Ressourcen, Risiken, Konflikte

Ressourcen, Risiken, Konflikte

von Jürgen Scheffran

Russland wolle das Rennen um die aktischen Ressourcen gewinnen, meldete die britische Zeitung Times am 28. März 2009. Einer neuen nationalen Sicherheitsstrategie zufolge werde die Einrichtung militärischer Basen entlang Russlands nördlicher Küste geplant sowie die Schaffung eines Aufklärungsnetzwerks zur Kontrolle ökonomischer, militärischer und ökologischer Aktivitäten. Unter westlichen Sicherheitsexperten werden russische Bestrebungen in der Arktis mit Argwohn verfolgt. Nach einer internen norwegischen Studie von 2007 könne der Kampf um Energie und andere Ressourcen in der Arktis zu Konflikten mit Russland führen. Dabei geht es um Milliarden von Tonnen an Öl- und Gasreserven, die durch das Abschmelzen des Polareises zugänglich werden.

Dass vitale Ressourcen im militärischen Denken eine wichtige Rolle spielen, ist bekannt. In der Geschichte gibt es genügend Beispiele für Kriege um natürliche Ressourcen, oft genug, weil diese für das Führen von Kriegen gebraucht wurden. Die Problemlage spitzt sich heute durch eine nicht-nachhaltige Ausbeutung der Ressourcen zu: immer mehr Menschen beanspruchen einen kleiner werdenden Ressourcenpool. Eine abnehmende Verfügbarkeit von Trinkwasser, die Degradation von Böden und Nahrungsmitteln, häufigere Wetterextreme wie Dürren, Stürme oder Überschwemmungen zwingen Millionen von Menschen zur Flucht und können bestehende Konflikte verstärken.

In welchem Maße Umweltveränderungen zu Konflikten führen, ist umstritten. Ein einfacher Zusammenhang zwischen Umweltdegradation und Krieg konnte nicht belegt werden, in einigen Fällen war das Gegenteil der Fall: mehr Kooperation (etwa bei Vereinbarungen zur gemeinsamen Wassernutzung). Die Verknüpfungen sind komplex und multikausal. Bei wertvollen Ressourcen kann es zu Steitigkeiten kommen, wer wieviel von einer Ressource erhält. Dabei kann Waffengewalt den Zugang und die Verteilung von Ressourcen beeinflussen. Umgekehrt sind Ressourcen eine Voraussetzung zum Aufbau militärischer Kapazitäten und können die Rüstungsdynamik anheizen. Eine falsche Ressourcennutzung kann neue Risiken erzeugen (Beispiel Klimawandel), und die Ressourcenproduktion kann selbst Ziel militärischer Aktionen sein (z.B. Staudämme oder Kernkraftwerke).

Ob eher der Mangel oder der Reichtum an Ressourcen Konflikte befördert, hängt von verschiedenen Kontextbedingungen ab. Hierzu gehören die Lage und der Transport der Ressourcen ebenso wie die Interessen, Finanzmittel, Macht- und Gewaltinstrumente von Akteuren. Entscheidend ist wie betroffene Menschen reagieren, wie fragil bzw. stabil Gesellschaften sind und ob Institutionen eine Problemlösung unterstützen. Während die theoretischen Fragen noch unzureichend verstanden sind, stellen Ressourcen und Umweltveränderungen in vielen Regionen einen wichtigen Konfliktfaktor dar. Beispiele sind Öl im Nigerdelta, Erdgas zwischen der Ukraine und Russland, Wasser in Nahost, Landnutzung in Darfur, Diamanten im südlichen Afrika, Rohstoffe im Kongo, Dürre in Kenia, Bergbau in Ecuador oder Überfischung am Horn von Afrika.

Meist sind nicht-staatliche Akteure beteiligt, in einzelnen Fällen (Kongokrieg) sind mehrere Nachbarstaaten involviert. Die Entwicklung von Kriegsökonomien schafft die Voraussetzung für neue »totale Kriege«. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen beeinflusst zunehmend das Verhältnis zwischen Regionalmächten, etwa zwischen Indien und Pakistan oder zwischen Indien und China. Auch im Verhältnis der Industrieländer untereinander kann es zu Spannungen kommen, wie das eingangs erwähnte Beispiel der Ressourcenkonkurrenz in der Arktis zeigt.

Der globale Klimawandel verschärft mit der Ressourcennutzung verbundene Risiken und Konflikte noch – eine Einschätzung, die sich zunehmend in Analysen und Stellungnahmen von Politikern, Militärs und Sicherheitsexperten findet. Da eine globale Temperaturerhöhung viele natürlichen Systeme unter Stress setzt, verringert sich ihre Tragfähigkeit und Ressourcenproduktivität, wodurch menschliche Bedürfnisse nach Wasser, Nahrung und Gütern in Brennpunkten (Hot Spots) nicht mehr zu sichern sind. Der Multiplikatoreffekt der globalen Erwärmung kann zu einer Kaskade katastrophaler Risiken führen, die die gesellschaftliche Stabilität ganzer Regionen gefährdet. Darauf zu hoffen, dass das Militär als Katastrophenmanager einspringen und die Risiken eingrenzen könnte, dürfte sich als Trugschluss erweisen.

Was kann getan werden, um den Teufelskreis zwischen Ressourcen, Risiken und Rüstungsdynamik zu durchbrechen? Eine nachhaltige und gerechte Nutzung, die die Ressourceneffizienz optimiert, Risiken minimiert und allen Menschen eine lebenswerte Existenz erlaubt, wäre ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung. Der Aufbau nationaler und internationaler Institutionen und Regime ist wesentlich, um Konflikte vorbeugend zu bewältigen, Risiken zu managen und kooperative Lösungen der Probleme zu finden.

Jürgen Scheffran

Ein Klima der Gewalt?

Ein Klima der Gewalt?

Das Konfliktpotenzial der globalen Erwärmung

von Jürgen Scheffran

Im Jahr 2007 rückte das Drama um die globale Erwärmung in den Brennpunkt der weltweiten Öffentlichkeit. Zu Beginn des Jahres wurde der Dokumentarfilm des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore in Hollywood mit einem Oscar ausgezeichnet. Die »unbequeme Wahrheit« über schmelzende Gletscher, Naturkatastrophen und Klimaflüchtlinge bewegte weltweit Millionen von Menschen, ebenso wie auch das globale Live Earth Concert Mitte des Jahres.

Am Ende des Jahres wurde in Oslo der Friedensnobelpreis gemeinsam an Al Gore und den Weltklimarat (IPCC: Intergovernmental Panel on Climate Change) verliehen. In mehreren über das Jahr verteilten Einzelberichten hatte das IPCC die wissenschaftlichen, sozio-ökonomischen und politischen Dimensionen des Klimawandels ausführlich beleuchtet. Im Dezember 2007 bildeten mehr als Zehntausend Vertreter von Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen bei der Klimakonferenz in Bali das bislang größte politische Forum zu Klimafragen. Auf der Anklagebank stand vor allem die US-Regierung, durch deren Widerstand die Bali Roadmap ein schwacher Kompromiss blieb.

Die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit wirkte sich auch auf die US-Debatte aus1, und im US-Wahlkampf spielte das Klimathema eine Rolle, nicht zuletzt aufgrund des Desasters durch den Hurrikan »Katrina« 2005. Angesichts des Hurrikans »Gustav« im September 2008 musste Präsident George W. Bush seine Teilnahme am Parteitag der Republikaner absagen, und kurz darauf wurde sein Heimatstaat Texas vom Wirbelsturm »Ike« heim gesucht. Ungeachtet der Blockadehaltung in Washington entwickelte sich in den USA ein breites Klima-Bündnis, das Umweltgruppen ebenso umfasst wie US-Bundesstaaten. Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger leitete verschärfte Emissionsstandards für Kraftfahrzeuge in die Wege, was jedoch am 18. Dezember 2007 durch die US-Umweltbehörde gestoppt wurde – dem gleichen Tag, an dem US-Präsident Bush sein Gesetz zur Energieunabhängigkeit und -sicherheit (Energy Independence and Security Act) unterzeichnete.2 Nach Ansicht von Kritikern sind davon kaum tiefgreifende CO2-Emissionsminderungen zu erwarten. Dagegen starteten US-Kongress-Abgeordnete eine Initiative zur Klimasicherheit (Global Climate Change Security Oversight Act), die untersuchen soll, ob und wie der Klimawandel eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darstellt.3

Globale Erwärmung: gefährlich wie Krieg?

Nicht zufällig hat das Nobelpreis-Komitee den bedeutendsten Friedenspreis an Akteure vergeben, die sich mit dem Umweltthema befassen. Der Laudatio zufolge kann die globale Erwärmung eine großflächige Migration in Gang setzen und zu stärkerem Wettbewerb um natürliche Ressourcen führen, verbunden „mit einer erhöhten Gefahr gewalttätiger Konflikte und Kriege“.4 Schon 2006 hatte der Bericht der britischen Stern-Kommission festgestellt: „Klimabedingte Schocks haben in der Vergangenheit gewalttätige Konflikte entfacht; in Regionen wie Westafrika, dem Niltal und Zentralasien stellen Konflikte ernste Risiken dar.“ 5 UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon warnte gar, dass die Gefahren des Klimawandels denen eines Krieges gleichkommen.

Im April 2007 diskutierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Initiative Großbritanniens erstmals die Sicherheitsrisiken des Klimawandels. Die damalige britische Außenministerin Margaret Beckett verglich den Klimawandel mit dem „heraufziehenden Sturm“ vor dem Zweiten Weltkrieg. Durch Migrationsdruck und Kampf um Ressourcen könnten Konflikte weltweit eskalieren. Der Vertreter Chinas Liu Zhenmin, äußerte allerdings Zweifel, ob der Sicherheitsrat die „professionelle Kompetenz“ in der Behandlung der Klimaproblematik habe und der geeignete Ort für Entscheidungen über weithin akzeptable Vorschläge sei.6

Im gleichen Monat präsentierte eine Gruppe ehemaliger Generäle und Admiräle der USA einen Bericht, der Klimawandel als „Bedrohungs-Multiplikator“ in bereits instabilen Weltregionen darstellt, die sich dadurch zu „Brutstätten“ für Extremismus und Terrorismus entwickeln könnten. Der Bericht empfiehlt, das Klimaproblem in die nationale Sicherheitsstrategie der USA zu integrieren und einen Beitrag zur Stabilisierung des Klimas zu leisten.7

Verschiedene Szenarien klimabedingter Sicherheitsrisiken wurden von einem Panel des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington durchgespielt, an dem u.a. der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey und Nobelpreisträger Thomas Schelling teilnahmen. Der im November 2007 vorgestellte Bericht sieht im Klimawandel „eine der größten Herausforderungen für die nationale Sicherheit“. Die Folgen könnten „nahezu jeden Aspekt des modernen Lebens destabilisieren“, neue Konflikte auslösen und bestehende Probleme verstärken.8 Mit steigenden Temperaturen würden bewaffnete zwischenstaatliche Konflikte wahrscheinlicher und selbst ein Atomkrieg sei nicht auszuschließen.

