar unter https://repositorium.uni-osnabrueck.de/handle/urn:nbn:de:gbv:700-201005126250.

Schmitz, P.G. (2001). Akkulturation und Gesundheit. In: Marschalck, P. und Wiedl, K.H. (Hrsg.): Migration und Krankheit. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 123-145.

Sluzki, C.E. (2001): Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Hegemann, T. und Salman, R. (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 101-115.

Steel, Z.; Chey, T.; Silove, D.; Marnane, C.; Bryant, R.A.; van Ommerenn, M. (2009): Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement – a systematic review and meta-analysis. The Journal of the American Medical Association, 302, S. 537-549.

United Nations High Commissioner for Refugees/UNHCR (2016): Global Trends – Forced Discplacement in 2015. Geneva.

Dr. rer. med Yuriy Nesterko ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Med. Psychologie und Med. Soziologie, Universität Leipzig. Er forscht im Bereich Migration und Gesundheit.
PD Dr. P.H. Heide Glaesmer ist Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin und stellvertretende Abteilungsleiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig. Sie leitet die Arbeitsgruppe »Psychotraumatologie und Migrationsforschung«.

Flucht, Stadt und Rassismus

Flucht, Stadt und Rassismus

Geflüchtete in europäischen Städten

von René Kreichauf

Lagerähnliche Aufnahme- und Unterbringungspraktiken wurden im Kontext einer europäischen Angst vor Flüchtlingen als Teil asylfeindlicher Gesetzesvorhaben über Jahrzehnte etabliert. Die städtische Wohnversorgung von Geflüchteten spiegelt daher die Verräumlichung einer Gesetzgebung wider, die auf Ausgrenzung zielt. An den Beispielen Kopenhagen, Berlin und Madrid zeigt der Artikel die Strukturen, rassistischen Motive und Folgen dieser Lagerunterbringung auf.

Bis heute hat sich das System der Lagerunterbringung – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – verstetigt und fortwährend perfektioniert: Mittlerweile werden in allen EU-Mitgliedsstaaten Geflüchtete größtenteils in so genannten Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften in oder fernab von Städten zwangsuntergebracht. Der Umgang mit Geflüchteten, konkrete integrationspolitische Maßnahmen sowie insbesondere die Bereitstellung von Infrastrukturen und Wohnraum erfolgen zumeist lokal, aber nicht ohne Bezug zur europäischen und nationalen Flüchtlingspolitik.

Die Etablierung des Lagers in Kopenhagen, Berlin und Madrid

In Dänemark wird die Unterbringung der Asylsuchenden zentralistisch gesteuert. Das Udlandsservice (Einwanderungsbehörde) in Kopenhagen ist dem dänischen Justizministerium unterstellt und für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig. Es beauftragt das dänische Rote Kreuz oder Kommunen mit der Wohnraumversorgung. Die Unterbringung in Zentren ist in Dänemark Teil des Asylverfahrens und obligatorisch. Die Verteilung der Unterkünfte und von anerkannten Flüchtlingen erfolgt anhand der »Kommunekvoter«, einer Quote für die Zuweisung von Zugewanderten und Geflüchteten. Die Quote wird anhand der Einwohner_innenzahl einer Stadt und des Anteils (aller) Ausländer_innen berechnet. Kommunen, die bereits einen allgemein hohen Migrant_innenanteil haben (so genannte »Zero Communes« wie Kopenhagen, Arhus und Aalborg), dürfen keine weiteren Geflüchteten aufnehmen. In Kopenhagen gibt es daher keine Unterkünfte. Die Lager sind hier räumlich isoliert in Wäldern und alten Militäranlagen im Umland angelegt.

