Kampf und Frieden im Islam

Kampf und Frieden im Islam

von Elhakam Sukhni

In der öffentlichen Diskussion über den Islam wird häufig unterstellt, gläubige Muslime seien generell aufgefordert, einen als »Heiligen Krieg« interpretierten Dschihad zu führen. Das ist eine fatale Fehlinterpretation des Dschihad-Konzepts, die sich auch darauf auswirkt, wie das Verhältnis dieser Religion zu Gewalt bzw. Krieg und Frieden wahrgenommen wird. Der Autor zeigt auf, dass sich im Koran und in den Aussprüchen des Propheten Muhammad zahlreiche Bezüge zu einem Friedensgebot finden, und belegt dies mit Zitaten aus islamischen Textquellen.

Dschihad« zählt zu den wohl am wenigsten verstandenen Konzepten der islamischen Religion. Die Fehldarstellung beginnt bereits bei der häufig verwendeten Übersetzung von Dschihad als »Heiliger Krieg«. Dabei wird ein Ausdruck aus der christlichen Tradition, der insbesondere die Kreuzzüge bezeichnete und bereits im Alten Testament (Joel 4:9) Erwähnung findet, auf den Islam übertragen. Hingegen findet sich in keinem der klassischen Texte und Hauptquellen der islamischen Tradition ein Ausdruck wie »Heiliger Krieg« (etwa »harb muqaddas«). Dschihad steht nicht primär für den bewaffneten Kampf, und Krieg wird keineswegs Heiligkeit zugesprochen, sondern höchstens eine zu vermeidende Notwendigkeit.

»Dschihad« bedeutet wörtlich »Anstrengung« oder »Eifer« um das Wohlgefallen Gottes und kommt in der islamischen Theologie als kleiner und als großer Dschihad vor. Diese Aufteilung geht auf eine Überlieferung zurück, wonach der Prophet Muhammad nach einer militärischen Auseinandersetzung seinen Gefährten erklärte, dass sie nun vom kleinen Dschihad in den großen Dschihad zurückkehren würden. Der kleine Dschihad war also die zurückliegende Schlacht, während die alltägliche Anstrengung im Kampf gegen die eigenen Triebe und Schwächen sowie zur Bewältigung der allgemeinen Lebensumstände, wie Arbeit, Familienleben und Einhaltung der religiösen Pflichten, als großer Dschihad bezeichnet wird. Dem Argument, bei dieser Überlieferung handele es sich um einen nicht authentischen Hadith (Ausspruch des Propheten), entgegnen muslimische Theologen, das Konzept von kleinem und großem, also wichtigerem Dschihad werde im Koran selbst formuliert.

In Sure 25 Vers 52 heißt es: „So gehorche nicht den Leugnern der Offenbarung [kuffar], sondern eifere mit ihm [dem Koran] in großem Eifer [dschihadan kabiran] gegen sie.“ Hier wird also nicht zum bewaffneten Kampf aufgerufen, sondern zum großem Dschihad, der mit dem Wort geführt wird. Bestätigt wird dieser Vers durch einen weiteren Ausspruch des Propheten: „Die höchste Anstrengung [Dschihad] ist das gerechte Wort gegenüber einem ungerechten Herrscher.“ (Vgl. an-Nawawi 1999) Und einer weiteren Aussage nach heißt es: „Der beste Dschihad ist der Dschihad gegen dein Ego und deine Begierden um des Willen Gottes wegen.“ (Vgl. as-Sanani 2011)

Regeln für den kleinen Dschihad

Der kleine Dschihad, also der bewaffnete Kampf, wiederum unterliegt strikten Regeln. Die drei wichtigsten Vorgaben lauten (vgl. Dagli 2013, S. 57):

  1. Das Töten von Zivilisten (also Nichtkombattanten), insbesondere Greisen, Frauen und Kindern, ist verboten.
  2. Die Religion anderer Menschen kann niemals Grund für einen Krieg gegen sie sein.
  3. Gewalt ist nur im Fall der Selbstverteidigung oder zum Schutz unschuldiger Dritter erlaubt.

Vor jedem Kriegseinsatz wies der Prophet Muhammad seine Kämpfer an, nicht zu plündern, den Feind nicht zu verstümmeln sowie Frauen und Kinder zu verschonen. Als er nach einer Schlacht eine getötete Frau liegen sah, sagte Muhammad: „Sie war keine Kämpferin!“, und wies seine Leute erneut an, keine Kinder, Frauen und andere Unbeteiligte zu töten. Der Prophetengefährte und erste Kalif Abu Bakr verbot darüber hinaus laut einer bekannten Überlieferung das unnötige Zerstören von Bäumen und das Töten von Tieren im Krieg (Dakake 2013, S. 108-109).

Die meisten muslimischen Gelehrten sind der Ansicht, Krieg dürfe nur zu Verteidigungszwecken geführt werden und Angriffskriege fänden keine Rechtfertigung, besonders in Zeiten internationaler Völkerrechtsabkommen. Ausschlaggebend hierfür ist die Koranstelle 22:39-40, welche besagt: „Die Erlaubnis [sich zu verteidigen] ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah — und Allah hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen. / Jenen, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagten: »Unser Herr ist Allah [Gott].« Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiss Klausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird, niedergerissen worden. Und Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht.“

Wenn Frieden eingekehrt ist, die Muslime befreit sind und der Islam wieder praktiziert werden kann, muss gemäß Koranvers 2:193 auch der Kampf beendet werden: „Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion wieder Allahs ist. Wenn sie jedoch aufhören, dann darf es kein feindseliges Vorgehen geben außer gegen die Ungerechten.“

Wenn von anderen Menschen keine Aggression und kein Unrecht ausgeht, sollte gemäß der koranischen Ausführung in Sure 60:8-9 auch von Muslimen keine Aggression ausgehen: „Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. / Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und [anderen] geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter.“

Terrororganisationen wie al-Qaida behaupten, die Muslime stünden im ständigen Verteidigungskrieg gegen die imperialistischen westlichen »Kreuzzügler« und begründen ihre weltweiten Anschläge mit der Koranstelle „Und tötet sie, wo immer Ihr sie findet!“. Wie so oft wird hier ein Vers aus dem Zusammenhang gerissen, um extremistische Positionen durchzusetzen. Die entscheidende Textstelle im Koran lautet nämlich so: „Und kämpft auf dem Weg Allahs gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Allah liebt nicht diejenigen, die übertreten. / Und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn Chaos ist schlimmer als Totschlag.“ (2:190-1)

Deutlich wird hier, dass der Kampf als Reaktion auf einen Angriff oder auf Vertreibung legitimiert wird, jedoch mit der Einschränkung, nicht zu „übertreten“. Der angesehene klassische Koranexeget at-Tabari (gest. 923) interpretiert diese Koranverse außerdem in ihrem historischen Kontext und bezieht die Stelle „vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben“ auf die Muslime zu Muhammads Zeiten, welche von den verfeindeten Mekkanern in die Flucht nach Medina genötigt wurden. Darüber hinaus definiert at-Tabari das „nicht Übertreten“ entsprechend der bereits erwähnten Prinzipien im Dschihad, zu denen insbesondere das Verbot des Tötens Unschuldiger zählt (vgl. Dakake 2013, S. 107-108). Weder al-Qaida noch der von ihr abgespaltene »Islamische Staat« halten sich an das islamische Kriegsrecht, sondern nehmen bewusst den Tod von Zivilisten und Unbeteiligten in Kauf.

Frieden als Grundprinzip der islamischen Theologie

Die Grundlage aller Ethikreligionen ist der Erhalt des Friedens, für dessen Schutz im Notfall Gewalt angewendet werden kann. Auch der Islam ist nicht per se eine pazifistische Religion, erlaubt aber die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel. So geht das Konzept von Frieden (salaam) entsprechend der islamischen Quellen immer mit dem Konzept von Sicherheit (silm) einher – zwei Begriffe, die vom gleichen Wortstamm (s-l-m) abgeleitet werden wie der Begriff Islam.

Mithilfe der Religion des Islam (wörtlich Hingebung) soll also Salaam (Frieden) zwischen den Menschen bestmöglichen Silm (Sicherheit) garantieren. So beinhaltet auch der islamische Friedensgruß »as-salaamu alaikum« (der Frieden sei mit euch) den Wunsch, eine andere Person möge in Frieden und Sicherheit leben (Crow 2013, S. 256). »Der Frieden« (al-Salam) ist außerdem einer der 99 Namen und damit eine der Eigenschaften Gottes und wird als Synonym für »Allah« zu einem göttlichen Prinzip erhoben. Frieden ist immer zu bevorzugen, und so fordert Allah im Koran dazu auf, vom Krieg abzulassen, wenn der Gegner Frieden anbietet: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“ (8:61)

Der Koran schreibt den Muslimen überdies einen friedlichen Umgang mit Andersgläubigen vor, insbesondere mit den »Völkern der Schrift« (Ahl al-kitab), namentlich Juden und Christen, mit welchen Muslime auch Ehen schließen und das von ihnen geschächtete Fleisch verzehren können (Koran 5:5). Grundsätzlich gilt für den Umgang mit allen Menschen das Prinzip, mit ihnen „gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren“, wie es Vers 60:8 vorschreibt.

Das islamische Friedenspotential ergibt sich nicht zuletzt aus der religiösen Pflicht zur Vertragseinhaltung. Auf diesem Wege regelt die islamische Rechtswissenschaft Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen, und die entsprechende Begrifflichkeit lässt sich durchaus dem modernen Völkerrecht zuordnen (Rohe 2011, S. 147). Grundlage für das islamische Völkerrecht sind insbesondere Friedensabkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie Bündnisse, wie sie bereits der Prophet Muhammad vorlebte.

Exemplarisch steht dafür der Friedensvertrag von Hudaybiyya aus dem Jahre 628. Muhammad beschloss, mit den Muslimen von Medina in die bis dato verfeindete Stadt Mekka zu reisen, um an der Kaaba das Pilgerritual zu verrichten. Die Mekkaner verweigerten den Muslimen jedoch den Zugang zur Stadt. Die beiden Seiten lösten das Problem mit einem Friedensvertrag, in dem ein zehnjähriger Waffenstillstand vereinbart wurde. Der Vertrag sah vor, dass die Muslime ihre Pilgerfahrt auf das nächste Jahr verschieben. Sollten während dieser Zeit oder darüber hinaus Mekkaner zu den Muslimen überlaufen, verpflichtete sich Muhammad, diese flüchtigen Personen wieder auszuliefern. Im umgekehrten Fall jedoch, sollte ein Muslim nach Mekka fliehen, müsse dieser nicht wieder zurück geschickt werden. Diesen von Muhammad unterzeichneten Vertrag werteten seine eigenen Anhänger als Niederlage, und er sorgte bei vielen Muslimen für Unverständnis, sollten doch neue Anhänger des Islam dem Feind ausgeliefert werden. Der Prophet setzte jedoch auf Diplomatie.

Diese flexible und offene Verhandlungsbereitschaft Muhammads dient vielen Muslimen als Vorbild und liefert bis heute in zahlreichen alltäglichen Fragen die Grundlage zur Erhaltung oder Schaffung von Frieden.

Literatur

Crow, C.D. (2013): The Concept of Peace/Secur­ity (Salm) in Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 250-268.

Dagli, C. (2013) : Jihad and the Islamic Law of War. In: bin Muhammad 2013, S. 56-98.

Dakake, D. (2013): The Myth of A Militant Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 99-131.

bin Muhammad, G. (ed.) (2013): War and Peace in Islam – The Use and Abuse of Jihad. Cambridge: The Islamic Texts Society.

an-Nawawi, I. (1999): Riyad us-salihin – Gärten der Tugendhaften. München: Dar-u-Salam, Band I, S. 99.

Rohe, M. (2011): Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

as-Sanani, M. 2011): At-tanwir scharh al-jami as-saghir. Band II, S. 549, Riad.

Elhakam Sukhni ist Islamwissenschaftler und Völkerrechtler und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit den ideologischen Grundlagen dschihadistischer Gruppierungen. Er lehrte u.a. an den Universitäten Osnabrück, Köln und Krems. Zurzeit arbeitet er für die Stadt Wuppertal in der Extremismus-Prävention und Deradikalisierung.

Politischer Islam – ein schwieriger Begriff

Politischer Islam – ein schwieriger Begriff

von Bentje Woitschach

Der »Islamische Staat«, Ajatollah Khomeini, die ägyptische Muslimbruderschaft, der säkulare iranische Reformer Abdulkarim Soroush – all diese unterschiedlichen Personen und Gruppierungen fallen unter den Begriff »politischer Islam«. Er subsumiert sowohl liberale Denker ohne jegliche autoritäre Tendenzen als auch Bewegungen, die auf brutalste Weise ihre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft durchsetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass der politische Islam oft synonym mit anderen diffusen Begriffen, wie »Islamismus« oder »Fundamentalismus«, verwendet wird. Gemeinsam ist den zwei Letzteren, dass die Rückbesinnung auf religiöse Wurzeln im Zentrum steht. Solche Tendenzen gab und gibt es in jeder Religion.

Der Salafismus ist wohl die bekannteste Strömung im Islam, die eine solche Rückbesinnung anstrebt. Salafisten vertreten die Ansicht, dass der Islam im Laufe der Geschichte durch kulturelle Neuerungen und Neuinterpretationen negativ beeinflusst wurde. Sie fordern eine Rückbesinnung auf die Werte und Lebensweisen zu Zeiten des Propheten Muhammed und der auf ihn folgenden vier Kalifen. Viele Anhänger des Salafismus verfolgen ihre Ziele »unpolitisch«, Abd al-Hakeem Carney nennt sie eine „ruhige Religionsgemeinschaft“, die peinlich genau auf die Einhaltung religiöser Praktiken achtet, aber den Staat selbst nicht verändern will. Politisch werden diese Strömungen dann, wenn sie Gesellschaften und Gesetze nach religiösen Grundsätzen gestalten wollen. Ob dies – wie in Tunesien – lediglich bedeutet, dass der Islam zur Staatsreligion erklärt wird, ob islamische Werte Eingang finden in demokratische Verfassungen oder ob Gesetze, politische Herrschaft oder im Extremfall sogar Gewalt durch den Islam legitimiert werden, ist bei den verschiedenen Gruppierungen, die unter den Begriff »politischer Islam« fallen, völlig unterschiedlich.

Es liegt nahe, den Begriff »politischer Islam« aufgrund der angesprochenen analytischen Ungenauigkeit zu verwerfen. Auch in der W&F-Redaktion gab es intensive Diskussionen darüber, ob man an dem Begriff festhalten solle, ihn überhaupt als Hefttitel verwenden dürfe. Selbst wenn man ihn differenziert betrachtet, so läuft man Gefahr, allein durch seine Verwendung vorhandene Stereotype zu bestätigen. Wir sind uns als Redaktion dieser Gradwanderung bewusst. Dennoch erschien uns kein anderer Begriff geeignet, das Thema des Heftes angemessen zu fassen. Nicht zuletzt die Artikel zeigen, dass eine einheitliche Sichtweise des Begriffes politischer Islam schwierig ist.

Unsere Absicht war es, in diesem Heft Herkunft und unterschiedliche Erscheinungsformen des politischen Islam zu beleuchten und damit der begrifflichen Weite zumindest annähernd gerecht zu werden. So beschreibt Adrian Paukstat in seinem Artikel die Denkrichtung der Salafiyya als ideengeschichtliche Grundlage des politischen Islam, entstanden sowohl als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus als auch aus einem Modernisierungsbestreben im theologischen wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich. Ob und inwieweit sich der politische Islam als Staatsideologie niederschlägt, wird anhand zweier Fallstudien zu Iran und Indonesien angesprochen. Stephan Rosiny erläutert die Rolle moderater Islamisten im Arabischen Frühling und kommt zu dem Schluss, dass die anfänglichen Wahlerfolge auf die Attraktivität ihrer islamisch geprägten Identitätsangebote und klaren Gesellschaftsvisionen zurückzuführen seien. Einen weiteren wichtigen Akteur im Spektrum des politischen Islam beleuchten Dietrich Jung und Klaus Schlichte. Sie analysieren in ihrem Beitrag die Organisationsstruktur des Islamischen Staates und erläutern seine hierarchisierte Organisation, die sich weniger im globalen als vielmehr im lokalen Kontext zeige. Warum der politische Islam eine Anziehungskraft auf Jugendliche ausübt, diskutiert Götz Nordbruch in seinem Beitrag. Als mögliche Gründe führt der Autor insbesondere die Instrumentalisierung von Diskriminierungserfahrungen und die Bereitstellung klarer Gesellschaftsvisionen an. Elhakam Sukhni rückt in seinem Beitrag den Islam als Religion ins Zentrum und erläutert unter Verweis auf Originaltexte das Verhältnis des Islam zu Krieg und Frieden. Dabei beleuchtet er auch den Begriff des »Dschihad«, der häufig als »Heiliger Krieg« übersetzt wird, aber wörtlich »Anstrengung« bzw. »Eifer« bedeutet. Gemeint ist damit das Bemühen des Einzelnen gegen Versuchungen des Alltags, gegen die eigenen Triebe und Laster, um schließlich das Wohlgefallen Gottes zu erlangen.

Dieses Heft ist ein Versuch, sich mit Ereignissen, Akteuren und Themenbereichen auseinanderzusetzen, die unter dem Begriff »politischer Islam« zusammengefasst werden. Dabei sollte die angesprochene sprachliche und inhaltliche Differenzierung stets präsent sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Wissenschaft in naher Zukunft Instrumente und Begrifflichkeiten bereitstellt, die eine verantwortungsvolle Analyse ermöglichen und zugleich gefährlichen Vereinnahmungen entgegentreten.

Ihre
Bentje Woitschach

Politischer Islam


Politischer Islam

Eine Geschichte der Radikalisierung

von Adrian Paukstat

In den letzten Jahren ist das Interesse der Öffentlichkeit am Thema Islam gestiegen, und die Medien greifen das Thema intensiver auf. Allerdings wird in dieser Auseinandersetzung häufig nicht oder nicht ausreichend zwischen den theologischen und den politischen Aspekten des Islam unterschieden. Islam wird kurzerhand in einen Topf gepackt mit Islamismus oder sogar mit Terrorismus, Muslime werden pauschal als (gewaltbereite) Islamisten abgewertet. Adrian Paukstat beschreibt in seinem Artikel die Denkrichtung der Salafiyya als ideengeschichtliche Grundlage des politischen Islam, entstanden sowohl als Reaktion auf den westlichen Kolonialismus als auch aus einem Modernisierungsbestreben im theologischen wie im politisch-gesellschaftlichen Bereich.

Die Wurzeln des sunnitischen politischen Islam sind untrennbar mit dem ideologischen Rückbezug des eigenen Handelns auf die »frommen Altvorderen« (al-Salaf al-Salih) verbunden, dem auch der Begriff »Salafismus« seinen Namen schuldet. Bereits im 13. Jahrhundert formulierte der Anhänger der besonders konservativen hanbalitischen Rechtsschule, Ibn Taimiyya, die Konzeption einer notwendigen Rückbesinnung auf die von allen schädlichen menschlichen (Um-) Interpretationen bereinigte Tradition der ersten vier rechtgeleiteten Kalifen, deren Herrschaft mit dem sunnitisch-schiitischen Schisma und dem Aufstieg der Umayyaden-Dynastie endete.

Mit der im frühen 19. Jahrhundert beginnenden territorialen Expansion des saudischen Herrscherhauses erlangten die islamischen Rechtsauslegungen dieser Traditionslinie in einem signifikanten Teil der damaligen islamischen Welt politische und religiöse Wirkmächtigkeit. Die Verbindung von rigidem Islamverständnis und politischer Herrschaft resultierte aus dem im 18. Jahrhundert geschmiedeten Bündnis zwischen Muhammad ibn Saud und Muhammad Abd al-Wahhab. Von dem Nachnamen des Letzteren leitet sich die Bezeichnung »Wahhabismus« für die saudische Staatsdoktrin ab.