Besonders dramatisch wurden die Klimafolgen in einer Studie zweier Pentagon-Berater dargestellt, die das Szenario einer Klimakatastrophe entwickelten, ausgelöst durch eine Abschwächung des Golfstroms im Nordatlantik. Nationen würden in Kämpfe um Nahrung, Wasser und Energie verwickelt. Kernenergie treibe die Verbreitung von Kernwaffen voran, ihr Einsatz werde wahrscheinlicher.9

Die bislang umfassendste Abschätzung der Sicherheitsrisiken des Klimawandels wurde vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) im Jahr 2007 erstellt. Wenn nicht bald wirksame Lösungen gefunden werden, „wird der Klimawandel zunehmend Spaltungs- und Konfliktlinien in der internationalen Politik hervorrufen, weil er vielfältige Verteilungskonflikte in und zwischen Ländern auslöst: um Wasser, um Land, um die Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen oder um Kompensationszahlungen zwischen den wesentlichen Verursachern des Klimawandels und den Ländern, die vor allem von dessen destruktiven Wirkungen betroffen sein werden.“ Der WBGU-Bericht macht auch deutlich, dass die Menschheit angesichts der potenziellen Folgen des Klimawandels stärker zusammenarbeiten könnte, um die größten Gefahren zu verhindern und eine global koordinierte Politik in die Wege zu leiten.10

Klima als Stressfaktor

Neben akuten klimabedingten Katastrophen ist eine schleichende Schädigung natürlicher und ökologischer Systeme zu erwarten. Der Bericht von Arbeitsgruppe II des IPCC-Reports kommt zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel Arten und Ökosysteme in allen Teilen der Welt gefährdet.11 Trockengebiete breiten sich aus, Wasservorräte schrumpfen in Gletschern und Schneedecken in Gebirgsketten wie den Anden und im Himalaya. Wo natürliche Ressourcen bereits in einem kritischen Zustand sind, trägt die globale Erwärmung ein übriges dazu bei, die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme weiter zu untergraben.

Durch die Schädigung der natürlichen Ressourcenbasis nimmt der ohnehin schon vorhandene Umweltstress für die Bevölkerung zu. Eine Verbindung verschiedener Stressfaktoren – Bevölkerungswachstum, Mangel an Trinkwasser und Nahrung, mangelhafte Gesundheitsdienste, ökonomischer Niedergang, schwache politische Institutionen, usw. – könnte zu sich verstärkenden Kettenreaktionen führen, die die Gesundheit und das Leben von Menschen unmittelbar bedrohen und die gesellschaftliche Stabilität gefährden.12 Bestimmte soziale Reaktionsmuster wie Migration, Kriminalität und aggressives Verhalten können die Problematik weiter verschärfen. Degradierte gesellschaftliche Bedingungen sind mögliche Einfallstore für gesellschaftliche Unruhen bis hin zu bewaffneten Konflikten.

Ob Gesellschaften in der Lage sind, mit den Folgen zurecht zu kommen und die Risiken einzugrenzen, hängt von ihrer Verwundbarkeit ab, die nach einer Definition des IPCC beeinflusst wird durch den „Charakter, das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Klimawandels, sowie die Veränderungen, denen ein System ausgesetzt ist, seine Sensitivität und Anpassungsfähigkeit.“ Gesellschaften, die mehr von Ökosystem-Dienstleistungen und Landwirtschaft abhängen – was in vielen Entwicklungsländern der Fall ist – tendieren dazu, verwundbarer gegenüber Klimastress zu sein. Ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur über eine gewisse Schwelle hinaus (z.B. 2 Grad Celsius) würde zu disproportionalen Folgen führen.13 Abrupte und großflächige Veränderungen im Klimasystem über sogenannte »Umkipp-Punkte« hinaus – zum Beispiel das Abschmelzen der Grönland-Gletscher, das Abbrechen des westantarktischen Eisschildes oder der Zusammenbruch der thermohalinen Zirkulation im Nordatlantik – könnten unkalkulierbare Konsequenzen von kontinentalem und globalem Ausmaß haben.14

Am stärksten von Klimarisiken und Konflikten betroffen wären Länder, die nur geringe Anpassungsmöglichkeiten haben; aber auch reiche Länder sind nicht immun. Kaskadeneffekte könnten nach Ansicht des Stern-Berichts die Volkswirtschaften auch in Industrieländern hart treffen und globale Handels- und Finanzmärkte ins Chaos stürzen. In besonders fragilen Staaten gehen die Erosion sozialer Ordnung, staatliches Versagen und Gewalt Hand in Hand. In einem solchen Klima der Gewalt können sich die verschiedenen Risikofaktoren verstärken und ganze Regionen destabilisieren, bis hin zu Kriegen und Bürgerkriegen.

Dass es dazu kommt, ist keineswegs ausgemacht. Der Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und den damit verbundenen Konflikten und Sicherheitsrisiken wird seit Anfang der neunziger Jahre untersucht, ohne dass eine klare kausale Beziehung nachgewiesen wurde.15 Dies gilt auch für die Verbindung von Klima und Sicherheit.16

Seit Ende des Kalten Krieges hat sich der Sicherheitsbegriff gewandelt, von militärischen Streitkräftevergleichen und Kriegsszenarien hin zu einem Spektrum von Konfliktfaktoren. Das Konzept der ökologischen Sicherheit versucht, die Wechselwirkungen zwischen Umweltproblemen und Sicherheitsbedrohungen zu analysieren. Der Begriff der »menschlichen Sicherheit« zielt darauf ab, „Menschen vor kritischen und tief greifenden Bedrohungen zu beschützen und sie dazu zu ermächtigen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.“ 17 Einige Wissenschaftler kritisieren erweiterte Sicherheitsbegriffe, zum einen weil sie zu breit und zu unscharf sind, zum anderen weil sie es dem Militär erlauben, seine Instrumente in die Umweltpolitik auszudehnen18, die zur Problemlösung denkbar ungeeignet sind.

Konfliktkonstellationen

Viele Studien zur Klimasicherheit betrachten vier klimabedingte Problemkomplexe, die die Sicherheit von Menschen beeinträchtigen und zu Konflikten führen können: die Degradierung der Trinkwasser-Ressourcen, mangelnde Ernährung, Naturkatastrophen und Migration.

Degradation der Trinkwasser-Ressourcen

Mehr als eine Milliarde Menschen lebt ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die wachsende Bevölkerungsdichte, wechselnde Muster der Wassernutzung und Wirtschaftswachstum erhöhen den Druck auf die ohnehin schon degradierten Wasserressourcen. Klimawandel steigert diesen Druck und beeinträchtigt direkt die Landwirtschaft, die zu 80% von natürlichen Niederschlägen abhängt. Nach zuverlässigen Schätzungen des IPCC sinkt die Wassermenge in Flüssen, Seen und Reservoiren in vielen semi-ariden Gebieten, z.B. im westlichen Teil der USA, in Nordost-Brasilien, dem Mittelmeerraum und in Südafrika. Der WBGU-Bericht prognostiziert, dass bis 2020 allein in Afrika zwischen 75 und 250 Millionen Menschen einem klimabedingten Wasserstress ausgesetzt sein werden. Schrumpfende Gletscher und dünnere Schneedecken verringern die Wasserverfügbarkeit und das Potenzial für die Hydroenergie in der Nähe von Gebirgsketten, etwa im Hindukusch, im Himalaya und in den Anden, wo mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt.

Eine Studie an der Oregon State University, die auf der Transboundary Freshwater Dispute Database basiert, fand einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Wasserpegel eines Bassins und der Wahrscheinlichkeit und Intensität von Konflikten.19 Skeptiker weisen allerdings darauf hin, dass historische Fälle von »Wasserkriegen« extrem selten sind. In Gebieten, die gegenüber Wasserkonflikten anfällig sind, ist eine stärkere Zusammenarbeit relativ häufig. Grenzüberschreitende Wasserabkommen und Institutionen haben sich bislang als widerstandsfähig gegenüber wechselnden politischen Bedingungen erwiesen, etwa die Beziehungen zwischen Israel und Jordanien, das Mekong-Komitee und die Indus River Commission. Diskussionen zwischen Indien und Pakistan über die Nutzung des Indus-Flusses haben sogar zur Wiederaufnahme bilateraler Gespräche über andere Themen geführt.

Folgen für Landwirtschaft und Ernährung

Mehr als 850 Millionen Menschen weltweit sind unterernährt, landwirtschaftliche Nutzflächen sind in vielen Regionen übernutzt. Durch Klimawandel dürfte sich die Ernährungsunsicherheit in vielen Entwicklungsländern weiter verschlechtern. Der WBGU prognostiziert, dass durch eine globale Erwärmung von 2 bis 4 Grad Celsius die landwirtschaftliche Produktivität weltweit sinken wird, bedingt durch Wüstenbildung, Bodenversalzung oder Wassermangel. Jüngste »food riots« als Folge steigender Lebensmittelpreise zeigen, dass hier mögliche Ursachen von Konflikten liegen.

Naturkatastrophen

Der IPCC-Bericht sagt extreme Wetterereignisse und damit verbundene Naturkatastrophen voraus. Dürren, Hitzewellen, Waldbrände, Überschwemmungen und Stürme sollen häufiger auftreten und mit größerer Intensität. 2005 richtete der Hurrikan »Katrina« an der Südküste der USA gewaltige Schäden an und kostete mehr als 1.300 Menschen das Leben. Die Hitzewelle des Jahres 2003 verursachte in Europa mehr als 35.000 Todesopfer und $15 Milliarden Dollar Schäden in der Landwirtschaft. Solche Ereignisse, ob nun schon eine Folge des Klimawandels oder nicht, bringen wachsende ökonomische und soziale Kosten mit sich, ganz zu schweigen von dem menschlichen Leid und den Opfern. Sie haben in der Vergangenheit zu Konflikten beigetragen, besonders in Zeiten und Gebieten, in denen bereits politische Spannungen herrschten, aber auch die Hilfsbereitschaft und Solidarität verstärkt. Einige Regionen, die gegenüber Stürmen und Überschwemmungen besonders anfällig sind, wie Zentralamerika und Südasien, haben schwache Ökonomien und Regierungen, was Anpassungsmaßnahmen und Krisenmanagement weiter erschwert.

Umweltmigration und Flucht

Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissars gab es 2006 mehr als 8,4 Millionen registrierte Flüchtlinge und 23,7 Millionen im eigenen Land umgesiedelte Personen. Der Klimawandel wird diese Zahl wahrscheinlich erhöhen. Der Umweltwissenschaftler Norman Myers schätzt, dass die Zahl der Umweltmigranten von 25 Millionen Mitte der 1990er Jahre auf 150 Millionen bis 2050 ansteigen könnte20, obwohl es dafür keine empirischen Belege gibt. Aufgrund indirekter Effekte der Umweltzerstörung erscheinen diese Menschen in vielen Fällen als Wirtschaftsmigranten (z.B. Bauern, die Einkommen verlieren) oder als Kriegsflüchtlinge (bedingt durch umweltinduzierte Konflikte).

Am verwundbarsten sind Küsten- und Flussmündungsgebiete und Regionen, deren Ökonomien von klimasensitiven Ressourcen abhängen. Umweltmigration findet hauptsächlich innerhalb nationaler Grenzen von Entwicklungsländern statt, aber in Industrieländern nimmt der Migrationsdruck ebenfalls zu. In Europa könnte die Migration aus Sub-Sahara Afrika und der arabischen Welt, in Nordamerika aus der Karibik, Mittel- und Südamerika ansteigen. Der CSIS-Bericht macht einen potenziellen Konflikt aus zwischen China, das bei hoher Bevölkerungsdichte besonderes verwundbar gegenüber Ernteausfällen und Überschwemmungen ist, und Russland, das eine sinkende Bevölkerung und ein riesiges energie- und mineralienreiches Territorium hat, dessen landwirtschaftliche Produktivität mit einem wärmeren Klima eher zunimmt.

Die Wahrscheinlichkeit migrations-induzierter Konflikte nimmt zu, wenn Umweltmigranten mit der heimischen Bevölkerung um knappe Ressourcen konkurrieren, etwa um Acker- und Weideland, Wohnraum, Wasser, Arbeitsplätze und soziale Dienstleistungen, oder wenn sich die ethnischen Anteile in der Bevölkerung verschieben. Das Konfliktpotenzial hängt von der Geschwindigkeit und Intensität der Migrationsströme ab, aber auch von der Funktionsfähigkeit von Institutionen und ihren Konfliktregulierungsmechanismen.

Regionale Brennpunkte

Im folgenden werden einige regionale Fallbeispielen beleuchtet, die vom Klimawandel besonders betroffen sein werden (für Details siehe die eingangs erwähnten Studien, insbesondere den WBGU-Bericht).

