Direkte Eingriffe ins Klima

Direkte Eingriffe ins Klima

Eine friedenspolitische Herausforderung? Tagung am KlimaCampus Hamburg, 10./11. November 2011

von Achim Maas, Michael Brzoska, Michael Link, Götz Neuneck und Jürgen Scheffran

Die Klimaverhandlungen Ende 2011 in Durban haben wieder mal die Hoffnung auf ein baldiges und umfassendes Abkommen zur Emissionsminderung gedämpft. Bis 2015 soll noch verhandelt werden, um eine Regelung zu treffen, die erst 2020 in Kraft tritt. Gleichzeitig wird der Ausstoß an Treibhausgasen voraussichtlich weiter rasch ansteigen. Sollte es keine umfassenden globalen Änderungen in der Klimapolitik geben, wird der Klimawandel schon Mitte dieses Jahrhunderts gravierende Folgen haben. Vor diesem Hintergrund wird in akademischen und politischen Kreisen zunehmend diskutiert, mit gegensteuernden Eingriffen das Klimasystem gezielt zu beeinflussen. Solche Maßnahmen des »Geoengineering«, auch »Climate Engineering« genannt, sind jedoch stark risikobehaftet – nicht zuletzt, weil sie lokale und internationale Konflikte fördern können. Massive politische Spannungen sind vor allem dann zu erwarten, wenn ein einzelner Staat oder eine Gruppe von Staaten Geoengineering ohne internationales Einvernehmen einsetzt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Umweltbundesamt und das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag haben daher Gutachten über Potentiale, Risiken und Regulierungsmöglichkeiten von Geoengineering erstellen lassen.

Am KlimaCampus Hamburg wurde am 10./11. November 2011 die Konferenz »Geoengineering the Climate: An Issue for Peace and Security Studies?« durchgeführt, die von der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC), dem Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung (ZNF), dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und adelphi organisiert worden war. Mehr als 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa und Nordamerika diskutierten zwei Tage mögliche friedens- und sicherheitspolitische Herausforderungen von Geoengineering.

Geoengineering zur Konfliktprävention…

In seinem Eröffnungsvortrag gab Peter Liss von der University of East Anglia/Großbritannien einen Überblick über die verschiedenen Verfahren von Geoengineering, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen. Maßnahmen zur Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) umfassen Vorschläge wie die Düngung von Ozeanen (um die CO2-Aufnahme von Algen zu erhöhen), massive Aufforstung oder die Filterung und spätere unterirdische Lagerung von CO2 mittels »künstlicher Bäume«. Zweitens sind Maßnahmen zur Regulierung der Sonneneinstrahlung und damit des Energiehaushalts der Erde im Gespräch (Solar Radiation Management, SRM). Dies schließt Ideen wie die Injektion von Aerosolen in die Atmosphäre, das Aufhellen von Erdoberfläche und Wolken oder die Positionierung von Spiegeln im Weltraum ein. Das übergreifende Ziel dieser Maßnahmen ist es, Klimawandel und damit verbundene potentiell katastrophale Konsequenzen für Frieden und Sicherheit zu vermeiden. Könnte Geoengineering damit möglicherweise sogar ein Instrument von Konfliktprävention sein?

Die technischen Voraussetzungen, Wirkungsweisen und Risiken sind bei den einzelnen CDR- und SRM-Maßnahmen sehr unterschiedlich – so sehr, dass Jason Blackstock vom Centre for International Governance Innovation (CIGI, Waterloo/Kanada) die Frage aufwarf, ob sie sich überhaupt unter einem Oberbegriff subsumieren lassen. Bei eingehender Betrachtung ergibt sich, dass vor allem CDR-Maßnahmen einen relativ geringen Wirkungsgrad haben. Der Einsatz müsste in äußerst großem Maßstab erfolgen, um nachhaltige Effekte zu haben. Es würde auch Jahrzehnte dauern, bis der Entzug von CO2 aus der Atmosphäre das Klimasystem wieder ins Lot brächte. CDR-Maßnahmen würden damit nicht schneller wirken als Maßnahmen zur Emissionsminderung, die vermutlich weniger kosten würden.

Anders verhält es sich mit der Zeitschiene bei SRM-Maßnahmen, die vor allem die Temperatur beeinflussen: Die Injektion von Aerosolen in die Atmosphäre, vergleichbar mit der Asche, die von Vulkanen ausgestoßen wird, könnte in nur wenigen Jahren zu einer deutlichen Abkühlung führen. Die Abkühlung wäre jedoch global ungleich verteilt, mit entsprechend unterschiedlichen regionalen Folgen. Außerdem könnten derartige Maßnahmen auch eine Veränderung von Niederschlagsmustern nach sich ziehen, wie Ulrike Niemeyer vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg herausstrich. Besonders problematisch wäre vor allem, dass einmal begonnene SRM-Maßnahmen nicht ohne weiteres abgebrochen werden könnten. Geschieht dies, würde die Erde sich in kürzester Zeit wieder erwärmen.

… oder als Ursache neuer Konflikte ?

In diesem Zusammenhang zeigen sich auch mögliche Konfliktrisiken: Führen Geoengineering-Maßnahmen zu veränderten Niederschlagsmustern, würde dies auch die lokale landwirtschaftliche Produktion beeinflussen. Dies hätte Auswirkungen auf Nahrungsmittelsicherheit und Einkommen der Bevölkerung und könnte zudem die Konkurrenz um knappe Ressourcen verschärfen. Politische Konflikte wären abzusehen, sofern der Einsatz von Geoengineering nicht in einem multilateralen Rahmen zuvor abgestimmt wurde. Wie Alexander Proelß von der Universität Trier herausstellte, ist es problematisch, dass es aktuell kein internationales Vertragswerk gibt, welches Geoengineering vollständig abdeckt. In bestehenden Abkommen werden bestenfalls Teilaspekte behandelt. Manche Verträge, wie die ENMOD-Konvention (Convention on the Prohibition of Military or Any Other Hostile Use of Environmental Modification Techniques von 1977) verbieten zwar die militärische Nutzung von Technologien zur Umweltmodifikation, erlauben aber ausdrücklich den Einsatz für friedliche Zwecke. Da Intentionen nur bedingt aus Verhalten ablesbar sind, könnte ein mit friedlicher Absicht begonnenes Geoengineering von betroffenen Staaten als feindlicher Akt gesehen werden.

Die Gefahr, dass ein Staat oder eine Gruppe von Staaten unilateral Geoengineering einsetzt, wurde von den Teilnehmenden der Konferenz unterschiedlich beurteilt. Einerseits sind die Anreize dafür stark, da es zumindest gegenwärtig keine Strukturen für multilaterale Kooperation gibt und die Kosten einzelner SRM-Maßnahmen, insbesondere der Injektion von Aerosolen in die Atmosphäre, gering sind. Andererseits würden unilaterale Maßnahmen zwangsläufig internationale Widerstände hervorrufen, da sich das Klima kaum nur für eine Region modifizieren ließe, und hätten deshalb hohe politische Kosten. Schließlich zeigt die Geschichte der Ideen zu Wetterveränderungen für militärische Zwecke, über die James Fleming berichtete, dass Geoengineering ein erhebliches Dual-use-Potential in sich birgt. Kritiker befürchten daher auch eine potentielle Militarisierung von SRM-Maßnahmen, sollten die dafür notwendigen Technologien erst zur Verfügung stehen

Konfliktpotenzial gibt es aber auch bei multilateralen Eingriffen ins Klima. Ungleich verteilte Kosten und Auswirkungen von Geoengineering schaffen relative »Gewinner« und »Verlierer«, was politische und soziale Spannungen von der lokalen bis zur globalen Ebene provoziert. Das betrifft sowohl SRM- als auch CDR-Maßnahmen. Aufgeforstetes Land wird einer möglichen landwirtschaftlichen Nutzung entzogen. Die Debatte um Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) in Deutschland zeigt das Spannungspotential von unterirdisch gespeichertem CO2.

Vorsicht schon bei Forschung

Heftig diskutiert wurde während der Tagung die Frage, ob bereits die Forschung zu Geoengineering problematisch ist. Gegenwärtig befindet sich die Forschung zu diesem Themenkomplex noch am Anfang und findet aktuell weitgehend auf Basis theoretischer Modelle statt. Darüber hinausgehende Feldexperimente bergen jedoch bereits die Möglichkeit nicht intendierter Folgen. Sie können Umweltauswirkungen haben und auch lokale Proteste hervorrufen. Dies zeigte sich an dem Streit über das deutsch-indische LOHAFEX-Experiment zur Ozeandüngung und auch an der Diskussion über das britische Projekt SPICE (Stratospheric Particle Injection for Climate Engineering), welches auf öffentlichen Druck hin noch vor Beginn vorerst gestoppt wurde. Experimente ohne internationale Abstimmung könnten als Versuch der Vorbereitung unilateraler großskaliger Maßnahmen interpretiert werden. Selbst abgestimmte Forschung könnte negative Folgen zeitigen. So könnte sie eine abwartende Haltung verschiedener Staaten bei der Minderung von Klimagasen auslösen und den Druck vermindern, ein Klimaabkommen zu schließen. Gleichzeitig fehlen die für Geoengineering-Forschung bereitgestellten Mittel für die Erforschung von besserer Ressourceneffizienz oder erneuerbaren Energien, wie Konrad Ott von der Universität Greifswald darlegte.

Direkte Eingriffe ins Klima stellen somit keine Vereinfachung der Klimaproblematik dar, sondern lassen sie noch komplexer werden, wie Alan Robock von der Rutgers University (New Jersey/USA) deutlich machte. Insbesondere weil CDR nur ein geringes Potential zur kosteneffizienten Emissionsminderung hat und SRM lediglich das Symptom »Erwärmung« des Klimawandels vermeidet, nicht jedoch andere Folgen wie z.B. die Versauerung der Meere, kann Geoengineering auch nach Meinung der Befürworter nur eine Ergänzungs- oder Übergangsmaßnahme sein. Sollte der politische Druck für eine intensivere experimentelle Forschung oder gar Anwendung von Geoengineering allerdings hinreichend stark werden, besteht die vorrangige friedenspolitische Herausforderung darin, rechtzeitig institutionelle Strukturen zur Herstellung eines multilateralen Konsenses zu schaffen, Konfliktpotentiale zu minimieren und Regelungen zum Interessensausgleich bereitzustellen. Vor dem Hintergrund der schwierigen und bisher wenig erfolgreichen Klimaverhandlungen verspricht dies weder eine leicht noch schnell zu bewältigende Aufgabe zu werden. Dringend erforderlich ist daher eine frühzeitige und internationale Beschäftigung mit Governance-Fragen im Zusammenhang mit Geoengineering, noch bevor der Druck auf intensivere Forschung zur gezielten Manipulation des Klimasystems übermächtig wird.

Das vollständige Programm der Tagung findet sich unter http://clisec.zmaw.de/Conference-program.1929.0.html.

Achim Maas, Michael Brzoska, Michael Link, Götz Neuneck und Jürgen Scheffran

Die neue Landnahme

Die neue Landnahme

von Bentje Woitschach

43 der 53 afrikanischen Länder sind abhängig von Nahrungsmittelimporten. Ausgerechnet in diesen Ländern werden jedoch die besten Ackerflächen verkauft. Landgrabbing, der Kauf oder die langfristige Verpachtung von riesigen Agrarflächen an ausländische Interessenten, hat in den letzten Jahren enorme Ausmaße angenommen. Kritiker sprechen bereits von einer neuen Form des Kolonialismus. Die Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit der einheimischen Bevölkerung sind fatal.

Die Ressource Land war noch nie so umkämpft wie heute. Die Weltbank schätzt, dass allein in den Jahren 2008 und 2009 46 Millionen Hektar Nutzfläche ihren Besitzer gewechselt haben oder derzeit verhandelt werden. Dies entspricht der Fläche Schwedens. Meist sind es ausländische Regierungen und Unternehmen, die in Afrika, Asien und Südamerika fruchtbares Ackerland erwerben.

Diese neue Jagd auf Land hat viele Gründe:

Die globale Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigt, nicht zuletzt durch ein immenses Bevölkerungswachstum in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern.

Fruchtbares Acker- und Weideland steht nur begrenzt zur Verfügung; eine extensive Ausdehnung zu Lasten der Urwälder und bisher unbearbeiteter Böden ist aus ökologischen Gründen nicht vertretbar.

Die Produktivität der vorhandenen Böden hat sich vielfach durch Misswirtschaft, Bodenerosion und Wüstenbildung verringert. Ernteausfälle infolge der klimatischen Veränderungen kommen hinzu.

Fruchtbare Böden werden verstärkt für den Anbau von Futtermitteln und Energiepflanzen zur Produktion von Agrartreibstoffen genutzt.

Ein verknapptes Angebot an Nahrungsmitteln bei zunehmender globaler Nachfrage führt dazu, dass der Preis erheblich steigt. Diese Situation hat in den letzten Jahren verstärkt Spekulanten auf den Plan gerufen, für die Nahrungsmittel und Land die Spekulationsobjekte der Zukunft sind. Nicht zuletzt durch ihr Treiben sind die Preise für Nahrungsmittel stetig angestiegen. Für Menschen in Entwicklungsländern, die 60-80% ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, hat dies verheerende Auswirkungen.

Lukrative Landgeschäfte

Fruchtbares Ackerland im Ausland erwerben besonders Staaten, die selbst nur über wenig Boden- und Wasserressourcen verfügen. Länder wie China, Indien und Saudi-Arabien kaufen oder pachten große Flächen vornehmlich in Schwellen- und Entwicklungsländern mit hoher Landverfügbarkeit und schwacher Bodenregulierung. Ihr vordergründiges Interesse ist es, die Ernährungssicherung ihrer eigenen Bevölkerung durch den Anbau von Lebensmitteln im Ausland sicher zu stellen. So unterstützte die Regierung Saudi-Arabiens im Rahmen der »Initiative für saudische Agrarinvestitionen in Übersee« saudische Unternehmen großzügig mit Kapital, um im Nordsudan Weizen und Mais anzubauen. Chinesische Staatsunternehmen haben in Brasilien große Flächen zum Anbau von Soja und Mais gepachtet; die China Development Bank stellte einen Großteil des benötigten Kapitals zur Verfügung. Auch in den von der gegenwärtigen Hungerkatastrophe am meisten betroffenen Ländern wie Somalia und Äthiopien sind fruchtbare Ackerböden verkauft und verpachtet worden. Auch wenn die dortige Ernährungskrise vielfältige Ursachen hat: Der Ausverkauf von Nutzflächen und der Export von Nahrungsmitteln aus Hungergebieten verschärft die Situation in diesen Ländern massiv.

Neben den Regierungen sind es vor allem private Investoren aus unterschiedlichsten Ländern wie Singapur, Brasilien und Westeuropa, auf die ein Großteil der gegenwärtigen Landgeschäfte entfällt. Sogar afrikanische Unternehmen erwerben zunehmend Nutzflächen in ihren eigenen Ländern. All diese Investoren haben weniger die Versorgung der eigenen Bevölkerung im Blick, als vielmehr die Profite im Agrarsektor. Durch die derzeitigen Höchstpreise für Nahrungsmittel und die gleichzeitig global steigende Nachfrage verspricht der Agrarsektor hohe Gewinne. Dies haben auch Investmentfonds aus Europa und Nordamerika erkannt, die in den vergangenen Jahren verstärkt in Land und Ackerbau investiert haben; ihren Anlegern versprechen sie nicht selten Renditen von 15-25%. Kapital fließt jedoch nicht nur in die Produktion von Nahrungsmitteln: Ein Drittel der verkauften Fläche dient dem Anbau von Energiepflanzen, aus denen Biosprit hergestellt wird. Die Produktivität der Ackerflächen soll durch Hochleistungssamen, chemischen Dünger und intensive Bewässerung optimiert werden. Die so bearbeiteten Böden sind nach wenigen Jahren ausgelaugt, die Wasserreserven erschöpft. Viele Investoren wenden sich dann anderen Anbauflächen zu und hinterlassen der einheimischen Bevölkerung Brachland.