In Spanien werden die Lager direkt von der Subdirectora General Adjunta de Integración de los Inmigrantes (Integrationsbehörde) des Ministeriums für Arbeit und Soziales betrieben. Sie sind ein fester Bestandteil des spanischen Integrationsprogramms für Asylsuchende, das auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem und letztlich auf die Teilhabe der Flüchtlinge an der spanischen Gesellschaft abzielt. Mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden in Spanien werden – zumindest in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft – in Madrid untergebracht: Zwei (von vier) der staatlich betriebenen Centros de Acogida a Refugiados (ähnlich den deutschen Gemeinschaftsunterkünften), ein Abschiebelager, von Nichtregierungsorganisationen angemietete Wohnungen sowie Spaniens einzige Erstaufnahmeunterkunft befinden sich in der Hauptstadt. Obwohl sich die Unterkünfte insgesamt durch ihre Lage in Nachbarschaften auszeichnen, sorgt die Architektur der Unterkünfte (vergitterte Fenster, Eingangstore, hohe Zäune etc.) für räumliche Barrieren.

In Deutschland ist die Aufnahme und Unterbringung der Asylsuchenden im Asylverfahrensgesetz sowie im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Der »Königsteiner Schlüssel« entscheidet über die Verteilung der Geflüchteten auf die Bundesländer. Die konkrete Umsetzung der Gesetze und die Entscheidung über die Wohnformen obliegen den Ländern und Kommunen. Berlin ist, trotz der Möglichkeit, nach drei Monaten Aufenthalt privaten Wohnraum anzumieten, durch die Herausbildung eines Lagersystems geprägt, das aus drei offiziellen Erstaufnahmeeinrichtungen sowie ca. 60 Gemeinschafts- und Notunterkünften besteht und in dem ca. 75% der rund 40.000 Asylsuchenden untergebracht sind (Stand August 2015). Aufgrund der relativen Entscheidungshoheit über die Art der Wohnversorgung, die Auswahl von Betreiberfirmen bzw. -organisationen und von Standorten kann daher durchaus von einer Lagerpolitik als Stadtpolitik gesprochen werden.

Die untersuchten Städte beherbergen jeweils drei Lagerformen: Erstaufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft und Abschiebezentrum. In jüngerer Zeit wird ein Trend zur Zusammenführung der unterschiedlichen Funktionen erkennbar (Flughafenverfahren, Gemeinschaftsunterkünfte auch als Erstaufnahmezentren und Orte der Abschiebung, zentrale Lagerkomplexe wie Sandholm in Dänemark oder Tempelhof in Berlin). Durch die Dublin- und EURODAC-Verordnungen, die einen EU-weiten Austausch über die Identität der Flüchtlinge ermöglichen, sowie durch die Vereinheitlichung der Aufnahmebedingungen hat sich zudem ein untereinander verbundenes Geflecht von Lagern mit dem Ziel der europaweiten Organisation der Fluchtmigration und der Unterbringung herausgebildet (Kreichauf 2015).

Das Lager als sozialräumliche Exklusionsfigur und als Instrument der Abschreckung

Die (offizielle) politische und verwaltungstechnische Rechtfertigung für die Anlage der Massenunterkünfte verläuft in allen Fallbeispielen nach folgendem Argumentationsmuster: Der Anstieg der Zahl der Flüchtlinge war bzw. sei unvorhersehbar und zwinge Entscheidungsträger_innen zu einer spontanen und effizienten Antwort. Da die angespannten Wohnungsmärkte die Flüchtlinge nicht absorbieren können und die Unterbringung in privatem Wohnraum mit hohem Zeit- und Organisationsaufwand verbunden sei, entstehe ein Handlungsdruck, auf den nur pragmatisch mit der schnellen Bereitstellung großer Unterkünfte für die »Masse« der Asylsuchenden reagiert werden könne. So behauptete ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales: „Das ist einfach ein Gebot der schieren Not […]. Wir müssen kurzfristig reagieren. Da sind Wohnheime eben auch ein notwendiges Übel.“

Deutlich werden an diesem Vorgehen vor allem die Konstruktion eines fortwährenden Ausnahmezustandes und die Problematisierung der steigenden Flüchtlingszahlen, die die Massenunterkunft als vermeintlich unvermeidbare Reaktion legitimieren. Bei genauerer Betrachtung des empirischen Materials werden jedoch vier zentrale Ziele und soziopolitische Funktionen der Unterbringung in Lagern deutlich: 1.sozialräumliche Exklusion, 2. Abschreckung, 3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung sowie 4. Kontrolle und unmittelbarer Zugriff auf die Flüchtlinge.

