»Die Ukraine wird gewinnen«

»Die Ukraine wird gewinnen«

Einschätzungen aus der Forschung zu Kriegsbeendigungen

von Wolfgang Schreiber

Nach mittlerweile fünf Monaten Krieg1 infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und angesichts der bisherigen Verluste an Menschenleben stellt sich immer drängender die Frage: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Dieser Beitrag versucht den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die bisher in diesem Krieg eingesetzten Mittel zur Beendigung (Sanktionen, Waffenlieferungen, diplomatischer Druck) gelegt.

In der deutschen Politik und Öffentlichkeit gibt man sich davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Da ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg aufgrund der Gefahr einer Eskalation zu einem Dritten Weltkrieg ausgeschlossen ist, sind es vor allem zwei Mittel, die Russland zur Beendigung des Krieges bewegen sollen: Waffenlieferungen an die Ukraine einerseits und die Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland andererseits. Dazu kommt noch ein gewisser diplomatischer Druck, der sich unter anderem in der Resolution der UN-Generalversammlung ausdrückt, in welcher der russische Angriff eindeutig verurteilt wird (UNGA 2022). Dieser Beitrag versucht im Folgenden den Krieg in der Ukraine in die Erkenntnisse der Forschung zur Beendigung von Kriegen einzuordnen.

Bisherige Forschung zu Kriegsbeendigungen

Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich.2 Ein breiteres Interesse an der Frage zur Beendigung von Kriegen lässt sich erstmals Anfang der 1970er Jahre ausmachen (z.B. Carroll 1970, Iklé 1971). Die nächste Welle breiter Beschäftigung mit dem Thema kann man Mitte der 1990er Jahre beobachten (z.B. Licklider 1993, King 1997, Heraclides 1997).

Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen auf der breiten Grundlage einer allgemeinen Kriege- oder Konfliktdatenbank blieben aber eine Ausnahme:3 Bei der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) findet sich in der einschlägigen Publikation zur Datenbank nur ein kurzes Kapitel zu Kriegsbeendigungen (Gantzel und Schwinghammer 1995, S. 160-167). Im Rahmen des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) wurde erst 2003 ein Projekt zur Erfassung und Auswertung von Daten zur Beendigung von bewaffneten Konflikten begonnen (Kreutz 2010).

Typen der Kriegsbeendigung

Klassisch wurde bei Forschungen zu Kriegsbeendigungen zwischen zwei Typen unterschieden: Sieg beziehungsweise Niederlage einer Seite oder eine Verhandlungslösung, die formal in einem Friedensvertrag oder Waffenstillstand besiegelt wird. Von den 242 Kriegen, die laut AKUF-Datenbank seit dem Zweiten Weltkrieg beendet wurden, entfallen auf militärische Siege knapp 54 und auf Vereinbarungen etwa 43 Prozent der Kriegsbeendigungen.

Als Ergebnis der Erweiterung der UCDP-Datenbank um Kriegsbeendigungen wurde insbesondere die These aufgestellt, dass zwischen den beiden Grundtypen eine Verschiebung durch das Ende des Ost-West-Konflikts stattgefunden habe: Weniger militärische Entscheidungen und mehr Verhandlungslösungen.

Die Mitte der 2000er Jahre sowohl vom UCDP als auch der AKUF zusammengestellten Daten belegten diese These mit gewissen Einschränkungen auch zunächst. Für die AKUF-Daten bis 2006 ergab sich bei den militärischen Entscheidungen eine Veränderung von gut 54 Prozent während zu etwa 46 Prozent nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (Schreiber 2011, S. 238). Wie aber den bis 2021 aktualisierten AKUF-Daten aus Tabelle 1 zu entnehmen ist, haben die letzten 15 Jahre dazu geführt, dass es fast keine Unterschiede mehr zwischen den prozentualen Anteilen vor und nach Ende des Ost-West-Konflikts gibt.

gesamt

1945-1988

1989-2021

Summe Militärische Siege

53,7 %

54,2 %

53,3 %

Sieg (Rebellen)

9,9 %

9,2 %

10,7 %

Sieg (Staat)

39,3 %

40,0 %

41,0 %

Sieg (zwischenstaatlich)

4,1 %

5,0 %

3,3 %

Sieg (sonstiges)

0,4 %

0,0 %

0,8 %

Summe Vereinbarungen

43,4 %

42,5 %

44,3 %

Vereinbarung (mit Vermittlung)

32,6 %

30,0 %

35,2 %

Vereinbarung (ohne Vermittlung)

10,7 %

12,5 %

9,0 %

Abbruch

3,3 %

3,3 %

2,5 %

Tabelle 1: Typen der Kriegsbeendigung

Faktoren bei der Beendigung von Kriegen

Wie leicht ersichtlich, haben Auswertungen zu Typen der Kriegsbeendigung ihre Grenzen. Sie sagen wenig darüber aus, unter welchen Bedingungen Kriege beendet werden. Die Benennung von möglichen Faktoren, die zur Kriegsbeendigung beigetragen haben, ist zwar nicht ausschließlich Neuland, wurde bislang nur im Rahmen eines Projektes innerhalb der AKUF an einer der allgemeinen Datenbanken vorgenommen.4 Die in der AKUF herausgearbeiteten Faktoren5 (vgl. Tabelle 2) unterscheiden sich dabei nicht grundlegend von den in der Literatur genannten.

1945-2006

Militärische Situation

74,9 %

Militärische Überlegenheit

60,2 %

Pattsituation

12,8 %

Militärische Erfolge/Niederlagen

1,9 %

Direkte militärische Intervention

8,1 %

Indirekte Interventionen militärischer Art

17,1 %

Externer Druck

26,1 %

Politisch/wirtschaftliche Situation

18,5 %

Regierungswechsel

10,0 %

Heterogenität/Spaltung der Rebellen

14,2 %

Gefangennahme/Tod von Rebellenführern

3,8 %

Sonstiges

14,2 %

alle Nennungen

186,7 %

Tabelle 2: Faktoren bei Kriegsbeendigung

Dass die militärische Situation bei knapp drei Viertel aller Kriegsbeendigungen als Faktor eine Rolle spielt, sollte angesichts der Tatsache, dass wir uns mit Kriegen beschäftigen, kaum verwundern. Direkte militärische Interventionen spielen vor allem auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle. Ein weiterer militärischer Faktor sind indirekte Interventionen. Hierunter fallen vor allem Waffenlieferungen, Ausbildungshilfe oder auch aktiv geduldete Rückzugsgebiete für Rebellen. Für Kriegsbeendigungen spielte dabei vor allem aber der Entzug dieser Formen von Unterstützung eine Rolle.

Der wichtigste der nichtmilitärischen Faktoren ist Druck, der von Dritten auf eine oder alle Kriegsparteien in Form von intensiven diplomatischen Bemühungen oder Sanktionen ausgeübt wird. Insbesondere länger andauernde Kriege können die politische oder wirtschaftliche Situation eines Landes oder einer Region so stark beeinflussen, dass dies zu einer Kriegsbeendigung beiträgt. Interessen- und Meinungsunterschiede innerhalb der Kriegsparteien sind ein weiterer Faktor, wenn sie zu Spaltungen oder Wechseln an der Spitze führen. Prominent – aber weniger häufig als Faktor anzutreffen – sind Gefangennahmen oder der Tod von Anführern, die eine Rebellengruppe entweder entscheidend schwächen oder zu einem Kurswechsel bewegen können. Es muss an dieser Stelle deutlich gemahnt werden, dass auch schon King (1997) in seiner Studie für jeden der von ihm herausgearbeiteten Faktoren betonte, dass sie auch in die gegenteilige Richtung, also konflikteskalierend und kriegsverstetigend wirken können.

Der Krieg in der Ukraine und die Forschung zu Kriegsbeendigungen

Welche Rückschlüsse lassen die bisherigen Ergebnisse der Forschung zu Kriegsbeendigungen für den Krieg in der Ukraine zu? Die erste einschränkende Antwort dazu lautet, dass statistische Verteilungen genau dies sind. Es ist daher schlicht nicht vorhersagbar, ob der aktuelle Krieg sich so verhält wie die Mehrheit oder ob er eine Ausnahme darstellt.

Schon die Frage der militärischen Situation lässt sich schwer beantworten: Wann liegt eine militärische Überlegenheit vor? Ist das nur der Unterschied in Material und Truppenstärken? Und – wenn der Krieg weiter andauert – wie sieht die Lage in ein paar Wochen aus? Die Einschätzung der militärischen Situation in einem andauernden Krieg hängt auch von Erwartungen an den zukünftigen Verlauf ab: Wird Russland weitere Gebiete erobern oder wird die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive starten können? Oder bleibt der Frontverlauf im Wesentlichen so, wie er sich derzeit darstellt?

Die politische und/oder wirtschaftliche Situation ist ebenfalls ein häufiger Faktor bei der Beendigung von Kriegen. In aller Regel kommt dieser aber erst mit einer gewissen Kriegsdauer zum Tragen. Eine Ausnahme besteht allenfalls dann, wenn der Krieg von vorneherein unpopulär ist. Beides trifft zurzeit weder auf Russland noch die Ukraine zu.

Kommen wir also zu den Faktoren, die NATO- und EU-Staaten derzeit als Mittel einsetzen. Da sind zunächst die indirekten militärischen Interventionen durch Waffenlieferungen für die Ukraine. Wie bereits oben bei der Erläuterung der Faktoren erwähnt, spielt dies für Kriegsbeendigungen vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Form der Unterstützung eingestellt wird. Waffenlieferungen führen im Gegenteil eher zu einer Verlängerung von Kriegen. Z.B. wurden Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre auffallend wenige Kriege beendet. In dieser Zeit wurden Kriegsparteien im Rahmen des Ost-West-Konflikts sehr freigiebig aus Moskau oder Washington unterstützt und mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet.6 Waffenlieferungen an die Ukraine können also zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert.

Als zweites bedeutendes Druckmittel setzen EU und NATO Wirtschaftssanktionen gegen Russland ein. Externer Druck ist zwar nach der militärischen Situation der zweithäufigste Faktor, der bei gut einem Viertel aller Kriegsbeendigungen eine Rolle spielt. Allerdings wird in der Datenbank nicht zwischen politisch/diplomatischem und wirtschaftlichem Druck unterschieden. Ein genauerer Blick in die Daten (Probst 2011, S. 280-375) zeigt aber, dass hier vor allem diplomatischer Druck eine große Rolle spielt.7 Dass Wirtschaftssanktionen so selten als mitentscheidender Faktor für Kriegsbeendigungen eine Rolle spielen, hängt auch mit der Natur dieses Mittels ab: Sanktionen können nur dann wirken, wenn es einen substanziellen wirtschaftlichen Austausch zwischen den Sanktionierenden und dem Sanktionierten gibt (vgl. Basedau et al. 2010, S. 3). Das ist zwar zwischen Russland und insbesondere der EU der Fall soweit es um Energierohstoffe wie Gas, Öl und Kohle geht. Diese gegenseitige Abhängigkeit schränkt aber auch die Sanktionsmöglichkeiten ein, da auch für diejenigen, welche Sanktionen verhängen, damit Kosten verbunden sind (Ebd., S. 6): Bestimmte Sanktionen gegen Russland werden daher erst vorgenommen oder angekündigt, wenn die eigene Energieversorgung gesichert scheint. Weitere Faktoren sind, dass es andere Abnehmer für russische Rohstoffe gibt – und nicht unbedingt aus dem Grund, weil diese Russland unterstützen.

Das dritte derzeit gewählte Druckmittel der intervenierenden Staaten ist diplomatischer Druck. Zwar wurde die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges mit einer großen Mehrheit von 141 Ja- zu 5 Nein-Stimmen bei 35 Enthaltungen angenommen. Allerdings ist Russland auch für die Staaten, die der Resolution zugestimmt haben, nicht etwa als Handels- oder auch nur Gesprächspartner diskreditiert. Eine Zeitenwende oder einen Epochenbruch hat für weite Teile der Welt am 24. Februar nicht stattgefunden (Plagemann 2022), wobei die Gründe für einzelne Staaten durchaus unterschiedlich sein können: Traditionelle Verbindungen zu Russland, der Wunsch in den Außenbeziehungen auch in Zukunft mehrere Optionen zu haben, das Verhalten westlicher Staaten in der Vergangenheit ebenso wie die geringe Rücksichtnahme des Westens bei den Sanktionen hinsichtlich der Auswirkungen auf Dritte (vgl. Zumach 2022).

Die Besonderheit des Ukrainekriegs

Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben. Auch wenn man sich die Frage stellt, welche ähnlichen Kriege es in der Vergangenheit gegeben hat, sind die Aussichten für ein baldiges Ende des Krieges eher schlecht. Am ehesten lässt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit anderen Kriegen vergleichen, wo eine Großmacht einem vermeintlich militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. Wenn es keine schnellen Siege gab, wie beim Ungarn-Aufstand, oder den Kriegen der USA gegen Grenada oder Panama, so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang. Insbesondere für die Erkenntnis, dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange: Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.

Inzwischen warnte auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg davor, dass der Krieg in der Ukraine Jahre dauern könnte (Tagesschau 2022). Angesichts der bisherigen Opferzahlen würde das Zehntausende von weiteren Toten bedeuten. Was könnte also eine Alternative sein? Zwar erst als Punkt 14, aber dennoch markant platziert fordert die UN-Generalversammlung in ihrer Resolution zur Verurteilung des Angriffs Russlands „nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“ (UNGA 2022).

Anmerkungen

1) Durch die Aussage „fünf Monate“ darf nicht übersehen werden, dass in der Ostukraine bereits seit 2014 ein Krieg mit russischer Beteiligung stattfindet.

2) Ein Überblick zum Forschungsstand findet sich bei Probst 2011, S. 21-85.

3) Die knappen statistischen Analysen der aktuellsten Publikation des Projektes »Correlates of War« gehen auf Fragen der Kriegsbeendigung nicht ein (Sarkees und Wayman 2010, S. 562-569).

4) Licklider 1993, Heraclides 1997 und King 1997 haben jeweils eigene Datensätze mit begrenzten Zeiträumen oder Konfliktgegenständen erstellt.

5) Die Daten der Tabelle 2 beziehen sich nur auf den Zeitraum 1945-2006. Eine Aktualisierung dieser Daten war – anders als für Tabelle 1 – für diesen Beitrag aufgrund der höheren Komplexität nicht möglich. Die Faktoren summieren sich auf über 100 Prozent da mehrere Faktoren zusammen zu einer Kriegsbeendigung beigetragen haben können.

6) Das lässt sich auch dem im Rahmen des UCDP erstellten Datensatz zur externen Unterstützung in bewaffneten Konflikten entnehmen (Högbladh et al. 2011; der zugehörige Datensatz unter ucdp.uu.se/downloads/).

7) Das gilt noch mehr für zwischenstaatliche Kriege, wo dieser Faktor bei über einem Drittel der Kriegsbeendigungen als relevant eingestuft wurde (Probst 2011, S. 110).

Literatur

Basedau, M.; Portella, C.; von Soest, Ch. (2010): Peitsche statt Zuckerbrot: Sind Sanktionen wirkungslos? (GIGA Focus Global 11/2010), Hamburg.

Carroll, B. A. (1970): War termination and conflict theory: Value premises, theories and policies. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 392(1), S. 14-29.

Gantzel, K. J.; Schwinghammer, T. (1995): Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1992. Daten und Tendenzen. Münster: LIT Verlag.

Heraclides, A. (1997): The ending of unending conflicts: Separatist wars. In: Millennium: Journal of International Studies 26(3), S. 679-707.

Högbladh, S.; Pettersson, Th.; Themnér, L. (2011): External support in armed conflicts 1975-2009 – presenting new data. Unveröffentlichtes Manuskript, International Studies Association Convention in Montreal 2011.

Iklé, F. Ch. (1971): Every war must end. New York: Columbia University Press.

King, Ch. (1997): Ending civil wars – Adelphi Paper 308. Oxford/New York: Oxford University Press.

Kreutz, J. (2010): How and when armed conflicts end. Introducing the UCDP conflict termination dataset. In: Journal of Peace Research 47(2), S. 243-250.

Licklider, R. (1993): How civil wars end: Questions and methods. In: Ders. (Hrsg.): Stopping the killing. How civil wars end. New York: New York University Press, S. 3-19.

Plagemann, J. (2022): Die Ukraine-Krise im globalen Süden: kein “Epochenbruch” (GIGA Focus Global 2/2022), Hamburg.

Probst, M. (2011): Kriegsbeendigungen. Eine empirische Analyse der Faktoren und Prozesse der Deeskalation von Kriegen. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag.

Sarkees, M. R.; Wayman, F. W. (2010): Resort to war 1816-2007. Washington: Sage.

Schreiber, W. (2011): Wie Kriege enden. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg.): Krieg im Abseits. „Vergessene Kriege“ zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Wien/Berlin: LIT Verlag, S. 233-249.

Tagesschau (2022): Stoltenberg zur Ukraine NATO rechnet mit langem Krieg. 19.06.2022.

UNGA (2022): Resolution der Generalversammlung A/RES/ES/11/1. 18.3.2022.

Zumach, A. (2022): Selektivität und doppelte Standards. Die UNO vor dem Rückfall in die Blockaden des Kalten Krieges. In: W&F 2/2022, S. 21-23.

Wolfgang Schreiber, Dipl.-Math., ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg.

Das Investigative Commons

Das Investigative Commons

Aufarbeitung von Verbrechen durch zivilgesellschaftliche Organisationen

von Anne Schroeter

Mit der Gründung des »Investigative Commons« haben zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene eine neue Möglichkeit, Taten und Täter*innen zu ermitteln und Verbrechen aufzuarbeiten. Der multidisziplinäre Ansatz der Projekte erlaubt eine neuartige inhaltliche und visuelle Verzahnung der Beweissicherung. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des Investigative Commons und seinen Beitrag zur Ermittlung von Täter*innen.

Seit seiner Gründung sieht das »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) sein Ziel darin, von Menschenrechtsverletzungen betroffene Menschen dabei zu unterstützen, dass die Verantwortlichen für diese Taten zur Verantwortung gezogen werden. Das ECCHR arbeitet dazu in vier Programmen zu den Themen Völkerstraftaten, Wirtschaft und Menschenrechte, Migration sowie dem Institut für juristische Intervention. Primat all dieser Programmbereiche ist das »Kehren vor der eigenen Haustür« – das ECCHR nimmt sich vor allen Dingen der Handlungen europäischer Akteur*innen an oder stellt gemeinsam mit Betroffenen einen Bezug zu den jeweiligen europäischen Rechtsrahmen her. Dabei ist es sich der Ambivalenz des Rechts bewusst – einerseits als Ausdruck historischer Ungleichheiten und gleichzeitig als Mittel, um nun für die Überwindung eben jener Ungleichheiten zu streiten und eine entsprechende Rechts­praxis auszugestalten. Bei der Verfolgung von Täter*innen kommt auch das klassische nationale und internationale Strafrecht zum Einsatz. Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen kann aber ebenso von Staaten vor internationalen Gerichten und UN-Mechanismen sowie von Unternehmen vor zivilen Gerichten eingefordert und übernommen werden.