Naher Osten

Ein oft diskutiertes Beispiel sind Wasserkonflikte in Nahost. Angesichts der historisch verwurzelten Konflikte in der Region ist der Zugang zu den wenigen Wasservorräten eine Frage der nationalen Sicherheit. Der Staat Israel war frühzeitig bestrebt, seine Wasseransprüche mit allen Mitteln abzusichern, auf Kosten der Palästinenser, denen deutlich weniger Wasser zugeteilt wurde als den Siedlern im Westjordanland. Das trockene Klima, Ungleichgewichte zwischen Wasserangebot und -nachfrage und die andauernde Konfrontation zwischen den Hauptakteuren in Nahost verschlimmern die Wasserkrise der Flüsse Nil, Euphrat und Jordan. Ob diese Konfliktlinien weiter verschärft oder eher kooperative Lösungen befördert werden, hängt davon ab, welche Fortschritte der Friedensprozess macht und ob es gelingt, Instrumente und Strukturen für eine friedliche Konfliktlösung zu schaffen. Die wichtigsten Sicherheitsabkommen in der Region, einschließlich des bilateralen Friedens-Vertrages vom Oktober 1994, behandeln die Wasserproblematik. Eine Lösung der Wasserkrise in der Region erfordert ein gemeinsames Wassermanagement und integrierte Implementierungsstrategien, wobei größere Transparenz und grenzüberschreitende Überwachungskapazitäten einen wichtigen Beitrag leisten können.

Nordafrika

Afrikas Nahrungsmittel-Produktion ist besonders verwundbar gegenüber Klimaveränderungen. Seit mehr als 20 Jahren ist der Verbrauch von Lebensmitteln pro Kopf gesunken und die landwirtschaftliche Fläche pro Kopf ist zwischen 1965 und 1990 von 0.5 Hektar auf 0.3 Hektar gefallen. Schlechte Versorgung mit Trinkwasser oder unzureichende Bewässerung können die Ernteerträge aus der Landwirtschaft in einigen afrikanischen Ländern bis 2020 um bis zu 50% reduzieren. Dies würde die Verfügbarkeit von Lebensmitteln erheblich beeinträchtigen und zu tief greifenden Nahrungsmittelkrisen führen, wodurch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von schwachen und instabilen Staaten untergraben wird.

Wachsende Verluste an Agrarland spitzen die Konkurrenz zwischen ansässigen Bauern und wandernden Viehzüchtern zu. Im Falle des Darfur-Konflikts in Sudan eskalierte die Auseinandersetzung, als die Regierung gegen die den Bauern nahestehenden Rebellen mit Unterstützung von arabisch-stämmigen Milizen aus den Reihen der Viehzüchter vorging, die Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung verübten. In einer Studie des Sandia-Forschungslabors wurde untersucht, welche mögliche Rolle klimatische Veränderungen als verstärkender Faktor in diesem Konflikt gespielt haben oder noch spielen könnten, und ein Bericht des UNO-Umweltprogramms sieht in Darfur ein „tragisches Beispiel für den gesellschaftlichen Zusammenbruch, der aus einem ökologischen Kollaps entstehen kann“.21

Umweltveränderungen waren auch ein verschärfender Faktor in Ruanda im Jahr 1994. Bodendegradation, Bevölkerungswachstum und ungleiche Landverteilung haben die Umweltkrise in Ruanda in einen landesweiten Konflikt transformiert, was den radikalen Kräften die Gelegenheit gab, die ethnischen Spannungen in einen politischen Machtkampf bis hin zum Genozid zu eskalieren.

Mittelmeerraum

Trockenheit, Hitzewellen und Waldbrände bedeuten zunehmende Stressfaktoren im Mittelmeerraum. Eine mögliche Konsequenz ist die Verschiebung touristischer Zentren, landwirtschaftlicher Zonen und Ökosysteme nach Norden. Die zunehmende Konkurrenz um Ressourcen, einschließlich Land und Wasser, spielt bereits eine Rolle auf den Kanarischen Inseln und im Süden Italiens, Spaniens, Griechenlands und der Türkei. Der Klimawandel könnte diese Ressourcen weiter beeinträchtigen und den Tourismussektor gefährden, eine zentrale wirtschaftliche Einkommensquelle in der Region. In Südosteuropa würde ein Temperaturanstieg um 2 Grad Celsius nach Ansicht des Stern-Reports die Verfügbarkeit von Wasser im Sommer um 20 bis 30% verringern, eine Zunahme um 4 Grad Celsius gar um 40 bis 50%.

Zentralasien

Mehr als drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan wird bewässert, was bis zu 90% der regionalen Wasserressourcen verbraucht. Der größte Teil der Elektrizität wird durch Hydroenergie bereit gestellt. Die Hauptquelle ist Schmelzwasser aus Gletschern von nahegelegenen Gebirgsketten. Das IPCC prognostiziert einen starken Temperaturanstieg in Zentralasien, wodurch bis 2050 in einigen Gebieten etwa ein Fünftel der Gletscher verschwunden sein sollen. Dies gefährdet sowohl die Elektrizitätsversorgung als auch die Landwirtschaft. Die Staaten Zentralasiens sind gekennzeichnet durch weitgehend geschlossene Märkte, extreme soziale Ungleichheiten, schwache staatliche Strukturen und durch Korruption, was die Anpassungsfähigkeit gegenüber Veränderungen erschwert. Der Kampf um Land- und Wasserressourcen hat schon in der Vergangenheit eine wesentliche Rolle gespielt, verschärft durch ethnische Spannungen, separatistische Bewegungen oder religiös-fundamentalistische Gruppen.

Bangladesch

In besonderem Maße gefährdet der Klimawandel die Sicherheit von Menschen in Bangladesch. Während der Monsunsaison überfluten Regen und Flusswasser oft ein Viertel, in Jahren hoher Flutpegel sogar bis zu 60% der Landfläche. 46% der Bevölkerung Bangladeschs lebt in niedrig liegenden Gebieten. Extreme Wetterereignisse betreffen Millionen von Bangladeschis, und seit 1960 starben etwa 600.000 Menschen als Folge von Zyklonen, Sturmfluten und Überschwemmungen.22 Ein Anstieg des Wasserpegels um einen Meter könnte 17% des Landes überfluten und 40 Millionen Menschen vertreiben. Das Eindringen von Salzwasser würde große Agrarflächen zerstören und die landwirtschaftliche Produktivität verringern, was die Bevölkerung zwingt, in höher gelegene Gebiete zu ziehen. Mehrfach schon gerieten im Gefolge massiver Migrationsbewegungen Menschen in Bangladesch und in Nachbarländern (inbesondere in Nordindien) in gewalttätige Auseinandersetzungen.23

Peru

Ein möglicher Brennpunkt für klimabedingte Wasserkonflikte ist Perus Hauptstadt Lima. Da die Bevölkerung bis zum Jahr 2030 auf nahezu 5 Millionen Menschen anwachsen kann, wird damit auch der Wasserbedarf ansteigen. 80% der Wasserversorgung der Stadt stammen aus nahegelegenen Gletschern, die als Folge der globalen Erwärmung in wenigen Jahrzehnten weitgehend abschmelzen werden. Extreme Wasserknappheit ist vorprogrammiert, was den bestehenden gesellschaftlichen Problemkomplex aus sozialer Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut, wachsender Kriminalität und Korruption weiter zuspitzt. Auch Perus Energieversorgung steht auf dem Spiel, weil vier Fünftel der Elektrizität aus Wasserkraftwerken stammt, die auf wechselnde und unzuverlässige Wasserressourcen angewiesen sind.

USA

Die Hurrikan-Saison 2005 hat gezeigt, dass selbst das mächtigste Land der Welt gegenüber Naturkatastrophen verwundbar ist. Als der Wirbelsturm »Katrina« die Golfküste bei New Orleans mit Windgeschwindigkeiten bis zu 230 Kilometern pro Stunde traf, hinterließ er eine Spur der Verwüstung von der Größe Großbritanniens. Vorübergehende Zufluchtsorte wie der Superdome und das Convention Center wurden zu einem Hort des Elends und der Rechtlosigkeit. Der Sturm zerstörte die zivile Infrastruktur der Stadt, einschließlich der Wasser- und Sanitärsysteme, der Energieversorgung und der Kommunikations- und Transportnetzwerke. Das Versagen der lokalen und nationalen Behörden, die Folgen des Desasters in den Griff zu bekommen, stürzte die regionalen und nationalen Regierungen in eine öffentliche Vertrauenskrise. Wie in New Orleans offensichtlich wurde, sind die Ärmsten der Armen auch in den entwickelten Ländern besonders verwundbar gegenüber Katastrophen. Sie leben oft in Hochrisikogebieten und haben keine Ressourcen, um sich an den Klimawandel anzupassen, z.B. durch eine Versicherung gegenüber Klimaschäden.

Die Pazifik-Region

Wo Städte oder Teile davon unterhalb des Meeresspiegels liegen, wie in Naga (Philippinen), Bangkok (Thailand) und Semarang (Indonesien), ist das Risiko von Überflutungen besonders hoch. Viele Küstenstädte liegen im Mündungsgebiet großer Flüsse. Durch den Prozess der Bodenabsenkung besteht auch in höher gelegenen Gebieten das Risiko gefährlicher Überflutungen. Mindestens acht der 21 größten Städte am Pacific Rim sind von Bodenabsenkungen betroffen, einschließlich Tianjin, Shanghai, Osaka, Tokyo, Manila, Jakarta und Los Angeles. Weltweit sind mehr als 150 Regionen dem Risiko durch Überflutungen ausgesetzt, und in China allein sind 45 Städte und Distrikte betroffen (WBGU 2008).

Klima zwischen Krieg und Frieden

Die Beispiele zeigen, dass Klimaänderungen die Existenz von Menschen und Gesellschaften bedrohen und damit die menschliche Sicherheit in einem fundamentalen Sinne beeinträchtigen können. Vor allem sind Gruppen betroffen, die zu schwach sind, um mit den Folgen fertig zu werden, doch auch Mittel- und Oberschichten bleiben nicht verschont, wenn ganze Regionen bedroht sind.

Die gesellschaftlichen Implikationen des Klimawandels hängen entscheidend davon ab, wie Menschen, soziale Systeme und politische Institutionen darauf reagieren. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, Treibhausgas-Emissionen zu vermeiden, das Klima auf einem nicht-gefährlichen Niveau zu stabilisieren und die Risiken zu verringern. Diese dürfen jedoch nicht andere Problemlagen verschlimmern, wie eine Renaissance der Kernenergie, die neue Sicherheitsrisiken und Proliferationsgefahren mit sich bringt, oder ein massiver und überstürzter Einstieg in die Bioenergie, die auf Kosten der Nahrungsmittelproduktion geht. Sollten vorbeugende Maßnahmen versagen, stehen Schadenminimierung, Gefahrenabwehr und Konfliktregulierung auf der Tagesordnung. Die Stärke gesellschaftlicher Institutionen und die Effizienz von Konfliktregelungsmechanismen entscheiden maßgeblich darüber, ob Klimafolgen neue Kriege provozieren oder kooperative Lösungen in Gang setzen.

Die eingangs erwähnten Differenzen zwischen der britischen und chinesischen Position zur globalen Erwärmung zeigen eine mögliche Trennlinie zwischen Nord und Süd. Nach Ansicht vieler Entwicklungsländer liegt die Verantwortung hauptsächlich bei den Industrieländern, deren pro-Kopf Emissionen bei weitem über denen der Entwicklungsländer liegen. Für die Gegenposition steht die Bush-Administration, die nicht nur substanzielle eigene Verpflichtungen zur Emissionsminderung ablehnt, sondern zugleich impliziert, dass Entwicklungsländer wie Indien und China ihr Wachstum beschränken, obwohl sie noch weit vom amerikanischen pro-Kopf-Niveau entfernt sind. Wenn es nicht gelingt, diese und andere mit dem Klimawandel drohende Konflikte zu lösen, kann sich das Klimadrama schnell zu einer Tragödie entwickeln.