Von der Wahhabiyya und Salafiyya zum (Neo-) Salafismus

Kennzeichnend für Abd al-Wahhabs Lehre sind mehrere Elemente, die auch heute noch (in mal mehr, mal weniger radikaler Form) zu den ideologischen Grundpfeilern des sunnitischen politischen Islam zählen. Da ist zum einen die äußerst strenge Auslegung des »Tauhid«, der Lehre von der Einheit Gottes, gemäß der bereits die Verehrung von Heiligen, Gräbern oder bestimmten Gelehrten als Abkehr vom strengen Monotheismus und damit als »Schirk« (in etwa »Beigesellung«) gilt.

Zentral ist außerdem der Begriff des »Bida« (Neuerung). Das Wort Gottes gilt im Wahhabiyya-Islam als vollkommen. Die tradierten islamrechtlichen Lehrschulen und deren Nachahmung bzw. Befolgung (Taqlid) gelten als unstatthafte Veränderungen der reinen Lehre. Dem wird im Wahhabismus der »Idschtihad«, die eigenen Lektüre von Koran und Sunna (den in den Hadith gesammelten Aussprüchen und Handlungen Muhammeds), gegenüber gestellt. Der fromme Muslim soll sich an der originären Offenbarung ausrichten; der Weg dorthin führt über die eigenen Exegese und somit über die Verwendung des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen (in diesem Falle der tradierten Rechtsschulen) (Commins 2009).

Bei den so genannten Reformern oder Modernisten, wie Dschamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Raschid Rida, entfalteten sich rationalistische Elemente dieser Theorie. Das Denken dieser als Salafiyya bezeichneten Tradition entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem westlichen Kolonialismus und der Frage nach der Ursache für die Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber dem Westen. Das Denken der Reformer war einerseits geprägt von antikolonialistischen und panislamischen Topoi, die bis heute sinnstiftend sind für den politischen Islam, vor allem für dessen radikal-dschihadistische Ausprägungen. Andererseits resultierte es aus dem expliziten Drang nach Modernisierung und Erneuerung der arabischen Welt, sowohl im theologischen wie im sozio-ökonomischen Sinne. Dieser Modernisierungsanspruch ist stets mit dem Bezug auf die »frommen Altvorderen« verknüpft: Die Errungenschaften der Modernisierung werden rückprojiziert auf gesellschaftliche Verhältnisse, die in der Vergangenheit geherrscht hätten und deren Verfall mit dem Abfall vom ursprünglichen Islam zu erklären sei (Seidensticker 2015).

Der Übergang von den islamischen Modernisten zum heutigen (Neo-) Salafismus ist durch eine radikale Auflösung dieser Ambivalenz von Modernisierungsgedanken und religiöser Tradition gekennzeichnet. Verstanden al-Afghani, Abduh und Rida die Ablehnung des »Taqlid« noch als implizit rationalistisches Projekt, nämlich als Zurückweisung tradierter Lehrauffassungen zugunsten der eigenen Lektüre der Quellen, wandelt sich diese Position nun zur Ablehnung von Interpretation schlechthin. Nicht mehr nur die tradierten Rechtsauffassungen sollen zurückgewiesen werden, sondern jede »menschengemachte« Deutung.

Im öffentlichen Diskurs des Westens wird unter »Salafismus« inzwischen meist eine gewaltbereite, explizit auf politische Herrschaft ausgerichtete und (neo-) fundamentalistische1 Strömung des sunnitischen Islam subsumiert. Diese Begriffsverwendung ist problematisch. Zum einen ist der Bezug auf die »frommen Altvorderen« unterschiedlichen, zum Teil äußerst heterogenen Strömungen des sunnitischen Islam gemein; zum anderen befürworten keineswegs alle Strömungen, die tatsächlich als neofundamentalistisch eingestuft werden können, den Einsatz von Gewalt. Die als »Salafiyya« bzw. »Salafi« bezeichneten Bewegungen reichen somit von solchen, die in der Tradition des islamischen Modernismus stehen, bis zu solchen, die der wahhabitischen Lehre folgen.

Der gegenwärtige Salafismus steht zwar hinsichtlich seiner antiimperialistischen und panislamischen Grundausrichtung weiterhin in der Tradition der Salafiyya, negiert jedoch deren rationalistische Elemente bzw. deutet diese um. Überdies spitzen die neosalafistischen Bewegungen die Doktrin der Wahhabiyya extrem zu und sind daher nicht mit Letzterer gleichzusetzen. Etlichen dschihadistischen Strömungen, wie al-Qaida oder dem IS, gilt selbst das saudische Herrscherhaus als Feind.2 Die Radikalisierung betrifft zwei Aspekte der wahhabitischen Doktrin. Erstens gilt die Zurückweisung des Taqlid explizit auch für die vier großen islamischen Rechtsschulen, d.h. es wird der Bruch mit der hanbalitischen Rechtsschule vollzogen, deren Entscheidungspraxis der Wahhabismus anerkennt. Zweitens verfügt der Salafismus anders als der Wahhabismus nicht über eine Legitimations- und Staatsideologie, es fehlt ihm somit ein staatstragendes Element (Seidensticker 2015).

Der Islam als politische Theorie

Zwar gab es bereits im 19. Jahrhundert Denker, die islamische Theologie, Politik und Staatlichkeit im modernen Sinne zusammendachten, doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstand mit der ägyptischen Muslimbruderschaft eine erste genuin politische Bewegung mit islamischem Charakter. Als ideologischer Vordenker der Muslimbruderschaft gilt Sayyid Qutb; vor allem sein Werk »Zeichen auf dem Weg« hatte enormen Einfluss auf die Entwicklung des politischen Islam, weit über den unmittelbaren Wirkungskreis der Organisation hinaus.

Im Zentrum der Theorie Qutbs steht »Dschahiliyya«, die sich ursprünglich auf die vorislamische Zeit der »Unwissenheit« bezog. Qutb verwendet den Begriff unter Bezug auf Ibn Taimiyya jedoch in einem aktualisierten Sinne: »Dschahiliyya« ist demnach nicht eine abgeschlossene historische Epoche, sondern herrscht überall dort, wo eine Gesellschaft von den Geboten Gottes abweicht, insbesondere dann, wenn sie gegen »Hakimiyya«, das Prinzip der (Allein-) Herrschaft Gottes, verstößt.

Hier zeigt sich ein zentrales ideologisches Topos des politischen Islam, das in nahezu all dessen Spielarten und Bewegungen rezipiert wurde: die radikale Ablehnung all jener politischer Herrschaftsformen, die als Souveränität des Menschen über den Menschen verstanden werden. So zielt die Kritik des politischen Islam an westlicher Demokratie nicht so sehr auf das demokratische Prinzip an sich ab, sondern vielmehr auf das Prinzip der Volkssouveränität. Als größtes Sakrileg gilt nicht die Herrschaft mittels Demokratie, sondern die Herrschaft des Menschen anstelle der Herrschaft Gottes (Damir-Geilsdorf 2003).

Auch »Dschihad« und »Takfir« gehören zu jenen Begriffen, die maßgeblich durch Qutb popularisiert wurden. In der islamischen Theologie gibt es mehrere Auslegungen des Dschihad-Begriffes, deren Unterschiede sich in der Regel an drei Kernfragen orientieren. Erstens: Ist mit »Dschihad» (in etwa »Anstrengung«) eher individuelle Selbstdisziplin und Selbstüberwindung, also der Kampf gegen sich selbst, oder Kampf in einem militärischen Sinne gemeint? Zweitens: Ist der militärische Dschihad rein defensiv oder auch im Sinne einer offensiven Expansion zu verstehen? Drittens: Besteht eine individuelle Pflicht zum Dschihad? (Heine 2003) Der so genannte »Islamische Staat« steht in diesem Sinne für eine rein militärische, expansive und stark auf die individuelle Pflicht fokussierte Auslegung des »Dschihad«.

»Takfir« steht für die Exkommunikation von Muslimen durch andere Muslime. Auch bei diesem Begriff besteht eine lange Tradition mal engerer, mal weiterer historischer Auslegungen dessen, was für einen Muslim einen Abfall vom Glauben und damit das todeswürdige Verbrechen der Apostasie konstituiert. Während sich z.B. die vier großen islamischen Rechtsschulen wechselseitig ebenso anerkennen wie die meisten Strömungen des sunnitischen bzw. schiitischen Islam, gelten für die (neo-) salafistischen Strömungen Schiiten als Apostaten. Der IS dehnt das Takfir gar auf alle aus, die nicht seiner spezifischen Lesart des sunnitischen Islam folgen (wozu die Anerkennung Abu Bakr Al-Baghdadis als Kalif gehört).

Einer der Begründer des ägyptischen »Islamischen Dschihad«, einer radikalen Splittergruppe der Muslimbruderschaft, war Aiman az-Zawahiri, der später als Chefideologe von al-Qaida das Gedankengut Qutbs popularisieren sollte. Auch die »Hamas« entstand ursprünglich aus einem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft, nahm aber erst zu Beginn der ersten Intifada den bewaffneten Kampf auf. Die »Hamas« (Al-Harakat al-muqawama al-islamiyya – Bewegung des Islamischen Widerstandes) sowie die libanesische Schiiten-Miliz »Hizbullah« (Partei Gottes) setzten als erste Bewegungen des politischen Islam das Selbstmordattentat als Mittel des militärisch-politischen Kampfes ein. Die ersten Anschläge dieser Art wurden zu Beginn der 1980er Jahre mutmaßlich von schiitischen Milizen im Libanon durchgeführt. Im Jahre 1993, gegen Ende der ersten Intifada, fand der erste palästinensische Selbstmordanschlag statt.

Islamische Revolution und revolutionäres Schiitentum

Eine besondere Stellung nimmt die schiitische Variante des politischen Islam ein, die in der islamischen Republik Iran offizielle Staatsideologie ist. Die Schia (vom arabischen »Schiat Ali« – Partei Alis) bildete sich Mitte des siebten Jahrhunderts heraus. Dabei ging es um die Frage, wem nach Muhammeds Tod die Position des Kalifen zukomme. Die Schiiten ergriffen Partei für Ali, den Schwiegersohn Muhammeds. Die Niederlage der Schiiten in diesem gewaltförmig ausgetragenen Konflikt trug zur Herausbildung eines signifikanten Distinktionsmerkmals der Schia bei: Der Verwandtschaftslinie Alis folgend wurden fortan dessen Nachkommen als Imame verehrt. Die unterschiedlichen Strömungen der Schia unterscheiden sich u.a. darin, wie viele Imame sie als Nachfolger Muhammeds anerkennen (sieben oder zwölf). Die größte Strömung ist die Zwölfer-Schia, der u.a. Ajatollah Khomeini, der Führer der Islamischen Revolution von 1979, und die Vertreter der libanesischen Hisbollah angehören.

In den meisten Phasen ihrer Geschichte waren Schiiten eine bedrohte und verfolgte Minderheit. Dies schlägt sich bis heute in zentralen theologischen Aspekten, beispielsweise dem besonders ausgeprägten Märtyrerkult, nieder. Das Selbstverständnis als Religion der Underdogs ist auch tragendes Element der klerikal-politischen Ideologie Ajatollah Khomeinis. Dieser interpretierte den Islam zu einer Art Befreiungstheologie des »Mostazafin«, der Unterdrückten, um und integrierte so zentrale Elemente antikolonialistischer »third ­worldism«-Ideologien in das Konzept eines sozialrevolutionären und antikolonialen Islam. Nach Khomeinis Rückkehr aus dem Exil gelang es den gut organisierten Kräften des politischen Schiitentums im Iran schnell, die Hegemonie innerhalb der revolutionären Bewegung zu erlangen und kurz darauf die Islamische Republik auszurufen.

Khomeinis Konzept der Herrschaft der Schriftgelehrten (Welayat-e Faghih) konstituiert seither die theokratische Legitimationsideologie der islamischen Republik Iran. Die Zwölfer-Schia vertritt den Glauben an die Erlösung der Welt durch die Rückkehr des Mahdi, des in die Entrückung verschwundenen zwölften Imam. Bis dahin sollen die Ulama, die Schriftgelehrten, welche als besonders gebildete Theologen als Einzige Einsicht in den Plan Gottes haben, die Leitung der Politik übernehmen. Der zentrale theologische Unterschied zu den eher qietistischen Auslegungen des schiitischen Islam, wie ihn der Großteil der schiitischen Ulama verfolgt, liegt gemäß Khomeinis Konzept in dem Gedanken, die Wiederkunft des Mahdi könne durch menschliches bzw. politisch-revolutionäres Handeln eingeleitet bzw. beschleunigt werden.

Des Weiteren gelten im Denken Khomeinis Nationen als vom Imperialismus geschaffene Kunstprodukte. Sie haben keinerlei Daseinsberechtigung und dienen nur dazu, die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, zu spalten (Khomeini 2002, S. 29f.). Dieser ideologische Topos des politischen Islam findet sich gleichermaßen in dessen sunnitischen Strömungen. Auch dafür ist der »Islamische Staat« ein aktuelles Beispiel, denn er stellt sein militärisches Expansionsprojekt explizit unter das Banner der Zerschlagung nationalstaatlicher Grenzen in der islamischen Welt.

Von al-Qaida zum IS

Die Entstehung von al-Qaida (die Basis) datiert auf den Beginn der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979. Auf Initiative des saudi-arabischen Staatsbürgers Osama bin Laden wurde zu jener Zeit im pakistanischen Peschawar ein Büro eingerichtet, in dem sich Freiwillige aus der gesamten arabischen Welt melden konnten, um den Kampf gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Diese »afghanischen Araber« bildeten den organisatorischen Kern dessen, was später al-Qaida bilden sollte. Die ursprünglich vom US-Geheimdienst CIA finanzierten Kämpfer begannen bereits Anfang der 1990er Jahre, sich gegen ihre einstigen Gönner zu wenden. Grund dafür war die Entscheidung des saudischen Herrscherhauses, den USA die Einrichtung von Militärbasen in Saudi-Arabien zu genehmigen. Al-Qaida galt die Präsenz westlicher Soldaten im historischen Kernland des Islam als besonders perfider Frevel.

In den Jahren darauf mehrten sich sowohl Anschläge gegen US-amerikanische Militäreinrichtungen und solche ihrer Verbündeter als auch gegen Zivilisten, beispielsweise beim Attentat von Luxor 1997 mit mehreren Dutzend Toten. Die Führung von al-Qaida konnte dabei stets aus »sicheren Häfen« operieren, zunächst aus dem islamistisch regierten Sudan unter Umar al-Baschir, später aus dem von den Taliban beherrschten Afghanistan. Seit dem Sturz der Taliban durch die von den USA geführte Militärintervention im Jahr 2001 ist al-Qaida zu einer klandestinen und dezentralen Organisationsweise gezwungen. Eine zentrale Streitfrage der zwar noch jungen, aber umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema al-Qaida dreht sich darum, ob al-Qaida und ihre jeweiligen regionalen Ableger (im Maghreb, Jemen, Irak, aber auch die deutsche »Sauerlandzelle«) Teile einer hierarchisch geführten Organisation sind.3

Unter Führung des Jordaniers Abu Musab az-Zarqawi formierte sich nach der US-Invasion im Irak 2003 mit »al-Qaida im Irak« der wahrscheinlich schlagkräftigste regionale Ableger der Organisation. Ihr operationales Ziel bestand vor allem darin, mittels gezielter Anschläge gegen die schiitische Infrastruktur sowie gegen schiitische Zivilisten und US-Soldaten den Widerstand gegen die US-Besatzung voranzutreiben sowie einen Bürgerkrieg im Irak auszulösen (Wichmann 2014, S. 272f.). Kernpunkt dieser Konzeption war eine „Eskalationsstrategie, die auf ein durch Chaos erzeugtes Machtvakuum spekuliert (Wichmann 2014, S.  253). Die Versäumnisse und Inkompetenzen der US-amerikanischen Militärverwaltung des Irak trugen in dieser Situation dazu bei, die Gesellschaft zu spalten. Zentrale Entscheidungen der Militärverwaltung unter General Bremer, wie die radikale und überhastete »Ent-Bathifizierung« des irakischen Beamten- und Militärapparates, die unzureichende Bereitstellung militärischer Kräfte zum Erhalt der öffentlichen Ordnung sowie die von Anfang an betriebene Ethnisierung des politischen Systems (Hiltermann 2006) wurden zu Ausgangspunkten für das Chaos im Nachkriegsirak.

In den folgenden Jahren konnte sich »al-Qaida im Irak« in den sunnitischen Stammesgebieten im Westen des Landes eine solide Operationsbasis verschaffen, die erst durch das als »Anbar Awakening« bezeichnete Aufbrechen des Bündnisses der sunnitischen Stämme mit al-Qaida verloren ging, wodurch die Organisation massiv an Schlagkraft einbüßte. In dieser angespannten Lage bot der beginnende syrische Bürgerkrieg einen viel versprechenden Ausweg. Mit der Verlagerung der Organisation, die sich mittlerweile »Islamischer Staat im Irak und der Levante« nannte, nach Syrien ging ein zentraler Herrschaftskonflikt zwischen dem IS und dessen Ableger al-Nusra-Front (Unterstützungsfront für das syrische Volk) einher, der letztlich zur Abspaltung des IS von al-Qaida führte (Al-Tamimi 2013, S. 19ff.). Seither stehen sich beide Organisationen feindlich gegenüber.

Quo vadis?

Die gegenwärtige Entwicklung des politischen Islam scheint von zwei wesentlichen Ereignissen geprägt: zum einen vom Aufstieg des »Islamischen Staates« und der damit einhergehenden Diskussion über die Attraktivität von dessen Ideologie für Muslime in Europa, zum anderen von der Entstehung demokratisch legitimierter, von islamistischen Parteien geführter Regierungen in Ägypten und Tunesien im Zuge des Arabischen Frühlings. Im Falle Ägyptens wurde die Herrschaft der Muslimbruderschaft allerdings durch den militärischen Putsch General as-Sisis nach kurzer Zeit wieder beendet. Seitdem wird Ägypten von einem sich zunehmend autoritärer gebärdenden Militärregime beherrscht. In Tunesien erlangte in den ersten freien Wahlen die Ennahda-Partei (Harakat an-Nahda, Wiedergeburt) die Macht. Ähnlich wie im Falle der Muslimbrüder in Ägypten trug hier vor allem der organisatorische und infrastrukturelle Vorsprung der Kräfte des politischen Islam maßgeblich zu ihrem Wahlsieg bei.

Die Ennahda in Tunesien und der IS stehen stellvertretend für die Komplexität und Bandbreite des Labels »politischer Islam«. Während unter der Herrschaft der tunesischen Islamisten ein signifikanter Mäßigungsprozess innerhalb der Ennahda-Partei einsetzte, der sich auch in einer überraschend liberalen Verfassung niederschlug, errichtete der IS in Teilen Syriens und des Irak eine ultra-fundamentalistische Schreckensherrschaft, deren Auswirkungen bis in die europäischen Metropolen zu spüren sind.

Es bleibt abzuwarten, ob der politische Islam langfristig den Weg des revolutionären Terrors oder den der parlamentarischen Inklusion einschlagen wird – oder ob die ihm inhärente politische Heterogenität langfristig erhalten bleibt.

Anmerkungen

1) Zum Begriff des Neofundamentalismus vgl. Roy 2006.

2) Vgl. hierzu vor allem Osama bin Ladens Kriegserklärung an das saudische Herrscherhaus; in: Kepel/Milelli 2006.

3) Eine Überblicksdarstellung der Diskussion findet sich bei Hellmich 2001, S. 30-37.

