Zur Entwicklung des Gegenübers

Zur Entwicklung des Gegenübers

Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten

von Ulrich Wagner und Christoph Butenschön

In den großen Konflikten der letzten Jahrzehnte – von den Balkankriegen über Libyen, Ägypten bis zu Syrien – wurden und werden nationale, ethnische und/oder religiöse Zugehörigkeiten thematisiert und benutzt, um die eigenen Reihen zu schließen und sie gegen Einflüsse des Gegenübers abzuschotten. Die Autoren gehen aus sozialpsychologischer Sicht der Frage nach, welche psychologischen Mechanismen bei der Austragung solcher Intergruppenkonflikte als Erklärung herangezogen werden können.

Verschiedene Modelle aus der Sozialpsychologie, Soziologie und Konfliktforschung sehen in der Auseinandersetzung von Gruppen um materielle Ressourcen eine wesentliche Ursache für die Entstehung von negativ eskalierenden Intergruppenkonflikten. Die klassische Arbeit, die diese Annahme dokumentiert, wurde von Mustafer Sherif und seinen Mitarbeitern (z.B. Sherif 1966) in den 1940-50er Jahren in den USA durchgeführt. Er lud 11- bis 12-jährige weiße amerikanische Jungen zur Teilnahme an Feriencamps ein. In diesen Camps wurden die Jungen in zwei Gruppen aufgeteilt und separat untergebracht. Nach einiger Zeit forderte Sherif dann die beiden Gruppen zu Wettkämpfen gegeneinander auf, beispielsweise ließ er sie zum Tauziehen gegeneinander antreten. Der Gewinnergruppe wurde ein materieller Gewinn in Form von Taschenmessern versprochen. Die Ergebnisse der mehrtägigen Wettkämpfe wurden auf einer Anzeigetafel fortlaufend dokumentiert. Sherifs Untersuchungen zeigen, dass eine solche Konstellation nicht nur zu engagierten Wettkämpfen zwischen den Gruppen führt, sondern dass die Gruppen aufgrund der Auseinandersetzung auch zunehmend Feindseligkeiten, negative Stereotype und Gewaltbereitschaft gegeneinander entwickeln (zu neueren Studien und theoretischen Weiterentwicklungen der Grundannahme vgl. z.B. Bobo 1999).

Ein verwandtes Konzept zu Sherifs Theorie des realistischen Gruppenkonflikts ist die Theorie der kollektiven relativen Deprivation (Vanneman & Pettigrew, 1972). Danach entstehen feindselige Intergruppenkonflikte, wenn Gruppenmitglieder den Eindruck haben, dass andere Gruppen im Vergleich zur eigenen Gruppe ungerechterweise bevorzugt sind. Die Erklärungsansätze, die feindselige Intergruppenkonflikte auf die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen zurückführen, betonen, dass allein die Wahrnehmung eines Ressourcenkonflikts ausreicht, um die beschriebenen Prozesse auszulösen: Menschen entwickeln Vorurteile und diskriminieren, wenn sie allein glauben, dass EinwanderInnen die ökonomische Prosperität »ihres« Landes gefährden.

Identitätskonflikte

20 Jahre nach Sherifs Ferienlageruntersuchungen und einer Vielzahl von Replikationen seiner Befunde stellten Henri Tajfel und seine Mitarbeiter die Frage, ob tatsächlich ein Ressourcenkonflikt vorliegen muss, um feindselige Intergruppenkonflikte auszulösen. In ihren »minimal group studies« teilten sie ihren Versuchspersonen, z.B. englischen SchülerInnen, mit, dass sie einer von zwei Gruppen angehören, z.B. der blauen und nicht der grünen Gruppe. Anschließend wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einen Geldbetrag auf zwei anonyme andere Versuchspersonen zu verteilen, von denen eine derselben und eine der fremden Gruppe angehört. Die Ergebnisse zeigen, dass unter solchen Bedingungen die Mitglieder der eigenen Gruppe, der »Ingroup«, bevorzugt und die der fremden Gruppe, der »Outgroup«, benachteiligt werden. Andere Studien dokumentieren darüber hinaus, dass sich die Einteilung in exklusive Gruppen nicht nur auf die Zuweisung von Geldbeträgen, sondern auch auf die Beurteilung der Gruppen auswirkt. Die fremde Gruppe und ihre Mitglieder werden allein aufgrund einer Kategorisierung in »Outgroup« schlechter bewertet (Hewstone, Rubin & Willis 2002). Dies geschieht selbst dann, wenn den Versuchspersonen sehr deutlich klar ist, dass die Kategorisierung rein zufällig erfolgt (Billig & Tajfel 1973).

Die »minimal group studies«sind mittlerweile häufig repliziert, z.B. mit Marburger Studierenden. Tajfel (1978; Tajfel & Turner 1979) hat zur Erklärung der Befunde die »social identity theory« erfunden. Danach sind Gruppenzugehörigkeiten identitätsrelevant. Wer und was wir sind, unsere Soziale Identität, erklärt sich (auch) dadurch, welchen Gruppen wir zugehören – die Autoren dieses Beitrags verstehen sich als Mitglieder der Philipps-Universität, Männer und Anhänger von Fußballvereinen. Tajfel geht außerdem davon aus, dass Menschen in der Regel eine positive Selbstwertschätzung anstreben. Für die Soziale Identität, also den Teil des Selbstkonzepts, der aus Gruppenzugehörigkeiten abgeleitet wird, ist eine solche Selbstaufwertung insbesondere dadurch zu erreichen, dass die eigene Gruppe im Vergleich zu wichtigen fremden Gruppen aufgewertet wird – in den »minimal group«-Untersuchungen geht das am besten durch die materielle Bevorzugung der Mitglieder der eigenen Gruppe. Negativ eskalierende Intergruppenkonflikte entstehen aus der Perspektive der Theorie der Sozialen Identität also als Resultat von Identitätskonflikten.

Wir alle gehören verschiedenen Gruppen an oder werden diesen zugerechnet. Diese Gruppenzugehörigkeiten sind in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlicher Bedeutung. Nur wenn eine Gruppenmitgliedschaft in einer Situation wichtig – salient – ist, wird sie verhaltensrelevant: Nur wenn sexuelle Orientierung salient wird, z.B. indem sie thematisiert wird, wird die Zugehörigkeit zu der Gruppe Homo- oder Heterosexueller bedeutsam, und vorher unproblematische Interaktionen zwischen Individuen werden zu Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern: Es besteht die Gefahr der oben beschriebenen gegenseitigen Abwertungsprozesse.

Man könnte einwenden, dass die empirische Basis für die Theorie der Sozialen Identität, die »minimal group studies«, sehr artifiziell und in ihrer Bedeutung für »richtige« Intergruppenkonflikte daher eingeschränkt seien. Henri Tajfel, der für seine kritische Haltung gegenüber Laborexperimenten bekannt war, begegnete diesem Einwand mit dem Argument, dass die Effekte einer Kategorisierung in Ingroup-Outgroup noch viel deutlicher ausfallen müssten, wenn die jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten von hoher subjektiver Bedeutung sind, wenn es sich also um ethnische Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zur ArbeitnehmerInnen- oder Arbeitgebergruppe, die so genannte gesellschaftliche Mitte oder Prekarisierte, usw. handelt – um die Zugehörigkeit zu Gruppen also, die unter Umständen schon in einem jahrelangen Konfliktverhältnis zueinander stehen. Eine weitere Annahme der Theorie der Sozialen Identität ist daher, dass die Prozesse der Ingroup-Outgroup-Differenzierung umso stärker ausfallen, je mehr sich die Beteiligten mit ihren jeweiligen Gruppen identifizieren. NationalistInnen und RassistInnen gehen gegen fremde Gruppen radikaler vor als Personen, für die die eigene nationale oder ethnische Zugehörigkeit von nur geringer Bedeutung ist.

Die Theorien des Realistischen Gruppenkonflikts und der Sozialen Identität sind die sozialpsychologischen Äquivalente der konflikttheoretischen Unterscheidung von Ressourcenkonflikten einerseits und Identitäts- oder Werte- oder Normen-Konflikten andererseits (Bonacker & Imbusch 1999). Tajfel (1978) waren die Befunde Sherifs zum Zeitpunkt der Entwicklung der Theorie der Sozialen Identität natürlich bekannt. Tajfel hat auch nicht versucht, mit seiner Theorie die Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts in Frage zu stellen. Er betont vielmehr, dass die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen Identitätskonflikte verschärft, indem sie die Salienz der Kategorien und die Identifikation mit der jeweiligen Ingroup erhöht. Dies entspricht einer Annahme aus der Konfliktforschung, wonach Ressourcenkonflikte mit zunehmender Dauer in Identitätskonflikte übergehen können. Der Israel-Palästina-Konflikt beispielsweise begann mit einer Auseinandersetzung um Land und Wasser; inzwischen sind beide Seiten durch die chronisch hohe Salienz der Kategorisierung und die zunehmende Identifikation mit der jeweiligen Seite so weit in einen Identitätskonflikt verstrickt, dass sie massive Benachteiligungen für die Ingroup in Kauf nehmen, nur um der Outgroup noch stärker zu schaden.

Die Bedeutung des »äußeren Feindes«

Gruppen sind für ihre Mitglieder also identitätsrelevant; sie sind darüber hinaus eine wichtige Quelle der Information über angemessene normative Vorstellungen und Verhaltensweisen (Festinger 1954). Insbesondere dann, wenn ich die Richtigkeit der eigenen Überzeugung nicht mehr direkt an der Realität testen kann – welche Haltung soll ich zu Einwanderung einnehmen, welche zu Waffenbesitz, welche zu einer militärischen Intervention in einem Bürgerkriegsland? –, orientiere ich mich an den Vorstellungen, die in meiner Ingroup vertreten werden. John Turner, Miterfinder der Theorie der Sozialen Identität, hat zusammen mit seinen MitautorInnen mit der Selbstkategorisierungstheorie ein Modell vorgestellt, das die Prozesse genauer beschreibt, die in einer Gruppe zu beobachten sind, wenn die Mitglieder dieser Gruppe sich mit einer fremden Gruppe konfrontiert sehen (Turner et al.1987). Danach versuchen die Gruppenmitglieder, innerhalb der eigenen Gruppe eine starke Meinungshomogenität und gleichzeitig eine maximale Differenz zur Meinungsposition der fremden Gruppe herzustellen (um sich so von der fremden Gruppe zu distanzieren – siehe Theorie der Sozialen Identität). Die sich daraus ergebende optimale Position der eigenen Gruppe, auf die sich die Gruppenmitglieder zubewegen, ist die prototypische Gruppenposition.

Mit dem Bekanntwerden – in der Sprache der Selbstkategorisierungstheorie: der Zunahme an Salienz – der Outgroup-Position rücken die Mitglieder mit ihren individuellen Überzeugungen enger zusammen und entfernen sich gleichzeitig von der Position der Outgroup. Mit diesem Prozess verschiebt sich auch die prototypische Gruppenposition, also der Punkt, der die normative Position der Gruppe zu angemessenen Überzeugungen und Verhaltensweisen am besten repräsentiert. In der Outgroup kommt es natürlich zum selben Prozess.

Die Theorie der Selbstkategorisierung macht deutlich, wie der Kontext, in den eine Gruppe eingebettet ist, die Prozesse innerhalb einer Gruppe beeinflusst und die Positionen der Gruppenmitglieder sowie die prototypische Gruppenposition extremisiert. Bekannt sind die Beispiele, dass politische Führer mit der Einführung eines äußeren Feindes und dessen (scheinbar sehr abweichenden) Position die eigenen Reihen hinter sich schließen: Hitler hat dazu die Outgroup der Juden salient gemacht, der Nationalismus in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien wurde damit befeuert, und viele Ereignisse in Israel und Palästina lassen sich aus der ständigen Präsenz des äußeren Feindes erklären (Campbell 1965).

Was kann mensch tun?

Diskriminierung zwischen Gruppen und Gewalt zwischen Gruppen gehen nicht allein auf psychologische Mechanismen zurück (Wagner, Christ & Heitmeyer 2010). Zum Verständnis solcher Ausdrucksformen von Intergruppenkonflikten sind die Analysen objektiv existierender Machtunterschiede, wirtschaftlicher Interessen, des Zugangs zu Informationen und internationaler Vereinbarungen von vorrangiger Bedeutung: Ob Drittstaaten in einem Bürgerkrieg intervenieren oder nicht, hängt in der Regel nicht direkt von der Haltung in der Bevölkerung zu einer solchen Intervention ab. Aber: Das Konfliktverhalten von Makro-Akteuren ist von der Zustimmung oder Ablehnung in (manchen) Bevölkerungen nicht unabhängig. Einwanderungspolitik, die Gleichstellung von Minderheiten und militärische Interventionen sind leichter durchzuführen, wenn sie die Zustimmung der Menschen haben. Damit wird die Frage von Bedeutung, wie die oben beschriebenen sozialpsychologischen Mechanismen beeinflusst werden können, um einer Konflikteskalation entgegenzuwirken.

Wesentliche sozialpsychologische Bedingung für die Entstehung von Intergruppenkonflikten ist die Kategorisierung in Ingroup und Outgroup. Wenn es gelingt, eine solche Kategorisierung zu vermeiden oder einer bestehenden Ingroup-Outgroup-Kategorisierung eine gemeinsame übergeordnete Kategorie hinzuzufügen, können die in der Theorie der Sozialen Identität beschriebenen Mechanismen der Outgroup-Ablehnung vermieden oder abgebaut werden. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hat eine solche übergeordnete Kategorisierung geschaffen und Ressentiments reduziert, allerdings nur in Bezug auf die, die dazu gehören. Die Ablehnung von EinwanderInnen aus Afrika blieb davon unberührt. Außerdem ist zu beachten, dass wir selbst bei einer gemeinsamen übergeordneten Kategorisierung – z.B. in EuropäerInnen – dazu neigen, unsere ursprüngliche Subkategorie, die der Deutschen, in ihrer Bedeutung für die gemeinsame Oberkategorie Europa zu überschätzen (Mummendey & Wenzel 1999) und damit erneut Konfliktpotential zu entwickeln.

Bei der Betrachtung von Kategorisierungsprozessen ist allerdings wichtig zu beachten, dass die Kategorisierungen von Menschen und die Attribute, die unterschiedlichen Gruppen zugewiesen sind, soziale und politische Konstruktionen sind. Menschen unterscheiden sich voneinander in einer Vielzahl von Merkmalen. Dass nun gerade die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder die Partizipation am Arbeitsmarkt zu relevanten Kategorisierungs- und damit Ausgrenzungsmerkmalen werden (und nicht die Augenfarbe), ist das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Dasselbe gilt, wenn Gruppen ohne empirische Basis Merkmale zugeschrieben werden: Die Türken, Juden, Homosexuellen sind …

Es bedarf deshalb angemessener Wege, um den Missbrauch politisch motivierter Kategorisierung von Menschen in Ingroup und Outgroup entgegenzuwirken. Wie wir in unserer eigenen Forschung zeigen, ist der Kontakt zwischen Mitgliedern verfeindeter Gruppen ein solcher Weg. Intergruppenkontakt trägt dazu bei, negative Stereotype und Vorurteile über fremde Gruppen zu reduzieren und gleichzeitig eine kritischere Perspektive auf die eigene Gruppe einzunehmen (Pettigrew et al. 2011). Dieser Mechanismus wirkt selbst nach massiven Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, wie nach Bürgerkriegen (Wagner & Hewstone 2012).

Nicht immer ist direkter Kontakt zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen möglich. Dann bedarf es zumindest einer unabhängigen und detaillierten Presseberichterstattung, um durch Fakten der Entstehung von Vorurteilen entgegenzuwirken. Einschränkend muss dazu allerdings eingewandt werden, dass die empirische Forschung noch nicht so weit ist, eindeutig empfehlen zu können, welche Form der Darstellung (»normale« Mitglieder der Outgroup, besonders erfolgreiche oder Interaktionen zwischen Mitgliedern der In- und Outgroup) besonders geeignet ist, positive Bilder über Outgroups zu fördern und negative zu vermeiden (Mutz & Goldmann 2010).

Auch für kollektives Handeln als Reaktion auf Benachteiligung sind Gruppenprozesse entscheidend. Wenn diskriminierte Menschen ihre Lage als individuelles Problem wahrnehmen und verändern wollen, werden sie z.B. eigene Bildungsanstrengung unternehmen. Die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln gegen Benachteiligung steigt, wenn die Gruppengrenzen und ihre Undurchlässigkeit salient werden, wenn die TellerwäscherInnen also die harte Grenze zu den MillionärInnen wahrnehmen. Die Wahrnehmung von Illegitimität und Veränderbarkeit der Hierarchie zwischen den Gruppen ist Voraussetzung für Befreiungsbewegungen. So beeinflussten die antikolonialen Bewegungen das Selbstverständnis und Handeln der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Auch hier helfen Bildung und kritische Medien, die Realität und Veränderbarkeit struktureller Gewalt zwischen Gruppen zu erkennen und eine politisierte soziale Identität zu entwickeln (Simon & Klandermanns 2001).

Literatur

Billig, M.G. & Tajfel, H. (1973): Social categorization and similarity in intergroup behaviour. European Journal of Social Psychology, 3, S.27-52.

Bobo, L.D. (1999): Prejudice and group position: Microfoundations of a sociological approach to racism and race relations. Journal of Social Issues, 55, S.445-472.

Bonacker, T. & Imbusch, P. (1999): Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden. In: P. Imbusch & R. Zoll (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Opladen: Leske & Budrich, S.73-107.

Campbell, D.T. (1965): Ethnocentrism and other altruistic motives. In: D. Levine (ed.): Nebraska Symposium on Motivation (Vol. 13). Lincoln, NE: University of Nebraska Press, S.283-311.

Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7, S.117-140.

Hewstone, M., Rubin, M. & Willis, H. (2002): Intergroup bias. Annual Review of Psychology, 53, S.575-604.

Mummendey, A. & Wenzel, M. (1999): Social discrimination and tolerance in intergroup relations: Reactions to intergroup difference. Personality and Social Psychology Review, 3, S.158–174.

Mutz, D.C. & Goldman, S.K. (2010): Mass media. In: J.F. Dovidio, M. Hewstone, P. Glick & V.M. Esses (eds): Prejudice, stereotyping and discrimination. London: Sage, S.241-257.

Pettigrew, T. F., Tropp, L. R., Wagner, U. & Christ, O. (2011): Recent advances in intergroup contact theory. International Journal of Intercultural Relations, 35, S.271-280.

Simon, B. & Klandermanns, B. (2001): Politicized collective identity: A social psychological analysis. American Psychologist, 56, S.319-331.

Sherif, M. (1966): In common predicament: Social psychology of intergroup conflict and cooperation. Boston, MA: Houghton Mifflin.