Anmerkungen

1) Eli Kintisch, Grassroots Effort Pays Dividends on Presidential Campaign Trail, Science, 21. Dec.2007: Vol. 318. no. 5858, 1850 – 1851.

2) Energy for America‘s Future, www.whitehouse.gov/infocus/energy, Jan. 15, 2008.

3) Global Climate Change Security Oversight Act, Congressional Record: 28. März 2007 (Senat), S4059-S4061; www.govtrack.us/congress/bill.xpd?bill=s110-1018. Related is House Resolution 1961.

4) Nobel Peace Price Committee 2007.

5) N. Stern, et al., Stern Review: The Economics of Climate Change, HM Treasury, London, 2006.

6) Proceedings of the Security Council meeting, www.un.org/News/Press/docs/2007/sc9000.doc.htm. Die Rede von Margaret Beckett ist verfügbar unter www.fpa.org/calendar_url2420/calendar_url_show.htm?doc_id=472794.

7) CNA Corporation, National Security and the Threat of Climate Change, vgl. http://SecurityAndClimate.cna.org.

8) K.M. Campbell, et al., The Age of Consequences: The Foreign Policy and National Security Implications of Global Climate Change, Washington, DC.

9) P. Schwartz, D. Randall, An Abrupt Climate Change Scenario and Its Implications for United States National Security, Washington, DC, October 2003 (www.ems.org/climate/pentagon_climatechange.pdf).

10) R. Schubert et al., Sicherheitsrisiko Klimawandel, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), Berlin 2007, www.wbgu.de/wbgu_jg2007.html.

11) Intergovernmental Panel On Climate Change, Climate Change Impacts, Adaptation and Vulnerability, Working Group II, Summary for Policymakers, Intergovernmental Panel on Climate Change, Fourth Assessment Report, 2007.

12) Fighting Climate Change: Human Solidarity in a Divided World, Human Development Report 2007/2008, United Nations Development Program, 2007.

13) See H.J. Schellnhuber, W. Cramer, N. Nakicenovic, T. Wigley and G. Yohe (eds.), Avoiding Dangerous Climate Change, Cambridge University Press, 2006.

14) T. M. Lenton, H. Held, E. Kriegler, J. W. Hall, W. Lucht, S. Rahmstorf, H.J. Schellnhuber, Tipping elements in the Earth’s climate system, Proceedings of the National Academy of Sciences, February 12, 2008, vol. 105, no. 6: 1786–1793.

15) Von der umfangreichen Literatur siehe: T. Homer-Dixon, T., On the threshold: environmental changes as causes of acute conflict. International Security 16 (2), 1991: 76–116; G. Bächler, V. Böge, S. Libiszewski, K.R. Spillmann (Hrsg.), Kriegsursache Umweltzerstörung; A. Carius, K.R. Lietzmann (Hrsg.), Umwelt und Sicherheit – Herausforderungen für die internationale Politik, Berlin u.a.1998; J. Scheffran, W. Vogt (Hrsg.), Kampf um die Natur – Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt 1998. Eine empirische Analyse von 73 Fallbeispielen gibt A. Carius, D. Tänzler, J. Winterstein, World Map of Environmental Conflicts (in German) 2006, www.wbgu.de/wbgu_jg2007_ex02.pdf.

16) R. Swart, Security risks of global environmental changes. Global Environmental Change 6 (3), 1996, 187–192; J. Scheffran, Konfliktfolgen energiebedingter Umweltveränderungen am Beispiel des globalen Treibhauseffekts, in: W. Bender (ed.), Verantwortbare Energieversorgung für die Zukunft, Darmstadt, 1997, 179-218; A. Rahman, Climate change and violent conflicts. In: Suliman, M. (Ed.), Ecology, Politics and Violent Conflict. Zed Books, London/New York, 1999, 181–210; J. Barnett, Security and Climate Change. Global Environmental Change 13(1) 2003: 7-17; J. Scheffran, Climate change and security, Bulletin of the Atomic Scientists, May/June 2008, 19-25; H. Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt 2008.

17) Human Security Now, Report of the Commission on Human Security, New York, 2003, www.humansecurity-chs.org/finalreport.

18) D. Deudney, Environment and security: muddeled thinking. The Bulletin of the Atomic Scientist 47(3) 1991: 23–8; Lothar Brock, The Environment and Security: Conceptual and Theoretical Issues. Conflict and the Environment. Kluwer, Dordrecht 1997.

19) S. Yoffe, G. Fiske, M. Giordano, M. Giordano, K. Larson, K. Stahl, A.T. Wolf, Geography of international water conflict and cooperation: Data sets and applications, Water Resources Res., Vol. 40, 2004.

20) N. Myers, Environmental refugees: a growing phenomenon of the 21st century. Philosophical Transactions of the Royal Society of London Series B-Biological Sciences 1420, 2002: 609–13.

21) M. Boslough, et al., Climate Change Effects on International Stability: A White Paper, Sandia National Laboratories Albuquerque, New Mexico, December 2004; Sudan: Post-Conflict Environmental Assessment, United Nations Environment Programme, Nairobi, June 2007.

22) IFRC 2002. World Disasters Report 2002. International Federation of the Red Cross.

23) H.G. Brauch, Climate Change, Environmental Stress and Conflict, in: Climate Change and Conflict, herausgegeben vom Bundesumweltmininsterium, Berlin, 2002, 9-112.

Dr. Jürgen Scheffran ist Physiker und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der University of Illinois, Urbana-Champaign. Er ist Mitglied der W&F-Redaktion.

Scham und Ehre

Scham und Ehre

Die verborgene Dimension von Konflikt und Gewalt

von Stephan Marks

Die sozialpsychologische Konfliktanalyse oszilliert seit Jahrzehnten zwischen einem auf Bedürfnisse und Interessen konzentrierten »realistischen« Ansatz und dem Identitäts- und Beziehungsfragen hervorhebenden »symbolischen« Verständnis. Der Autor des vorliegenden Beitrags bringt in eindrucksvoller Weise die Scham-und-Ehre-Dynamik im Konfliktgeschehen zur Sprache. Damit macht er zumindest plausibel, dass eine systematische Berücksichtigung entsprechender »symbolischer« Größen ebenso für ein vertieftes Verständnis im Besonderen auch von interkulturellen Konflikten angezeigt ist wie für einen konstruktiv(er)en Umgang mit ihnen.

Internationale Gewaltkonflikte werden i.d.R. gedeutet als Auseinandersetzungen um Interessen (Besitz, Macht), die sich verselbstständigen oder gegen die eigenen Überlebensinteressen verkehren können. Diese sozialpsychologische Dimension wird bisweilen übersetzt in die Leitworte »greed and grievance«. Einen weiteren Gesichtspunkt fügte Galtung (1998; 2004) mit dem Begriff der »deep culture« hinzu: Was Gesellschaften als erstrebenswert oder als verabscheuungswürdig verstehen und wofür und wogegen sie kämpfen, ist vorgeprägt von kollektiven Wertsystemen und historischen Erfahrungen. Gesellschaften unterscheiden sich in diesen vorbewussten Deutungsmustern, wodurch eine Verständigung oft erschwert wird. Entsprechend kann es unter den »root causes« eines Konflikts neben physischer und struktureller Gewalt auch Dominanzverhältnisse zwischen Deutungsmustern geben, die Galtung »kulturelle Gewalt« nennt.

»Greed« und »grievance« sind oft verwurzelt in kollektiven Erfahrungen und Selbstbildern und damit verbunden mit Ehre und Scham. Durch Beschämung bzw. »Schande« als Gefühl(e) der elementaren Bedrohung können ungeheure Energien mobilisiert werden. Im Bemühen der Schamabwehr, die sich im Gegenbegriff der Ehrenrettung verdichtet, sind Menschen zu jeder Gewalttat fähig, die auch vor Selbstschädigung nicht Halt macht. In äußerster Konsequenz erscheint sogar Selbstmord als angemessener Preis dafür, die eigene Ehre zu retten. Ohne diesen Mechanismus sind die aktuellen Selbstmord-Attentate kaum zu verstehen. Wie viel zerstörerische Energie aus Abwehr von Schamaffekten mobilisiert werden kann, illustriert bereits die Ilias. Auch die Attraktivität des Nationalsozialismus für seine Anhänger lässt sich – neben anderen Gründen – aus dieser Dynamik erklären, wie in Interviews mit NS-Anhängern im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Geschichte und Erinnerung deutlich wurde (vgl. Marks 2007a).

Mit diesem Beitrag möchte ich die Friedenswissenschaft anregen, sich eingehender mit Scham und Ehre auseinanderzusetzen. Zunächst werden einige Grund-Determinanten von Scham und Schamabwehr vorgestellt. Anschließend illustriere ich deren Bedeutung am Beispiel des sog. »clash of civilizations« zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Dies kann hier nur kursorisch geschehen.

Scham und Konfliktdynamik

Alle Menschen kennen Scham, wenn auch in geschlechts- und kulturspezifischer Ausprägung. Scham kann von verschiedener Intensität sein und akut bis chronisch. Obwohl schmerzhaft, hat sie auch entwicklungsfördernde Funktionen: Sie wahrt die Grenzen zwischen Ich und Mitmenschen (Intimitäts-Scham), Zugehörigkeit (Anpassungs-Scham) und Integrität (Gewissens-Scham) (Marks 2007b). Ein Zuviel an Scham ist pathologisch: Wenn das Ich sich von Schamgefühlen wie überflutet, minderwertig, fühlt (Hilgers 2006). Solche Scham ist die Folge traumatischer oder kumulativ-traumatischer Grenzverletzung wie Missbrauch, Folter, Vergewaltigung (traumatische Scham) oder massiver Verletzungen von Zugehörigkeit oder Gewissensnormen. Scham wird häufig an die folgende Generation weitergereicht (Marks 2007a), da der Umgang mit ihr meistens unbewusst ist. Scham ist für viele Berufsgruppen (noch) kein Thema, obwohl sie in allen zwischenmenschlichen Begegnungen und vor allem in Konflikten akut werden kann.

Für den Umgang mit Konflikten ist entscheidend, wie sie von den Betroffenen jeweils wahrgenommen und verarbeitet werden. Einen grundlegenden Unterschied macht es, ob dies nach dem Scham-Modus oder nach dem Schuld-Modus geschieht: Scham und Schuld werden häufig verwechselt. Sie sind keine absoluten Gegensätze, unterscheiden sich aber idealtypischerweise in Folgendem:

Scham ist ein Gefühl, während Schuld einen Tatbestand bezeichnet. Oft liegt der Scham keine Schuld zugrunde, z.B. wenn Menschen sich dafür schämen, arm oder krank zu sein oder wenn sie erniedrigt wurden.

Die Kontrollinstanz ist bei der Scham außen (der Blick der Anderen), bei der Schuld-Verarbeitung intern (Gewissen).

Bei der Scham besteht die Sanktion in negativen Gefühlen, die durch die Gesellschaft verstärkt werden können durch öffentliche Anprangerung, Ehrverlust, Ächtung. Schande ist ein Makel, der die ganze Person (oft auch Familie, Gruppe oder Nation) trifft und der – wenn überhaupt – nur durch eine bestimmte Aktion zur Wiederherstellung der Ehre getilgt werden kann. Bei der Schuld besteht die Sanktion in Gewissensbissen. Durch Bestrafung und Wiedergutmachung kann Schuld abgetragen werden wie eine finanzielle Verschuldung.

Scham ist monologisch, erkennbar auch an der Körpersprache. Das erschwert die Klärung eines Konflikts. Im Unterschied dazu ist Schuldverarbeitung dialogisch.