Einen ähnlichen Ansatz nutzt auch die Forschungseinrichtung »Forensic Architecture«, die mit marginalisierten und diskriminierten Individuen und Gruppen zusammenarbeitet, die von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in besonderem Maße betroffen sind. Die Forscher*innen von Forensic Architecture erstellen Sachverständigenberichte zur Verwendung in Gerichtsverfahren. Zusätzlich bedient sich Forensic Architecture weiterer öffentlicher Foren, um ihre Fallberichte vorzustellen und Fehlverhalten anzuprangern. Die Projektbeteiligten nutzen dafür beispielsweise künstlerische Aktionen, Medienberichte oder sogenannte Bürger*innen-Tribunale (Citizen-Tribunals).

Die Idee des »Investigative Commons«

Forensic Architecture und das ECCHR haben in den letzten Jahren gemeinsam eine Reihe von Projekten verwirklicht, unter anderem zu tödlichen Drohnenangriffen in Pakistan, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen in Syrien, tödlicher Fahrlässigkeit von Unternehmen in Pakistan sowie Gewalt gegen Migrant*innen an den Grenzen der EU.1 Daraus entstand eine Idee für eine neue Art der Menschenrechtsarbeit, die 2014 in der Ausstellung »FORENSIS« im Berliner Haus der Kulturen der Welt vorgestellt wurde: gemeinsame Untersuchungen, vorgebracht im Rahmen von innovativen juristischen Strategien, die das Ziel haben, Verantwortung und Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Foren – beispielsweise den Medien, Kultureinrichtungen oder Gerichtssälen – einzufordern.2 Im Jahr 2020 eröffneten die beiden Organisationen dann ein gemeinsames Büro in Berlin, in dem diese interdisziplinäre Arbeit weiter ausgebaut werden soll. Es trägt den Namen »Investigative Commons«, um auszudrücken, dass Untersuchungen im menschenrechtlichen Bereich zwingend die gemeinsame Arbeit unterschiedlicher Fachleute innovativ kombinieren und ergänzen muss, wenn sie gegen post-faktische Narrative bestehen will.

Die Gründung des Investigative Commons sieht sich als Antwort auf die Entwicklungen der letzten Jahre, in denen rassistische und nationalistische Tendenzen und Diskurse genutzt werden, um gewaltvolle Handlungen und Wahrheiten zu verschleiern. Während das Wort „forensis ursprünglich einen öffentlichen Raum bezeichnete, in dem Fakten und Wissen von Interesse für die Gemeinschaft ausgetauscht wurden, ist die heutige Verwendung des Wortes oft auf das Vortragen von Beweismitteln in Form von staatlichen Ermittlungserkenntnissen und Sachverständigen im Rahmen von streng geregelten Gerichtsverfahren zugespitzt. Durch das Investigative Commons soll zu diesem staatlichen Monopol ein Gegengewicht gebildet werden. Es soll also auf Grundlage verschiedener Disziplinen und Fachwissen Wahrheit jenseits des Gerichtsverfahrens faktenbasiert aufbereitet, visualisiert und öffentlich kommuniziert werden. Diese Form der Menschenrechtsarbeit will es der Zivilgesellschaft ermöglichen, für die Wahrheit zu kämpfen – und es so als Gemeingut (»Commons«) verstanden wissen. Da die beiden Trägerorganisationen langjährige Erfahrung in der öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse haben, werden auch die vom Investigative Commons erstellten Fallstudien nicht nur in Gerichtssälen und bei Untersuchungskommissionen, sondern auch bei öffentlichen Aufarbeitungsbemühungen, in interaktiven Medien und bei Ausstellungen eingesetzt werden.

Interdisziplinäre Kooperation

Das Investigative Commons ist daher eine multidisziplinäre Zusammenarbeit, die ermittelnde Gruppen (NGOs, Investigativjournalist*innen und andere) mit Anwält*innen, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen und Kultureinrichtungen zusammenbringt. Es fördert neben der konkreten Fallarbeit auch die konzeptionelle und technische Forschung, den Austausch von Fachwissen und den Aufbau von Kapazitäten. Um eine Kerngruppe von Mitarbeitenden herum werden befreundete Organisationen und Kolleg*innen Forschungs- oder Kooperationsaufenthalte absolvieren können und neue Untersuchungstechniken, neue Formen der Beweisführung und neue Foren der Interessenvertretung und Prozessführung erarbeiten. Die daraus resultierenden Veröffentlichungen sollen Wege zu neuen Methoden der Rechenschaftspflicht in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, Umweltgewalt und koloniale Hinterlassenschaften ebnen.

Zum Beispiel werden im Moment Methoden zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen entwickelt, die bisher nicht angemessen forensisch untersucht wurden. Dabei werden zur Verfügung stehendes historisches Material und aktuelle Satellitenbilder in einem Kartierungsprozess übereinander gelegt und diese visuellen Ergebnisse in die Erinnerungen von Überlebenden und deren Nachfahren eingebettet. Außerdem arbeiten wir weiter an Techniken der Open-Source Recherche. Mit Hilfe von öffentlich (und häufig im Internet) zugänglichen Daten können Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung korrekt verortet werden. Mittels dieses Prozesses der Geolokalisierung können also Tatorte identifiziert und weitere Anhaltspunkte für mögliche Verantwortliche und Tatabläufe gewonnen werden.

Zu den Gründungsprojekten des Investigative Commons gehören Untersuchungen zur Verantwortung von europäischen Unternehmen für Kriegsverbrechen im Jemen (siehe dazu weiter unten), zum deutschen Völkermord an den Herero und Nama und zu den gewaltsamen »Push­backs« von Migrant*innen aus Griechenland in die Türkei.

Entwicklung neuer Methoden

Im Jahr 2012 kooperierten Forensic Architecture und das ECCHR zum ersten Mal – lange vor der Gründung des Investigative Commons. Damals, kurz nach dem Beginn des massiven Einsatzes bewaffneter Drohnen im sogenannten »War on Terror« der US-Regierungen, wurden bei solch einem Einsatz im pakistanischen Mir Ali am 4. Oktober 2010 ein deutscher Staatsbürger sowie vier weitere Personen getötet. Nachdem der Generalbundesanwalt zunächst Ermittlungen einleitete, kritisierte das ECCHR den schnellen Abschluss der Ermittlungen und die fortdauernde Straflosigkeit (vgl. ECCHR 2013). Forensic Architecture und das ECCHR konnten gemeinsam mit einer überlebenden Zeugin und ihren Erinnerungen den Vorfall detailliert rekonstruieren (vgl. Forensic Architecture 2013). Diese Fallstudie wurde anschließend in mehreren Ausstellungen gezeigt und war der Gründungsmoment einer seither von Forensic Architecture weiterentwickelten Interview-Methodik des „situated testimony“ (Weizman 2020). Die Untersuchung und das Ergebnis wurden außerdem vom UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten und Terrorismusbekämpfung in einem Bericht sowie vor der Generalversammlung der UN präsentiert (vgl. HRC 2014, S. 12f.). Er stellt damit ein erstes Beispiel der kollaborativen Menschenrechtsarbeit verschiedener NGOs vor verschiedenen Foren – Gerichten, UN-Organen und Kulturinstitutionen – dar.

Von besonderer Bedeutung ist außerdem die Aufarbeitung des Brandes in der Textilfabrik Ali Enterprise in Karachi im September 2011 bei dem 259 Personen starben. Gemeinsam mit und im Namen von Hinterbliebenen und Überlebenden reichte das ECCHR eine Schadensersatzklage gegen einen der Hauptabnehmer der Textilfabrik, den deutschen Textildiscounter KiK, beim Landgericht Dortmund ein (vgl. ECCHR 2019). Seinerzeit wurde Forensic Architecture beauftragt, den Brand selbst sowie die tödlichen Auswirkungen der zugestellten oder verschlossenen Fluchtwege nachzustellen (vgl. Forensic Architecture 2018). Basierend auf Untersuchungsberichten zum Fabrikbrand, offiziellen Unterlagen und gesetzlichen Bestimmungen zum Brandschutz in Pakistan, Zeug*innenaussagen sowie Satelliten- und Fotoaufnahmen des Fabrikgebäudes, zeigt die Untersuchung das Fehlen oder fehlerhafte Funktionieren von Treppen, Notausgängen, Alarmsirenen und Feuerlöschern im Fabrikgebäude. Forensic Architecture kommt zu dem Schluss, dass viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Sorgfaltspflichten im Brandschutz eingehalten worden wären. Aus Sicht der beiden Organisationen zeigte die Untersuchung die Verantwortung von KiK als Hauptproduzent in der Fabrik auf, der seinen Einfluss nicht genutzt hatte, um auf bessere Arbeits- und Feuerschutzmaßnahmen zu bestehen. In Deutschland war dieser Fall wegweisend für die Bemühungen eines Bundesgesetzes zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten (das sogenannte »Lieferkettengesetz«), das 2021 verabschiedet wurde.

Völkerrechtsverbrechen im Jemen

Im Juni 2021 wurde das erste Projekt des neugegründeten Investigative Commons vorgestellt. Es basiert auf einer Strafanzeige, die das ECCHR gemeinsam mit Mwatana for Human Rights und weiteren europäischen Partnerorganisationen im Dezember 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hatte. Die Anzeige benannte die strafrechtliche Verantwortlichkeit von staatlichen Stellen und Rüstungskonzernen in fünf europäischen Ländern für ihre Waffenexporte nach Saudi Arabien und für die mit diesen Waffen begangenen völkerrechtswidrigen Luftangriffe.

Die interaktive Online-Plattform, die in der Folge von Forensic Architecture und dem ECCHR gemeinsam mit den Organisationen Bellingcat und Yemeni Archive entwickelt wurde, zeigt den Fußabdruck eben dieser europäischen Waffenexporte im Krieg in Jemen.3 Sie stellt Luftangriffe zwischen 2015 und 2020 auf einer Landkarte und einem Zeitstrahl dar und setzt diese jeweils in Beziehung zu europäischen Rüstungsfirmen. Diese Beziehung ist entweder nachgewiesen, wenn am Tatort identifizierbare Trümmerteile der Waffen aufgefunden wurden, oder vermutet, da die die technische Ausstattung der saudischen Luftwaffe darauf hinweist, dass europäische Waffen eingesetzt wurden. Nutzer*innen der Plattform können die Frequenz der Luftangriffe mit anderen relevanten Ereignissen zum Export europäischer Waffen und der Verletzung des humanitären Völkerrechts abgleichen und dabei feststellen, dass (a) völkerrechtswidrige Luftangriffe im Jemen keine Seltenheit oder Einzelfälle sind; und dass (b) dies weithin bekannt war und weder zu einer Einstellung oder dem Widerruf von Exportgenehmigungen noch zu einem Aussetzen der Exporte aus Europa geführt hat.

Die Plattform visualisiert also die Beweisführung, die in der Strafanzeige zum Internationalen Strafgerichtshof vorgetragen wurde. Auf dem Zeitstrahl ist erkennbar, dass sowohl europäische Rüstungsfirmen als auch Regierungen von Anfang an von den Verbrechen Kenntnis hatten, daraus aber die einzig richtige Konsequenz nicht gezogen wurde: der Stopp der Waffenexporte an die saudisch geführte Koalition. Die Strafanzeige fordert daher Konsequenzen ein und will das System der europäischen Waffenexporte und die damit begangenen Kriegsverbrechen aufzeigen.

Identifizierung von Täter*innen

Inwiefern die Weiterentwicklung der unterschiedlichen oben angesprochenen Methoden und der Kooperation im Rahmen des Investigative Commons zur besseren Identifizierung weiterer Täter*innen führen kann, die dann auch vor Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls zeigen die oben aufgeführten Beispiele schon jetzt, dass Täter*innen keinesfalls immer Individuen sein müssen. Auch wenn hinter Unternehmen im Endeffekt natürliche Personen stehen, können auch juristische Personen für Unrecht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Ähnlich auch staatliche Politiken, die zwar von Menschen gemacht werden, aber durch Verfahren der Staatenverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden können.

Außerdem ist ersichtlich, dass es sich bei vielen Tatkomplexen um arbeitsteilig organisierte und aufgeteilte Kriminalität handelt. Zum einen sollen natürlich Führungspersönlichkeiten dieser Systeme zur Anklage gebracht werden. Zum anderen sollen durch das Investigative Commons aber auch das jeweils dahinterstehende Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen und Strukturen bei der Begehung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen durchleuchtet, der Öffentlichkeit aufgezeigt und letztendlich zur Verantwortung gezogen werden. Beim Aufklären von systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Umweltgewalt geht es also nicht zwangsläufig darum, individuelle Täter*innen zu identifizieren und einem strafrechtlichen Verfahren zuzuführen. Vielmehr ist es notwendig, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Taten bekannt zu machen, aufzuklären und dann mit verschiedenen Mitteln Verantwortung einzufordern – vor Gerichten, in den Medien oder in Museen.

Ausblick

Neben der Fallarbeit wird das Investigative Commons auch öffentlich eine kritische Debatte über aktuelle politische Herausforderungen, Technologie, Menschenrechte, Medien und Ästhetik fördern – in offenen Seminaren für ein breiteres Publikum und in geschlossenen Workshops. Den ersten Anstoß dazu gab die Ausstellung »Investigative Commons« im Sommer 2021 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Darauf folgte im Oktober 2021 die Konferenz »Socializing Evidence«, die unterschiedliche forensische Analysemethoden und ihre Nutzbarkeit in verschiedenen künstlerischen und juristischen Interventionen diskutierte. Weitere werden folgen.

Anmerkungen

1) Alle geschilderten Beispiele sind über die Homepages von Forensic Architecture (forensic-architecture.org) und dem ECCHR (ecchr.eu) zu finden.

2) Die Ausstellung »Forensis« von 2014 ist immer noch über die Homepage des HKW abrufbar: hkw.de.

3) Die Plattform lässt sich unter yemen.forensic-architecture.org finden.

Literatur

ECCHR (2013): Gezielte Tötung durch Kampfdrohnen. Gutachterliche Stellungnahme zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt. Oktober 2013. Berlin.

ECCHR (2019): KiK-Verfahren belegt: Deutschland muss Haftungspflichten von Unternehmen grundlegend reformieren. Pressemitteilung, 21.5.2019.

Forensic Architecture (2013): Drone strike in Mir Ali. Homepage, 16.4.2013.

Forensic Architecture (2018): The Ali Enterprise factory fire. Homepage, 30.01.2018.

Human Rights Council (2014): Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Ben Emmerson. A/HRC/25/59, 11.3.2014.

Weizman, E. (2020): The Architecture of Memory. Interview von Nick Axel. E-flux Architecture, November 2020.

Anne Schroeter ist Koordinatorin des Investigative Commons beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR).

Gewalt gegen Frauen

Gewalt gegen Frauen

Immer noch ist das Private nicht politisch

von Gisela Notz

In der übergroßen Mehrheit der Fälle erleben Frauen häusliche Gewalt durch Männer. Dies weist auf große strukturelle Probleme hin und kann nicht mit einer vermeintlichen »Devianz« einzelner Männer erklärt werden. In diesem Beitrag soll es vor allem um die Gewalt gegen Frauen, insbesondere in Partnerschaft und Familie, gehen und darum, warum das Private immer noch nicht politisch ist. Beleuchtet wird die Rolle der Frauen(haus)bewegung und ihr Einfluss auf das politische Handeln zur Ahndung dieser Taten. Abschließend geht es um mögliche Ansätze der Gewaltprävention, die über die verbale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema hinaus gehen.

Direkte personale Gewalt gegen Frauen ist immer eingebettet in gesellschaftliche, strukturelle und kulturelle Machtverhältnisse. Sowohl kulturelle als auch strukturelle Gewalt können Formen personaler Gewalt beeinflussen, ziehen diese aber nicht automatisch nach sich. Personale Gewalt in Partnerschaft und Familie zeichnet sich daher oft durch ungleiche Machtverteilung zwischen den Ausübenden, meist Männern, und den Betroffenen, meist Frauen, aus.

Die häufigste Form von personaler Gewalt findet im häuslichen Bereich statt. Wobei es sich bei einem Großteil der Täter um den Ehemann bzw. männlichen Lebensgefährten des Opfers handelt. Häusliche Gewalt erleben Frauen jeden Alters, aller Einkommens- und Bildungsschichten sowie ethnischer Herkunft. Lesbische, bisexuelle Frauen, trans- oder intergeschlechtliche Personen sind aufgrund ihrer Mehrfachdiskriminierung oft verstärkt Gewalt ausgesetzt. Dass zwei Drittel aller Frauen in den Frauenhäusern Migrantinnen sind, hat vielerlei Gründe: Sie sind verhältnismäßig ärmer, haben oft keine eigenen sozialen Netzwerke, unterliegen ohnehin Diskriminierungen, z. B. auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, und haben oft kein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Besonders in Lagern (sogenannten »Sammelunterkünften«) sind sie einem hohem Gewaltrisiko ausgesetzt.

Auch häusliche und strukturelle Gewalt sind, vor allem wenn Frauen aufgrund der familistischen Systeme ökonomisch auf die Unterstützung von Männern angewiesen sind, eng miteinander verknüpft. Ebenso spielen kulturelle Aspekte sowohl bei einheimischen als auch bei Gewalttätern, die aus anderen Ländern kommen, eine Rolle, indem sie Taten als »kulturell legitimiert« erscheinen lassen. Laut der Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) für das Jahr 2020 lag die Zahl der Fälle partnerschaftlicher Gewalt in der BRD bei 148.031, 80,5 % der Opfer waren Frauen. Jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt (vgl. BAFzA). 139 Frauen wurden im selben Jahr durch (Ex-)Partner getötet. Das heißt, alle zweieinhalb Tage geschieht ein Femizid, ein Mord von Frauen oder Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Hinzu kommen 220 versuchte Femizide. Femizide werden häufig als Familiendrama, Ehrenmord, Trennungstötung, Eifersuchtsdrama etc. heruntergespielt. Das verharmlost, dass Männer »ihre« Frauen ermorden, weil sie glauben, das Recht dazu zu haben. Sie morden vor oder nach Trennungen, weil die Frauen schwanger sind, weil Frauen eigene berufliche Erfolge haben oder eigene Wege gehen wollen. Das Dunkelfeld ist bei allen Straftaten erheblich.

Häusliche Gewalt ist sowohl körperlich als auch seelisch deshalb besonders belastend, weil sie dort stattfindet, wo Frauen und Kindern Schutz und Geborgenheit versprochen wird, und weil sie von einem Mann ausgeht, dem Frauen aufgrund der gängigen Familien- und Paarideologie vertrauen. Um fortgesetzte gewalttätige Übergriffe zu verhindern, ist eine Frau oft gezwungen, sich den Bedürfnissen des Mannes anzupassen, sich seinen Forderungen unterzuordnen, ihren eigenen Lebensraum einzuengen und sogar aufgrund von Schuld- und Schamgefühlen vor sich selbst zu verleugnen. Viele Täter sind „ganz normale Männer“, auch sie kommen aus allen sozialen Schichten (Fiedler 2019), geben sich in der Öffentlichkeit freundlich und hilfsbereit und sind auf den ersten Blick nicht als gewalttätige Menschen erkennbar.