Tajfel, H. (1978) (ed.): Differentiation between social groups. London: Academic Press.

Tajfel, H., Billig, M. G., Bundy, R. P. & Flament, C. (1971): Social categorization and intergroup behavior. European Journal of Social Psychology, 1, S.149–178.

Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979): An integrative theory of intergroup conflict. In: W. G. Austin & S. Worchel (eds.): The social psychology of intergroup relations. Monterey, CA: Brooks/Cole, S.33-47.

Turner, J. C., Hogg, M.A., Oakes, P.J., Reicher, S.D. & Wetherell, M.S. (1987): Rediscovering the social group.Oxford: Blackwell.

Vanneman, R.D. & Pettigrew, T.F. (1972): Race and relative deprivation in the urban United States. Race, 13, S.461-486.

Wagner, U., Christ, O. & Heitmeyer, W. (2010): Ethnocentrism and bias towards immigrants. In: J.F. Dovidio, M. Hewstone, P. Glick & V.M. Esses (eds.): Handbook of prejudice, stereotyping, and discrimination. Los Angeles, CA: Sage, S.361-376.

Wagner, U. & Hewstone, M. (2012): Intergroup contact. In: L.R. Tropp (ed.): The Oxford handbook of intergroup conflict. Oxford: Oxford University Press, S.193-228.

Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie im Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Konflikte zwischen Gruppen, Vorurteile, Gewalt und Intervention und Evaluation.
Dipl.-Pol. Christoph Butenschön ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Philipps-Universität Marburg. Er beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Vorurteilen.

School-Shootings

School-Shootings

Aktueller Forschungsstand

von Vincenz Leuschner und Nils Böckler

Spätestens seit dem Attentat an der Columbine High School in Littleton (USA) 1999 sind Anschläge von (ehemaligen) Schülern an ihren Schulen zu einem weltweiten Phänomen geworden, das sich nicht mehr nur in Staaten des globalen Nordens (USA, Kanada, Deutschland, Finnland), sondern mittlerweile auch in Schwellenländern (Brasilien, Südafrika, Thailand) beobachten lässt. Gegenwärtig lassen sich derartige Gewaltakte in wenigstens 23 Ländern der Erde nachweisen (Bondü et al. 2013). Seit Ende der 1990er Jahre sind solche Gewalttaten Gegenstand der sozialwissenschaftlichen, kriminologischen und psychologischen Forschung, so dass mittlerweile einerseits zwar einige Erkenntnisse vorliegen, andererseits aber noch eine Vielzahl an Fragen ungeklärt ist. Im vorliegenden Beitrag soll der bisherige Erkenntnisstand zu School-Shootings vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung vorgestellt werden.

Ausgehend von den USA hat sich seit den 1990er Jahren ein jugendliches Gewaltphänomen international verbreitet, welches mit Begriffen wie »School-Shooting«, »Rampage-Shooting«, »Schulamok« oder »schwere zielgerichtete Schulgewalt« bezeichnet wird und eine Konfliktlinie innerhalb westlicher Gesellschaften beschreibt. Im Kern handelt es sich um versuchte und vollendete Tötungen von Schülern oder ehemaligen Schülern an ihren aktuellen oder früheren Schulen. In Deutschland stehen die Ortsnamen Winnenden, Erfurt und Emsdetten sinnbildlich für derartige Taten.

Ungeachtet der Tatsache, dass School-Shootings ein extrem seltenes Phänomen sind, erregen sie jeweils ein enormes Medieninteresse. Dies ist vermutlich auf eine Art kollektive Traumatisierung zurückzuführen, da ein wichtiges Selbstverständnis westlicher Gesellschaften – die Gewährleistung von Sicherheit der Bildungseinrichtungen und der darin lernenden Kinder und Jugendlichen – fundamental erschüttert wird. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diese Vorfälle erfahren, hat zu einer Vielzahl von Forschungsprojekten und Veröffentlichungen in unterschiedlichen Disziplinen geführt. Allerdings ist festzustellen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen noch immer am Anfang steht und viele Fragen offen sind.

Definitorische und methodische Probleme

Zunächst ist festzustellen, dass sich gerade bei der Untersuchung dieser schweren Form von Gewalt verschiedene methodische Hürden offenbaren. So stellt sich die Frage, welche Fälle überhaupt in einer gemeinsamen Untersuchungskategorie zusammengefasst und miteinander verglichen werden können bzw. sollten (Harding et al. 2006). Mittlerweile existieren je nach Forschungsrichtung äußerst unterschiedliche Bezeichnungen und Definitionen für das hier betrachtete Gewaltphänomen: In der Vergangenheit wurde in Deutschland häufig der Begriff »Amok« verwendet, der seinen Schwerpunkt auf die eruptive und nach außen hin unverständliche Eskalation der Gewalt legt. Dies widerspricht jedoch dem häufigen Planungscharakter solcher Taten.

Im Zuge dieser Erkenntnis hat sich auch in der deutschen Diskussion der amerikanische Begriff »School-Shooting« nahezu vollständig etabliert. Er wird jedoch für Mehrfach- und Einfachtötungen im Kontext Schule losgelöst von den konkreten Tatmitteln, also entgegen seiner Konnotation, verwendet. Damit erweist sich diese Bezeichnung zwar einerseits als nicht ganz adäquat, andererseits wäre es aber wohl kontraproduktiv, den Gebrauch von Schusswaffen zu einer notwendigen Bedingung per definitionem zu machen, da eine Vielzahl von Taten in Deutschland mit Hieb- und Stichwaffen begangen wurden. Diese sind in ihrer Tatgenese und -dynamik – sofern bisher bekannt – den eigentlichen »Shootings« durchaus ähnlich.

Diskutiert man, wie sinnvoll es ist, den Gebrauch einer konkreten Waffe bereits zum Bestandteil einer Definition zu machen, so stellt sich diese Frage unweigerlich auch für den Tatort. Haben wir es bei Mehrfachtötungen an Schulen wirklich mit einem eigenständigen Phänomen zu tun oder handelt es sich vielmehr um den Subtypus einer übergeordneten Kategorie? Es ist gerade der anschlagsähnliche Charakter der Gewaltakte, der Zweifel aufkommen lässt, ob es Sinn macht, zwischen Taten im Schulkontext und denen in anderen Kontexten zu unterscheiden. Neuere amerikanische Studien sprechen etwa eher allgemein von »mass shootings« und beziehen dann auch versuchte und vollendete Mehrfachtötungen außerhalb von Schulen ein.

Dieses »case definition problem« geht mit zwei wesentlichen Konsequenzen einher: Zum einen führt es dazu, dass verschiedene Studien immer wieder unterschiedliche Fälle in die Analyse einbeziehen und sich dementsprechend auch unterschiedliche Aussagen über Häufigkeit und gemeinsame Merkmale des Phänomens finden lassen. Zum anderen bleibt unklar, welche Vergleichs- oder Kontrastgruppen sich als relevant erweisen, um mehr über die Spezifität des Phänomens zu erfahren. Trotz dieses Definitionsproblems liegen mittlerweile einige Erklärungsansätze vor.

Disziplinspezifische Erklärungsansätze

Die am weitesten verbreiteten Erkenntnisse zu School-Shootings entstammen US-amerikanischen Studien um die Jahrtausendwende, die sich den so genannten »risk factor approaches« zuordnen lassen und vorwiegend kriminologischer Herkunft sind (O’Toole 1999; McGee & DeBernardo 1999; Verlinden et al. 2000). Häufige Täter- und Tatmerkmale, die in retrospektiven Fallanalysen herausarbeitet wurden, werden dabei als Risikofaktoren identifiziert. Man geht davon aus, dass diese die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses (hier eines School-Shooting) erhöhen.

Auf der Grundlage dieser Forschung wissen wir heute, dass der »typische« School-Shooter männlichen Geschlechts ist, Mittelschichtangehöriger, Einzelgänger, seinen Wohnort in einer Kleinstadt oder ländlichen Region hat, psychische Auffälligkeiten zeigt, Opfer von Bullying oder anderen Formen sozialer Marginalisierung ist, gewalthaltige Medien konsumiert und einen Zugang zu Waffen besitzt. Abseits der offensichtlichen Tatsache, dass es sich dabei um allgemein verbreitete Merkmale Heranwachsender in den USA und anderen westlichen Gesellschaften handelt, entwickeln diese Ansätze keine theoretischen Aussagen darüber, wie die identifizierten Faktoren zusammenhängen oder wie die gesellschaftliche Einbettung der so charakterisierten Täter beschaffen ist. Risikofaktoren-Ansätze werden deshalb auch als „atheoretisch“ kritisiert (Fox & Burstein 2010, S.68).

Immerhin konnte die weitere Forschung der Folgejahre feststellen, dass nicht einzelne der genannten Merkmale School-Shootings erklären, sondern immer von einem (meist kumulativ vorgestellten) Zusammenspiel vielfältiger Faktoren auszugehen ist. Anfängliche Versuche, Profile potentieller School-Shooter zu erstellen, haben sich daher recht schnell als unbrauchbar erwiesen und wurden verworfen.

Ausgehend von diesen ersten Untersuchungen haben sich in der Folge verschiedene Disziplinen mit einzelnen der vorgefundenen Merkmale der Täter beschäftigt und darüber Theorien entwickelt.

Prominent sind beispielsweise forensisch-psychiatrische Analysen, die einen wesentlichen Erklärungsfaktor für die Taten in der psychischen Erkrankung der Täter sehen. So geht etwa der Psychiater Peter Langman (2009) davon aus, dass alle Täter psychopathologische Auffälligkeiten aufweisen und ihr Handeln sich maßgeblich auf eine psychische Erkrankung zurückführen lässt. Dieser Befund lässt sich in den meisten, auch multidisziplinären Erklärungsmodellen finden, wobei insbesondere Persönlichkeitsstörungen, wie Störungen des Sozialverhaltens mit depressiver Störung, paranoide und insbesondere narzisstische Störungen, als Ursache der Gewaltentwicklung angesehen werden (vgl. Bannenberg 2013; Hoffmann et al. 2009). Allerdings sind diese Befunde aufgrund der Schwierigkeiten einer retrospektiven psychiatrischen Begutachtung äußerst vorsichtig zu behandeln. Zudem stellt sich die Frage nach der Kausalität: Waren psychische Störungen tatsächlich der Entwicklung hin zur Gewalttat vorgängig oder sind sie erst im Zuge dieser Entwicklung aufgrund von sozialen Bedingungen entstanden?

Psychodynamische Erklärungsansätze konzentrieren sich auf die inneren Prozesse der Täter im Rahmen der Vorfeldentwicklung der Taten. Der Ansatz von Jonathan Fast (2013) z.B. führt School-Shootings als Aggression gegenüber symbolischen Zielen auf die »Kumulation von Schamgefühlen« zurück, die nicht nach außen gezeigt werden können (secret shame) und aufgrund eines Zusammenspiels von narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen, sozialer Isolation bzw. Ausgrenzung und suizidalen Intentionen entstehen. Demgegenüber begreift Frank J. Robertz (2004) die »Kumulation kompensatorischer Rache- und Gewaltfantasien« als Schlüssel zum Verständnis der Vorfeldentwicklung von School-Shootings. In Anlehnung an das Konzept der Nebenrealitäten modelliert er eine Entwicklung, bei der als Reaktion auf erlittene Bedrohungen des Selbstwerts Rache- und Gewaltfantasien zu mächtigen Nebenrealitäten anwachsen. Diese führen dann zu Gewaltausbrüchen, wenn sie emotional immer mehr Gewicht erhalten und der Bezug zur Hauptrealität verloren geht. Ebenfalls häufig werden »suizidale Tendenzen« als Ausgangspunkt der Entwicklung zu School-Shootings angenommen, die in Kombination mit Identifizierungs- und Imitationsprozessen über mediale Berichterstattung zu School-Shootings (Copycat-Phänomen) zu einer Externalisierung der suizidalen Gewaltimpulse führen und letztlich in Taten münden, die – ähnlich einem erweiterten Selbstmord – dem Homizid-Suizid-Spektrum zuzuordnen sind.

Eine weitere Gruppe von Erklärungsansätzen fokussiert soziale Ursachen und beschäftigt sich insbesondere mit den sozialen Beziehungen im Vorfeld der Tat. Hierbei werden Ausschluss- und Marginalisierungsprozesse betrachtet, die letztlich als ausschlaggebend dafür angesehen werden, dass die späteren Täter begonnen haben, eine Tat zu planen. Im Mittelpunkt insbesondere US-amerikanischer Veröffentlichungen steht dabei die Problematik des so genannten »Bullying« (Mobbing, Schikane) an Schulen. In vielen, wenn auch längst nicht allen Fällen lässt sich beobachten, dass die Täter im Vorfeld Opfer von Bullying und anderen Formen sozialen Ausschlusses durch Gleichaltrige waren, was zu Frustrationserfahrungen und Rachewünschen führte (Vossekuil et al. 2002; Leary et al. 2003). Insbesondere die informelle Statushierarchie in amerikanischen Schulen, die durch eine extreme Grenzziehung zwischen sportlich aktiven, sozial anerkannten Schülern (»jocks«) und ausgeschlossenen Außenseitern (»nerds«, »goths«, »wimps«) gekennzeichnet ist, wird als entscheidendes Problem wahrgenommen. Ebenso lassen sich in einigen Fällen »Erlebnisse romantischer Zurückweisung durch Mädchen« rekonstruieren, die ebenfalls Frustrations- und Rachegefühle bei den männlichen Täter hervorgerufen haben. Beide Erklärungen verweisen nach Meinung einiger Autoren auf den kulturellen Hintergrund hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen, so dass School-Shootings als Antwort auf Ereignisse gewertet werden, bei denen die Männlichkeit der Jugendlichen durch Andere maßgeblich infrage gestellt wurde (Kimmel 2008; Danner & Carmody 2001). In der deutschen Forschung zu School-Shootings werden vor allem Ungerechtigkeitserfahrungen in der Beziehung zu Lehrern und dem Schulsystem in den Blick genommen, da weniger Täter direkte Bullying-Erfahrungen aufweisen (Bondü 2012). Konsens besteht jedoch insgesamt darin, dass School-Shootings identitätsbedrohende Anerkennungs- und Statusverluste im schulischen Kontext vorausgehen und die Taten daher als persönliche Racheakte zu verstehen sind (Larkin 2009; Böckler & Seeger 2010; Newman et al. 2004).

In enger Verknüpfung mit den genannten sozialen Ursachen stehen Erklärungsansätze, die auf kulturelle Bedingungen verweisen: Neben der bereits erwähnten kulturellen Rahmung der Taten durch hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen werden insbesondere die »Waffenkultur« und der Umgang mit Waffen fokussiert. Die Verfügung über Schusswaffen stellt in den meisten School-Shootings eine notwendige Bedingung dar, weshalb der Schusswaffenzugang von jungen Menschen als eine wesentliche Erklärung für derartige Taten angesehen wird. Allerdings zeigen insbesondere Fälle außerhalb von Amerika in Ländern mit starker Schusswaffenkontrolle, dass erstens ähnliche Taten auch mit anderen (frei zugänglichen) Waffen umgesetzt werden können und zweitens motivierte Täter auch Mittel und Wege finden, trotz erschwerten Zugangs an Schusswaffen zu gelangen. Ebenfalls sehr kontrovers wird der Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien wie Filme, Computer- und Videospiele auf die Entwicklungsprozesse der Täter im Tatvorfeld diskutiert – herausgehoben insbesondere der Einfluss so genannter Ego-Shooter-Spiele. Verschiedene Fallanalysen zeigen, dass viele School-Shooter gewalthaltige Medien konsumierten (z.B. Kiilakoski & Oksanen 2011; Newman et al. 2004). Die in bestimmten Jugendkulturen weit verbreitete Faszination für Spiele, bestimmte Gewaltfilme oder Bands mit gewalttätigen Texten macht allerdings schnell deutlich, dass derartige Medien schwerlich als ursächliche Bedingung für School-Shootings herangezogen werden können. Trotzdem sind diese Medien insofern wichtig, als sie „kulturelle Skripte“ repräsentieren (Newman et al. 2004), die von School-Shootern bei ihren Taten zitiert und inszeniert werden (z.B. indem sie ähnliche Kleidung tragen wie ihre medialen Helden). Als »kulturelle Skripte«, die von Jugendlichen imitiert werden können, dienen jedoch nicht nur gewalthaltige Medien, sondern auch vorangegangene School-Shootings selbst. Larkin (2009) weist etwa nach, dass sich eine große Anzahl von School-Shootings am Columbine School-Shooting orientierten, was darin deutlich wird, dass die Täter den Tatablauf imitierten oder sich in ihren Selbstzeugnissen mit den Columbine-Attentätern identifizierten und sie als Vorbilder heroisierten. Aufgrund solcher Befunde, die starke Identifizierungsprozesse nahe legen, wird auch der Einfluss der massenmedialen Berichterstattung als eine wesentliche, begünstigende Bedingung für School-Shootings diskutiert.

Dem komplexen, der Tatgenese zugrunde liegenden Bedingungsgefüge Rechnung tragend, sind in der Vergangenheit mehrere multidimensionale Ansätze entwickelt worden, die versuchen, auf die Kombination und vor allem Wechselwirkungen zwischen den genannten Einzelfaktoren einzugehen. Einige davon stellen sich der Aufgabe, die Vorfeldentwicklung der Taten prozesshaft zu modellieren und dabei psychische, individuelle und soziale Faktoren einbeziehen (Scheithauer & Bondü 2011; Böckler & Seeger 2010; Hoffmann & Roshdi 2009; Levin & Madfis 2009; Robertz 2004). Zurückgegriffen wird dabei auf etablierte belastungs- bzw. anerkennungstheoretische Ansätze oder kriminologische Theoreme (z.B. Routine Activity Theory). Mehrdimensionale Modelle, die den Prozesscharakter von Gewaltkarrieren nachzeichnen, gelten aktuell als die elaboriertesten Versuche einer Erklärung des Phänomens. Bei genauer Betrachtung weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf. Im Kern identifizieren die Autoren die Tat als das Resultat einer Kulmination langfristiger und situativer Stressoren im Lebenslauf des Täters, denen dieser nur unzureichende personale wie soziale Ressourcen entgegensetzen kann. Erlebtes Scheitern, kontinuierlich wahrgenommene Ungerechtigkeiten sowie ein subjektiv erlebter Mangel an emotionalem Rückhalt führen in eine Spirale von dysfunktionalen Bewältigungsstrategien und weiteren Misserfolgen. Mit diesem Teufelskreis identifiziert ein Großteil der Autoren die dem Eskalationsprozess innewohnenden produktiven Impulse für die Tatgenese. Hinweise auf einsetzende und vermutlich zunächst kompensatorisch wirkende Allmachts-, Größen- und Rachephantasien, die in reale Tatplanungen und -ankündigungen (Leaking) übergehen, geben beispielsweise die Tagebücher, Videos, Gewaltandrohungen und Selbstaussagen früherer Täter. Es kann vermutet werden, dass der Täter in oben beschriebener Spirale seine sozialen Einstellungen mehr und mehr radikalisiert und sich in diesem Zuge auf die Gewalttat zunehmend verpflichtet, während er zugleich sukzessive die Bindung an das eigene Leben verliert. Aus der weiteren Forschung, insbesondere Vergleichsuntersuchungen mit ähnlichen Gewaltphänomenen, erhofft man sich hierzu eine weitere Aufklärung.