Verheerende Folgen des Landgrabbing

Doch nicht nur Umweltzerstörungen sind die Folge. Die verkauften oder verpachteten Flächen sind in der Regel kein »leeres«, ungenutztes oder unbewohntes Land, wie dies vielfach behauptet wird. Vielmehr leben dort Menschen, die Felder bewirtschaften oder Vieh züchten. Sie verlieren das Land, das sie seit Jahrzehnten nutzten und das ihre alleinige Lebensgrundlage ist. Zahlreiche Fälle von brutalen Vertreibungen ohne jegliche Vorwarnung und Entschädigung sind dokumentiert. Auch einheimische Regierungen, die ein großes Interesse an ausländischem Kapital haben, mischen kräftig mit: Durch Steuer- und Zollfreiheit sowie den Verzicht auf Pachtgebühren locken sie ausländische Investoren an. Unklare und häufig nicht verbriefte Eigentumsrechte in afrikanischen Ländern erleichtern es diesen Regierungen, bewohntes Land kurzerhand in Staatsland umzudeklarieren und an ausländische Unternehmen zu vergeben. Die abgeschlossenen Landdeals sind fast immer intransparent, Pachtverträge haben kaum vorstellbare Laufzeiten von 99 Jahren und werden ohne Beteiligung der betroffenen Gemeinden abgeschlossen.

Die Investoren versprechen, in den neu entstehenden Agrarbetrieben einheimische Arbeitskräfte zu guten Löhnen anzustellen, Umweltstandards einzuhalten und die Infrastruktur der Region durch den Bau von Straßen, Schulen und Krankenhäusern zu verbessern. Doch dies sind häufig nur Lippenbekenntnisse. Nicht selten enden die vorherigen Landbesitzer als Hilfsarbeiter auf einem Acker, der ihnen vorher selbst gehörte, und das zu einem Hungerlohn, von dem sie kaum leben können.

Die Auswirkungen dieser Landnahmen sind besonders fatal, weil sie hauptsächlich Menschen in ländlichen Gebieten treffen. Die dort lebenden Kleinbauern, Nomaden, Landlose und Indigene machen bereits heute Dreiviertel der knapp eine Milliarde weltweit Hungernden aus. Gleichzeitig ist die Landwirtschaft der bedeutendste Sektor in den agrarisch geprägten afrikanischen Staaten: Rund 80% der Bevölkerung in Entwicklungsländern leben davon. Nahrungsmittel werden vor allem von Kleinbauern angebaut, die in ländlichen Gebieten über geringe Anbauflächen verfügen. Sie sind es, die das Rückgrat der Ernährungssicherung bilden. Die Enteignung dieser Kleinbauern durch Landgrabbing trifft daher viele Länder an ihrem wundesten Punkt.

Förderung der Landwirtschaft vor Ort

Zweifellos sind Investitionen in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer dringend erforderlich. Die Förderung des Agrarsektors ist trotz seines großen Anteils am Bruttoinlandsprodukt vieler dieser Staaten massiv vernachlässigt worden, und dies sowohl von den jeweiligen Regierungen selbst als auch von internationalen Entwicklungsorganisationen. Die neuen Landgeschäfte werden von einigen Experten als Chance gesehen, dringend benötigtes Kapital für die Landwirtschaft zu gewinnen. Ausländische Agrarunternehmer könnten wichtiges Know-how im Agrarbereich mitbringen, um landwirtschaftliche Prozesse und Erträge zu optimieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Ausländisches Kapital ist notwendig und grundsätzlich begrüßenswert, dennoch erwecken die gegenwärtigen Beispiele Zweifel daran, ob ländliche Armut auf diese Weise beseitigt wird. Agrarinvestitionen so zu gestalten, dass sie nicht nur der Profitgier Weniger dienen, sondern auch für die betroffenen Länder und Menschen von Vorteil sind, ist die Herausforderung der Zukunft. Investitionen sollten sich vor allem an diejenigen richten, die für die Ernährungssicherheit des Landes zentral sind: die Kleinbauern. Sie verfügen über ein großes Potential an landwirtschaftlicher Produktion, das im Gegensatz zu der kommerziellen Landwirtschaft noch nicht ausgeschöpft ist. Mit gezielten Investitionen in Saatgut, Dünger und Infrastruktur für besseren Marktzugang können ihre Erträge enorm gesteigert werden. Die Bedeutung der Kleinbauern für Ernährungssicherung ist inzwischen weitgehend anerkannt. So erklärte der deutsche Entwicklungsminister Niebel zu Beginn des Jahres: „Das Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung ist die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und der ländlichen Räume.“

Neben der grundsätzlichen Förderung der Kleinbauern ist es notwendig, betroffene Menschen vor Landgrabbing zu schützen. Ländliche Gemeinden, die sich gegen den Ausverkauf ihres Landes an ausländische Interessenten zur Wehr setzen, müssen unterstützt werden, indem ihre Verhandlungsposition gegenüber Investoren gestärkt wird, Informationen bereitgestellt werden und über Einspruchmöglichkeiten aufgeklärt wird. Die Stärkung ihrer Rechte hinsichtlich Besitz und Nutzung von Land ist dabei zentral. Landgeschäfte müssen klare Kriterien einhalten, die sicherstellen, dass die betroffenen Menschen beteiligt werden und ihnen Schutz vor Enteignung gewährt wird. Investoren sollten dazu verpflichtet werden, soziale und ökologische Standards einzuhalten. In verschiedenen internationalen Institutionen werden derzeit Leitlinien und Prinzipien für verantwortliche Agrarinvestitionen und Ernährungssicherheit diskutiert. Das sind erste wichtige Diskussionen, denen Taten folgen müssen. Denn Landgrabbing ist eine der großen Herausforderungen der Zukunft und gefährdet in zunehmendem Maße das international verbriefte Menschenrecht auf Nahrung.

Dieser Artikel wurde in etwas längerer Form für das »Bündnis Entwicklung Hilft« verfasst.

Bentje Woitschach ist wissenschaftliche Referentin bei der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) sowie wissenschaftliche Assistentin bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Sie gehört der Redaktion von W&F an.

Komplexes Gemisch

Komplexes Gemisch

Die westlichen Mächte und der Libyenkrieg

von Uli Cremer

Im September 2011 ist der Libyenkrieg militärisch entschieden. Mit Hilfe der NATO-Luftwaffe und westlicher Elitesoldaten am Boden wurde das Gaddafi-Regime gestürzt. Aber warum kam es zu diesem Kriegseinsatz? Und welche Motive gab es auf deutscher Seite, nicht mit zu machen?

An sich stand ein Sturz Gaddafis Ende 2010 nicht auf der Agenda. Nach seiner »Abkehr vom Terrorismus« im Jahr 2003 war er von der »Achse der Bösen« gestrichen worden. Sein Land lieferte zuverlässig Öl zu Weltmarktpreisen. Die Erlöse wurden zum Großteil in den Kapitalstandorten Europas und den USA investiert, und Armutsflüchtlinge aus Afrika wurden von der Mittelmeerküste fern gehalten. Die Kooperation mit Geheimdiensten, insbesondere mit denen der USA und Britanniens, lief wie am Schnürchen, zumal die libyschen Folterkeller auch für westliche Aufträge zur Verfügung standen. Trotz seiner »Resozialisierung« war Gaddafi aber nicht Freund, sondern nur temporärer Stabilitätspartner. Vollständig hatte er sich trotz anti-islamistischer Ausrichtung nie dem Westen angedient. Er unterhielt parallel stets gute Beziehungen nach Russland und China; offenbar wollte er diese sogar weiter ausbauen. Selbstverständlich konnten sich die westlichen Mächte noch besseren Zugang nach Libyen vorstellen, aber solch ein Wunsch ist kein ausreichender Grund für eine Militärintervention.

Doch nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wurden auch in Libyen die Karten neu gemischt.

Die internationale Sanktionspolitik

Da die Aufständischen den Bürgerkrieg nicht aus eigener Kraft gewinnen konnten, unterstützte der Westen die Gegenregierung auf allen Ebenen.

Da war zunächst einmal die internationale Sanktionspolitik. Der Ende März wegen Insubordination im Eilverfahren abberufene russische Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, prognostizierte am 23.3.2011, dass sich das Regime Gaddafi noch „drei-vier Monate“ halten könne: „Genau so lange, wie die Lebensmittelvorräte reichen. Gegenwärtig sind alle Lieferungen aus der Luft und vom Meer blockiert.“ 1 Vier Monate – das wäre Ende Juli gewesen. Er hat sich offenbar nur um wenige Wochen verschätzt.

Die Kriegsführung des Gaddafi-Regimes wurde durch das von der UN verhängte Waffenembargo und durch die Unterbindung des Treibstoffnachschubs getroffen. Ein direktes Erdölexportembargo gegen Libyen wurde nie verhängt, nicht einmal durch die Europäische Union. Offenbar waren die Widerstände der Empfängerländer zu groß. (Auf ein solches Embargo gegen Syrien hat sich die EU erst Anfang September 2011 geeinigt, nachdem das Assad-Regime bereits monatelang Demonstrationen und Proteste zusammenschoss. Absurde Fußnote zum Embargo gegen Syrien: „Italien bestand darauf, dass bestehende Lieferverträge noch bis Mitte November erfüllt werden dürften.“ 2)

De facto konnte das Gaddafi-Regime seit Ende März kein Erdöl oder Erdgas mehr exportieren. Es war zwar niemandem verboten, das Öl oder Gas entgegen zu nehmen, allerdings konnte dies technisch nicht mehr geschehen, da die libyschen Häfen von der NATO überwacht wurden und die einzige existierende Pipeline nach Italien, also in ein EU-Land, führte. Annahme dabei: Italien hat das Embargo befolgt. Außerdem brachte der Krieg die Ölförderung zum Erliegen. Parallel wurde das Gaddafi-Regime finanziell ausgetrocknet, da nicht nur die Konten der Herrscherfamilie, sondern auch die der wichtigsten libyschen Banken und Firmen in der EU und in den USA eingefroren wurden. Der UN-Sicherheitsrat hatte nur Sanktionen gegen einzelne Personen verhängt, so dass es z.B. China, Indien, Russland oder anderen Ländern theoretisch frei stand, weiter mit Libyen Handel zu treiben. Vor diesem Hintergrund sah Außenminister Westerwelle den Sturz Gaddafis auch als Erfolg seines Politikansatzes an: „[…] wir haben auf die internationale Isolierung gesetzt, auf vor allen Dingen die politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, und diese Sanktionspolitik war augenscheinlich erfolgreich, denn sie hat das Regime Gaddafi nicht nur isoliert, sondern ihm auch die Nachschubmöglichkeiten abgeschnitten.“ 3

Auf die militärische Karte setzten dagegen Frankreich, Britannien und die USA sowie in ihrem Gefolge die NATO. Und der NATO-Kriegseinsatz war massiv: In knapp sechs Monaten (bis 10.9.2011) flog die NATO 22.116 Einsätze, darunter 8.296 echte Kampfeinsätze. Zum Vergleich: Im 1.Halbjahr 2010 wurden in Afghanistan 15.000 Einsätze geflogen.

Nach dem Krieg beginnt in Libyen die nächste Phase: der „Wirtschaftskrieg um Aufträge der neuen libyschen Verantwortlichen“. 4 Und damit sind wir mitten in der Diskussion angekommen, warum Frankreich, Britannien und die USA den »regime change« in Libyen forcierten und durchsetzten.

Menschenrechte und Krieg

Offiziell ging es um eine gerechte Sache, einen Robin-Hood-Einsatz quasi. Die Flugverbotszone wurde vom UN-Sicherheitsrat nicht verhängt, um z.B. das Gewicht Frankreichs oder Britanniens in der Welt zu stärken oder dem französischen Mineralölkonzern Total gute Geschäfte zu ermöglichen, sondern um die libysche Zivilbevölkerung zu schützen. Da aber bereits im Februar 2011 ein bewaffneter Aufstand gegen das Gaddafi-Regime begann, waren die Grenzen zwischen Zivilbevölkerung und Bewaffneten schon zum Zeitpunkt der UN-Resolution recht verschwommen. Der angegebene Kriegsgrund (»humanitäre Intervention«) ist insofern zweifelhaft. Der Hamburger Prof. Reinhard Merkel dazu: „Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ 5 Und US-Professor Alan J. Kuperman stellte im Boston Globe sogar das Basisargument, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi gedroht, in Frage: „Und Gaddafi hat auch niemals ein ziviles Massaker in Bengasi angedroht, wie Obama behauptete. Die »keine Gnade«-Warnung vom 17. März richtete sich nur an Rebellen, wie The New York Times berichtete, die auch darauf hinwies, dass der libysche Führer eine Amnestie versprach für all diejenigen, »die ihre Waffen wegwerfen«. Gaddafi hat den Rebellen sogar eine Fluchtroute und offene Grenzen nach Ägypten zugesagt, um einen »Kampf bis zum bitteren Ende« zu vermeiden.“ 6

Jeder weiß, dass das Libyen Gaddafis kein Hort von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten war, aber das ist Bahrain auch nicht. Wenn die Menschenrechte den westlichen Staaten tatsächlich so wichtig wären, wie im Falle Libyen behauptet, hätten in 2011 weitere Kriege begonnen werden müssen. Angriffe auf Syrien, Saudi-Arabien, Jemen und Bahrain wären das Mindeste gewesen. Stattdessen ließ der Westen in Bahrain sogar eine Intervention des Golf-Kooperationsrats zu, um die Opposition niederzuhalten. Demonstrativ empfing der britische Premier Cameron am 20. Mai 2011 den Kronprinzen von Bahrain, der anders als Gaddafi nicht in Den Haag angeklagt ist. Auch die in Bahrain stationierten US-Truppen rührten keinen Finger, um den Menschenrechten dort zum Durchbruch zu verhelfen.

Warum wurde also die libysche Opposition gegen das Gaddafi-Regime 2011 derart unterstützt und das Regime schließlich beseitigt?

Interessenlage Frankreichs und Britanniens

Hauptakteur im westlichen Lager war die französische Regierung. Staatspräsident Sarkozy wertete den Krieg Ende August 2011 so aus: „[…] anders als auf dem Balkan habe sich Europa dank französisch-britischer Führung in die Lage versetzt, aus eigener Initiative in einen Konflikt in seinem Einflussbereich einzugreifen. Das rechtfertige die viel kritisierte Rückkehr Frankreichs in die integrierten Strukturen der Nato.“ 7

Im Zusammenhang mit dem Georgienkrieg 2009 wurde von westlichen Politikern wie dem ehemaligen polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski doziert, dass mit Hilfe des Prozesses „der euro-atlantischen Integration […] das Europa der Machtpolitik und Einflusszonen großer Mächte, die das Schicksal kleiner Länder mit einem Federstrich bestimmen“ überwunden worden sei. Er forderte: „Kein Zurück zu einem Europa der Einflusszonen.“ 8

Was für Europa und Russland gilt, gilt offenbar nicht für Afrika bzw. das Mittelmeer und die NATO-Hauptmächte. Folgt man dem früheren Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, Lothar Rühl, liegt „das amerikanische Interesse im Osten des Mittelmeeres […], wie auch das vorsichtige Engagement in Libyen gezeigt hat“. Also: „Israel, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien samt der ganzen arabischen Golfküste und der […] Irak sind [für Washington, UC] die Partner oder Klienten, die mit Vorrang geschützt und im Innern stabilisiert werden müssen, wenn die vitalen westlichen Interessen an Sicherheit in der Region und ihrer Energiequellen gefördert werden sollen.“ Daraus folgt: „Das westliche Mittelmeer ist Europas Verantwortungsbereich.“ 9 Oder in Sarkozys Worten: „Einflusszone“.

Frankreich müsse sich erinnern, „dass es eine Macht im Mittelmeerraum ist“, so Präsident Sarkozy 2008 bei der Begründung seines Projekts einer »Mittelmeer-Union«.10 „Dem wachsenden Einfluss der nord- und osteuropäischen Länder sollte ein südlicher Schwerpunkt entgegengesetzt werden, mit Frankreich als Führungsmacht“, analysierte die FAZ.11 Solch ein Angriff auf die deutsche Machtposition in der EU würde „den Zerfall Europas provozieren“, war die harsche Reaktion der deutschen Kanzlerin.12 Aus der Mittelmeer-Union wurde ein Projekt der EU: „Merkel bremst Sarkozy bei Mittelmeerunion aus.“ 13 Immerhin wurde Sarkozy Ko-Präsident der EU-Mittelmeer-Union, der andere Ko-Präsident hieß Mubarak. Nach dessen Sturz war das Projekt am Ende.