Literatur

al-Tamimi, A.J. (2013): The Islamic State of Iraq and Al-Sham. Middle East Review of Inter­national Affairs 17:3, S. 19-44.

Commins, D. (2009): The Wahhabi Mission and Saudi Arabia. London: I.B. Tauris.

Damir-Geilsdorf, S. (2003): Herrschaft und Gesellschaft – Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption. Würzburg: Ergon.

Gulmohamad, Z.K. (2014): The Rise and Fall of the Islamic State of Iraq and Al-Sham (Levant) ISIS. Global Security Studies 5(2), S. 1-11.

Heine, P. (2003): Islam zur Einführung. Hamburg: Junius.

Hellmich, C. (2012): Al-Qaida – Vom globalen Netzwerk zum Franchise Terrorismus. Darmstadt: Primus.

Hiltermann, J. (2006): Iraq and the New Sectarianism in the Middle East. Synopsis of a presentation at the Massachusetts Institute of Technol­ogy, 12.11.2006. International Crisis Group.

Kepel, G.; Milelli, J.-P. (2006): Al-Qaida: Texte des Terrors. München: Piper.

Khomeini, R.M. (2002): Islamic Government – Governance of the Jurist. Teheran: The Institute for Compilation and Publication of Imam Khomeini’s Works.

Seidensticker, T. (2015): Islamismus – Geschichte, Vordenker, Organisationen. München: C.H. Beck.

Roy, O. (2006): Der islamische Weg nach Westen – Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung. München: Pantheon.

Wichmann, P. (2014): Al Qaida und der globale Djihad. Wiesbaden: Springer VS.

Adrian Paukstat studiert sozialwissenschaftliche Konfliktforschung an der Universität Augsburg. Zuvor schloss er ein Studium der Geschichte und Anglistik sowie ein Sprachenstudium des Hebräischen in Augsburg und Jerusalem ab. Er beschäftigt sich primär mit Internationalen Beziehungen mit Schwerpunkt Naher Osten und politischer Theorie.

Krieg und artifizieller Städtebau

Krieg und artifizieller Städtebau

Bestandsaufnahme und Problematik

von Andrea Kretschmann

Der Krieg ist schon längst eine Frage der Städte geworden, und in diesem Sinne verlagert dieser sich auf neue Territorien. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Räume, in denen militärische Apparate intervenieren, immer vorgestellte Räume sind, die fernab der betreffenden Regionen in sozialen Prozessen hervorgebracht werden. Ein wesentliches Element dieser Raumproduktionen ist gegenwärtig die artifizielle Stadt. In nie dagewesenem Maße vermittelt sie sozialräumliche und kulturelle Aspekte des Territoriums, auf dem der Gegner zu Hause ist. Es zeigt sich jedoch, dass diese Aspekte nicht authentisch oder neutral, sondern mit kultureller Bedeutung über die gegnerischen Räume aufgeladen ist.

Der Krieg ist eine Frage der Städte geworden, das ist bekannt. Nimmt man etwa das von der NATO im Jahr 2003 veröffentlichte Papier »Urban Operations in the Year 2020«1 zur Hand, so wird deutlich, dass das Militärbündnis das Einsatzgebiet ihrer Mitgliedsstaaten in starkem Maße in Städten verortet. Dies geschieht vor dem Hintergrund der zunehmenden Verstädterung der Weltbevölkerung. Aus Sicht der NATO wird insbesondere eine Gemengelage aus wachsenden urbanen Slums und einer sich auf engem Raum divers zusammensetzenden Bevölkerung verstärkt für Aufstände und zivile Unruhen in den Städten sorgen.2

In strategischer Hinsicht gilt für den Städtekrieg: Die Kämpfenden sind nicht nur für den Kampf zu schulen, sondern – damit die SoldatInnen die Aktivitäten des Gegners antizipieren können – auch mit möglichst detaillierten Informationen über den Feind zu versehen. Schon immer hat man in die Ausbildung von SoldatInnen auch Propaganda im Sinne eines bewusst kolportierten, einseitigen Blicks auf den Gegner eingebracht, um diese auf den Kampf einzuschwören. Mit der Verstädterung des Krieges wird das Wissen über den Gegner jedoch in besonderem Maße räumlich erschaffen (ob bewusst oder unbewusst, das sei hier dahingestellt), denn die Verstädterung bringt ein bisher eher vernachlässigtes Genre militärischer Architektur zur Blüte: die artifizielle Stadt.

Um sich auf den Ernstfall vorzubereiten, sehen Militärs die Notwendigkeit, das Training aus dem offenen Gelände in städtische Umgebungen zu verlagern. Unter KriegsstrategInnen geht man ohnehin davon aus, dass auf lineares Voranschreiten ausgerichtete Kampfstrategien heute überholt sind3 und es stattdessen einer netzwerkartigen Organisation des Kampfes bedarf. Die Verstädterung des Krieges erfordert aber eine komplexe Kriegsführung – städtisches Gelände gilt als schwierig im Vergleich zum traditionell bevorzugten offenen Gelände.4 Insbesondere Kriege in verslumten Städten oder Flüchtlingslagern zu führen erweist sich dabei als Herausforderung. In der Strategieforschung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass so genannte intelligente Bomben zwar nützlich sind, um hierarchisch strukturierte, über zentralisierte Infrastrukturen verfügende Städte unter Kontrolle zu bringen, allerdings „haben High-tech-Waffen deutliche Schwächen, wenn es darum geht, arme städtische Regionen, wie etwa Mogadischu/Somalia oder den Stadtteil Sadr City der irakischen Hauptstadt Bagdad, zu kontrollieren“.5 Die militärischen Apparate der westlichen Länder haben in diesem Sinne nicht nur ihre Doktrinen um den urbanen Raum ergänzt, sondern auch einen großen Teil ihrer militärischen Übungen.

Übungsanlagen für den Städtekampf

Nachbildungen städtischer Räume für Trainingszwecke sind deshalb heute keine Seltenheit mehr. Über eine der größten artifiziellen Städte verfügt mit seinem »Urban Warfare Training Center« derzeit das israelische Militär,6 dicht gefolgt von den USA. Letztere betreiben in Colorado Übungen in Fort Carson; in Louisiana kann in Fort Polk im städtischen Raum trainiert werden, und in Alaska hält Fort Richardson Möglichkeiten für derartige Übungen bereit. Das britische Militär trainiert für die »Military Operations on Urban Terrain« (MOUT, Militärische Einsätze im städtischen Umfeld) in seiner Stanford Battle Area.

Über die europaweit größten Trainingseinrichtungen verfügt momentan das französische Militär in verschiedenen »Centres d’entrainement aux actions en zones urbaines« (Trainingszentren für Einsätze in städtischen Zonen). Von seiner führenden Position in Europa wird Frankreich jedoch spätestens im Jahr 2020 verdrängt werden. Dann soll auf dem Gefechtsübungszentrum (GÜZ) Altmark in Sachsen-Anhalt die noch größere Übungsstadt Schnöggersburg fertig gestellt sein – allerdings wird selbst deren Fläche nur ein Fünftel des israelischen MOUT-Geländes ausmachen.7 „Mit der Errichtung des Urbanen Ballungsraumes wird das GÜZ zur größten und modernsten Übungseinrichtung Europas, wenn es um die Simulierung von Ernstfällen in Krisengebieten geht“, heißt es auf der Website der Bundeswehr.8

Bislang verfügte das deutsche Militär über so genannte Ortskampfanlagen auf dem Truppenübungsplatz in Lehnin, darunter das fiktive Städtchen Rauhberg, sowie über das Trainingsdorf Bonnland auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg. Beide werden wohl bald als Vorläuferinnen der »städtebaulichen Entwicklung« von Kampfanlagen zu betrachten sein. Greift man in Bonnland noch auf die Struktur eines abgesiedelten Dorfes mit 120 Gebäuden zurück, zeichnet sich Rauhberg schon durch eine in Ansätzen städtische Infrastruktur aus. Die Anlage umfasst 70 Gebäude, die in unterschiedlicher Bauart (mit und ohne Keller, teilweise möbliert) zur Verfügung stehen. Sie verfügt u.a. über ein Kanalnetz, über Fußgängerunterführungen, einen Bahnhof, eine Schule, Einkaufsläden, Tankstellen, Gaststätten und einen Flugplatz. Zudem können Gebäudebrände dargestellt werden, und Lautsprecher können Gefechtslärm simulieren. Rauhberg hat zudem elektrisch gesteuerte Geräte zur Zieldarstellung, auf die mit Übungsmunition geschossen werden kann.9

Die artifizielle Stadt der zweiten Generation ist damit nicht mehr als willkürliche Ansammlung von Häusern zu sehen, sondern stellt bereits ausschnitthaft einen urbanen Raum dar. Schnöggersburg, das demgegenüber großstädtische Züge trägt, soll nach Fertigstellung einer ausdifferenzierten „ganze[n] Stadt“ 10 so ähnlich wie möglich sein. Hier werden etwa 500 Häuser aufgebaut, die in verschiedene Viertel unterteilt sind, darunter eine Altstadt, eine Neustadt, aber auch ein Elendsviertel. U.a. gibt es eine Müllhalde, einen U-Bahn-Tunnel, Kanalisationsschächte und eine Stadtautobahn. „Die Einsatzrealität der Bundeswehr zeigt, dass derzeitige und zukünftige Konflikte und Krisenherde dort entstehen, wo soziale und kulturelle Ballungsräume zu finden sind. Bereits heute kennzeichnen [sic!] eine Vielzahl von unterschiedlichen Operationsarten die internationalen Missionen der Bundeswehr. Diese reichen von humanitären Einsätzen bis hin zu bewaffneten Konflikten im Rahmen Frieden erzwingender Maßnahmen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, hat das Bundesministerium der Verteidigung entschieden, einen »Urbanen Ballungsraum« im Gefechtsübungszentrum Heer auf dem Truppenübungsplatz Altmark zu schaffen“,11 erläutert die Bundeswehr in Bezug auf Schnöggersburg.

Die Nachbildung von Städten zu Trainingszwecken ist allerdings keine gänzlich neue Entwicklung; militärische Nachbauten urbaner Räume haben Tradition. Im Zweiten Weltkrieg etwa sollte das wiederholte Bombardement artifizieller deutscher und japanischer städtischer Bebauung bei der Entwicklung amerikanischer und britischer Brandbomben helfen.12 Planspiele in artifiziellen Städten gab es auch während des Kalten Kriegs, so auch vonseiten der Bundeswehr, die im bereits erwähnten Bonnland schon in den 1960er Jahren trainierte.

Zielten die Simulationen jedoch früher darauf ab, sich auf die Einnahme einer durch eine nationale Armee verteidigten Stadt vorzubereiten, trainiert man heute für asymmetrische Kriege. Geübt werden sollen Praxen, die es den Einsatzkräften ermöglichen, einer heterogenen Feindgruppe gegenüberzutreten, die nicht wie eine reguläre Armee organisiert ist.13 Es wird damit gerechnet, auf ein zersplittertes Schlachtfeld ohne klassische Frontlinien und auf dezentral operierende, eventuell auch technisch gut ausgerüstete Einheiten zu treffen. In der NATO-Terminologie sind dies derzeit vor allem Charakteristika von „non-article 5 operations“,14 also von Einsätzen, die abseits der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung eines Landes zu verorten sind.

Auch die Bundeswehr begreift „Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung […] im erweiterten geografischen Umfeld“ im Kontext der „Sicherheitsvorsorge“ als ihre vorrangige Aufgabe.15 Dies wird allerdings im Kontext der Frage, inwieweit dies mit §80 des Strafgesetzbuches (Vorbereitung eines Angriffskrieges) vereinbar ist, in Politik und Bevölkerung seit Jahren kontrovers diskutiert. Derartige Operationen verschieben (die Begründung für) den Krieg immer stärker in Richtung eines „Krisenmanagement“,16 in dessen Rahmen das Militär regelmäßig auch zu zivilen Aufgaben herangezogen wird. Kurzum: In den nachgebauten Städten wird für den »low intensity war« geübt.

Kulturelle Verortung

Die artifiziellen Städte und die dort ablaufenden Simulationen werden jeweils an die Umgebung angepasst, in der die Militärs der unterschiedlichen Länder agieren. Dabei strebt man an, reale Kampfterrains und -situationen möglichst authentisch nachzubilden. So ist Israels Städtebau etwa einer Wüstenstadt nachempfunden; alltagssprachlich trägt diese den Namen »Baladia«, arabisch für Stadt. Auch die ArchitektInnen und StadtplanerInnen der US-amerikanischen MOUT-Gelände nahmen teilweise arabische Regionen als Vorlage. Im Jahr 2006 verfügte etwa Fort Carson über drei verschiedene »irakische Dörfer«.17 Das britische Militär wiederum trainiert in der Stanford Battle Area in der Nachbildung eines afghanischen Dorfes.

Für die in den Städten bzw. Dörfern stattfindenden Trainings wird auch hinsichtlich der Ausstattung der Architektur mit »Leben« beträchtlicher Aufwand betrieben; beabsichtigt ist die Nachbildung der Kriegsszenerien möglichst in ihrer ganzen Komplexität. Dies wird nicht nur als nötig erachtet, weil urbane Kriegssituationen ohnehin hohe Opferzahlen in der Zivilbevölkerung mit sich bringen,18 sondern auch, weil ein wesentliches Problem gegenwärtiger urbaner Kriegsführung darin besteht, den Feind überhaupt vom Zivilisten zu unterscheiden. „Die Gefahr lauert in der Kanalisation, auf Häuserdächern, in Gebäuden. Attentäter verstecken sich in Menschenmengen“, formuliert etwa der ehemalige Leiter des GÜZ, zu dem auch Schnöggersburg gehört, in diesem Zusammenhang.19

In der Konsequenz muss der Soldat nicht nur den feindlichen Kämpfer verstehen können, sondern auch die Zivilbevölkerung. In den irakischen Dörfern der USA sind daher nicht nur Moscheen mit Minaretten verbaut, es wird auch der Ruf des Imam zum Gebet nachgeahmt. Hier laufen nicht nur Esel durch die Stadt, sondern auch bezahlte zivile Personen in regionsspezifischer Kleidung.20 In Schnöggersburg gibt es u.a. eine Apotheke und eine Bäckerei; ZivilistInnen werden von den SoldatInnen selbst gespielt. „Es ist äußerst wichtig, dass wir so nah wie möglich an der Realität ausbilden“, erläuterte ein Oberst der Bundeswehr.21

Konsequenzen aus stadtsoziologischer Perspektive

Lässt man – notwendig zu reflektierende, aber bereits anderswo problematisierte – Aspekte der Auswirkungen einer derartigen Kriegsführung außen vor und betrachtet diesen Komplex aus einer stadtsoziologischen Perspektive, dann ist Folgendes zu berücksichtigen: Mit dem artifiziellen Städtebau werden Imaginationen der sozialen Ordnung in den Zielregionen transportiert, die in die späteren Kriegshandlungen einfließen dürften. In der Soziologie hat man sich darauf verständigt, Architektur als ebensowenig neutral anzusehen wie den Raum selbst. Raum ist keineswegs einfach vorhanden, sagt Henri Lefebvre, sondern immer schon sozial hervorgebracht; er ist ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse.22 In diesem Sinne sind die Übungsdörfer und -städte des Militärs keine authentisch Nachbildung von Realität. Stattdessen enthalten sie in ihrer räumlichen Anordnung bestimmte Vorstellungen des feindlichen Gegenübers, die im Kontext historischer, aktueller oder heraufziehender Konflikte entstehen.

Für die nachgebauten irakischen Dörfer des Militärs in den USA etwa zeigte Stephen Graham auf, dass diese im Kontext eines komplexen Wechselspiels von Politik, Think-tanks und Medien entstanden, in dem vom »Krieg gegen den Terror« geprägte, stereotype Bilder des Feindes verarbeitet wurden. Die Städte innerhalb der zu bekriegenden Regionen wurden in diesem Zusammenhang als Räume konstituiert, deren einzige Funktion darin zu bestehen scheint, TerroristInnen Unterschlupf zu bieten. In diesem Sinne repräsentieren die Trainingsflächen „nicht die komplexen kulturellen, sozialen oder psychischen Realitäten des Urbanen im Mittleren Osten, sondern die imaginierten Geografien der Militärs sowie der Themenpark-Designer, die für ihren Entwurf und Bau hinzugezogen werden“.23

Da in den artifiziellen Städten für den Ernstfall trainiert wird, haben die hierin verbauten symbolischen Ordnungen einen Streuungseffekt. Architektur antizipiert kommende Nutzungsbedürfnisse24 und wird insofern auf Funktionen hin gebaut. Diese zeigen an, „wo wir sind und was zu tun ist“.25 Der in den Übungsstädten architektonisch und schauspielerisch strukturierte Raum reduziert die Breite der Handlungsoptionen und entlastet, indem er Praktiken kanalisiert. Indem die »Städte« spezifische sozialräumliche Anordnungen darstellen und deren kulturelle Nutzung simulieren, wird in ihnen der Raum dergestalt strukturiert, dass in ihm bestimmte Bewegungen sowie Handlungen angeregt und zugelassen, andere wiederum verunmöglicht oder erschwert werden. Das heißt, in die Übungen der Soldaten gehen spezifische räumlich konstituierte Sinngehalte – für die USA etwa Stereotype über das alltägliche Leben sowie Freund und Feind in der arabischen Welt – ein und dürften von diesen wiederum reproduziert werden – mit der Folge eines spezifischen Umgangs mit der Zivilbevölkerung im realen Einsatz.

Auch für Schnöggersburg stellt sich die Frage, welche sozialen Sinngehalte hier architektonisch verarbeitet werden. Anders als bei den Übungsanlagen etwa der USA lässt Schnöggersburg zunächst offen, auf welches vorgestellte »Anderswo« es abstellt. Seine Kirche kann nach Bedarf mit wenigen Handgriffen in eine Moschee umgebaut werden und umgekehrt.26 Laut Auskunft der Bundeswehr ist die »Stadt« nicht auf ein konkretes Interventionsziel hin gebaut, sondern es handelt sich um eine „Fabelstadt, die sich in der ganzen Welt befinden könnte“.27 Schon der Vergleich mit den anderen skizzierten Städten und Dörfern zeigt jedoch, dass hier eine hierarchisch strukturierte Anlage mit einer zentralisierten Infrastruktur im Bau ist, wie sie neben vielen anderen etwa auch deutsche Großstädte kennzeichnet.

Fazit: Die urbane Imagination des Feindes

Es ist schon längst Krieg in den Städten, auch unter Beteiligung Deutschlands, und dieser Krieg basiert vielfach nicht auf direkten Erfahrungen, die SoldatInnen in der Region des Feindes machen, sondern auf Imaginationen derselben. Die Existenz artifizieller Städte verdeutlicht, dass die Räume, in die militärische Apparate kriegerisch intervenieren, immer vorgestellte Räume sind. Weitab vom eigenen Lebensumfeld imaginiert sich der Westen etwa den irakischen Feind.

Neu daran ist, dass heute in nie dagewesenem Maße sozialstrukturelle und kulturelle Aspekte des Alltagslebens in die Übungssituationen eingebaut werden. Hier liegt der zentrale Unterschied zum althergebrachten Training im offenen Gelände: Es entsteht so der Anschein, als sei etwa der Alltag im Irak schon erfahren worden. Auch die Bundeswehr meint, ihre SoldatInnen könnten den sozialen Sinn, den ZivilistInnen in Afghanistan einer Situation zuschreiben, durch das Nachspielen schon ansatzweise erfassen. So ist man beim deutschen Militär der Auffassung, dass durch das Hineinversetzen der SoldatInnen in die „je nach Szenario […] afghanische Bevölkerung, Polizei oder Armee […] die interkulturelle Kompetenz der Soldaten geschult“ wird.28 Was aber vordergründig als realistische Darstellung des feindlichen Gegenübers oder der Zivilbevölkerung daherkommt, ist keine Wiedergabe des Gegebenen, sondern imaginatorisch angeeignete Realität. Als solche ist sie mit spezifischem, sozial und kulturell aufgeladenem Sinn versehen.