Prävention und Intervention

Hinsichtlich der Frage nach Möglichkeiten der Prävention solcher Taten muss zunächst immer darauf verwiesen werden, dass Fälle geplanter tödlicher Gewalt durch (ehemalige) Schüler an ihren Schulen, entgegen der medialen Wahrnehmung, glücklicherweise relativ unwahrscheinlich sind. Ein einfaches Rechenbeispiel vermag dies zu illustrieren: An den rund 34.500 Schulen in Deutschland haben seit 1999 (je nach Definition) ca. zwölf Fälle von tödlicher Schulgewalt stattgefunden, was bedeutet, das eine deutsche Schule zum gegenwärtigen Zeitpunkt rein statistisch dem Risiko ausgesetzt ist, einmal alle 40.256 Jahre einen solchen Anschlag zu erleben.

Diese Seltenheit hat zur Konsequenz, dass eine auf statistischen Aussagen beruhende Vorhersage tödlicher Schulgewalt nicht möglich ist. Da die oben aufgeführten Tatmerkmale und Bedingungsfaktoren auf retrospektiven Einzelfallanalysen, Fallvergleichen und theorieinduzierten Zusammenhangshypothesen beruhen, sind sie zudem nicht prospektiv generalisierbar. Es wird immer Jugendliche geben, die zwar ähnliche Merkmale aufweisen, aber niemals eine solche Tat umsetzen würden. Insofern sind auch Präventionsmaßnahmen immer unter dem Aspekt einer möglichen, falschen Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen als »gefährlich« kritisch zu betrachten.

Am aussichtreichsten erscheinen daher Präventionsbemühungen, die auf mehreren Stufen ansetzen. So sollte es zum einen darum gehen, Eltern, Lehrkräfte und andere pädagogische Akteure für das Gewaltphänomen und die zugrunde liegenden Risikofaktoren zu sensibilisieren. Neben klar verständlichen und vor allem praktikablen Leitlinien zum Umgang mit Notfallsituationen (Kontaktieren der Polizei, Schutzmaßnahmen für Opfer, Informationstransfer) muss ein struktureller Rahmen geschaffen werden, in dem Phasen persönlicher Krisen von Kindern und Jugendlichen frühzeitig identifiziert werden und ihnen parallel Hilfe zuteil werden kann (Leuschner & Scheithauer 2012). Ersten Erkenntnissen und Evaluationsstudien zufolge erweisen sich hier insbesondere die Implementierung von Kriseninterventionsteams und Krisenpräventionsverfahren an Schulen sowie der Aufbau tragfähiger Netzwerke zwischen Lehrerschaft, schulpsychologischem Dienst, Sozialarbeit und Polizei als erfolgversprechend.

Literatur

Bannenberg, B. (2013): Amok. In: C. Gudehus & M. Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, S.99-104.

Böckler, N., & Seeger, T. (2010): Schulamokläufer: Eine Analyse medialer Täter-Eigendarstellungen und deren Aneignung durch jugendliche Rezipienten. Weinheim: Juventa.

Bondü, R. (2012): School Shootings in Deutschland: Internationaler Vergleich, Warnsignale, Risikofaktoren, Entwicklungsverläufe. Dissertation, Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin.

Bondü, R., Scheithauer, H., Leuschner, V. & Cornell, D. (2013): International Perspectives on Prevention and Intervention in School Shootings. In: N. Böckler, T. Seeger, W. Heitmeyer & P. Sitzer (eds.) School Shootings: International Research, Case Studies and Concepts of Prevention. New York/Heidelberg: Springer, S.343-362.

Danner, M.J.E. & Carmody, D.C. (2001): Missing gender in cases of infamous school violence: Investigating research and media explanations. Justice Quarterly, 18, S.87-114.

Fast, J. (2013): Unforgiven and alone: Brenda Spencer and secret shame. In: N. Böckler, T. Seeger, P. Sitzer, & W. Heitmeyer (Hrsg.): School shootings. International research, case studies, and concepts for prevention. New York: Springer, S.245-264.

Fox, J. A., & Burstein, H. (2010): Violence and security on campus: From preschool to college. Westport: Praeger.

Harding, D. J., Fox, C., & Mehta, J. D. (2006): Studying rare events through qualitative case studies: Lessons from a study of rampage school shootings. Sociological Methods and Research, 31, S.174-217.

Hoffmann, J., & Roshdi, K. (2009): Alarmzeichen: Wenn Jugendliche entgleiten. Forum Schule – Das Magazin für Lehrerinnen und Lehrer in Nordrhein-Westfalen, Ausgabe 2/2009, S.16.18.

Hoffmann, J., Roshdi, K., & Robertz, F. J. (2009): Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen. Eine empirische Studie zur Prävention schwerer Gewalttaten. Kriminalistik, 63, S.196-204.

Kiilakoski, T., & Oksanen, A. (2011): Soundtrack of the school shooting: Cultural script, music and male rage. Young, 19, S.247-269.

Kimmel, M. S. (2008): Profiling school shooters and shooters’ schools: The cultural contexts of aggrieved entitlement and restorative masculinity. In: B. Agger & D. Luke (eds..), There is a gunman on campus: Tragedy and terror at Virginia Tech. Lanham: Rowman and Littlefield, S.65-78.

Langman, P. (2009): Amok im Kopf. Warum Schüler töten. Weinheim: Beltz.

Larkin, R. W. (2009): The Columbine legacy: Rampage shootings as political acts. American Behavioral Scientist, 52, S.1309-1326.

Leary, L. M., Kowalski, R. M., Smith, L., & Philips, S. (2003): Teasing, rejection, and violence: Case studies of the school shootings. Aggressive Behavior, 29, S.202-214.

Leuschner, V. & Scheithauer, H. (2012): Wissenschaftlich begründete Prävention schwerer, zielgerichteter Schulgewalt. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 6, S.128-135.

Levin, J., & Madfis, E. (2009): Mass murder at school and cumulative strain: A sequential model. American Behavioral Scientist, 52, S.1227-1245.

McGee, J. P. & DeBernardo, C. R. (1999): The classroom avenger. The Forensic Examiner, 8, S.1-16.

Newman, K., Fox, C., Harding, D. J., Mehta, J., & Roth, W. (2004): Rampage. The social roots of school shootings. New York: Perseus Books.

O’Toole, M. E. (1999): The school shooter: A threat assessment perspective. Federal Bureau of Investigation.

Robertz, F. J. (2004): School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehrfachtötungen durch Jugendliche. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.

Scheithauer, H. & Bondü, R. (2011): Amoklauf und School Shooting. Bedeutung, Hintergründe und Prävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Verlinden, S., Hersen, M., Thomas, J. (2000): Risk factors in school shootings. Clinical Psychology Review, 20, S.3-56.

Vossekuil, B., Fein, R. A., Reddy, M., Borum, R., & Modzeleski, W. (2002): The final report and findings of the safe school initiative: Implications for the prevention of school attacks in the United States. Washington: U.S. Secret Service and U.S. Department of Education.

Dr. Vincenz Leuschner arbeitet als Sozialwissenschaftler am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der FU Berlin.
Dipl.-Päd. Nils Böckler ist als Pädagoge am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld tätig.

Von Lobbyisten und Mythen

Von Lobbyisten und Mythen

Schusswaffengebrauch in den USA

von William Durston

In den Vereinigten Staaten werden Schusswaffen ungleich häufiger eingesetzt als in vergleichbaren Industrieländern. Für den Autor, der jahrzehntelang als Notarzt gearbeitet und während seiner Tätigkeit zahlreiche Schusswaffenopfer medizinisch versorgt hat, ist dies ein Problem der öffentlichen Gesundheit mit epidemischem Charakter. Die Ursache sieht er in der laxen Waffengesetzgebung des Landes – und die wiederum sei durch den hartnäckigen Glauben an einfach zu widerlegende Mythen geprägt.

Tod und Verletzung durch Schusswaffen sind in den Vereinigten Staaten ein Problem von epidemischem Ausmaß. Immer dann, wenn es zu einem »School-Shooting« kommt, wie z.B. am 14. Dezember 2012 an der Grundschule Sandy Hook in Newtown, Connecticut, bei dem 20 Kinder und sechs Erwachsene umkamen, ist das Problem in aller Munde. Diese tragischen Amokläufe1 zeigen aber lediglich die Spitze des Problems. In den Vereinigten Staaten kommen pro Tag durchschnittlich 86 Menschen durch Schusswaffen um, darunter fünf Kinder bzw. Jugendliche bis 18 Jahre.2 Auf jeden dieser 86 Menschen kommen Schätzungen zufolge mindestens zwei oder drei, deren Verletzungen nicht tödlich sind.3

Vergleich mit anderen Ländern

In den Vereinigten Staaten kommen Tod und Verletzung durch Schusswaffen häufiger vor, als in jedem anderen demokratischen Land mit hohem Einkommensniveau. Die Anzahl entsprechender Todesfälle liegt hier sieben Mal höher als im Durchschnitt der anderen 22 führenden Industriestaaten der Welt,4 bei Kindern unter 15 Jahren sogar fast zwölf Mal.5

Zu häufigem Schusswaffengebrauch tragen viele Faktoren bei, darunter psychische Krankheiten, Drogenmissbrauch, sozioökonomische Ungleichheit, Gewaltdarstellung in den Medien und Defizite im Strafrechtssystem. Es gibt aber einen Punkt, in dem sich die Vereinigten Staaten deutlich von den anderen 22 Ländern unterscheiden: Der Waffenbesitz ist viel laxer reglementiert, Schusswaffen sind daher viel einfacher verfügbar.6

Der Zusammenhang zwischen dem einfachen Zugriff auf Schusswaffen und der hohen Zahl von Todesfällen und Verletzungen durch Schusswaffen ist so offensichtlich, dass die meisten Beobachter im Ausland – und übrigens auch im Inland – rätseln, warum die US-Regierung nicht wie in den anderen Vergleichsländern schärfere Regeln für den Schusswaffenbesitz bzw. -erwerb einführen. Kein Wunder also, dass den Vereinigten Staaten vorgeworfen wird, seine Knarren mehr zu lieben als seine Kinder. Auch wenn diese Kritik unsachlich und unangemessen ist – es verblüfft schon, dass Washington weder auf die wiederholten Amokläufe noch auf das alltägliche Blutbad reagiert. Kanada, Australien und Großbritannien haben seit Langem strengere Waffengesetze als die Vereinigten Staaten und verschärften diese in den 1990er Jahren nach etlichen Amokläufen weiter; außerdem ergriffen sie energische Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze. Nicht so die Vereinigten Staaten. 2011 kamen bei einem Amoklauf auf einem Supermarktparkplatz in der Nahe von Tuscon, Arizona, sechs Menschen um, zwölf weitere wurden teils lebensgefährlich verletzt. Zu den Opfern gehörte auch die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, die durch einen Kopfschuss schwer verletzt wurde. Am zweiten Jahrestag des Amoklaufs klagte sie ihre Kollegen an: „Wie hat der Kongress reagiert auf eine grauenhafte Serie von Massenschießereien, die in unseren Kommunen Terror verbreitet, Zehntausende Amerikaner zu Opfern gemacht und ein Kongressmitglied auf einem Parkplatz bei Tuscon lebensgefährlich verletzt haben? Einfach gar nicht.“ 7

Hindernisse bei der Waffenreglementierung

Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die in den Vereinigten Staaten eine schärfere Reglementierung des Schusswaffenbesitzes oder -erwerbs verhindern. Die wichtigsten davon sind sämtlich die Folge von Mythen, die von der Waffenlobby verbreitet und in der amerikanischen Öffentlichkeit weithin akzeptiert werden.

Mythos 1:
Die Bürger der Vereinigten Staaten verdanken ihre demokratischen Freiheiten dem privaten Schusswaffenbesitz

Dieser Mythos wird von der Waffenlobby ausdrücklich gefördert. Die Lobbyisten behaupten, der Sieg der nordamerikanischen Kontinentalarmee über die britischen Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) sei nur möglich gewesen, weil die meisten Kolonisten Schusswaffen besaßen und hervorragende Schützen waren. In Wirklichkeit, und das ist gut belegt, verfügten aber nur sehr wenige Kolonisten über eine Schusswaffe, und die war meist in einem so schlechten Zustand, dass Benjamin Franklin empfahl, die Kontinentalarmee solle doch lieber mit Pfeil und Bogen schießen. Die meisten Schusswaffen der Kontinentalarmee waren im Laufe des Unabhängigkeitskrieges aus Frankreich importiert worden und wurden nach dem Krieg weder benutzt noch gepflegt. Die Bürger der Vereinigten Staaten verdanken ihre demokratischen Freiheiten also keineswegs dem Mythos, ihre Vorväter hätten ihre Schusswaffen auch nach dem Krieg behalten, sondern der Tatsache, dass diese Vorväter an ihren demokratischen Idealen festhielten und diese ausbauten.8

Mythos 2:
Der Zweite Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert das Individualrecht auf Schusswaffenbesitz

Der Zweite Zusatzartikel (Second Amendment) zur Verfassung der Vereinigten Staaten lautet: „A well regulated militia, being necessary to the security of a free state, the right of the people to keep and bear arms, shall not be infringed.“ (Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.)9

Schusswaffenbefürworter und die Schusswaffenlobby behaupten, der Zweite Zusatzartikel verleihe dem Individuum das Recht auf den Besitz von Schusswaffen, um 1. den persönlichen Schutz zu gewährleisten, 2. feindliche Truppen abzuwehren und 3. die US-Regierung zu stürzen, sollte diese auf Abwege geraten.

Der Zweite Zusatzartikel erwähnt den Besitz von Schusswaffen für den persönlichen Schutz aber gar nicht; überdies ist es sehr fraglich, ob Schusswaffen dazu überhaupt taugen, wie unten noch ausführlicher diskutiert wird. 1789, als der Zweite Zusatzartikel verfasst wurde, waren sich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten genau bewusst, dass eine Miliz, die sich aus Individuen mit privaten Schusswaffen zusammensetzt, gegen das britische Militär keine Chance hätte. Selbst der Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee und spätere US-Präsident George Washington spottete über die Bürgermilizen, sie seien „nicht dafür qualifiziert, sich selbst zu verteidigen, geschweige denn, den Feind zu ärgern“, und wies die Behauptung, Bürgerwehren taugten zur Verteidigung des Landes, als „schimärisch“ zurück.10 Äußerst erfolgreich waren bewaffnete Bürgermilizen hingegen bei der Unterdrückung von Sklaven und bei der Dezimierung der indigenen Bevölkerung, und es wird immer wieder unterstellt, dies sei der wahre Grund dafür gewesen, dass der Zweite Zusatzartikel überhaupt in das »Bill of Rights« aufgenommen wurde.

Die Vorstellung, die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika hätten absichtlich einen Zusatzartikel in die US-Verfassung aufgenommen, der es unzufriedenen Bürgern erlaube, die Regierung durch den Einsatz privater Schusswaffen zu stürzen, ist überdies reichlich absurd. Und doch wird diese »insurrectionist theory« (Aufrührertheorie) von einigen Kreisen der Waffenlobby vehement vertreten.11 Welche Gefahren sich aus dieser Interpretation des Zweiten Verfassungszusatzes ergeben, erschließt sich von selbst.

Über Jahrzehnte kam der Oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten wiederholt zum Schluss, dass der Zweite Zusatzartikel keineswegs ein Individualrecht auf Schusswaffenbesitz garantiere, so z.B. in seinen richtungsweisenden Urteilen von 1939 und 1980. Beim „Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen“ handle es sich vielmehr um ein kollektives Recht, das es den Bundesstaaten erlaube, bewaffnete Milizen zu unterhalten, beispielsweise die bis zum heutigen Tag bestehenden Nationalgarden. Der ehemalige Oberste Bundesrichter Warren Burger befand sogar, die Fehldarstellung des Zweiten Zusatzartikels durch die Waffenlobby sei „einer der schlimmsten Fälle von Betrug durch eine Interessenvertretung – ich wiederhole das Wort »Betrug« – an der amerikanischen Öffentlichkeit, der mir in meinem ganzen Leben untergekommen ist“.12

In den Jahren 2008 und 2010 vollzog der Oberste Gerichtshof allerdings einen Schwenk und erklärte alle bisherigen Präzedenzfälle mit einer knappen Mehrheit (5:4) für nichtig. Nun kam das Gericht zum Schluss, der Zweite Zusatzartikel werde durch das in Washington und Chicago erlassene Verbot von Handfeuerwaffen verletzt.13 Zu den fünf Richtern, die so entschieden, gehörten die von US-Präsident George W. Bush ernannten Bundesrichter Alito und Roberts. Seither überschwemmen Gegner der Waffenkontrolle die Bundes- und Lokalgerichte mit Klagen, um bestehende Waffengesetze und –regelungen zu kippen. Die meisten dieser Klagen wurden bislang abgewiesen, da die Urteile von 2008 und 2010 sich nur auf Handfeuerwaffen bezogen, die »zum Selbstschutz« gekauft werden. Welche Implikationen die Uminterpretation des Zweiten Zusatzartikels durch das Oberste Gericht längerfristig haben, ist aber noch offen.

Mythos 3:
Rechtschaffene Bürger sollten ihre Schusswaffen zum Selbstschutz behalten

Der Mythos, dass die Bürger sich tatsächlich besser schützen können, wenn sie Schusswaffen zu Hause aufbewahren oder gar mit sich führen, wird von der Waffenindustrie und -lobby angefeuert.14 Aber auch die Massenmedien nähren diesen Mythos mit unzähligen Videospielen, Fernsehshows und Filmen, in denen der »good guy« die Bösen mit Schusswaffen erledigt.