Die Rebellion in Libyen war ein willkommener Anlass, den französischen Führungsanspruch im Mittelmeerraum drei Jahre später erneut anzumelden: „Die Zeit ist gekommen, um die Mittelmeer-Union wiederzubeleben und neu aufzubauen und in den kommenden Wochen wird Frankreich diesbezüglich seinen Partnern seine Vorschläge vorlegen.“ 14 Im Rahmen der G8-Staaten war bereits im Mai 2011 die so genannte Deauville-Partnerschaft aus der Taufe gehoben worden, die bisher nur die Länder Tunesien, Ägypten, Marokko, Tunesien und Libyen einbindet. Ein „im Fokus stehendes Element“ dabei: „Stärkung des Wachstums durch intensivere Einbindung der Region in die Weltwirtschaft. Die G8 hat ihre Unterstützung für einen Ausbau von Handel und Investitionen durch mehr Marktöffnung und für einen Prozess zunehmender regionaler Integration angeboten.“ 15 An der Spitze der Organisation steht der Franzose Balladur.

In Deutschland wurde der erneute französische Führungsanspruch registriert: „Dieser Waffengang dient ihm {Sarkozy, U.C.] dazu, den Anspruch auf die Führungsrolle Frankreichs in Europa deutlich zu untermauern. Dafür setzt er auch militärische Macht ein.“ 16

Zwar konnte Frankreich die libysche Gegenregierung im Alleingang politisch anerkennen, so wie es Deutschland 1991 mit Kroatien und Slowenien vorgemacht hatte. Allerdings war Frankreich militärisch nicht in der Lage, den Krieg allein zu führen. Also wurde Britannien ins Boot geholt. Beide Staaten hatten im November 2010 verabredet, „sicherheitspolitisch[…] aufs engste zu kooperieren“. 17 Verschiedene Maßnahmen wurden beschlossen. Vom Aufbau einer gemeinsamen Eingreiftruppe bis zur Entwicklung neuer Waffensysteme wird Frankreich in Zukunft mit Britannien und weniger mit Deutschland kooperieren. Der militärische Schulterschluss mit London ist im Grunde eine Beerdigung der bisherigen eigenständigen EU-Militärpolitik, die auch von Berlin stets forciert worden war. Deutschland „sah sich außerstande, einem trilateralen Handeln in der Rüstungskooperation zuzustimmen“. 18 Denn in diesem Gremium hätte sich Deutschland den militärisch stärkeren Partnern unterordnen müssen. Der französische Außenminister Juppé räumt sehr offen ein: „Es stimmt, auf dem militärischen Gebiet haben wir Unterschiede in der Einschätzung.“ 19

Im EU-Zusammenhang hat Deutschland dagegen eine ganz andere Stellung, die insbesondere im Umgang mit der Euro-Krise deutlich wird. In einem Beitrag der Zeitschrift »Internationale Politik« erklärte Andreas Rinke Merkel zur »EU-Kanzlerin«: „In der erweiterten EU mögen viele murren über die deutschen Wünsche bei der Stabilisierung des Euro. Aber Merkel hat nun eine Art »Richtlinienkompetenz« im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs bekommen.“ 20 Zugespitzt: Paris brauchte einen (erfolgreichen) Militäreinsatz, um den deutschen Führungsanspruch im ökonomischen Bereich auszubalancieren. Da kam der Libyen-Konflikt wie gerufen.

Wie die französische war die britische Position in der arabischen Welt durch die Teilnahme am Irakkrieg und die Parteinahme für die Unterdrückerregime in Tunis und Kairo erodiert. Auch für Britannien versprach die Initiierung des Krieges Einflussgewinne. Nach dem Sieg betonte der britische Premierminister Cameron einen weiteren Aspekt: Britannien „werde in militärischer Hinsicht ein »vollwertiger Mitspieler« bleiben, trotz der beschlossenen Kürzungen im britischen Verteidigungsetat.“ 21 Tatsächlich ist der britische Militärhaushalt 2011 gegenüber 2010 um 2,5% gestiegen und für 2012 wird eine weitere Erhöhung um 1,8% ins Auge gefasst. Die Kosten für die konkreten Kriegseinsätze sind darin noch nicht enthalten.22 Der britische Militäreinsatz in Libyen hatte insofern die Kollateralfunktion, Einsparungen in diesem britischen »Kompetenzbereich« zu verhindern.

USA, Dein Freund und Helfer

Da Frankreich und Britannien nur „ersatz pocket superpowers“ 23 sind, konnte nur die Teilnahme der führenden Militärmacht der Welt, der USA, militärischen Erfolg ermöglichen. Zusammen repräsentieren die drei Staaten 85% der NATO-Militärmacht. Frankreich versuchte deshalb nicht, die USA herauszuhalten. Die Sarkozy-Ära ist gerade durch eine stärkere transatlantische Ausrichtung gekennzeichnet, in die der Schulterschluss mit London eingebettet ist. Durch diese Positionsveränderung hat Frankreich laut Sarkozy „seinen Handlungsspielraum und sein Einflussvermögen sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner Familie gestärkt“. 24

Nachdem sich in Washington Mitte März die Kriegsbefürworter um Außenministerin Clinton durchgesetzt hatten, stand das Kriegsbündnis. Gleichzeitig gerieten die Aktivitäten unter die Kontrolle Washingtons, das auf Kriegsführung unter dem Dach der NATO bestand. Doch welchen Nutzen haben die USA von dem Krieg?

1. Die Stärkung der NATO durch bessere Einbindung Frankreichs und damit ein Zurückdrängen der Fantasien, die EU als eigenständigen Militärpakt aufzubauen. Einmal mehr ist bewiesen, dass die EU-Staaten ohne US-Unterstützung nicht militärisch agieren können. Das könnte diese motivieren, mehr Geld fürs Militärs auszugeben, so dass bei gemeinsamen Kriegen eine für Washington günstigere Lastenteilung möglich würde – ohne dass Washington die Kontrolle verlöre. Vielleicht ist zusätzlich noch ein Preis in Form eines US-Militärstützpunkts in Libyen zu entrichten.25

2. Ein Image-Gewinn in der arabischen Welt.

3. Die Zurückdrängung des chinesischen Einflusses in Libyen bzw. Afrika.

4. Ein verbesserter Marktzugang für US-Energiekonzerne, die bisher in Libyen nur eine geringe Rolle spielen.

Rolf Clement, Sicherheitsexperte des Deutschlandfunks, analysiert: „Alle drei Hauptakteure im Libyen-Krieg haben Interessen bedient, bei denen Libyen nur das Mittel zum Zweck ist […]“. 26 Mit anderen Worten wurde nicht primär um Öl, die libyschen Wasservorräte oder Menschenrechte gekämpft, sondern für „höhere Ziele“, für die eigene Position im „Zeitalter der relativen Mächte“ im Kampf um „ein neues Gleichgewicht der Kräfte“, so die Worte des französischen Präsidenten Sarkozy.27

Im UN-Sicherheitsrat konnten die kriegsbereiten Mächte keinen Beschluss für einen »regime change« in Tripolis durchsetzen. Die Resolution war insofern keine Carte blanche, aber eine unerlässliche Basislegitimation für das geplante militärische Vorgehen. Wolfgang Ischinger, Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, wies auf die „gewaltige strategisch-konzeptionelle Lücke“ hin, die „zwischen der politischen Zielsetzung einerseits (»Gaddafi muss weg«) und dem restriktiven Mandat des UN-Sicherheitsrats zum Schutz der Zivilbevölkerung andererseits klafft“ und warnte: „In Washington – und noch mehr in Moskau und Peking – warten manche nur darauf, dass das europäische Häuflein in Libyen eine militärisch-politische Bauchlandung produziert.“ 28

Die deutsche Kriegsdienstverweigerung

Auch in Berlin wurde gewartet. Deutschland mochte der Demonstration französisch-britischer Führungsmacht keine Anerkennung zollen. „Ich kann als deutscher Außenminister nicht deutsche Soldaten nach Libyen schicken, weil es andere tun“, erklärte Westerwelle die deutsche Nichtbeteiligung vor dem EU-Außenministerrat.29 Sein Ministerkollege Niebel wies darauf hin, dass Deutschland bei einer Zustimmung im Sicherheitsrat in der Pflicht gestanden hätte, sich am Einsatz zu beteiligen, politisch wie militärisch-technisch: „Neben den USA hat allein die Bundesluftwaffe mit ihren ECR-Tornados die militärischen Fähigkeiten, die Flugverbotszone durchzusetzen und die Flugabwehr auszuschalten.“ 30 Mit anderen Worten: Deutschland hätte militärisch durchaus einen substantiellen Beitrag leisten können, wollte dies aber nicht.

Vor diesem Hintergrund löste die Enthaltung Deutschlands Irritation und Ärger aus. Natürlich war die Bundesregierung wochenlang davon ausgegangen, dass auch die US-Regierung sich gegen den Militärkurs stellen würde, und wurde kurzfristig von dem politischen Schwenk überrascht. Warum trotzdem die Enthaltung? Niebel formulierte im März 2011 zwei Kritikpunkte am militärischen Vorgehen:31

1. „Die Geschichte zeigt, dass Flugverbotszonen keine Massaker verhindern.“ Zwar kam es in Bengasi zu keinem Massaker, aber dem Gaddafi-Regime wird heute vorgeworfen, zehntausende Regimegegner ermordet zu haben. Der Bürgerkrieg soll zwischen 30.000 und 50.000 Opfer gefordert haben.32 Zehntausende Regimegegner sollen erst interniert, dann ermordet worden sein. Insofern kann sich Niebel bestätigt sehen.

2. „Man sollte wissen, wie man ein militärisches Engagement wieder beendet, bevor man es beginnt.“ Berlin glaubte offensichtlich, dass der Libyenkrieg in einem ähnlichen Desaster wie der »regime change« im Irak enden würde. Und das gönnte man den Kollegen in Paris und London von Herzen.

Allerdings sind beide Kriegsschauplätze nicht vergleichbar. Insbesondere rekrutierten sich viele libysche Rebellenführer aus der Gaddafi-Führung. Der fließende Seitenwechsel zur anderen Bürgerkriegspartei wurde von Spiegel Online am 25.8.2011 mit der satirischen »Eilmeldung« auf die Spitze getrieben, Gaddafi selbst sei nun auch zu den Rebellen übergelaufen.33 Ein Seitenwechsel, der interessanterweise schon 2010 begann, als sich der damalige Protokollchef Gaddafis, Al Mismari, nach Paris absetzte. Insofern ist in Libyen auch ohne politische Verständigung die andere Konfliktseite ein Stück weit eingebunden, während im Irak alle Mitglieder der alten Herrschaft vom Neuaufbau ausgeschlossen wurden.

Anfang September 2011 stehen die Initiatoren der Militärintervention als Sieger da, während die deutsche Regierung sich verschätzt hat. Zur Strafe sollen deutsche Firmen beim Wiederaufbau nur eine geringe Rolle spielen. Deutschland hat also wegen seiner Anti-Kriegshaltung Einfluss eingebüßt. Und wenn mit internationaler Kriegsdienstverweigerung kein Geld zu verdienen ist, dann wird sich auch die deutsche Regierung in Zukunft wieder bereitwilliger an Kriegen beteiligen. Diese Befürchtung drängt sich jedenfalls auf, wenn man die jüngere Diskussion um die deutsche Nicht-Beteiligung am Libyenkrieg in Betracht zieht. Da hilft es leider wenig, dass 80% der Bevölkerung die Enthaltung im Sicherheitsrat richtig fanden.

Anmerkungen

1) Der vom Präsidenten entlassene Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, über den Verrat der Interessen Russlands – Interview mit Moskowskij Komsomolez vom 24. März 2011; übersetzt von Brigitte Queck; muetter-gegen-den-krieg-berlin.de.

2) EU-Ölembargo gegen Syrien. FAZ, 3.9.2011.

3) »Wir haben auf die internationale Isolierung Gaddafis gesetzt«. Außenminister Guido Westerwelle im Interview mit dem Deutschlandfunk zur deutschen Rolle in Libyen. Gesendet am 23.8.2011; www.auswaertiges-amt.de.

4) Michaela Wiegel: Libyen – Den militärischen Kampf nicht vernachlässigen. FAZ, 3.9.2011.

5) Reinhard Merkel: Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim. FAZ, 22.03.2011.

6) Alan J. Kuperman: False Pretense for War in Libya?. Boston Globe, 14.4.2011.

7) Michaela Wiegel: Der Sieger. FAZ, 2.9.2011.

8) Aleksander Kwasniewski: Kein Zurück zu einem Europa der Einflusszonen. FAZ, 23.8.2008.

9) Lothar Rühl: Neuorientierung im Orient. FAZ, 31.8.2011.

10) Staatspräsident Sarkozy bei der [16.] Botschafterkonferenz zu internationalen Aufgaben und zur Neupositionierung Frankreichs, Paris, 27.08.2008; botschaft-frankreich.de.

11) Günter Nonnenbacher: Weckruf für Europa. FAZ.net, 3.2.2011.

12) Merkel warnt vor Spaltung Europas. Spiegel Online, 5.12.2007.

13) Merkel bremst Sarkozy bei Mittelmeerunion aus. Spiegel Online, 4.3.2008.

14) 19th Ambassadors’ Conference – Speech by Nicolas Sarkozy, President of the Republic, Paris, 31.08.2011; franceonu.org.

15) Bericht der Bundesregierung über den G8-Gipfel in Deauville vom 26.-27. Mai 2011. 7.6.2011; bundesregierung.de.

16) Rolf Clement: Libyen nur Mittel zum Zweck. Deutschlandfunk, 26.3.2011.

17) Ronja Kempin, Jocelyn Mawdsley und Stefan Steinicke: Abkehr von der GSVP? Französisch-britischer Bilateralismus in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 81, November 2010.

18) Ibid.

19) Interview mit Alain Juppé. FAZ, 31.08.2011.

20) Andreas Rinke: Die EU-Kanzlerin. Internationale Politik, 21.1.2011.

21) Den militärischen Kampf nicht vernachlässigen. FAZ, 3.9.2011.

22) Vergl.: [UK] Ministry of Defence: Defence Spending – Information about key areas of the Defence Budget. mod.uk; sowie Christopher Chandrill: Public Spending Details for 2012; ukpublicspending.co.uk (Stand 3.9.2011).

23) . Lindley-French‘s Blog Blast, April 21, 2011.

24) Rede Sarkozy 2011, a.a.O.

25) Siehe dazu Erhard Crome: Der libysche Krieg des Westens. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Mai 2011.

26) Siehe Clement, a.a.O.

27) Rede Sarkozy 2008, a.a.O.

28) Wolfgang Ischinger: Es gibt keine gerechten Kriege – aber notwendige. MonthlyMind, April 2011.

29) Nikolas Busse: Europas neue Risse. FAZ.net, 23.3.2011.

30) Wir sind ausdrücklich nicht neutral. Passauer Neue Presse, 19.3.2011.

31) Niebel: Gezielte Sanktionen gegen das libysche Regime. bundesregierung.de, 23.3.2011.

32) Rebellen-Kommandeur: 50.000 Tote in libyschem Bürgerkrieg. Reuters, 30.8.2011. Das neue libysche Gesundheitsministerium sprach später von mindestens 30.000 Opfern. Siehe: In Libyen mindestens 30 000 Tote. FAZ, 9.9.2011.

33) Eilmeldung: Gaddafi übergelaufen; Spiegel SPAM – Satire @ Spiegel Online, 25.8.2011.

Uli Cremer ist Mitglied der GRÜNEN FRIEDENSINITIATIVE und Autor des 2009 erschienenen Buches »Neue NATO: die ersten Kriege«.

Revolution in Tunesien

Revolution in Tunesien

Wie Kleptokratie und IWF die Würde rauben

von Werner Ruf

Am Beispiel Tunesien, wo die Aufstandsbewegung in der arabischen Welt begann, zeigt sich wie in einem Brennglas die Problematik und die tönerne Basis der arabischen Regime, die sich ganz offenkundig nur so lange halten konnten, wie sie vom Westen nahezu bedingungslos unterstützt wurden.