Das Private ist immer noch nicht politisch

Gewalt in der Partnerschaft oder im »sozialen Nahraum«, also in der viel gelobten Familie, ist trotz dieser Verhältnisse und trotz einiger gesetzlicher Änderungen nach wie vor nicht die Gewaltform, der die Öffentlichkeit oberste Priorität einräumt; obwohl sie die häufigste ist, bleibt sie oft verborgen. Familienpolitik stand im Jahr der Bundestagswahlen für alle Parteien im Fokus, nicht nur für die »neuen Rechten«. Davon, dass Familie auch Ort der Gewalt und Unterdrückung ist, wird jedoch bis heute kaum gesprochen. „Wenn Sie Gewalterfahrungen suchen, gleich ob als Opfer oder als Täter, gründen Sie am besten eine Familie“, ist das Fazit, das Kai Bussmann, Professor für Strafrecht an der Universität Halle-Wittenberg, zweifellos zynisch aus seinem Berufsleben zieht und das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde (Siegmund-Schultze 2010). Bussmann versichert: „Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie.“ Die Gewaltkriminalität in Deutschland sei insgesamt rückläufig. Aus dem öffentlichen Raum sei sie jedoch erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich. Vom „Schlachtfeld Familie“ sprechen Gewaltforscher*innen in den USA (Ebd.).

Dass überhaupt eine Debatte um Gewalt gegen Frauen und ihre Täter losgetreten wurde, ist ein Verdienst der Frauenbewegungen der 1970er-Jahre; bis dahin war sie ein Tabu. Die Frauen holten das Thema aus der Privatsphäre heraus, enttabuisierten es und gaben den betroffenen Frauen die Möglichkeit zur Artikulierung. Dazu gehörten auch die Kampagnen zur teilweise erfolgreichen Kriminalisierung von Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt (Notz 2002, S. 133ff.) sowie die feministische Kritik an der Zwangsheterosexualität.

Die Frauen(haus)bewegung

In den sich in vielen Städten bildenden Frauengruppen wurde ein kollektiver Lernprozess darüber eingeleitet, dass ökonomische und soziale Benachteiligungen und Gewalt gegen Frauen kein persönliches Schicksal, sondern ein öffentliches Politikum seien, das es anzuprangern und zu verändern gelte. Frauen kämpften für das Selbstbestimmungsrecht bei Schwangerschaft, gegen Misshandlung und Gewalt gegenüber Frauen und Kindern und problematisierten die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung im Berufsleben und in der Familie. Die neu geschaffenen Frauenräume dienten nicht nur der individuellen Verbesserung der Situation der Betroffenen, sondern sie wurden als Orte und Zentren für feministische Gesellschaftsveränderung begriffen. Frauen sahen sich nicht in erster Linie als Opfer, sondern als handelnde Subjekte, denen es gelang, ihre Räume für nicht-akademische Schichten zu öffnen.

Die Frauenhausbewegung machte mit Blick auf die Rolle und die Beurteilung der Täter auch darauf aufmerksam, dass patriarchalische gesellschaftliche Verhältnisse keine Entschuldigung für gewalttätige Verhaltensweisen von Männern sein können und dass jeder Mann, auch wenn er in einer frauenverachtenden Umgebung lebt, als Individuum für sein eigenes Verhalten gegenüber Frauen verantwortlich ist.

Gewalt sollte nicht nur politisch bekämpft werden, sondern für von Partnergewalt betroffene Frauen und ihre Kinder sollte eine Alternative zu ihrer von Gewalt, Bedrohung und Demütigung geprägten Lebenssituation geschaffen werden. Frauen sollten Gewalt nicht mehr in den Familien aushalten müssen, sondern Beratungsstellen und Zufluchtsorte vorfinden, die sie davor schützen, nach Misshandlungen zurück zu den misshandelnden Partnern gehen zu müssen.

Mit den 1975 zunächst in Köln und Berlin und dann auch in anderen Städten nach harten Kämpfen eröffneten autonomen Frauenhäusern sollten Zufluchtsräume geschaffen werden, in denen betroffene Frauen Trauer, Zorn und Wut artikulieren konnten sowie Schutz und Hilfestellung bekamen, um über neue Lebensformen außerhalb der Kleinfamilie nachzudenken. Aus den autonomen Projekten wurden Einrichtungen, die in den Kommunen und Landkreisen wegen ihrer kompetenten und engagierten Arbeit mehr und mehr geschätzt wurden. Leider spiegelt sich diese Wertschätzung in den seltensten Fällen in der Finanzierung wider. Das anhaltende Ringen um finanzielle Ressourcen für die Arbeit bindet die Kräfte der aktiven Frauen und raubt ihnen Ressourcen. Allein in der Bundesrepublik suchen jährlich 34.000 Frauen und Kinder in 360 Frauenhäusern und 25 Zufluchtswohnungen mit 6.800 Plätzen Schutz (Statista 2021).

Trotz steigender Zahl von Hilfsbedürftigen ist die Zahl der Frauenhäuser aufgrund finanzieller Notlagen rückläufig. Im Jahr 2004 existierten noch 400 Frauenhäuser in Deutschland. Auch heute sind die Frauenhäuser überfüllt und unterfinanziert. Für Frauen, die sofortige Hilfe benötigen, gibt es keinen Platz. Das ist vor allem deshalb ein Skandal, weil zahlreiche Studien einen Anstieg von häuslicher Gewalt in der Corona-Pandemie bestätigen.

Was tut die Politik?

Es ist ein Verdienst der Frauen(haus)bewegung, dass politische Gremien das Thema »Gewalt gegen Frauen und Kinder« aufgreifen mussten. Einige Maßnahmen und Gesetzesänderungen zugunsten der Opfer von Gewalt folgten. Wie viele der Taten systematisch nicht erfasst werden konnten und aber auch nicht sollten, spiegelt idealtypisch der Fortgang der Beratungen zur Vergewaltigung in der Ehe. Zunächst fehlte überhaupt erst einmal die konzeptionelle Einsicht in das Vorliegen einer strafbaren Tat. Es dauerte bis zum 1. Juli 1997, als nach heftigen emotionsgeladenen Debatten im Deutschen Bundestag und gegen die Stimmen der CDU/CSU Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde und seither wie jede andere Vergewaltigung als Verbrechen gilt. Bis dahin war das Selbstbestimmungsrecht der Frau in der Ehe mit dem Jawort am Standesamt außer Kraft gesetzt. Das war eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers: Als Vergewaltiger wurde in der Bundesrepublik nur bestraft, wer sein Opfer mit Gewalt zum „außerehelichen Beischlaf“ zwang. „Mit uns nie“, hatte der CSU-Politiker Edmund Stoiber noch 1990 bei den Koalitionsverhandlungen erklärt, als FDP-Politiker vorschlugen, die Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen (Steinke 2017). Der Trauschein wirkte wie ein Freibrief und half, Straftaten nicht wie solche zu bewerten und zu verurteilen. Die Täter waren systemisch geschützt. Leider belegen auch heutige Dunkelfeldstudien, dass ein Großteil der Sexualstraftaten in der Ehe weiterhin nicht zur Anzeige kommt. Entgegen dem geltenden Straf- und Zivilrechts findet sich noch immer die Behauptung, Vergewaltigung in der Ehe könne es gar nicht geben, da eine ständige sexuelle Bereitschaft Bestandteil des Ehevertrags sei (Deutscher Bundestag 2008, S. 8).

Internationale Frauenverbände setzen sich seit Jahrzehnten für einen besseren Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt ein. Deutschland hat sich mit 44 weiteren Staaten mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention des Europarates im Jahr 2011 dazu verpflichtet, Frauen vor Gewalt durch den Partner zu schützen und häusliche Gewalt zu bekämpfen.

Mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hatte die Bundesregierung im Dezember 1999 ein Konzept für alle Ebenen der Gewaltbekämpfung vorgelegt (BMFSF 1999). Sie wollte deutlich machen, dass es um strukturelle Veränderungen gehen muss, nicht mehr wie bisher um vereinzelte, punktuelle Maßnahmen, die die Komplexität des Gewaltgeschehens außer Acht lassen. Einige gesetzgeberische Maßnahmen – das betrifft z. B. häusliche und sexuelle Gewalt sowie Frauenhandel – sind bereits verbessert worden. Das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) vom Januar 2002 enthält eine Anspruchsgrundlage für die – zumindest zeitweise – Überlassung einer gemeinsam genutzten Wohnung, wenn die verletzte Person mit dem Täter einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt führt. Das einschlägige Verfahrens- und Vollstreckungsrecht wurde so überarbeitet, dass die betroffenen Opfer schnell und einfach zu ihrem Recht kommen können. Auch dieses Gesetz wäre ohne den Kampf der Frauenbewegung nicht verabschiedet worden. Für diese war es von Anfang an paradox, dass es die Misshandelten waren, die ihre Wohnung aufgeben sollten, um Schutz vor ihren Peinigern zu finden.

Inzwischen sind mehr als zwei Jahrzehnte ins Land gegangen. Die seit dem 8. Dezember 2021 regierende Familienministerin Anne Spiegel (Bündnis90/Die Grünen) will »Gewalt gegen Frauen« zu einem großen Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Die neue rot-gelb-grüne Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, die weitere Umsetzung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und ihren Kindern voranzutreiben. Gemeinsam mit Ländern und Kommunen sollen mehr Plätze in Frauenhäusern geschaffen werden.

Die verbale Aufgeschlossenheit reicht nicht

Die Hoffnung der westdeutschen Frauen(haus)bewegungen, es lasse sich ein Geschlechterverhältnis ohne Besitzansprüche, ohne überkommene Rollenvorstellungen und ohne Gewalt in den »privaten« Beziehungen herstellen, hat sich bis heute nicht erfüllt.

Seit Beginn der Maßnahmen zur Beschränkung der Ausbreitung von Covid-19 warnen Beratungsstellen, Frauenhäuser und Frauenorganisationen vor den Auswirkungen der Isolation und fehlenden Kommunikations- und Schutzmöglichkeiten für Frauen und Kinder im häuslichen Gewaltraum. Tatsächlich hat die Corona-Krise das Gewaltproblem noch einmal verschärft. Das wird meist auf enorme Herausforderungen durch den Zwang in der Familie zu bleiben, Stresssituationen durch Homeoffice und die geschlossenen Betreuungs- und Kommunikationsstrukturen zurückgeführt, die besonders Familien in belasteten Lebenslagen treffen würden.

Die verbale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Problem »Gewalt gegen Frauen« reicht nicht. Es geht um die Institutionalisierung eines wirksamen Kampfes dagegen. Dabei muss auch die Familie als struktureller Tatort in den Blick genommen werden, die durch die fundamentalen Abhängigkeitsverhältnisse entlang der hierarchisch angelegten Geschlechter- und Generationenverhältnisse männliche Dominanz und Machtmissbrauch fördert und gewalttätige Übergriffe zulässt (Notz 2015). Es gilt, Lebensformen zu propagieren und zu fördern, in denen niemand ausgebeutet, unterdrückt, oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird.

Literatur

Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA): Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. hilfetelefon.de.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) (1999): Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, Berlin.

Deutscher Bundestag (2008): Wissenschaftliche Dienste: Vergewaltigung in der Ehe. Strafrechtliche Beurteilung im europäischen Vergleich, Berlin,WD 7 – 307/07.

Fiedler, L. (2019): „Papa ist ein ganz Lieber, nur manchmal wird er zum Monster“. DIE ZEIT, 25.11.2019.

Notz, G. (2015): Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, Stuttgart: Schmetterling.

Notz, G. (2002): „Ich kann mit dir machen, was ich will. Du gehörst mir“. Widerspenstige Frauen sollten zu allen Zeiten „gezähmt“ werden. In: Nagelschmidt, I. u.a. (Hrsg.): Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Leipzig: Universitätsverlag, S. 133-154.

Siegmund-Schultze, N. (2010): Häusliche Gewalt. Schlachtfeld Familie. Süddeutsche Zeitung, 19.05.2010.

Steinke, R. (2017): Als Vergewaltigung in der Ehe noch straffrei war. Süddeutsche Zeitung, 04.07.2017.

Gisela Notz, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, lebt und arbeitet freiberuflich in Berlin-Kreuzberg. Sie ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen, Mitglied der Redaktion von Lunapark21 und des Beirats des BdWi.

Täter*innen

Täter*innen

Ein Begriff und seine Komplexität

Wer als Täter*innen zu verstehen ist, was diese ausmacht und weshalb »wir« von Täter­*innen sprechen ist nicht leicht zu beantworten – oder zumindest umstritten. Welche Rolle spielen individuelle Persönlichkeitszüge, Motivationen oder Ideologien, welche Rolle haben gesellschaftlich legitimierte und strukturelle Gewalt als Kontext? W&F hat Autor*innen aus der Forschung zu kollektiver (Massen-)Gewalt gebeten, ihre je eigenen Positionen darzulegen – mit zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Christian Gerlach bezieht als Historiker Position, während sich Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred Louis, Emma Thomas und Catherine Amiot als Psychologinnen zu diesen Fragen äußern.

Gegen den Täterbegriff

von Christian Gerlach

Meine Perspektive ist die eines Historikers, der sich lange mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Mit deutscher Geschichte, aber auch mit aussereuropäischer.

Was die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus angeht, hat die Forschung zu »Tätern« in den 1990er Jahren Fortschritte gemacht.1 Zwei US-amerikanische Forscher, Christopher Browning und Daniel Goldhagen, untersuchten damals dieselbe Einheit der deutschen Ordnungspolizei, die 1942 viele Massen­erschiessungen an Jüdinnen und Juden in Polen durchführte, das Reserve-Polizeibataillon 101. Beide kamen zu dem Schluss, es habe sich bei den Tätern um gesellschaftlichen Durchschnitt gehandelt: Männer verschiedenen beruflichen Hintergrunds, Alters und Bildungsstands (meist keine Berufspolizisten); in der Regel ohne psychische Krankheit oder entsprechende Neigung; keine ideologische Elite, nicht besonders ausgewählt oder geschult und mehrheitlich keine NSDAP-Mitglieder. Ihre weiteren Folgerungen unterschieden sich freilich sehr: Für Browning waren dies „ganz normale Männer“, die, ohne besonderen Hass gegen Juden, unter bestimmten politischen Umständen aus verschiedenen Gründen – vor allem Gruppendruck – zu effizienten Mördern wurden. Goldhagen dagegen bezeichnete sie als „ganz normale Deutsche“, die sehr wohl einen Konsens zur Eliminierung der Juden teilten, der angeblich seit Jahrhunderten unter Deutschen bestand. Und es gab viele solche Polizeibataillone.2

Auch die heiss diskutierte sogenannte Wehrmachtausstellung Mitte der 1990er Jahre vermittelte einem breiten Publikum, dass sich deutsche Offiziere und Soldaten an Verbrechen in der Sowjetunion und in Südosteuropa massenhaft und mit Nachdruck beteiligt hatten. Die meisten von ihnen waren gleichfalls keine Nazis, und sie bildeten einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft.3 Ein von Gerhard Paul 2002 herausgegebener Sammelband mit Fachaufsätzen brachte es dann auf den Punkt: Die »Täter« liessen sich nach Gesellschaftsschicht, Werdegang, Bildungsstand, Alter, Region, religiöser und politischer Überzeugung nicht eindeutig einem Milieu zuordnen.4 Nichts immunisierte Menschen dagegen, an Massengewalt teilzunehmen, teilweise sogar aus eigener Initiative. Um es kurz zu machen: Das Bild für andere Fälle von Massengewalt ist nicht grundsätzlich anders, von Ruanda bis Argentinien, von der Sowjetunion über Indonesien bis zum Spätosmanischen Reich oder kolonialer Gewalt.

Das mag überzeugend klingen, aber am Beispiel der Forschungen zu NS-Deutschland lassen sich auch Schwächen und innere Widersprüche zeigen. Browning, Goldhagen und die Autorinnen und Autoren des Paul-Sammelbands behandelten vor allem sogenannte tatnahe Täter: Personen in ausführenden Organen, einer mörderischen Exekutive, vor allem Schützen und Lagerpersonal. Deren Handlungsautonomie überbetonend, entpolitisierten die Forschenden das Handeln jener Personen; sie verwiesen zwar auf direkte Befehlsgeber in SS, Polizei und Militär sowie Hitler, sagten aber nichts oder fast nichts über Politiker, Fachleute und Verwaltungsfunktionäre, die die »Taten« vielfach erdacht, gefordert oder darüber entschieden hatten, und lösten die »Taten« damit aus ihren historisch-gesellschaftlichen Kontexten heraus.

Die Funktion des Täterbegriffs

Viele Forschende stützten sich bei ihrem Vorgehen auf Akten von Justizverfahren gegen NS-Täter, von denen die meisten übrigens straffrei ausgingen. Dies ist der Kern des Problems: Der Täterbegriff stammt aus einem juristischen Kontext, und das, obwohl sich die Justiz als völlig ungeeignet erwiesen hat, Massenmord zu ahnden. Die BRD ist hier ein besonders abschreckendes Beispiel, aber in keinem einzigen Land, von dem Massengewalt ausging, ist die juristische Aufarbeitung je erfolgreich gewesen. Massenmord ist das Verbrechen, das ungestraft bleibt, jedenfalls für die meisten Beteiligten. Das ist kein Zufall, denn grosse Teile der Gesellschaft waren ja an der Gewalt beteiligt oder haben sie unterstützt (wie z. B. die meisten westdeutschen Richter, Staatsanwälte und Polizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit frühere NS-Mitglieder waren).

So bleiben auch bestimmte Formen von Gewalt und Gewalt gegen bestimmte Opfergruppen juristisch praktisch gänzlich unverfolgt (im westdeutschen Fall die Vernichtung von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen oder die Hungerpolitik), von Wissenschaftler*innen wenig beachtet und in der gesellschaftlichen Diskussion auch. Prozesse gegen Täter von Massengewalt dienen weniger der individuellen Aburteilung als politischen und gesellschaftlichen Zwecken. Sie sollen die Gesellschaft stabilisieren und bieten Deutungen des Geschehenen an, die für die Mehrheit und die führenden Schichten akzeptabel sind, wobei Schuld auf einige Radikalinskis, Exzesstäter und vermeintliche Sadisten ausgelagert wird. So entstehen tröstliche Geschichten von Gut und Böse. Und »wir« sind natürlich »gut«.

Grosse Teile der vergleichenden Genozidforschung erzählen ähnliche Geschichten von Gut und Böse, wobei sie radikale Schurkenregime für Massenmorde verantwortlich machen, die bestimmte Ideen (statt Interessen) verfolgen und von oben nach unten umsetzen, wozu ihnen radikale Organisationen und propagandistische Manipulation dienen. Ihre Gegenrezepte lauten Regimewechsel und etwas Umerziehung.Während Prozesse und Justizakten einiges interessantes biographisches Material zu »Tätern« bieten mögen, geben sie zu einem Punkt ganz besonders wenig her: zur Motivation für die Tat. Aus Schutz vor juristischen Folgen bekennen ganz wenige Beschuldigte Rassenhass, Raubgier, Machtdünkel oder sexuelle Lust, was strafverschärfend wäre. Stattdessen tendieren sie dazu, andere (am besten Tote) zu beschuldigen, sich auf Befehle von höherer Stelle zu berufen und eine räumliche Distanz zur Tat zu behaupten, jedenfalls aber eine innere Distanz. Es gibt keine sinnvollen Methoden zur Benutzung solcher Aussagen. Weder Browning überzeugt, der ihnen meist Glauben schenkte, noch Goldhagen, der sie alle abtat und pauschal Rassenhass als Motiv annahm.