Es wird geschätzt, dass in den Vereinigten Staaten etwa 200-300 Millionen Schusswaffen im Privatbesitz sind15 und dass 38-48% aller Erwachsenen eine Schusswaffe zu Hause aufbewahren. Die meisten von ihnen geben an, dass sie die Waffe für den »persönlichen Schutz« besitzen. Dabei ist es genau umkehrt: Zahlreiche medizinische Studien zeigen, dass eine im Haus aufbewahrte Schusswaffe mit einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit zum Töten, Verletzen oder Einschüchtern eines Mitglieds des eigenen Haushalts eingesetzt wird als zum Schutz vor einem Angreifer. Die bekannteste Studie dieser Art fand heraus, dass auf jeden Fall, in dem eine häusliche Schusswaffe tatsächlich zum Erschießen eines Einbrechers eingesetzt wurde, 43 mit Schusswaffen verübte Selbstmorde, Tötungsdelikte oder (versehentlich) erschossene Haushaltsmitglieder kommen.16

Mythos 4:
Ein Abgeordneter begeht politischen Selbstmord, wenn er sich gegen die Waffenlobby stellt

Die Waffenlobby, allen voran die finanzkräftige National Rifle Association (NRA), hat eine wirksame Waffengesetzgebung in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verhindert. Die NRA ist eng mit der Schusswaffenindustrie verbunden und gibt Millionen Dollar für politische Kampagnen aus. Allerdings kann sie viel effektiver bellen als beißen. Im Wahlkampf zur Kongresswahl 2012 gab die Lobbyorganisation mehr als elf Millionen US$ aus, allerdings verwendete sie 99% des Geldes, um Kandidaten zu unterstützen, die die Wahl verloren, oder um Kandidaten zu bekämpfen, die aus der Wahl siegreich hervorgingen.17 Die NRA bekämpft überdies regelmäßig Gesetze, die Umfragen zufolge von einer großen Mehrheit der US-Bevölkerung und manchmal sogar von den meisten NRA-Mitgliedern befürwortet werden.

Kein Ende in Sicht

Der epidemische Gebrauch von Schusswaffen wird die Vereinigten Staaten weiter plagen, bis diese Mythen zerstört werden und die BürgerInnen des Landes darauf bestehen, dass schärfere Waffengesetze erlassen und durchgesetzt werden. Solange dies nicht der Fall ist, setzt sich das tägliche Blutbad mit Schusswaffen wohl ungehindert fort.

Anmerkungen

1) Der Autor verwendet den Begriff »mass shooting«. Da »Massenschießerei« im Deutschen eine andere Konnotation hat, wird hier die Übersetzung »Amoklauf« gewählt, obgleich ein »mass shootings« durchaus eine sorgfältig geplante Tat sein kann. [die Übersetzerin]

2) Centers for Disease Control and Prevention: WISQARS (Web-based Injury Statistics Query and Reporting System).

3) Centers for Disease Control and Prevention (CDC): Nonfatal and fatal firearm-related injuries – United States, 1993-1997. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), 19. Nov. 1999, Vol. 48, No. 45, S.1029-1034.

4) E.G. Richardson und D. Hemenway (2011): Homicide, suicide, and unintentional firearm fatality: comparing the United States with other high-income countries, 2003. The Journal of Trauma and Acute Care Surgery, Vol. 70, Issue 1, S.238-243.

5) CDC: Rates of homicide, suicide, and firearm-related death among children – 26 industrialized countries. MMWR, 7. Februar 1997, Vol. 46, No. 5, S.101-105.

6) M. Killias (1993): International correlations between gun ownership and rates of homicide and suicide. Canadian Medical Association Journal (CMAJ), Vol. 148/(10), S.1721-1725.

7) Ex-lawmaker Gabrielle Giffords launches gun control push. ABC Action News, 8. Januar 2013.

8) Zu der Zeit, als die US-Verfassung geschrieben wurde, wurde das in der Unabhängigkeitserklärung festgehaltene Ideal „dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“ fast ausschließlich auf weiße, männliche Landbesitzer bezogen.

9) Der ursprüngliche Text der Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 1787 wurde nie verändert, seither aber mehrmals ergänzt. Die »Bill of Rights« mit ihren zehn Zusatzartikeln (Amendments) von 1789 legen Grundrechte für die Bürger des Landes fest. Zum Zweiten Zusatzartikel siehe z.B. den entsprechenden Eintrag in Wikipedia; von hier wurde auch die dt. Übersetzung übernommen. [die Übersetzerin]

10) Zitat in Michael A. Bellesiles (2000): Arming America: The Origins of a National Gun Culture. New York: Alfred A. Knopf.

11) J. Horwitz und C. Anderson (2009): Guns, Democracy, and the Insurrectionist Idea. Ann Arbor: The University of Michigan Press.

12) In einem Interview mit »The MacNeil/Lehrer NewsHour«, 16. Dezember 1991.

13) District of Columbia v. Heller; 554 US 570, 128 SCt, 2783 (2008).

14) Tom Diaz (1999): Making a Killing: The business of guns in America. New York: The New Press.

15) American Medical Association Council on Scientific Affairs: Firearms injuries and deaths: a critical public health issue. Public Health Report, Volume 104, No. 2, März-April 1989, S.111-120.

16) D. Azrael und D. Hemenway: In the safety of your own home: results from a national survey on gun use at home. Social Science & Medicine, Vol. 50, Issue 2, Januar 2000, S.285-291.

17) Sunlight Foundation Reporting Group: Follow the unlimited money: National Rifle Association of America Political Victory Fund, 2012 Cycle. 11. April 2013.

Bill Durston war Scharfschütze beim U.S. Marine Corps und ist Vietnamkriegsveteran. Der Notarzt war Präsident und ist nun Vizepräsident des Sacramento-Chapters der US-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW).
Eine englische Langfassung dieses Artikels mit sehr ausführlichen Quellennachweisen ist anzufragen bei billdurston@comcast.net.
Übersetzt von Regina Hagen.

In keiner Weise erschöpfend behandelt

In keiner Weise erschöpfend behandelt

von Regina Hagen

Konflikte gehören zu unserem Leben, niemand bleibt davon verschont, sei es im privaten und beruflichen Umfeld oder auf nationaler und internationaler Ebene.

»Wissenschaft und Frieden« interessiert sich in dieser Ausgabe für Konflikte mit gesellschaftlicher Relevanz, die bei uns im »Globalen Norden« ablaufen, für ihre Dynamik und ihre Akteure. Das kann lediglich punktuell geschehen, ist doch allein die Zahl der Konflikte in Europa, die sich aktuell in den Medien widerspiegeln, erschreckend groß. Stellvertretend genannt seien hier nur die Massenproteste in Bosnien-Herzegowina, die offene und latente Ausländerfeindlichkeit, wie sie sich gerade anlässlich der Volksabstimmung in der Schweiz zeigt, und das Erstarken neofaschistischer Kräfte in Deutschland und zahlreichen weiteren Ländern.

Am Beispiel Ukraine lässt sich prototypisch nachvollziehen, was Ulrich Wagner und Christoph Butenschön in ihrem Artikel über die Dynamiken und sozialpsychologischen Ursachen von Intergruppenkonflikten beschreiben. In der Ukraine geht es unter anderem um die Frage der Identität, die zumindest in den westlichen Mainstream-Medien zugespitzt wird auf die Spaltung in den Westen des Landes mit starker Westeuropa-Orientierung und den Osten mit seiner Nähe zu Russland. Es geht um politische Werte und Normen. Und es geht um wirtschaftliche Belange, um die Assoziierung mit der Europäischen Union mit ihren gravierenden ökonomischen Folgen für die ukrainische Industrie und Landwirtschaft versus die Anbindung an die von Russland dominierte eurasische Zollunion, und um Ressourcen, wie die (rabattierte) Belieferung mit russischem Gas.

Ebenfalls prototypisch beobachten lässt sich in der Ukraine die Rolle von Akteuren, die von außen in das Land hineinwirken: Die Regierung Putin drängt die ukrainische Führung zum Beitritt in die eurasische Zollunion und schwankt in ihrem Verhalten zwischen dem Versprechen großzügiger finanzieller Unterstützung und der Drohung mit Handelssanktionen. Die Europäische Union, und mit ihr die deutsche Bundesregierung, setzen gleichfalls auf Zuckerbrot und Peitsche. Was weder Russland noch Europa bislang bieten, ist die Zusage, sich des Themas im Sinne einer Deeskalation kreativ und kooperativ anzunehmen, anstatt konfrontativ.

Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU versprach Kommissionspräsident Barroso im Dezember 2012: „Sie können darauf zählen, dass wir uns weiterhin für dauerhaften Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in Europa und in der Welt einsetzen.“ Ist die Einlösung dieses Anspruchs schon innerhalb der EU kritisch zu hinterfragen –unsere AutorInnen beschreiben das Näherrücken unterschiedlicher Krisen- und Konfliktphänomene beispielhaft für die Länder Frankreich, Griechenland, Spanien und Ungarn –, so spricht dem Anspruch direkt Hohn, wie die EU nach außen agiert und dort Konfliktdynamiken provoziert oder verstärkt: Rückübernahmeabkommen mit Ländern, die Flüchtlingen keinen Schutz bieten; Ausbau der »Festung Europa« gegen unerwünschte Migration; Unterwerfung zahlreicher Länder unter die kapitalistische Logik der großen Konzerne und der »Troika«, was vielerorts zu Verarmung, hoher (Jugend-) Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung führt; Militarisierung der EU von der Forschung bis zur praktischen Politik; Rüstungsexporte in Kriegs- und Spannungsgebiete und vieles mehr.

Und Deutschland? Deutschland strotzt seit Jahren vor Kraft und treibt die EU mit seiner Politik vor sich her. Nun werden die Machtansprüche offener und schärfer formuliert. Bundespräsident Gauck kündigte bei der Sicherheitskonferenz in München selbstbewusst an, Deutschland wolle sich global „einmischen“ und „mehr Verantwortung in der Welt übernehmen“. Außenminister Steinmeier formulierte es beim gleichen Anlass so: „Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen. […] Deutschland will und wird Impulsgeber sein für eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Verteidigungsministerin von der Leyen bekräftigte vor demselben Publikum, „Abwarten“ sei bei Krisen und Konflikten wie in Syrien, Libyen oder Afrika „keine Option“. Sie fügte ergänzend hinzu, „dass diese Aufzählung in keiner Weise erschöpfend ist […] Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.“ Gauck, zu dessen Aufgaben als Bundespräsident es keinesfalls gehört, sich in die aktuelle Außen- und Militärpolitik der Regierung einzumischen, begründete den neuen Machtanspruch wie folgt: „[W]ichtigstes außenpolitisches Interesse“ Deutschlands sei es bei alledem, „dieses [Welt-] Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen“. Ein Denken und eine Politik, die die Konfliktdynamiken weiter anheizen dürften.

Wir können in diesem Heft nur auf wenige Konflikte im »Globalen Norden« eingehen und diese keineswegs erschöpfend behandeln. Interessante Lektüre wünsche ich Ihnen dennoch damit.

Ihre Regina Hagen

Junge Männer und der Krieg

Junge Männer und der Krieg

»Youth Bulge« im sicherheitspolitischen Diskurs

von Jonna Schürkes

Im Zuge des »arabischen Frühlings« hat die These, dass viele junge Männer die Stabilität einer Gesellschaft gefährden, neuen Aufwind bekommen. Viele Vertreter der »Youth Bulge«-These teilen die Welt in jene Gesellschaften, in denen es zu viele junge Männer und daher Unruhen, Aufstände und Bürgerkriege gebe, und solche, in denen ein Mangel an jungen Männern eine globale Ordnungspolitik erschwere. Während die zuerst genannten Gesellschaften vor allem im globalen Süden zu finden seien, lägen letztgenannte in Europa und Nordamerika. Der folgende Artikel argumentiert, dass diese Annahme nicht nur hervorragend in die vorherrschende Bedrohungsanalyse westlicher Sicherheitsexperten passt, sondern auch in die strategischen Überlegungen für zukünftige Kriege einfließt.

Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid löste Ende 2010 Massenproteste in Tunesien aus und brachte den Stein für die Umwälzungen in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel ins Rollen. Die Proteste wurden zunächst vor allem von jungen Menschen angeführt – prekarisierte, arbeitslose, teils sehr gut ausgebildete Jugendliche machten den Anfang, erst später kamen berufsständische Organisationen (wie Juristen und Ärzte) und Gewerkschaften hinzu. In der Folge widmeten sich Autoren unterschiedlichster Zeitungen und Zeitschriften der »Jugend« in der arabischen Welt; sie begleiteten junge Demonstranten und berichteten über ihre Anliegen, ihre Art der Organisation und des Protestes.

Es gab und gibt aber auch viele Artikel, die sich dem Thema aus einem anderen Blickwinkel nähern. Für sie sind die Umwälzungen in der arabischen Welt ein Beweis für ihre These, nach der vor allem von jenen Gesellschaften Unsicherheit, Instabilität und Krieg ausgehen, die über einen überproportional hohen Anteil an jungen Menschen verfügen.1 Dahinter steht die These des »Youth Bulge«. Sie geht von einer »gesunden Altersstruktur« einer Gesellschaft aus, die grafisch meist in Form einer Pyramide dargestellt wird. Der »Bulge« – also die »Ausstülpung« – ist damit bildlich zu verstehen: als eine Beule der Pyramide an der Stelle, an der die Anzahl der 15- bis 29-Jährigen abgebildet wird. Dieser große Anteil von Menschen im „Kampfalter“ 2 wird als Sicherheitsproblem identifiziert, mit dem nicht nur die Regierungen der jeweiligen Länder, sondern auch westliche sicherheitspolitische Akteure umzugehen hätten.

Die »Analyse«: Von zu vielen …

Die »Youth Bulge«-These schaffte es mit den Umwälzungen in der arabischen Welt in Zeitungen und Massenmedien.3 Allerdings bezieht sie sich nicht ausschließlich auf den Mittleren Osten und Nordafrika, auch wenn diese Region von Vertretern der »Youth Bulge«-These immer besonders argwöhnisch betrachtet wurde.4 Vielmehr gilt: „Wo immer und wann immer die Medien über Massendemonstrationen, Terrorismus, Unabhängigkeitsbewegungen, Zusammenstöße zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, Aufstände und Pogrome berichten, findet immer jemand einen überproportionalen Anteil an jungen Männern“.5 So wurde beispielsweise auch der aktuelle Konflikt in Mali mit einem zu starken Bevölkerungswachstum in der Sahel-Zone und einer zu großen Anzahl unkontrollierter junger Männer erklärt.6

Richard Cincotta vom US-amerikanischen sicherheitspolitischen Think-Tank Stimson Center spricht daher auch gleich von einem „demographischen Bogen der Unsicherheit“.7 Dieser umfasse jene Länder, in denen die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahren ist, was derzeit für fast alle afrikanischen, lateinamerikanischen, arabischen und südasiatischen Länder gilt.

Es werden unterschiedliche Erklärungen dafür geliefert, warum der »Überschuss« an jungen Männern – junge Frauen spielen in den Analysen eine untergeordnete Rolle8 – zu Konflikten führe.9 Cincotta selbst liefert vor allem malthusianische Erklärungsmuster. Ihm zufolge entstehen aufgrund eines Bevölkerungswachstums Konflikte um knappe Ressourcen (Ackerland, Trinkwasser, Lebensmittel), welche von der jungen männlichen Bevölkerung gewaltsam ausgetragen würden.10 Zudem betont er, dass es vor allem junge Männer seien, die für die Urbanisierung in den »Entwicklungsländern« verantwortlich wären. Sie würden in die Megastädte migrieren und dort in Vierteln ohne ausreichende Infrastruktur und ohne Erwerbsmöglichkeiten landen. Diese Viertel seien dann wiederum Brutstätten von politischer Gewalt.11 Für Gunnar Heinsohn, den wohl wichtigsten deutschen Vertreter der »Youth Bulge«-These, steht fest, dass es der Wettkampf junger Männer um eine begrenzte Anzahl an Posten in einer Gesellschaft ist, der Gewalt und Kriege auslöst, neben einer grundsätzlichen »Friss-oder-Stirb-Erziehung«, die er in den Familien der »Dritten Welt« ausmacht.12 Hendrik Urdal vom Osloer Peace Research Institute hingegen vertritt die These, dass es in Gesellschaften mit einer hohen Anzahl von jungen Männern für Rebellengruppen, Aufständische oder Terroristen einfacher sei, Kämpfer zu rekrutieren, weswegen auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten steige. Vor allem unverheiratete und erwerbslose Männer seien davon betroffen, weil sie weit weniger zu verlieren hätten.13

So unterschiedlich die Analysen der Vertreter der »Youth Bulge«-These auch sein mögen – von einer offen rassistischen Argumentation Heinsohns bis hin zur Analyse Urdals, in der demographische und sozioökonomische Faktoren berücksichtigt werden –, ist für sie die Größe der Gruppe junger Männer und die Tatsache, dass sie nicht (ausreichend) kontrolliert und diszipliniert werden, entscheidend: „Die Hypothese des Youth-Bulge […] hat einen Resonanzboden in einer weit verbreiteten und wahrscheinlich zutreffenden Sichtweise, nach der ledige Männer im Alter von 15 (oder sogar jünger) und 25 für die soziale Ordnung gefährlich sein können, wenn sie nicht beschäftigt sind, nicht durch Bildungseinrichtungen oder das Militär diszipliniert werden und nicht unter elterlicher oder gemeinschaftlicher Kontrolle stehen […].“ 14

Nun weisen fast alle Autoren mehr oder weniger deutlich darauf hin, dass nicht allein ein »Überschuss« an jungen Männern ein sicherheitspolitisches Problem darstellt, sondern es immer auch anderer Faktoren bedarf, damit Konflikte tatsächlich ausbrechen. Auch mögen einige der Thesen eine gewisse Berechtigung haben (fehlende Perspektiven als Motiv für Konflikte o.ä.). Die unabhängige Variable in diesen Analysen ist jedoch die Anzahl der jungen Männer in den Gesellschaften des Südens, die abhängige die Wahrscheinlichkeit von Instabilität und Konflikt. Bei allen anderen Faktoren handelt es sich höchstens um intervenierende Variablen. Damit leisten diese Vertreter der »Youth Bulge«-These – bewusst oder unbewusst – einen Beitrag zur rein repressiven Bearbeitung von Konflikten.