Im Scham- bzw. Schuld-Modus sind unterschiedliche Gehirnregionen involviert: Scham ist wie ein kognitiver Schock, der höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen bringt (Nathanson 1987). Vernunft, Gedächtnis, Sprachvermögen oder Affekt-Regulierung sind dann nicht verfügbar. Das Ich befindet sich in existenzieller Angst und dabei werden primitivere neuronale Systeme aktiviert als z.B. bei Wertschätzung. Das Nervensystem ist ganz darauf ausgerichtet, der Angstquelle zu entkommen und verfällt auf die simpelsten Muster: angreifen, fliehen oder verstecken, im-Boden-versinken-wollen (Schore 1998).

Scham ist eins der schmerzhaftesten Gefühle, kaum auszuhalten, daher wird sie meistens unbewusst abgewehrt, d.h. durch erträglichere Verhaltensweisen ersetzt (Lewis 1993). Die wichtigsten Abwehrformen sind folgende:

Da »weiche« Gefühle wie Hoffnung, Liebe, Mitgefühl oder Reue verletzbar machen, werden sie hinter einer steinernen Maske verborgen oder »eingefroren«. Diese emotionale Erstarrung kann zu einer alles durchdringenden, chronischen Langeweile werden und zum Suizid führen (Wurmser 1997).

Durch Projektion werden andere mit den Eigenschaften ausgestattet, für die man sich selbst schämt (z.B. Schwäche, Angst), und mit den entsprechenden Ausdrücken – als »Schwächling«, »Feigling« o.ä. – beschimpft.

Durch Beschämung wird Passiv in Aktiv verwandelt: Andere werden verhöhnt, verachtet, schikaniert, gedemütigt, zu Objekten gemacht, ausgeschlossen oder vernichtet.

Das Kerngefühl, ein Nichts zu sein, kann auch abgewehrt werden durch Arroganz oder protzige Männlichkeit, mit der Selbstsicherheit vorgetäuscht wird. Vergleichbare Abwehrformen sind Trotz, Idealisierung, Größenphantasien u.a.

Da Fehler als selbstbedrohlich erlebt werden, müssen sie geleugnet werden, z.B. durch Lügen oder Rechtfertigungstiraden.

Durch »Reaktionsbildung« werden Schamgefühle abgewehrt, indem demonstrativ Schamlosigkeit gezeigt wird: Unverfroren werden Rücksichtslosigkeit, Verachtung von Idealen, Missbrauch zur Schau getragen.

Scham wird auch oft ersetzt durch Wut, die leicht zu Gewalt werden kann (Lewis 1993).

Wer von Schande betroffen ist, sucht seine verlorene Ehre wieder herzustellen.

Schamabwehr verursacht nicht nur Konflikte zwischen Individuen, sondern auch zwischen Nationen: Durch den Angriff auf andere erleichtert sich eine Gesellschaft ihrer Scham (Galtung & Tschudi 2003). Charakteristischerweise beginnt die militärische Grundausbildung damit, dass Rekruten beschämt werden. Das fördert ihre Gewaltbereitschaft, die von der Führung benutzt und gegen einen »Feind« gerichtet werden kann.

Gelegentlich werden besondere Verletzungen der Menschenwürde in der Bundeswehr publik; etwa wie die in Coesfeld, wo Rekruten mit Tritten und Elektroschocks gequält wurden. Zuvor waren sie informiert worden, dass diejenigen, die die Situation nicht mehr aushalten, von der Übung befreit werden könnten durch ein Losungswort: »Tiffy« – nach der rosafarbigen Vogelpuppe der Kinderfernsehsendung Sesamstraße, womit der Betreffende sich lächerlich gemacht hätte. Daher wagten viele nicht, das erlösende Wort zu sagen. Offizielle Sprecher beeilen sich nach solchen Vorfällen stets, sie als »Einzelfälle« zu banalisieren – ohne die allgemeinen Entwürdigungen der Rekruten zur Sprache zu bringen.

Menschen tun unglaubliche Dinge um ihre »verlorene Ehre« wieder herzustellen: Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, duellieren sich oder ziehen in den Krieg. Verwandte Begriffe sind Würde, Wertschätzung, Stolz, Ansehen, Achtung oder Respekt. Was unter Ehre und Schande zu verstehen ist, ist jeweils in einer Gesellschaft definiert. So hängt in manchen patriarchalischen Kulturen die Ehre des Mannes und seiner Familie vom ehrenhaften Verhalten seiner weiblichen Familienangehörigen ab. Ein Mann, der seine Ehre verloren hat und versäumt, diese wieder herzustellen, wird – mitsamt seiner Familie – aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und geächtet. Um diese Schande zu tilgen und die Ehre wieder herzustellen, muss z.B. die betreffende Tochter verstoßen oder ermordet werden (»Ehrenmorde«).

Von anderen Menschen nehmen wir i.d.R. zunächst nur ihre Maske wahr (z.B. emotionale Erstarrung, Arroganz oder Gewalttätigkeit), hinter der ihre Schamgefühle verborgen werden. Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten wird ermöglicht, wenn wir zwischen Maske und Mensch unterscheiden. Dies setzt allerdings voraus, dass die eigene Scham-Geschichte bewusst gemacht und aufgearbeitet wurde. Andernfalls besteht die Gefahr, dass durch die Schamabwehr des Anderen die eigene Scham aktualisiert wird: Wenn wir z.B. vom Gegenüber verächtlich behandelt werden, werden eigene Schamgefühle geweckt, die es wiederum abzuwehren gilt, indem der andere beschämt wird etc. In der Folge eskaliert der Konflikt, da alle Beteiligten primär darauf bedacht sind, ihre Ehre zu retten.

Scham und Ehre im »clash of civilizations«

Um die politischen Entscheidungen einer Gesellschaft zu verstehen, ist es hilfreich, ihre Geschichte aus der Sicht der Scham-Psychologie zu betrachten. Dies soll im Hinblick auf den von Huntington (1997) prognostizierten »Kampf der Kulturen« an den Beispielen USA und Naher Osten/Islam skizziert werden.

US-amerikanische Scham-Verstrickung

Ein großer Teil der Einwanderer in die USA war vor Demütigung, Verfolgung oder Krieg aus ihren Heimatländern geflohen: Traumatische Erfahrungen und massive Verletzungen von Zugehörigkeit hinterlassen charakteristischerweise Scham. Diese Flüchtlinge bauten eine neue Gesellschaft auf mit dem festen Willen, sich nie wieder demütigen zu lassen. Diese Haltung ist verkörpert in Vorstellungen von Männlichkeit und einem Schande-Ehre-Kodex, wie sie vor allem in den Südstaaten bis in die Gegenwart vorherrschen (Lindner 2006).

Akkumuliert im kollektiven Gedächtnis der USA ist zudem die traumatische Scham der jahrhundertelang gedemütigten Ureinwohner und versklavten Schwarzen sowie die ihrer Kriegsveteranen (aktuell fast neun Prozent der US-Bevölkerung). Hinzu kommt Gewissens-Scham über die von den Weißen begangenen Verbrechen an ihren indianischen und schwarzen Mitbürgern, über die Rolle der USA bei der Ausbeutung der »Dritten Welt« (die durch mehr als 130 Kriege und militärische Interventionen bekräftigt wurde, vgl. Sagan 1988) sowie über die Kriegsverbrechen in Hiroshima, Nagasaki und Vietnam.

Noch mehr Scham resultiert aus Ereignissen, die aus Sicht vieler US-Bürger als demütigend erlebt wurden, wie das unrühmliche Ende des Vietnam-Krieges, die Geiselnahme in Teheran 1979-81 sowie die Angriffe vom 11. September 2001. Darüber hinaus anti-amerikanische Proteste. Schon die Distanzierung von der US-Politik (z.B. Frankreichs und Deutschlands beim jüngsten Irak-Krieg) wird als Beschämung erlebt.

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die akkumulierte Scham von der US-Gesellschaft vorwiegend durch Größenphantasien und Selbst-Idealisierungen (»greatest nation«) abgewehrt wird sowie durch eine Außenpolitik, die durch Trotz, Schamlosigkeit und protzige Militäreinsätze gekennzeichnet ist. Dazu werden äußere Feinde benötigt, die per Projektion geschaffen werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion – von R. Reagans »Reich des Bösen« – drängte sich der islamistische Terrorismus als Feindbildersatz auf.

Vor allem die Bush jun.-Administration ist stark durch den Schande-Ehre-Kodex der Südstaaten geprägt (Lindner 2006). Danach wird erfahrenes Unrecht als Beleidigung erlebt und ein Mann, der diese hinnimmt, gilt als unmännlich. Verhandeln ist Feigheit, Nachdenklichkeit ist Schwäche (Cohen et al. 1998). Terroristen sind feige – »verstecken sich hinter Zivilisten« – und haben den Anspruch verwirkt, wie Menschen behandelt zu werden (Lindner 2006). Einen Fehler einsehen ist davonlaufen; verlieren ist schändlich und muss geleugnet werden. Etwa beim Irak-Krieg: „Aufzugeben würde heißen, dass Amerika nicht den Mumm hat, diesen Kampf durchzustehen“ (Cheney am 24.01.2007, zit. n. M. Günther 2007, S.5). So scheint mir die US-Politik in einem Teufelskreis der Schamabwehr gefangen: Außenpolitische Entscheidungen, getroffen um Scham abzuwehren, provozieren bei anderen Akteuren Gegenreaktionen, die in den USA wiederum als Beschämung erlebt und abgewehrt werden.

Scham-Verstrickung im Nahen Osten

Auch die Menschen im Nahen Osten sind durch massive Grenzverletzungen in ihrer Geschichte geprägt; vor allem durch die Kreuzzüge, denen unzählige Menschen zum Opfer fielen. Von dieser „Gewaltorgie“ (Bednarz et al. 2006, S.76) hat sich diese Region seelisch nie erholt. An das Trauma der Kreuzzüge appellieren Islamisten, indem sie Israel als Verbündeten der Kreuzzügler darstellen, die heilige Stätten besetzen. Diese Wahrnehmung wird gefördert, wenn von westlicher Seite der Kampf gegen den islamistischen Terror als »Kreuzzug« propagiert wird. Das Trauma der Kreuzzüge wurde durch den Kolonialismus vertieft, durch den Verlust von Ländereien infolge der jüdischen Besiedlung Palästinas, durch militärische Niederlagen gegen Israel sowie durch Ohnmacht, Armut und den Flüchtlingsstatus von Millionen Palästinensern.

Die daraus resultierende Scham ist umso schmerzhafter, als Würde und Ehre im Islam von zentraler Bedeutung sind: „Für die Ehre (namus) leben Frauen und Männer, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise“ (König 1989, S.244). Das männliche Oberhaupt der Familie ist verpflichtet, seine Familie zu ernähren und die Ehre seiner Familie zu bewahren bzw. wieder herzustellen, etwa wenn ein Familienmitglied beleidigt wird oder wenn die Grenzen des Haushalts verletzt werden. Ein Mann, der dies versäumt, gilt als unmännlich und wird mit seiner ganzen Familie aus der Gesellschaft ausgestoßen (König 1989; Breuer 1998).

Vor diesem Hintergrund wird verstehbar, weshalb viele Palästinenser die israelische bzw. westliche Politik als Erniedrigung erleben und sich ihres Flüchtlingsstatus schämen, wie Dan Bar-On (2007) beobachtet. Augenscheinlich wird diese Scham durch den islamistischen Terrorismus instrumentalisiert. Nach Ansicht des arabischen Kulturphilosophen Hassan Abbas ist die Hisbollah so attraktiv, weil sie „unser gepeinigtes Selbstwertgefühl (poliert)“ (zit. n. Zand 2006, S.99). So mag nach der Logik des Scham-Modus ein Selbstmord-Attentat die ultimative Tat zur Rettung der Ehre darstellen, besteht sie doch im ultimativen Opfer: dem des eigenen Lebens. 36 Prozent der Jugendlichen in Gaza gaben als ihr Lebensziel an, »schahid« (Märtyrer) werden zu wollen (I. Günther 2004).