1. Sozialräumliche Exklusion

Anhand von 35 Kategorien wurde im Rahmen der Studie »The European Fortress City« die sozialräumliche Exklusion in zehn Unterkünften in den untersuchten Städten hinsichtlich ihrer Lage, ihren räumlichen Ausgrenzungstendenzen sowie symbolischer und individueller Isolationsmechanismen bewertet. Auffällig ist, dass vor allem die Erstaufnahmeeinrichtungen physisch und symbolisch von ihrer Umgebung abgetrennt sind. In Dänemark ist die systematische räumliche Ausgrenzung der Asylsuchenden – politisch gesteuert durch die »Kommunekvoter« – am offensichtlichsten. Alle Unterkünfte sind außerhalb städtischer Siedlungen angelegt. Besonders prägnant ist die Lage und Struktur des Center Sandholm. Es bildet einen nach außen abgeschotteten Raum, der über Zäune und Mauern sowie eine Pförtneranlage und Einlass- bzw. Ausgangskontrollen abgesichert wird. Unmittelbarer Nachbar des Center ist ein militärischer Stützpunkt der dänischen Armee samt Schießübungsgelände.

2. Abschreckung

Alle interviewten Flüchtlingsorganisationen und -initiativen in Berlin und Kopenhagen hoben die Bedeutung des Diskurses über den Missbrauch des Asylrechts und sozialstaatlicher Leistungen hervor, der als Instrument für die Einführung der Lagerunterbringung genutzt wird. In diesem Zusammenhang ist das Flüchtlingslager ein Instrument der politisch forcierten Abschreckung weiterer Migrantinnen und Migranten einerseits und der Stigmatisierung der Asylsuchenden als »Sozialschmarotzer« andererseits. Das Lager hilft, das Bild »fremder Eindringlinge« zu konstruieren, und dient gleichzeitig als Rechtfertigung für den Umgang mit dieser Gruppe.

3. Disziplinierung und ökonomische Ausbeutung

In Madrid funktioniert das Heim als ein Ort, der die Integration durch gezielte Integrationsmaßnahmen, Sprachunterricht und Arbeitsmarktvorbereitungskurse fördern soll.„Das ist keine Unterkunft zum Essen und Schlafen, sondern es ist eine Unterkunft mit einem Arbeitsprogramm“, erläuterte eine Mitarbeiterin einer Unterkunft. Das Programm korreliert mit der sozialräumlichen Struktur der Unterkunft als Ort unmittelbarer Kontrolle, Einschüchterung und Bestrafung. Dies wurde bei der Befragung der Heimleitung deutlich: „Manchmal nehmen sie nicht teil. Dann muss man sie per Lautsprecher ausrufen, und wir können die finanzielle Unterstützung kürzen oder ihre Zeit in der Unterkunft beschränken.“ Das Programm ist primär an der ökonomischen Integration der Flüchtlinge ausgerichtet sowie an der Bedeutung ihrer Arbeitskraft für die spanische Wirtschaft, die bis zur Krise 2008 wesentlich vom Niedriglohnsektor und vom irregulären Arbeitsmarkt abhängig war (Frenzel 2009). Dass ein direkter staatlicher Zweck des Arbeitsmarkts- und Integrationstrainings, das mit der Unterbringung in der Massenunterkunft verbunden ist, die Herausbildung einer Masse billiger Arbeitskräfte für den irregulären Arbeitsmarkt in Spanien sein könnte, wurde von vielen spanischen Interviewpartner_innen vermutet.