Extrem gewalttätige Gesellschaften

Nach meinen Forschungsergebnissen ist die Entstehung von massenhafter Gewalt aus Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Konflikten zwischen ihnen zu erklären. Gewalt ist also multikausal, die Motive, sich zu beteiligen, sind verschieden, und die Gewalt richtet sich oft gleichzeitig gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen. In Gesellschaften des 20. Jahrhunderts beruht die Gewalt auf Arbeitsteilung, wodurch es Aktivitäten gibt, die vor den Augen der Justiz kaum als kriminell gelten können und doch den Tod von Verfolgten massgeblich mitverursachen (z. B. die Organisation von Eisenbahnverkehr im Fall von Deportationen oder das Verlangen von Wucherpreisen gegenüber hungernden oder durstigen Verfolgten). Die zahlreichen an der Verfolgung Beteiligten sind nicht nur den herrschenden Verhältnissen unterworfen, sondern schaffen sie selbst mit. Dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen vorhanden sind, schliesst absichtsvolles, überlegtes und autonomes Handeln nicht aus, auch von »ungebildeten« Personen aus Unterschichten nicht. Massengewalt ist ein interaktiver Prozess, an dem übrigens auch Gruppen aktiv beteiligt sind, die zu Opfern werden.5

Der Begriff »Täter« hemmt aus meiner Sicht ein komplexes Verständnis von Massengewalt. Hinter dem Begriff steht ein Denken, das »Täter« als ausserhalb der Gesellschaft stehend sieht und in unzutreffender Weise individualisiert. Als analytische Kategorie ist der Täterbegriff daher ungeeignet.

Was ist mit Alltagsgewalt?

Aber sind diese Überlegungen auch für den Alltag relevant, für »normale« Zeiten? In der kapitalistischen, bürgerlich geprägten Gesellschaft funktioniert das Rechtswesen ähnlich wie oben beschrieben. Es greift Einzelpersonen heraus und entkleidet ihr Handeln tendenziell seinen Zusammenhängen. Es verfolgt Devianz, also die Abweichung von insgesamt für normal und gut erklärten Zuständen. Angesichts der bürgerlichen Externalisierung von »Tätern« und »Täterinnen« ist es nur konsequent, dass sie weggesperrt werden und dass ihre »Resozialisierung« später oft nicht gelingen mag. Andererseits ist beispielsweise die deutsche Justiz so gut wie unfähig, systemische Gewalt zu ahnden, also zum Beispiel im Autoverkehr oder durch Polizeibrutalität oder durch Verhältnisse, die Unternehmen ihren Beschäftigten auferlegen, oder bei der angeblichen Bekämpfung der extremen politischen Rechten. Für Gewalt zwischen den Geschlechtern oder unter Beteiligung der meisten ethnischen Minderheiten gilt Ähnliches mit Einschränkungen. Darin drücken sich bestimmte Machtverhältnisse aus. Aber auch bestimmte, den herrschenden Verhältnissen angepasste Denkweisen. Wenn also hinter »linker« Gewalt regelmässig sogenannte terroristische Vereinigungen gesehen werden, »rechte« Gewalt dagegen fast immer das Werk sogenannter »Einzeltäter« sein soll, und wenn das Leben von Radfahrerinnen und Radfahrern, Fussgängerinnen und Fussgängern recht billig ist, stehen dahinter nicht nur Probleme des Rechtswesens, sondern in der Gesellschaft vorherrschende Zustände und Anschauungen, auch wenn viele sie nicht billigen.

Damit ist auch gesagt, dass die Zeiten vielleicht nicht so normal und die Verhältnisse nicht so unproblematisch sind. Vieles daran, dass Menschen durch den Täterbegriff als im Grunde ausserhalb der Gesellschaft stehend erklärt werden, mag kein spezifisch deutsches Problem sein. Allerdings hat nicht jedes Land der Welt Truppen in elf fremden Staaten auf drei Kontinenten stehen; nicht in jedem Land der Welt sind Atomwaffen stationiert (mit dem Anspruch auf »nukleare Teilhabe«); nicht jedes Land hat eine ähnlich machtvolle, protektionistisch-aggressive Aussenwirtschaftspolitik in einer Welt des Massenhungers; und kein anderes Land ist ohne Tempolimit. All dies hat mit deutscher Gewalt zu tun, freilich einer ohne »Täter«.

Statt sich zu fragen, wen »wir« als »Täter« oder »Täterinnen« bezeichnen, und damit an jener ausgrenzenden Fiktion mitzuarbeiten, sollten Angehörige der Intelligenzschichten lieber versuchen, die »Tat« als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Die Behauptung, es gebe überhaupt ein umfassendes »Wir«, das man sich als »gut« vorstellt, ist an sich schon ein grosses Problem.

Anmerkungen

1) In diesem Aufsatz wird meist die männliche Sprachform verwendet, nicht als generisches Maskulinum, sondern weil ich meist nur Männer behandele und die komplexe Diskussion um Täterinnen (die zahlenmässig ein Randphänomen waren) aus Platzgründen beiseitelasse.

2) Browning, Ch. (1993): Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldhagen, D. (1997): Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler

3) Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1996): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition

4) Paul, G. (Hrsg.) (2002): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein.

5) Gerlach, Ch. (2011): Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München: DVA.

Christian Gerlach arbeitet an der Universität Bern.

Kontext und Intention

Die Psychologie des »Schädigens«

von Morgana Lizzio-Wilson, Winnifred R. Louis, Emma F. Thomas und Catherine E. Amiot

Viele Verletzungen und Schädigungen werden kollektiv begangen, wie im Konflikt zwischen Israel und Palästina oder während des Genozids in Kambodscha. Obwohl diese Beispiele für Gewalt und Verletzungen aus feindlichen und/oder ungleichen Beziehungen zwischen Gruppen erwachsen, hat sich ein Großteil der Forschung darauf verlegt, das Handeln der Täter*innen aus individuellen Pathologien oder moralischen Schwächen zu erklären. Der Fokus auf das Individuum ignoriert jedoch die erleichternde Rolle, die Gruppenprozesse in Fällen kollektiver Gewalt spielen (Louis et al. 2015).

Wer ist eine Täter*in und weshalb?

Unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Sozialpsychologie erkunden wir die Wahrnehmungen von und Motivationen für Praktiken des »kollektiven Schädigens« der Täter*innen. Speziell fokussieren wir darauf, wie Gruppenprozesse: a) beeinflussen, wen wir als Täter*innen wahrnehmen; b) die Motivationen der Täter*innen unterstützen, Schaden zufügen zu wollen; und c) die Intentionalität hinter den Taten der Täter*innen beeinflussen.

Was als »Schädigung« oder »Gewalt« zählt (und, in Erweiterung, wer diese Gewalt verbrochen hat) ist eine subjektive Einschätzung und umkämpft. In manchen Fällen können sich die meisten Menschen einigen, dass eine Verletzung vorliegt (z. B. bei sexuellem Missbrauch von Kindern), aber es gibt auch Fälle die umstritten sind. Praktiken, die in manchen Kontexten zu bestimmten Zeiten in der Geschichte als grausam bewertet werden (z. B. Sklaverei) sind in anderen Kontexten und Zeiten gebilligtes und weiterverbreitetes Verhalten. Diese Definitionen der Gewaltanwendung sind beeinflusst von den historischen und kulturellen Gruppen, zu denen wir gehören.

Der »Social Identity Theory« (SIT, Tajfel und Turner 1986) zufolge ist das Selbstkonzept eines Individuums in Teilen von der/den sozialen Gruppe(n) abgeleitet, zu denen es gehört. Diese Gruppen können auf sozialen Kategorien (z. B. Gender) oder auf geteilten Ansichten und Meinungen darüber, wie die Dinge sein sollten beruhen (beispielsweise die Unterstützer*innen von Frauenrechten). Indem wir uns mit diesen sozialen Gruppen identifizieren, entwickeln wir »soziale Identitäten«: Wir betrachten Gruppenwerte, -normen und -ziele als bedeutsam für unser Selbst und verhalten uns in Übereinstimmung mit diesen Erwartungen. Zudem werden wir motiviert, die Interessen unserer Gruppe zu repräsentieren und ihr Ansehen und ihre Möglichkeite zu schützen oder zu verbessern.

Indem wir dies mit kollektiver Gewalt in Bezug setzen, können wir festhalten, dass uns unsere sozialen Identitäten dazu führen können, das gewalttätige Handeln unserer Gruppe und unsere Rolle als »Täter*innen« umzudefinieren basierend auf den Werten und Normen der Gruppe. So mögen sich Mitglieder von Siedlergesellschaften nicht als Dieb*innen verstehen, obwohl sie auf gestohlenem Land leben. Progressive, die für das weibliche Recht auf körperliche Selbstbestimmung eintreten, verstehen sich nicht als Unterstützer*innen von mörderischer Gewalt und »lebensschützende Konservative« verstehen sich selbst nicht als sexistisch und oppressiv. Zudem kann die Motivation, die eigene Gruppe in einem guten Licht erscheinen zu lassen, dazu führen, die Existenz oder die Auswirkungen von intergruppaler Gewalt herunterzuspielen, um das Ansehen oder Bild der eigenen Gruppe nicht zu beflecken. Daher kann schon der reine Glaube an die Existenz oder die Schwere der Verletzung – ob durch Rassismus oder den Klimawandel – stark variieren, abhängig von den Gruppenzugehörigkeiten.

Was motiviert Täter*innen zu ihren Taten?

Die »Social Identity Theory« kann uns auch bei der Erklärung helfen, wann und warum Menschen diese Verletzungen verüben. Ganz speziell die Motivation, unsere Gruppeninteressen zu schützen und zu bedienen sowie die Werte dieser Gruppe umzusetzen, können die Bereitschaft erhöhen, kollektive Gewalt zu unterstützen und an ihr teilzunehmen. Tatsächlich sind viele Fälle radikaler und gewalttätiger Handlungen durch diese »pro-Ingroup« Motive verstärkt (Thomas et al. 2014), was die Schlussfolgerung nahelegt, dass die Verletzung gegen die relevante Outgroup dem Schutz oder der Verbesserung des Status oder dem Wohlbefinden der Ingroup dient. Dazu kommt, dass Gruppenmitglieder umso mehr bereit sind, Schaden zuzufügen, je stärker sie sich mit ihrer Gruppe identifizieren (d.h. sie fühlen eine stärkere Art der Verbindung und Verpflichtung gegenüber dieser Ingroup, Tajfel und Turner 1986). Das rührt daher, dass diese stark identifikatorisch Gebundenen eher geneigt sind, bedeutsame Normen der Ingroup auszuführen – die verletzenden und schädigenden mit eingeschlossen – und diese auf ihr eigenes Selbstgefühl (»sense of self«) und ihr Verhalten anzuwenden (Amiot et al. 2020).

Allerdings liefert uns die SIT keine Erklärung für die diversen Motivationen hinter den Handlungen von Täter*innen. Das heißt, dass manche Gruppenmitglieder autonom Gewalt verüben, weil diese Handlungen ihre persönlichen Werte und Ziele spiegeln (d.h. diese Handlungen sind »internalisiert«), während andere wiederum Gewalt verüben, da sie eine Form von externem Druck oder Zwang verspüren. Das Modell zur »Internalisierung sozial normierten Verletzens« (MINSOH, Amiot et al 2020) wendet daher ein motivationales Kontinuum auf kollektives Schädigen an (Deci und Ryan 2000), bei dem die Motivation der Menschen für ein bestimmtes Verhalten von »selbstbestimmt« (self-determined; d.h. ausgewählt mit einem höheren Grad an Handlungsmacht und da sie Bestandteil der eigenen Identität sind) bis zu »nicht-selbstbestimmt« reicht (non-self-determined, d.h. gewählt aus einer geringeren Handlungsmacht und nicht aufgrund von Kernwerten des Selbstkonzeptes einer Person). MINSOH schlägt vor, dass die Motivation einer Täter*in sich entlang dieses Spek­trums organisiert und dass Gruppenprozesse es ermöglichen, dass die verletzenden Normen und Handlungen internalisiert werden und frei über Zeit hinweg verübt werden können.

Aus dem Modell folgt, dass Täter*innen sich an Gewalt aus einer Reihe von Gründen beteiligen:

  • Mit Blick auf Motive der Selbstbestimmtheit agieren Täter*innen gewaltvoll, um die Ziele der Gruppe zu erreichen oder um diese vor externen Bedrohungen zu schützen (»identifizierte Regulation«), oder weil Gewalt eine Funktion als Identitätsausdruck hat, bei der die Ingroup glaubt, dass diese normativen Handlungen mit den Kernüberzeugungen der Gruppe übereinstimmen (»integrierte Regulation«).
  • In manchen Fällen wird Gewalt und Verletzung zugefügt, weil es als an sich vergnüglich betrachtet wird, gänzlich getrennt von irgendeinem zweckdienlichen Mehrwert (»intrinsische Motivation«, z. B. Jagd von Tieren).
  • Manchmal jedoch wird Schaden auch aus nicht-selbstbestimmten Gründen verübt, beispielsweise um die Wahrnehmung der Wertigkeit der Gruppe sicherzustellen oder um ein Gefühl von Hochachtung zu erlangen (»introjezierte Regulation«) oder auch, weil es von anderen Gruppenmitgliedern erwartet wird (»externe Regulation«).
  • In manchen Fällen beteiligen sich die Gruppenmitglieder an Gewalt ohne Intention, selbst wenn sie nicht davon überzeugt sind, dass derartige Handlungen das erwünschte Ergebnis zur Folge haben werden; in diesem Fall könnten Gruppenmitglieder direkt ihre Beteiligung an diesem Verhalten infrage stellen (»Amotivation«).

»Opfer der Umstände« oder intentional handelnde Akteure?

Dass wir die Motivationen erhellen, die Gewalttaten stützen, kann auch dabei helfen zu erkunden, inwieweit Täter*innen die Verletzung beabsichtigen oder ob ihre Handlungen von Umständen befeuert werden, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. MINSOH legt nahe, dass Intentionalität und Kontext miteinander verwoben und nicht zwei getrennte Dimensionen sind. Beispielsweise handeln Gruppenmitglieder, die Schaden aus selbstbestimmten Motiven zufügen und dieses Verhalten aus freier Entscheidung unterstützen, beabsichtigt und willentlich. Jedoch können solche Handlungen aus einem intergruppalen Kontext erwachsen in dem verneint wird, dass es sich um Verletzungen handelt, diese herabgespielt oder als notwendig dargestellt werden, um die Interessen der Gruppe zu schützen (z. B. in einem Wettstreit um wertvolle Ressourcen) oder um ihre Werte zu verteidigen. Daher handeln diese Gruppenmitglieder zwar mit voller Absicht, aber fügen nicht unbedingt absichtsvoll Schaden zu, als Antwort auf einen dynamischen intergruppalen Kontext, der ihre Aufmerksamkeit auf die Vorteile für die Ingroup lenkt oder die gewaltvollen Handlungen sogar als positiv für die Betroffenen darstellt (wie z. B. im Kolonialismus).

Im starken Kontrast dazu reagieren Gruppenmitglieder, die aus nicht-selbstbestimmten Gründen Schaden zufügen, auf externen Druck, wie Zwang von anderen Gruppenmitglieder, oder dem Verlangen nach Belohnung. Daher kann argumentiert werden, da sich ihr Verhalten in einer geringeren Autonomie ausdrückt, dass diese Menschen nicht absichtsvoll Verletzungen zufügen, sondern die Absicht haben, diesen externen Druck von sich abzuleiten.

MINSOH legt ebenso nahe, dass man­che Gruppenmitglieder Gewalt ohne Absicht ausüben, gedankenlos. Insofern verhalten sie sich »unabsichtlich«, da ihre Motivation eher »unpersönlich« und uninvolviert als erzwungen ist. Stellen wir uns vor, Mitglieder einer Militäreinheit töten Zivilist*innen aus der verfeindeten Gruppe. Dann handeln einige Soldat*innen auf Basis der angenommenen patriotischen Vorteile, andere weil sie die Angst vor Bestrafung bei Verweigerung befürchten und wiederum andere sind erschöpft und denken überhaupt nicht nach über ihre Handlungen. Die moralische Bewertung, dass dieser Akt böse ist, setzt keineswegs voraus, dass alle Täter*innen einer kollektiven Gewalttat das selbe Motiv dafür haben.

Nicht zuletzt legt das Modell von MINSOH nahe, dass die Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gruppen, die voneinander abweichende Positionen dazu vertreten, was es heißt, ein »guter, moralischer Mensch« zu sein, normative Hilfestellung sein kann, um kollektiver Gewalt in jedwedem Kontext vorzubeugen.

Umgekehrt erhöhen Erfahrungen von Vernachlässigung und Marginalisierug die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen dysfunktionale Bezugsgruppen suchen, die eben ein solches kollektives Schädigen propagieren (Amiot et al 2020). Rückkopplungsschlaufen in diesen Gruppen können dann das Durchführen von Gewalttaten bestärken, da jegliche Gewalttat Akteur*innen von pro-sozialen Gruppen entfremdet, nicht-selbstbestimmte Motive bekräftigt und moralische Verletzung und Trauma hervorruft (Louis et al 2015).

Um es erneut deutlich zu machen: Eine solche kontextuelle Analyse entlastet oder entschuldigt die Handlungen der Täter*innen nicht, aber sie hilft uns dabei, diejenigen sozialen und gruppenbezogenenen Faktoren zu identifizieren, die gefährliche Laufbahnen begünstigen und die daher geeignet sind für rechtzeitige Interventionen.

Literatur

Amiot, C. E.; Lizzio‐Wilson, M.; Thomas, E.F.; Louis, W.R. (2020): Bringing together humanistic and intergroup perspectives to build a model of internalisation of normative social harmdoing. European Journal of Social Psychology 50(3), S. 485-504.

Deci, E.L.; Ryan, R.M. (2000): The „what“ and „why“ of goal pursuits. Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry 11(4), S. 227-268.

Louis, W.R.; Amiot, C.E.; Thomas, E.F. (2015): Collective harmdoing. Developing the perspective of the perpetrator. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology 21(3), S. 306-312.

Tajfel, H.; Turner, J. C. (1986): The social identity theory of intergroup behavior. In: Worchel, S.; Austin, W.G. (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. Chicago: Nelson-Hall, S. 7-24.

Thomas, E.F.; McGarty, C.; Louis, W. (2014): Social interaction and psychological pathways to political engagement and extremism. European Journal of Social Psychology 44(1), S. 15-22.

Morgana Lizzio-Wilson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Flinders University. Sie forscht zur Rolle von Identität, Emotionen und Bedrohungen in kollektiver Handlung von progressiven und regressiven sozialen Bewegungen.
Winnifred R. Louis ist Professorin an der Universität von Queensland. Sie forscht zum Einfluss von Identität und Normen auf soziale Entscheidungsfindungen.
Emma F. Thomas ist Professorin an der Flinders University. Ihre Forschung erkundet, wie Menschen zusammenfinden, um gemeinsam soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Catherine E. Amiot ist Professorin an der Université du Québec in Montreal. In ihrer Forschung adressiert sie die Selbstbestimmtheit der Annahme und Internalisierung von Normen.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Bilanz eines Desasters

Bilanz eines Desasters

Zum Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan

von Matin Baraki

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Der Autor zieht Bilanz und wirft einen vorsichtigen Blick auf das, was kommt.