Auch wenn die Regionen der Welt sich im Zuge der Globalisierung derart nahe kommen, dass für Staaten (mit dem tatsächlichen Ziel oder dem Vorwand der Befriedung) „ein schnelles Handeln auch über große Distanzen erforderlich“ 29 scheint, so zeigt sich, dass damit keine tiefere oder verständnisvollere Wahrnehmung dieser Räume einhergehen muss. Nicht zuletzt ist ein gewisser stereotyp verkürzter Blick auf das feindliche Gegenüber auch eine elementare Bedingung des Kriegführens; das ist der Sinn von Propaganda. Während diese jedoch auf Komplexitätsreduktion abstellt, werden mit den artifiziellen Städten Komplexitätssteigerungen vorgenommen; asymmetrische Kriegsführung verlangt geradezu danach. Am Beispiel der US-amerikanischen Übungsstädte zeigt sich, dass hiermit nicht unbedingt eine verstehende Perspektive einhergeht. Stereotypisierende Grenzziehungen werden dann nicht aufgehoben, sondern vielmehr auf spezifische Weise differenziert.

Anmerkungen

1) NATO (2003): Urban Operations in the Year 2020. RTO-TR-071, S. xii.

2) Ibid, S.4.

3) Ibid, S. iii.

4) Gerald Yonas and Timothy Moy (2001): Emerging technologies and military operations in urban terrain. In: Michael C. Desch (eds.): Soldiers in Cities – Military operations on urban terrain. Carlisle/Pennsylvania: U.S.Army War College – Strategic Studies Institute, S.131-139.

5) Interview mit Mike Davis: The rising tide of urban poverty. 12.5.2006, socialistworker.org

6) Israeli Defence Force (2011): Urban Warfare Training Center – Simulating the Modern Battle-Field. idfblog.com, 26.10.2011.

7) Thorsten Jungholt (2015): Bundeswehr soll in Israel den Häuserkampf lernen. welt.de, 30.8.2015. Konkret soll Schnöggersburg etwa sechs Quadratkilometer groß werden.

8) Bundeswehr (2013): Schnöggersburg – Die neue Übungsstadt. iud.bundeswehr.de, 14.2.2013.

9) Bundeswehr (2015): Ausbildergruppe des Ausbildungszentrums Infanterie des Bereichs Lehre Ausbildung, Orts-/Waldkampf BONNLAND und LEHNIN. deutschesheer.de, 6.1.2015.

10) Siehe hierzu die Äußerung von Oberstleutnant Peter Makowski in: Katrin Löwe (2012): Bundeswehr – Angriff in Schnöggersburg. Mitteldeutschen Zeitung, 9.5.2012.

11) Bundeswehr (2013), op.cit.

12) Mike Davis (2002): Dead cities – and other tales. New York: The New Press, S.65ff.

13) NATO (2003), op.cit., S.1

14) NATO (2003), op.cit., S.9

15) Peter Makowski (2013): Urbaner Ballungsraum »Schnöggersburg« im Gefechtsübungszentrum Heer. Infobrief Heer 18(1), S.8-9.

16) NATO (2015): Topics: Crisis management. nato.int, 29.1.2015.

17) Stephen Graham (2006): Cities and the »War on Terror«. International Journal of Urban and Regional Research, 30(2), S.255-276.

18) NATO (2003), op.cit., S. iii.

19) Spiegel Online (2012): Bundeswehr bekommt Übungsstadt – Schöner schießen in »Schnöggersburg«. 20.6.2012.

20) Steve Graham (2006), op.cit., S.266f.

21) Bundeswehr (2010): Afghanistaneinsatz: Letzte Übung der Saarlandbrigade vor dem Ernstfall. deutschesheer.de, 3.12.2010.

22) Henri Lefebvre (1991): The Production of Space. Oxford: Cambridge.

23) Stephen Graham (2006), op.cit., S.267

24) Norman Foster (2004): Hightech-Gestaltung – Ästhetik und Nachhaltigkeit prägen die Regeneration der Städte. In: Hubert Burda und Christa Maar (Hrsg.): Iconic Turn – Die neue Macht der Bilder. Köln: DuMont, S.247-259.

25) Markus Schroer (2013): Raum, Zeit und Soziale Ordnung. In: Petra Ernst und Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Raum – Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften. Baden-Baden: Nomos, S.11-24.

26) Thomas Gerlach (2013): Zukunft der Bundeswehr – Geisterstadt Schnöggersburg. taz.de, 29.7.2013.

27) Welt online (2012): Bundeswehr übt in Sachsen-Anhalt den Häuserkampf. 10.5.2012.

28) Bundeswehr (2010), op.cit.

29) Bundesministerium der Verteidigung (2011): Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011.

Andrea Kretschmann ist Soziologin und Kriminologin am Centre Marc Bloch in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologie der Gewalt und des Konflikts, der Soziologie des Staates und der Rechtssoziologie. Sie ist Mitherausgeberin der Buchreihe »Verbrechen & Gesellschaft« und des Kriminologischen Journals.

Formen urbaner Gewalt

Formen urbaner Gewalt

von Jürgen Oßenbrügge

Großstädte gelten seit Langem als Orte, in denen sich die Stadtbewohner und Besucher besonderen Gefahren und Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind. Diese reichen von Diebstahl und Raub, gewaltförmigen Demonstrationen zu Terrorakten und Bürgerkriegen. Entsprechend häufig werden Städte auch nach Sicherheitskriterien eingestuft, es werden »no-go-areas« ausgewiesen und besondere Verhaltensformen angemahnt. Inzwischen bestehen auch zahlreiche bauliche Vorsorgemaßnahmen und besondere Sicherheitsdienste, die als Schutz vor Gewalt von Seiten des Staates, zunehmend aber auch von privater Seite eingerichtet oder angeboten werden. Das Thema Stadt und Gewalt gerät damit immer stärker in die Diskussion über Sicherheit im Alltagsleben.

Wenn eine Beziehung zwischen Stadt und Gewalt hergestellt wird, ist es zunächst angebracht, näher zu beschreiben, um welche besonderen Erscheinungsformen der städtischen Gewaltverhältnisse es gehen soll. Denn es ist klar, dass physische oder strukturelle Eingriffe in die körperliche und mentale Integrität von Menschen überall vorkommen können, folglich auch in Städten. Häufungen finden wir in urbanen Räumen schon deshalb, weil Bevölkerungskonzentrationen vorliegen und sich Gewaltformen aus einer »kritischen Masse« heraus entwickeln können. Ausschlaggebend bleiben aber soziale, politische, ökonomische und kulturelle Determinanten für Gewalt, die sich in Städten manifestieren. In diesem Sinne erklärt der städtische Kontext per se keine Gewaltformen.

Daneben besteht aber auch die Auffassung, dass Städte schon aufgrund ihrer städtebaulichen Strukturen und ihrer Wirkung auf die Lebensweise zu Gewalt in unterschiedlichen Erscheinungsformen führen. Zwar wird auch hier mit »Stadt»« kein eigenständiger Akteur verbunden, urbane Materialitäten stehen aber sozusagen hinter den bereits erwähnten Determinanten der Gewaltformen, d.h. sie strukturieren Handlungen, die von Gewalt begleitet sind oder in Gewalttätigkeiten münden.

Wenn wir uns mit dem Thema Stadt und Gewalt auseinandersetzen, dürfen wir also nicht nur von einer raumbezogenen Statistik ausgehen, die lediglich das »Wo« der Gewalt beschreibt. Vielmehr müssen wir uns auf Gewaltformen konzentrieren, die durch die Stadt selbst produziert werden. Wenn dies gelänge, würden auch Interventionspotentiale sichtbar, also Hinweise darauf, wie durch einen Umbau der Stadt Beiträge zur Gewaltprävention entstehen könnten.

Diese eher methodologische Ausgangsüberlegung wird im Folgenden genutzt, um den Beitrag zu strukturieren. Im ersten Schritt werden dazu die bereits in der Literatur benannten Gewaltformationen beschrieben, die als »urban« gelten. Hierbei handelt es sich um eine aktualisierte Typologie, die bereits in Oßenbrügge (2011) verwendet wurde. Der zweite Schritt sucht nach den städtischen Erklärungen für Gewalt und bezieht sich auf Konzepte der soziologischen und geographischen Stadtforschung sowie auf die Architekturtheorie. Im abschließenden Fazit werden die typologischen und konzeptionellen Argumente in ihrer Relevanz für die Friedens- und Konfliktforschung besonders im Hinblick auf Gewaltprävention bewertet.

Sicherheit in Städten – zur Typologie urbaner Gewaltformationen

Die Diskussion über Sicherheit, Gewalt und Intervention in Städten wird häufig von einzelnen Ereignissen bestimmt. Aus deutscher und europäischer Perspektive gehören dazu etwa die in ihrer Intensität außergewöhnlichen Angriffe auf Frauen beim Jahresübergang 2015/16, besonders in Köln und Hamburg, oder terroristische Gewaltexzesse, wie in Paris zu Beginn und zum Ende des Jahres 2015. In der globalen Perspektive dreht sich die Diskussion seit 2000 sehr stark um die Dynamik der Verstädterung, die zunehmende Zahl so genannter Megastädte, die Urbanisierung der Armut sowie die Risiken von Stadtregionen im globalen Wandel. Entsprechend große Aufmerksamkeit fanden umfangreiche Bestandsaufnahmen, wie die Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2002), des UN-Habitat (2007) oder der Weltbank (The World Bank 2011).

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas und der folgende Entwurf einer Typologie beziehen sich besonders auf Moser (2004), Agostini et al. (2010) und Kasang (2014).

  • »Normalisierung« der Gewalt: Urbane Gewaltformationen wirken als Hinterlassenschaft politischer Repression über Jahre nach. Für diesen Aspekt steht die Situation der Großstädte in Südafrika in den 1990er Jahren. Auch nach der Überwindung der Apartheid im Jahre 1994 blieben Gewaltbeziehungen in vielen zusammenhängenden Stadtgebieten prägend. Ähnliche gewaltförmige Postkonfliktbeziehungen prägen auch San Salvador. Normalisierung der Gewalt ergibt sich weiterhin als Folge dauerhafter Machtkämpfe um Herrschaft (z.B. Kingston/Jamaika).
  • Territoriale Nischen im Kontext institutionell schwacher Staaten: In Weiterführung des obigen Punktes hebt dieser Aspekt auf gemischte Gewaltformationen auf lokaler Ebene ab, d.h. auf das »Verwischen« der Grenzen politischer, ökonomischer und krimineller Gewalt (z.B. PAGAD in Kapstadt/Südafrika, Cali-Kartell in Santiago de Cali/Kolumbien). Bedeutsam ist auch die Drogenwirtschaft, die in den Favelas der Großstädte Brasiliens oder in Ciudad Juarez/Mexiko auftritt. Gewalt zeigt sich hier als Medium des Geld-, Macht- und Prestigegewinns.
  • Staatsversagen und informelle Rechtsprechung: Dieser Aspekt fasst die Selbsthilfe im Klima der Rechtlosigkeit (Städte in Südafrika), Formen der Lynchjustiz (Nigeria) sowie polizeilichen Terror (Rio und Sao Paulo/Brasilien) zusammen.
  • Multiple soziale Exklusion und Jugendbanden: Das Beispiel der Maras in Städten Zentralamerikas verweist auf Gewalt als Sozialisationsinstanz, verbunden mit klaren Mustern der städtischen Segregation und der Ausübung territorialer Hegemonie.
  • Häusliche und geschlechtsspezifische Gewaltformen: Häusliche Gewalt wird häufig als Ausgangspunkt für andere Gewaltbeziehungen angesehen und damit zum primären Gegenstand der Gewaltprävention.
  • Konflikt um den Zugang zu Trinkwasser: Die Versorgung mit Trinkwasser ist in vielen Großstädten äußerst prekär. Dabei spielen die absolute Knappheit der Wasservorkommen und insbesondere die Verteilungsmodi eine Rolle. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt es vor allem, wenn es um die Privatisierungen des Trinkwassers geht (z.B. Bolivien, Südafrika).
  • Konflikte um Nahrungsmittel: Der rasante Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel in den Jahren 2007 und 2008 führte in vielen Städten zu Revolten. Ursachen war neben einer starken Nachfrage aus Schwellenländern die zunehmende Produktion von Agrotreibstoffen und die dadurch verursachte Flächenverknappung.
  • Konflikte um Slumsanierungen: Eine weitere städtische Gewaltformation basiert auf dem Umgang mit Wohnraum und der häufigen Praxis, über »Flächensanierungen« ungewünschte Siedlungsformen zu beseitigen. Entsprechende Auseinandersetzungen sind in lateinamerikanischen Städten seit Jahrzehnten bekannt und betreffen zunehmend auch asiatische und afrikanische Städte.
  • Gewalt als Folge internationaler Intervention: Nahrungsmittelhilfen und Flüchtlingslager können zur Etablierung von Gewaltformationen beitragen.
  • Privatisierte Sicherheit und fragmentierte Stadt: Sicherheitsprobleme befördern unterschiedliche Formen der privat finanzierten Sicherheit, die verstärkte Kontrolle öffentlicher Räume und die Errichtung von »Gated Communities« im Bestand oder als neue Quartiere.

Diese Auflistung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, macht nicht nur unterschiedliche Formen städtischer Gewalt deutlich, sondern verweist auch auf vielfältige Interaktionen. Urbane Gewaltformen sind multikausal und stehen zugleich in lokalen, nationalen und internationalen Kontexten. Daher sind einfache Lösungen, wie das vom ehemaligen Bürgermeister von New York propagierte Konzept der »zero tolerance« (null Toleranz) oder das von der Weltbank beförderte Konzept des »good urban governance« (gute Regierungsführung in der Stadt), nicht oder nur langfristig im Kontext anderer Transformationsprozesses vorstellbar. Allerdings scheint die von UN-Habitat konstatierte Zunahme urbaner Gewalt eher auf einen Rückzug des Staates zu deuten. Hingewiesen wird auf die institutionelle Schwäche der Staaten, sozialen Konflikten mit demokratischen und zivilen Mitteln zu begegnen. Formen städtischer Gewalt bedrohen nicht nur die Regierungsfähigkeit und demokratische Konsolidierungsprozesse, sondern werden vielmehr von ganz unterschiedlichen Akteuren immer häufiger eingesetzt, um gegen traditionelle Machtgruppen eigene Ziele zu verfolgen und durchzusetzen (Koonings and Kruijt 1999, S.11).

Verstädterung, Bevölkerungskonzentration und davon bestimmte Gewaltformen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückte das Phänomen der »Megastädte« in das Blickfeld der Risiko- und Konfliktforschung. Vor dem Hintergrund einer zwar nicht mehr so rasch, aber dennoch weiter wachsenden Weltbevölkerung und einer zunehmenden Verstädterung ist die Anzahl großer Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern stark gestiegen. Mit dieser Bevölkerungskonzentration gerieten Megastädte in einen »securitization move«, d.h. sie wurden als besondere Risiko- und Unsicherheitsräume konzipiert und beschrieben. Dies führt zur Frage, ob die Stadtgröße eine eigenständige Erklärung für Gewaltphänomene liefert bzw. ob sich aus der Anzahl und Dichte der Bevölkerung neuartige Erscheinungen ableiten lassen.

Liotta and Miskel (2012) trugen in ihrem Buch »The Real Population Bomb« diesbezüglich Argumente zusammen und illustrierten sie mit entsprechenden Stadtbeschreibungen. Für sie ist das 21. Jahrhundert als »urban century« verbunden mit Megastädten als „Häfen für Terroristen und kriminelle Netzwerke, genauso wie als Quelle erheblicher Umweltbelastungen“ (S.2). Diese Städte seien „natürliche Laboratorien“, in denen sich all jene Faktoren herausbilden, die die menschliche und internationale Sicherheit gefährden. Weiter würden die verdichteten Massen, in denen insbesondere junge Männer zwischen 15 und 29 Jahren eine entscheidende Rolle zukäme (youth bulge), zu Aufruhr und zur Destabilisierung bestehender Ordnungsansätze führen (ebd.). Nach dieser Auffassung befördert die Verstädterung Räume der Unsicherheit, der Gefahr und der Gewalt, die sich in den bevölkerungsreichsten Städten am stärksten ausprägen (Williams 2010).

Obwohl für diese Einschätzung weder eine theoretische Begründung noch eine systematisch angelegte empirische Evidenz vorliegt, können räumliche Konzentrationen durchaus Gewaltformen befördern. Bekannt ist in der Stadtforschung die Wirkung so genannter positiver oder negativer Agglomerationsfaktoren, dies sich aus der Bündelung von Einrichtungen und Aktivitäten sowie kurzen Wegen oder persönlichen Kontakten ableiten lassen. Von Agglomerationsfaktoren können sicher kriminelle Netzwerke und Terrorgruppen ebenso profitieren wie gewaltbereite Kleinkriminelle. Ein weiteres theoretisches Argument ließe sich aus der Global-City-Forschung ableiten, die die Bedeutung von Städtenetzwerken im Kontext der globalisierten Ökonomie anspricht. Die Verflechtungsintensität zwischen Städten ist sicherlich auch in illegalen Handels- und Transportbeziehungen wichtig. Damit dienen Städte mit ihrer Infrastruktur auch als Knotenpunkte in gewaltförmigen globalen Netzwerken.

Eine weitere Folge der Verstädterung und Bevölkerungskonzentration ist die Urbanisierung der Armut, die sich in einer unzulänglicher Wohnsituation, fehlender Infrastruktur, mangelnden Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichenden Sozialleistungen ausdrückt. Der UN-Habitat Bericht (2006/7) oder das Buch »Planet of Slums« von Mike Davis (2007) verweisen eindrücklich auf diese Seite des globalen Wandels. Die damit verbundenen Lebenslagen erzwingen geradezu kreative, häufig auch gewaltförmige Überlebensstrategien, um die eigene Reproduktion oder auch die der Familie, der Clans o.ä. in prekärer Form zu sichern.

Zusammengenommen haben also der Verstädterungsprozess und die damit verbundene Bevölkerungskonzentration grundsätzlich das Potential, neue Formen von Kriminalität und Gewalt hervorzubringen. Sicherlich ist diesbezüglich wegen unterschiedlicher Traditionen und kultureller Kontexte, unterschiedlicher Staatlichkeit oder wirtschaftlicher Verhältnisse von Stadt zu Stadt zu differenzieren. Auch ist keine lineare Abhängigkeit zwischen Stadtgröße und Gewaltintensität zu vermuten, weil Agglomerationsfaktoren komplex sind und unterschiedlich wirken. Mit zunehmender Größe einer Stadt nehmen aber auch die Möglichkeitsräume für Gewalt zu.

Fortgeschrittene Marginalität in urbanen Räumen und mangelnde soziale Kohäsion

Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der inzwischen umfangreichen Forschung über den Zusammenhang von städtischen Armutsquartieren und kriminellen Lebenswelten. Auch hier wird städtischen Räumen „eine eigenständige kausale Bedeutung für die Genese von Kriminalität“ und Gewalt zugestanden, und zwar „unabhängig von der Rolle der Individuen, die sich in ihnen aufhalten“ (Oberwittler 2013, S.46).