Disziplinierungspraktiken und ausgeprägte Machthierarchien werden nicht nur physisch-symbolisch (Militäranlagen als Unterkünfte, Gitter vor Fenstern einiger Unterkünfte etc.) erkennbar, sondern zeigen sich auch in Strategien des Heimpersonals. Im Berliner Lager Klingsorstraße werden Informationen über Mietwohnungen nur an einzelne ausgesuchte Bewohner_innen weitergegeben. Im Center Sandholm gibt es ein »Activation Program«, das aus der Reinigung aller Räumlichkeiten, Wäsche waschen und Gartenarbeit besteht. Abwesenheit wird mit der Kürzung des Taschengeldes und mit schlechteren Wohnbedingungen sanktioniert.

4. Kontrolle und Zugriff auf Geflüchtete

Schließlich garantiert die Lagerunterbringung die Kontrolle und den Zugriff auf Migrant_innen während des Asylverfahrens, wie der Berliner Flüchtlingsrat erläuterte: „Neben der Abschreckung ist immer auch ein definiertes Ziel die Kontrolle. Das heißt der Zugriff auf den Ausländer zum Zweck der Abschiebung.“ Innerhalb der Unterkünfte gibt es dabei sowohl direkte als auch indirekte Kontrollformen. Während die direkte Kontrolle vor allem durch Identitätsprüfungen der Geflüchteten und Besucher_innen, physische Grenzen wie Mauern und Zäune, Wachpersonal und – wie in Madrid – auch durch Videoüberwachung bestimmt wird, werden indirekte Kontrollmechanismen vor allem durch Eingriffe in die Privatsphäre der Bewohner_innen erkennbar. Das Personal, aber auch andere Asylsuchende, erzeugen einen Zustand permanenter Beaufsichtigung, wie ein Flüchtling im Center Sandholm beschrieb: „Alles, was ich tue, wird kontrolliert: wann ich gehe, wann ich zurückkomme, wann ich Post erhalte und wann ich Wäsche wasche.“

Das Lager als rassistisches Merkmal europäischer Asylgesetzgebung

In den Untersuchungen zu Unterbringungspraktiken als materielle Verwirklichung der Asylgesetzgebung wird unmittelbar deutlich, dass das Lager den physischen Raum administrativer und politischer Gewaltausübung in Bezug auf Geflüchtete darstellt. Es ist ein Raum, der zur Entwicklung und Manifestierung des Eigenen und des (ethnisch) Fremden dient und dafür (als gesetzlich vorgeschriebene Unterbringung für Flüchtlinge) auch politisch initiiert wurde und wird. Miles (2000) argumentiert, dass dieser Einschluss durch Ausschluss – je nach Kontext, in dem dies stattfindet, und wenn ein rassistischer Diskurs vorangegangen war – rassistisch sein kann.

Die Entstehung der Lager und die Etablierung regulierender Asylgesetze in den 1980er und 1990er Jahren gehen in Dänemark und Deutschland auf eine politische Zielsetzung zurück: Die Zuwanderung soll durch Abschreckung und durch Verschlechterung des Lebensstandards der Migrant_innen verhindert werden. Dabei wurde in aller Deutlichkeit offen auf „rassistische Argumentationsmuster rekurriert“ und „Flüchtlingen ein absichtlicher Missbrauch des Asylrechts unterstellt“ (Wichert 1994). Diese Debatte und die bis heute geltenden und weiter ausgebauten Asylrechtsverschärfungen sind laut Morgenstern (2002) durch einen kulturalistischen Rassismus, die Berufung auf kulturelle Unterschiede und die vermeintliche Unmöglichkeit eines Zusammenlebens geprägt. Morgenstern (2002), Herbert (2001) und Bade (2015) stellen fest, dass eine konservative, restriktive Reaktion der Politik vielfach bis heute als einzige Lösung gegen den vorgeworfenen Missbrauch des Asylrechts angesehen wird.