Auslöser des Aufstands in Tunesien war die Selbstverbrennung des arbeitslosen Informatikers Mohamed Bouazizi in der westtunesischen Stadt Sidi Bouzid. Als fliegender Händler verkaufte er, um seine achtköpfige Familie zu ernähren, mittels eines Handkarrens Obst und Gemüse. Die Polizei, die sich selbst ein Zubrot verdienen musste, erpresste von ihm Strafgebühren, die er nicht bezahlen konnte. Verzweifelt übergoss sich Bouazizi mit Benzin und zündete sich an. Im Gegensatz zu früheren Vorfällen ähnlicher Art kam es diesmal zu massiven Protesten der Bevölkerung. Die Sicherheitskräfte schossen wahllos in die Menge. Es gab Tote, die Proteste weiteten sich aus auf weitere Orte, auf die ganze Region und schließlich auf das ganze Land, mit einer Signalwirkung in die anderen arabischen Länder.

Der Aufruhr in Tunesien war keineswegs eine unvorhersehbare Eruption. Im Januar 2008 war es in den Phosphatminen von Redeyef im südlichen Gouvernorat Gafsa zu Protesten der Arbeiter gekommen, die acht Monate dauerten. Ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erarbeiteter Strukturanpassungsplan hatte zur Reduzierung der Belegschaften von 11.000 auf 5.000 Arbeiter in dieser Armutsregion des Landes geführt.1 Die Proteste kulminierten in der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen und in drakonischen Urteilen gegen die »Rädelsführer«.2

Ganz ähnlich in Ägypten. Schon 1991 hatte die Regierung mit dem IWF ein Strukturanpassungsprogramm abgeschlossen; bis Mitte 2002 waren 190 Betriebe privatisiert.3 Privatisierungen, also die Übernahme der Betriebe durch die mit dem System verbündeten Fraktionen der Bourgeoisie, der Raub von Lohn und sozialen Errungenschaften, und die Gründung von Staatsgewerkschaften führten zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Bündnissen, die von Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen über Staatsbedienstete bis zur Metall-, Chemie- und Automobilindustrie reichten.4 Ein weiteres Signal der allgemeinen Unzufriedenheit hatte 2004 die so genannte Kifayah-Bewegung (von kifayah = es reicht) gesetzt, die sich gegen die damals anstehende Wiederwahl des Präsidenten Hosni Mubaraks, gegen die sein Regime kennzeichnende Korruption und den Nepotismus wandte.

Kleptokratie und Neoliberalismus.

In Tunesien hatten Präsident Zin Abdin Ben Ali und der Familienclan seiner zweiten Ehefrau Leila Trabelsi ein das gesamte Land umfassendes kleptokratisches System entwickelt.5 Die kriminellen Absichten des Präsidenten wurden sogar in der Verfassung festgeschrieben. Ihr Artikel 41 wurde am 26. Mai 2001 erweitert.6 Hinfort genoss er strafrechtliche Immunität „auch nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seines Amtes begangen hat“.

Demgegenüber wurden IWF und Weltbank nicht müde, die »Erfolgsstory« Tunesien zu feiern und das Land – ebenso wie Ägypten – als Musterbeispiel erfolgreicher Strukturanpassung zu bezeichnen.7 Der vom Weltwirtschaftsforum herausgegebene Global Competitiveness Report kürte Tunesien mehrfach, zuletzt 2009, zum wettbewerbsfähigsten Land Afrikas8, und die bundeseigene Germany Trade and Invest (vormals Bundesstelle für Außenhandelsinformation, bfai) bescheinigte Tunesien ein kontinuierliches Wachstum von knapp 4% während der vergangenen zehn Jahre.9 Nachdrücklich wird darauf verwiesen, dass „die Lohnkosten in Tunesien im internationalen Vergleich günstig (sind)“, dies vor allem weil „Erhöhungen bei Löhnen […] durch eine kontinuierliche Abwertung des tunesischen Dinar ausgeglichen werden konnten“. Das heißt: Nominell stiegen zwar die Löhne, die Kaufkraft aber sank.

Die tunesische Wirtschaft basierte zu Zeiten des Vorgängerpräsidenten Burgiba vor allem auf Staatsbetrieben. Ben Ali privatisierte diese Betriebe, weshalb das Land regelmäßig Bestnoten des IWF erhielt. Die Entscheidung über die Ernennung der Firmenleitungen lag beim Kabinett oder beim Präsidenten selbst. An die Spitze der Unternehmen wurden somit getreue Lakaien des herrschenden Clans gesetzt, meist Mitglieder der angeheirateten Trabelsi-Familie. Banken – oft zusammen mit Kapital aus den Golfstaaten gegründet – sprossen wie Pilze aus dem Boden, im Aufsichtsrat saßen stets Vertreter des vielköpfigen Trabelsi-Clans, die Brüder, Söhne, Vettern und Ehemänner der Töchter der Präsidenten-Gattin. Ihnen gehörten Firmen und entscheidende Anteile an Hotels, Fluglinien, Rundfunk- und Fernsehsendern, Supermarktketten. Leilas Bruder Belhassan war Chef der Bank von Tunesien, was die illegalen Transfers der Familie ins Ausland erleichterte.10 Die Familie scheute auch nicht davor zurück, von privaten Immobilien Besitz zu ergreifen, deren rechtmäßige Bewohner bisweilen von Schlägertrupps vertrieben wurden.11 Leilas Sohn Imed gab gezielt den Diebstahl von Luxusyachten in Auftrag, die aus korsischen Häfen ins »sichere« Tunesien »überführt« wurden.12

Eine besonders lukrative Einrichtung war der 1993 eingerichtete »Fonds für nationale Solidarität«, nach seiner Kontonummer »26/26« genannt. Die auf das Konto eingezahlten »Spenden« waren nicht freiwillig, sondern Unternehmen, Staatsbedienstete und Freiberufler wurden auf der Grundlage einer Tabelle veranlagt. Wer nicht zahlte, wurde bestraft: Unternehmen mit Steuernachzahlungen, Staatsbedienstete mit Entlassung. Der Fonds stand allein dem Präsidenten zur Verfügung, der daraus bisweilen – öffentlichkeitswirksam inszeniert – Wohltaten an Arme verteilte. Allein die jährlichen Einnahmen aus dem Fonds werden auf rund 30 Millionen Euro geschätzt.13

Ihren letzten Coup landete Leila Trabelsi drei Tage vor ihrer Flucht, als sie die Goldreserven des Landes stahl und nach Dubai verbrachte, immerhin 1,5 Tonnen Gold im Wert von rund 45 Mio. Euro. Persönlich wurde sie am 11. Januar 2011 bei der tunesischen Zentralbank vorstellig und verlangte die Herausgabe des Goldes. Als der Zentralbankpräsident Leilas Ansinnen zunächst ablehnte, rief sie ihren Gatten an. Ben Ali selbst erteilte schließlich dem Direktor am Telefon den Befehl, das Gold herauszurücken.14

Jenseits der von „Ben Ali Baba und den vierzig Trabelsis“ (so der tunesische Volksmund in Abwandlung des klassischen arabischen Märchens) organisierten Kriminalität hatte die Staatsspitze ein System der Korruption und des Nepotismus entwickelt, das dazu führte, dass nur loyale Anhänger des Systems, von der Polizei bis zu den Universitäten, vom Zoll bis zu den verschiedenen Strukturen der Verwaltung, vom privaten Unternehmertum bis zur Führung der Einheitsgewerkschaft UGTT, Spitzenpositionen erhielten.15

Entscheidenden Anteil am Niedergang der tunesischen Wirtschaft und vor allem an der Verschärfung der sozialen Antagonismen in der Gesellschaft hatten nicht zuletzt die westlichen Regierungen und vor allem die internationalen Finanzorganisationen, die nicht müde wurden, das »tunesische Modell« über den grünen Klee zu loben. Kein Geringerer als Dominique Strauss-Kahn, der damalige Direktor des IWF, erklärte im November 2008 in Tunis, dass die wirtschaftliche Situation des Landes dank der „weisen“ monetären Politik seiner Regierung gut sei.16 Tunesien hatte, wie später auch andere Mittelmeerländer, am 1.3.1998 mit der Europäischen Union ein so genanntes Europa-Mittelmeerabkommen abgeschlossen, das binnen zwölf Jahren zur vollständigen Verwirklichung einer Freihandelszone mit der EU führen sollte. Ausgenommen bleiben aufgrund des Drucks der europäischen Agrarlobby die Agrarprodukte, was eine schwere Behinderung für die Agrarexporte dieser Länder darstellt. Hinzu kommt, dass die kleineren und mittleren Betriebe der Konkurrenz billiger europäischer Massenprodukte oft nicht standhalten können. In Tunesien waren Betriebsschließungen und Entlassungen in etwa einem Drittel dieser Betriebe die Folge. Demgegenüber genießen europäische Investoren staatlich garantierte Steuerfreiheit und freien Gewinntransfer über mehrere Jahre.17 Die Akkumulation wird ferner behindert durch die Bildung von »Freien Produktionszonen«. In diesen speziell ausgewiesenen Gebieten kommt die nationale Arbeits- und Sozialgesetzgebung nicht zur Anwendung. Sie ermöglichen daher dem dort investierenden ausländischen Kapital im Vergleich zu den inländischen Unternehmen enorme Extraprofite.

So behinderte die Außenorientierung der Wirtschaft, zu der auch der Tourismus gehört, systematisch die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse des lokalen Markts orientierten Produktion und verstärkte die Außenabhängigkeit des Landes. Korruption und Kleptokratie wirkten sich zusätzlich hemmend auf die tunesischen Betriebe aus. Einer Analyse des tunesischen Arbeitgeberverbandes UTICA (Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat) zufolge standen 40% der tunesischen Betriebe unter Kontrolle des Trabelsi-Clans.18 Die Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Betriebe nicht investierten oder modernisierten, um nicht zum Zielobjekt der Mafia der Präsidenten-Gattin zu werden. Hätten diese Betriebe sich unternehmerisch und marktkonform verhalten (können), hätten rund 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können – eine bemerkenswerte Zahl in einem Staat mit zehn Millionen Einwohnern.19

Die tatsächliche Situation der tunesischen Wirtschaft musste den internationalen Finanzagenturen wie auch den entsprechenden Gremien der EU bekannt sein. Immerhin äußerte selbst die Germany Trade and Invest (gtai) Zweifel an der Verlässlichkeit der von den tunesischen Behörden gelieferten Zahlen, die wiederum Grundlage für die »Erfolgsstory« waren.20 Den katastrophalen Zustand der tunesischen Wirtschaft und das blutsaugerische System der Präsidentenfamilie belegt sogar eine Studie, die von IWF und Weltbank in Auftrag gegeben wurde. In den Jahren 1999 bis 2008 wurden mehr als zehn Mrd. Euro aus dem Umkreis der Präsidentenfamilie auf ausländische Konten transferiert.21 Die Summe entspricht ziemlich genau den gesamten Auslandsschulden des Landes. Bewusst falsch waren die offiziellen Angaben betreffend das Ausmaß der Armut in Tunesien. Rund 15% der tunesischen Bevölkerung leben unter der absoluten Armutsgrenze von zwei US$ pro Tag, während das Regime diesen Prozentsatz mit 4% angegeben hatte. Der Maßstab für absolute Armut war einfach von zwei US$/Tag auf 0,8 US$/Tag abgesenkt worden.22

Trotz dieser klaren Befunde scheint die EU aus dem Desaster der sozialen – und letztlich politischen – Auswirkungen ihrer Politik nicht lernen, bzw. weiterhin allein die Interessen europäischer Investoren bedienen zu wollen. Dies belegen die gebetsmühlenartig wiederholten Erklärungen von europäischen Ministern und EU-Vertretern bei ihren Reisen nach Tunis, wonach jetzt verstärkte europäische Investitionen – unter den Bedingungen des oben erwähnten Freihandelsabkommens – die Situation stabilisieren sollen. Auch die deutsche Politikberatung argumentiert in diese Richtung und fordert, dass europäische Firmen, die weiterhin in Tunesien investieren wollten, zusätzlich zu den schon vorhandenen Vergünstigungen von der EU Zuschüsse erhalten sollten.23 An eine im Interesse der Entwicklung des Landes liegende Unterstützung einheimischer Betriebe oder auch nur an deren Gleichstellung mit europäischen Firmen wird nicht gedacht.

Die Platzierung Tunesiens als Musterland und die Mär vom »tunesischen Wirtschaftswunder« entsprechen keineswegs der Realität, sondern dürften rein politische Gründe gehabt haben. Die Protektion, die das Ben-Ali-Regime durch Frankreich genoss, dürfte auch die Stellungnahmen des IWF beeinflusst haben, dessen Präsidentschaft traditionell Frankreich obliegt: In diesen Kontext passt, dass die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie noch drei Tage vor der Flucht Ben Alis diesem französische Spezialtruppen zur Aufstandsbekämpfung anbot.24 Schließlich musste sie zurücktreten, als bekannt wurde, dass sie mehrfach auf Kosten eines Mitglieds der Trabelsi-Bande in Tunesien Urlaub gemacht hatte.

Würde

„Schießt doch, wir sind schon tot“, stand auf einem Transparent, mit dem Tausende Jugendliche in der algerischen Stadt Tizi Ouzou vor einer Polizeiwache demonstrierten, auf der einen Tag zuvor ein Siebzehnjähriger totgeschlagen worden war. Es ist dieses Gefühl der absoluten Verzweiflung, das seit Jahren jede Nacht nicht nur Migranten aus Schwarzafrika, sondern auch Dutzende von Jugendlichen aus Marokko, Algerien, Tunesien veranlasst, mit kaum seetüchtigen Booten die Reise ans Nordufer des Mittelmeers anzutreten, wobei sie sich sehr wohl bewusst sind, dass die Chancen, diese Reise zu überleben, nicht groß sind.

In den Augen der Menschen in ganz Nordafrika ist die Staatsmacht nicht nur abgrundtief korrupt, sondern auch bar jeden moralischen Prinzips. Hierfür stand in Tunesien auch die Reputation der Präsidentengattin als einer Frau lockerer Moral. Kurzum: Das »System« verkörperte selbst Amoralität und Würdelosigkeit und war zugleich verantwortlich für das menschenunwürdige Leben der Bürgerinnen und Bürger. Alltägliche Frustrationen und Erniedrigungen produzierten ein Gefühl der Selbstverachtung.25 Aus dieser Situation entsteht „dieser schwer fassbare Faktor, der Bedarf nach Anerkennung von Würde.“26

Der Gegenbegriff zu »karama«, Würde, ist »hogra«, Würdelosigkeit, Verachtet-Sein, was sich ausdrückt in den täglichen Erfahrungen, eine deklassierte und unterbezahlte Beschäftigung annehmen zu müssen, permanent am Rand der Legalität leben zu müssen, stets Gefahr zu laufen, verhaftet, erpresst oder denunziert zu werden. Das Leben in einem Provisorium, das kein Ende nimmt, vermittelt jenes Gefühl, ohne Würde zu sein. Verdeutlicht wird dies in Aussagen wie: „Am Zahltag schlafe ich mit Tränen in den Augen. In meinem Kopf rechne ich, bezahle die offenen Rechnungen und meine Gläubiger. Und die Freude, meinen Lohn erhalten zu haben, wird zur Übelkeit, denn ich weiß nicht, wie ich bis zum Ende des Monats überleben soll.“ Oder: „Ich arbeite in einer Firma [… für] 300 Dinar [160 Euro] im Monat. Ich habe zwei Kinder und lebe mit meiner Frau und den Kleinen in einem einzigen Zimmer. Ist das normal?“.27

Belegt wird diese Misere, in der die Masse der Bevölkerung lebt, durch die Tatsache, dass in Tunesien 38% der Bevölkerung (in Algerien und Marokko sind diese Zahlen noch erheblich höher) ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor sichern müssen. „Die illegalen Praktiken entwickeln sich nicht gegen oder außerhalb des Staates, da sie letztlich reguliert werden durch Erpressung und Korruption der öffentlichen Verwaltung“.28 Sie sind somit Teil des Systems, in dem nur extralegale Mittel die prekäre Sicherung einer erbärmlichen Existenz ermöglichen: „Ich hatte gerade meinen Arbeitstag begonnen. Auf der ersten Reise [als Schmuggler über die Grenze nach Libyen, W.R.] wurde ich von einem Polizisten angehalten, der zehn Dinar [fünf Euro] forderte. Ich habe ihm geschworen, dass ich kein Geld hatte, weil ich gerade erst aufgebrochen war. Wir haben gehandelt und er hat mir Fragen gestellt, ob ich Kinder habe. Ich habe ihm gesagt: drei, davon zwei an der Universität. Er sagte, er hätte drei an der Universität. […] Wir waren etwa gleich alt. Er hat mich laufen lassen, gab mir seine Mobilfunknummer und bat mich, ihm eine Pre-paid-Karte für zehn Euro zu schicken. Als ich abends zurück kam, habe ich die Karte gekauft und ihm den Code geschickt. Er hat mir geantwortet: »Danke!«“29

Diese Zitate illustrieren die enge Wechselbeziehung zwischen »hogra« und »karama«. Die Permanenz der »hogra«, die damit verbundene Perspektivlosigkeit, die ständige Demütigung kulminierten in der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi zu einem Akt des Protests und der Befreiung. Die dadurch ausgelösten Demonstrationen und ihre blutige Repression lösten den revolutionären Prozess aus: Die protestierenden Demonstranten hatten nichts zu verlieren außer einem lebensunwürdigen Leben. Dem Regime war ihr Leben nichts wert. Indem sie dieses riskierten, gewannen die Aufständischen jedoch wenigstens ihre Würde.