Trotz 20 Jahren Krieg ist es den USA und ihren NATO-Verbündeten nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldat­*innen, die Taliban zu besiegen. Die USA mussten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die Greater Middle East-Strategie der Neokonservativen an den Bergen des Hindukusch sprichwörtlich zerschellt. Erst unter dieser Einsicht haben die USA jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, Katar, verhandelt und im ­Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die USA, ihre Soldat*innen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA buchstäblich diplomatisch über den Tisch und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als Trost haben die Taliban
„in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 [zugesagt], die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen“1 zu wollen, wozu sie kaum in der Lage sind. Dennoch wollte der Verhandlungsführer der Taliban, Sher Mohammad Abbas Stanikzai, im Januar 2021den Eindruck erwecken, „einer ausländischen Invasorentruppe freies Geleit“2 zu gewähren.

Abgang einer Großmacht

Der neue US-Präsident Joe Biden hatte zunächst den vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 in Frage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet.

Die Taliban bestanden aber darauf, dass die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 zu halten haben. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn sich die Biden-Administration nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden „die Probleme dadurch gewiss verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen“.3 Wie jedes Jahr haben die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die NATO zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch, und ein geordneter Rückzug der US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum noch möglich. Es drohe, mehr nach Flucht auszusehen“4, sagte die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden. Ein zweites Saigon darf es nicht geben.

US-Präsident Biden musste nolens volens einsehen, dass die USA in Afgha­nistan keine Perspektive mehr haben und gab am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldat*innen für September 2021 bekannt, wie die Washington Post meldete. Bis zum 11. September müssen alle US-Einheiten bedingungslos5 und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein. „Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, dass die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen“6, hob Präsident Biden hervor. Er wies darauf hin, dass er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die US-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. „Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.“7 Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen, „in der Hoffnung, dass irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen.8 Dafür werde es niemals ideale Bedingungen geben. So kann auch ein Verlierer seine Niederlage tröstlich artikulieren. „Die Niederlage des Westens ist so umfassend, dass sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab.9 Eine Abschiedszeremonie für die 10.000 NATO- und davon 1.100 Bundeswehrsoldat*innen war nicht vorgesehen.10 Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der NATO-Einheiten aus Afghanistan. Was passiert mit den ausländischen Söldner*innen, die im Auftrage des US-Geheimdienstes CIA und anderer Geheimdienste der NATO-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, ging 2010 von rund 40.000 Söldner*innen aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-Militärfirmen unter Vertrag standen,11 die die „Drecksarbeiten erledigen“.12 Von deren Ab- und Rückzug ist bis jetzt keine Rede.

Abzug des deutschen Bündnispartners

Auch für deutsche Truppen ist der Einsatz zu Ende: „Wir dürfen auch nicht vergessen: es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen“13, erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann. Das militärische »Engagement« Deutschlands am Hindukusch war der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in ihrem 20 Jahre andauernden militärischen »Engagement« am Hindukusch insgesamt 160.000, zuletzt 1.100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldat*innen mit ihrem Leben bezahlt.14 Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als 12 Mrd. € gekostet.

Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht: „Es ist nicht umsonst gewesen“15 und kündigte ein weiteres politisches und finanzielles Engagement Deutschlands am Hindukusch an. „Der Friedensprozess braucht einen neuen diplomatischen Push“16, meinte Maas. Für das laufende Jahr hat die BRD 430 Mio. € „und für die Jahre bis 2024 die gleiche Summe in Aussicht gestellt.“17 Aber die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der »Friedensprozess« zwischen den Vertreter*innen der Kabuler Administration und der Taliban entwickeln werde. Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt.

Geopolitische Verschiebungen

Mittlerweile ist ersichtlich, dass es der US-Imperialmacht in Afghanistan von Anfang an weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um Afghanistan an sich gegangen, sondern es steht zu vermuten, dass es ihr nur um ihre strategischen Interessen in der Region, um die Umzingelung der Russischen Föderation und um einen Regimewechsel in Iran ging. Das Land am Hindukusch wurde von den USA für zwanzig Jahre zu ihrem »unsinkbaren Flugzeugträger« gemacht. Mittlerweile haben sich aber die Rahmenbedingungen geändert und damit die geopolitischen Prioritäten der US-Strategie. In absehbarer Zeit wird die VR China mit den USA ökonomisch, aber auch militärisch mindestens gleichziehen können. Ende 2017 wurde die VR China in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA als
„strategischer Rivale“ eingestuft.18 Die USA werden versuchen, die VR China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht mindestens zu verzögern. Schon der ehemalige US-Präsident Barack Obama und dessen Vize Joe Biden hatten im November 2011 das Pazifische Jahrhundert unter Führung der Vereinigten Staaten ausgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen die VR China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem die VR China 80 % für sich beansprucht und sogar schon einzelne Inseln besetzt hat, wobei sie sich auf bis zweitausend Jahre zurückreichende historische Argumente beruft, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt mit China instrumentalisiert werden. Afgha­nistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren und das ist die Region des pazifischen Ozeans.

Bilanz eines Desasters

Zwanzig Jahre US- und NATO-Krieg haben in Afghanistan Verheerungen angerichtet. „Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiss nachwirken wird: Mehr als 2.000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100.000 tote afghanische Zivilisten.“19 Nach Zählungen der afgha­nischen und der US-Regierung sowie der UNO sollen seit 2001 ca. 160.000 Menschen ums Leben gekommen sein.20 Darüber hinaus wurden „66.000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80.000 Islamisten“21 getötet. Hinzu kommt noch, dass durch die Zusammenarbeit und direkte Unterstützung der Warlords durch die NATO-Länder, Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel sowie Machtdemonstrationen bis hin zu Entführungen an der Tagesordnung waren.

Der gesamte Staatsapparat, von der Judikative über die Exekutive bis hin zur Legislative, sowie die Sicherheitsorgane sind von Korruption durchdrungen. Natürlich konnten Mädchen in den letzten Jahren die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum eine Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars auf Banken in Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verlässt das Land. Schon 2020 haben „mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen.22

Es bleibt das traurige Ergebnis: „Das Risiko ist groß, dass die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Af­ghanistan an sich reißen wollen. Die USA tragen eine große Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie“23, wie die schwedische Zeitung Skånska Dagbladet konstatierte.

Was wird aus Afghanistan?

Anfang 2021 warnten vom US-Kongress eingesetzte Expert*innen der Afghanistan Study Group, dass ein unüberlegter Abzug zum ‚Kollaps‘ in Afghanistan führen“24 würde. Eine solche „Perspektive ist ein Desaster für die USA und ihre Verbündeten in Berlin, London und Paris.“25 Das Rückzugsdatum der US- und NATO-Einheiten steht nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Sie „müssen nur ein paar Monate warten, ehe sie zum Sturm auf Kabul blasen“.26 Das ist ein faktischer Beleg für „das Scheiterns des Westens in diesem Krieg“27 am Hindukusch.

Doch was sind die Optionen für Af­ghanistan nach dem Abzug der Truppen? Vermutlich bieten sich folgende Szenarien an:

  • Alleinherrschaft: Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
  • Transformation: Würde es der US-­Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für ­afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
  • Bürgerkrieg: Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.

Angesichts der drohenden Umstände wäre meines Erachtens unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die NATO-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse dafür zu sorgen, dass die Gewalt nicht überhand nimmt.

Anmerkungen

1) Meier, C. (2021): Die NATO zieht ab, die Taliban greifen an. FAZ, 3.5.2021, S. 5.

2) Meier, C. (2021): Was wollen die Taliban?, in: FAZ, 30.4.2021, S. 3.

3) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

4) Früherer Afghanistan-Abzug?, in: FAZ; 22.4.2021, S. 5.

5) Vgl. Gutschker, Th. (2021): Bedingungsloser Abzug, in: FAZ, 16.4.2021, S. 1.

6) Nato beginnt mit Abzug aus Afghanistan, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

7) Brössler, D.l/Kolb, M. (2021): Wenn einer geht, gehen alle, in: SZ, 15.4.2021, S. 7.

8) Ebd.

9) Carstens, P. (2021): Eine Abschiedsfeier ist nicht geplant, in: FAZ, 24.4.2021, S. 8; Die USA hatten die Taliban für den 24. April 2021 zu einer Friedenskonferenz nach Istanbul eingeladen. Die Islamisten hatten daran kein Interesse und lehnten eine Beteiligung ab.

10) Vgl. Carstens (2021); Rückkehr im Juli statt September, in: SZ, 22.4.2021, S. 5.

11) Vgl. Gerner, M. (2010): Das Geschäft mit der Sicherheit, in: Der Tagesspiegel, 28.10.2010; Michelis, H. (2010): Afghanistan – Krieg der Söldner: in, Rheinische Post, 18.11.2010.:

12) Heilig, R. (2021): Von Lügen getragen, in: Neues Deutschland (ND), 17./18.4.2021, S. 4.

13) Naumann, K., Deutschlandfunk-Interview, 2.7.2009 (Typoskript).

14) Vgl. Brössler, D. (2021): „Es ist nicht umsonst gewesen“, in: SZ, 30.4.-2.5.2021, S. 10.

15) Ebd.

16) Maas sichert Afghanistan weitere Hilfe zu, in: FAZ, 30.4.2021, S. 1.

17) Brössler (2021)

18) US Department of Defense (2017): Summary of the 2018 National Defense Strategy of the United States of America: Sharpening the American Military’s Competitive Edge. S. 1.

19) Gutschker, Th., et al (2021): Augen zu und raus, in: FAZ, 15.4.2021, S. 3.

20) Vgl. Matern, T. (2021a): Die Truppen gehen, die Angst bleibt, in: SZ, 19.4.2021, S. 7.

21) Wiele, J.: Ein Trauerfall, in: FAZ, 17.4.2021, S. 11.

22) Ebd.

23) Skånska Dagbladet, Malmö, Schweden, 10.5.2021.

24) Brössler/Kolb (2021)

25) Matern, T. (2021b): Der Krieg bleibt, in: SZ, 15.4.2021, S. 4.

26) Frankenberger, K. (2021): Nach zwanzig Jahren, in: FAZ, 15.4.2021, S. 1.

27) Matern, T. (2021c): Schadensbegrenzung, in: SZ, 30.3.2021, S. 4.

Dr. phil Matin Baraki ist Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung der ­Philipps-Universität Marburg.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen als: „L’Afghanistan deviendra-t-il le Vietnam version 2?“ In: Horizons et débats 14, 2021, S. 6-8.

Aufstand in Kolumbien

Aufstand in Kolumbien

Krisen, Proteste und der Friedensprozess

von Stefan Peters

Kolumbien ist in Aufruhr. Ende April begann ein wilder Generalstreik, der bereits jetzt seinen Platz in den Geschichtsbüchern des Landes sicher hat. Überraschend war nicht nur die Breite der Proteste, die praktisch das ganze Land erfassten, sondern auch der lange Atem der Protestierenden. Erschreckend ist die Gewalt gegen die Protestierenden: Die kolumbianischen Sicherheitskräfte gingen mit Brutalität gegen die teils militanten Proteste vor. Doch die Ursachen für die Proteste liegen in den vielen Krisen des Landes. Der Beitrag zeigt diese auf und eröffnet Perspektiven für eine friedlichere Zukunft.

Kolumbien ist in Aufruhr. Die Bilder von vermummten Protestierenden, die sich nur mit Schutzschilden aus Benzinfässern ausgerüstet den kolumbianischen Sicherheitskräften und der berüchtigten Demopolizei des ESMAD entgegenstellten, gingen um die Welt und lassen keinen Zweifel: Kolumbien erlebt die heftigste Protestwelle seit Jahrzehnten. Millionen von Kolumbianer*innen gehen mittlerweile seit Monaten auf die Straße, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Die Proteste wurden wesentlich von Jugendlichen getragen, die aus den urbanen Marginalvierteln der Großstädte stammen und wenig politische Erfahrung, aber eine tief verankerte Skepsis gegenüber der aktuellen Politik und dem Politikbetrieb mit sich bringen. In der Konsequenz versagten die politischen Seismographen und die Regierung wurde von den heftigen Protesten ebenso überrascht wie die streikerfahrenen Gewerkschaften und sämtliche Beobachter*innen. Die Fehleinschätzungen betrafen nicht nur die quantitativen Mobilisierungserfolge, sondern auch die Radikalität eines Teils der Proteste.

Die Militanz der Protestformen (u.a. wochenlange Straßensperren, Sturz von Statuen, Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel und Polizist*innen) steht dabei in einem erstaunlichen Kontrast zu den meist moderaten inhaltlichen Forderungen. In erster Linie geht es den Protestierenden um die Einhaltung ohnehin verbriefter sozialer Rechte in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit und in Teilen um die Implementierung des Friedensvertrags. Die Regierung reagierte auf diese Selbstverständlichkeiten mit einem Amalgam aus Repression, Unverständnis und kleineren Zugeständnissen für Teilgruppen. Gerade die Polizeigewalt wurde bald zum allgegenwärtigen Zeichen des Versagens der Politik. Kriminalisierung und Stigmatisierung der Proteste heizte diese zusätzlich an und beförderte die weitere Erosion des Vertrauens der kolumbianischen Bevölkerung in die staatlichen Institutionen.

Das dilettantische ­Krisenmanagement der Regierung könnte als anekdotische Randnotiz abgeheftet werden, wären nicht der enorme Blutzoll und die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch die unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitskräfte. Je nach Angaben kamen bis Ende Juni 2021 mindestens 20 Menschen durch Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte (Polizei, Spezialeinheiten und Militär) um. Wahrscheinlich liegt die Zahl jedoch höher und es ist zu befürchten, dass bis zu 60 Menschen im Kontext der Proteste ums Leben gekommen sind (vgl. JEP-UIA 2021, Temblores, Indepaz und ­PAIIS 2021, DW 2021). Hinzu kommen Verschwundene, viele Schwerverletzte und unzählige Berichte über Polizeigewalt. Hierzu gehört auch der Gebrauch scharfer Munition sowie Fälle sexualisierter Gewalt.

Seit Mitte Juni büßten die Proteste deutlich an Intensität ein: Bei vielen der Protestierenden hat sich Erschöpfung breit gemacht. Gerade die Blockaden, die weite Teile des Landes lahmlegten, verloren bald an Unterstützung. Die Konflikt­ursachen bestehen jedoch fort und ein Wiederaufflammen der Proteste in den kommenden Monaten ist wahrscheinlich – nicht zuletzt aufgrund der Politisierung vieler Demonstrant*innen während der Proteste. Doch was führte zu den Protesten und wie kann diesen Herausforderungen begegnet werden?

Der unmittelbare Anlass für die heftigen Proteste war die Ankündigung einer Steuerreform, die die leeren Staatskassen füllen sollte und hierfür vor allem die (untere) Mittelschicht belastet hätte. Doch schnell wurde deutlich, dass sich die Proteste nicht alleine gegen dieses Reformprojekt richteten, denn die Rücknahme der Reform konnte die Proteste ebenso wenig eindämmen wie der Rücktritt des Finanzministers. Dies lag auch an den vielfältigen Protesten und ihrer heterogenen Trägerschaft.

Es reicht! Heterogene Proteste

Verschiedene internationale Beobachter*innen fokussierten sich auf die Jugend als Trägerin der Proteste. So schrieb beispielsweise die FAZ (2021) im Mai: »Wütende Jugend trifft auf repressive Polizei«. Auch der kolumbianische Präsident Iván Duque wollte die Proteste mit einem »Pakt für die Jugend« einhegen. Zweifellos beteiligten sich vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an den Protesten. Dies war allerdings auch in der Vergangenheit der Fall und kann angesichts der Bevölkerungsstruktur des Landes kaum verwundern.

Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Gruppe der Protestierenden sehr heterogen ist: Viele der Protestierenden kommen aus den urbanen Armenvierteln und sind in der Vergangenheit meist nicht in politischen Prozessen oder sozialen Bewegungen aktiv gewesen. Neben ihnen sind Studierende und junge Berufstätige (auch bis weit in die Mittelschicht) aktiv. Nicht zuletzt beteiligen sich Gewerkschaften, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften, Kleinbauern, Feminist*innen und Queers an den Protesten (vgl. Cortés und Cárdenas 2021)

Diese Breite der Proteste ebenso wie die Entschlossenheit der Protestierenden überraschten die Regierung, die politischen Parteien, soziale Bewegungen und politische Analyst*innen. Die erfahrenen Mitglieder des Streikkommittee (»Comité de Paro«) wollten angesichts der Pandemie den Streik bereits zum 1. Mai in den virtuellen Raum verlagern und wurden von der Straße schlicht ignoriert. Einige Vertreter*innen oppositioneller Parteien boten sich als Vermittler*innen an und erlitten Schiffbruch. Schon an diesem Punkt wurde klar: Die Protestdynamik unterscheidet sich von früheren Mobilisierungen. Die Proteste haben oft keine klaren Hierarchien und allenfalls ein kleiner Teil der Protestierenden ist durch etablierte Protestführer*innen beeinflussbar bzw. kontrollierbar.

In der Heterogenität der Formen und Träger der Proteste wird auch das breite Panorama der Forderungen sichtbar: die Einforderung grundlegender sozialer Rechte (Bildung, Gesundheit, Arbeit) und der Zukunftsperspektiven für ein Leben in Würde, die Ablehnung der etablierten Politiker*innen sowie die Anklage von Korruption, Klientelismus und der fortwährenden Gewalt gegen soziale Aktvist*innen. Die repressive Beantwortung der Proteste durch die Sicherheitskräfte wirkt zudem als Brandbeschleuniger der Proteste, verlieh dies doch Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Sicherheitssektors zusätzlichen Auftrieb. Schließlich fällt auch die schleppende Implementierung des 2016 geschlossenen Friedensvertrags mit der ehemaligen Guerrilla der FARC-EP unter die Kritik der Protestierenden. Gemeinsam ist den Forderungen der Aufschrei: Es reicht!

Denn keinesfalls kommt die ­soziale Eruption aus dem Nichts. Zentrale Konfliktursachen sind die strukturellen Entwicklungsprobleme des Landes. Bereits unter dem letzten Präsident Santos (2010-2018) gab es vermehrt Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit. Noch kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie wurde die Regierung von Ivan Duque Ende 2019 von massiven Protesten in die Enge getrieben und reagierte mit Ausgangssperren. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren ein willkommenes Mittel, um den Protest zu beenden. Diese trugen jedoch auch zur weiteren Zuspitzung der Protestursachen bei. Sozial benachteiligte Gruppen wurden von den Auswirkungen der Pandemie überproportional hart getroffen und die Politiken zur Abfederung der Krise waren und sind bei weitem nicht ausreichend (Peters 2020). In der Konsequenz nahmen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit im Jahr 2020 in Kolumbien deutlich zu (vgl. CEPAL 2021).

Friede den Palästen, Krieg den Hütten?

Im Zentrum der Proteste stehen daher soziale Forderungen. Der Friedensprozess ist auf den ersten Blick allenfalls ein untergeordnetes Thema der Mobilisierungen. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Proteste auf zwei Weisen eng mit den ebenso offensichtlichen, wie wenig diskutierten Problemen des kolumbianischen Friedensprozesses zusammenhängen.