… und zu wenigen jungen Männern

Gleichzeitig kommt kaum eine Analyse über die sicherheitspolitischen Probleme des »Youth-Bulge« ohne den Verweis aus, dass in den Gesellschaften des Nordens wiederum die Anzahl der jungen Männer sinkt – was aus ihrer Sicht ebenfalls problematisch ist. Die »Überalterung« der Bevölkerung in den USA und in der Europäischen Union führe dazu, dass nicht genügend junge Männer zur Verfügung stünden, um in den Ländern des Südens militärisch zu intervenieren und dort Ordnung und Sicherheit herzustellen: „Diese demographischen und ökonomischen Veränderungen bedeuten auch, dass die militärischen Kapazitäten von großen Entwicklungsländern steigen werden, während die Fähigkeiten der reichen Nationen, Bodentruppen zu entsenden, um die Konfliktregionen zu kontrollieren, abnehmen werden.“ 15

Das Problem ergebe sich jedoch nicht nur daraus, dass faktisch eine geringere Anzahl von rekrutierungsfähigen Menschen zur Verfügung stehe, sondern auch aus dem, was Herfried Münkler als »postheroische Gesellschaft« bezeichnet: Weil Familien im Westen meist nur wenige Kinder hätten, seien sie nicht bereit, diese im Krieg zu opfern.16 „Die weniger entwickelte Welt wird von den Strategen überdies dadurch im Vorteil gesehen, dass fast jeder Junge in der Ersten Welt der einzige Sohn oder gar das einzige Kind ist, so dass die Angst um sein Überleben jeden nichtzivilen Einsatz so gut wie unmöglich macht. […] Hingegen können die Familien der Dritten Welt einen oder gar mehrere Söhne verlieren und immer noch funktionieren.“ 17 Die »postheroischen Gesellschaften« würden Münkler und Heinsohn zufolge also Kriege mit einem zu großen Risiko für die eigenen Soldaten vermeiden, wohingegen die Gesellschaften und v.a. auch Familien des Südens gerne bereit wären, ihre Kinder in Kriegen zu opfern. Abgesehen von dem Rassismus, der hinter dieser These steht, wird hier ein Bild über die Ursachen von Kriegen im Süden gezeichnet, das zwar dem Weltbild der beiden Autoren entsprechen mag – nämlich der Annahme, Krieg und Gewalt in den Ländern des Südens würden von jenen Menschen angezettelt werden, die unter ihnen zu leiden haben –, mit der Realität jedoch wenig zu tun hat.

Strategie: der Einsatz der »Überflüssigen« für westliche Interessen

Recht haben Heinsohn und Münkler allerdings in dem Punkt, dass die westlichen Staaten bestrebt sind, Kriege zur Aufrechterhaltung einer – vor allem ihnen dienenden – Ordnung zu führen, in denen eigene Soldaten möglichst wenig Gefahren ausgesetzt sind. In klarer Bezugnahme auf unterschiedliche demographische Entwicklungen in der Europäischen Union und in den Ländern des Südens betont etwa ein Bericht der Europäischen Rüstungsagentur EDA von 2006 die Notwendigkeit der Bündelung von Fähigkeiten in der EU und vor allem die Investition vorrangig in jene Bereiche, die dem Schutz von Soldaten dienen oder sie gar auf dem Kampffeld ersetzten könnten (Stichwort »Automatisierung der Kriege«).18

Allerdings sei es in so genannten »asymmetrischen Kriegen« und vor allem auch bei Kämpfen im urbanen Raum so, dass die technologische Überlegenheit der westlichen Armeen kaum mehr zum Tragen komme,19 sodass diese andere Wege suchen müssten, um Kriege mit möglichst wenigen eigenen Toten führen zu können: „[S]ie werden zunächst versuchen, arbeitsintensive durch kapitalintensive Hightech-Prozesse – wie Roboter und unbemannte Fahrzeuge – zu ersetzten. Sie können Staatsbürgerschaften gegen das Ableisten von Militärdiensten anbieten und Kämpfer direkt in Übersee anheuern […] Eine andere Möglichkeit, eigene durch fremde Arbeitskraft zu ersetzte, sind Allianzen mit Entwicklungsländern, die gewillt sind, im Gegenzug zu technischer und finanzieller Hilfe Truppen zur Verfügung zu stellen. Die Armeen entwickelter Länder müssten dann diese Truppen nach ihren Standards ausbilden und ausrüsten“.20

Ähnlich äußerte sich Jack Goldstone auf einer Tagung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), die sich selbst als höchstrangige ressortübergreifende Weiterbildungsstätte des Bundes im Bereich der Sicherheitspolitik bezeichnet: „Englands Empire war größtenteils mit Armeen ausgestattet, die vor allem in den Kolonien rekrutiert wurden. Auch wenn es keine Kolonien mehr gibt, so legt die Marktwirtschaft nahe, dass Entwicklungsländer mit einer großen Anzahl an jungen Menschen bereit sein könnten, diese zur Ausbildung und zum Einsatz internationalen Milizen zur Verfügung zu stellen. Der beste und ökonomischste Weg für Europa, die USA und Japan, ihre Kapazitäten zur militärischen Intervention mit großen Truppenzahlen aufrecht zu erhalten, ist es, multinationale Milizen zu trainieren, zu bewaffnen und auszubilden, um sie dann in Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen einzusetzen. Dies könnte die ideale Kombination aus Technologie der entwickelten Länder und der Verfügbarkeit von Arbeitskraft der Entwicklungsländer sein, um wirksame Interventionen durchführen zu können.“ 21

Etwas anderes schwebt Gunnar Heinsohn vor: „Siege über angreifende youth-bulge-Nationen dürfen nicht zu einer Besatzung ausgebaut werden. Sicherzustellen ist lediglich, dass der Gegner seine aggressiven Potentiale wieder daheim exekutiert. Dabei kann man die zivilisationsnähere Seite durchaus logistisch und waffentechnisch unterstützen.“ 22

Beide Vorschläge werden vor allem von der Europäischen Union intensiv umgesetzt. So wurde beispielsweise die »zivilisationsnähere« Seite im libyschen Bürgerkrieg ebenso bewaffnet, wie heute im Rahmen einer Mission in Mali die Armee von europäischen Soldaten ausgebildet und ausgerüstet wird. Auch erinnern die Interventionstruppen auf dem afrikanischen Kontinent stark an das Konzept der »internationalen Milizen«, das Goldstone vorschlägt. So wird nicht nur deren Ausbildung und Ausrüstung, sondern auch ihr Einsatz maßgeblich von der EU bezahlt.

Demographische Analysen in der Sicherheitspolitik

Wie an verschiedener Stelle angedeutet, handelt es sich bei den Vertretern der »Youth Bulge«-These keinesfalls lediglich um alte, weiße Männer, die in den Kommentarspalten der Tageszeitungen von der Gefahr des Bevölkerungswachstums und der zu großen Anzahl junger Männer im Globalen Süden schwadronieren. So ist beispielsweise Gunnar Heinsohn nicht nur Gast unzähliger Talkshows im deutschen Fernsehen, er ist vielmehr ebenso wie Jack Goldstone ein gern gesehener Referent bei der BAKS23 und lehrt auch am NATO Defence College in Rom.24 Richard Cincotta wiederum ist Mitautor der letzten »Global Trends« des US-amerikanischen National Intelligence Council, dem Zentrum der US-Geheimdienste für mittel- und langfristige strategische Prognosen. Damit lässt sich wohl das prominente Kapitel zu den sicherheitspolitischen Implikationen der demographischen Entwicklung in den Vorhersagen für 2025 und 2030 erklären.

Demographische Entwicklungen werden also (wieder) zu einem sicherheitspolitischen Thema. Auch wenn sich die Vorschläge zum direkten Eingreifen in die demographische Entwicklung in Grenzen halten, so verbinden einige Vertreter der »Youth Bulge«-These die Forderung nach Entwicklungshilfe in Bereiche wie Mädchenbildung, Mutter-Kind-Gesundheit und HIV/AIDS-Prävention mit der Notwendigkeit, diese Länder demographisch und damit sicherheitspolitisch zu stabilisieren.25 Andere hingegen fordern eben mit dem Verweis auf den »Überschuss« an jungen Menschen die Kürzung oder Konditionierung von Entwicklungshilfe. So fordert Heinsohn das „Ende aller Beihilfen [gemeint sind Lebensmittelhilfen, Entwicklungsgelder] für demographische Aufrüstung à la Gaza“,26 und Hartmut Dießenbacher träumt von einem Geburtenkontrollvertrag, der die Überbevölkerung stoppen soll: „Der Geburtenkontrollvertrag, der wie ein Atomwaffensperrvertrag funktionieren könnte, würde beinhalten müssen, dass die Regierungen fortpflanzungskontrollierter Länder ihre politischen Beziehungen zu Ländern mit bevölkerungsexplosiver Regeneration unter den Geburtenkontrollvorbehalt stellen. Wirtschafts- und Handelsverträge, Waffenlieferungen, Schuldenerlasse, Zollabkommen, Entwicklungshilfen aller Art wären an den Nachweis wirksamer Geburtenkontrolle zu binden.“ 27

Besonders drängen Demographen allerdings darauf, Indikatoren über die Bevölkerungsentwicklung in sicherheitspolitische Frühwarnsysteme zu integrieren. Politische Entscheidungsträger und Sicherheitskräfte könnten mit Hilfe der Auswertung von Daten über Geburten- und Sterberaten auf kommende Unruhen, Aufstände und (Bürger-) Kriege vorbereitet werden und entsprechend reagieren, so das Versprechen: „Würde der demographische Faktor in der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik stärker beachtet, wäre das Auftreten künftiger, stark von der demographischen Entwicklung getriebener Krisen weniger überraschend. Im Hinblick auf die arabische Welt kommt diese Erkenntnis zu spät. In diversen Ländern südlich der Sahara könnte in einigen Jahren ein ähnlich explosives Unruhepotential virulent werden“, ist sich die regierungsnahe deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik sicher.28 Die NATO hat entsprechend schon 2009 ein Analyseraster erstellen lassen, in dem der Zusammenhang zwischen der demographischen Entwicklung in den Ländern des Mittleren Ostens und der Wahrscheinlichkeit von Aufständen und (Bürger-) Kriegen dargestellt wird. Ziel der gesamten Forschungsreihe war es, für die NATO solche Krisen für die nächsten fünf bis zwanzig Jahre besser vorhersehbar zu machen. Der Autor Anton Minkov kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Anteil von 15- bis 29-jährigen an der Gesamtbevölkerung und der „Gefahr von Instabilitäten und politischen Veränderungen“ gebe.29

Inwieweit solche Daten derzeit schon in Frühwarnsystemen integriert sind, ist unklar. Es ist aber zu befürchten, dass solche Erkenntnisse vor allem dazu führen, dass die Regime der jeweiligen Länder – im Zweifelsfall mit der Unterstützung des Westens – ihre Repressionsorgane ausbilden und aufrüsten werden, um bei Unruhen effektiv reagieren zu können. Dass dies keine aus der Luft gegriffene Behauptung ist, zeigt eine jüngst erschienene Analyse, die sich zwar ebenfalls mit dem so genannten »Youth Bulge« beschäftigt, allerdings von vollkommen anderen Annahmen ausgeht. Hier wird der Zusammenhang zwischen der Repression des Staates und der Anzahl junger, erwerbsloser Menschen beleuchtet. Das Ergebnis der Studie lautet: „Mit unseren Analysen konnten wir unsere theoretische Annahme bestätigen, dass der Youth-Bulge eine Auswirkung auf das repressive Verhalten des Staates hat. Konfrontiert mit einer großen Gruppe an jungen Menschen, sind politische Autoritäten eher gewillt, repressiv zu regieren […].“ 30

Anmerkungen

1) Siehe z.B. Daniel LaGraffe: The Youth Bulge in Egypt: An Intersection of Demographics. Security and the Arab Spring. Journal of Strategic Security, Vol. 5, Nr. 2, Sommer 2012; S.65-80. Richard Cincotta: Tunisia’s Shot at Democracy: What Demographics and Recent History Tell Us. Wilson Center, 25.01.2011. Elizabeth Leahy Madsen: Yemen: Revisiting Demography After the Arab Spring. Wilson Center, 17.04.2012.

2) Anton Minkov (2009): Demographics-Based Analytical Framework for the Assessment of Security and Regime Stability: The Case of the Middle East. Bericht für die Research and Technology Organisation (RTO) der NATO, Dokument RTO-MP-SAS-081.

3) Zu viel Testosteron in Ländern der arabischen Welt. Salzburger Nachrichten, 24.03.2011. Ägypten und die Demographie – Das große Töten der Jungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2011. Erst Testosteron macht Männer zu Revolutionären. Die Welt, 13.07.2012.

4) Vgl. u.a. Richard Jackson and Neil Howe (2008): The Graying of the Great Powers: Demography and Geopolitics in the 21st Century. CSIS-Global Aging Initiative. Jack A. Goldstone: Flash points and tipping points: Security Implications of Global Population Changes, 2005-2025. Vortrag gehalten auf der Konferenz »Demographische Veränderungen im sicherheitspolitischen Kontext« der Atlantik-Bücke und des BAKS, Berlin, 13.11.2006, S.19.

5) Weiner, Myron and Teitelbaum, Michael S. (2001): Political Demography, Demographic Engineering. New York: Berghahn Book, S.18.

6) Mali’s 2.5 Percent Problem – The real reason the Sahel is awash with terrorists? Rapid population growth. Foreign Policy, 28.01.2013.

7) Richard Cincotta: Whither the Demographic Arc of Instability? Washington D.C.: Stimson Center, 24.11.2010.

8) „Der Kampfvorteil eines männlichen Kriegers gegenüber einem Mutter-Kind-Paar sorgt also dafür, daß in den Berechnungen der Strategen die Mädchen eher als Gebärerinnen weiterer Krieger denn als eigenständige militärische Bedrohung zum Zuge kommen.“ Gunnar Heinsohn (2006): Söhne und Weltmacht – Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Zürich: Orell Fuessli, S.15.

9) Einen Überblick über verschiedene Studien zum Zusammenhang zwischen einer jungen Bevölkerung und Konflikten bietet: Silvia Popp (2012): Jugendüberhang und Konfliktrisiko. Ein Überblick über die Ergebnisse der empirischen Forschung seit 1990. SWP-Zeitschriftenschau, Dezember 2012.

10) Richard Cincotta, Robert Engelmann, Daniele Anastasion (2003): The Security Demographic. Population And Civil Conflict After The Cold War. Population Action International.

11) Richard Cincotta (2004): Demographic Security Comes of Age. ECSP-Report Nr. 10.

12) Heinsohn 2006, op.cit., S.15.

13) Hendrik Urdal (2012): Youth Bulges and Violence. In: Jack A. Goldstone et al. (eds.): Political Demography – How Population Changes Are Reshaping International Security and National Politics. Oxford: Oxford University Press, S.120.

14) Weiner und Teitelbaum, op.cit., S.18.

15) Goldstone 2006, op.cit., S.11.

16) Die postheroische Gesellschaft in Europa. Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010.

17) Heinsohn 2006, op.cit. S.15.

18) European Defence Agency (EDA) (2006): An Initial Long-Term Vision For European Defence Capabilities And Capacity Needs.

19) Vgl. Brian Nichiporuk (2000): The Security Dynamics of Demographic Factors. RAND Corporation, S. xiv.

20) Jackson and Howe, op.cit., S.13.

21) Goldstone 2006, op.cit., S.19.

22) Gunnar Heinsohn: Youth Bulges und westliche Niederlage. griephan-globalsecurity, 3/2008; S.45.

23) Referentenliste des Seminars für Sicherheitspolitik 2011 und 2012; baks.bund.de.

24) Göran Therborn: NATO’s Demographer. New Left Review, Nr. 56, March/April 2009.

25) Cincotta, Engelmann, Anastasion, op.cit.

26) Heinsohn 2008, S.45.

27) Hartmut Dießenbacher (1998): Kriege der Zukunft. München: Hanser, S.158f.

28) Wenke Apt: Aufstand der Jugend – Demographie liefert Hinweise auf Konfliktpotentiale. SWP-Aktuell, März 2011; S.4.

29) Minkov, op.cit..

30) Ragnhild Nordås and Christian Davenport: Fight the Youth: Youth Bulges and State Repression. American Journal of Political Science, 2013.

Joanna Schürkes ist Politikwissenschaftlerin und im Beirat der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI).

Jugend und Veränderung

Jugend und Veränderung

von Fabian Virchow

Erst die Aufklärung als besondere Epoche westlicher Philosophie schuf »Jugend« als eigene Wirklichkeit und besondere Lebensphase. Lange hatte dann zunächst, wer von »der Jugend« sprach, vor allem junge Männer der Mittel- und Oberschicht im Blick. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass »Jugend« ein historisch gewachsener Begriff ist. Dieser ist angesichts seiner regelmäßigen Instrumentalisierung durch politische Bewegungen nicht nur hinsichtlich seiner je spezifischen ideologischen Funktion kritisch zu befragen, sondern auch nach den Spezifika seines historischen Auftretens entlang gesellschaftlicher Strukturmerkmale wie Klasse und Geschlecht zu untersuchen und zu würdigen. Allgemeine Etiketten, die »die Jugend« angemessen zu charakterisieren beanspruchen, sind fehl am Platze. Trotz Globalisierung: Die Lebenssituationen der Mehrheit der jungen Menschen im »globalen Süden« sind mit denen ihrer AltersgenossInnen im »globalen Norden« kaum zu vergleichen.

In vielen Gesellschaften ist die soziale Lage großer Teile der jungen Menschen nur als trostlos und skandalös zu bezeichnen. In einigen Ländern der Europäischen Union – Griechenland, Spanien, Kroatien – hat die saisonbereinigte Jugendarbeitslosenquote im Mai 2013 die 50%-Marke überschritten. Wirksame Handlungskonzepte, die dies in absehbarer Zeit ändern könnten, werden von den Regierungen bisher nicht formuliert, geschweige denn in Angriff genommen. In anderen Teilen der Welt müssen Kinder und Jugendliche unter lebensgefährlichen Bedingungen zum kargen Familieneinkommen beitragen – die mit Presslufthämmern in indischen Steinbrüchen arbeitenden Kinder oder die ohne die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen nicht denkbaren Billigtextilien seien als lediglich zwei aktuelle Beispiele genannt, die damit einhergehen, dass die Möglichkeit einer qualifizierten Schulausbildung verwehrt bleibt.

Wo Jugendliche angesichts solcher Konstellationen in der Ausübung von Gewalt und in kriminellem Handeln subjektiven Sinn herstellen, werden sie regelmäßig als Problem des Kontroll- und Strafsystems adressiert. Tragischer Weise reproduzieren sie dabei häufig zugleich auch die Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Strukturen und der spezifischen Gewaltkultur der jeweiligen Gesellschaften. Ohne eine grundlegende Veränderung der gewaltproduzierenden Strukturen werden die Bemühungen um einen Abbau gewaltförmigen Verhaltens aber weitgehend wirkungslos bleiben.

Jugendliche reagieren auf die Einschränkung ihrer Entwicklungs-und Entfaltungsmöglichkeiten, auf die Erfahrung von personeller und staatlicher Gewalt sehr unterschiedlich. Sie wenden sich beispielsweise Religionen, Heilslehren und gegenaufklärerischen Weltanschauungen zu, um Orientierung und Handlungssicherheit zu finden, aber auch um Teil eines sozialen Zusammenhanges zu werden, der sie trägt und unterstützt.