„Wir sind alle Khaled Said“, riefen die Demonstranten in Alexandria und Kairo und identifizierten sich mit jenem jungen Blogger, den die Polizei in Alexandria auf offener Straße zu Tode geprügelt hatte. Wie Mohamed Bouazizi symbolisierte er die Perspektivlosigkeit der Jugend und die Rechtlosigkeit der Menschen in einem brutalen, abgrundtief korrupten und deshalb amoralischen System. Die kollektive Erfahrung der »hogra« war es, die die Menschen auf die Straßen brachte – nicht nur die lumpenproletarisierten Jugendlichen, auch die Älteren, die vielen Frauen, die Muslimbrüder und die Kopten, die Mittelschichten, die Richter, die Anwälte, ja sogar Unternehmer. Die gemeinsame Basis dieser Menschen in Tunesien wie in Ägypten war, jenseits der Forderung der großen Massen nach Brot, ein menschenwürdiges Leben. »Würde« gerann so zu einer entscheidenden Dimension gerade auch materieller Existenz.

Fazit

Die tunesischen und ägyptischen Revolten, die immerhin zum Sturz der alten diktatorischen Freunde des Westens führten, waren Auslöser für Proteste und Aufstände, die wohl noch lange nicht zu Ende sind. Es wäre zu einfach, die Erhebungen und bewaffneten Konflikte in Jemen und Libyen, vielleicht auch die Gewalt in Syrien nur aus der Perspektive des tunesischen oder ägyptischen Modells zu betrachten. Sie haben ihre eigenen Spezifika, die Vergleiche sehr schwer machen.

Wenig beachtet werden Wandlungsprozesse, die ohne nennenswerte Gewaltanwendung eingeleitet wurden, wie etwa die präventive massive Senkung der Lebensmittelpreise in Mauretanien, Marokko und Jordanien, die Entlassung der Regierung und die Neubildung eines Kabinetts in Jordanien, die eilige Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Marokko, die vom Volk am 1. Juli mit der üblichen Mehrheit von 98,5% der Stimmen angenommen wurde und die ein wenig mehr Parlamentarismus, aber immerhin auch die Unabhängigkeit der Justiz verspricht. Die im Schatten des Krieges in Libyen erfolgte brutale Niederschlagung der friedlichen Proteste in Bahrain durch die saudische Armee und die Truppen des Golf-Kooperationsrats fand in unseren Medien kaum Beachtung: Der Krieg in Libyen war die willkommene Nebelwand, hinter der die Forderungen nach Demokratie der Bevölkerung des Golfstaats verschwand.

Die Völker der Region haben gezeigt, dass sie ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen wollen, dass einige von ihnen fähig waren, ein Stück der Souveränität zu erringen. Damit haben sie nicht nur ein Selbstwertgefühl, ein Stück Würde gewonnen, sie haben auch die abstruse These von der Demokratieunfähigkeit der arabischen Völker und insbesondere Samuel Huntingtons kulturrassistisches Paradigma vom »Kampf der Kulturen« auf den Müllhaufen der Geschichte befördert. Vielleicht aber sind die arabischen Revolten ein Anzeichen für einen globalen Wandel, der nicht nur die unbestrittene hegemoniale Stellung der USA in Frage zu stellen beginnt,30 sondern auch ein Aufbegehren gegen die durch den herrschenden Neoliberalismus erzeugte Perspektivlosigkeit der Jugend weltweit. So können die arabischen Revolten auch verstanden werden als Folge vorausgegangener Entwicklungen in Lateinamerika und als Brücke zu den Protesten in Spanien, Griechenland, Großbritannien und Israel. Eine andere Welt, eine Welt in Würde, ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich!

Anmerkungen

1) Carole Vann: Les émeutes du bassin minier de Gafsa se poursuivent malgré la répression. Le Temps (Quotidien – Suisse), 16 octobre 2008.

2) R. Maghari: Tunisie – De lourdes peines pour les émeutiers de Gafsa. maghrebinfo, 12 décembre 2008. Siehe auch: U.S. Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor: 2008 Human Rights Practices: Tunesia. Report, 25 February 2009.

3) Joel Beinin: Arbeiterprotest, Neoliberalismus und Kampf für Demokratie. In: Inamo Spezial Nr. 3, Frühjahr 2011, S.40-45.

4) Ingrid El Masry: Gewerkschaften und Arbeiterbewegung in der Revolution. In: Inamo Spezial Nr. 3, op.cit. S.56-57.

5) Vgl. auch: Béchir Turki (2011): Ben Ali Le Ripou. Tunis, gedruckt bei Sotepa Graphique.

6) Veröffentlicht in: Journal Officiel de la République Tunisienne, 27. moharrem 1423 = 5. April 2002, 145. Jahrgang, Nr. 28.

7) Anja Zorob: Nordafrikanische Erfolgsgeschichten? In: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 7/2011, S.31-34, hier S.31.

8) Fausi Najjar (2010): Wirtschaftstrends Tunesien – Jahreswechsel 2009/10. Köln: Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH; gtai.de.

9) Germany Trade and Invest, op.cit.

10) Nicolas Beau/Catherine Graciet (2010): La régente de Carthage. Paris: Editions La Découverte.

11) Sihem Bensedrine/Omar Mestiri (2004): L’Europe et ses Despotes. Paris: La Découverte. Deutsche Ausgabe (2005): Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt. München: Kunstmann. S.127-132.

12) Ausführlich dazu: Beau/Graciet, op.cit., S.81-95.

13) Bensedrine/Mestiri, op.cit., S.92-95.

14) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2011.

15) Hierzu die brillante Analyse von Béatrice Hibou (2011): The Force of Obedience. Political Economy of Repression in Tunisia. Cambridge: Polity Press.

16) Beau/Graciet, op.cit., S.130.

17) Béatrice Hibou: Les faces cachées du Partenariat euro-méditerranéen. Critique internationale No. 18, Januar 2003.

18) Oussama Nadjib: Le patronat tunisien »libéré« mais en crise se cherche une nouvelle image. Maghreb Emergent, 8 Février 2011.

19) Ibid.

20) Germany Trade and Invest, op.cit.

21) Béchir Turki (2011), op.cit.

22) Taïeb Zahar: Chroniques – Les chiffres de la honte. Réalités (tunesische Wochenzeitschrift), 9.6.2011; realites.com.tn.

23) Jürgen Theres: Revolution des Volkes oder Palastrevolution? Institut für Internationale Begegnung und Zusammenarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung, 18. Januar 2011.

24) Tunisie: les propos »effrayants« d’Alliot-Marie suscitent la polémique. LeMonde, 13.1.2011.

25) Sadri Khiari, tunesischer Sozialwissenschaftler und Oppositioneller, im Gespräch mit Béatrice Hibou, op.cit., S.23-34, hier S.28f.

26) Ibid, S.34.

27) Zitiert nach: Hamza N. Meddeb: L’Ambivalence de la »course à el khobza«. Obéir et se révolter en Tunisie. Politique Africaine Nr. 121, Mars 2011, S.35-51.

28) Ibid., S.42.

29) Ibid., S.47.

30) Werner Ruf: Ex oriente lux – oder »regime change light«? In: Sozialismus, Nr. 3/2011, 21. Februar 2011, S.3-6.

Prof. em. Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel.

Die Herausforderungen der Revolution

Ägypten

Die Herausforderungen der Revolution

von Ivesa Lübben

Die ägyptische Revolution war eine Revolution des Volkes: Sie war nicht geplant, sie hatte keine Führung, es gab keine Avantgarde mit einem klaren Programm und einer revolutionären Strategie. Die Autorin untersucht, warum das, was zunächst die Stärke der Revolution war, in der post-revolutionären Phase immer mehr zu ihrer Schwäche wird.

Keine Revolution entsteht in einem Vakuum – so auch nicht die ägyptische. Ein Bündnis von Jugendorganisationen aus linken und liberalen Jugendbewegungen sowie der Jugend der Muslimbruderschaft1 hatte für den 25. Januar 2011, dem Tag der Polizei – einem offiziellen Feiertag mit staatlichem Festakt – zu einer Demonstration gegen Polizeiwillkür und Folter, für demokratische und soziale Reformen aufgerufen. Diese Demonstration war Teil einer geplanten Eskalationsstrategie auf dem Weg zu Aktionen des zivilen Ungehorsams, durch die die Wiederwahl Mubaraks bzw. eine mögliche Amtsübergabe an seinen Sohn Gamal bei den für den Herbst geplanten Präsidentschaftswahlen verhindert werden sollte.

Diese neue Jugendbewegung knüpfte an anderen Protest- und sozialen Bewegungen an, die sich in den vergangenen Jahren in Ägypten formiert hatten:

Die »Kfiaya« (Genug)-Bewegung, die schon 2005 gegen die Wiederwahl Mubaraks protestiert hatte,

die Richter, die 2007 für eine unabhängige Justiz als Voraussetzung fairer Wahlen auf die Straße gegangen waren,

die Arbeiterkämpfe, die seit den großen Streiks der Textilarbeiter in Mahalla-Kubra im Dezember 2006 nicht mehr abrissen.

„Wir hofften, dass ein paar Tausend dem Aufruf zur Demonstration am 25. Januar [2011] folgen würden, aber es waren Zehntausende oder Hunderttausende. Und während wir noch Parolen nach demokratischen Reformen riefen, forderten die Leute den Sturz des Regimes. Die Menschen waren uns voraus und taten in jedem Moment spontan das Richtige“, sagt einer der Organisatoren.2

Es war die Gemengelage aus Frustration über 30 Jahre Polizeistaat und soziale Ungerechtigkeit gepaart mit der Hoffnung, die der Sturz Ben Alis in Tunesien ausgelöst hatte, und der Euphorie über den unerwarteten Widerhall, auf den der Aufruf zu der Demonstration am 25. Januar gestoßen war, die eine eigene Dynamik der Bewegung generierte. Ohne vorherige Absprachen drängten die Demonstrationszüge auf den zentralen Tahrir-Platz im Herzen Kairos.3 Und spontan setzte sich die Parole durch: Hier harren wir aus, bis das Regime fällt.

Alle hielten sich an die gemeinsame Forderung nach Würde, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Niemand versuchte sich durch eigene Parolen auf Kosten der Bewegung zu profilieren. Christen und Muslime, Jugendbewegungen und unabhängige Arbeiterkomitees, Feministinnen und voll verschleierte Frauen, Kommunisten, Liberale und Muslimbrüder, Fußballclubs und Bauern, die mit Eselkarren in die Stadt kamen, um die Streikenden auf dem Tahrir mit Lebensmitteln zu versorgen. Es gab keine Gruppe, die erpressbar gewesen wäre oder durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche zu politischen Zugeständnissen hätte gezwungen werden können. Und es gab keine Organisationsstrukturen, mit deren Zerstörung das Regime der Bewegung das Rückgrat hätte brechen können.4

In der postrevolutionären Übergangsphase, die die Grundlagen des Neuaufbaus legen soll, wird genau dies jedoch zum Schwachpunkt der Revolution. Nach dem Fall Mubaraks gab es weder eine gemeinsame Plattform noch eine Roadmap für den Übergang, und es gab keine Repräsentanten der revolutionären Bewegung, die in Form eines revolutionären Übergangsrats das Land bis zu Neuwahlen hätte regieren können. Stattdessen füllte der Oberste Militärrat, geführt von Verteidigungsminister Tantawi, das Machtvakuum. Tantawi ist der einzige heute amtierende Minister aus der Mubarak-Ära.

Hatten in den Tagen der Revolution die gemeinsame Gegnerschaft zum Regime, die Suche nach einer gerechteren Sozialordnung und der Freiheitswille die Gruppen geeint, so sind die unterschiedlichen Utopien, die Prioritätensetzung während des Übergangs und die Frage nach der Identität inzwischen zur Zerreißprobe für die revolutionäre Bewegung geworden.

„Es gibt kein einiges Volk mehr. Wir sind zu Stämmen geworden, die nichts mehr voneinander wissen – ganz im Gegenteil zu dem, was Gott uns im Koran lehrt, wo es heißt: »Wir haben Euch als Völker und Stämme geschaffen, auf dass Ihr Euch kennenlernen mögt«,“ klagt Muhammed al-Baradei, der ehemalige Präsident der Internationalen Atomenergieorganisation, in einem Interview mit der ägyptischen Tageszeitung al-Shuruq.5 Al-Baradei war Anfang 2010 mit der Ankündigung nach Ägypten zurückgekehrt, er sei bereit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Mubarak anzutreten. Zugleich rief er eine »Bewegung für Wandel« ins Leben, die eine Verfassungsänderung als Voraussetzung für demokratische Wahlen forderte.6

Al-Baradeis post-revolutionäre Erwartungen sind inzwischen gedämpft: Die Anhänger des alten Regimes würden immer noch auf ihren Posten sitzen. Viele einfache Menschen, die die Revolution getragen haben, hätten das Gefühl, nichts gewonnen zu haben – im Gegenteil, die wirtschaftliche Situation werde immer schlechter. Auf Grund der schlechten Sicherheitslage blieben Investitionen und Touristen aus. Der Staat würde seine Reserven zur Deckung der laufenden Ausgaben verbrauchen. Diejenigen, die die Revolution mit initiiert hätten, würden heute vor Militärgerichte gestellt, obwohl sie friedlich für die Verwirklichung der Forderungen der Revolution auf die Straße gingen, während Mubarak und seine Leute, die das Land 30 Jahre ausgeplündert hätten und für den Tod hunderter von Demonstranten verantwortlich seien, vor einem Zivilgericht stehen. Die Militärgerichtsverfahren seien ein gefährlicher Hinweis darauf, dass die Herrschaftslogik des alten Regimes weiter existiert. Die Forderung der Revolution nach Freiheit und Menschenwürde würde dadurch untergraben. Besonders bedenklich stimmt ihn die Ablehnung internationaler Wahlbeobachter durch den Obersten Militärrat mit der gleichen Begründung, mit der diese einst von Mubarak abgelehnt worden waren.7

Die ägyptische Revolution steht vor vielen Herausforderungen.