Im Westen wird die zentrale Bedeutung von Würde bzw. Scham für islamische Kulturen i.d.R. übersehen. Der türkische Romancier Orhan Pamuk weist darauf hin: „Der Westen ist sich kaum des überwältigenden Gefühls der Demütigung bewusst, das die Mehrheit der Weltbevölkerung empfindet“ (zit. n. Lau 2001). Im Gegenteil, im Westen wird z.B. die Empörung von Muslimen gegen karikaturistische Darstellungen des Propheten gerne zum Anlass genommen, sich umso abwertender über den Islam auszulassen. So spottet etwa Broder über diese „Ausbrüche kollektiver Hysterie“ von „Irren“, die „chronisch zum Beleidigtsein neigen“, ausgelöst durch „ein paar harmlose Karikaturen“ (Broder 2006, S.38-40). Einsichten in die Dynamik von Scham und Ehre, welche die wütenden Proteste von Millionen von Menschen verstehbar machen könnten, werden ersetzt durch antiislamische Verachtung, welche die west-islamische Spirale gegenseitiger Entwertungen und Gewalt noch weiter antreibt.

Diese Entwertung geschieht in vielfältiger, auch struktureller Form. Zum Beispiel drückt sich das Sendungsbewusstsein der USA (vgl. Huntington 1997, S.292) in einer arroganten Haltung gegenüber dem Irak aus, wonach die USA dort „Babysitter in einem Bürgerkrieg“ spielen, so Barack Obama (zit. n. Ilsemann & Mascolo 2007, S.100). Die Entwertung der Muslime erfolgt auch durch tendenziöse Berichterstattung in den Medien (Schiffer 2005) und eine öffentliche Wahrnehmung, die oft nicht zwischen Islam und islamistischem Terrorismus differenziert. Erniedrigend wirken auch die Photographien aus Abu Ghraib und Zuschreibungen wie z.B. „Ziegenficker“, die der ermordete Regisseur Theo van Gogh häufig benutzt haben soll.

Ausblick

In den USA wie im Nahen Osten wurde über die Jahrhunderte auf unterschiedliche Weise massiv Scham akkumuliert, die zu Abwehr drängt. Die Abwehrtechniken werden durch Projektionen, Denkschablonen und das Verhalten der jeweils anderen Seite scheinbar legitimiert. Zusätzliche Brisanz erhält die Konfrontation von Westen und Islam dadurch, dass ersterer durch ein Christentum geprägt ist, das seit Jahrhunderten vorwiegend die Unwürdigkeit des Menschen predigt, während letzterer seine Anhänger für ihre Würde und deren Verletzung in besonderem Maße sensibilisiert (auch wenn Würde hier patriarchalisch definiert wird).

Gibt es einen Ausweg? So sehr unbewusste, abgewehrte Scham zwischenmenschliche Beziehungen vergiftet, so sehr vermag bewusste Schamverarbeitung Solidarität und Zusammengehörigkeit stiften, weil Scham ein Gefühl ist, dass alle Menschen kennen. Pamuk spricht von der befreienden Wirkung, „verborgene Schamgefühle mit anderen zu teilen“ (Pamuk 2005, S.17). Dies zeigte sich z.B. in einem Seminar des Autors mit deutschen, israelischen und palästinensischen Teilnehmenden: Die ersten Tage waren durch die politischen Meinungsverschiedenheiten dieser drei Gruppen bestimmt. Das änderte sich, sobald Scham zum Thema gemacht wurde: Es entstand eine tiefe emotionale Verbundenheit.

Anmerkung

Ich danke Tilman Evers für die Mitarbeit an diesem Artikel.

Literatur

Bar-On, D. (2007): Zur Rolle von Scham und Schamabwehr im Nahostkonflikt, in: S. Marks (Hrsg.): Scham – Beschämung – Anerkennung, Berlin: LIT; S.3-18.

Bednarz, D. et al. (2006): Das Haus des Krieges, in: Der Spiegel 38, 18.09.06, S.68-84.

Breuer, R. (1998): Familienleben im Islam. Traditionen – Konflikte – Vorurteile. Freiburg: Herder.

Broder, H. (2006): „Wir kapitulieren!“, in: Der Spiegel 33, 13.08.06, S.38-40.

Cohen, D., Vandello, J. & Rantilla, A. (1998): The sacred and the social. Cultures of honor and violence, in: P. Gilbert & B. Andrews (Eds.): Shame: Interpersonal behaviour, psychopathology and culture. New York: Oxford University Press, S.261-282.

Galtung, J. (1998): Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

Galtung, J. (2004): Transcend and Transform. An introduction to conflict work. London: Pluto Press.

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Günther, I. (2004): Töten für Allah, sterben für Allah, in: Badische Zeitung, 24.03.04, S.3.

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Hilgers, M. (2006): Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Huntington, S. (1997): Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europaverlag.

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Zand, B. (2006): Arabiens gepeinigte Seele, in: Der Spiegel 30, 24.07.06, S.98-99.

Wurmser, L. (1997): Die Maske der Scham. Berlin: Springer.

Dr. Stephan Marks, Sozialwissenschaftler, arbeitete 5 Jahre in den USA für Gewaltfreiheit, ist Leiter des Forschungsprojekts Geschichte und Erinnerung, bildet Berufstätige in pädagogischen und psychosozialen Arbeitsfeldern über Scham und Menschenwürde fort.

Religionsgemeinschaften und Gewalt

Religionsgemeinschaften und Gewalt

von Hans G. Kippenberg

Dass die Gewalttätigkeit von religiösen Gemeinschaften auch im Handeln ihres Gegenüber begründet sein kann, ist eine wichtige Erkenntnis religionswissenschaftlicher und -soziologischer Studien. Andere Konfliktdimensionen – etwa die dabei wirksame Anrufung von religiösen Erzählungen, der Stellenwert von Heilserwartungen oder auch die Relevanz semantischer Deutungsmuster – harren einer weitergehenden, insbesondere komparativen Forschung. Schließlich dürften insbesondere die Kategorie der Moral(ität) religiös motivierter Akteure zu kontroversen Beurteilungen führen.

Als im Zeitalter der Glaubenskriege Religionsgemeinschaften Europa mit Gewalt überzogen, sah Thomas Hobbes die Lösung in einem starken Staat, der allein die sozial destruktiven Kräfte der Religionsgemeinschaften bändigen könne. Zur selben Zeit vertrat Samuel Pufendorf die entgegengesetzte These, dass kein Staat ohne Religion Bestand haben könne, da nur die Religion ein soziales Band zwischen den Bürgern herstellen könne. Um seine Pflichten zu erkennen, benötige der Mensch keine Offenbarungsschriften, sondern müsse nur auf sein eigenes Gewissen hören. Was aber stimmt nun: Ist das soziale Band, soweit es von religiösen Gemeinschaften begründet wird, für das Gemeinwesen eine Gefahr oder ist es sein soziales Kapital? Solange Religionen in der Moderne eine Sache des Individuums wurden, verlor das Problem an Brisanz. Doch das stetige Wachstum religiöser Gemeinschaften weltweit bringt die alte Unsicherheit zurück.

Über den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt

Jan Assmann hat recht, dass der exklusive Monotheismus, den Moses in Israel durchsetzte, die eigene wahre Gottesverehrung scharf von der grundfalschen der Heiden unterschied (Assmann 1998). Allerdings hält er biblische Erzählungen von einer gewaltsamen Ausrottung der falschen Götter und ihrer Völker für ein semantisches Paradigma, mit dessen Hilfe die Durchsetzung des Monotheismus nur erinnert worden sei, das sich aber nicht auf reale Gewalthandlungen beziehe (Assmann 2003, S.36). Wo im Judentum überhaupt Gewalthandlungen bezeugt sind, dann allein nach innen gegen den Apostaten, nicht aber gegen Ungläubige.

Doch gibt es sehr wohl noch einen anders gelagerten Fall, den Assmann nicht einbezieht, der das Bild aber radikal verändert. Den Juden war von den Persern im 5. Jh. v. Chr. nach ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft das Privileg einer autonomen Rechtsgemeinschaft zugestanden worden. Diese Gemeinschaft verband mit der mosaischen Unterscheidung noch eine soziale: die zwischen Freiheit und Sklaverei. Die Sicherung der Gemeindemitglieder vor dauerhafter Versklavung durch Fremde wurde zu einer religiösen Pflicht aller Gläubigen. Als im 2. Jh. v. Chr. der Jerusalemer Tempel von hellenistischen Herrschern entweiht wurde und ein Jude sich bereit zeigte, auf Geheiß eines königlichen Beamten ein heidnisches Opfer zu bringen, tötete der Priester Matthias, Vater der Makkabäer, nicht nur den Abtrünnigen, sondern auch den Beamten. Mit dem Ruf: „Ein jeder, der für das Gesetz eifert und die Bundestreue hält, ziehe hinter mir her!“ flohen er und seine Söhne in die Berge (1. Makkabäerbuch 1-2). Die Apokalypse Daniel deutete die Verschärfung des Konflikts als Auftakt zu einer neuen Heilszeit. Wer im Kampf gegen die Gottlosen stirbt, ist ein Märtyrer und wird zum ewigen Leben erweckt. Gewalt zwecks Verteidigung des erwählten Volkes gegen seine Feinde war ein vorbildlicher Akt. Andererseits schlossen dieselben Aufständischen mit dem heidnischen Römischen Senat einen Freundschaftsvertrag, als dieser der jüdischen Gemeinschaft Autonomie zugestand (1. Makk. 8). Dieser lang erinnerte Fall zeigt, dass es keinen irgendwie zwingend notwendigen Zusammenhang zwischen dem Monotheismus und Gewalttätigkeit gibt. Er ist bedingt von einer Situation der Bedrohung der religiösen Gemeinschaft durch innere und äußere Feinde.

Religiöse Gewalteskalationen in den USA

Untersuchungen neuerer Fälle religiöser Gewalt haben eine Wendung genommen, die dies bestätigen. Der erste Fall, der so aufgearbeitet wurde, waren Mord und Massenselbstmord der nordamerikanischen Religionsgemeinschaft »People's Temple« in Jonestown, Guayana 1978. Jugendliche und Alte, Männer und Frauen, Arme und Wohlhabende, und – ungewöhnlich – Weiße und Schwarze hatten sich in Kalifornien gemeinsam dem Prediger und Heiler Jim Jones angeschlossen. Sie wollten eine revolutionäre Gemeinschaft bilden: ohne Rassendiskriminierung, ohne Privateigentum und ohne die sexuellen Normen des bürgerlichen Amerikas. Erboste Verwandte liefen Sturm gegen den »Kult«, wie es abschätzig hieß; Abtrünnige bestätigten die wildesten Vorurteile; in Medienkampagnen wurden Vorwürfe von Gehirnwäsche erhoben.

Als es der Gemeinschaft nicht gelang, die Angriffe gerichtlich abzuwehren, wanderte sie nach Mittelamerika aus. Als dort eine Delegation der Gegner mit einem Kongressabgeordneten an ihrer Spitze auftauchte und erste Gemeindemitglieder dem Druck nachgaben, ihre Rückkehr in die USA ankündigten und damit die Existenz der Gemeinschaft gefährdeten, entlud sich die Spannung in Gewalt. Gemeindemitglieder erschossen den Kongressabgeordneten und drei weitere Personen auf dem Flugfeld, als sie abfliegen wollten. Eine Stunde später begann die »Weiße Nacht«, in der die Gemeindemitglieder sich das Leben nahmen. Jim Jones hatte ihnen gepredigt, dass der Freitod eine bessere Lösung sei als erneute Unterwerfung unter die destruktiven Mächte dieser Welt. 911 Menschen verloren ihr Leben. In diesem fürchterlichen Ende sahen die Gegner eine nachträgliche Bestätigung dafür, dass die persönliche Überzeugung der Gemeindemitglieder nur erzwungen worden und Jim Jones nur ein falscher Prophet sein konnte. »Jonestown« wurde das warnende Beispiel dafür, wozu »Kulte« alles imstande seien.