Diese ursprünglich im Hinblick auf US-amerikanische Städte entwickelte Forschungsrichtung geht der Fragestellung nach, ob die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, ihre Interaktionen und kollektiven Vertrauensbeziehungen einen starken Einfluss auf Sicherheit haben. Diese sozialräumliche Perspektive betont einen Effekt, der als »kollektive Wirksamkeit« bezeichnet wird. Er beruht auf den in einem Quartier bestehenden Vertrauensbeziehungen und Verhaltensnormen sowie auf der Sichtbarkeit von Interventionen und Sanktionen, wenn schwerwiegende Normabweichungen auftreten. In verschiedenen empirischen Untersuchungen wurde für Nordamerika und Westeuropa eine enge Korrelation zwischen fehlender kollektiver Wirksamkeit und sozialräumlicher Marginalität festgestellt. Hinzu treten hohe Mobilitätskennziffern und – wenn auch umstritten – ethnisch-kulturelle Diversität (Oberwittler 2013). Beide Indikatoren verweisen auf Defizite, kollektive Wirksamkeit herzustellen, weil Nachbarschaften wegen einer hohen Umzugshäufigkeit instabil sind und möglicherweise gerade die aktiven Bewohner wegziehen oder weil wegen sprachlich-kultureller Distanz wenig soziale Interaktion stattfindet. Eine wichtige Rolle spielen auch Wahrnehmungs- und Zuschreibungspraktiken, die das Image benachteiligter Quartiere betreffen und einen negativen Rückkopplungseffekt auf das kollektive soziale Kapital ausüben. Die als kriminalitäts- und gewaltbelastet oder als »no go areas« stigmatisierten Stadträume geraten in einen sich selbst verstärkenden Prozess der Abwertung.

Wohnungsbau und öffentlicher Raum

Neben der sozialräumlichen Situation bieten auch der städtebauliche Kontext, die Architektur und die darüber strukturierte Qualität des öffentlichen Raumes einen Erklärungsansatz für Gewalt und Kriminalität. Aus der für jüngere Forschungsrichtungen sehr wichtigen stadtkritischen Diskussion der 1960er Jahre (für die Namen wie Henri Lefebvre, Jane Jacobs und Alexander Mitscherlich stehen) hat sich auch eine Perspektive etabliert, die vor allem durch das Buch »Defensible Space« von Oscar Newman (1972/73) bekannt wurde. Am Beispiel New Yorks und anderer Städte wird gezeigt, wie Effekte wie die eben angesprochene kollektive Wirksamkeit durch Städtebau befördert oder behindert werden können. Dazu gehören Bauformen »im menschlichen Maßstab«, eine gut interpretierbare Formsprache, die Zugehörigkeitsgefühl erzeugt, optimierte Sicht- und Blickkontakte zur Herstellung einer »natürlichen Überwachung« sowie eine gute Gestaltung der Verkehrswege, der Freiflächen und Gemeinschaftsräume, um das „Leben zwischen den Häusern“ (Gehl 2012) zu befördern. Ansatzpunkte wie die »broken windows«-These, die zu einer negativen Quartiersentwicklung beitragen können, sind zu vermeiden. Hier werden unmittelbare Übergänge zur Stadtplanung und auch zu solchen Formen der Quartierspolitik deutlich, wie sie in Deutschland unter der Bezeichnung »soziale Stadt« praktiziert werden.

Fazit

Gegenwärtige Tendenzen der Verstädterung, problematische Stadtstrukturen und Prozesse der sozialräumlichen Segregation weisen verschiedene Bezüge zu Gewaltformen und Kriminalität auf, die als typisch »urban« bezeichnet werden können. Es bedarf folglich auch besonderer Präventionsstrategien, die sich auf die Dezentralisierung von Megakonzentrationen, auf Formen der kollektiven Organisation, auf die Vermeidung zunehmender Marginalität und auf die Gestaltung der Stadt beziehen lassen. Wenn das 21. Jahrhundert eines der Städte wird, dann sollten entsprechende Konzepte intensiver diskutiert und auch umgesetzt werden. Dabei geht es weniger um die spektakulären Vorzeigeprojekte, die in vielen Großstädten im Vordergrund stehen, sondern um den alltagstauglichen Umbau des bestehenden Stadtraums, um die grundlegenden Bedürfnisse der Stadtbewohner einschließlich ihrer realen und wahrgenommen Sicherheit zu verbessern. Entscheidend ist dabei die Vermeidung der privatisierten Sicherheit, die in vielen Städten in Form so genannter »gated communities« und abgeriegelter Einzelhäuser sichtbar ist und in subtileren Formen auch in »Business Improvement Districts« wirksam wird; dort trennen Sicherheitsakteure die erwünschten von nicht erwünschten Besuchern und erteilen letzteren ein Zutrittsverbot. Problematisch ist auch die Ausweisung von Gefahrenzonen, in denen der Staat bzw. die Polizei mittels Sonderrechten agieren kann.

Lebensqualität in der Stadt entsteht nicht durch Sicherheitskräfte und Überwachungssysteme, sondern durch soziale Organisation, sensible Stadtplanung und die Reduzierung sozialer Ungleichheit.

Literatur

Giulia Agostini, Francesca Chianese, William French, Amita Sandhu (2010): Understanding the Processes of Urban Violence – An Analytical Framework. London: Crisis States Research Centre, Development Studies Institute, London School of Economics.

Mike Davis (2006): Planet of Slums. London: Verso. Die deutsche Fassung ist 2011 unter dem Titel »Planet der Slums« bei Assoziation A (Berlin) erschienen.

Jan Gehl (2012) Leben zwischen Häusern. Berlin: Jovis.

Felix Hoepner (2015): Stadt und Sicherheit – Architektonische Leitbilder und die Wiedereroberung des Urbanen: »Defensible Space« und »Collage City«. Bielefeld: transcript.

Nicholas Kasang (2014): Conceptual Underpinning of Violence Prevention. In: Kosta Mathéy, Silvia Matuk (eds.): Community-Based Urban Violence Prevention – Innovative Approaches in Africa, Latin America, Asia and the Arab Region. Bielefeld: transcript. S.24-41.

Kees Koonings and Dirk Kruijt (1999): Introduction. In: dies. (eds.): Societies of Fear – The Legacy of Civil War, Violence and Terror in Latin America. London: Zed Books.

P.H. Liotta and James F. Miskel (2012): The Real Population Bomb – Megacities, Global Security and the Map of the Future. Dulles: FreePress.

Carolyn Moser (2004): Urban Violence and Insecurity – An Introductory Roadmap. Environment & Urbanization, 16 (2), S.3-16.

Oscar Newman (1972/73): Defensible Space – Crime Prevention Through Urban Design. Macmillan: New York.

Dietrich Oberwittler (2013): Wohnquartiere und Kriminalität – Überblick über die Forschung zu den sozialräumlichen Dimensionen urbaner Kriminalität. In: ders., Susann Rabold und Dirk Baier (Hrsg.): Städtische Armutsquartiere – Kriminelle Lebenswelten? Studien zu sozialräumlichen Kontexteffekten auf Jugendkriminalität und Kriminalitätswahrnehmungen. Wiesbaden: Springer VS, S.45-96.

Jürgen Oßenbrügge (2011): Globale Verstädterung, Klimawandel und Konfliktlagen. In: Michael Brzoska, Martin Kalinowski, Volker Matthies, Berthold Meyer (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte, Versicherheitlichung versus präventive Friedenspolitik? Baden-Baden: Nomos, S.173-188.

The World Bank (2011): Violence in the City – Understanding and Supporting Community Responses to Urban Violence. Washington D.C.: The World Bank, Social Development Department – Conflict, Crime and Violence Team.

UN-Habitat (2006): State of the cities 2006/7. London.

UN-Habitat (2007): Enhancing Urban Safety and Security – Global Report on Human Settlements 2007. London: UN-Habitat.

World Health Organization/WHO (2002): World report on violence and health. Genf.

Phil Williams (2010): Here be dragons – dangerous spaces and international security. In: Anne L. Clunan and Harold A. Trinkunas (eds.): Ungoverned spaces – Alternatives to state authority in an era of softened sovereignty. Stanford: Stanford University Press, S.34-56.

Jürgen Oßenbrügge forscht und lehrt an der Universität Hamburg. Er ist Humangeograph und Stadtforscher mit regionalen Bezügen in Lateinamerika, Afrika und Europa.

Stadt – Land – Krieg

Stadt – Land – Krieg

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

von Jürgen Scheffran

Dem Wechselspiel zwischen Stadt und Land kam und kommt in Kriegen oftmals eine wichtige Rolle zu. Aufgrund der Bevölkerungsdichte, Versorgungsinfrastruktur und Machtkonzentration sind Städte verwundbare Ziele von Gewalthandlungen, die erhebliche Schutzmaßnahmen erfordern. Ausgehend von der zunehmenden Urbanisierung und damit verbundener Dynamiken der Unsicherheit, analysiert der Beitrag Trends von Stadtkriegen und militärischen Interventionen sowie der Abwehr, Abschottung und Überwachung, um Metropolen vor gewaltinduzierten Sicherheitsrisiken zu bewahren.

„Welch eine Stadt haben wir der Plünderung und Verwüstung ausgeliefert!“, soll der osmanische Sultan Mehmed II gemäß der Legende nach der Eroberung von Konstantinopel am 29. Mai 1453 ausgerufen haben. Nach fast zweimonatiger Belagerung durch das weit überlegene osmanische Heer konnte der Widerstand der christlichen Verteidiger unter Kaiser Konstantin XI überwunden werden. Auch wenn Konstantinopel mit etwa 21 km Stadtmauern eine der am besten befestigten Städte ihrer Zeit war, gab es nicht genug Personal, um diese gegen das gigantische »Konstantinopel-Geschütz« und andere Belagerungstechniken zu halten. Obgleich große Nahrungsvorräte in die Stadt geschafft und innerhalb der Mauern angebaut wurden, kam es zu Lebensmittelengpässen, die die Widerstandskraft schwächten (Runciman 1990).

Die Eroberung von Konstantinopel markiert den Untergang des Byzantinischen und den Aufstieg des Osmanischen Reiches zur Großmacht. In der türkischen und der westeuropäischen Rezeption hat die Eroberung einen hohen symbolischen Wert und wird mit dem Übergang vom europäischen Mittelalter in die Renaissance verbunden.

Stadt und Land im Krieg

Seit Menschen in Städten zusammenlebten, waren diese ebenso Orte der Herrschaft wie Ziele kriegerischer Gewalthandlungen. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte entstanden neue Formen sozialer Interaktion und Produktion, die Städte zu wertvollen Objekten machten, für die sich ein hoher Einsatz lohnte. Mit dem Übergang von der landwirtschaftlichen zur industriellen Produktion verschob sich das Verhältnis zwischen Land und Stadt. Während die Versorgung von Städten mit Wasser, Nahrung, Energie und anderen Ressourcen von ländlichen Gebieten abhing, boten Städte für die Landbevölkerung Arbeitsplätze und Märkte für ihre Produkte. Die in Städten konzentrierten Strukturen von Macht, Kapital und Gewalt dienten zur Kontrolle der im Land verfügbaren Ressourcen und zur Ausbeutung der dort lebenden Menschen, vor allem durch Einzug von Abgaben und die Rekrutierung von Söldnern. Beides wurde von den Herrschern benötigt, um kostspielige Heere zu unterhalten, die in Landschlachten aufeinander prallten. Demgegenüber ging es in Kriegen um Städte darum, Machtzentren zu sichern bzw. zu erobern, wobei die Unterbrechung der städtischen Versorgung durch das Land ein wesentliches Element von Belagerungskriegen war.

Die Eroberung befestigter Städte war oft mit erheblichem Aufwand verbunden, konnte sich über Jahre hinziehen und wurde auch durch die Verfügbarkeit vitaler Ressourcen entschieden. In einigen Fällen bedeutete die Einnahme oder Zerstörung der Hauptstadt das Ende eines Imperiums (wie im Falle Karthagos), war aber nicht immer kriegsentscheidend (wie im Fall der Eroberung Moskaus durch Napoleon, die seine Niederlage einleitete). Immer wieder gingen die Besatzer mit äußerster Grausamkeit vor und töteten die Einwohner (wie bei der Eroberung Jerusalems 1099 durch christliche Kreuzzügler).

Die Form des Stadt-Land-Krieges wandelte sich mit den gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Rahmenbedingen. Im Mittelalter war die Stadt Zentrum kleinräumiger Strukturen; mit steigender Wirksamkeit und Reichweite der Waffentechnik (besonders der Feuerwaffen) waren Städte immer schwerer zu schützen. Der Raum zwischen den Städten wurde enger, die politischen Einheiten vergrößerten sich von feudal geprägten Städten, Burgen und Palästen zu den Stadtstaaten und Nationen der Neuzeit, in denen Städte zu Schlüsselpunkten der industriellen Produktion und des Konsums und zu Schaltzentren der bürgerlichen Gesellschaft wurden.

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hinterließen eine Spur der Verwüstung in den urbanen Räumen und vermittelten der Stadtbevölkerung die Erfahrung existentieller Verwundbarkeit. Die strategischen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg eröffneten ein neues Kapitel des totalen Krieges, dessen Terror gegen die Zivilbevölkerung zwar nicht kriegsentscheidend war, aber ganze Städte dem »Urbizid« auslieferte (Henkel 2013), ihrer systematischen Vernichtung.

Städtenamen wie Guernica und Coventry, Dresden und Hamburg, Stalingrad und Tokio, schließlich Hiroshima und Nagasaki wurden zu Symbolen einer Verrohung der Kriegführung. Im Ost-West-Konflikt gerieten die Großstädte der beiden Blöcke auf die Ziellisten von Massenvernichtungswaffen. Auch wenn der Fall der Berliner Mauer dem Kalten Krieg ein Ende setzte, bleibt der nukleare Overkill die größte Gefahr für urbane Zentren. In der komplexen Weltlage nach Ende des Ost-West-Konflikts sind Städte weiter der Geißel des Krieges ausgesetzt, wie im Falle Sarajewos, ebenso Terrorangriffen.

Die Zerstörungen von Städten im Krieg sind spektakuläre und prägende Ereignisse, neben anderen Katastrophen wie Erdbeben, Bränden, Stürmen, Überschwemmungen und Terroranschlägen. Sie werden in Literatur und Medien inszeniert, von der Zerstörung Trojas bis zu Hollywood-Epen, wie »Independence Day« oder »The Day After (Tomorrow)«. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 wurde eine neue Qualität der Live-Berichterstattung über eine urbane Katastrophe erreicht.

Urbanisierung und Landflucht

Im Jahr 2008 lebte weltweit die Hälfte aller Menschen in Städten, davon fast ein Drittel in Slums und viele in Krisenherden. Mitte dieses Jahrhunderts dürfte die Stadtbevölkerung schon zwei Drittel ausmachen. Liegt der Grad der Verstädterung derzeit bei mehr als 80% in Nord- und Lateinamerika, so sind es in Asien und Afrika momentan noch weniger als 50%, allerdings mit stark wachsender Tendenz (DESA 2014). Von den 27 Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern im Jahr 2020 werden bis auf vier alle in Entwicklungsländern liegen, zwölf allein in Asien.

Herkömmliche Differenzen zwischen »moderner« Stadtbevölkerung und »traditioneller« Landbevölkerung werden überlagert durch Trennlinien zwischen Kapital und Arbeit, arm und reich, industriellen Zentren und landwirtschaftlich geprägten Entwicklungsperipherien. So leben einkommensstarke Bevölkerungsteile nicht immer in städtischen Zentren, sondern oftmals an ihrer Peripherie und in »Gated Communities«, abgeschottet durch aufwändige Sicherheitsapparate. Die weltweite Urbanisierung beschleunigt Transformations- und Austauschprozesse, Interaktionen und Netzwerke zwischen Stadt und Land, die eingebettet sind in lokal-globale Mehrebenenstrukturen.

Urbane Zentren sind aus vielen Gründen attraktiv: Aufgrund ihrer Größe und Siedlungsdichte sind sie Wachstums- und Entwicklungsmotoren, können Absatzmärkte erschließen, Produkte und Dienstleistungen effizient bereitstellen und verteilen, die Versorgungsinfrastruktur mit Wasser, Nahrung, Energie, Bildung und Gesundheit organisieren. Sie bieten Entwicklungschancen, am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilzuhaben, gerade auch für Frauen, und tragen damit zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums bei.

Unsicherheit in urbanen Gewalträumen

Andererseits schafft die explosive Verstädterung Unsicherheiten, die mit Risiken und Destabilisierungspotentialen verbunden sind. Hierzu gehören Armut und Hunger, Arbeitslosigkeit und Einkommensunsicherheit, Ungerechtigkeit und soziale Konflikte, Kriminalität und Terrorismus, Massenflucht und Gewalt. Als Produktionsorte und Absatzmärkte sind Städte mit den Prozessen der Globalisierung eng verknüpft. Güter- und Ressourcenflüsse belasten Stadt und Umland. Dem Urbanisierungsdruck ausgesetzt sind städtische Arbeitsmärkte und Versorgungssysteme, was zu Ressourcenknappheit, Umweltbelastung und dem Verlust von Ökosystemdienstleistungen führen kann. Der Klimawandel wird durch wachsende Emissionen städtischer Zentren mitverursacht und macht diese zugleich verwundbar, insbesondere in Risikozonen an Flussufern, Küsten und Überschwemmungsgebieten, die vom Meeresspiegelanstieg betroffen sind (Garschagen and Romero-Lankao 2013). Andererseits sind Städte für die Transformation der Produktions- und Konsummuster in eine nachhaltige Gesellschaft von zentraler Bedeutung.

Merkmale urbaner Räume sind die räumliche Nähe von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen, ethnischen Zugehörigkeiten, kulturellen Identitäten und sozioökonomischen Vermögenswerten, was zu Spannungen beitragen kann. Widersprüche und Grenzen der Stadtentwicklung zeigen sich in der Entwurzelung, Ausgrenzung und Marginalisierung vieler Menschen, der Segregation in den Städten, der Formierung von illegalen Siedlungen, Slums und Elendsgürteln, die Ausdruck einer höchst ungleichen und instabilen urbanen Welt und von sozialen Fronten der Globalisierung sind (Davis 2007). Hier verdichten sich die Widersprüche zwischen dem permanenten Wirtschaftswachstum, der Wohlstandsakkumulation in den Händen weniger auf Kosten vieler, der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und den natürlichen und sozialen Grenzen. Die Randzonen und Brennpunkte großer Städte bilden einen Resonanzboden für Extremismus, Gewalt und Konflikte und verstärken politische Instabilitäten und soziale Unruhen.

In Städten gibt es vielfältige Möglichkeiten, Gewalthandlungen durchzuführen und sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Existenzgefährdung und Unzufriedenheit fördern Strömungen, die sich über Netzwerke der Gewalt zusammenschließen. Verbrecher- und Terrornetze agieren weltweit aus und in urbanen Räumen; der Drogen- und Waffenhandel ist über eine Schattenwirtschaft mit der globalen Ökonomie verknüpft. Die in US-Städten, wie New York oder Los Angeles, beobachteten Gewaltspiralen (Drogenkrieg, Krieg der Gangs, ethnische Unruhen) finden sich auch in Megastädten anderer Erdteile, etwa in Mexico City, wo die Gewaltexzesse von Drogenkartellen polizeiliche Möglichkeiten überfordern.