In Bezug auf Ausländergesetze und die Rolle des Staates sprechen Kalpaka und Räthzel (1990) sowie Jäger (1992) dann von Rassismus, wenn 1. die Andersartigkeit von Menschen, beispielsweise durch körperliche Erscheinungsformen und kulturelle Merkmale, herausgestellt wird, wenn 2. diese negativ (oder auch positiv) bewertet wird, die Bewertung eines Menschen also einen Bezug zu angenommenen andersartigen Erscheinungsformen und kulturellen Merkmalen herstellt, und wenn 3. diese Bewertung aus einer Position der Macht vorgenommen wird. Hall (2000) erläutert in diesem Zusammenhang, dass rassistische Ideologien immer dann entstehen, wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft ist und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen. Essed (1991) und Link (2002) betonen, dass diese Form des Rassismus durch einen „weißen Konsens“ weniger erkennbar wird. Auch Pieper (2008) erklärt, dass durch die ideologische Funktion des Rechts als Basis des modernen Rechtsstaats diese rechtlichen Abwertungsprozesse „als normal, rechtlich geregelt und vor allem als gerecht und damit notwendig“ erscheinen und schließlich ihre rassistischen Komponenten verbergen.

In der Studie zu Berlin, Kopenhagen und Madrid wird deutlich, dass durch die Asylgesetzgebung und das Lager diskriminierende, ausgrenzende und rassisierende Markierungsprozesse stattfinden, die die Betroffenen als »fremd« und »nicht-zugehörig« bestimmen und ihnen dadurch eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft zuweisen. Asylsuchende in allen Untersuchungsstädten bezeichnen die Lager als Gefängnisse und als Orte, die sie nach außen kriminalisieren und in ihrer Lebensgestaltung unterdrücken. Befragte berichten von Diskriminierung (faul, da keine Arbeit; arm und dem Sozialstaat auf der Tasche liegend; kriminell, weil in einer gefängnisähnlichen Behausung lebend oder beim Schwarzfahren erwischt), die eng mit ihrem rechtlichen Status als Menschen ausländischer Herkunft mit unsicherem Aufenthalt und den durch die Asylgesetzgebung geschaffenen Zuständen zusammenhängen. Die Unterkünfte selbst spielen aufgrund ihrer Architektur, der städtebaulichen Anordnung und ihrer Lage eine besondere Rolle in der Entwicklung von Ressentiments gegenüber dem »Fremden«. Sie korrespondieren mit der rassistischen Markierung der Bewohner_innen und tragen gleichsam zu deren Verstärkung bei.

Die zwangsweise Unterbringung von Geflüchteten in Massenunterkünften erfolgt in allen Untersuchungsstädten seit der Verschärfung der jeweiligen Asylgesetzgebung in den 1980er und 1990er Jahren – nicht weil das Lager die humanitär oder ökonomisch »beste« Unterbringungsform darstellt und sinnvoll ist, sondern weil es die konkrete politische Aufgabe und Motivation verfolgt, als Symbol Zugewanderte abzuschrecken und als Raum die in einer fortschrittlichen Gesellschaft niedrigsten Lebensbedingungen anzubieten und rechtlich zu legitimieren. Die Lagersysteme und die einzelnen Lager sind als Räume der physischen wie sozialen Exklusion und als Folge der Ausländergesetzgebungen ein zentraler Bestandteil des – wie Pieper (2008) erörtert – institutionellen Rassismus.