Der Glaube an eine substantielle Veränderung der Situation ist gering, entsprechende Ankündigungen der etablierten politischen Klasse klingen für junge Menschen, von denen erwartet wird, dass sie ihre Lebensplanung zielstrebig verfolgen, hohl. So beteiligen sich auch viele Jugendliche und junge Menschen – etwa im so genannten Arabischen Frühling oder jüngst in der Türkei – an den sozialen und politischen Kämpfen, nicht selten unter Inkaufnahme persönlicher Risiken, die sich von denen der Mehrheit ihrer AltersgenossInnen in den so genannten etablierten Demokratien des Westens häufig beträchtlich unterscheiden.

Freilich existieren in den Artikulationen der Unzufriedenheit und des Protestes gegen die Regierenden – und gelegentlich auch gegen die wirklichen Machthaber – zahllose Widersprüche, die die Realisierbarkeit der Vielfalt der Lebensentwürfe der Beteiligten betreffen. Wo sich etwa Frauen gegen sexualisierte Gewalt und Übergriffe im Alltag, aber auch während öffentlicher Protestversammlungen wehren, geht es neben der unmittelbaren Zurückweisung des Angriffs und der damit verbundenen gesellschaftlichen Platzzuweisung auch um das Recht auf Selbstbestimmung und die angstarme Möglichkeit zu politischer Partizipation.

Auch die Entscheidung zur Migration bleibt für viele junge Menschen angesichts der ökonomischen Krise und fehlender Perspektive angemessener Einkommensgenerierung und der Realisierung des persönlichen Lebensentwurfes eine nachvollziehbare Option. Den Gesellschaften, die sie verlassen, gehen dabei häufig für gesellschaftliche Aufgaben qualifizierte Menschen verloren. Dass es sie in Länder zieht, die hinsichtlich der Kennziffern des durchschnittlichen Wohlstandsniveaus besser gestellt sind, ist ihnen nicht zu verdenken. Der politische Kampf und das Eintreten gegen autokratische Herrscher und konfessionsgebundene gewaltförmig ausgetragene Konflikte wird weitergehen – unter großer Teilnahme junger Menschen.

Fabian Virchow

Renaissance der deutschen Geopolitik?

Renaissance der deutschen Geopolitik?

von Jürgen Oßenbrügge und Sören Scholvin

Der Begriff Geopolitik beschreibt allgemein das Zusammenspiel zwischen Geographie und Politik oder zwischen Raum und Macht. Konkreter wird der Begriff, wenn auf die mögliche Renaissance dieses Denkens eingegangen wird, denn geopolitische Denkfiguren und Legitimationen für politische Interessen sind in Deutschland bekanntlich bereits früher sehr wirkmächtig gewesen – und sie sind es heute wieder, wie im folgenden Beitrag ausgeführt wird.

Die »Glanzzeit« der Geopolitik in Deutschland ist zwischen den frühen 1920er Jahren und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu datieren. Wenn wir ihre damalige Außenwahrnehmung als Maßstab nehmen, kann man ihre Bedeutung kaum überschätzen: Die Westalliierten hielten die von Karl Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaute geopolitische Schule für die intellektuelle Grundlage der nationalsozialistischen Expansionspolitik und betrachteten das von ihm geleitete Institut für Geopolitik in München als den wichtigsten »Thinktank« im Umfeld der Nationalsozialisten (Dodds 2007: S.23f). Eine genauere historische Analyse würde diesen Eindruck zwar relativieren, dennoch ist Geopolitik im Vorfeld und während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland gleichzusetzen mit Großmachtpolitik »alter Art«, also mit Expansionismus, territorialer Kontrolle und Beherrschung inklusive Unterdrückung derjenigen, die nicht als Träger oder Unterstützer der Großmachtidee angesehen wurden.

Obgleich diese zu Recht diskreditierte Version der Geopolitik auch heute wieder eine Rolle spielt, bildet sie dennoch eine besondere (deutsche) Geschichte ab. Möchte man die Frage beantworten, inwieweit tatsächlich von einer Renaissance der deutschen Geopolitik gesprochen werden kann, so muss der Begriff deutlich breiter gefasst werden.

Geopolitik: ein schillernder Begriff

Jenseits des deutschen Sprachraums sind Analysen und Strategien auch nach dem Zweiten Weltkrieg relativ unvoreingenommen als Geopolitik bezeichnet worden. Unter dem Einfluss des »Kalten Krieges« ging es im internationalen Kontext um die Einfluss sphären der großen Machtblöcke und um die territoriale Kontrolle der nach Unabhängigkeit drängenden Staaten der »Dritten Welt«. Wichtige amerikanische Politikberater wie Zbigniew Brzeziñski und Henry Kissinger äußersten sich beispielsweise explizit geopolitisch und entwarfen Raumbilder über die vitalen Interessen der USA und des Westens.

Im deutschen Sprachraum verschwand der Begriff Geopolitik in der Nachkriegszeit dagegen aus Wissenschaft und Politikberatung. Erst nach der Auflösung der Blocklogik und angeregt durch die Wiedervereinigung nahmen Autoren auch hier wieder geopolitische Argumentationsmuster auf. Ausgangspunkt war ein vermeintliches »Machtvakuum«, das der Warschauer Pakt hinterlassen hätte und das nach einer räumlichen Neuordnung verlange. Auch regte die Wiedervereinigung Gedankenspiele über eine neue Rolle Deutschlands in der Weltpolitik an. Immer mehr Stimmen beziehen sich seitdem direkt und indirekt auf geopolitische Konzepte aus der Vergangenheit.

Daneben gibt es ein weiteres Spektrum von Beiträgen, das weniger darauf angelegt ist, Wege aufzuzeigen, wie ein besseres Raumverständnis Machtinteressen unterstützt. Vielmehr wird die Frage gestellt, ob naturräumliche Eigenschaften, Ressourcenbestände oder Bevölkerungsbewegungen einen relevanten Rahmen für Politik bilden. Gegenwärtig ist der Zugang zu Ölreserven ein typisches Beispiel für diese Form des Geodeterminismus. Aber auch andere Rohstoffe wie »seltene Erden« werden mit Blick auf Rohstoffsicherung untersucht. Weiterhin gibt es zahlreiche Spekulationen darüber, ob der Klimawandel eine veränderte Ressourcenverfügbarkeit sowie umweltbedingte Migrationsbewegungen und unkontrollierbare Verstädterungsprozesse befördert, somit möglicherweise Sicherheitsprobleme oder gar »Klimakriege« erzeugt.

Tab. 1: Typische Formen äußerer und innerer Geopolitik

Äußere Geopolitik Innere Geopolitik
Territorialitätsansprüche von Staaten einschließlich der Seerechtszonen Durchsetzungsformen und – probleme des staatlichen Gewaltmonopols im Staatsterritorium
Reichweite/Ausdehnung der Einflusszonen von Welt-, Groß- und Regionalmächten Sezessionistische und regionalistische Bewegungen, die die bestehende Staatlichkeit in Frage stellen
Zusammenschluss verschiedener Staaten zu regionalen Verbänden Konflikte zwischen Stammesgesellschaften, Clans oder Banden um die territoriale Kontrolle in Teilräumen eines Staates
Ausbreitung und räumliche Diffusion von politischen und religiösen Ideologien Nutzung natur- und kulturräumlicher Eigenschaften zur Legitimation von Machtansprüchen
Festlegung staatlicher Grenzen, die im Konflikt mit kultur- und naturräumlichen Gegebenheiten stehen Raumordnungs- und regionalpolitische Intervention des Staates
Sicherung der Rohstofflager und Handelswege (Geoökonomie) Wahlgeographische Gliederung demokratisch repräsentativer Staaten
nach Lacoste 1990, erweitert

Insgesamt besteht aber keine Klarheit über das Thema Geopolitik, die für die Konstitution einer wissenschaftlichen Perspektive hilfreich wäre. Lediglich die Dominanz räumlicher Konfigurationen für politische Prozesse kann als einendes Moment erkannt werden. Yves Lacoste, Gründungsmitglied und Herausgeber der Zeitschrift »Hérodote«, die seit 1976 die wichtigste Zeitschrift zum Thema darstellt, versteht unter Geopolitik zudem nicht nur naturräumliche und geostrategische, sondern auch die Vielzahl lokalspezifischer Einflussgrößen für Machtrivalitäten, Konflikte und Interaktionen zwischen globalen und lokalen Faktoren. Entscheidend ist für Lacoste die territoriale Perspektive (Lacoste 1990), die er als äußere und innere Geopolitik beschreibt (vgl. Tab. 1).

Auf eine umfassende Darstellung der damit verbundenen Themen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf zwei Aspekte: Als erstes zeigen wir die Argumentationsstränge auf, die sich mit der »alten« Geopolitik in der Tradition Haushofers in Verbindung bringen lassen und ein nationalistisch gefärbtes Großmachtdenken repräsentieren. Sodann gehen wir auf ressourcenpolitische Themen ein, die auf unterschiedlichen Wegen zu Empfehlungen für territoriale Kontrollregime führen und die wir in einen Zusammenhang mit dem »Krieg gegen den Terror« bringen. Dieses Vorgehen bildet sicher nicht das gesamte geopolitische Spektrum ab, soll jedoch zumindest die wichtigen Diskurse aufnehmen, die im deutschen Sprachraum zu finden sind.

Geopolitik als Machtpolitik des wiedervereinigten Deutschland

Die Renaissance der Geopolitik in Deutschland begann mit solchen Beiträgen, die unmittelbar nach der Wiedervereinigung ein selbstbewussteres, an eigenen Interessen orientiertes Auftreten Deutschlands forderten. In Analogie zu den Arbeiten von Haushofer nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch in den 1990er Jahren Argumente zur Begründung einer veränderten außenpolitischen Praxis Deutschlands mit dem Ziel bemüht, geopolitisches Wissen als Fundament der so genannten vitalen Interessen einzusetzen. Beispielsweise legte der Historiker und Berater der Kohl-Regierung, Hans-Peter Schwarz, 1994 ein Werk mit dem Titel »Die Zentralmacht Europas« vor, in dem er aus Deutschlands Lage, Größe und ökonomischer und kultureller Potenz ein „natürliches Streben“ nach einem Großmachtstatus ableitete (Schwarz 1994, ähnlich Schöllgen 1993). Auch Arnulf Baring war der Auffassung, Deutschland müsse über die „provinziell verengte Perspektive“ der Bonner Republik hinauswachsen. Wie vor 1945 falle dem wiedervereinigten Deutschland die „Aufgabe“ zu, sich „als relative Vormacht Europas zu etablieren“ (Baring 1992, S.29-36). Der Unterschied zur alten Geopolitik besteht bei diesen Autoren lediglich in der Aufgabe der Autarkieoption. So solle durch die feste Einbindung Deutschlands in europäische und transatlantische Bündnissysteme den etwaigen Vorbehalten anderer gegen den Machtzuwachs Deutschlands entgegengewirkt werden (Schöllgen 1993, S.127-133).1

Derartige Positionen sind nicht in Unkenntnis der Konzepte und Wirkungsgeschichte der alten Geopolitik entstanden. Eher ist vom Gegenteil auszugehen, denn mit Hans-Adolf Jacobsen (1994, S.39-40) fordert einer der besten Kenner des Lebens und des Werkes Haushofers, dass seitens politischer Entscheidungsträger die „unverkennbaren Herausforderungen eines jeden Staates durch seine geographische Umwelt“ und die „Wechselwirkungen zwischen politischer Lebensform und geographischem Milieu“ berücksichtigt werden müssten. Wie Haushofer nach Ende des Ersten Weltkrieges sah auch Jacobsen (ebd., S.40) Geopolitik als wissenschaftliche Politikberatung an, die sich auf geographische Konstanten wie beispielsweise die Mittellage Deutschlands bezieht.

Näher an der völkischen Tradition deutscher Geopolitik stehen Beiträge, die auch den „Beginn einer an deutschen Interessen ausgerichteten Außenpolitik“ einfordern, diese jedoch mit Hinweisen auf „Dichteräume“ und ein „deutsches Psychogramm“ verbinden und damit direkt an die pseudowissenschaftliche Geopolitik der Zwischenkriegszeit anknüpfen (Detlefs 1998). Auch Felix Buck betonte den Wert geopolitischer Kenntnisse und Standpunkte, um – geleitet von deutschen Interessenlagen – „die Gestaltung, die Beeinflussung, vornehmlich aber die Beherrschung von Räumen“ umzusetzen (Buck 1996, S.11). Zudem sei geopolitisches Wissen notwendig, um dem deutschen Volk „ein umfassendes und wirklichkeitsgerechtes Weltbild“ zu vermitteln, welches „unerlässliche Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung“ der Zukunft Deutschlands sei (Buck 1996, S.69-70).

Als Zwischenbilanz sind zwei Gesichtspunkte nach unserer Meinung bedeutungsvoll: Zum einen wird seit einigen Jahren eine Neubelebung alter geopolitischer Denkstile sichtbar. Sie beschäftigen sich wie in der Entstehungsphase der deutschen Geopolitik in den 1920er Jahren mit dem Verhältnis von Macht und Raum in Europa vor dem Hintergrund des aufgelösten Ost-West-Gegensatzes und der europäischen Integration. Haushofers damalige Motivation war revisionistisch, geprägt durch deutsche Territorialverluste im Versailler Vertrag. Die modernen Formen sehen durch die Wiedervereinigung Deutschlands neue Möglichkeitsräume für territoriale Machtspiele, deren Nutzung empfohlen wird. In dieser Form dürfte sich auch in Zukunft ein machtorientierter Geopolitikdiskurs präsentieren und ein Streben nach einer eindeutigen Führungsrolle in Europa ausdrücken.

Zum anderen sollten die bisherigen geopolitischen Revitalisierungsversuche nicht überschätzt werden. Bislang taugt der Hinweis auf vermeintliche geopolitische Logiken nicht unbedingt, um Politiker und die politische Öffentlichkeit zu bewegen. Angesichts zunehmender globaler Vernetzungen und darin liegender Probleme scheint ein territoriales, primär auf das Gewicht und den Einflussbereich eines Nationalstaats ausgelegtes Machtkonzept nur ansatzweise zu überzeugen, um wirksam politische Meinungen und Handlungsweisen zu strukturieren. So zeigt eine Auszählung des Begriffs als Substantiv oder Adjektiv in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen zwar kontinuierlichen, aber keineswegs häufigen Gebrauch (Abb. 1). Es kommt hinzu, dass die Verwendung in den 1990er Jahren sich oft auf die Besprechung der oben genannten Literatur bezog, während in den letzten zehn Jahren zunehmend geopolitische Aspekte der Mensch-Umwelt-Beziehungen in den Vordergrund getreten sind, auf die wir im Folgenden eingehen.

Abb. 1: Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Der Begriff Geopolitik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

(Nennungen pro Jahr)

Geopolitik und globale Kontrolle

Auch wenn der Geopolitik »alter Art« derzeit keine besondere Rolle zuzuschreiben ist, bildeten sich wirkmächtige »neue« Formen heraus. Mit der Bezeichnung »ungoverned territories« werden solche Räume bezeichnet, die sich einer staatlichen Kontrolle entziehen und damit ein Bedrohungspotential bilden. In großräumiger Perspektive hat Thomas Barnett bereits 2003 von der „nichtintegrierten Lücke“ gesprochen, die sich aus zusammenhängenden Regionen mit schwachen, zerfallenen Staaten und gravierenden Entwicklungsproblemen zusammensetzt (Barnett 2003). Dieser Raum wäre ein Rückzugs- und Operationsgebiet für terroristische Gruppen und daher eine latente Gefahr für den Westen. Der Krieg gegen den Terror müsse daher mit Anstrengungen verbunden werden, diese Teilräume unter Kontrolle zu bringen. Einige Jahre später legte die Rand Corporation in einer Studie für die US-Armee eine vertiefte Auseinandersetzung zum Thema »unregierbare Territorien« vor (Rabasa u.a. 2007; Schetter 2010). Danach liegen die »hot spots« der »nichtintegrierten Lücke« in schwer zugänglichen Gebieten (Gebirge, Wüsten, tropische Wälder), deren Erreichbarkeit durch große Distanzen und fehlende Infrastruktur erschwert wird. Inzwischen dehnt sich dieser Diskurs auch auf Megastädte aus, die als unregierbar gelten.

Die damit angedeutete neue geopolitische Sicherheitsdebatte wird seit einiger Zeit durch einen weiteren Faktor angereichert: den zunehmenden Bevölkerungs- und Umweltstress, der zu gewaltsamen Konflikten und umweltbedingter Migration führen könne. Die unkontrollierbaren Räume erweitern sich danach durch natur- und sozialräumliche Transformationsprozesse. Damit kehren wir zum deutschsprachigen geopolitischen Diskurs zurück, den wir am Beispiel des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2007) illustrieren.

Aufbauend auf ältere Arbeiten zum Syndrom-Ansatz wird in einem aufwendigen Gutachten das Argument entwickelt, dass der Klimawandel ein Auslöser für gesellschaftliche Destabilisierung und zahlreiche Konflikte sei. Nahrungsmittelknappheiten, Degradierung von Süßwasserreserven, der Meeresspiegelanstieg, Sturmgefahren sowie die umweltbedingte Migration stünden nicht nur für Krankheitsbilder des Erdsystems (Syndrome), sondern indizierten mögliche Konfliktkonstellationen. Sie erzeugten regionale Krisen und gesellschaftliche Destabilisierung, führten zu politischen Unruhen und beinhalteten einen weiteren staatlichen Kontrollverlust über das jeweilige Territorium. So mutieren die als »Sahel-Syndrom« angesprochenen Prozesse der Desertifikation (durch menschliche Nutzungsformen verstärktes Wachstum der Wüstenbildung) im Kontext der Klimadebatte und vor dem Hintergrund der Konflikte u.a. im Dafur, in Mali oder im Norden Kenias zu ersten Klimakriegen.

Folgt man dem WBGU und anderen sicherheitspolitisch motivierten Klimaforschern, dann wächst derzeit die desintegrierte Lücke und es entstehen neue Potentiale, die Gewaltformen auslösen oder verstärken. Eine besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den »Klimaflüchtlingen« beigemessen, deren Größenordnung in mehrstelliger Millionenhöhe geschätzt wird. Das verstärkte Aufkommen dieser Migrationsform wird, so das Argument, die Land-Stadt-Wanderung beschleunigen und die bestehenden Probleme in den sehr schnell wachsenden Städten verstärken. Es wundert daher nicht, dass hier die neuen Orte der Unregier- und Unkontrollierbarkeit vermutet werden (Liotta, Miskell 2012). Auch könnten Klimaflüchtlinge große internationale Migrationsströme verstärken und ein zunehmendes Sicherheitsproblem für den globalen Norden darstellen.