  • Erstens begegnet der Friedensprozess weder den extremen sozialen Ungleichheiten noch den Ungleichheiten im Landbesitz oder dem Mangel an sozialer Mobilität in adäquater Form (vgl. OECD 2018, S. 27; World Economic Forum 2020, S. 7). Diese strukturellen Konfliktursachen wurden entweder nicht ausreichend adressiert oder – wie im Falle der Reform der ländlichen Entwicklung – bestenfalls im Schneckentempo bearbeitet (vgl. Instituto Kroc 2021).
  • Zweitens hat der Friedensprozess zwar nicht das Land, wohl aber die großen Städte jenseits der Marginalviertel und die wohlhabenden Orte der Fincas befriedet. Pointiert ausgedrückt liest sich die vorläufige Bilanz des Friedensprozess wie eine Umkehrung von Georg Büchners Forderung aus dem Vormärz: Friede den Palästen, Krieg den Hütten. Denn gerade Teile der privilegierten sozialen Gruppen profitieren vom Friedensprozess, etwa durch neue Entwicklungspotenziale. Eine Infragestellung ihrer Privilegien brauchen die Eliten des Landes ebenso wenig zu befürchten, wie direkte Konsequenzen für ihre Privilegien aus der hervorragenden Arbeit der Transitional-­Justice-Institutionen des Landes.

Ein großer Teil der historisch marginalisierten Bevölkerung wartet hingegen bisher vergeblich auf die Materialisierung einer Friedensdividende. Insbesondere in den durch historische Marginalisierung geprägten Regionen der kolumbianischen Peripherie – etwa an der Pazifikküste, im Norden des Landes, an der Grenze zu Venezuela oder in Teilen des Amazonasgebietes – aber auch in vielen Armenvierteln der großen Städte ist der Frieden in weiter Ferne.

Nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes mit der FARC-EP 2016 stießen andere alte und neue Gewaltakteure in das Machtvakuum. Heute liefern sich verschiedene bewaffnete Gruppen Machtkämpfe in der kolumbianischen Peripherie. Dabei geht es auch um die Kontrolle des florierenden Drogengeschäfts, einschließlich der Transportwege in Kolumbien. Die vielen Morde an sozialen Aktivist*innen, Umweltschützer*innen und ehemaligen FARC-Kämpfer*innen zeigen, dass in weiten Teilen des peripheren und marginalisierten Kolumbiens kaum von Frieden gesprochen werden kann. Gleichzeitig kann die Aussicht auf symbolische Reparationen der wachsenden materiellen Not von vielen der über 9 Millionen Opfer des bewaffneten Konfliktes nicht adäquat begegnen.

Perspektiven für eine kon­struk­tive Bearbeitung der Krisen

Eine konstruktive Bearbeitung dieser Multikrise erfordert einen Paradigmenwechsel. Kriminalisierung und Repression müssen durch Dialog und konstruktive Lösungsvorschläge ersetzt werden. Der Schlüssel liegt in der Implementierung des Friedensvertrags sowie in der Bearbeitung der sozialen Frage.

  • Ersteres betrifft vor allem die Umsetzung der Reform der ländlichen Entwicklung, einschließlich der Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Kolumbien, den effektiven Schutz sozialer Aktivist*innen sowie vermehrte Anstrengungen zur Substitution des Anbaus illegaler Drogen durch legale Alternativen.
  • Dennoch muss klar sein, dass der Friedensvertrag alleine ein allzu stumpfes Schwert für die Bearbeitung der immensen Herausforderungen Kolumbiens ist. Die zunehmende Gewalt im Land kann nur durch eine Kombination aus Gesprächen mit verhandlungsbereiten bewaffneten Gruppen und einem Paradigmenwechsel in der internationalen Drogenpolitik mit dem Ziel der Reduzierung der unermesslichen Gewinnmargen bekämpft werden.
  • Ergänzend ist eine Reform des kolumbianischen Sicherheitsapparats mit dem Ziel der Professionalisierung und der Stärkung von Deeskalationsstrategien der Polizei unabdingbar.
  • Doch vor allem braucht es einen Wandel der Perspektive: Gerade das Führungspersonal scheint die Protestierenden bisweilen nicht als engagierte Bürger*innen, sondern als inneren Feind wahrzunehmen.

Gleichzeitig gilt es auch und insbesondere die soziale Frage vermehrt ins Zentrum zu rücken. Die sozialen Ungleichheiten in Kolumbien sind bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Landbesitz jeweils extrem. Hinzu kommt, dass es kaum Möglichkeiten der sozialen Aufwärtsmobilität gibt. Die sozialen Ungerechtigkeiten haben sich in der Pandemie noch weiter verschärft. Die sozialen Härten trafen die Armen und die untere Mittelschicht. Dem gilt es entgegenzusteuern, beispielsweise indem die Belastungen auf die »starken Schultern« der Gesellschaft konzentriert werden: Lateinamerikanische Eliten werden traditionell kaum über Steuern in die gesellschaftliche Pflicht genommen. Kolumbien ist hier keine Ausnahme. Diese Tatsache wird mittlerweile auch von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF als Problem erkannt (vgl. Financial Times 2021). Die massiven Proteste haben der Regierung gezeigt, dass es nunmehr an der Zeit ist, die berechtigten Forderungen nach der Einhaltung sozialer Rechte und damit die Finanzierung von Perspektiven, durch eine Steuerreform, die endlich die privilegierten Teile der Bevölkerung in die Pflicht nimmt, zu finanzieren.

Die Menschen auf der Straße fordern lautstark drängende Reformen für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung in Kolumbien ein. Es bleibt abzuwarten, ob die kolumbianische Politik diese Stimmen hört und die Weichen in Richtung auf eine bessere Zukunft stellt.

Literatur

CEPAL (2021): Panorama Social de América Latina y el Caribe. Santiago de Chile.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Aktueller Beitrag, Wissenschaft und Frieden online, 18.05.2021.

Deutsche Welle/DW (2021): Colombia cumple dos meses de estallido social entre protestas y vandalismo. 29.06.2021.

FAZ (2021): Konflikt in Kolumbien: Wütende Jugend trifft auf repressive Polizei. 12.05.2021.

Financial Times (2021): Richest Latin Americans should pay ‘much more’ tax, says IMF. 21.06.2021.

Instituto Kroc (2021): El Acuerdo Final de Colombia en tiempos del Covid-19: Apropiación institucional y ciudadana como clave de la implementación.

JEP-UIA (2021): Gravedad de la situación de derechos humanos en Colombia. El caso del paro nacional y sus repercusiones sobre el Sistema Integral para la Paz (28 de abril al 30 de mayo de 2021).

OECD (2018): A broken social elevator? How to promote social mobility? Paris.

Peters, Stefan (2020): Ungleichheit tötet. Internationale Politik und Gesellschaft, 26.03.2020.

Temblores, Indepaz und PAIIS (2021): Resumen Ejecutivo Informe de Temblores ONG, Indepaz y PAIIS a la CIDH sobre la violación sistemática de la Convención Americana y los alcances jurisprudenciales de la Corte IDH con respecto al uso de la fuerza pública contra la sociedad civil en Colombia, en el marco de las protestas acontecidas entre el 28 de abril y el 26 de junio de 2021. URL: indepaz.org.co.

World Economic Forum (2020): The global social mobility report 2020: Equality, opportunity and a new economic imperative. Genf.

Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ.

Friedensschule im Krieg

Friedensschule im Krieg

Franjo Starcevic und die Friedenspädagogik in Gorski kotar (Kroatien)

von Valentina Otmacic

Die Friedensschule in Gorski Kotar (Kroatien) war ein ganz besonderes pädagogisches Experiment. Entstanden ist sie in einer Region, die dank des Engagements der örtlichen Bevölkerung den prekären Frieden zwischen den dort lebenden Serb*innen und Kroat*innen retten und bewahren konnte. Um diesen Frieden zu verstetigen, wurde ein System an Kursen geschaffen, die »Friedensschule«, die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichem Hintergrund, zunächst aus der Region, dann aus ganz Ex-Jugoslawien und dem angrenzenden Ausland, einander näherbringen sollte. Der Motor all dieser Bemühungen war Professor Franjo Starcevic. Ein Porträt zu seinem 10. Todestag.

Gorski kotar ist eine gebirgige Region im Nordwesten Kroatiens, die von Kroaten und Serben bewohnt wird, zwei Bevölkerungsgruppen, die während der Auflösungskriege Jugoslawiens 1991-1995 in einen gewaltsamen Konflikt gegeneinander verstrickt wurden. Während die meisten ethnisch gemischten Regionen in Kroatien Spaltungen und Gewalt erlebten, blieb Gorski kotar durch die gesamte Kriegszeit eine Oase des Friedens, die die vorherrschenden nationalistischen Praktiken der ethnischen Zersplitterung der Gesellschaft und des Territoriums durch ihr leuchtendes Gegenbeispiel herausforderte. Die Gemeinde Gorski kotar verhinderte nicht nur jegliche bewaffneten Zusammenstöße in der Region, sondern bewahrte auch den positiven Frieden auf lokaler Ebene. Diese außergewöhnliche Errungenschaft war möglich dank des strategisch klugen, oft heldenhaften Engagements und des unkonventionellen Denkens einiger außergewöhnlicher Menschen. Einer der wichtigsten von ihnen war Professor Franjo Starcevic, ein Pionier der Friedensarbeit und Friedenserziehung, der im April 2011 verstorben ist1. Über seine Heimat sagte er Folgendes:

„Gorski kotar ist etwas Besonderes. Ich denke mir, dass dies daran liegt, dass es zu den höchstgelegenen Orten in Kroatien gehört. Ich denke mir, dass wir dem Himmel und den Wolken, die nicht aufeinander schießen, ein Stück näher sind; auch die Sterne schießen nicht aufeinander“ (Franjo Starcevic, im Nansen-Dialogzentrum Osijek, 2009).

Geboren 1923 im kleinen Ort Mrkopalj in Gorski kotar, absolvierte Franjo Starcevic sein Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität Zagreb. Nach vielen Jahren pädagogischer Arbeit an verschiedenen Schulen war er zur Zeit der Auflösung Jugoslawiens schon im Ruhestand, aber politisch immer noch in der Gemeindeverwaltung seines Heimatortes engagiert. Tief davon überzeugt, dass Gorski kotar all seinen Bewohner*innen gehört und dass der Frieden dort trotz der schwierigsten Umstände bewahrt werden kann, wurde Franjo Starcevic – oder der »Professor Starcevic«, wie ihn die meisten Menschen nennen – zu einer Ikone der Friedensbewahrung in der Region und darüber hinaus.

„Der Professor vertraut seinen Nachbarn“

Als der jugoslawische Staat ab 1990 zerfiel und die Zukunft seiner Republiken und Bürger*innen höchst ungewiss war, nahmen die Spannungen in ganz Kroatien zu, vor allem in den Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerung wie in der Region Gorski kotar. Ethnische Identitäten gewannen stark an Bedeutung, und unter der Führung nationalistischer Eliten fanden sich Menschen, die jahrzehntelang zusammen gelebt hatten, plötzlich auf gegnerischen Seiten, als Feinde wieder. Die Polarisierung der Bevölkerung entlang ethnischer Linien wurde unter anderem durch die Unterbrechung der Kommunikation zwischen den ethnischen Gruppen befördert, die gleichzeitig aus unterschiedlichen Quellen bewaffnet wurden. Die Errichtung von physischen Barrikaden auf den Straßen, um die Weitergabe von Waffen zu verhindern und sich vor Angriffen zu schützen, wurde zu einer gängigen Praxis, die mit der Errichtung »mentaler Barrikaden« und ethnischer Trennlinien in den Köpfen der Menschen einherging. Dieses Szenario begann sich auch in Gorski kotar im Herbst 1991 abzuzeichnen, mit Barrikaden zwischen kroatischen und serbischen Dörfern, die von beiden Seiten errichtet wurden.

Ein Wendepunkt in dieser Entwicklung war erreicht, als Franjo Starcevic, ein Kroate, beschloss, die Barrikaden zu Fuß zu überqueren und mit den Führungskräften in den serbischen Dörfern zu sprechen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wagte er in Absprache mit den örtlichen Behörden diese lange, historische und höchst symbolische Reise.

Josip Horvat, damals Leiter des Krisenstabs der Gemeinde Delnice, erinnert sich an den Moment, als diese Entscheidung getroffen wurde:

„Die Barrikaden von irgendeiner Seite zu überqueren bedeutet, seinen Kopf zu riskieren (…) Aber der Professor [Starcevic] vertraut seinen Nachbarn. Es ist unmöglich, dass der Wirbelwind des Krieges in so kurzer Zeit friedliche Menschen in Kriegsmonster verwandelt hat. Wir warnen ihn, dass die Reise riskant, lang und schwierig ist, man muss den Berg zu Fuß überqueren. ‚Ich bin siebzig Jahre alt und es wird nicht viel schaden [wenn ich sterbe], und Sie werden wenigstens wissen, wo Sie stehen!‘ Er ist ruhig und lächelt. Es scheint, dass er unsere Verwirrung genießt.“ (Horvat 2003, S. 45)

Dies war nur der erste von vielen Besuchen, die Professor Starcevic den serbischen und später auch den kroatischen Dörfern in der Region abstatten sollte. Er übernahm die Rolle eines Vermittlers und initiierte eine Reihe von Austauschen, die eine kontinuierliche und konstruktive Kommunikation zwischen den serbischen und kroatischen Führungen fördern sollten, die auf diese Weise zu Partnern bei der Bewahrung des Friedens in Gorski kotar wurden. Dieser ebenso symbolische wie pragmatische Akt des Friedens – eine außergewöhnliche menschliche Anstrengung, die Professor Starcevic unternahm, um die Hand auszustrecken und »den anderen« zuzuhören – hatte eine stark positive Wirkung auf die serbische Bevölkerung auf der anderen Seite des Berges und weckte Vertrauen. In einem Video des Nansen-Dialogzentrums Osijek (2009) erinnert sich Ðuro Trbovic, der Chef der überwiegend serbischen Gemeinde Drežnica:

„Der Mann hat sich geopfert, er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, er ist 27 Kilometer von hier nach Jasenak gelaufen.“

Im gleichen Video betont ein Bewohner des Dorfes Jasenak:

Er kam durch den Schnee, es lag ein Meter Schnee, er kam über die Straße, durch den Wald, er kam, um allen, die schlechte Absichten hatten, das Gegenteil zu beweisen.“

Bei der Betrachtung der Auswirkungen dieser von Professor Starcevic initiierten Aktionen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in vielen Orten in Kroatien, die enorme menschliche und andere Verluste erlitten, die Gewalt mit den Barrikaden begann. Dem folgten: Das Gefühl der Bedrohung, das wachsende Misstrauen, die Verschanzung der Menschen entlang der ethnischen Zugehörigkeit, die erste Kugel, das erste Opfer, die Zunahme der Feindseligkeiten, zusätzliche militärische Kräfte, die von beiden Seiten zur Unterstützung ihrer ethnischen Gruppe herbeigerufen wurden – das war ein übliches Szenario in solchen Orten. In Gorski kotar hingegen wurden die Barrikaden langsam abgebaut, das Holz wurde von Jasenak nach Rijeka gebracht und dort verkauft, Menschen beider ethnischer Gruppen gingen weiter ihrer Arbeit nach und die lokalen Eliten begannen, sich von der Idee des ethnischen Konflikts zu lösen (siehe Wintersteiner 1994 und Glad 2017).

Die positiven interethnischen Beziehungen in Gorski kotar, die durch den Dialog der lokalen Eliten erhalten wurden, mussten aber auch auf allen Ebenen gepflegt werden. Da die Kinder systematisch den dominanten Diskursen der Spaltung ausgesetzt waren, bestand die Notwendigkeit, sie bei der Überwindung dieser Herausforderung zu unterstützen. Die Idee der Friedensschule war geboren.

Friedensschule in Mrkopalj

Mitten im Krieg, im Jahr 1994, startete Franjo Starcevic zusammen mit seinem Kollegen, dem Künstler Josip Butkovic, und einer Gruppe gleichgesinnter Freiwilliger diese ungewöhnliche Initiative und eröffnete eine Friedensschule in Mrkopalj. Die »Schule« versammelte Kinder aus den umliegenden Dörfern und mehreren Städten Kroatiens, bot einen Raum für Begegnungen und Workshops zu verschiedenen Themenbereichen und mobilisierte lokale Familien, die sich freiwillig bereit erklärten, die externen Kinder aus anderen Teilen Kroatiens in ihren Häusern aufzunehmen.

Die erste einwöchige Veranstaltung der Friedensschule wurde im August 1994 organisiert und versammelte 46 Teilnehmer*innen aus Gorski kotar, Rijeka und Zagreb, kroatischer, serbischer und muslimischer Herkunft. Darunter auch Kinder, die aufgrund des Krieges aus anderen Teilen Kroatiens vertrieben worden waren. Das Programm war sehr vielfältig – es umfasste Kunsthandwerk, Sport, Ökologie, Konferenzen und Seminare zur gewaltfreien Konfliktlösung, Bastelworkshops und viele andere Aktivitäten. Wie die Organisator*innen betonten, belehrten sie die Schüler*innen zu Beginn nicht theoretisch über Frieden, sondern ließen die Jugendlichen einfach gemeinsam etwas tun. In diesem Prozess wurden viele Barrieren abgebaut und eine Reihe von verschiedenen Akteuren war daran beteiligt, die die Friedensidee über die Workshops hinaus weiter trugen.

Im Laufe der Zeit erweiterte die Schule ihre geografische Ausstrahlung und ihren Einfluss – auch nach dem Ende des Krieges: Initiiert in Mrkopalj, breiteten sich die Aktivitäten der Schule auf Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Slowenien aus und bezogen auch Initiativen und Personen aus der Schweiz und Österreich mit ein. Anfänglich auf Spenden von Einzelpersonen angewiesen, erhielt die Friedensschule nach und nach Mittel vom Europarat, dem Open Society Institute und anderen Organisationen. Über viele Jahre hinweg blieb diese Schule ein Ort der Begegnung und der positiven gemeinsamen Erfahrungen von Kindern verschiedener ethnischer Gruppen, von den örtlichen Dörfern bis hin zu den Nachbarländern.

Die Organisation der Friedensschule basierte auf dem zuvor aufgebauten gegenseitigen Vertrauen zwischen den Bewohner*innen von Gorski kotar und stärkte dieses Vertrauen weiter. Milan Kosanovic, ein Serbe aus Jasenak, erinnert sich an die Entscheidung, seine Tochter im August 1994 in die Friedensschule zu schicken:

„Das ist die Logik: Wenn ich dir etwas anvertraue, dann mein Kind […] es gibt nichts, was man mehr in etwas Gutes oder in etwas Ehrenvolles und Faires investieren könnte, als dir sein eigenes Kind anzuvertrauen.“ (Nansen Dialogzentrum Osijek 2009)

Wechselseitig vertrauensvolle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern beider ethnischer Gruppen wurden durch diese Erfahrung gestärkt und intensiviert, denn die Organisation und Durchführung der Aktivitäten der Friedensschule erforderte ihre Zusammenarbeit, gemeinsame Entscheidungsfindung und gegenseitiges Vertrauen. Im Kontext des andauernden Krieges in Kroatien und dem benachbarten Bosnien-Herzegowina war die Idee der Friedensschule revolutionär und blieb der Bevölkerung von Gorski kotar und darüber hinaus als bedeutendes Vermächtnis erhalten.

Die Friedensschule als Vermächtnis

Das Erlebnis der oben geschilderten Praxis der Friedensschule ist eine wertvolle pädagogische Erfahrung, die in den Augen der Organisator*innen sowohl an Kinder als auch an Erwachsene weitergegeben werden musste, in Kroatien und im Ausland.

Als eine Art erfolgreiches soziales Experiment, das zur Erhaltung des Friedens in Gorski kotar beitrug, war es gleichzeitig aber auch eine einzigartige und innovative Art des Widerstands gegen die Angst vor dem »Anderen«.