Städte sind mit den heutigen komplexen Krisen und Konflikten eng verknüpft, die sich zu schwer lösbaren vernetzten Kriegen und Gewaltspiralen aufschaukeln können. Hierzu gehören auch die Konflikte im Gefolge des Ost-West-Konflikts im ehemaligen Jugoslawien (Sarajewo, Belgrad) und der Sowjetunion (Grosny), ebenso die Konflikte in Nahost (Bagdad, Aleppo). In vielen Ländern wurden städtische Plätze zu Bühnen des Protests, durch Politik und Medien verstärkt: in den Aufständen des Arabischen Frühlings (Tunis, Kairo), bei der Spaltung der Ukraine (Kiew), bei den Protesten in der Türkei (Istanbul), in Brasilien (Rio de Janeiro) und den USA (Occupy Wall Street). Städte wurden auch zum Nährboden für Islamismus und Terrorismus, die in den betroffenen Regionen (Nairobi, Bagdad, Beirut, Jerusalem) wie auch in westlichen Zentren (New York, London, Madrid, Paris, Brüssel) Angst und Schrecken verbreiteten. Dies provoziert weitere militärische Interventionen ebenso wie rechtspopulistische Strömungen (Alternative für Deutschland, Pegida, Front National).

Städte sind nicht nur Brennpunkte systemimmanenter Gefährdungen, sondern auch Handlungsräume für Interventionen von Polizei, Militär und Geheimdiensten, um eine Stabilisierung des Systems nach innen mit einer Abgrenzung nach außen zu erreichen. Solche Interventionen sind selbst wiederum mit negativen Begleiterscheinungen verbunden, wie Demokratieabbau und Ausspähung, Ausgrenzung und Abschottung, Versicherheitlichung und Militarisierung, die zum Problemkomplex beitragen. Überwachungssysteme zur Abwehr von Terroristen oder Migranten sind Teil eines Sicherheitsapparates, der nicht nur an nationalen Grenzen eine Kontrolle herstellen soll, sondern auch innerhalb der urbanen Gesellschaften.

Vernetzte urbane Kriegführung

Im Unterschied zum Kampf auf dem offenen Gefechtsfeld, bei dem schwere Waffen wie Kampfpanzer zum Einsatz kommen, geht es beim Stadtkrieg um den Kampf in dicht bebautem Gelände über kurze Entfernungen, oft Mann gegen Mann. Ziel ist meist die Kontrolle der Hauptverkehrsachsen und die Besetzung von Schlüsselobjekten der Infrastruktur, wie Wasser- und Gaskraftwerke, Anlagen des Stromnetzes oder der Schwerindustrie. Aufgrund der Behinderungen und Versteckmöglichkeiten in urbanen Strukturen ist ein hoher und gezielter Kräfteeinsatz des Angreifers erforderlich, will er zivile Schäden und »Friendly Fire« vermeiden. Rücksichtslose Kriegsparteien nehmen dagegen die weitgehende Zerstörung der Stadt in Kauf, um den Widerstand zu brechen, auch durch Luftangriffe, und führen zu massenhafter Flucht, Vertreibung und Tod.

Der Irakkrieg eröffnete ein neues Kapitel des Stadtkriegs. Nach der Eroberung Bagdads und dem Sturz des Saddam-Regimes wurde das Land für Militärs und aufständische Gruppen zu einem blutigen Übungsfeld für neue Strategien, um Städte zu kontrollieren oder einzunehmen. In der Schlacht um Falludscha 2004 hatten die US-Streitkräfte die Stadt mit einem Wall vom Umland abgeschlossen und die Einwohner aufgefordert, diese zu verlassen, um dann die verbliebenen Kämpfer zu eliminieren, wobei Falludscha weitgehend zerstört wurde. Diese Strategie wurde auch in anderen Städten, wie Tal Afar oder Samara, angewandt, sowie bei den jüngsten Kämpfen im Irak gegen den »Islamischen Staat«, um Städte, wie Tikrit oder Ramadi, abzuschotten und die Bevölkerung vor einem Angriff mit Luftwaffe und Artillerie zu evakuieren. Zurück blieben »befreite«, aber zerstörte Geisterstädte (Rötzer 2016).

Demgegenüber erschien Bagdad mit neun Millionen Einwohnern und einer Fläche von mehr als 200 Quadratkilometern zu groß, um die Stadt mit einer Mauer einzuschließen und so quasi zu einem Gefängnis zu machen, aus dem Gegner nicht mehr ausbrechen bzw. in das sie nicht mehr eindringen können. In der weitgehend »ethnisch gesäuberten« und von zahllosen Anschlägen heimgesuchten Metropole konzentrierte sich die militärische Kontrolle vor allem auf die »Green Zone« mit Regierungsinstitutionen und internationalen Einrichtungen. Zeitweise wurden Stadtviertel mit drei Meter hohen Betonmauern abgetrennt, deren Durchlässe von Pentagon-finanzierten Milizen kontrolliert wurden, um die Aufständischen von hier fern zu halten. Als der »Islamische Staat« nach dem Abzug der US-Truppen wieder in die Nähe von Bagdad vorrücken und Anschläge ausführen konnte, wurde der mittelalterlich anmutende Plan wieder aus der Schublade geholt, Bagdad mit einer Stadtmauer zu umgeben, mit Gräben und Überwachungssensoren (Rötzer 2016).

Ein anderes Beispiel ist die im syrischen Bürgerkrieg heftig umkämpfte Millionenmetropole Aleppo, die zwischen vier sich überschneidenden Fronten steht: Regime gegen Rebellen, Iran gegen Saudi-Arabien, Russland gegen USA, PKK gegen Türkei (Salloum 2016). Durch den jahrelangen Bürgerkrieg wurde Aleppo zur Geisterstadt, mit entvölkerten Straßen und durch Granaten- und Raketeneinschläge schwer beschädigten Wohngebäuden und zerstörten Kulturdenkmälern. Hunderttausende Menschen sind aus der umkämpften Stadt geflohen, zu Verwandten aufs Land, in die Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien oder nach Europa. Die verbleibenden Menschen saßen in der Falle, Lebensmittel wurden knapp, der Strom abgeschaltet, Güter und Treibstoff nicht durchgelassen, Ambulanzfahrzeuge und improvisierte Lazarette beschossen (dpa 2012). Viele Menschen haben sich in Schulen, Studentenwohnheime, Moscheen und andere öffentliche Gebäude geflüchtet.

In der heutigen vernetzten urbanen Kriegführung verschwimmen herkömmliche Grenzen des Krieges (Scheffran 2015). So kommen nicht nur reguläre und aufständische Truppen zum Einsatz, sondern auch private Sicherheitsdienste und Söldnerheere, durch die die Grenzen zu militärischen Einsätzen verwischen. Die Fraktionierung der Gewaltstrukturen macht die Zivilbevölkerung in Städten nicht nur zum Ziel, sondern auch zu möglichen Kombattanten. Die Vernetzung des Krieges mit der Gesellschaft in urbanen Zentren betrifft auch die Vorbereitung, Planung und Durchführung von Gewalteinsätzen, unter Nutzung der fließenden Übergänge zwischen zivilen und militärischen Infrastrukturen, die in urbanen Zentren ihre Hauptknotenpunkte haben. Dabei nutzt das Militär die zivil-militärische Zusammenarbeit zur Unterstützung bewaffneter Streitkräfte, ebenso wie die Einbindung der Streitkräfte in die Zivil- und Katastrophenschutzplanung, die besonders in urbanen Zentren relevant ist. Das Militär bedient sich ziviler Ressourcen (etwa des Polizeiapparats) und unterwirft sie seiner eigenen Logik. Im Kontext von Krisenreaktionskräften und Antiterrorkrieg kann eine gesellschaftliche Mobilisierung unter militärischem Kalkül eine Totalisierung von Konflikten befördern und Gewalteinsätze legitimieren. Damit einher geht die »hybride« Kriegführung, die komplexe und synergetische Kombination konventioneller und irregulärer Kampfweisen, in Verbindung mit terroristischen Aktionen und kriminellem Verhalten (Tamminga 2015).

Trotz aller Versuche der Abgrenzung und Ausgrenzung findet der Krieg in den Randzonen des Systems das Gegenstück eines entgrenzten Krieges in den westlichen Industrienationen und ihren urbanen Zentren. Terrorangriffe konzentrieren sich auf große Städte, wie Paris, da sie hier den größten Schaden anrichten und die stärkste symbolische Wirkung erzielen können. Mit den Terroranschlägen des 11. September 2001, bei denen zivile Passagierflugzeuge umgelenkt wurden, um zivile Ziele inmitten einer Großstadt zu treffen, und dem von George Bush ausgerufenen »Krieg gegen den Terrorismus« wurden Städte zum Kriegsschauplatz, wurden Koffer in einem Flughafen oder Bahnhof, Cyberattacken und Sabotage-Akte gegen Knotenpunkte der Infrastruktur Teil kriegerischer Gewaltakte. In dem Kontext erscheinen die Flüchtlinge aus den Krisengebieten, die in Europas Städte »vordringen« und sich mit potentiellen Terroristen vermischen könnten, ebenfalls als Sicherheitsbedrohung an einer »Heimatfront«, an der innere und äußere Sicherheit verschmelzen.

Der neue militärische Urbanismus

Angesichts komplexer Krisen und Sicherheitsrisiken und der Schwierigkeit, Städte mit Mauern zu schützen, entstehen Phantasien, in denen der Westen seine scheinbar unangreifbare technologische Macht nutzt, um die in Frage gestellte militärische, wirtschaftliche und politische Vorherrschaft wiederherzustellen. Ein Jahr nach den Attacken von 9/11 beschrieben die US-Sicherheitstheoretiker Mark Mills und Peter Huber in dem konservativen »City Journal« eine Zukunftsvision von Systemen zur Überwachung und Verfolgung in einer Hightech-Welt, die das Leben in den von fundamentalistischen Strömungen gefährdeten westlichen Städten durchdringt. Sie entwerfen einen neuen Krieg Stadt gegen Land: „Wir sind dazu bestimmt, eine nie endende Abfolge von mikro-skaligen Gefechten zu führen, weswegen wir unsere militärischen Ressourcen über große Flächen leeren Landes ausbreiten müssen […]. Klein und hoch mobil, sie können weit und breit gestreut werden – über Manhattan, dem reichsten Ort der Erde, und auch über dem Hindukusch, dem ärmsten.“ (Mills and Huber 2002)

Mills und Huber träumen von permanenter automatisierter und robotisierter Kriegführung, Terrorabwehr und Aufstandsbekämpfung, mit Überwachungssystemen, wie sie in Flughäfen eingesetzt werden. In seinem Buch »Cities Under Siege – The New Military Urbanism« beschreibt Graham (2011) kritisch, wie mit riesigen Datenbanken und Suchalgorithmen der Künstlichen Intelligenz in den Räumen und Infrastrukturen der Stadt, die potentiell durch Terroranschläge gefährdet sind, alle Personen und Ereignisse durch Überwachungssysteme automatisch verfolgt werden, um »vertrauenswürdige und kooperative« Objekte von »gefährlichen und nicht kooperierenden« zu unterscheiden. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich eine Grenze finden lässt, die Gefährder und Gefährdete so klar trennt, dass unbeabsichtigte Schäden und Fehlalarme vermieden werden. Da praktisch alle Komponenten urbaner Systeme (Behörden, Post, Strom, Internet, Finanzen, Produktionsstätten, Flug- und Transportsysteme, Sportanlagen, Konzertstätten, Restaurants, usw.) Ziel von Angriffen werden können und potentiell jeder Bürger ein Angreifer ist, wird hier der Traum von technologischer Allwissenheit und umfassender Militarisierung anvisiert.

Ein weiterer Schritt in diesem andauernden und überall geführten Krieg ist das Bestreben, nicht nur alles automatisch zu überwachen, sondern auch autonom töten zu können. Um die US-Truppen von dem schmutzigen Job zu verschonen, innerhalb von Städten zu kämpfen und zu töten, sollen Schwärme kleiner, bewaffneter Drohnen, ausgestattet mit modernen Sensoren und miteinander kommunizierend, eingesetzt werden, um permanent die Straßen, Wüsten und Autobahnen auszuspähen. Mills und Huber träumen von einer Zukunft, in der solche Schwärme von Roboter-Kriegern unermüdlich daran arbeiten, „die zerstörerische Macht präzise, umsichtig und aus sicherer Entfernung zum Einsatz zu bringen – Woche für Woche, Jahr für Jahr, so lange wie notwendig“.

Die Vision, technische Sicherheits- und Überwachungssysteme auf ganze Städte und Gesellschaften auszuweiten, hat zum Teil Einzug in die Sicherheitsplanung gehalten. Das von Raytheon konzipierte und umstrittene britische Programm »E-Borders«, mit dem durch hoch entwickelte Computer-Algorithmen und Data-mining-Techniken beim Grenzübertritt »illegale« oder »bedrohliche« Personen oder Verhaltensweisen aufgrund von »Ziellisten« und »biometrischen Visa« gescreent und identifiziert werden sollen, ist ein Beispiel für eine Überwachung in urbanen Räumen. Zwischen 2003 und 2015 wurden für das Programm mehr als 830 Mio. £ ausgegeben, ohne die volle Vision zu realisieren (NAO 2015).

Schwerer wiegt das Satellitensystem »Skynet« der US-amerikanischen National Security Agency, das Mobilfunkdaten von 55 Millionen Menschen in Pakistan auswertet, um den Aufenthaltsort möglicher Terroristen zu bestimmen, die dann per Knopfdruck eliminiert werden können (Grothoff and Porup 2016). Der Schritt zur Automatisierung der Tötung ist dann nicht mehr groß.

Foucaults Bumerang

Überwachungssysteme und technische Gewaltprojektionen in den Krisenregionen der Welt lassen sich auch auf die westlichen Kernzonen ausweiten. Statt Mauern aus Beton um europäische Städte zu errichten, werden die neuen Mauern an die Außengrenzen verlagert, um die Zentren gegen Bedrohungen der Peripherie zu schützen. Der neue militärische Urbanismus benutzt koloniale Kriegsgebiete, wie Gaza oder Bagdad, als »Testgelände« für Technologien, die dann auf den weltweit wachsenden Märkten für Heimatverteidigung verkauft werden. Damit werden auf den Straßen des Globalen Südens Modelle der Befriedung, Militarisierung und Kontrolle geschaffen, die sich auf die Städte kapitalistischer Kernländer im Globalen Norden übertragen lassen. Diese Synergie zwischen der äußeren und der nationalen Sicherheit ist ein Element des neuen militärischen Urbanismus (Graham 2011).

In der heutigen »postkolonialen« Periode ist das Aufleben von Konzepten aus der Kolonialzeit, die Techniken aus auswärtigen Kriegsgebieten zur Versicherheitlichung des westlichen urbanen Lebens benutzen, bemerkenswert. Michel Foucault hat dies als „Bumerang-Effekt“ bezeichnet: „Es sollte nie vergessen werden, dass zwar die Kolonisation mit ihren Techniken und ihren politischen und juristischen Waffen offensichtlich europäische Modelle in andere Kontinente transportiert hat, dies aber auch einen erheblichen Bumerang-Effekt auf die Mechanismen der Macht im Westen hatte.“ (Foucault 2003, S.103)

Es scheint nicht möglich, die Metropolen vor den Rückwirkungen ihrer Politik zu schützen, ohne neue Mauern zu errichten. Dass diese unüberwindbar sind, ist wenig wahrscheinlich, trotz des von Mills und Huber (2002) geäußerten Optimismus über die eigene Unbesiegbarkeit: „Kann die andere Seite die selben Technologien gegen uns wenden? Keine Chance. Sie herzustellen und zu nutzen bedarf einer digitalen Infrastruktur und einer digitalen Denkweise. Schon die Vorstellung, dass jemand einen »digitalen Jihad« führt, ist ein Widerspruch in sich.“ Im Kampf „ihrer Söhne gegen unser Silizium“ sind sich die Autoren sicher: „Unser Silizium wird gewinnen.“ Sie konnten damals noch nicht wissen, dass Gegner wie der IS den digitalen Jihad auf ihre Fahnen schreiben, was einen Teil ihres Einflusses ausmacht.

Die Überwindbarkeit christlicher Mauern war schon beim osmanischen Sieg über Konstantinopel deutlich geworden. Dies machte sich der türkische Staatspräsident Recep Erdogan 2015 anlässlich einer Kundgebung zum 562. Jahrestages der Eroberung Konstantinopels in Istanbul zu eigen: „Eroberung heißt Mekka. Eroberung heißt Sultan Saladin, heißt, in Jerusalem wieder die Fahne des Islams wehen zu lassen.“ (Yücel 2015) Demgegenüber wird Wladimir Putin zitiert: „Falls Erdogan nicht aufhört, Terroristen in Syrien zu unterstützen, werde ich […] Konstantinopel (Istanbul) wieder christlich machen.“ (AWDnews 2016) Was davon satirisch gemeint ist, sei dahingestellt.

Literatur

AWDnews (2016), 03.03.2016; awdnews.com.

Mike Davis (2007): Planet der Slums. Berlin: Assoziation A.

Department of Economic and Social Affairs (DESA (2014): World Urbanization Prospects – The 2014 Revision. New York: United Nations.

dpa (2012): Aleppo in Not – Die Stadt im Krieg ist die Hölle. merkur.de, 1.8.2012.

Michel Foucault (2003): „Society Must Be Defended“. Lectures at the College de France, 1975-76. London: Allen Lane.

Matthias Garschagen and Patricia Romero-Lankao (2013): Exploring the Relationships between Urbanization Trends and Climate Change Vulnerability. Climatic Change, Volume 133, Issue 1, S.37-52.

Stephen Graham (2011): Cities Under Siege – The New Military Urbanism. London: Verso.

Christian Grothoff and J.M. Porup (2016): The NSA’s SKYNET program may be killing thousands of innocent people. Ars Technica, 16.2.2016.

Dietrich Henkel (2013): Urbizid – Stadtmord. In: Leon Hempel, Marie Bartels und Thomas Markwart: Aufbruch ins Unversicherbare – Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S.397-420.

Manfred Konukiewitz (2008): Megastädte – Das Jahrtausend der Städte. Magazin zur Entwicklungspolitik, Nr. 68, 9/2008.

Mark P. Mills and Peter W. Huber (2002): How Technology Will Defeat Terrorism. City Journal, Winter 2002.

National Audit Office/NAO (2015): E-borders and successor programmes. Report by the Comptroller and Auditor General, ordered by the House of Commons. 1.12.2015.

Florian Rötzer (2016): Eine Stadtmauer gegen Terroristen für Bagdad. Telepolis, 05.02.2016.

Steven Runciman (1990): Die Eroberung von Konstantinopel 1453. München: C.H. Beck, 4. Auflage.

Raniah Salloum (2016): Schlacht um Aleppo – Der Vier-Fronten-Krieg. SPIEGEL Online, 16.2.2016.

Jürgen Scheffran (2015): Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden – Die Rolle von Wissenschaft und Technik. FIfF-Kommunikation 3/2015, S.34-38.

Oliver Tamminga (2015): Hybride Kriegsführung, SWP-Aktuell 27, März 2015.

Deniz Yücel (2015): Erdogan schwärmt von der Eroberung Jerusalems. DIE WELT, 31.5.2015.

Jürgen Scheffran ist Professor für Geographie und Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied der Redaktion von Wissenschaft und Frieden.

Städte als Ziele kriegerischer Gewalt

Städte als Ziele kriegerischer Gewalt

von Regina Hagen

Die vorliegende Ausgabe von W&F mit ihrem Schwerpunkt » Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume« enthält Artikel zu ganz unterschiedlichen Aspekten von Krieg, Konflikt und Gewalt im Zusammenhang mit Städten. Aktuell sind wir in den Medien fast täglich konfrontiert mit Bildern zerstörter Städte oder Stadtteile in Syrien, im Irak oder im türkischen Kurdistan. Aus gutem Grund sagt Alfred Marder in seinem Artikel über die Friedensbotschafter-Städte: „Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden: Die Städte und die Menschen in den Städten sind die Ziele der modernen Kriegsführung mit all ihren Schrecken. Wenn Krieg herrscht, können Städte ihren Dienst an den Bürgern nicht mehr erbringen – und sie können ihre Bürger nicht schützen.“

Dies gilt für den konventionellen, auch den asymmetrischen, Krieg, aber erst recht für den Einsatz von Atomwaffen. Hiroshima und Nagasaki wurden im August 1945 jeweils von nur einer, nach heutigen Maßstäben »kleinen«, Bombe zerstört. Nicht auszumalen wären die Folgen, würde eine nukleare Bombe mit hoher Sprengkraft über einer Stadt wie New York, Moskau, New Delhi oder Shanghai gezündet. Die internationale Städteorganisation Mayors for Peace (Bürgermeister für den Frieden) organisierte vor diesem Hintergrund vor knapp zehn Jahren die Petition »Cities Are Not Targets« – Städte sind keine Ziele. Mit dem Aufruf konnten die Bürgermeister weltweit mehr als eine Million Bürger aktivieren, Gehör bei den Atomwaffenstaaten fanden sie nicht.