Im Rahmen der Gesetzgebung entsteht Rassismus hiernach im Raum, und gleichermaßen entwickelt sich der Raum durch Rassismus. Die Lagerunterbringung zeigt damit zwei Dimensionen auf: Erstens werden die Geflüchteten durch die Verortung in diesem negativ konnotierten Raum als Gruppe überhaupt erst wahrgenommen – das ist der Ausgangspunkt rassisierender Markierungs- und Stigmatisierungsprozesse. Die Lagerunterbringung erzeugt Auffälligkeit durch bestimmte physische oder innere Strukturen (z.B. Konzentration von Menschen auf engstem Raum, Verlust der Privatsphäre, Abhängigkeit von Betreuenden bei der Verrichtung alltäglicher Aktivitäten,, erzwungene Erwerbslosigkeit etc.). Nach außen wird vermittelt, dass die Bewohner_innen einer Unterkunft nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, sondern als „subhuman beings“ (Untermenschen) oder „criminals and prisoners“ (Kriminelle und Zuchthäusler) wahrgenommen werden, wie Aktivist_innen in Berlin und Kopenhagen erläuterten. Diese Zustände tragen zur Entstehung von Konflikten innerhalb der Lagerbewohnerschaft und so wiederum zu Vorbehalten und irrationalen Ängsten in der Bevölkerung bei (=Rassismus durch Raumproduktion). Und zweitens ist dieser Raum überhaupt erst durch eine rassistische Gesetzgebung geschaffen wurden (= Raumproduktion durch Rassismus).

Das Lager als neuer Grenzraum in der europäischen Stadt

In allen drei Untersuchungsstädten schränken Asylgesetze den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen durch die gesetzlich vorgeschriebene Zwangsunterbringung in Lagern, Arbeits- und Ausbildungsverbote, das mittlerweile wieder in allen Untersuchungsstädten wirkende Sachleistungsprinzip, die Leistungskürzung unter das Existenzminimum und den systematischen Ausschluss von medizinischer Versorgung ein. Insgesamt verwehrt die Asylgesetzgebung damit den Geflüchteten rechtliche Möglichkeiten, für den Lebensunterhalt selbst zu sorgen und den Lebensalltag sowie das Lebensumfeld eigenständig zu wählen und zu gestalten.

Das Lager ist zentrales Resultat der Asylpolitiken auf supranationaler, nationaler und teilweise lokaler Ebene und gleichermaßen der Raum, in dem sich Asylpolitiken manifestieren. Herz (2008) bringt das prägnant zum Ausdruck: „The camp is politics having become space.“ (Das Lager ist zum Raum gewordene Politik.) Europaweit hat sich die Massenunterkunft als materielles Instrument von Asylpolitiken etabliert. Das Lager übernimmt die Funktion eines Grenzraums, der durch materielle wie symbolische Barrieren gekennzeichnet ist und den systematischen Ausschluss Zugewanderter mit unsicherem Aufenthaltsstatus von der Teilhabe am urbanen Leben garantiert – obwohl sie räumlich in (oder in der Nähe von) europäischen Städten leben.

Anmerkung

Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen des Projekts »The European Fortress City – The Socio-Spatial Exclusion of Asylum Seekers in Copenhagen, Berlin and Madrid«. Die Forschungsarbeit wurde im Rahmen des internationalen Masterstudiums »4 Cities – Unica Euro Master in Urban Studies« an der Vrije Universiteit Brussel, der Université Libre de Bruxelles, der Universität Wien, der Københavns Universitet, der Universidad Autónoma de Madrid und an der Universidad Complutense de Madrid von 2013 bis 2015 durchgeführt. Für diesen Beitrag wurden die Originalzitate aus den Interviews in Kopenhagen und Madrid ins Deutsche übersetzt.

Literatur

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Tobias Pieper(2008): Die Gegenwart der Lager – Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Frank Wichert(1994): Das Grundrecht auf Asyl – Eine diskursanalytische Untersuchung der Debatten im deutschen Bundestag. Unveröffentlichte Magisterarbeit, online beim Duisburger Institute für Sprach- und Sozialforschung (DISS).

René Kreichauf studierte Stadt- und Regionalplanung sowie Stadtsoziologie in Berlin, Brüssel, Wien, Kopenhagen und Madrid. Aktuell forscht er als Doktorand der Freien Universität Berlin und der Vrije Universiteit Brüssel zu Formen urbanen Asyls in europäischen und nordamerikanischen Städten.