Mit ihrer Kriegs- und Nachkriegspraxis wurde die Friedensschule zu einer Art »Museum der ungebrochenen Beziehungen« (um die Analogie mit dem bekannten Zagreber »Museum der zerbrochenen Beziehungen« zu verwenden), zum Ort des Widerstands gegen Angst und Spaltung. Sie wurde zu einem Allgemeingut im kollektiven Gedächtnis von Gorski kotar und stellt ein soziales Kapital dar, das für die weitere Friedensarbeit nutzbar gemacht werden sollte. Allerdings werden Franjo Starcevic, die Friedensschule oder die Friedenserfahrung von Gorski kotar in den Lehrplänen der Schulen in Kroatien heute nicht erwähnt. Das ist nicht überraschend, da diese Erzählung dem dominanten Diskurs über den Krieg 1991-95 widerspricht und ihn herausfordert. Gerade deshalb wäre die Friedensschule der richtige Ort, um Geschichtslehrer*innen zu versammeln und gemeinsam darüber nachzudenken, wie kritisches Denken gefördert und das Verständnis der Kriegsereignisse durch die Erfahrungen aus Gorski kotar vertieft werden könnten.

Die Friedensschule ist aber nicht nur eine gemeinsame Erfahrung aus der Vergangenheit oder ein Gebäude in Mrkopalj; sie ist vor allem eine Idee, ein Konzept, das von Franjo Starcevic initiiert wurde. Es hätte ihm sicher gefallen, wenn die Schule heute wieder ein Ort der aktiven Suche nach Antworten auf die aktuellen Herausforderungen des Friedens werden könnte, denn von diesen Herausforderungen gibt es viele.

Friedensförderndes Potenzial für das 21. Jahrhundert

Der Krieg mag vorbei sein, aber wir können die Situation sicher nicht als Frieden bezeichnen, in der manche Erwachsene – in Jajce (Bosnien), in Vukovar (Kroatien) oder anderswo – Kinder entlang der ethnischen Linien aufteilen oder in der einige Kinder von »anderen Leuten« (Geflüchteten) ihr Leben in den Lastwagen von Schmugglern verlieren, um nur einige Beispiele zu nennen.

Denn Frieden ist nicht einfach nur die Abwesenheit von direkter, bewaffneter Gewalt, sondern die Abwesenheit jeglicher Art von Gewalt und die Anwesenheit von Gerechtigkeit und Zusammenarbeit unter den Menschen.

Deshalb wird die Friedensschule heute genauso gebraucht wie in den Kriegszeiten der 1990er Jahre. Obwohl sie 2006 aufgrund finanzieller Engpässe geschlossen wurde, gibt es heute gute Aussichten, dass sie dank der Bemühungen einiger Enthusiast*innen wieder eröffnet werden kann. Um für das 21. Jahrhundert relevant zu sein, muss sich die Schule auf die Themen konzentrieren, die für die Kinder und Jugendlichen von heute am wichtigsten sind. Unter diesen Themen sticht die Frage der Klimakrise und der Klimagerechtigkeit als eine der wichtigsten Herausforderungen für den Frieden von heute und morgen hervor. Mit seiner ökologischen Herangehensweise war Franjo Starcevic einer der Vorläufer der heutigen Bewegung zur Rettung des Planeten in Kroatien. In diesem Sinne müsste eine erneuerte Friedensschule die Ziele der heutigen Klimabewegung in direkter Verbindung mit der Frage des Friedens aufgreifen.

1994 wurde im Bulletin der Grundschule Mrkopalj vermerkt, dass das Ziel der Friedensschule darin bestehe, „den Kindern – Jungen und Mädchen – zu helfen, ein Leben in gegenseitiger Zusammenarbeit, Respekt und Verständnis zu beginnen und durchzuhalten; eine Welt ohne Hass und Krieg zu schaffen und die bestehenden Grenzen nationaler und missverstandener religiöser Zugehörigkeit in Begegnungspunkte des allgemeinen menschlichen Miteinanders zu verwandeln“ (Bulletin Board Club, S. 3).

Dies ist ein wichtiges und ehrgeiziges Programm, das sich die ersten Studierenden und Initiator*innen der Schule gegeben hatten. Es ist nun an der Zeit, die Reise dort fortzusetzen, wo sie aufgehört hat und diesem Programm wieder Leben einzuhauchen. So kann die Friedensschule den Fußstapfen von Franjo Starcevic folgen und daran arbeiten, Hindernisse und Grenzen zu überwinden. So kann sich das enorme pädagogische und friedensfördernde Potenzial entfalten, das in der Friedensschule in Mrkopalj steckt.

Anmerkung

1) Dieser Text erinnert anlässlich des zehnten Todestages von Franjo Starcevic an seine Pionierarbeit.

Literatur

Bulletin Board Club (1994): Delnice: Informaticka radionica Gorani OŠ Mrkopalj.

Glad, N. (2017): Goranski MIR-ovi. Delnice: Matica hrvatska.

Horvat, J. (2003): Oaza mira. Rijeka: Adamic.

Nansen Dialogzentrum Osijek (2009): Neispricane price II [Video]. URL: ndcosijek.hr.

Wintersteiner, W. (1993): Zusammenleben ist möglich: Serben und Kroaten in Gorski kotar. In: Birckenbach,H.; Jäger, U.; Wellmann, C. (Hrsg.): Jahrbuch Frieden 1994. München: Beck, S. 225-232.

Dr. Valentina Otmacic ist eine unabhängige Wissenschaftlerin aus Kroatien. Sie hat einen Doktortitel in Friedensforschung von der University of Bradford, UK. Ihre Forschungsarbeit konzentriert sich auf gemeinschaftliche Formen des Widerstands gegen Gewalt und gewaltfreie Ansätze zur Konflikttransformation.

Aus dem Englischen übersetzt von ­Werner Wintersteiner.

Eskalation in Südafrika

Eskalation in Südafrika

von Jürgen Nieth

Johannes Dieterich spricht im Tagesspiegel (19.07.21, S. 5 ) von den „schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte des vor 27 Jahren demokratisierten Staates.“ Christian Pusch (NZZ 26.07.21, S. 2) bilanziert: „337 Tote, über 3.000 geplünderte Geschäfte.“ Die FAZ (23.07.21, S. 21) geht von Schäden „bis zu drei Milliarden Euro“ aus und spricht von „150.000 Arbeitsplätzen“, die gefährdet seien. Von einer gezielten Zerstörung der „Infrastruktur des Staates“ spricht Bernd Dörries in der SZ (20.07.21, S. 6):
„Mobilfunkmasten wurden angegriffen, Anlagen zur Wasseraufbereitung, Krankenhäuser, mindestens 30 Schulen.“ Laut Claudia Bröll sprach „Präsident Ramaphosa […] von einem ‚versuchten Aufstand‘, die Thabo-Mbeki-Stiftung von ‚konterrevolutionären Aktivitäten‘. (FAZ 22.07.21, S. 8)

Staatliche Zurückhaltung

Laut NZZ (s.o) haben „die Sicherheitskräfte […] bei den jüngsten Unruhen nur zögerlich eingegriffen“, denn die Regierung „habe ein weiteres Blutbad unbedingt verhindern wollen“. Die Polizei sei aber auch mangelhaft ausgerüstet gewesen und die Zahl der Polizist*innen stagniere seit Jahren, trotz steigender Bevölkerungszahl. Für Bernd Dörries (SZ 16.07.21, S. 9) ist Südafrika „ein Land, in dem kaum jemand noch damit rechnet, dass die Polizei kommt, wenn man sie ruft. Sicherheit ist Privatsache geworden.

In der Zeit (22.07.21, S. 9) hält Andrea Böhm fest: „Weil die Polizei machtlos war, schickte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa schließlich die Armee. […]. Eine höchst umstrittene Maßnahme, denn die Militärpräsenz erinnert an das Kriegsrecht aus Apartheid-Zeiten.

Zuma als Anstifter?

Betroffen von den Unruhen war vor allem die Heimatprovinz Jacob Zumas und zeitlich fielen die Proteste mit dessen Haftantritt zusammen: Der ehemalige Präsident des Landes war von einem Gericht wegen Missachtung der Justiz zu 15 Monaten Haft“ verurteilt worden. Vor der Ablösung Zumas als Präsident hatten
„Journalisten und Whistleblower ein gigantisches Korruptionsnetzwerk aufgedeckt – mittendrin Zuma […]. Staatliche Firmen waren systematisch geplündert, Steuergelder veruntreut, Wirtschaftsverträge manipuliert, Kritiker in der Regierung kaltgestellt worden […]. [Es] soll dem Staat so ein Schaden von bis zu 100 Milliarden Dollar entstanden sein.“ (Zeit, s.o.). So ist es für manche Beobachter*innen verwunderlich, dass
„Zuma überhaupt noch so viele Anhänger hat, nach all den desaströsen Jahren […]: Er hat sich gerne als Mann der kleinen Leute gegeben, hat getanzt und gesungen und gewitzelt, er gilt als volksnah und hat das Volk doch gleichzeitig bestohlen.“ (Bernd Dörries, SZ 16.07.21, S. 9) Hinzufügen muss man hier, dass Zuma zusammen mit Nelson Mandela auf Robben Island inhaftiert war und sicher auch aufgrund dessen im ANC nach wie vor großen Einfluss hat.

Bei den Auseinandersetzungen steht auch die Einheit des ANC, der ältesten Befreiungsbewegung Afrikas, auf der Tagesordnung. Schließlich gehen alle vorliegenden Zeitungsberichte davon aus, dass Zuma und sein Netzwerk die Unruhen orchestriert haben. Lutz van Dijk verweist in der taz (16.07.21, S. 10) auf ein „Video, das Zumas Tochter postete, in dem auf ein Wahlplakat Ramaphosas geschossen wird.“ Die FAZ (14.07.21, S. 5) zitiert die Zuma-Tochter Duduzile:
„Ramaphosa, wir geben dir drei Tage, um Zuma freizulassen. Das Land wird sonst niederbrennen, ich verspreche es.

Strukturelle Ursachen

Für Savious Kwinika (taz 15.07,21, S. 10) war allerdings „Zumas Verhaftung […] nur der Funke, der das Pulverfass explodieren ließ“. Denn eigentlich weise die Plünderungswelle auf etwas anderes hin: „Wie Junge und Alte in diesen kalten Winternächten ihr Leben riskierten, um Diebesgut zu greifen, machte deutlich, welches Ausmaß Hunger, Elend und Ruhelosigkeit mittlerweile unter weiten Teilen der Bevölkerung haben.“ Aus Kapstadt berichtet Christian Selz für nd (17.07.21, S. 7):
„Die Kluft zwischen Arm und Reich ist seit dem Ende der Apartheid nicht kleiner, sondern sogar noch größer geworden […]. Die extreme Armut, während man gleichzeitig das Luxusleben der Oberschicht vor Augen hat, führt zu Wut und einer enorm hohen Kriminalitätsrate, seit Jahrzehnten […]. Die Arbeitslosenquote ist seit [… Ramaphosas] Amtsantritt im Februar 2018 weiter gestiegen […]. Die Corona-Pandemie […hat] die Situation noch einmal verschärft. Etwa drei Millionen Menschen verloren im ersten Lockdown vor einem Jahr ihre Arbeit, erholt hat sich Südafrika davon bis heute nicht.“ Zu den Plünderer*innen zählten allerdings nicht nur Arme. Die BZ (14.07.21, S. 4) berichtet von
„Menschen, die mit Mittelklassewagen vorfuhren und Kühlschränke, Betten, Kleider, Schuhe und selbst Möbel wegschafften.

Ausblick

Die Plünderungen sind beendet, die Aufräumarbeiten haben begonnen. Laut Bernd Dörries (SZ 20.07.21, S. 6) scheint mittlerweile „auch unter vielen Plünderern Katerstimmung zu herrschen. Das Ausmaß der Gewalt war für viele Südafrikaner schockierend und abschreckend.“ Die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des ANC sind für ihn aber nicht entschieden: „Zumas Leute sitzen teilweise immer noch in den Behörden und der Regierung und haben den Kampf noch nicht aufgegeben.“ Der ANC ist laut Claudia Bröll (s.o.)
„tief gespalten in einen angeblich reformwilligen Flügel und die alte Zuma-Garde […]. Zusätzlich kommt der populistischen Oppositionspartei Economic Freedom Fighters (EFF) das Chaos zugute […]. Schon lange wird darüber spekuliert, dass EFF-Gründer Julius Malema sich mit dem radikalen Flügel des ANC zusammenschließen und so die Macht im ANC übernehmen könnte.

Um das zu verhindern, bleibt für Ramaphosa laut Andrea Böhm (s.o.) nur folgende Option: „Cyril Ramaphosa hatte bei Amtsantritt einen Kampf gegen die Armut angekündigt. In den Townships glaubt ihm das keiner mehr […]. Dass er nun […] die Einführung eines Grundeinkommens untersuchen lassen will, halten Kritiker für zu wenig […]. Die Leute müssen Verbesserungen jetzt sofort sehen und schmecken können.

Zitierte Presseorgane: BZ – Berliner Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – neues Deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel, taz – tageszeitung, Zeit – Die Zeit

Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten


Wechselnde Herrschaft in Postkonfliktkontexten

Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, online, 31. März – 1. April 2021

von Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Die in den letzten Jahren stark wachsende Literatur zu »rebel governance« (RG) untersucht interne Dynamiken in Bürgerkriegen, in denen Rebell*innen Teile eines Territoriums unter ihre Kontrolle bringen, das zivile Leben regulieren und für soziale, politische sowie wirtschaftliche Güter sorgen. Auf dem Online-Workshop »Fractures and Continuities of Changing Rule in (Post-)Conflict Settings« diskutierten die Teilnehmenden die Brüche und Kontinuitäten von Herrschaftssystemen in solchen Kontexten. Viele setzten dazu bei der RG-Literatur an, gingen aber dann oft über diese hinaus. Auf dem Workshop versammelten sich Expert*innen für mehrere Weltregionen und (Post-)Konfliktzonen. Nahezu alle vorgestellten Arbeiten basieren auf Feldforschung in teils schwer zugänglichen Gebieten.

Wie Paul Staniland in seinem Abendvortrag ausführte, ist RG nur ein Strang eines inzwischen stark ausdifferenzierten, regelrecht fragmentierten Feldes der (Post-)Konfliktstudien. Dennoch sind in diesem Unterfeld längst noch nicht alle Fragen geklärt. Mehrere Beiträge zum Workshop kritisierten das RG-Konzept aufgrund seines funktionalistischen und instrumentalistischen Verständnisses der Beziehung zwischen »Herrschenden« und »Beherrschten«. Diese Beziehungen sind konzeptionell beschränkt auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen durch Rebell*innen. Ein solches Verständnis, so der Beitrag von Jude Kagoro und Klaus Schlichte, habe entpolitisierende Effekte. Statt sich auf Governance oder Kosten-Nutzen-Analysen zu beschränken, untersuchte der Beitrag daher am Beispiel der »National Resistance Army/Movement« in Uganda, wie militärische und andere Formen von Macht legitimiert und auf diese Weise in Herrschaft umgewandelt werden und wie dies wiederum mit der Einbindung in regionale Dynamiken zusammenhängt.

Der Beitrag von Tim Glawion, Anne-Clémence Le Noan und Igor Acko argumentierte am Beispiel der von Rebell*innen kontrollierten Stadt Ndélé in der Zentralafrikanischen Republik, dass diese Kontrolle in Wirklichkeit durch Zwang aufrechterhalten wurde und nicht durch die Bereitstellung von Governance. Zwar wurden öffentliche Güter zu Beginn der Rebellion beschworen. Allerdings lagerten die Rebell*innen nach Konsolidierung ihrer Kontrolle deren Bereitstellung an internationale und staatliche Akteure aus, um sich gegen Kritik an ihrer mangelhaften Bereitstellung abzuschirmen und sich stattdessen auf die Generierung von Einkommen und Ressourcenextraktion zu konzentrieren. Nicht »rebel governance«, sondern Zwang erklärt also die lange Dauer der Rebellenherrschaft in Ndélé. Damit stellte der Beitrag einige zentrale Annahmen der RG-Literatur in Frage, die bislang davon ausging, dass die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zentral für die Steigerung von Legitimität und damit Machterhalt ist.

Francesco Buscemi kritisierte die Konzeptualisierung von »Macht« als Eigenschaft von Akteuren oder Institutionen in der RG-Literatur. Dieses statische Verständnis reduziere Erwerb und Kontrolle von Gewaltmitteln auf Handlungsfähigkeit und vermeintlich rationale Aushandlungsprozesse. Stattdessen seien die gesamtgesellschaftliche Zirkulation von Rationalitäten und Techniken zur Kontrolle der Gewaltmittel in den Vordergrund zu stellen. Anhand einer Langzeitstudie zu Myanmar folgte sein Beitrag den Verläufen der Ta‘ang-Rebellenbewegungen in ihren Zyklen von Bewaffnung, Entwaffnung und Wiederbewaffnung sowie deren Zusammenhang mit Rationalitäten der Ethnonationalität einerseits und der Drogenbekämpfung andererseits.

Ein weiterer zentraler Diskussionsstrang der Veranstaltung entwickelte sich aus der Diskussion von Legitimitätskonzepten. Mara Revkins Beitrag zum Islamischen Staat (IS) argumentierte, dass für die Eroberung und Konsolidierung von territorialer Kontrolle durch aufständische Gruppen die Unterstützung und Zusammenarbeit der lokalen Zivilbevölkerung erforderlich sei. Dies konnte der IS bis zu einem gewissen Grad durch das Angebot einer effektiven und als gerecht wahrgenommenen Alternative zur irakischen Regierung erreichen, wenn auch nur anfangs. Es könnte fruchtbar sein, so ein Ergebnis der Diskussion, zwischen der Eroberung und der Konsolidierung von territorialer Kontrolle zu unterscheiden und die Rolle von Legitimität und lokaler Unterstützung über die verschiedenen Phasen von Macht- und Herrschaftserwerb, -konsolidierung und -verlust zu betrachten.

In mehreren Workshop-Beiträgen wurde zudem deutlich, dass Studien oft einen eng umrissenen lokalen Kontext untersuchen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund externer Interventionen in viele Konflikte und der Verbindung von Konfliktparteien zur Diaspora ein gravierendes Defizit. Maria Ketzmericks Beitrag untersuchte etwa die Eskalation und Transnationalisierung des »Anglophonen Konfliktes« in Kamerun unter Berücksichtigung der komplexen Beteiligung von lokalen, nationalen, trans- und internationalen Akteuren. In Andrea Jaramillos Beitrag wurde deutlich, dass in der Post-Konfliktphase ebenfalls Spannungen entstehen können zwischen global existierenden »Skripten der Friedensstiftung« und deren Implementierung in lokalen Alltagskontexten und -praktiken – die durch diese Maßnahmen unterbrochen, manchmal sogar zerstört werden könnten. Dies erkläre die Apathie mancher lokalen Gemeinschaften in Kolumbien gegenüber Reinkorporationsmaßnahmen, wie Programme zur Reintegration ehemaliger Kämpfer*innen in die Gesellschaft in Kolumbien genannt werden.