US-Präsident Obama wird Ende Mai 2016 zum G7-Gipfel in Japan sein. Wäre es nicht an der Zeit, dass er bei dieser Gelegenheit auch nach Hiroshima reist, um dort noch vor Ende seiner Amtszeit den Opfern der Atombombe(n) die Ehre zu erweisen? Dies wäre ein richtiger und längst überfälliger Schritt, auch wenn er an der grundsätzlichen Lage nichts ändern würde: Sämtliche Atomwaffenstaaten rüsten kräftig auf, alleine die USA planen für die nächsten 30 Jahre mehr als eine Billion US$ dafür ein. Dabei hatten doch zumindest die fünf anerkannten Mitglieder des nuklearen Clubs im Nichtverbreitungsvertrag versprochen, zügig über die vollständige Abrüstung von Atomwaffen zu verhandeln. Der Vertrag trat vor 46 Jahren in Kraft, auf die Verhandlungen warten wir heute noch.

Das erzürnt nicht nur FriedensaktivistInnen, sondern auch die Regierungen zahlreicher Staaten, und animierte die Marshall Islands vor zwei Jahren dazu, vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klageverfahren einzureichen (mehr unter nuclearzero.org). Dabei geht es keineswegs um finanzielle Kompensation für die immensen Schäden, die die Marshall Islands durch 67 Atombombentests über ihrer Inselgruppe erlitten. Vielmehr soll der IGH alle Atomwaffenstaaten zur Rechenschaft ziehen, weil sie ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Abrüstung aus dem Nichtverbreitungsvertrag bzw. dem sich daraus ergebenden Völkergewohnheitsrecht seit fast fünf Jahrzehnten nicht nachkommen. Genau dies hatte der IGH in einem wegweisenden Rechtsgutachten bereits 1996 festgestellt: „Es gibt eine Verpflichtung, Verhandlungen […] fortzusetzen und abzuschließen, die zu atomarer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und effektiver internationaler Kontrolle führen.“ Ob der IGH die Klage der Marshall Islands annehmen wird, ist offen; eine siebentägige Anhörung zum Fall fand im März 2016 statt.

In den vergangenen Jahren wurde in mehreren Studien detailliert untersucht, was eine Atombombenexplosion konkret für eine Stadt bedeuten würde, z.B. für Bombay, Rotterdam, Lyon oder München. Mithilfe der einfach zu bedienenden Website nuclearsecrecy.com/nukemap können Sie die Folgen eines Atombombeneinsatzes auf Ihre Stadt selbst erkunden. Ich habe das für Den Haag getan, und zwar mit 170 Kilotonnen, das entspricht der maximalen Sprengkraft des US-Bombentyps B61-4, von dem bis heute knapp zwei Dutzend in den Niederlanden vorgehalten werden (so wie in Deutschland auch). Das Ergebnis lautet 284.180 Tote und 269.240 Verletzte. Den Haag beherbergt neben dem im Friedenspalast untergebrachten IGH zahlreichere andere mit dem Völkerrecht verbundene Institutionen, u.a. den Internationalen Strafgerichtshof, den Ständigen Schiedshof und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. All diese mühsam erkämpften Einrichtungen würden mit den BewohnerInnen hinweggefegt, ebenso wie alles andere, was städtisches Leben lebenswert macht: Infrastrukturen, Museen und Konzertsäle, Fußballstadien und Parks, Kinderspielplätze und, ja, die auch, Krankenhäuser.

Es besteht also kein Zweifel: Städte sind höchst verwundbare Ziele. Dazu braucht es keine Atomwaffen, wie die jüngsten Terrorangriffe in Brüssel und Paris zeigen, und urbane Gewalt wirkt, wie im diesem Heftschwerpunkt beschrieben, auch in ihren »alltäglichen« Ausprägungen fatal. Es gibt also viele Betätigungsfelder für ForscherInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen, um für friedliche Städte zu sorgen und ihre BewohnerInnen zu schützen – und die in ländlichen Regionen natürlich auch.

Ihre Regina Hagen

Im/Mobilität und Konflikt

Im/Mobilität und Konflikt

Internationale Konferenz bei der HSFK, 2.-4. September 2015, Frankfurt

von Sabine Mannitz

Als hätten sie die aktuelle Zuspitzung des Migrationsdrucks auf die EU geahnt, veranstalteten das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt und das europäische Netzwerk Peace and Conflict Studies in Anthropology (PACSA) Anfang September in Frankfurt eine internationale Konferenz zum Thema »Im/mobilities: Products and Generators of Conflict«. Im Mittelpunkt stand die Ambivalenz von Mobilität und Immobilität: Während die Welt zunehmend von der Wanderung und Zirkulation von Menschen, Ideen und Gütern geprägt ist, rufen dieselben Prozesse auch Einschränkungen, Exklusion und Immobilität hervor. Um zu beleuchten, wie solche Dynamiken in Konflikt- und in Friedenssituationen wirken, lag der Fokus thematisch auf der (Re-) Produktion von Machtbeziehungen und Identitäten in der sozialen Alltagspraxis.

Ein Eröffnungsvortrag von Professor Tobias Kelly, University of Edinburgh, unter dem Titel »The immobility of human rights« bildete am 2. September den Auftakt. Er beleuchtete das Dilemma, dass die Menschenrechte, die zu den global am weitesten gereisten Ideen zählen, auf der Praxisebene an konkrete Akteure und Orte gebunden sind und auch die Wahrnehmung und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in spezifische soziale und kulturelle Kontexte eingebettet ist. Die daraus resultierenden Ungleichgewichte der Dokumentation und Repräsentation lassen wiederum nur einen Teil der Fälle in den globalen Kommunikationsfluss wandern, während ein weitaus größerer Teil als ortsgebundene Praxis bagatellisiert und damit zugleich »immobilisiert« wird: Wo alltägliche Gewalterfahrungen an der Tagesordnung sind, werden Menschenrechtsverletzungen nicht unbedingt als solche wahrgenommen. Gerade weil die Menschenrechte »von weit her kommen« und zu den prominentesten Aushängeschildern der Vereinten Nationen zählen, haftet ihnen ein Nimbus an. Nicht wenige Opfer von Folter und Gewalt bringen das Menschenrechtskonzept daher nicht mit ihren eigenen Belangen in Zusammenhang.

Mehr als dreißig Teilnehmer/innen aus elf Ländern präsentierten und diskutierten im Verlauf der beiden anschließendenTage ihre Forschungsarbeiten zu sozialen Erscheinungsformen und Handlungsstrategien sowie Ursachen, Wirkungen und Widersprüchen von Im/mobilitätsprozessen aus der Perspektive einer ethnologischen Friedens- und Konfliktforschung. Mobilität ist ein Schlüsselkonzept der zeitgenössischen ethnologischen Theoriebildung: Der globale »travel of ideas« und daran anschließende Prozesse der Übersetzung, Lokalisierung oder Anpassung von Normen, Konzepten und Handlungsstrategien bildeten dementsprechend einen thematischen Schwerpunkt. Während unter den Anwesenden große Einigkeit darüber herrschte, dass diese kulturellen Bearbeitungsformen als Rahmenbedingungen politischen Handelns verstanden sein wollen, scheint ein Großteil der (insbesondere entwicklungs-) politischen Praxis weiterhin von Modernisierungstheorien und einem Denken in Modellen geleitet zu sein, die Probleme der Passfähigkeit erzeugen.

Eine große Anzahl der Konferenzbeiträge widmete sich überdies verschiedenen Aspekten des globalen Migrationsgeschehens. Dass Wanderungsprozesse zur Geschichte der Menschheit gehören und dies trotz nationalstaatlicher wie auch internationaler Bestrebungen um Steuerung und Kontrolle weiterhin so bleiben wird, ist unter EthnologInnen unstrittig. Mehr und mehr lassen sich jedoch im Umgang mit Migration neben der Hierarchisierung von erwünschten (vornehmlich den hochqualifizierten) gegenüber unerwünschten (Armuts-) MigrantInnen auch folgenreiche Praktiken expliziter Immobilisierung feststellen: Von der Errichtung physischer Grenzen über die Internierung von Flüchtlingen bis hin zur Verweigerung von Aufenthaltstiteln, welche zu Mobilität berechtigen sowie den Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt ermöglichen, ist ein Instrumentarium an Restriktionen zur Governance-Routine geworden, das den geografischen, sozialen, politischen und kulturellen Bewegungsraum der betroffenen Menschen empfindlich einschränkt.

Bei diesem Thema wurde deutlich, dass ethnografische Forschung sich in besonderer Weise eignet, die Unwägbarkeiten von Im/mobilitäts-Dynamiken offenzulegen. In Anbetracht der bestehenden Restriktionen entwickeln »immobilisierte MigrantInnen« Strukturen der Selbstorganisation und investieren in Techniken der Grenzüberschreitung, die sie teilweise Pioniere sein lässt, wo sie zu Parias gemacht werden. So stieß ein niederländisches Projektteam in seiner Forschung in Zentralafrika auf Kriegsflüchtlinge, die mittels mobiler Informations- und Kommunikationstechnologien transnationale Brücken zwischen ihrem Leben im Exil und den verschiedenen Herkunftsregionen schlagen, auf denen Wissen über das Konfliktgeschehen an verschiedenen Orten, Informationen über Versorgungs- und Zufluchtsmöglichkeiten oder Rückkehroptionen ausgetauscht werden. Als Vermittler, die zwischen den Friedensräumen und den Konfliktzonen Zentralafrikas Verbindungen schaffen, übernehmen sie für die soziale Bewältigung der Konfliktfolgen eine wichtige Funktion und bieten zugleich strukturelle Anknüpfungspunkte für Friedensinitiativen.

Sabine Mannitz

Das Tempelhofer Feld

Das Tempelhofer Feld

Konflikte um Gentrifizierung, Interessen und das Recht auf Stadt

von Inga Jensen

In W&F 1-2014 berichteten Elena Vazquez Nuñez und César Amaya, wie die Immobilienblase in Spanien zu Hunderttausenden von Zwangsräumungen, aber auch zu teilweise erfolgreichen Protesten dagegen führte. Die Autorin dieses Artikels widmet sich einem anderen Mechanismus, der zur Verdrängung angestammter Bevölkerungen in Stadtvierteln führt. Am Beispiel des Tempelhofer Feldes in Berlin und des benachbarten Schillerkiezes beschreibt sie, wie die Erschließung bislang brach liegender Flächen droht, in einem Anstieg des Mietpreisniveaus, der Verdrängung der heutigen BewohnerInnen und der Gentrifizierung zu münden.

Am Tag der Europawahl, am 25. Mai 2014, wird in Berlin das Volksbegehren gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes zur Abstimmung kommen. Der stillgelegte Flughafen, zentrumsnahe in Berlin gelegen und fast 400 ha groß, ist seit 2010 der Öffentlichkeit als Park zugänglich. Jetzt will der Senat die Ränder des Feldes mit Wohnungen, Geschäften und der neuen Landesbibliothek bebauen und die Freifläche mit Wasserflächen und Sportanlagen umgestalten. Gegen diese Pläne des Senats regt sich Widerstand, etwa von der Initiative »100% Tempelhofer Feld«, der Initiatorin des Volksbegehrens.

Die Gründe, die gegen die Bebauung und Umgestaltung angeführt werden, sind vielfältig: Umwelt- und Naturschutz, die Forderung nach direkter Demokratie und Partizipation an städtischen Planungsprozessen sowie die Angst vor Verdrängung im Schillerkiez neben dem Tempelhofer Feld.

Gentrifizierung und ökonomische Inwertsetzung

In den vergangenen Jahren, insbesondere seit der Schließung des Flughafens und der Eröffnung des Parks, konnte eine starke Veränderung der Sozial- und Infrastruktur des Schillerkiezes beobachtet werden. Der vermehrte Zuzug von KünstlerInnen, Studierenden und jungen Familien, die Eröffnung von Bars, Cafés und Friseursalons werden als vermeintliche Vorboten eines Gentrifizierungsprozesses im Kiez wahrgenommen. Aufgrund dieser vermeintlichen »Sichtbarkeit« von Verdrängungsprozessen und der populärwissenschaftlichen Rezeption des Begriffs »Gentrifizierung« in den Feuilletons der großen Wochenzeitungen, fungiert der Begriff als „leerer Signifikant“ (Zizek 2002, S.75), der von verschiedenen Seiten unterschiedlich gefüllt wird. Hierbei wird häufig übersehen, dass Gentrifizierung kein natürlicher oder kultureller Prozess ist, sondern auf der ökonomischen Inwertsetzung von Wohnraum fußt und diesen zu einem ertragsreichen Spekulationsobjekt macht.

Gerade in Vierteln, deren durchschnittlicher Mietpreis deutlich unter dem Mietniveau anderer innerstädtischer Viertel liegt, können staatliche Interventionen, Subventionen oder die Errichtung attraktiver Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten in der Nähe eines Viertels zu einem Aufwertungsprozess führen. Die »rent gap«, also die „Ertragslücke und somit die Aussicht auf eine hohe Rendite für Investoren“ (Smith 2007, S.9), ist in diesen Vierteln besonders hoch. Dies führt häufig dazu, dass Häuser verkauft, saniert und zu gestiegenen Preisen wieder vermietet werden, da die InvestorInnen die Investitionskosten über die Mieten amortisiert wissen wollen. Die neuen Mieten kann sich die ursprüngliche Bewohnerschaft meist nicht mehr leisten (Holm 2010, S.10).

Gentrifizierungsprozesse sind also nicht an der Zunahme von Galerien und Latte-Macchiato-Bars oder dem Zuzug von Studierenden und KünstlerInnen ablesbar, sondern an den Folgen der ökonomisch basierten direkten und indirekten Verdrängungsprozesse. Denn neben der ökonomischen Inwertsetzung führen auch städtische Förderprogramme und Subventionen zur Aufwertung von Stadtvierteln (Holm 2010, S.11).

Dies ist am Beispiel des Tempelhofer Feldes gut zu illustrieren. Aufgrund der steigenden Grundstückpreise auf dem Immobilienmarkt steigt auch der Wert von Freiflächen und Parks, weshalb es für die Stadt immer attraktiver wird, solche Flächen zu veräußern und, wie jetzt auf dem Tempelhofer Feld geplant, eine Teilbebauung anzustreben. Es wird zwar argumentiert, dass hier auch sozialer Wohnraum geschaffen werden soll und es durch die Bebauung bisher ungenutzter Flächen nicht zu Verdrängungsprozessen komme. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Gentrifizierungsprozess in den angrenzenden Kiezen durch eine Bebauung des Tempelhofer Feldes noch an Dynamik gewinnen wird (Holm 2010, S.14f).

Gerade „die Errichtung so genannter Townhouses auf städtischen Brachen haben einen nur scheinbar verdrängungsneutralen Charakter. Zum einen werten spektakuläre Neubauten auch die umliegenden Wohnviertel auf, insbesondere, weil die in unmittelbarer Nachbarschaft realisierten Bodenwertrenditen die Begehrlichkeiten anderer Eigentümer_innen wecken. Zum anderen verschärfen sie die Schließung innerstädtischer Wohnungsmärkte für ärmere Haushalte, da sich der Anteil preiswerter Wohngelegenheiten in den betroffenen Gebieten reduziert.“ (Holm 2010, S.14f) Ist doch davon auszugehen, dass die Mieten weiter steigen und sich zunehmend nur noch „Haushalte mit hohen Einkommen […] grüne Wohnanlagen mit einem hohen Anteil an privatem und öffentlichen Grün und entsprechend hohen Mieten bzw. Immobilienpreisen leisten“ können (Rosol 2011, S.99).

Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, lediglich denen die Schuld zu geben, die sich die steigenden Mieten im Schillerkiez leisten können und wollen. Vielmehr ist es von Interesse, die Akteure, welche eine gezielte Aufwertung im Schillerkiez und die Bebauung des Feldes forcieren, und ihre Strategien der Aufwertung zu betrachten. Dazu sollen im Folgenden die Strategien der Akteure skizziert und ihre Interessen an einer Bebauung vorgestellt werden.

Akteure und Strategien

Bei der Argumentation der BebauungsbefürworterInnen fällt auf, dass diese in ihrer Strategie hauptsächlich drei »leere Signifikanten« artikulieren: »Wohnraum schaffen«, »soziale Mischung« und »Attraktivitätssteigerung«. Diese Argumente werden dabei von unterschiedlichen (hauptsächlich institutionalisierten) Akteuren vertreten, deren artikulierte Strategien, trotz unterschiedlicher Interessen, miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig bedingen.

Wohnraum schaffen

Die Strategie »Wohnraum schaffen«, die vom Verband der Wohnungsunternehmer Berlin Brandenburg (BBU), der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (SSU) und den stadteigenen GmbHs vertreten wird, ist zugleich Ausgangspunkt für die von den anderen Akteuren verfolgten Strategien.

Die »Wohnraum schaffen«-Akteure bewerben den Neubau von Wohnraum als Schlüssel zur Eindämmung der Berliner Wohnungsknappheit. Dabei wird versichert, dass bei der Bebauung ein besonderes Augenmerk auf sozialverträglichen Wohnraum mit bezahlbaren Mieten gelegt werden soll (SSU 2013b). Laut Gerhard Steindorf, dem Geschäftsführer der »Tempelhof Projekt GmbH«, ist jedoch bereits absehbar, dass die „citynahen Flächenpotenziale des Tempelhofer Feldes“ (SSU 2013a) ihren Preis haben werden. Die Mietpreise auf dem Feld werden vermutlich bei etwa 14 Euro/qm liegen, sofern sie nicht durch staatliche Regulation gedeckelt werden (Kleilein 2012, S.52). Steindorf spricht gegenüber der Zeitschrift »Stadtbauwelt« allerdings davon, es sei davon auszugehen, dass es „aufgrund der Haushaltslage keine Politik der großen Förderprogramme“ (ebd.) seitens der Stadt geben werde, etwa für sozialen Wohnungsbau auf dem Tempelhofer Feld. Daher stellt sich die Frage, welche Strategien die Akteure dann mit ihrem Zuspruch zur geplanten Bebauung verfolgen.

Aufgrund der Kosten für die Instandhaltung des Feldes ist den städtischen Institutionen daran gelegen, durch den Verkauf und die Verpachtung von bisher unrentablem Brachland Kosten einzusparen. Zudem ist die »rent gap« auf dem Tempelhofer Feld maximal, sodass die Stadt von hohen Gewinnen durch den Verkauf und die Verpachtung von Grundstücken ausgehen kann. Auch der BBU bzw. seine Mitglieder haben ein Interesse an den Geschäften auf dem Tempelhofer Feld. Grundstücke und Neubauten versprechen dort angesichts der stark ansteigenden Preise bei Neuvermietungen im Schillerkiez eine hohe Rendite. Da der erwartete Durchschnittsmietpreis mit 14 Euro/qm mehr als doppelt so hoch ist, wie die bisherigen 6,24 Euro/qm bei Neuvermietungen im Schillerkiez, wird sich die Sozialstruktur dort zweifellos ändern.