Das Sicherheitsdilemma

Eine der letzten Amtshandlungen des verhassten Innenministers Habib al-Adli, drei Tage nach Beginn der Demonstrationen, war die Anordnung, die Gefängnistore zu öffnen und die Polizei nach Hause zu schicken. Dies führte zu einer Massenflucht von tausenden von kriminellen Häftlingen, die bis heute in Banden durch das Land marodieren und vor allem in den ärmeren Gebieten Wohnungen ausrauben, Vieh stehlen oder Straßensperren errichten, um Autos zu kapern. Das Schaffen von Chaos in Abwesenheit der Sicherheitsorgane war eine bewusste Strategie des alten Regimes. Man hoffte darauf, dass die Menschen angesichts der unsicheren Sicherheitslage nach der Wiederherstellung des alten Sicherheitsapparates rufen würden. Viele Beobachter vermuten auch, dass untergetauchte Elemente der alten Sicherheitsorgane bis heute Spannungen schüren, z.B. zwischen Muslimen und Christen, um das Land zu destabilisieren.8

Um der Sicherheitslage Herr zu werden, versucht die neue, vom Militärrat ernannte Regierung, die Polizei zu restrukturieren. Dem steht jedoch das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Polizei entgegen. Dieses Misstrauen wird noch dadurch gestärkt, dass viele Offiziere und Polizisten, denen Folter und Korruption vorgeworfen werden, nicht entlassen, sondern nur in andere Bezirke versetzt wurden. Es führt aber auch dazu, dass die Polizei handlungsunfähig ist und sich nicht traut, gegenüber Gesetzesbrechern, bei konfessionellen Auseinandersetzungen oder gegen illegale Baumaßnahmen einzuschreiten. So nutzten viele Menschen das Sicherheitsvakuum nach der Revolution, um massiv Ackerland illegal zu bebauen, was dazu führt, dass die Nahrungsmittelversorgung des Landes zunehmend gefährdet ist.9

Die soziale Frage

In den Monaten vor der Revolution haben immer wieder Protestcamps von Belegschaften vor dem Parlamentsgebäude auf die katastrophale Lage der ägyptischen Arbeiter und staatlichen Angestellten, die oft mit Löhnen weit unter dem Existenzminimum und ohne jede soziale Sicherheit auskommen müssen, aufmerksam gemacht. 2010 hatte das Oberste Verwaltungsgericht die Einführung von Mindestlöhnen von umgerechnet 150 Euro angeordnet – ein Beschluss, der nie umgesetzt wurde. Die Verbindung von demokratischen Rechten und sozialer Gerechtigkeit in Form von Mindestlöhnen war ein zentrales Element der Revolution, dessen Einlösung die Menschen aus den Armenvierteln und Arbeiterzentren, ohne deren Unterstützung die Revolution nicht hätte siegen können, erwarten. Bislang hat die Regierung unter Hinweis auf die Wirtschaftslage lediglich umgerechnet ca. 85 Euro in Aussicht gestellt. Aus Protest streiken wieder Arbeiter im ganzen Land, die sich in ihren Erwartungen betrogen fühlen. Aus Sicht der Regierung gefährden sie damit die wirtschaftliche Erholung. Die unabhängige Arbeiterbewegung hat dieses Argument zurückgewiesen. Man könne Mindestlöhne durch die parallele Festsetzung von Höchstlöhnen finanzieren und so die Lohndifferenzen zugunsten einer größeren Verteilungsgerechtigkeit verringern. Dies würde zugleich die wirtschaftliche Basis der Vertreter des alten Regimes vor allem im Staatsektor und öffentlichen Dienst schwächen. Bislang scheut sich das Übergangsregime, die Privilegien der ehemaligen Oberschichten infrage zu stellen und die politische Revolution durch soziale Reformen zu ergänzen. Stattdessen erließ der Militärrat das »Gesetz 34«, nach dem Streiks und Demonstrationen, die die öffentliche Ordnung gefährden und die Produktion behindern, als Kriminaldelikt zu behandeln sind. Seitdem wurden wiederholt Streikführer von Militärgerichten zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Unmittelbar nach der Machtübernahme kündigte der Militärrat eine Verfassungsänderung an. Durch die Einsetzung einer unabhängigen Wahlkommission aus Richtern sollte die Voraussetzung für demokratische Wahlen gelegt werden. Die Amtszeit des Präsidenten sollte auf zwei Legislaturperioden beschränkt und eine Kandidatur für die Präsidentschaft für unabhängige Kandidaten erleichtert werden. Damit erfüllte der Militärrat wichtige Forderungen der vorrevolutionären Demokratiebewegung. Gleichzeitig wurde das in spätestens sechs Monaten neu zu wählende Parlament mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung beauftragt. Am 19. März stimmten 77% der Ägypter dieser Änderung zu.

Die politische Polarisierung und der Kampf um die Identität

Ein Teil der revolutionären Jugendgruppen sowie die Linkskräfte lehnten die Verfassungsänderung ab. Sie forderten, dass eine neue Verfassung vor den Wahlen erarbeitet werden sollte, weil die alte Verfassung auch in ihrer modifizierten Form die Grundlagen des alten autoritären Regimes reproduzieren würde. Reformislamisten wie die Muslimbrüder oder die islamische Zentrumspartei hingegen unterstützten die Verfassungsänderung als eine Zwischenlösung auf dem Weg zu einer neuen Verfassung.

Das Referendum führte zu einer Polarisierung der politischen Lager, die bis heute die postrevolutionäre politische Landkarte bestimmt. Dabei überlagerte sich die Frage nach dem Fahrplan der Revolution mit der Diskussion um die Identität des zukünftigen ägyptischen Staates. Mit dem Referendum traten zwei politische Akteure auf die Bühne, die zwar nicht an der Revolution teilgenommen hatten, jetzt aber die revolutionären Lager in ein links-liberal-säkularistisches und ein islamisches Lager teilten: Die Kirche und die ultra-konservative Salafi-Bewegung.10 Die Salafis riefen ihre Anhänger zu »Ja« auf, vorgeblich um die islamische Scharia zu verteidigen – ein etwas abwegiges Argument, weil Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Prinzipien der Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt, gar nicht zur Disposition stand. Andererseits riefen Kirchen und säkulare Kräfte mit genau dem gleichen Argument zum »Nein« auf. Sie forderten eine neue Verfassung, auf deren Grundlage dann Neuwahlen stattfinden sollten, ohne jedoch zu benennen, wie denn eine durch das Volk legitimierte Verfassungsversammlung zusammengesetzt werden sollte.

Entgegen dem Verfassungsreferendum, das die Erarbeitung einer neuen Verfassung an das nächste Parlament delegiert, reißen die Stimmen aus dem säkularen Lager nicht ab, die aus Angst vor einem Übergewicht islamistischer Kräfte im nächsten Parlament im Namen der revolutionären Legitimität die Festschreibung »überkonstitutioneller Prinzipien« vor den Wahlen fordern. Diese »überkonstitutionellen Prinzipien« sollen die Grundlagen eines modernen demokratischen Staates definieren. Islamistische Kräfte lehnen dieses unter Berufung auf die durch das Referendum geschaffene Volkslegitimität ab.

Trotz dieser Polarisierung hat sich in Form der »Demokratischen Allianz« um die bürgerliche Wafd-Partei und die gemäßigt-islamistische Muslimbruderschaft eine dritte Kraft gebildet, der sich inzwischen über 30 islamische, nasseristische und liberal-konservative neue und alte Parteien und Gruppierungen angeschlossen haben. Die Demokratische Allianz, die angekündigt hat, bei der nächsten Parlamentswahl eine gemeinsame Liste zu bilden, versucht eine Brücke zwischen den beiden Polen zu schlagen. Sie sieht sich einem demokratischen, bürgerlichen Staat auf der Basis der Grundlagen und Werte der Scharia – und nicht einer textualen Interpretation, wie es von den konservativen Salafis gefordert wird – verpflichtet. Die Demokratische Allianz lehnt zwar die Festschreibung dieser Prinzipien vor der Einberufung einer demokratisch legitimierten verfassungsgebenden Versammlung ab, hat sich aber verpflichtet, diese der Verfassung zugrunde zu legen, sollte sie eine Mehrheit bei den nächsten Wahlen erringen.

Das Militär

Nicht nur Kritiker, sondern auch Befürworter des Verfassungsreferendums wunderten sich, dass der Oberste Militärrat auf der Basis der Ergebnisse des Verfassungsreferendums am 31. März eine Verfassungserklärung verkündete, die eine Synthese aus alter Verfassung und den Modifikationen des Referendums darstellte. Warum hat er dann nicht die gesamte Verfassungserklärung zur Abstimmung gestellt? Einer der Gründe dürfte sein, dass sich der Oberste Militärrat in der Verfassungserklärung selber absolute legislative und exekutive Vollmachten eingeräumt hat.11

Auch wenn das Militär während der Revolution von Mubarak zu Hilfe gerufen worden war, weil die Polizei der Situation nicht mehr Herr werden konnte, war es das Militär, das ihn zum Abdanken zwang und in seiner ersten Erklärung an das Volk versprach, die Revolution zu schützen. „Volk und Armee Hand in Hand“, jubelten die Menschen »ihrer« Armee zu.

Aber diese anfängliche Euphorie wurde schnell gedämpft: Alte Seilschaften in den Ministerien wurden nicht angetastet, Prozesse gegen die Spitzen des Regimes immer wieder hinausgezögert und Provinzgouverneure und Lokalverwaltungen nur aufgrund des Drucks der Straße ausgewechselt.

Tatsächlich unterliegen Regierung und Militärrat dem Druck von vielen Seiten:

Da sind die USA, die Ägypten als regionalen Partner in der Nahostpolitik nicht verlieren wollen,

da sind die Saudis, die verhindern wollen, dass der revolutionäre Funke auf die arabische Halbinsel überspringt,

da sind die Anhänger des alten Regimes, die nach wie vor in den Spitzen vieler staatlicher Institutionen sitzen,

auf der anderen Seite ist die Bevölkerung, die verhindern will, dass die Revolution auf halben Wege stecken bleibt.

Statt gemeinsam mit den revolutionären Kräften nach Lösungen zu suchen, fällt das Militär immer stärker in die Repressionsmuster des alten Regimes zurück. Als Demonstranten immer wieder auf den Tahrir zogen und vom Militär die Einlösungen der Forderungen der Revolution forderten, wurden sie am 9. März von Militärpolizisten angegriffen. Viele von ihnen wurden verhaftet und gefoltert, junge Mädchen wurden Jungfernschaftstests unterzogen. Nach Angaben von ägyptischen Menschenrechtsorganisationen wurden in den ersten sechs Monaten über 10.000 Menschen vor Militärgerichte gestellt.12

Viele richtungsweisende Beschlüsse fällt der Militärrat über die Köpfe der Ägypter hinweg und ohne jede Transparenz. Das neue Parteiengesetz erschwert es jungen Menschen, Parteien zu gründen.13 Besonders viele Fragezeichen hat das vom Militärrat im August beschlossene Wahlgesetz hervorgerufen, das eine Kombination von Listenwahlrecht und Direktmandaten vorsieht. Die politischen Bewegungen hatten über alle Lager hinweg ein reines Listenwahlrecht gefordert. Sie befürchten, dass über Direktmandate gerade in den Provinzen Vertreter des alten Regimes über lokale Seilschaften wieder den Sprung ins Parlament schaffen können.

Schlussbetrachtung

Trotz dieser kritischen Betrachtung ist Pessimismus bei der Bewertung des Zwischenstandes der Revolution nicht angebracht. Jede Revolution muss mit Widersprüchen umgehen, ist Rückschlägen ausgesetzt und muss nach Neunanfängen suchen. Die ägyptische Gesellschaft hat diese Herausforderungen angenommen.

Obgleich es monatelange Verzögerung gab, wurde aufgrund des Drucks der Straße im August schließlich das Verfahren gegen Mubarak, seine Söhne und den ehemaligen Innenminister Habib al-Adly eröffnet, die wegen Korruption angeklagt sind und für die Schießbefehle gegen Demonstranten verantwortlich gemacht werden.

Die Ägypterinnen und Ägypter sind selbstbewusst geworden. Sie wissen, dass sie Rechte haben, wie man für diese Rechte kämpft und dass man sie verteidigen muss.

Unter der Machtpyramide des Mubarak-Regimes gab es unendlich viele kleine autoritär geführte Machtpyramiden, die heute infrage gestellt werden. Korrupte Gouverneure werden zum Rücktritt aufgefordert. Die ägyptische Gesellschaft hat einen ungeheuren Schub der Selbstorganisation erfahren. Überall bilden sich Interessenvertretungsorgane, seien es Volkskomitees in den Stadtteilen, unabhängige Gewerkschaften oder Jugendbündnisse. Studenten fordern die freie Wahl von Dekanen und Rektoren. Selbst die Geistlichen der islamischen Azhar-Universität fordern die Demokratisierung ihrer Institution. Anders als im Iran, wo die Geistlichkeit das Land von oben islamisiert hat, haben in Ägypten vor allem junge Geistliche die zivilgesellschaftlichen Forderungen in die theologischen Institutionen getragen. In Kooperation mit Intellektuellen des Landes hat sich die Azhar-Universität in einem Grundsatzdokument zu einem demokratischen Staat freier Bürger bekannt, der sich zu den hohen Prinzipien und Werten der Sharia wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit bekennt. Und trotz der Restriktionen des Parteiengesetzes wurden bislang fast zwei Dutzend neue Parteien zugelassen.

Anmerkungen

1) In der westlichen Presse schien es oft so, als hätten überwiegend Facebook-Seiten zu der Demonstration aufgerufen. Facebook war jedoch für die Organisatoren neben traditionellen Flugblättern, Presseerklärungen und Mund-zu-Mund-Propaganda nur ein Mobilisierungsmedium.

2) Interview mit Ahmed Eid von der Jungend der Partei der Demokratischen Front, März 2011.

3) Ähnliche Demonstrationen wie in Kairo fanden auch in anderen Städten Ägyptens statt, v.a. in Alexandrien, Suez, Mahalla al-Kubra. Auch hier beschlossen die Menschen an zentralen Plätzen bis zum Sturz des Regimes auszuharren.

4) Es bildeten sich zwar Gremien wie der Rat der Treuhänder der Revolution (majlis umana al-thaura) oder das Komitee der Weisen der Revolution (lajnat hukama al-tahuara), außerdem verschiedene Revolutionsbündnisse, um das Leben auf dem Tahrir zu koordinieren. Niemand hatte jedoch die Autorität, eigenmächtig im Namen der Revolution zu sprechen oder Beschlüsse zu fassen. Das bekam z.B. der Administrator der wichtigsten Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Sais« zu spüren, als er vorschlug, auf ein Gesprächsangebot mit der Regierung einzugehen. Wael Ghunaim, der bis dahin als Volksheld galt, wurde ausgebuht.

5) Siehe Al-Shuruq 30.und 31.August 2011.

6) Die sieben Forderungen der Bewegung für den Wandel lauteten: 1. Aufhebung des Ausnahmezustandes, 2. Unabhängige richterliche Beaufsichtigung von Wahlen, 3. Wahlbeobachtungen durch lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen, 4. Gleicher Zugang zu Medien für alle Kandidaten, 5. Wahlrecht für Auslandsägypter, 6. Das gleiche Recht aller Ägypter, für die Präsidentschaft zu kandidieren, und die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden, 7. Bereinigung der Wählerlisten.

7) Al-Shuruq, 30. und 31. 8. 2011.

8) Im März kam es zu Angriffen auf eine Kirche in dem Dorf in Atfih. Dorfbewohner erzählten später, dass ehemalige Angehörige der Staatssicherheit unter Hinweis auf eine angebliche Liebesaffäre zwischen einem muslimischen Mädchen und einem Christen die Bewohner zum Angriff auf die Kirche angestachelt hätten. Auch nachdem es kurze Zeit später zu Straßenschlachten zwischen Christen und Muslimen auf der Ring-Road um Kairo kam, sagten Zeugen später, Unbekannte hätten in einer christlichen Nachbarschaft das Gerücht verbreitet, Muslime wollten die Kirche angreifen, während sie in benachbarten muslimischen Wohnvierteln gewarnt hätten, Christen würden planen, die Moschee zu attackieren.

9) Ägypten verfügt nur über sehr begrenzte Ackerflächen. 95% des Landes ist Wüste. Durch Bebauung wurde die landwirtschaftliche Fläche in den vergangenen Jahren stark reduziert. Wenn das Tempo der Bebauung anhält, wird es nach Schätzungen von Agraringenieuren 2030 keine Landwirtschaftsflächen mehr geben.

10) Der so genannte Salafi-Islam orientiert sich in allen Lebensbereichen strikt am Vorbild des Propheten und der ersten islamischen Gemeinde sowie einer textgetreuen Koran-Auslegung, die keinen Raum für zeit- und ortgebundene Interpretationen lässt.

11) Laut Artikel 56 der Verfassungserklärung hat der Militärrat das Recht der Gesetzgebung. Er bestimmt die Grundlinien der Regierungspolitik und legt den Staatshaushalt fest. Er beruft das Parlament und löst es auf. Er kann ein Veto gegen Gesetze einlegen, die das Parlament beschlossen hat. Er repräsentiert den ägyptischen Staat nach innen und nach außen, ernennt die Regierung und die höheren Angestellten im Staat und in der Armee und hat das Recht, Amnestien auszusprechen.