Siddharth Tripathi und Solveig Richter argumentierten in ihrem Beitrag zum Kosovo, dass Ordnung in einem Post-Konfliktkontext durch einen dynamischen und interaktiven Prozess von informellen Netzwerken etabliert werde, die bereits während des Konflikts entstanden sind. Internationale Akteure, die in einem solchen Kontext aktiv werden, sähen sich mit Zielkonflikten konfrontiert und priorisierten Sicherheit und Stabilität anstelle von echten demokratischen Reformen. Folglich sei die »neue« politische Ordnung mehr durch Kontinuitäten als Veränderungen gekennzeichnet. Auch in Deniz Kocaks Beitrag zu Ost-Timor standen Kontinuitäten zwischen Konflikt- und Post-Konfliktordnung im Vordergrund, konkret die Fortschreibung von Vertrauensverhältnissen zwischen Bevölkerung und Sicherheitsinstitutionen. Die Polizeikräfte würden auch heute noch gefürchtet, da sie, trotz einer Neugründung, größtenteils an repressiven Methoden des Polizierens festhielten und somit die Polizierungspraktiken der ehemaligen indonesischen Besatzung fortführten. Demgegenüber vertraue die Bevölkerung dem Militär, das hauptsächlich aus ehemaligen Rebell*innen besteht und als Widerstandsorganisation großes Ansehen genießt. Solveig Richter und Laura Sabogal argumentierten mit Blick auf die Frage nach der Reinkorporation von ehemaligen Rebell*innen in Kolumbien, dass auch hier die soziale Ordnung, wie sie sich während des Konflikts herausgebildet hat, einen entscheidenden Einfluss habe. Und schließlich betonte Marika Sosnowskis Beitrag zur politischen Ordnung im heutigen Süd-­Syrien ebenfalls, wie zentral die Analyse von (Prä-)Konfliktdynamiken ist, um zu verstehen, welche Formen von Autorität sich herausbilden. Diese seien mit dem formal anmutenden Begriff von Governance nicht zu fassen; vielmehr ergäben sich diese aus überlagernden Zuständigkeiten von staatlichen wie nicht-staatlichen Akteuren.

Mit dieser Hybridität von Ordnungen setzten sich zwei weitere Beiträge auseinander. Lydia Letsch untersuchte, wie die Bevölkerung in der tunesischen Grenzregion zu Algerien, die von der Koexistenz formaler wie informeller Institutionen geprägt ist, ihre eigene (Un-)Sicherheit und – in der Konsequenz – die Legitimität von Ordnungstifter*innen wahrnimmt. Juan Albarraci´n, Juan Corredor, Juan Pablo Milanese, Inge H. Valencia und Jonas Wolff forderten gängige Erklärungen von Gewalt im Post-Konflikt-Kontext Kolumbiens heraus, die von einem Machtvakuum in vormaligen Rebellengebieten und damit verbundener, wachsender Kriminalität ausgehen. Sie argumentierten, dass vielmehr eine subnationale, autoritäre Ordnung gegen wahrgenommene Bedrohungen verteidigt würde, und zwar von den darin involvierten staatlichen und nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren und lokalen Eliten. Schließlich thematisierte der einzige völkerrechtliche Beitrag von Parisa Zangeneh ein aus sozialwissenschaftlicher Sicht spannendes Phänomen: die Auseinandersetzung mit Ansprüchen auf Staatlichkeit im Rahmen von Prozessen vor dem Internationalen Strafgerichtshof und die in Urteilen vorhandene implizite Anerkennung von Quasi-Staaten. Welche Auswirkungen derartige Prozesse auf lokale und regionale Konfliktdynamiken haben, wäre in künftiger Forschung zu ergründen.

Regine Schwab und Hanna Pfeifer

Das grüne Gold


Das grüne Gold

Konflikte um die Avocado in Mexiko

von Jana Mara Burke, Dana Milena Enss und Friederike Hildebrandt

Die Avocado hat in den letzten Jahren eine Entzauberung erlebt, wie schon viele andere Exportfrüchte vor ihr: Im positiven Bild vom »Superfood«, das für einen gesunden, jungen und weltgewandten Lebensstil steht, haben sich Nachrichten von ökologischen Schäden, Landraub und blutigen Konflikten in den Anbauregionen festgesetzt. Doch die Konsument*innen zeigen sich weitgehend unbeeindruckt: Das globale Exportvolumen der Avocado ist selbst während der Corona-Pandemie weiter gestiegen (Bernal 2020).

Mexiko ist weltweit sowohl der größte Produzent als auch Exporteur von Avocados. Rund 77 Prozent der mexikanischen Produktion befindet sich im Bundesstaat Michoacán (USDA 2019).1 Im Rahmen eines explorativen, ethnographischen Forschungsprojektes in Mexiko im Jahr 2019 wurden daher Gespräche mit Exporteur*innen, Landwirt*innen, Staatsangestellten und Wissenschaftler*innen aus der Region geführt, um ermöglichende Faktoren und Auswirkungen des Avocado­booms nachzuzeichnen.2 Dabei erklärten sich ausschließlich Personen zu Interviews bereit, die Profiteur*innen des Avocadohandels oder externe Beobachter*innen sind.3 In dieser Forschung zeigte sich, dass die Konflikte um das sogenannte »grüne Gold« nicht nur Begleiterscheinung, sondern auch Antrieb des exportorientierten Anbaus in Michoacán sind.

In diesem Artikel werden drei zentrale Konflikte im Kontext des Avocadohandels hervorgehoben: Erstens die nahezu allmächtige Stellung der Produzent*innen- und Exporteur*innenvereinigung APEAM; Zweitens die anhaltenden Gewaltkonflikte im Bundesstaat Michoacán aufgrund der Aktivitäten der Drogenkartelle im Avocadohandel; Drittens die ökologischen und ökonomischen Risiken durch die Avocadoproduktion, die das Fortbestehen des Avocadoexportbooms an sich gefährden.

Die Geschichte des modernen Avocadoanbaus in Michoacán beginnt mit einem Naturereignis: Dort, wo heute das Hauptanbaugebiet für Avocados liegt, entstand 1943 der jüngste Vulkan Amerikas, der Paricutín. An dessen Hängen herrschen Mikroklimata, die jährlich bis zu vier Blütezeiten der Avocadobäume und damit eine ganzjährige Ernte ermöglichen. Im Rahmen eines von 1942 bis 1964 bestehenden Farmarbeiterabkommens priorisierte Mexiko in Folge des Vulkanausbruchs die Entsendung von Arbeiter*innen aus Michoacán in die USA. Interviewte betonten, dass besonders aus diesen Familien heutzutage Remissen zurück in die Heimatregion fließen und in Avocadoplantagen investiert werden.

Die großflächige Avocadoproduktion entstand allerdings erst in den 1990er Jahren: Bis dahin wurde sie vom sogenannten »ejido-System« eingeschränkt. Ejidos sind in Parzellen geteiltes genossenschaftliches Gemeindeland, das in Michoacán insbesondere den indigenen Gemeinden der Purépecha zugeschrieben wird und bis 1992 unverkäuflich war. Mit der neoliberalen Politik des Präsidenten Salinas de Gortari in den 1990er Jahren wurden der Verkauf und die Verpachtung von Gemeindeland und damit die großflächige agrarindustrielle Produktion möglich. Mit diesem Wandel der Wirtschaftspolitik stieg auch der finanzielle Druck auf die Parzellenbesitzer*innen, ihr Land entweder landwirtschaftlich effizient zu nutzen oder abzugeben.

Die zentralisierte Macht des Verbandes APEAM

Trotz stark begünstigender Faktoren auf lokaler Ebene, wurde Michoacán im Avocadohandel erst durch Abkommen mit den USA, als größtem Abnehmer, international erfolgreich. Diese Verhandlungen rücken den einflussreichsten Akteur im Avocadohandel Michoacáns in den Mittelpunkt: Die Asociación de Productores y Empacadores Exportadores de Aguacate de México, kurz APEAM. Bis 1997 galt in den USA für Avocados aus Mexiko ein Einfuhrverbot zum Schutz vor Schädlingen. Seit 2007 ist der Export mexikanischer Avocados in alle US-Bundesstaaten erlaubt, bisher allerdings nur aus Michoacán. APEAM war von Beginn an den Verhandlungen beteiligt und ist ein zentrales Scharnier für den gesamten Handel. Der Verband fungiert als Kooperationspartner zwischen dem mexikanischen und dem US-amerikanischen Agrarministerium und den jeweiligen Behörden für Lebensmittelsicherheit. Außerdem erfüllt er die Funktion der Qualitätssicherung für den US-amerikanischen Markt, vergibt Zulassungen für neue Produktionen und Verpackungsstationen und ist an der Preissetzung beteiligt. Ein Interviewpartner, Experte für den mexikanischen Agrarsektor, bewertete APEAM als entscheidenden Faktor für die starke Position der mexikanischen Avocados auf dem US-amerikanischen Markt. Für alle Produzent*innen und Exporteur*innen in Mexiko bildet er ein unumgängliches Nadelöhr, um Avocados exportieren zu können. Kleinproduzent*innen, die sich die Mitgliedschaft bei APEAM nicht leisten können, verkaufen ihre Avocados häufig an andere, größere Produzent*innen, die sie dann über APEAM exportieren.

Gleichzeitig ist der Verband einer der Akteure, die im Avocadohandel Konflikte auszulösen oder zumindest zu fördern scheinen. Die Mitgliedsbeiträge seien, laut einiger Interviewten, so hoch, dass sich nur große Produzent*innen diese leisten könnten, womit Landwirt*innen kleinen Landbesitzes systematisch vom internationalen Handel mit den USA ausgeschlossen werden. Interviewte Wissenschaftler*innen warfen dem Verband zudem Intransparenz und undemokratische Entscheidungen vor. Einen Streik mehrerer Produzent*innen gegen zu niedrige Grundpreise beispielsweise beendete APEAM im Jahr 2018 mit dem schlichten Verweis auf den Arbeitsplan, an den alle beteiligten Parteien gebunden seien, ohne danach den Preis zu verändern. Hinzu kommt der geäußerte Verdacht, dass der Verband enge Beziehungen zu den Gruppen organisierter Kriminalität hat, die in Michoacán den Drogenhandel kontrollieren. Der Hauptsitz APEAMs in Uruapan, der Hochburg der Drogenkartelle, bestärkt diesen Eindruck laut einer Wissenschaftlerin.4

Drogengeld im Superfood

Schon vor dem internationalen Erfolg der Avocado war Michoacán ein strategischer Standort für die Produktion von Drogen und für den Schmuggel primär in die USA. Das Geschäft wird von konkurrierenden Gruppen der organisierten Kriminalität kontrolliert und führt kontinuierlich zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen und mit der Zivilbevölkerung. Im Jahr 2011 erreichte nicht nur das Geschäft mit den Avocados einen Höhepunkt, sondern auch die Mordrate durch Beteiligte am Drogenhandel in Mexiko und Michoacán. Der damalige Präsident Calderón hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2006 dem Drogenhandel den Krieg erklärt, was die Sicherheitslage jedoch weiter destabilisierte. Laut eines Wissenschaftlers aus der Region wurde Michoacán so zu einer »Kriegszone«.

Die Befragten wiesen mehrheitlich auf die Verwobenheit der organisierten Kriminalität mit dem Avocadosektor hin. Drogenhändler*innen profitieren demnach auf mehreren Ebenen von diesem Geschäft. Da die Bäume bis zur ersten fruchttragenden Blüte mindestens drei Jahre wachsen müssen, sind einige Jahre lang Investitionen nötig, bevor mit den Avocados Gewinne erzielt werden können. Neue Plantagen eignen sich daher zur Geldwäsche. Drogenkartelle nutzen und profitieren zudem von der für den Avocadohandel ausgebauten Infrastruktur, die sie für den Transport von Drogen nutzen (mitunter in der Avocadofracht versteckt).

Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit Drogenkartelle den Ausbau der Infra­struktur genau für diese Zwecke förderten. Zudem erwies sich das Geschäft mit den Avocados bislang als so lukrativ, dass sich einige Gruppen sogar vom Drogenhandel abwandten, um sich auf Schutzgeld­erpressung bei Avocadoproduzent*innen und den eigenen Anbau zu konzentrieren. Die Zeitung »El Universal« berichtet, dass zwischen 2009 und 2013 umgerechnet etwa 454 Millionen Euro von Drogenkartellen aus dem Avocadohandel „gestohlen“ wurden (Carrión 2014).

Einige Gemeinden reagierten ab 2013 auf die zunehmende Gewalt (z.B. Schutzgelderpressungen, Besetzung von Avocadofeldern, Angriffe gegen die Zivilbevölkerung, erzwungener Transport von Drogen in Avocadotransporten) mit dem Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen, sogenannten »autodefensas«, um sich und ihr Avocadogeschäft unabhängig von staatlichen Sicherheitskräften vor den Drogenkartellen zu schützen, wie ein Avocadoproduzent berichtete. Allerdings sind die Motive der autodefensa-Gruppen nicht immer klar skizzierbar, da einige selbst Strukturen organisierter Kriminalität aufbauen (Asfura-Heim und Espach 2013, S. 144).

Trotz dieser Sicherheitslage bedient Michoacán zuverlässig die Weltmarktnachfrage nach Avocados. Mehrere Befragte betonten, dass die Präsenz organisierter Kriminalität zwar für die Bevölkerung Unsicherheit schaffe, aber die wirtschaftliche Lage insgesamt stabil halte, da auch die Kartelle ein Interesse am Erfolg der Avocadoproduktion haben. Durch die Machtstrukturen der Drogenkartelle wird die staatliche Präsenz geschwächt, was einen noch ungehemmteren Wirtschaftsraum schafft, in dem Beschränkungen im Avocadosektor, beispielsweise Abholzungsverbote oder andere ökologische Auflagen, verhindert oder umgangen werden können.

Ambivalenter Wohlstand

Die Avocado hat Michoácan grundlegend verändert. Im Januar 2020 wurde international über den Mord am Umwelt­aktivisten Homero Gómez González (Gurk 2020) berichtet, der sich für den Schutz des berühmten Monarchfalters in Michoacán einsetzte, der zusehends durch die Entwaldung zugunsten des Avocadoanbaus bedroht wird. Trotz dieser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist der ökonomische Wohlstand im Bundesstaat massiv gestiegen. Besonders in Infrastruktur, Bildung und Grundversorgung wurde investiert. Obwohl die neoliberalen Reformen seit den 1990er Jahren explizit ausländische Investitionen fördern, betonten die Befragten, dass das Kapital in der Avocadoproduktion zum größten Teil auf mexikanische Investor*innen und die Diaspora in den USA zurückgehe.

Die Aussagen der Interviewten deuten darauf hin, dass die gesamte Bevölkerung in Michoacán danach zu streben scheint, ein Stück vom »Superfood-Kuchen« abzubekommen. Doch das bleibt besonders Kleinbäuer*innen und weniger privilegierten Teilen der Bevölkerung einerseits durch den zunehmenden finanziellen Druck, Gemeindeland zu verkaufen oder zu verpachten, andererseits durch die Position APEAMs als Export-Nadelöhr sowie durch den hohen Investitionsaufwand verwehrt.

Es ist ebenfalls fraglich, ob der Wohlstand durch den Avocadohandel nachhaltig ist. Die Nachfrage nach der Avocado ist konstant, jedoch hat die Erfahrung mit anderen globalen Exportfrüchten gezeigt, dass politische Regulierungen in den Importländern einem Sektor langfristig schaden können.5 Zudem werden die ökologischen Grenzen der Avocado-Monokultur zusehends deutlich. Es scheint, als sei der Ausweitung der Avocadomonokulturen vor allem eine natürliche Grenze gesetzt. Interviewte berichteten von ihren Beobachtungen, dass die zunehmende Entwaldung für den Anbau sowie der Klimawandel die Mikroklimata verändern, die für das Wachsen der Avocadobäume entscheidend sind. Damit ist gleichzeitig die Monopolstellung Michoacáns im Avocadohandel gefährdet, was den Interviewten sowohl bewusst war als auch Sorgen bereitete. Weder der mexikanische Staat, die US-amerikanischen Importeure noch die Avocadoproduzent*innen möchten das Wachstum bislang freiwillig einschränken. Auch APEAM tut alles, um das gute Image der Avocado auch für die Zukunft zu bewahren. Denn ein Boykott durch Konsument*innen wäre für den Absatz gefährlich. Der Befragte des Verbands beschrieb deutlich, dass Mexiko zur Zeit die Oberhand auf dem US-amerikanischen Markt habe, aber konkurrierende Anbieter aus anderen Ländern in den Startlöchern stünden, sollte das Angebot aus Mexiko aus politischen, ökologischen oder sozialen Gründen einbrechen.

Es zeigt sich, dass die beschriebenen Konflikte um die Avocado den steigenden Umsätzen nicht schaden, sondern im Gegenteil stabile Strukturen für den Export und ökonomischen Wohlstand für Michoacán zu schaffen scheinen. Während Großproduzent*innen, der Verband APEAM oder auch Drogenkartelle am Handel verdienen und Konsument*innen im Globalen Norden damit immer Zugriff auf frische Avocados haben, schafft das „grüne Gold“ jedoch auch Ungleichheiten und Unterdrückungsstrukturen bis hin zu direkter Gewalt in Michoacán.

Anmerkungen

1) Trotz der steigenden medialen Aufmerksamkeit um die Avocado gibt es zur Thematik bisher nur wenige wissenschaftliche Publikationen im sozialwissenschaftlichen Kontext.

2) Die ganze Forschungsarbeit ist als Working Paper im Fachgebiet Demokratieforschung am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg erschienen (Burke et al. 2021).

3) Zur persönlichen Sicherheit der Befragten wurden alle Interviewten stark anonymisiert.

4) Spezifische Aussagen über die Verwebungen von Drogenkartellen mit dem Avocadohandel wurden von den Interviewten zu ihrer persönlichen Sicherheit trotz starker Anonymisierung vermieden und nur angedeutet.

5) Nachdem die Nutzung von Palmöl in europäischem Biodiesel von der EU verboten wurde, drohte der Sektor in den Hauptanbauländern Indonesien und Malaysia wegzubrechen (Hein 2019).

Literatur

Asfura-Heim, P.; Espach, R. (2013): The Rise of Mexico’s Self-Defense Forces. Vigilante Justice South of the Border, Foreign Affairs, Jg. 92, No. 4, S. 143-150.

Bernal, R. (2020): Mexican avocado imports booming during pandemic. The Hill, 02.12.2020.

Burke, J. M. et al. (2021): Der Avocado-Boom in Mexiko: Eine explorative Forschung, Working Paper 19, Forum. Demokratieforschung – Beiträge aus Studium und Lehre, Philipps-Universität Marburg.

Carrión, L. (2014): Templarios controlaron aguacate. El Universal, 08.08.2014.

Gurk, Ch. (2020): Der Beschützer der Schmetterlinge ist tot. Süddeutsche Zeitung, 21.01.2020.

Hein, Ch. (2019): Südostasien schlägt zurück im Palmölstreit mit der EU. FAZ, 11.04.2019.

USDA (2019): Avocado Annual. Foreign Agricultural Service, U.S. Department of Agriculture.

Jana Mara Burke hat einen Bachelor der Vergleichenden Kultur- und Religionswissenschaft und studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung.
Dana Milena Enss hat einen Bachelor in Politikwissenschaft und einen Master in International Development Studies.
Friederike Hildebrandt hat einen Master in International Development Studies und einen Bachelor der Volkswirtschaftslehre.