Selbst wenn die Wohnungen auf vermeintlich „verdrängungsneutrale[m]“ (Holm 2010, S.14) Grund errichtet werden, ist absehbar, dass sich der Preisanstieg auch auf den angrenzenden Kiez ausweiten und auch dort zu einer Verdrängung der bisherigen BewohnerInnen führen wird. Die Strategie »Wohnraum schaffen« gibt somit dem Gentrifizierungsprozess im Schillerkiez einen weiteren Anstoß.

Soziale Mischung

Die mit diesem Prozess einhergehende Veränderung der Sozialstruktur wird in der Debatte mit der Strategie der »sozialen Mischung« verknüpft. Die Forderungen weiterer Akteure, wie dem des Quartiersmanagements (QM)«, nach „sozial ausgeglichenen“ Stadtvierteln sowie nach „Stabilisierung und Aufwertung“ (QM Schillerkiez 2013) des Kiezes, werden durch den Zuzug einkommensstarker Haushalte in den Kiez erfüllt. Bei der »sozialen Mischung« geht es nicht darum, ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen in einer Nachbarschaft zu ermöglichen, sondern so genannte »Problemviertel« aufzuwerten und zu stabilisieren. Dies wird durch den Zuzug einkommensstarker Haushalte erreicht, verdrängen sie doch die vermeintlich »problematische«, häufig einkommensschwache Bewohnerschaft des Kiezes.

Attraktivitätssteigerung

Die beiden Argumentationsketten »Wohnraum schaffen« und »soziale Mischung« werden durch die dritte Strategie, die »Attraktivitätssteigerung«, ergänzt. Aufgrund der steigenden Mieten und des Zuzugs neuer Bevölkerungsschichten bei gleichzeitiger Verdrängung der eingesessenen Bevölkerungsschicht, ändert sich sowohl das Image als auch die (Infra-) Struktur eines Viertels. Dass genau diese »Attraktivitätssteigerung« gewünscht ist, zeigt sich in den von der Landespolitik geplanten „Leuchtturmprojekten“ oder „Ankerinvestitionen“ am Rande des Feldes, die die Akteure forcieren, um das Viertel aufzuwerten und „die Attraktivität zu steigern“ (Grün Berlin GmbH 2012). Das dadurch steigende Image des Viertels führt in der Folge dazu, dass mehr InvestorInnen, aber auch Besserverdienende, bereit sind, sich am Rande des Tempelhofer Feldes niederzulassen, neu zu bauen oder bereits bebaute Flächen zu mieten.

An dieser Stelle schließt sich der Zirkel, der die verschiedenen Strategien der Akteure miteinander verbindet: Die gesteigerte Attraktivität und der daraus resultierende weitere Zuzug von Unternehmen sowie das Interesse von InvestorInnen an dem Viertel wird sich wiederum in den Mieten und Grundstückspreisen niederschlagen. Den BebauungsbefürworterInnen gelingt es also, ihre Strategien so zu artikulieren und ihre Interessen so zusammenzufügen, dass diese in Form einer komplexen Argumentationskette ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Auf diese Weise konnten die Akteure ihre Interessen hegemonial artikulieren und schon vor dem Volksentscheid durch erste Baumaßnahmen auf dem Feld (Pflanzung von Bäumen, Absperrung von Arealen) Tatsachen schaffen.

Möglich ist dies, weil sich die BebauungsbefürworterInnen als institutionalisierte Akteure und als Teil eines Staatsapparatenensembles auf deutlich mehr materielle, organisatorische und diskursive Ressourcen stützen können als die nicht institutionalisierten Initiativen der BebauungsgegnerInnen (Poulantzas 2002, S.165). Diese finanziellen und personellen Ressourcen ermöglichen es den BefürworterInnen als „organische Intellektuelle“ (Gramsci 2012), bestimmte Einzelinteressen zu universalisieren und als Berliner Gesamtinteresse darzustellen.

Wie weiter? Chancen und Interventionsmöglichkeiten

Der hier nachgezeichnete Konflikt um die Bebauung des Tempelhofer Feldes ist nur eines von vielen Beispielen, an denen sich die Frage »Wem gehört die Stadt?« stellen lässt. Gerade in der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Verdrängung von Prekarisierten aus dem innerstädtischen Raum zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden. Besonders in Krisenzeiten sucht das Finanzkapital nach sicheren Anlagemöglichkeiten und findet diese in günstigem Wohnraum und Immobilien. Die Immobilienpreise und Mieten steigen zugunsten der Renditen der Anleger immer weiter, fachen Verdrängungsprozesse von Prekären an oder befeuern diese (Altvater 2010, S.52). Zudem versuchen die Städte durch Investitionsprogramme und Subventionen häufig, InvestorInnen anzulocken, um sich selbst im internationalen Wettbewerb der Metropolen besser zu positionieren. Auch dadurch steigen die Grundstücks- und Mietpreise im innerstädtischen Bereich stark an (Holm 2010, S.41ff).

Parallel führen die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die europäische Austeritätspolitik dazu, dass für viele Menschen in Europa die soziale Krise spürbarer und alltäglicher wird, etwa in Form prekärer Beschäftigung, Erwerbslosigkeit und privater Verschuldung (Huke/Syrovatka 2012, S.11). Gerade in Südeuropa können viele Menschen nicht mehr für lebensnotwendige Dinge, wie Gesundheitsvorsorge, Lebensmittel und auch Wohnen, aufkommen. Eine Folge der Austeritätspolitik ist daher die zunehmende Zahl an Zwangsräumungen. Doch gerade gegen Zwangsräumungen konnten soziale Bündnisse in den letzten Jahren erhebliche Erfolge verbuchen. Der große Mobilisierungserfolg ist unter anderem der breiten Anknüpfungsfähigkeit des Themas geschuldet, können die Kämpfe um Wohnraum und das Recht auf Stadt doch als Referenzpunkt für viele andere Kämpfe, etwa um Reproduktion, prekäre Arbeit und die Energiekrise, dienen (Jensen/Syrovatka 2013).

Gegen die autoritäre Austeritätspolitik und die neoliberale Stadtentwicklung, die sich allein an der Verwertbarkeit und Rentabilität von städtischem Raum orientieren, statt an den Bedürfnissen derer, die die Stadt nutzen und produzieren, formiert sich breiter Protest, etwa im Kampf gegen Zwangsräumungen, Verdrängung und die kapitalistische Inwertsetzung öffentlicher Räume. Das Volksbegehren gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes ist ein Beispiel für die Forderung der Menschen nach Selbstverwaltung und -organisation, Verantwortung und einen Planungsprozess von unten.

Literatur

Elmar Altvater (2010): Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen von Politik und Natur. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Grün Berlin GmbH (2012): Veranstaltungen 2012 – Studioberlin präsentiert sich auf dem Tempelhofer Flugfeld; gruen-berlin.de.

Antonio Gramsci (2012): Gefängnishefte. Hamburg: Argument.

Andrej Holm (2010): Wir bleiben Alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster: Unrast.

Nikolai Huke und Felix Syrovatka (2012): Trotz Wachstumspakt kein Kurswechsel. analyse& Nr. 580.

Inga Jensen und Felix Syrovatka (2013): Das Kapital walzt durch die Städte. analyse&kritik Nr. 585.

Doris Kleilein (2011): Wieviel Markt verträgt die Stadt. Stadtbauwelt Nr. 191/2011.

Nicos Poulantzas (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA-Verlag.

Quartiermanagement Schillerkiez (2013): Quartiersmanagement; schillerpromenade-quartier. de/.

Marit Rosol (2011): Ungleiche Versorgung mit städtischen Grün- und Freiflächen – (k)ein Thema für die Freiraumplanung? In: Bernd Belina, Norbert Gestring, Wolfgang Müller, Detlev Stäter (2011): Urbane Differenzen. Disparitäten innerhalb und zwischen Städten. Münster: Westfälisches Dampfboot, S.98-114.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (2013a): Senat spricht sich gegen Volksbegehren zum Erhalt des Tempelhofer Feldes aus. Pressemeldung vom 16.4.2013.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (2013b): Senator Müller stellt den Bürgerinnen und Bürgern den Masterplan Tempelhofer Freiheit vor. Pressemittelung 6.3.2013.

Neil Smith (2007): Interview mit Prof. Dr. Neil Smith von der City University of New York. Mieterecho Nr. 324, Zeitung der Berliner Mieter Gemeinschaft e.V. Berlin.

Slavoj Zizek (2002): Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Inga Jensen studiert Politik und Historische Urbanistik in Marburg, Berlin und Istanbul.

Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore

Ukraine-Konflikt und geopolitische Eigentore

von Uli Cremer

In der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland erweiterte Russland seine direkte Einflusssphäre und verleibte sich im März 2014 nach einem Blitzreferendum die Krim ein – zweifellos ein völkerrechtswidriger Akt. Nach westlicher Lesart ist der Kreml zudem für alle Eskalationen in der Ostukraine verantwortlich. Der Ministerpräsident der ukrainischen De-facto-Regierung, Jazenjuk, wirft Russland gar vor, den Dritten Weltkrieg anzetteln zu wollen. Nun fragen sich viele, wie der Westen mit der Situation umgehen soll. Schließlich will man die Angliederung der Krim nicht akzeptieren und anerkennen. Das hat die Weltgemeinschaft auch bei Nordzypern nicht getan, das 1974 mithilfe türkischer Truppen von Zypern abgetrennt wurde. Jene, die Russland die alleinige Verantwortung für die Eskalation zuweisen, finden jetzt müssten, anders als damals im Falle Nordzypern, gegen Russland militärische, wirtschaftliche und kommunikative Strafen verhängt werden.

Bereits beschlossen sind so genannte intelligente Sanktionen mit primär symbolischer Wirkung. Hauptvorteil solcher Sanktionen war und ist seit ihrer Erfindung vor gut 15 Jahren, dass sie fast nichts kosten – auch wenn gerne darauf verwiesen wird, dass sie die »Richtigen« träfen und die unschuldige Bevölkerung schonten. Allerdings wird die russische Regierung in ihrer Krimentscheidung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung Russlands unterstützt. Insofern stellt sich die theoretische Frage, ob nicht auch umfassende Sanktionen die »Richtigen« träfen – von den Minderheiten abgesehen, die in Russland gegen die Annexion der Krim auf die Straße gehen.

Umfassende Wirtschaftssanktionen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Länder, die solche Sanktionen gegen andere verhängen, fügen sich immer auch selbst Schaden zu. Wer sich mit Wirtschaftssanktionen näher befasst, weiß: Gegen kleine, schwache Staaten wirkt das Mittel, bei den großen Playern hingegen funktioniert es nicht. Daher wurden 2003, als die Bush-Regierung den Irak-Krieg begann, von niemandem ernsthaft Sanktionen gegen die USA in Erwägung gezogen. Zweifellos ist auch Russland als neuntgrößte Industrienation der Welt ein großer Player. Die FAZ weiß: „Wer eine Staatsverschuldung von nur 13 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) und Devisenreserven von mehr als 470 Milliarden Dollar verwaltet sowie mit einer von staatlich kontrollierten Konzernen dominierten Branche die zweitgrößten Erdgasreserven und die achtgrößten Erdölvorkommen der Erde abbauen lässt, der hat einen langen Atem.“ (Benjamin Triebe: Putin kann sich noch viele Scharmützel leisten. 23.4.2014) Zwar wird öffentlich gern hervorgehoben, die westlichen Sanktionen würden bereits jetzt die russische Wirtschaft schädigen (Rubelverfall, Abzug von Geldern). Das deklamierte Ziel ist aber ein politisches Nachgeben der russischen Regierung – und das ist in keiner Weise in Sicht.

Während es für die Europäische Union kurzfristig möglich war, auf syrische oder iranische Ölimporte zu verzichten, hat das Ausmaß der energiepolitischen Verflechtung und damit die Abhängigkeit von Russland eine andere Dimension. Unterbände die EU kurzfristig die Einfuhr von Öl und Gas aus Russland, ließe die nächste Weltwirtschaftskrise vermutlich nicht lange auf sich warten.

Eigentlich geht es bei der Debatte um das russische Gas um eine langfristige strategische Weichenstellung: Sollen Zusammenarbeit und Handel mit Russland in den nächsten Jahren auf homöopathisches Niveau heruntergefahren werden oder sollen die Beziehungen auf allen Ebenen intensiviert werden? Logische Begleiterscheinung der westlichen Abwendung von Russland wäre dessen stärkere Hinwendung zu China, inklusive der Realisierung entsprechender Pipelineprojekte – ein klassisches geopolitisches Eigentor also.

Grundsätzlich sind Kooperation und Handel ein guter Weg zum Verhindern von Kriegen und zum Einhegen von Konflikten. Man stelle sich einmal vor, es gäbe aktuell die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen EU und Russland nicht! Das unmittelbare Abdriften in konfrontative militärische Reaktionsmuster wäre vorgezeichnet. Deswegen ist es politisch wichtig, die Zusammenarbeit zu verteidigen. Die Debatte um alternative Lieferanten oder Energieautarkie führt in die falsche Richtung. Erneuerbare Energien müssen aus Umweltgründen ausgebaut werden und nicht, um »unabhängig von Russland« zu werden. Auch in der Energiepolitik gilt: Sicherheit gibt es nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland. Deswegen sollten die EU-Staaten weiterhin Erdgas aus Russland beziehen.

Seitens derjenigen, die (auch) dem Westen Schuld an der Zuspitzung der Lage geben, wird gern und häufig auf die Ausdehnung der NATO nach Osten als Ursache für das russische Handeln verwiesen. Während sich der Warschauer Pakt 1991 aufgelöst habe, habe die NATO nicht nur weiter bestanden, sondern neue Mitglieder aus der Region der ehemals sowjetischen Einflusszone aufgenommen.

Putin sagte 2007 in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, die NATO-Erweiterung sei „ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt“. Er sah die Erweiterung also nicht als akute militärische Bedrohung an. Das wäre auch ziemlicher Unsinn, und zwar aus drei Gründen:

1. Die militärischen Potentiale der NATO des Kalten Krieges waren gegen den Warschauer Pakt gerichtet. Das war die alte NATO, nennen wir sie mit NATO-Generalsekretär Rasmussen NATO 1.0. Seit 1991 wurde jedoch eine neue NATO, die NATO 2.0, geschaffen. Sinn ihrer Existenz sind nunmehr Militärinterventionen, also Einsätze der NATO jenseits ihrer Außengrenzen (Kosovo-Krieg), im Wesentlichen außerhalb Europas (Afghanistan-Krieg). Statt neue Waffen für einen eventuellen Krieg gegen Russland zu beschaffen, stellte die NATO auf schnell verlegbare Expeditionstruppen um. Die Manöverszenarien der NATO Response Force spielten nicht am Ural, sondern sehen Einsätze gegen kleine Staaten in Afrika oder Asien vor. Die neuen NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa traten der NATO 2.0 bei, und das fiel ihnen spätestens auf, als sie die ersten Truppen nach Afghanistan schickten.

2. Die NATO errichtete in den Beitrittsländern keine relevanten Stützpunkte. Selbst die 5.000 in Rumänien und Bulgarien stationierten US-Soldaten wären „für einen Überraschungsangriff auf Russland […] gar nicht geeignet“, sind vielmehr „für Einsätze außerhalb des KSE-Bereichs“ vorgesehen (Hannes Adomeit und Frank Kupferschmidt: Russland und die Nato. Berlin: SWP, März 2008, S.21).

3. Die NATO 2.0 verbündete sich im Rahmen der »Partnerschaft für den Frieden« bereits in den 1990er Jahren mit Russland. Ein NATO-Russland-Rat wurde gebildet, auch wenn dieser immer gerade dann, wenn man sich wieder einmal stritt, vorübergehend suspendiert wurde. Die NATO und Russland hielten gemeinsame Manöver ab. Und nicht zuletzt unterstützte Russland von Beginn an den Afghanistan-Krieg, insbesondere logistisch.

Die Charakterisierung der NATO-Osterweiterungen als »Eindämmungspolitik«, wie in NATO-kritischen Kreisen üblich, ist also unscharf bzw. alarmistisch. Eine militärische Eindämmung ist nur möglich, wenn auch die entsprechende militärische Infrastruktur bereitgestellt wird. Genau die hat die NATO in Hinblick auf Russland aktuell eben nicht. Entsprechend kann es zur Zeit nur um politische Reaktionen gehen.

Allerdings werden die Rufe nach militärischer Eindämmung schon seit einigen Wochen lauter, und so profitiert die NATO doch von der Ukraine-Krise. In Deutschland verlangte Ministerin von der Leyen: „Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt.“ (Spiegel Online, 22.3.2014) Andreas Schockenhoff, bis Anfang 2014 Russland-Koordinator der Bundesregierung, assistierte: „Es ist daher unerlässlich, dass die Nato für eine glaubwürdig kollektive Verteidigung unserer östlichen Bündnispartner auch eine permanente Verlegung von militärischen Fähigkeiten prüft.“ (Andreas Schockenhoff: Abschreckung ist kein Tabu. FAZ 28.4.2014) Und so sieht es auch Dominic Johnson, Leiter des Auslandsressorts bei der taz: „Die Nato sollte jetzt ihre weitgehend nutzlosen Rüstungsarsenale endlich dort in Stellung bringen, wo sie tatsächlich Schutz bieten könnten, nämlich in Osteuropa.“ (taz 30.4.2014)

Letztlich ginge es dabei um ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Die finanzielle Dimension wäre enorm: Eine dem Kalten Krieg vergleichbare „Infrastruktur an den heutigen östlichen Außengrenzen der Nato aufzubauen dürfte Hunderte von Milliarden Euro kosten“ (Niklas Busse: Krieg gegen Russland. FAZ 3.11.2008). Die Militärhaushalte müssten geradezu explodieren. Genau dies fordert taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath: „Alle EU-Staaten sollten gemeinsam beschließen, den Verteidigungshaushalt um mindestens ein Drittel anzuheben, parallel zum Aufstocken konventioneller Streitkräfte und technologischer Innovationen […] Der Westen würde nur wiederholen, was US-Präsident Ronald Reagan in den 1980ern vorexerzierte. Totrüsten ohne Tote.“ (taz 29.4.2014)

Das NATO-Dilemma: Es wären Investitionen in militärische Projekte, die für Interventionen in Ländern des Südens größtenteils unbrauchbar wären. Einen Militärstützpunkt in Estland kann man nicht für eine Intervention im Sudan oder in Sierra Leone gebrauchen. Statt in die NATO 2.0 würde in die NATO 1.0 investiert. Im Ergebnis würde der Westen dem chinesischen Rivalen Terrain überlassen – ein weiteres geopolitisches Eigentor.

Zwar ist das Vertrauen zwischen den westlichen Regierungen und Moskau momentan am Nullpunkt angekommen. Eine militärische Zuspitzung à la Kalter Krieg ist bisher aber nicht erkennbar. Die Verlegung von Flugzeugen oder kleinen Truppenteilen nach Polen oder ins Baltikum sind keine substantielle Mobilmachung sondern reine Symbolpolitik. Das gilt auch für geplante Manöver in der Ukraine. Sofern der Westen keine geopolitischen Eigentore schießen will, hat die vom Zaum gebrochene militärpolitische Debatte diesen Sinn: Der politische Konflikt soll genutzt werden, um die Militäretats zu erhöhen, Waffen zu beschaffen und Truppenverbände aufzustellen, die gar nicht gegen Russland, sondern im Süden (z.B. in Afrika) eingesetzt werden können und sollen. Das ist die eigentliche Agenda. Als Kollateralschaden der Ukraine-Krise muss also mit steigenden Militäretats gerechnet werden.

Uli Cremer ist einer der Initiatoren der »Grünen Friedensinitiative« und Autor des Buches »Neue NATO: die ersten Kriege«.