12) Hisham Mubarak Law Center: Yawmiat taht hukm al-askar: waqa’: intihakat wa muhakamat al-madaniyin amama Mahakam al-askariya baad al-thaura (Chronologie der Militärherrschaft – Rechtsverletzungen und Verfahren gegen Zivilisten vor Militärgerichten nach der Revolution). Kairo, August 2011.

13) Zwar dürfen sich Parteien ohne staatliche Lizenz formieren, jedoch müssen sie mindestens 5.000 Gründungsmitglieder haben. Diese Zahl wurde inzwischen aufgrund von Protesten auf 1.000 herunter gesetzt.

Ivesa Lübben ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Nah- und Mitteloststudien der Phillips Universität Marburg.

»Wider den Hunger«: Schlüsselfaktor Landpolitik

»Wider den Hunger«: Schlüsselfaktor Landpolitik

Potsdamer Frühjahrsgespräche 2011, 15. und 16. April 2011

von Bentje Woitschach

Mangelnde Ernährungssicherheit ist eines der drängendsten Probleme der heutigen Zeit. Zentrale Faktoren für Ernährungssicherheit sind der Zugang und die Nutzung von Land; dies gilt besonders für die durch Subsistenzwirtschaft geprägten Staaten in Subsahara-Afrika. Unter dem Titel »Land Policy: A Key Factor in Combating Hunger. The Role of African Regional Organizations« diskutierten die Potsdamer Frühjahrsgespräche 2011 insbesondere die Rolle afrikanischer Regionalorganisationen bei der Etablierung regionaler Konzepte für eine verantwortungsvolle Landpolitik. Veranstaltet wurde die internationale Konferenz am 15. und 16. April 2011 von der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kooperation mit der Dag Hammarskjöld Foundation, dem Renner-Institut und der Zeitschrift »WeltTrends«. Die Veranstaltung wurde unterstützt durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Land Brandenburg.

Bei der Diskussion um Land und seine Bedeutung müssten sehr viele unterschiedliche Ebenen in Betracht gezogen werden, betonte Günter Nooke, G8-Afrikabeauftrager der Bundeskanzlerin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), in seiner Begrüßungsrede. Landfragen berührten ethische, soziale, ökonomische und ökologische Aspekte, gleichzeitig besitze Land durch seine machtpolitische und identitätsstiftende Bedeutung auch eine politische und kulturelle Dimension. David Nabarro, Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für Ernährungssicherheit und Ernährung, hob hervor, dass vornehmlich die einzelnen nationalen Regierungen in der Pflicht seien, durch eine verantwortungsvolle Land- und Agrarpolitik die Versorgung ihrer Bevölkerung sicherzustellen. Afrikanische Regionalorganisationen könnten dies durch die Bereitstellung regionaler Lösungsansätze unterstützen.

Land als begehrtes Gut

Dr. Prosper Matondi, Geschäftsführer des Ruzivo Trust, erläuterte grundlegende Herausforderungen im Bereich Landpolitik, die er besonders in der ungleichen Verteilung sowie fehlenden oder unklaren Eigentums- und Nutzungsrechten von Land identifizierte. Die vielfältige Verwendung von Land durch Ackerbau, Viehzucht, Forstwirtschaft oder auch Tourismus führe häufig zu großer Konkurrenz um die zur Verfügung stehenden Flächen. Diese habe sich in den letzten Jahren massiv verstärkt durch das so genannte »land grabbing«, das großflächige Leasing und den Erwerb von Land durch nationale und internationale Regierungen und Investoren, die in zahlreichen Fällen zu Vertreibung und Enteignung der lokalen Bevölkerung geführt hätten. Der wirksamste Schutz vor »land grabbing« sind laut Dr. Matondi sichere Eigentums- und Nutzungsrechte der betroffenen Bevölkerung, allerdings ist ihre Ausgestaltung – individuelle, staatliche oder kommunale Landtitel – sehr umstritten. Während einige Diskussionsteilnehmer die Bedeutung der in afrikanischen Staaten weit verbreiteten kommunalen Landtitel hervorhoben, kritisieren andere, dass diese bestimmte Bevölkerungsteile vom Landbesitz ausschließen würden.

Investitionen in Land: Chance oder Risiko?

Grundsätzlich waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Potsdamer Frühjahrsgespräche darin einig, dass Investitionen in den Agrarbereich unabdingbar seien. Allerdings gelte es, negative Effekte wie »land grabbing« zu verhindern. Investitionen könnten sich positiv auswirken durch die Bereitstellung neuer Arbeitsplätze und Infrastruktur und den Transfer von wirtschaftlichem Know-how, das ausländische Investoren und Unternehmer mitbrächten, wie Maren Kneller vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erläuterte. Michael Windfuhr vom Deutschen Institut für Menschenrechte hob in diesem Zusammenhang das Menschenrecht auf Nahrung hervor, das ihm zufolge als Analyseinstrument dienen könne, mit dessen Hilfe ausländische Direktinvestitionen hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Ernährungslage der Bevölkerung bewertet werden könnten. Dennoch zweifelten viele Diskussionsteilnehmer positive Auswirkungen ausländischer Direktinvestitionen an, beschrieben Fälle von Vertreibung und Enteignung und warfen die Frage auf, in welchen Ländern die von Kneller beschriebenen positiven Auswirkungen denn tatsächlich zu beobachten seien.

Regionale Initiativen als Problemlösung?

Welche Chancen bieten afrikanische Regionalorganisation zur Bewältigung der diskutierten Herausforderungen im Bereich Ernährungssicherheit? Dr. Hubert Ouedraogo von der United Nations Economic Commission for Africa stellte das von der Afrikanischen Union entworfene Strategiepapier »Framework and Guidelines on Land Policy in Africa« vor. Ziel der Afrikanischen Union sei es, Landpolitik auf die nationale Agenda der Mitgliedsstaaten zu setzen, eine Plattform für Erfahrungsaustausch bereitzustellen und durch Konsensbildung hinsichtlich zentraler landpolitischer Fragen regionale Lösungsansätze zu erarbeiten. Landpolitik sei allerdings Aufgabe nationaler Regierungen, weshalb der Weg dieses kontinentalen Strategiepapiers hin zur Implementierung auf nationaler Ebene entscheidend sei.

Dr. Yacouba Sanon aus der Abteilung Landwirtschaft und ländliche Entwicklung bei der Economic Community of West African States (ECOWAS) erläuterte die Tätigkeiten seiner Regionalorganisation im Bereich Landpolitik. Die ECOWAS sei darum bemüht, nationale Agrar-Investitionspläne in ihren Mitgliedsstaaten zu unterstützen und den Aufbau regionaler Märkte zu fördern. Dr. Abebe Haile Gabriel von der African Union Commission fügte den genannten Initiativen das Comprehensive Africa Agriculture Development Programme hinzu, das auf der Grundlage einer agrarbasierten Entwicklungsagenda für Afrika den Agrarsektor stärken solle. Die grundlegende Frage sei jedoch, wie diese afrikanischen Initiativen mit weiteren Prozessen auf internationaler Ebene abgestimmt werden könnten. Noel de Luna, Vorsitzender des Committee on World Food Security der Food and Agriculture Organization, hob die »Voluntary Guidelines on Responsible Governance of Tenure of Land and other Natural Resources« hervor und rief die afrikanischen Regionalorganisationen zu mehr Beteiligung innerhalb des Committee on World Food Security auf. Dr. Gabriel forderte seinerseits, dass internationale Organisationen wie die Food and Agriculture Organisation keine Parallelstrukturen errichten sollten und in ihren landpolitischen Initiativen Bezug zu bereits bestehenden afrikanischen Strategien nehmen sollten.

Einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Potsdamer Frühjahrsgespräche 2011 darin, dass bestehende landpolitische Initiativen harmonisiert werden müssten. Dabei könnten afrikanische Regionalorganisation eine vermittelnde Funktion einnehmen und durch regionale Lösungsansätze eigene Impulse setzen.

Weitere Informationen unter sef-bonn.org. Dort wird in Kürze auch ein ausführlicher Konferenzbericht zur Verfügung stehen.

Bentje Woitschach

Der Kampf um soziale Rechte und Demokratie

Der Kampf um soziale Rechte und Demokratie

von Fabian Virchow

Ob »thawra« (Revolution), »intifada« (Aufstand), »nahda« (Renaissance) oder »sahwa« (Erwachen) – kein einzelner Begriff, der in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit den von Tunesien ausgehenden Massenprotesten verwendet wurde, vermag die disparate und komplexe Entwicklung der Ereignisse im Bogen zwischen Marokko und Bahrain, zwischen Syrien und dem Jemen zu beschreiben. Eine Dimension eint jedoch die Protestierenden und Aufständischen: die Forderung nach Demokratie und einem Ende von Korruption und brutaler Behandlung durch die arabischen Autokraten. Für diese Ziele setzen viele noch immer ihr Leben aufs Spiel – und das will so gar nicht zu der »im Westen« lange gepflegten Legende passen, dass es in den arabischen Ländern kein Interesse an demokratischen Verhältnissen gäbe.

Die jeweilige Situation in den arabischen Gesellschaften ist hinsichtlich der Ausgangsbedingungen, der Erfahrungen von Kämpfen um soziale und demokratische Rechte und der den Herrschenden aus der Bevölkerung entgegengebrachten Legitimität ebenso verschieden wie die Reaktionen der Regime, die mal im Rückzug der führenden Akteure bestand (Tunesien, Ägypten), sich in gewaltsamer Unterdrückung ausdrückte bzw. ausdrückt (Syrien, Libyen, Bahrain) oder in begrenzter institutioneller Transformation erschöpft (Jordanien, Marokko, Oman).

Die Proteste wurden von Millionen Araber_innen getragen, die sich um ihre Menschenrechte und ihre Rechte als Staatsbürger_innen betrogen sehen. Entsprechende Hoffnungen werden rasch verfliegen, wenn nicht die weit verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann und damit auch eine soziale Perspektive eröffnet wird. Hier werden in Zukunft Gruppen aus der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, die in den vergangenen zwanzig Jahren vom Westen weitgehend unbeachtet gekämpft hatten, eine wichtige Rolle einnehmen.

In Ägypten zeigt sich inzwischen der Versuch des aus Saudi-Arabien unterstützten Militärs, die Unzufriedenen von weiteren Protesten abzuhalten. Die Denunziation kritischer Journalist_innen und Aktivist_innen durch militärtreue Medien und ihre Verfolgung durch die Militärgerichtsbarkeit, der Einsatz von Provokateuren bei Demonstrationen, die Einschränkung des Streikrechts und das offensive Auftreten der Salafisten sind einige Entwicklungen, die das Klima vor den Wahlen prägen. Bei letzteren geht es nicht nur um Parlamentssitze; die Wahlsieger werden maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der zukünftigen ägyptischen Verfassung haben und so manche Spielräume für politisches und gewerkschaftliches Handeln bestimmen.

Eine Herausforderung besteht zudem in der Möglichkeit der Integration islamistischer Akteure in den demokratischen Prozess. Diese streben nach anfänglicher Zurückhaltung danach, in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen, auch wenn sie – wie die Muslimbrüder in Ägypten – mit internen Konflikten zu kämpfen haben. Ob sich, wie der syrische Philosoph Sadiq al Azm mutmaßt, der „geschäftsfähige Islam“ durchsetzen wird, der zwar Lippenbekenntnisse zur Scharia abgäbe, aber kein Interesse daran habe, das Kriegsrecht des Militärs durch das der Islamisten zu ersetzen, wird abzuwarten sein. Beobachter_innen aus dem Westen sind in jedem Fall gut beraten, im Blick zu behalten, dass es im Islam so viele unterschiedliche Strömungen wie im Christentum oder im Judentum gibt.

Der Fortgang der »Arabellion« im Sinne der Stabilisierung oder gar Ausweitung demokratischer Spielräume und der Verbesserung der sozialen Situation der Bevölkerungsmehrheit ist keineswegs gesichert. Starke Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen werden benötigt, um entsprechende Interessen artikulieren und vertreten zu können. Erfreulicherweise können sie sich am Ende dieses ereignisreichen Jahres auf die Erfahrung kollektiver Handlungsmächtigkeit, die sich bereits heute tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, beziehen.

Ihr Fabian Virchow

Revolution und Krieg

Revolution und Krieg

von Jürgen Nieth

Es ist noch keine drei Monate her, als eine erfolgreiche friedliche Massenbewegung in Tunesien die Familiendynastie Ali vertrieb und eine nach Millionen zählende friedliche Protestbewegung in Ägypten weltweit die Hoffnungen nährte auf ein Ende aller Despoten im arabischen Raum. Doch Entwicklungen verlaufen nicht linear. Dementsprechend bietet sich uns heute ein sehr unterschiedliches Bild. Eine Momentaufnahme vom 6. April 2011, an dem diese Zeilen geschrieben werden.

Nach den Massenprotesten in Ägypten hat das Militär offiziell die Macht übernommen, an den Schalthebeln saß es auch schon vorher – neben allen Präsidenten seit 1952. Der Militärrat hat demokratische Reformen versprochen und erste auch eingeleitet. Am 20. März haben sich über siebzig Prozent für eine Verfassungsänderung ausgesprochen, die u.a. die Amtszeit des Präsidenten auf acht Jahre begrenzt, die seit 30 Jahren bestehende Notstandsgesetzgebung aufhebt und für September Parlaments-, für Oktober oder November Präsidentenwahlen vorsieht. Aus der Demokratiebewegung gab es trotzdem Proteste, da die große Machtfülle des Präsidenten unangetastet bleibt und die kurze Zeit bis zu den Wahlen kaum Zeit lässt zur Etablierung neuer Parteien. Bürgerrechtler sehen daran eine Bevorteilung der Abgeordneten des alten Systems und der Muslimbrüder. Und während Mubarak zwei Monate nach seinem Sturz die Zeit in seiner Sommerresidenz auf dem Sinai verbringt, klagt das Volk über explodierende Preise, nehmen die Berichte wieder zu über Verfolgung, Inhaftierung und Folter von Demonstranten.

Nach dem Sturz der tunesischen und ägyptischen Despoten, Ben Ali und Mubarak, gab es Massendemonstrationen im Jemen, in Libyen, Syrien und Bahrein. Auch in Saudi-Arabien, einigen Emiraten, Jordanien und Algerien formierte sich eine Protestbewegung. Die Herrscher reagierten unterschiedlich: Regierungsumbildungen als Bauernopfer, Ankündigung von Reformen (Syrien, Jordanien, Jemen), finanzielle Zugeständnisse (377 Euro Arbeitslosengeld und 565 Euro Mindestlohn in Saudi-Arabien), gleichwohl Einsatz des staatlichen Machtapparates gegen die Protestbewegungen in allen Ländern aber in unterschiedlicher Schärfe.

Aus dem Jemen erreichen uns seit Wochen fast täglich neue Meldungen über getötete Demonstranten, aus Syrien nehmen die Schreckensmeldungen zu. Keine Meldungen mehr aus Bahrein. Nachdem Saudi-Arabien zur Stützung des Königshauses 1.000 Soldaten auf die kleine Insel im Persischen Golf entsandt hat, herrscht offensichtlich Friedhofsruhe.

Und dann ist da noch Libyen: Vom friedlichen Protest über den Bürgerkrieg zum Krieg. Gaddafi war in den letzten Jahren ein begehrter Geschäftspartner aller westlichen Regierungen. Man rüstete ihn auf – genau wie das tunesische Regime – wegen der Rüstungsprofite, aber auch, um afrikanische Flüchtlinge von Europa fern zu halten. Doch offenbar hat man ihm nie die »antiimperialistische Propaganda« seiner ersten Regierungsjahre verziehen. Ausgerechnet die alten Kolonialmächte im arabischen Raum, Frankreich und Großbritannien, setzten nach den Vernichtungsdrohungen des verwirrt erscheinenden Despoten gegen Teile seines Volkes ausschließlich auf das Militär, d.h. auf Krieg. Bis heute flogen die NATO-Mitglieder 1006 Einsätze. Über Opfer auf beiden Seiten ist kaum etwas bekannt, doch sie sind mit Sicherheit um ein Vielfaches höher, als in den Wochen vor dem 18. März. Und ein Ende ist offen. Kann es noch eine Verhandlungslösung geben? Kommt es zum Sturz Gaddafis und sind dann die neuen Machthaber – die ja zum Teil Gaddafis engste Vertraute waren – die »Besseren« (siehe auch: Kommentierte Presseschau, S.5)? Kommt es zu einer Sezession des libyschen Ostens oder setzt sich das Blutvergießen noch monatelang fort?