Studien, die zehn Jahre später den Fall neu aufrollten, kamen jedoch zu einem anderen Ergebnis. John Hall scheibt: „Der Schlüssel zum Verstehen des Massenselbstmordes von Jonestown liegt in der Konfliktdynamik zwischen religiösen Gemeinschaften, die Autonomie beanspruchen, und äußeren politischen Ordnungen. Die Aufforderung, sich den äußeren Ordnungen unterzuordnen, zwingt die Gemeinschaft dazu, zwischen dem Heiligen und dem Bösen zu wählen. Dieser Wahlzwang macht religiöse Überzeugung zu einer Frage der Ehre und ist das Treibbeet für einen Märtyrertod.“ (Hall 1987, S.296). Erst der von außen kommende Druck hat die Gemeinschaft dazu gebracht, ihre Sozialform mit Gewalt zu verteidigen.

Die Schatten von Jonestown fielen noch auf Vorgänge in Waco (Texas) 15 Jahre später, als eine adventistische Religionsgemeinschaft in den Verdacht rechtswidriger Handlungen geriet – zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Als Beamte bei der überfallartigen Durchsuchung des Anwesens auf Gegenwehr stießen, belagerte das FBI das Grundstück mehrere Wochen lang. Schließlich gingen die Einsatzkräfte zur gewaltsamen »Befreiung« über. 74 Tote wurden nach dem Angriff gezählt. Der Blick der Untersuchungskommission, die die Clinton-Regierung dazu einsetzte, fiel auch auf unausgesprochene Annahmen der Einsatzleitung. Die Beamten waren davon überzeugt, dass Religion ein innerer persönlicher Glaube sei, der mit äußeren gemeinschaftlichen, gar gewalttätigen Handlungen nichts zu tun haben könne (Sullivan 1993, S.213-234). Dass der religiöse Anführer den Überfall auf die Gemeinschaft und die folgende Belagerung mit Hilfe der Offenbarung Johannes deutete und in den Einsatzkräften die Mächte des widergöttlichen Babylon sah, entging ihnen völlig. So haben sie mit ihrer Gewalt dem Glauben der Adventisten, in einer Welt voller Ungerechtigkeit zu leben, noch zusätzlich Nahrung geliefert und zum Gewaltausbruch beigetragen (zu analogen Fällen: Hall, Schuyler & Trinh, 2000).

Bei einer späteren Besprechung dieser Vorgänge waren sich Beamte des FBI und Vertreter der American Academy of Religion darin einig, dass man in solchen Situationen »worldview translators« (Weltbildübersetzer) benötigt, um unbeabsichtigter Eskalation vorzubeugen (Rosenfeld 2000, S.347-351). Zwar rechnet christliche Apokalyptik immer mit einer Zunahme des Bösen in der Endzeit; ob aber den Gläubigen Geduld und Leidensbereitschaft abverlangt werden oder aber Kampf gegen das Böse bis zum Tod gegen die gottlosen Mächte, ist völlig offen und muss von den Gläubigen entschieden werden. Vorschnelle Anwendung von Gewalt kann aus einer duldsamen Gemeinschaft eine gewalttätige werden lassen. Angesichts dieser Untersuchung muss man ernsthaft damit rechnen, dass die Gewalttätigkeit von Religionsgemeinschaften ihren Ort in einem Handlungsverlauf hat, dass die zugrunde liegenden Konflikte sich auf das soziale Band der Religionsgemeinschaft beziehen und dass an der Eskalation Träger staatlicher Gewalt maßgeblich beteiligt sein können.

Der Nahostkonflikt: von einem Krieg zwischen Staaten zu einem zwischen religiösen Gemeinschaften

Auch für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gilt, dass religiöse Gewalt in einem Handlungsverlauf entstand. Der Konflikt um das von Israel 1967 besetzte palästinensische Territorium wurde nicht nur in Begriffen des Völkerrechts ausgetragen, sondern auch mit religiösen Ansprüchen. Nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg verlangten die Vereinten Nationen, dass sich die Staaten der Region gegenseitig anerkennen und dass Israel seine Streitkräfte aus Gebieten, die es während des jüngsten Konfliktes besetzt hat, zurückzieht. Doch ließen die Resolutionen offen, ob Israel nur besetzte Gebiete oder die besetzten Gebiete insgesamt räumen sollte. Der Streit darüber fiel in eine Zeit, als in Israel religiöse Zionisten die Eroberung der einst zum biblischen Land gehörenden Gebiete von Judäa und Samaria als Auftakt der messianischen Wiederherstellung deuteten und im verheißenen Land Siedlungen anlegten.

Die zionistische Errichtung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina war lange Zeit gerade nicht religiös begründet worden. Orthodoxe Juden hielten sie für eine Angelegenheit ausschließlich des Messias. Zwar war es Juden religiös gestattet, in Palästina leben – doch nur, um die Tora zu studieren; wenn sie aber das Land bewirtschafteten, würden sie unzulässig das Ende herbeizwingen wollen. Jedoch gab es im Lager der Orthodoxen einen Rabbiner, Abraham Isaak Kuk (1865-1935), der das säkulare zionistische Vorhaben geschichtsphilosophisch deutete. Der Messianismus schreite unabhängig von den säkularen Absichten der Akteure voran. Als dessen Sohn Rabbi Zvi Yehuda Kuk (1891-1982) wenige Tage vor dem Sechstagekrieg in einer Predigt unvermittelt in eine Klage darüber ausbrach, dass Hebron, Sichem, Jericho und Anathot 1948 bei der Teilung des Britischen Mandatsgebietes von Israel losgerissen worden seien, und nur wenige Tage später die Truppen Israels dieses Unglück ungeschehen machten, wurde er zu einem fast biblischen Propheten. Aus dieser Sicht war der Sechstagekrieg ein »Krieg der Erlösung«. Anhänger seiner Schule legten gegen eine zögernde Regierung der Arbeiterpartei Siedlungen in den besetzten Gebieten an. Als 1977 die rechtsgerichtete Likudpartei an die Macht kam, nahm die neue Regierung die Siedlungsaktivitäten selber in die Hand. Der sog. »Block der Getreuen« ging in den besetzten Gebieten nicht selten mit Gewalt und mit Unterstützung der Armee gegen sich widersetzende Palästinenser vor. Ehud Sprinzak, ein israelischer Politikwissenschaftler, zählte 3.000 Fälle von kommunalen Konflikten zwischen Siedlern und Palästinensern, bevor 1987 die Intifada losbrach (Sprinzak 1991, S.148). Die Rückgabe von Teilen des biblischen Landes im Zusammenhang mit einem Friedensvertrag betrachteten sie als Abfall vom Glauben. Als Ministerpräsident Yitzhak Rabin dazu ernsthafte Bereitschaft zeigte, wurde er 1995 von einem Theologiestudenten der Universität von Bar Ilan als Verräter ermordet.

Ähnliche Entwicklungen in der Deutung des Konfliktes gab es auf Seiten der Palästinenser. Die PLO begründete ihren Widerstand gegen Israel noch mit einem Kampf gegen den Imperialismus. Anders die Muslim-Brüder, die die Zeit für den bewaffneten Kampf gegen Israel noch nicht für gekommen hielten. Erst müsse die palästinensische Gesellschaft islamisiert werden, was sie mittels des Aufbaus sozialer Institutionen wie Moscheen, Schulen, einer Universität, Bibliotheken, Krankenhäusern und Entwicklungsgenossenschaften vorantrieben. Israel ließ sie als unpolitisches Gegengewicht zur PLO gewähren.

Als sich aber 1987 Palästinenser in den besetzten Gebieten gegen Israels Kriegsrecht erhoben, wollte das Oberhaupt der Muslim-Brüder die Koordination der Erhebung nicht den nationalen Kräften überlassen und rief im Dezember 1987 die »Islamische Widerstandsbewegung« (harakat al muqawama al-Islamiyya) ins Leben. Ihre Abkürzung Hamas bedeutet »Eifer«. Schon im ersten Kommunikee schlug sie andere Töne an. Die von der israelischen Armee Erschossenen seien Märtyrer auf dem Weg Gottes; ihr Tod sei ein Ausdruck für den Opfergeist der Palästinenser, die das ewige Leben mehr liebten als ihre Gegner das irdische. Sie werde den Banner Gottes über jedem Zipfel Palästinas aufpflanzen, heißt es in Artikel 6 ihrer Charta. „Die Muslime der Eroberungszeit haben [Palästina] den muslimischen Generationen bis zum Tag der Auferstehung als (unveräußerliches; HGK) waqf [Stiftungsland] übertragen“ (Art. 11). Darüber kann nicht verhandelt werden. Als dann auch nach den Oslo-Abkommen der Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten weiterging und im Oktober 2000 der Oppositionsführer Ariel Scharon den von Muslimen verwalteten Tempelberg mit einer bewaffneten Eskorte betrat, um den jüdischen Anspruch auf diesen von Muslimen verwalteten Bezirk zu demonstrieren, brach die zweite Intifada aus, die anders als die erste vor allem wegen der Märtyreroperationen gegen israelische Soldaten und Zivilisten ungleich blutiger verlief.

Der Übergang zum Religionskrieg hat auch vor den USA nicht halt gemacht. Unter Präsident Jimmy Carter hatte das Außenministerium noch die Vierte Genfer Konvention bekräftigt und die Errichtung jüdischer Siedungen in den von Israel besetzten Gebieten für illegal erklärt. Der neu gewählte amerikanische Präsident Ronald Reagan beurteilte den Sachverhalt plötzlich anders. Die Siedlungen seien nicht illegal. Es handele sich nicht um »besetzte«, sondern um »umstrittene« Gebiete; nicht nur Palästinenser, auch Israel habe berechtigte Ansprüche auf sie. Die Idee einer Wiederherstellung Israels im Heiligen Land konnte bei der neuen Regierung auf Verständnis rechnen. Die Bevorzugung von Ansprüchen Israels darf man jedoch nicht nur in Verbindung mit der jüdischen Lobby sehen. Sie wird auch von einem bestimmten Typus von Protestantismus genährt. Protestanten dieser Richtung glauben, dass die biblischen Verheißungen an Israel nicht an das Volk der Christen und damit die Kirche übergegangen sind – was in der christlichen Theologie sonst eine verbreitete Auffassung ist -, sondern dass sie nach wie vor dem jüdischen Volk gelten. Gegenwärtig habe der Prozess der Wiederherstellung Israels begonnen; die Geschichte stehe kurz vor dem Beginn des letzten Millenniums. Die politischen Ereignisse rund um die Gründung des Staates Israel sind wie der Zeiger auf der apokalyptischen Uhr. Als einen der nächsten Schritte erwarten diese Protestanten die Wiederherstellung des Jüdischen Tempels, nachdem zuvor der islamische Felsendom zerstört worden ist. Romane und DVDs (»Left behind«) haben diese Geschichtsauffassung so sehr populär gemacht, dass heute vierzig bis fünfzig Millionen Amerikaner mit ihr sympathisieren und ein Wählerreservoir darstellen, das die Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush für sich mobilisieren konnten.