Dieses bereits beängstigende Szenario wird durch eine anders gelagerte Perspektive auf Ressourcen weiter befeuert. Weltweit steigt nach wie vor die Nachfrage nach mineralischen, energetischen und biotischen Ressourcen. Die sich verstärkenden Konkurrenzbeziehungen auf den Rohstoffmärkten, gekoppelt mit neuen ressourcenbezogenen Sicherungsstrategien sowie der Erfahrung, dass Ressourcenextraktion häufig mit gewaltförmigen Auseinandersetzungen verbunden ist, verstärkt die Forderungen nach territorialer Kontrolle solcher Rohstoffgebiete, die strategische Bedeutung für die eigene Wirtschaft aufweisen. Dabei spielen Erdöl, einige mineralische Rohstoffe und landwirtschaftliche Nutzflächen derzeit die größte Rolle und prägen geopolitische Debatten der letzten Jahre in den USA, in Europa und in den Schwellenländern (Oßenbrügge 2013).

Zusammenfassend lassen sich also zwei Prozesse unterscheiden, die den Umweltwandel als Sicherheitsfrage erscheinen lassen: Einerseits werden noch vorhandene Ressourcenvorkommen derzeit durch eine steigende Nachfrage schnell abgebaut, was neben höheren Rohstoffpreisen auch zu einem Wettlauf um die verbliebenen Lagerstätten führt. Andererseits können Veränderungen im Klimasystem bei bereits knapper Verfügbarkeit von Ressourcen der dort lebenden Bevölkerung die Lebensgrundlage entziehen und als Folge Marginalisierung, Konflikte und Migration auslösen. Beide Prozesse werden in geopolitischen Debatten als »Krieg um Rohstoffe« oder »Klimakriege« aufgeladen.

Allerdings sind »harte« Belege für ein vermehrtes Auftreten solcher Umweltkonflikte bisher rar und umstritten. Daher wird in der Friedens- und Konfliktforschung auch vom Vorgang der „securitization“ gesprochen (Brzoska, Oels 2011/12). Danach würde der Verweis auf mögliche gesellschaftliche Destabilisierungen, die auf demographische und ökologische Transformationen bezogen werden, auch eine Rechtfertigung für militärische Einsätze darstellen. Sie beziehen sich auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme territorialer Kontrollfunktionen, um die Orte und Räume, die als »hotspots« der Konfliktkonstellationen erkannt worden sind, zu sichern. Neben der Eindämmung möglicher ressourcenbezogener Konflikte geht es auch um die Rechtfertigung von Maßnahmen zur räumlichen Abschottung unerwünschter Migrationsformen.

Fazit

Der vorgelegte Beitrag gibt Hinweise auf die verschiedenen Wege, die eine Auffassung bestärken, es gäbe eine Renaissance der Geopolitik. Angesichts der Geschichte der Geopolitik sollte aber ein abschließendes Urteil sorgfältig zwischen einer ungebrochenen Wiederaufnahme des geopolitischen Denkens und modernisierten Formen unterscheiden. Eine Renaissance der Version einer Geopolitik, die Karl Haushofer in Deutschland begründete, ist nur ansatzweise zu erkennen. Auch wenn diese neueren Arbeiten kritisch kommentiert und eingeordnet werden müssen, ist eine Bedeutungszunahme nicht zu befürchten, da diese Art geopolitischer Argumentation zu unterkomplex ausgelegt ist. Angesichts heutiger globaler Verflechtungen überzeugen Konzepte nicht mehr, die den Nationalstaat als isoliert handelnden Akteur konzipieren und seine Macht mit dem Vermögen zur territorialen Kontrolle gleichsetzen. Selbst die USA haben gegenwärtig Schwierigkeiten, ihre Hegemonialstellung überall und zu jeder Zeit durchzusetzen. Zwar verweist das aktuell diskutierte deutsche Konzept der „Gestaltungsmächte“ (Kappel 2012) auf die Möglichkeit, gestufte hierarchische Systeme zu konzipieren, um eine Welt-Raumordnung umzusetzen. Jedoch würde so das Streben nach territorialer Kontrolle nur noch indirekt vermittelt, es wäre multilateral zu verhandeln und damit schwieriger durchsetzbar.

Wichtiger erscheint uns derzeit die vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit ressourcenbezogenen Zukunftsfragen zu sein, die durch zunehmende Nachfrage nach Rohstoffen oder den Klimawandel gesteuert werden. In diesem Zusammenhang werden als geopolitisch einzustufende Ansätze empfohlen, die auf Rohstoffsicherung und Eindämmung bestehender oder potentieller Ressourcenkonflikte abzielen. In der Summe regen diese Formen des Umgangs mit Ressourcen allerdings eine verstärkte Suche nach territorialen Kontrollregimen an, denen ein neoimperialer Charakter zuzuschreiben ist. Damit wird gleichzeitig der Bedarf nach einer »kritischen Geopolitik« unterstrichen, um territoriale und ressourcenbezogene Machtansprüche von Staaten und Gewaltakteuren auf ihre Motivationsgrundlage und strukturelle Einbettung sichtbar und kritikfähig zu machen.

Anmerkungen

1) Dieser Diskurs wurde auch durch die Bundeszentrale für Politische Bildung verbreitet, die beispielsweise Heinz Brills »Geopolitik heute« anpries.

Literatur

Baring, Arnulf (1992): Eine neue deutsche Interessenlage? Stuttgart.

Barnett, Thomas (2003): Die neue Weltkarte des Pentagon. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2003, S.554-564.

Brill, Heinz (1994): Geopolitik heute: Deutschlands Chance? Frankfurt.

Brzoska, Michael, Oels, Angela (2011/12): »Versicherheitlichung« des Klimawandels? Die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung und ihre politischen Folgen. In: Brzoska u.a. (Hrsg.): Klimawandel und Konflikte. Baden-Baden (AFK Friedensschriften), S.27-50.

Brzezinski, Zbigniew (1997): The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York.

Buck, Felix (1996): Geopolitik 2000: Weltordnung im Wandel. Frankfurt.

Detlefs, Gerhard (1998): Deutschlands Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung: Geopolitik für das 21. Jahrhundert. Tübingen.

Dodds, Klaus (2007): Geopolitics. A very short introduction. Oxford.

Jacobsen, Hans-Adolf (1994): Geopolitik im Denken und Handeln deutscher Führungseliten: Anmerkungen zu einem umstrittenen Thema. In: WeltTrend 4/1994, S.39-46.

Kappel, Robert (2012): Deutschland und die neuen Gestaltungsmächte. GIGA Focus, 2-2012.

Lacoste, Yves (1990): Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik. Berlin.

Liotta, Peter, Miskell, James (2012): The Real Population Bomb. Megacities, Global Security & the Map of the Future. Washington.

Oßenbrügge, Jürgen (2013): Kontinuität der Ressourcenkonflikte und kommende Klimakriege? In: B. Korf u.a. (Hrsg.): Geographien der Gewalt. Stuttgart (im Erscheinen).

Rabasa u.a. (2007): Ungoverned territories: understanding and reducing terrorism risks. Santa Monica.

Schetter, Georg (2010): »Ungoverned territories«: eine konzeptuelle Innovation im »War on Terror«. In: Geogr. Helv. 65 (3), S.181-188.

Schöllgen, Gregor (1993): Angst vor der Macht: Die Deutschen und ihre Außenpolitik. Berlin.

Schwarz, Hans-Peter (1994): Die Zentralmacht Europas: Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Berlin.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2007): Sicherheitsrisiko Klimawandel. Berlin, Heidelberg.

Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge arbeitet im Fachgebiet Politische Geographie und Klimaforschung an der Universität Hamburg. Sören Scholvin ist Doktorand der »Hamburg International Graduate School for the Study of Regional Powers« am German Institute of Global and Area Studies (GIGA).

Ein neues Afghanistan?

Ein neues Afghanistan?

von Jürgen Nieth

Am 11. Januar 2013 sind französische Truppen in Mali gelandet, um „die vorrückenden islamistischen Gruppierungen“ zu stoppen (Süddeutsche Zeitung/SZ, 14.01.13, S.4). Nachträglich wurde Frankreichs Intervention in Mali vom Weltsicherheitsrat am 14. Januar gebilligt und am selben Tag auf einer Sitzung der 27 EU-Außenminister begrüßt.

Zustimmung aus Berlin

Auch der deutsche Verteidigungsminister „Thomas de Maiziere lobte das Vorgehen der französischen Armee als »konsequent und richtig«“ (FAZ, 14.01.13, S.1), und die Berliner Zeitung (BZ, 18.01.2013, S.2) berichtet, dass Außenminister Westerwelle „die Mission für »unbedingt notwendig«“ hält. Die BZ (15.01.13, S.6) kommt zu der Feststellung, „unter den maßgeblichen Parteien (allen, außer »Die Linke«) herrscht Konsens darüber, dass die Intervention […] gerechtfertigt ist und Deutschland seinen Verbündeten dabei unterstützen sollte“. Inzwischen hat die Bundesregierung drei Transall-Militärtransporter bereitgestellt und „Deutschland wird sich an der Ausbildermission der EU beteiligen“ (Frankfurter Rundschau/FR 18.01.13, S.8). Einige denken aber schon weiter. So will „Unions-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff […] einen Einsatz von Bundeswehrkampftruppen nicht grundsätzlich ausschließen“. Und auch der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, sagte auf die Frage „ob er auch den Einsatz von (deutschen) Kampftruppen für denkbar halte […] »Ja«“ (BZ 15.0113, S.6).

Vor allem politische Unterstützung

Die USA haben Frankreichs Militäreinsatz „wohlwollend begrüßt, ohne dass [sie …] sich zum Eingreifen verpflichteten“ (Tagesspiegel, 16.01.13, S.19). Das sehen auch die meisten anderen Regierungen so. Kämpfen sollen an der Seite Frankreichs die malische Armee und eine Eingreiftruppe der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Neue Zürcher Zeitung/NZZ (16.01.13, S.21) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass „kein westafrikanisches Land […] über kampferprobte Truppen mit Erfahrung im Wüstenkrieg“ verfügt. Für die FAZ (18.01.13, S.3) ist die etwa 5.000 Mann starke Armee Malis „nicht einmal in der Lage, eine zuvor befreite Ortschaft zu sichern“. Hilfe können die Franzosen „bestenfalls von den tschadischen Truppen erwarten. Doch die sind weithin für ihre exzessive Brutalität bekannt, so dass man mit ihnen eigentlich nicht zusammenarbeiten möchte.“

Ausbilder für Malis Armee

Die EU hat eine Ausbildermission für die malische Armee beschlossen, an der sich auch Deutschland beteiligen will. Ein Vorhaben, dass die NZZ (16.01.13, S.21) angesichts der Schwäche der malischen Partner als „nicht mehr als ein Placebo“ bezeichnet. Das man aber auch aus anderen Gründen in Frage stellen kann: „Die Amerikaner trainierten zwar vier Spezialeinheiten mit zusammen 600 Mann für den Antiterrorkampf. Aber das war keine gute Idee, denn drei der Eliteverbände liefen inzwischen geschlossen zu den rebellierenden Tuareg über – weil die meisten der Kommandeure Tuareg sind.“ (Spiegel 4/2013, S.86)

Politische Lösung nicht gewollt?

Unmittelbar vor dem französischen Einmarsch hatte »le Monde diplomatique« (11.01.13, S.21) begrüßt, dass der UN-Sondergesandte für die Sahelzone eine Militäraktion vor September 2013 ausgeschlossen hatte. Das „bedeutet zumindest einen Etappensieg für die von Algier bevorzugte politische Lösung des Konflikts, gegenüber der militärischen Option, für die sich vor allem Frankreich stark macht“. Eine politische Lösung, die auch der Terrorismusforscher Ahmed Rashid (taz 23.01.13) für möglich hielt: „Wenn die Franzosen rechtzeitig eine Gruppe vertrauenswürdiger islamischer Vermittler zusammengestellt hätten, wären Verhandlungen mit lokalen Gruppen, vor allem mit den Tuareg, möglich gewesen. Aber es gab kein diplomatisches Bemühen. Von Anfang an war auch im UN-Sicherheitsrat nur von militärischen Optionen die Rede.“

Wirtschaftliche Interessen

Der französischen Regierung wird, so le Monde diplomatique, „zumindest unterstellt, vor allem durch ihr Interesse an der Uranförderung im Sahel motiviert“ zu sein. Ein Thema, das auch andere aufgreifen. Niger, der „drittgrößte Uran-Förderer weltweit soll nicht unter Al-Qaida-Einfluss geraten“ (Freitag, 24.01.13, S.7). „Frankreich hat wirtschaftliche Interessen in der Region.“ (SZ, 12.01.13, S.10) Dass es um ökonomische Interessen geht, bestätigt dann auch die Erklärung der 27 EU-Außenminister. Sie „spricht von einer »Bedrohung der europäischen Sicherheit«.“ Es gehe nicht nur um „die Sorge vor Terrorattacken in Europa […] Bedroht seien zusätzlich die strategischen Interessen der EU wie Sicherheit der Energieversorgung und der Kampf gegen den Menschen- und Drogenschmuggel“ (BZ, 18.01.2013, S.2).

Dass ganz anders gelagerte ökonomische Interessen konfliktverschärfend wirken können, darauf verweist Ulrich Schmid in der NZZ (22.01.13, S.4): „Es gibt kaum einen Politologen, der nicht vermutete, dass alle mit der Kaida verbündeten Islamisten der Sahelzone zu einem beträchtlichen, wenn nicht entscheidenden Teil von Saudiarabien und den Golfemiraten finanziert werden. Deutschland aber hat Saudiarabien letztes Jahr Waffen im Wert von 30 Millionen Euro geliefert. Riad ist an Kampfpanzern der Typen Boxer und Leopard interessiert. Verhandlungen über die Lieferung von ABC-Spürpanzern des Typs Dingo sind im Gange. Ist das nicht etwas seltsam?“

Ende offen

„Der unterschätzte Krieg“ (SZ 19.01.13), „Die Tore der Hölle“ (Spiegel 4/2013), „Malis Absturz ins Chaos“ (Neues Deutschland 14.01.13), „Afghanische Lektionen für Mali“ (NZZ 16.01.13), „Wüste Verhältnisse“ (Tagesspiegel 18.01.13), „Riskante Offensive in Mali“ (Welt 14.01.13). Das sind einige der Überschriften in den deutschen Medien. Optimismus sieht anders aus.

Da passt das Fazit, das Andreas Zumach in der taz zieht (17.01.13, S.3): „Terroristen und islamistische Rebellen bekämpfen […] Mit ähnlichen und teilweise noch weiterreichenden Zielsetzungen (Stabilisierung, Frieden, Wiederaufbau, Demokratie, Rechtsstaat, Menschen- und Frauenrechte) wurden fast alle Militärinterventionen und Kriege seit Ende des Ost-Westkonfliktes […] begründet […] Doch in keinen einzigen Fall wurden die proklamierten Ziele erreicht.“

Jürgen Nieth

Kein Frieden ohne Klimaschutz

Kein Frieden ohne Klimaschutz

von Bentje Woitschach

Klimapolitik galt viele Jahre lang als weiches Politikfeld; im Gegensatz zu harten Bereichen wie Wirtschaft und Sicherheit wurde ihr entsprechend wenig Aufmerksamkeit zuteil. Dies änderte sich spätestens 2006, als die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Dimension von Klimapolitik verstärkt ins Blickfeld rückte. So warnte der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern, vor den massiven ökonomischen Verlusten aufgrund eines ungebremsten Klimawandels und verglich die möglichen Schäden mit den Zerstörungen der beiden Weltkriege. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen bezeichnete ein Jahr später die zu erwartenden klimatischen Veränderungen als Bedrohung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Stabilität. Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bezeichnete 2011 die Folgen langfristiger Klimaveränderungen in einer offiziellen Erklärung als Sicherheitsbedrohung. Binnen weniger Jahre wurde der Klimawandel zur zentralen Überlebensfrage der Menschheit und damit zu einem bedeutenden Thema in der sicherheitspolitischen Debatte.

Weltweit konkurrieren immer mehr Länder um knapper werdende Ressourcen. „Krieg ums Wasser“, „Klimakriege“ oder „Krieg ums Öl“ sind nur einige Publikationstitel, die uns dramatische Zukunftsszenarien ausmalen. Den Klimawandel als alleinige Ursache derartiger Konflikte auszumachen, ist sicher zu kurz gegriffen – verschärfen wird er sie jedoch allemal. In der sicherheitspolitischen Debatte gilt der Klimawandel daher vor allem als Bedrohungsmultiplikator. Insbesondere in Entwicklungsländern droht eine Verschärfung der Ernährungssituation durch Versalzung und Degradierung landwirtschaftlicher Nutzflächen. Auch zunehmend gewalttätig ausgetragene Verteilungskonflikte um Wasser sind zu erwarten. Die Energiesicherheit ist gefährdet aufgrund der Verknappung fossiler Rohstoffe. Extreme Wetterereignisse und Naturkatastrophen werden häufiger auftreten und können ganze Gesellschaften destabilisieren. Kleine Inselstaaten und küstennahe Gebiete drohen überflutet zu werden, klimabedingte Massenmigration kann die Folge sein.

Gerade in der Verkörperung des Klimaflüchtlings als Sicherheitsbedrohung – ein Bild, das in diesem Heft hinterfragt wird – zeigt sich die zunehmende Versicherheitlichung des Klimadiskurses. In zahlreiche nationale Sicherheits- und Verteidigungsstrategien hat der Klimawandel bereits Einzug gehalten. Die Gefahr, dass daraus in Zukunft auch Legitimationshilfen für militärisches Aufrüsten und Eingreifen erwachsen, liegt auf der Hand. Obendrein verschiebt die Konstruktion des Klimawandels als Sicherheitsbedrohung die politische Aufmerksamkeit auf prekäre Weise: weg von der Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels, hin zur einseitigen Bearbeitung des Sicherheitsproblems.

Dennoch: Die enge Verknüpfung von Klima und Sicherheit birgt nicht nur Gefahren, sondern auch erhebliche Chancen für Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung. Die Vernetzung beider Themen gilt mittlerweile als Schlüssel erfolgreicher Krisenprävention. „Umweltkooperation als Sprungbrett“ für vertrauensbildende Maßnahmen und Konfliktbearbeitung ist ein in diesem Heft verwendetes Schlagwort. Drohen künftig vermehrt Konflikte um Wasser und Land, können Klimaanpassungsmaßnahmen diesen Spannungen entgegenwirken durch Um- und Neuverteilung von knappen Wasser- und Nahrungsmittelressourcen. Initiativen zur Katastrophenvorsorge bieten die Chance, die Verwundbarkeit betroffener Gesellschaften zu reduzieren. Rivalisierende Gruppen können auf diese Weise in kooperative Maßnahmen eingebunden, krisenanfällige Gesellschaften stabilisiert werden. Auch regionale und kontinentübergreifende Energiepartnerschaften bieten – bei verantwortungsvoller Umsetzung – die Möglichkeit kooperativer Lösungsansätze für Fragen der Klima-, Ernährungs-, Wasser- und Energiesicherheit.