Drei Monate nach der tunesischen Revolution gibt es mehr Fragen als Antworten. Mehr Antworten haben wir hoffentlich in einem halben Jahr: Schwerpunkt der W&F-Ausgabe 4-2011 ist die Entwicklung in den arabischen Ländern.

Eine Erkenntnis macht aber schon heute Hoffnung: Die TunesierInnen haben nicht nur das verhasste Regime Ali davon gejagt, sie haben seitdem mehrere Regierungsumbildungen erzwungen, die alte Staatspartei – die bis vor kurzem noch Mitglied der sozialdemokratischen »Sozialistischen Internationale« war – wurde aufgelöst und der Einfluss des alten Machtapparates zurückgedrängt. Unabhängig vom Ausgang dieses Prozesses dürfte aber vor allem eine Leistung historische Bedeutung haben: Die TunesierInnen haben all das mit zivilen Massenprotesten geschafft, ohne Waffen und ohne Unterstützung aus dem Ausland. Ohne die Rolle der Protestbewegungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in den Ländern des Warschauer Paktes zu schmälern: Sie hatten von Anfang an die mediale und später auch materielle Unterstützung des Westens. Das tunesische Volk war auf sich allein gestellt, der Ali-Clan erfreute sich wie die anderen Despoten der arabischen Länder bis zuletzt enger Beziehungen zum Westen, er bekam die Waffen, die er sich wünschte, auch zur Unterdrückung des eigenen Volkes, und musste trotzdem flüchten.

Ihr Jürgen Nieth

Ernährungsunsicherheit und Landgrabbing

Ernährungsunsicherheit und Landgrabbing

von Cornelia Füllkrug-Weitzel

Im September 2010 brennen in Mosambiks Hauptstadt Maputo die Barrikaden. Die Menschen sind empört über drastische Erhöhungen der Preise für Lebensmittel, Treibstoff und Strom. Die Polizei schlägt den Aufstand gewaltsam nieder, mehrere Menschen kommen ums Leben, auch Kinder. Viele Menschen werden verletzt. Die Revolte in Maputos Armenvierteln ist nur eine von vielen, die mit der Nahrungsmittelkrise und dem dahinter liegenden Problem der Landnutzung zu tun haben. In Madagaskar und in Haiti führten solche Konflikte zum Sturz von Regierungen.

Hunger ist eine Schande für alle Länder und er kann zu gewaltsamen Konflikten führen. Obwohl das erste Milleniumsziel der Vereinten Nationen die Halbierung des Anteils der Hungernden bis 2015 vorsieht, sind heute nach Angaben der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) immer noch 925 Millionen Menschen von Hunger betroffen. Das sind mehr Menschen als vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Von der angestrebten Ernährungssicherheit sind wir weit entfernt! Während der Krise explodierten die Preise für Nahrungsmittel, jetzt steigen sie erneut – auch aufgrund von Spekulationen mit Nahrungsmitteln. Die Aufstände werden zwar vor allem in Städten sichtbar, die meisten Hungernden, nämlich 80%, leben aber in ländlichen Gebieten.

Die Ernährungssicherheit von Kleinbauern und indigenen Völkern hängt direkt vom Zugang zu Land ab. Doch in den letzten Jahren beobachten wir ein verstärktes »Landgrabbing«: Immer mehr Entwicklungsländer verpachten oder verkaufen riesige Ländereien an wohlhabende Staaten, transnationale Konzerne und Investmentgesellschaften, die sich auf diese Weise in bisher nicht gekanntem Ausmaß Ländereien sichern. Allein zwischen Oktober 2008 und Juni 2009 wurde einem Bericht der Weltbank zufolge über 46 Millionen Hektar Land verhandelt. Auf diesen Feldern werden dann nicht Nahrungsmittel für die einheimische Bevölkerung, sondern Agrarprodukte für den Export sowie Tierfutter und Energiepflanzen zur Produktion von Agrotreibstoffen angebaut. Damit ist Land noch stärker als bisher zum Gegenstand von Konflikten geworden. Die von Landgrabbing Betroffenen werden oft gewaltsam vertrieben oder nicht angemessen entschädigt. Die Konflikte um Nahrungsmittel und Land führen häufig zu massiven Menschenrechtsverletzungen.

Ernährungsunsicherheit kann zu Gewalt führen. Aber umgekehrt ist auch richtig: Viele Menschen sind von Hunger betroffen, der von politischer Gewalt mit verursacht wird: In Ländern, die über lange Zeit hinweg von Katastrophen und Kriegen betroffen sind, hungern dreimal so viele Menschen wie in anderen Entwicklungsländern. Felder und Straßen sind zerstört, das Vieh getötet, Geräte und Saatgut fehlen, der Handel kommt zum Erliegen, Arbeitskräfte fehlen, viele Menschen sind geflohen oder vertrieben, es gibt keine Sicherheit für Investitionen in die Landwirtschaft. Länder mit gewaltsamen Konflikten sind von Landgrabbing besonders betroffen, Vertriebene und Flüchtlinge verlieren auch noch ihr Land.

Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter, erläutert in seinem neuen Bericht nicht nur das Problem des Landgrabbing, sondern auch die bestehenden Rechte, auf die sich Betroffene berufen können: Jeder Mensch hat ein Recht auf angemessene Ernährung und auf den dafür notwendigen Zugang zu Land. Marktwirtschaftliche Ansätze, bei denen Land privatisiert wird, haben das Problem häufig verschärft, stattdessen sollten kollektive Landnutzungsrechte gestärkt werden. Wenn Hunger auch auf eine besonders ungerechte Landverteilung zurückzuführen ist, sind Staaten zu Landreformen verpflichtet. Eine Stärkung kleinbäuerlicher Landwirtschaft reduziert nicht nur Hunger und Armut, sondern ist auch umweltverträglicher, produktiver und stabiler.

Hunger ist kein Schicksal. Ursachen und Notwendigkeiten sind bekannt, verantwortlich sind auch wir: Wir essen importierte Nahrungsmittel und vor allem Fleisch, für das Futter importiert wird, wir tanken auch Agrotreibstoffe und erhöhen so Preise für Nahrungsmittel und den Druck auf das Land. Wir beeinflussen die internationalen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die internationale Zusammenarbeit, die kleinbäuerliche Landwirtschaft sträflich vernachlässigt hat. Außerdem verschärft der von uns mit verursachte Klimawandel die Ernährungsunsicherheit in immer größerem Maße.

Hungernde sind keine Bittsteller, sondern sie haben ein Recht auf angemessene Ernährung und auf das dafür notwendige Land. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass Nutzungsrechte gesichert werden und Menschen nicht vertrieben werden. Wer sich gegen Landgrabbing einsetzt, darf nicht kriminalisiert werden. Traditionelle Nutzungssysteme, die häufig Land als öffentliches Gut behandeln und kollektive Nutzungsrechte beinhalten, müssen insbesondere vor privaten Investoren geschützt werden, für die klare Kriterien gelten müssen. Bei Armut durch extrem ungerechte Landverteilung sind Landreformen und darauf aufbauende ländliche Entwicklungsprogramme unabdingbar. Landinvestitionen in anderen Ländern müssen menschenrechtliche Verpflichtungen erfüllen. Es ist gut, dass nun unter dem Dach der FAO freiwillige Leitlinien zur Landnutzung erarbeitet werden. Es besteht Anlass zu der Hoffnung, dass damit ein weiterer Baustein für eine bessere weltweite Verwirklichung des Rechts auf Nahrung geschaffen werden kann.

Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Direktorin von »Brot für die Welt«.

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

Climate Change, Social Stress and Violent Conflict

19.-20. November 2009 – Universität Hamburg

von Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran

»Kampf um Wasser, Gewalt durch Hunger, Klimakriege« – in den Medien wird zunehmend ein Zusammenhang zwischen Klimawandel und gewalttätigen Konflikten hergestellt. Seitens der Wissenschaft besteht hier jedoch noch erheblicher Forschungsbedarf. Wie stark bedroht der Klimawandel die gesellschaftliche Stabilität? Wo sind die Risiken am größten? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Politik ableiten?

Um diese Fragen zu diskutieren, kamen im November 2009 mehr als 50 Experten aus 25 Nationen zur Konferenz »Climate Change, Social Stress and Violent Conflict« am KlimaCampus der Universität in Hamburg zusammen. Die konfliktrelevanten Auswirkungen des Klimawandels wurden dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und mit geeigneten methodischen Zugängen analysiert.

Migration als mögliche Reaktion auf sich verschärfende Umweltbedingungen wurde in verschiedenen Kontexten untersucht, wobei bisherige Schätzungen über die Zahl von Klimaflüchtlingen keine hinreichende wissenschaftliche Grundlage haben, wie Cord Jakobeit und Chris Methmann zeigten. Koko Warner und Lars Wirkus von der United Nations Universität in Bonn betonten die Wichtigkeit von funktionierenden lokalen Institutionen im Umgang mit Migration in Afrika. Den Ergebnissen von Úrsula Oswald Spring (National University of Mexico) zufolge verschärfen in Mexiko insbesondere Dürren den bestehenden „Krieg niedriger Intensität“ (ebd.), der an der Grenze zu den USA geführt wird. Beide Studien weisen auf die generelle Schwierigkeit hin, den Einfluss des Klimawandels auf das Entstehen von Konflikten von sozioökonomischen Faktoren zu unterscheiden.

Offensichtlicher beeinflussen veränderte Umweltbedingungen dagegen das soziale Gefüge im Norden Kenias. Hier zeigte Beth Njeri Njiru (Kenyatta University), wie die Kombination aus langen Dürreperioden und Starkregenereignissen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Viehzüchtern und Bauern um knapper werdendes Land führen kann. Paul Mukwaya (Makerere University Uganda) untersuchte Möglichkeiten zur Stärkung verwundbarer Bevölkerungsgruppen in wachsenden Städten am Beispiel des Katastrophenmanagements in Kampala. In Bangladesh bedrohen Überflutungen, tropische Zyklone und der ansteigende Meeresspiegel die Lebensgrundlage von mehreren Millionen Menschen. Befragungen in Slumgebieten von Dhaka, durchgeführt von Sujan Saha (Norwegian University of Science and Technology), deuten darauf hin, dass Überflutungen den sozialen Stress für die arme Bevölkerung deutlich erhöhen und zu Auseinandersetzungen mit Schusswaffengebrauch beitragen. Weitere Fallstudien beschäftigten sich unter anderen mit dem Einfluss des Faktors Wasser auf den Israel-Palästina Konflikt (Clemens Messerschmid) und den Mittelmeerraum (Hans-Günter Brauch), mit der Rolle von Naturschutzgebieten als Rückzugsraum für bewaffnete Kräfte in Kolumbien (Guillermo Andrés Ospina) und mit Ressourcenkonflikten um Öl und Gas im Niger-Delta (Felix Olorunfemi).

Neben den genannten qualitativen Studien wurde eine Reihe von quantitativen Zugängen präsentiert. Mit Hilfe von Klimadaten und dem Aufbau einer globalen Konfliktdatenbank versuchen Halvard Buhaug (International Peace Research Institute Oslo) und Ole Magnus Theisen (Norwegian University of Science and Technology), die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Konflikten zu erfassen. Josh Busby und Todd Smith von der University of Texas demonstrierten, wie es mit Geographischen Informationssystemen gelingen kann, besonders anfällige Regionen (»Hot Spots«) in Afrika zu identifizieren. Demzufolge sind vor allem Staaten in der Sahelzone sowie der Norden und Süden der Demokratischen Republik Kongo durch eine Faktorenkombination aus Ressourcenausstattung, Regierungsstruktur und Bevölkerungsdichte in ihrer Stabilität bedroht. Wo und in welchen Kontexten soziale Instabilitäten weltweit auftreten, wird in einem umfassenden Projekt an der Universität von Illinois erfasst (Peter Nardulli), das Ereignisse wie Demonstrationen, Attentate und Unruhen in Medienberichten auswertet.

Genutzt werden solche Daten beispielsweise von Forschungsgruppen wie CLISEC (Climate Change and Security) in Hamburg, die den Themenkomplex Klimawandel und Sicherheit mit integrierten Ansätzen untersuchen. Instrumente wie agentenbasierte Modellierung und die Analyse sozialer Netzwerke werden hier dazu genutzt, die Reaktion von Akteuren und Gesellschaften auf veränderte Umweltbedingungen zu untersuchen.

Bei der theoretischen Betrachtung des Konferenzthemas wurden verschiedene Aspekte hervorgehoben. Während Anastasios Karafoulidis (National and Kapodistrian University of Athens) die Akteure und Wirkungsmechanismen der öffentlichen Debatte ins Auge fasst, bemerkt Julia Trombetta (Delft University of Technology), dass sich das ursprüngliche Interesse an klimainduzierten Konflikten zu einer Diskussion um Ressourcenknappheit entwickelt hat. In diesem Zusammenhang wird auch die Debatte um eine Versicherheitlichung (»Securitization«) des Klimawandels geführt, also die Interpretation des Klimawandels als sicherheitspolitisches Problem, was die Gefahr in sich birgt, dass die vom Klimawandel Betroffenen als Bedrohung angesehen werden könnten, wie Angela Oels und Delf Rothe (Hamburg) bemerkten. Avinash Godbole (Institute for Defense Studies and Analyses, Neu-Dehli) argumentiert, dass diese Sicht nicht zielführend ist, da dem Klimawandel nur mit regionaler und multilateraler Kooperation begegnet werden kann.

Dies wurde auch während der öffentlichen Diskussionsrunde deutlich, die Friedenswissenschaftler sowie Vertreter der Politik und der Bundeswehr zusammen brachte. Die Frage nach der Stabilität von Gesellschaften wurde kontrovers diskutiert. Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer jedoch darüber, dass das Militär für die Bewältigung des Klimawandels ungeeignet ist. Wichtiger ist es hingegen, international vermittelnde Institutionen wie die Vereinten Nationen zu reformieren und zu stärken, wie Botschafter Bo Kjellén (Stockholm Environment Institute) feststellt. Alexander Carius (Adelphi Research Berlin) stellt mit Blick auf Kooperationsmöglichkeiten der internationalen Politik im Energie- und Wassersektor fest, dass der Klimawandel sich von einem Konflikt verschärfenden »threat multiplier« zum stabilisierenden »peace catalyst« entwickeln kann, wenn die sich bietenden Chancen entsprechend genutzt würden. Verschiedene Strategien diskutierte Oli Brown vom International Institute of Sustainable Development in seinem Beitrag. Frank Biermann (Vrije Universität Amsterdam) forderte eine „global adaptation governance“, die es erlaubt, schneller und effektiver auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren.

Mit ihrem breitgefächerten Spektrum an Themen, Perspektiven und Methoden trug die Konferenz der Komplexität des Themas Rechnung. Unabhängig von den unterschiedlichen Kontexten, weisen die präsentierten Fallbeispiele zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen stellt es sich als grundlegend schwierig heraus, den Einfluss des Klimawandels von sozioökonomischen Faktoren zu unterschieden. Zum anderen war der Klimawandel in keinem der Fälle der einzige Grund für soziale Instabilität oder gewaltsame Konflikte. Vielmehr hat er als verschärfende Kraft gewirkt, welches die Auffassung vom »threat multiplier« stärkt.

Weiter hat die Konferenz gezeigt, dass insbesondere bei der Validierung des Zusammenhangs von Klimawandel und Konflikten noch erheblicher Forschungsbedarf besteht (Michael Brzoska). Hier sind vielversprechende Ansätze zu erkennen. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik hat für Veränderungen in der Diskussion sensibilisiert und verdeutlicht wie diese politisch instrumentalisiert werden können. Es gilt zu verhindern, dass der Klimawandel als Rechtfertigung von militärischen Einsätzen herangezogen wird. Stattdessen müssen alle Staaten mit Hinblick auf zukünftige Klimaverhandlungen kooperative Lösungen forcieren, die unter anderem im Bereiche der Energieversorgung möglich sind. Wie wichtig Austausch und Kooperation über Grenzen hinweg beim Thema Klimawandel sind, hat die Konferenz gezeigt. Die Beiträge sind dokumentiert auf der Website http://clisec.zmaw.de und werden in Buchform veröffentlicht.

Janpeter Schilling, Michael Link und Jürgen Scheffran