Nicht ohne Grund haben Al Gore und der Weltklimarat (IPCC) im Jahr 2007 den Friedensnobelpreis erhalten. Damit stellte das Nobelpreiskomitee klar: Die Bekämpfung des Klimawandels ist Voraussetzung für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben auf dem Planeten. Die internationale Mobilisierung gegen die drohende Klimakatastrophe, für die Gore und der IPCC ausgezeichnet wurden, eröffnet Chancen zur Kooperation, zu einem weltweiten Zusammenrücken angesichts einer gemeinsamen Bedrohungslage. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Friedensbewegten und Umweltaktivisten, zwischen Klimaschützern und Konfliktbearbeitern, die bisher noch in den Kinderschuhen steckt, ist daher ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Denn der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen eines Großteils der Menschheit – seine gemeinsame Bekämpfung ist daher ein friedenspolitisches Gebot.

Ihre Bentje Woitschach

Klimawandel und die Landwirtschaft

Klimawandel und die Landwirtschaft

von Zoe Heuschkel

Die Landwirtschaft leidet nicht nur unter den Folgen der Klimaveränderungen, sondern beschleunigt diese zugleich und ist mitverantwortlich für die fortschreitende Degradation natürlicher Ökosysteme. Ein fundamentaler Wandel ist daher notwendig, um gleichzeitig drei Herausforderungen zu meistern: die ausreichende Erzeugung von gesunden Nahrungsmitteln, die Anpassung an den Klimawandel und die Verringerung von klimarelevanten Gasen in der Atmosphäre.1

Die globale Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion im Verlauf der letzten einhundert Jahre wird als Erfolgsgeschichte derer angesehen, die davon am meisten profitiert haben. Über die sozial-ökologischen Kosten dieses Erfolgs wird dabei häufig hinweggesehen. Gleichermaßen wird die unvorstellbare Zahl von knapp einer Milliarde hungernder Menschen in Kauf genommen, denen wiederum eine weitere Milliarde krankhaft übergewichtiger Menschen gegenüber steht. Welchen Veränderungen der Landwirtschaft unter dem Einfluss des Klimawandels sehen wir entgegen? Ist eine drohende Verringerung der Erntemengen wirklich unser vordringliches Problem? Kann eine weitere Produktionssteigerung in der Landwirtschaft wirklich das Welternährungsproblem lösen?

Wie sonst kein anderer Sektor ist die Landwirtschaft stets abhängig von den Unwägbarkeiten natürlicher Einflüsse wie beispielsweise Niederschlag, Wind und Sonneneinstrahlung und der Regulationsfähigkeit von (Agrar-) Ökosystemen. Seit jeher ist landwirtschaftliche Erzeugung durch Ackerbau, Viehzucht, Forstwirtschaft und Fischerei eingebettet in ihre natürliche Umwelt und hat zu ihrer (Um-) Gestaltung beigetragen. Die klimatischen Bedingungen sind Teil der natürlichen Umwelt, deren Veränderung nun die Landwirtschaft plagt – zu der sie aber auch einen gewissen Teil beiträgt.

Schätzungsweise 30-45% der Treibhausgasemissionen sind auf die landwirtschaftliche Tätigkeit des Menschen direkt oder mittelbar über Landnutzungsänderungen und Transport zurückzuführen (IPCC 2007). Hierbei schlagen vor allem die enormen Energieaufwendungen zur Erzeugung von Stickstoffdünger, die Ausgasung der Abbauprodukte aus dem Boden und die Trockenlegung von Feuchtgebieten zur Ackerlandgewinnung zu Buche. Landwirtschaft ist damit neben dem Abbau von Erzen und fossilen Brennstoffen einer der einflussreichsten Eingriffe des Menschen in natürliche Ökosysteme und deren Regulationsfähigkeit.

Doch Landwirtschaft ist nicht gleich Landwirtschaft, und Landwirtschaft ist auch nicht gleich Ernährung. Internationale Studien warnen vor den drohenden Auswirkungen des Klimawandels, jedoch verweisen sie dabei auf Faktoren wie Dürren oder Überschwemmungen, die sich hauptsächlich auf die Produktionsmengen auswirken (FAO 2009; IFPRI 2009; Hoffmann 2011). Warum die globale Produktion nicht allein ausschlaggebend für die Versorgung mit ausreichenden und hochwertigen Nahrungsmittel ist und warum die Menschheit trotzdem gut daran täte, ihre landwirtschaftliche Produktion umzustellen, soll hier im Weiteren diskutiert werden.

Auswirkungen der Klimaveränderungen

Wissenschaftler schätzen, dass sich bei einem Anstieg der durchschnittlichen Temperatur um zwei Grad Celsius bis 2050 die Getreideernten in den Ländern des Südens um 15-30% verringern werden. Zudem wird eine Verkürzung der Anbauperiode im Nordosten Südamerikas, dem Mittelmeerraum und weiten Teilen Afrikas erwartet (IPCC 2007). Eine erhöhte CO2-Konzentration in der Luft führt zwar zu einer Steigerung der Stoffwechselrate der Pflanzen in den gemäßigten Breiten und bewirkt damit einen Düngeeffekt; Temperaturanstiege können damit in diesen Regionen zu einer Verlängerung der Ernteperiode führen. Im Gegensatz dazu kommen in extremeren Lagen wie bspw. in den Tropen, den Subtropen und besonders ariden Gebieten moderne Industriesorten schon jetzt nah an ihr physiologisches Limit. Damit treffen die klimatischen Veränderungen die Weltregionen am härtesten, die schon heute mit Dürren, Überschwemmungen und Hunger zu kämpfen haben.

Sicher ist außerdem, dass in Zukunft vieles unsicherer ist: Niederschlagsmengen, -häufigkeit und –verteilung oder Häufigkeit und Intensität extremer Wetterereignisse wie Hitzewellen, Starkregen oder Stürme. Die Landwirtschaft wird direkt durch eine schlagartige Vernichtung der Ernten und längerfristig durch die Degradation ökologischer Systeme bedroht. Zusätzlich trägt der allgemeine Temperaturanstieg zur Abschmelzung der Gletscher bei, die die großen, zur Bewässerung genutzten Flüsse v.a. in der Himalaya-Region speisen.

Landwirtschaft ist nicht gleich Landwirtschaft

Die landläufig verwendeten Szenarien zur Berechnung von Erntemengen haben einen grundsätzlichen Schönheitsfehler: Sie legen die industrialisierte Landwirtschaft zugrunde. Eine energieintensive Bewirtschaftungsform, die in Monokulturen auf Hilfsmittel wie Dünger und Pestizide angewiesen ist, trägt vermutlich mehr zum Problem als zur Lösung bei. Die Abhängigkeit von billiger Energie, die bisher fast ausschließlich über die Nutzung fossiler Energieträger und nicht-regenerative Erze erzeugt wird, verursacht damit erhebliche weltweite Emissionen von klimarelevanten Gasen.

Die Integration pflanzlicher und regenerativer Energieträger in den Energiemix steckt noch in den Anfangswehen. Die erste Generation der Pflanzentreibstoffe hat bisher viel Kritik und wenig Erfreuliches zu Tage gefördert: Regenwaldvernichtung zugunsten von Ölpalm- und Zuckerrohr-Plantagen, Landvertreibungen aufgrund großflächiger internationaler Investitionen in die Energiepflanzenerzeugung, Wasserverknappung und die Gefährdung der Ernährungssicherheit (Fritz 2010). Ein Rückgang günstig verfügbarer Energie zeichnet sich deutlich ab, und der verschwenderische Einsatz natürlicher Ressourcen kann keine Zukunft haben. Nach »Peak Oil« folgt »Peak Soil« und schlussendlich »Peak Everything« (Heinberg 2007).

Sinnvoll wäre eine Integration der kleinflächigen Energieerzeugung in den landwirtschaftlichen Prozess und eine stärkere Selbstorganisation der Energieerzeuger und -verbraucher. Ein solcher Ansatz findet sogar außergewöhnliche Unterstützung: In seiner Studie zu »Peak Oil« kommt das Zentrum für Transformation der Bundeswehr zu folgender Empfehlung: „Auf gesellschaftlicher Ebene ist deshalb auch eine Stärkung von Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Selbstorganisation von Bürgern auf lokalem Level denkbar […]“ (2010).

Es ist fraglich, ob sich die erwarteten Ernteeinbußen bei Weizen in den Ländern des Südens direkt auf die Ernährungssicherheit auswirken. Rund ein Drittel der Produktion landet nämlich in den Futtertrögen der industrialisierten Tierproduktionsstätten und als Billigfleisch auf den Tellern der Industrieländer. Notwendig ist eine Verabschiedung vom Kraftfutter und eine konsequentere Regelung der Tierhaltungsbestimmungen hin zu artgerechter Haltung und Fütterung. So kann aus dem vermeintlichen »Klimakiller« Kuh (vgl. Idel 2011) wieder ein wertvolles Nutztier werden, das für Menschen unverwertbares Gras in proteinreiche Nahrung verwandelt. Dennoch: Ein verantwortungsbewusster Konsum von Fleisch sollte auch bei einer artgerechten Tierhaltung an erster Stelle stehen.

Auch eine klimatische Verdrängung der allgemein prestigeträchtigeren Getreidearten Weizen und Reis und deren Hochleistungssorten und die Rückkehr zu stresstoleranteren und angepassteren Getreidearten wie Hirse und Sorghum wären denkbar. Die damit verbundene Wiederbelebung traditioneller und vielfach gesünderer Küchen erscheint als Antwort auf das Überernährungsproblem interessant. Das setzt natürlich voraus, dass der rasant voranschreitende Verlust an biologischer Vielfalt schnellstmöglich gestoppt wird. Nicht nur wildlebende Pflanzen und Tiere sind vom Arten- und Sortensterben betroffen, sondern auch Nutzpflanzen und -tiere. Deren Verlust macht es dem Menschen mit jeder verlorenen Sorte und jeder verlorenen Art schwerer, sich an die Klimaveränderungen anzupassen. Gerade in ihrer Angepasstheit an die lokalen Bedingungen und ihrer Anpassungsfreudigkeit an deren Veränderung liegt der große Vorteil der so genannten traditionellen Sorten.

Schließlich verdient die Verortung der Landwirtschaft in der allgemeinen Ökonomie eine genauere Betrachtung. Darf ein Wirtschaftszweig, der der Befriedigung essentieller menschlicher Bedürfnisse dient, der allgemeinen Wachstumslogik unterworfen sein, oder werden hier ganz andere Indikatoren und Maßzahlen benötigt? Auf welcher Basis erfolgt die Effizienzberechnung, und weshalb werden in solche Kalkulationen sehr wohl die Güter, nicht aber die externen Effekte wie Ökosystem, Dienstleistungen oder Umweltzerstörungen berücksichtigt? Trotz ihrer Jahrtausende alten Tradition steht die Landwirtschaft als Dienstleistungszweig und im Hinblick auf die Anerkennung der geleisteten Dienste für die Allgemeinheit erst am Anfang – in der Forschung wie in der Wertschätzung. Gleiches gilt für die Erfassung und Berechnung ihrer langfristigen Schädlichkeit unter anderem für das globale Klima. Über kurz oder lang wird aber gezeigt werden können, dass die industrialisierte Landwirtschaft ein unrentables, nicht nachhaltiges Auslaufmodell ist.

Landwirtschaft ist nicht gleich Ernährung

Der Unterschied zwischen Ernährungssicherheit und Nahrungsmittelverfügbarkeit wird von Frances Moore-Lappé, Trägerin des Right Livelihood Award, sehr treffend formuliert: „Hunger is not caused by a scarcity of food but a scarcity of democracy.“ (Hunger wird nicht durch einen Mangel an Nahrungsmitteln, sondern durch Mangel an Demokratie verursacht.) Zu welchen Folgen ein Mangel an politischen Beteiligungsmöglichkeiten führt, zeigt die Gegenüberstellung zweier Entwicklungen: der weltweiten Hungerstatistik und des Produktionsindex landwirtschaftlicher Produkte.

Der Produktionsindex der globalen Landwirtschaft folgt einem permanenten Aufwärtstrend. Durch technische Innovation, Einsatz von chemischen Wirkstoffen und neue Züchtungsverfahren verzeichnet die industrialisierte landwirtschaftliche Produktion eine stetige Steigerung. Dennoch bleibt die Zahl der Hungernden erschreckend konstant. Die unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und die Nichtgewährleistung von Nahrungssicherheit gehören mit zu den zuverlässigsten Indikatoren mangelhafter politischer Systeme.

Allein die ungleiche Verteilung von Nahrungsmitteln schafft den Hunger. Es gibt heute genug Nahrungsmittel für alle Menschen auf der Welt, möglicherweise sogar mehr als nötig. Die Beziehung von globaler Nahrungsmittelproduktion und Nahrungsmittelverfügbarkeit sollte immer wieder neu durchdacht werden. Nicht allein die Nachfrage schafft das Angebot. Der Verweis auf die Regulationsmacht des Marktes erscheint in diesem Zusammenhang mehr als zynisch und funktioniert allenfalls dort, wo die Nachfragenden über genügend Kaufkraft für die tägliche Mahlzeit verfügen. Die dann entstehende Abhängigkeit von Importen schafft eine enorme Anfälligkeit für volatile Weltmarktpreise und verursacht neue Probleme.

Analysen der so genannten Hungeraufstände von 2007 und 2008 in einigen afrikanischen Ländern haben zwar gezeigt, dass nicht nur ein hoher Nahrungsmittelpreis und die Knappheit von Nahrungsmitteln für den Ausbruch von gewaltförmigen Ausschreitungen ausreichen, sondern dass auch politische Unfreiheit und ein Mangel an sozialem Kapital relevante Faktoren sind (Berazneva 2011; Scheffran et al. 2012). Damit erklärt sich auch zum Teil, warum es in Indien, der Region, in der es nach Schätzungen von 2003 die meisten Hungernden gibt, vergleichsweise ruhig ist. Dennoch, das milliardenfache Leid bleibt bestehen.

Während vorwiegend Männer in vielen urbanen Zentren Afrikas verzweifelt protestierten, verhungern Frauen und Mädchen auf dem Land völlig lautlos. Das ist so schrecklich wie unverständlich, schließlich werden gerade in den ländlichen Gebieten Nahrungsmittel produziert. Lange Zeit war das jedenfalls so, bis lokale und regionale Märkte im Süden mit subventionsgestützten Billigimporten aus Europa und den USA überschwemmt wurden und lokale Bauern mit den Preisen nicht mehr konkurrieren konnten.

Wer kann, wandert heute in die Stadt und sucht nach einer neuen Arbeit und Einnahmequelle. 2008 war das Jahr, in dem weltweit erstmals mehr Menschen in den Städten lebten als auf dem Land, und der Trend hält an (UN Habitat 2009). Die Frauen bleiben mehrheitlich zu Hause auf dem Land und versuchen, sich und ihre Familien mit der Landwirtschaft durchzubringen. Ihr Mangel an formaler Bildung einerseits und ihre Rolle in der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die den Frauen die Hauptlast der Arbeit in der afrikanischen Landwirtschaft zuteilt, andererseits lassen ihnen wenige Wahlmöglichkeiten.

Was wäre verantwortlich zu tun?

Wir müssen die Verantwortung für unser Tun auf diesem Planeten annehmen und die Landwirtschaft als eine Tätigkeit anerkennen, die in natürliche Kreisläufe sowie in soziale und kulturelle Systeme eingebettet ist. Ihre Abhängigkeit von und gleichzeitig ihre Verantwortung für intakte Ökosysteme und deren Regulationsmechanismen müssen akzeptiert und die Konsequenzen daraus getragen werden. Ein komplexes System wie das der Welternährung lässt sich weder durch Klimaveränderungen zerstören noch durch eine »one fits all«-Lösung reparieren. Es braucht vielmehr lokal angepasste, vielfältige landwirtschaftliche Systeme, die sich durch die Annäherung an die natürliche Umwelt stabilisieren und ihre Regulationsmechanismen stärken.

Wir haben den Kampf ums Überleben unserer Spezies schon seit so vielen Generationen gewonnen. Nun sonnen wir uns in einer Allmachtsphantasie und gefährden damit unsere weitere Existenz auf dem Planeten. Ein Wandel in der Landwirtschaft ist notwendig und beinhaltet letztendlich auch einen Friedensschluss mit unserer natürlichen Umwelt.

Literatur

Berazneva, Julia; Lee, David (2011): Explaining the African Food Riots of 2007-2008: An Empirical Analysis. New York: Cornell University.

Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) (Hrsg.) (2009): Expert Meeting on How to Feed the World in 2050. Rom , 24-26.06.2009, FAO.

Fritz, Thomas (2010): Das Große Bauernlegen – Agrarinvestitionen und der Run aufs Land. Berlin: Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL).

Hoffmann, Ulrich (2011): Assuring Food Security in Developing Countries under the Challenges of Climate Change: Key Trade and Development Issues of a Fundamental Transformation of Agriculture. Genf: United Nations Commission on Trade and Development, UNCTAD Discussion Papers 201.

Idel, Anita (2011): Die Kuh ist kein Klimakiller. Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können. Marburg: Metropolis.

International Food Policy Research Institute (IFPRI) (Hrsg.) (2009): Climate Change: Impact on Agriculture and Costs of Adaptation. Washington D.C.: International Food Policy Research Institute.

International Panel on Climate Change (IPCC) (Hrsg.) (2007): Fourth Assessment Report. Genf: IPCC.

Scheffran, Jürgen; Brzoska, Michael; Kominek, Jasmin; Link, Michael; Schilling, Janpeter (2012): Past and Future Research on Climate Change and Violent Conflict. CLISEC-18. Universität Hamburg.

Zentrum für Transformation der Bundeswehr (Hrsg.) (2010): Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologien im 21. Jahrhundert. Umweltdimensionen von Sicherheit. Teilstudie 1: Peak Oil. Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen. Strausberg: ZTransfBW.

Anmerkungen

1) Die Autorin dankt PD Dr. Stephan Albrecht herzlich für seinen wissenschaftlichen Rat und die hilfreichen Kommentare.

Zoe Heuschkel ist Ethnologin und Landschaftsökologin und ist als Referentin des Projekts zur Zukunft der Ernährung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler tätig.