Globaler Jihadismus

Fälschlich wird der globale Jihadismus z.B. von al-Qa'ida mit den Gewaltakten von Hamas in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber operiert er auf der Basis einer anderen Definition der heutigen Lage des Islams. Für seine Vertreter ist die gegenwärtige Welt einschließlich der islamischen Länder so sehr von der gottlosen Kultur des Westens verdorben, dass der wahre Islam nur noch an einem einzigen Ort anzutreffen ist: in der reinen Intention der wenigen verbliebenen wahren Gläubigen. Wie der Prophet Mohammed in einer ähnlichen Situation überfallartige Kriege (ghazwas; »Razzia«) gegen die Feinde führte, so inszenierten die Jihadisten den Anschlag vom 11. September 2001. Ihre Gründe, die USA anzugreifen, finden sich in einer Erklärung der »Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler«: die Besetzung der arabischen Halbinsel und der dort liegenden heiligsten islamischen Stätten durch amerikanische Truppen; das Embargo gegen den Irak, das vielen Menschen das Leben gekostet hat; die Zerstückelung des Irak sowie anderer Staaten der Region in wehrlose Kleinstaaten, um Israels Überlegenheit über die arabischen Nachbarstaaten zu garantieren. Diese Handlungen seien eine Kriegserklärung an Gott. Es sei jetzt die individuelle Glaubenspflicht eines jeden Muslims in jedem Land, Amerikaner und ihre Verbündeten, Zivilisten und Militärs zu töten, um die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Heilige Moschee von Mekka aus ihrer Gewalt zu befreien, sodass sich alle ihre Armeen aus der islamischen Welt zurückziehen, besiegt und unfähig, noch irgendeinen Muslim zu bedrohen (Lawrence 2005, S.61). Tatsächlich angegriffen am 11. September 2001 wurden gezielt die Machtzentren der USA: das ökonomische im World Trade Center, das militärische im Pentagon und das politische im Capitol, das wegen des Absturzes der Maschine in Pennsylvania nicht getroffen wurde; doch wurde der Tod zahlloser unschuldiger Zivilisten dabei billigend in Kauf genommen.

Die Dämonisierung des Feindes

Der Übergang zum Religionskrieg hat sich in neuen Definitionen des Feindes niedergeschlagen. 1977 sah ein Zusatzprotokoll (I) zur Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen vor, dass auch Menschen, die „gegen Kolonialherrschaft, fremde Besetzung und rassistische Regime in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung, wie es in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, kämpfen“, in den Genuss des Schutzes kommen sollten. Damit hatten auch palästinensische Widerstandsorganisationen ein Anrecht auf Behandlung entsprechend den Genfer Konventionen – vorausgesetzt, sie hielten sich selber daran. Diese neue Rechtslage rief in Israel und den USA heftige Gegenreaktionen hervor. Zwei Konferenzen in Jerusalem und Washington hatten die erklärte Absicht, die „Vorstellung, dass des einen Terrorist des anderen Freiheitskämpfer ist“ zu widerlegen. „Das ist es, was die Terroristen uns glauben machen wollen“. Man müsse Terrorismus anders definieren: als absichtliche und systematische Ermordung, Verstümmelung und Bedrohung von Unschuldigen, um aus politischen Gründen Furcht zu verbreiten (Netanyahu, 1986).

Diese neue Definition setzte sich bald durch. Wer heute von Terroristen spricht, lässt bei den Zuhörern jeden Wunsch schwinden, etwas über die Gründe ihres Handelns erfahren zu wollen; er lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, ob vielleicht die Politik der eigenen Staaten zu dem Entstehen der Erscheinung mit beigetragen haben könnte; er suggeriert, es sei widersinnig, mit solchen Menschen überhaupt zu verhandeln; Terroristen seien moralische Nihilisten und stünden außerhalb der Rechtsordnung. Betrachtet man aus dieser Sicht Hamas oder auch den globalen Jihadismus, ist der Terrorbegriff, wie er in der französischen Revolution gebildet wurde, tauglicher. Terror sei, so Robbespierre, „nichts anderes als strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend“. Nicht ein Mangel, sondern ein Übermaß an Moralität treibt Hamas und die Jihadisten. Der neue Terrorbegriff lässt die Ambivalenz des Umstandes, dass Menschen für berechtigte Anliegen mit verwerflichen Mitteln kämpfen, verschwinden. So schwer es fällt, es anzuerkennen: der verbrecherische Gewalttäter und der Märtyrer für eine heilige Ordnung können dieselbe Person sein.

Eine gleiche Veränderung des Feindbildes finden wir bei Hamas. Auch sie eliminiert alle einhegenden Momente des internationalen Kriegsrechtes zu Gunsten einer Dämonisierung des Feindes. In ihrer Charta beschwört sie in Art. 7 eine Propheten-Überlieferung, die einen Kampf der Muslime mit den Juden am Ende der Zeit voraussieht (Oliver/ Steinberg, 2005, S.19-24), und greift die antisemitische Verschwörungstheorie der »Protokolle der Weisen von Zion« auf. Graffiti, Videos und Flugblätter dämonisieren Juden in Anlehnung an Koran Sure 5, 60 als „Söhne von Affen und Schweinen“, malen ihr Ende sadistisch aus und schwelgen in der Vorstellung, welche Angst ihr Herz beim Anblick eines „lebenden“ Märtyrers erfasst (Oliver/ Steinberg, 2005, 72-76). Häufig wird in diesem Zusammenhang von Antisemitismus gesprochen. Doch ist diese Begriffsbildung eher irreführend, da es vor dem Nahost-Konflikt im Islam keinen Antisemitismus wie in Europa gab. Auch war der Antizionismus nicht rassistisch, obwohl man sehen muss, dass im Laufe des Konfliktes die Unterscheidung zwischen Zionisten und Juden häufig verschwand. Es war dieses Verschwinden, das die Bürger Israels darin bestärkt, in der Feindschaft der Palästinenser die Manifestation eines altbekannten Antisemitismus wiederzuerkennen.

Religiöse Handlungsoptionen jenseits von Gewalt

Die neuen Formen gewalttätiger gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. Erleichtert wird ihre Existenz dadurch, dass bestehende Rechtsformen es Laien erlauben, religiöse Vereinigungen unabhängig von staatlichen Privilegien sowie von traditionellen religiösen Institutionen oder Autoritäten zu gründen. In diesen Vereinigungen werden aktuelle Probleme, drängende Sorgen, demütigende Erfahrungen und hochgespannte Erwartungen der Religionsangehörigen intellektuell und solidarisch bewältigt. Verbreitet haben sie sich vor allem dort, wo staatliche Ordnungen in Krisen und Kriegen zerbrechen, und Sozialstaatlichkeit schwach oder gar nicht ausgebildet ist. Wo weder der Staat, noch verwandtschaftliche oder tribale Loyalitäten den Einzelnen Sicherheiten in Notlagen verheißen, wird die Brüderlichkeitsethik religiöser Gemeinschaften zu einem begehrten Sozialkapital.

Die neuen Formen gemeinschaftlicher Religion aktivieren heilsgeschichtliche Handlungsentwürfe. In ihnen sind jedoch mehr Optionen angelegt, als Bezeichnungen wie Kult, Fundamentalismus oder Terrorismus erwarten lassen. Neben dem Aufruf zur Aktion stand immer gleichwertig das Lob der Geduld; neben einer kriegerischen Gesinnungsethik die Verantwortung für die soziale Gemeinschaft insgesamt. Die Geschichte des jüdischen Monotheismus liefert Beispiele dafür, dass Gläubige mit Gottlosen Verträge abschließen konnten, vorausgesetzt sie dienten dem Wohl der Gemeinschaft. Unbeirrt von diesen Optionen gegen Hamas Krieg zu führen und palästinensische Hilfsorganisationen, die über die Muslim-Brüder und damit Hamas Mittel in den besetzten Gebieten an Bedürftige verteilen lassen, zu kriminalisieren, lässt Feindschaft und Hass von Seiten der Palästinenser und der Muslime allgemein nur weiter eskalieren. Auch Zyklen der Gewalt sind Handlungen, die voraussetzungsreich sind und daher nicht notwendig. Die Beziehung von Religion und Gewalt ist weder unmöglich, noch zwingend notwendig; sie ist kontingent.

Der vorliegende Beitrag stützt sich auf das kürzlich im Verlag C.H. Beck erschienene Buch von Hans G. Kippenberg „Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung“.

Literatur

Assmann, Jan (1998): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München.

Assmann, Jan (1987): Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München.

Hall, John R. (1987): Gone from the Promised Land: Jonestown in American Cultural History. New Brunswick & London.

Sullivan, Lawrence E. (1996): No longer the Messiah': US Federal Law Enforcement Views of Religion in Connection with the 1993 Siege of Mount Carmel near Waco, Texas, in: Numen 43 (1996), S.213-234.

Hall, John R.; Schuyler, Philip D.; Trinh, Sylvaine (2000): Apocalypse Observed: Religious Movements and Violence in North America, Europe and Japan. London & New York.

Lawrence, Bruce (Hrsg.) (2005): Messages to the World. The Statements of Osama bin Laden. Translated by James Howarth. London & New York 2005.

Netanyahu, Benjamin (Hrsg.) (1986): Terrorism. How the West Can Win. New York.

Oliver, Anne Marie & Steinberg, Paul F. (2005): The Road to Martyrs' Square. A Journey into the World of the Suicide Bomber. Oxford.

Rosenfeld, Jean E. (2000): A Brief History of Millennialism and Suggestions for a New Paradigm for Use in Critical Incidents, in: Wessinger, Catherine (Hrsg.): Millennialism, Persecution, and Violence. Historical Cases. Syracuse & New York, S.347-351.

Sprinzak, Ehud (1991): The Ascendance of Israel's Radical Right. New York.

Prof. Dr. Hans G. Kippenbergs ist Professor für Religionswissenschaften am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt.

Kollektive Gewalt als Herausforderung

Kollektive Gewalt als Herausforderung

Überlegungen zur transdisziplinären Genozidforschung

von Mihran Dabag

Nicht alleine der Massenmord an den europäischen Juden, sondern auch zahlreiche andere Verbrechen des 20. Jahrhunderts haben die Diskussion um Genozide und die Notwendigkeit zur Erforschung genozidalen Handelns aufgeworfen.

1.

Wenn wir heute von der Aktualität der Forschung über Prozesse staatlicher Gewalt und Völkermord sprechen müssen, heißt dies dann nicht, dass wir bei einer entscheidenden Aufgabe, die uns der Nationalsozialismus hinterließ, versagt haben: nämlich bei der Verpflichtung an das »Nie wieder«?

Dass aus der Beschäftigung mit der Ermordung der europäischen Juden wichtige Orientierungen für eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Strukturen gewonnen werden können, dies war einer der wichtigen Ausgangsgedanken nicht nur der deutschen Politik nach 1945. Doch erst aufgrund der Veränderungen in der internationalen Politik nach 1990, insbesondere durch die neue Nähe gewaltvoller Auseinandersetzungen, ist deutlicher bewusst geworden, dass man kollektive Gewaltphänomene nicht als historische Irrtümer behandeln kann. Auch reicht es nicht aus, die Gewalt auf dem Balkan, den Völkermord in Rwanda oder die Gewaltpolitik der sudanesischen Regierung gegenüber der Bevölkerung der Region Darfur als eskalierte Reaktionen oder als aggressive, durch Hass motivierte Ausbrüche zu beschreiben.

Können ähnliche oder sogar identische Ursachen für die einzelnen historischen Gewaltereignisse ausgemacht werden? Welche Unterschiede lassen sich für verschiedene Gewaltpolitiken feststellen? Inwiefern lassen sich aber für die jeweiligen Gewaltpolitiken vergleichbare, wiederholbare Strukturelemente typisieren? Unter anderem diesen Fragen widmet sich die seit den 1970er Jahren zunächst in anglo-amerikanischen Forschungszusammenhängen entstandene interdisziplinäre Genozidforschung. Denn, und so versteht die heutige Genozidforschung ihre Aufgabe, um Genozide zu verstehen reicht es nicht, einzelne Täter oder Tätergruppen zu untersuchen, sie in einen historischen Kontext einzuordnen oder ihre möglichen Motivationen zu charakterisieren, weil Genozide als gesamtgesellschaftliche Prozesse begriffen werden müssen.

Dies bedeutet zunächst (a), dass es notwendig ist, die Ursachen von Genozid generationenübergreifend nachzuzeichnen. Genozide sind Ereignisse, deren Beginn und Ende mittels Daten eigentlich nur symbolisch definiert werden können, so, wenn man einen Völkermord über den Antritt oder das Ende einer Regierung historisch zu verorten sucht. Zu berücksichtigen ist vielmehr die Entstehung des ideologisch-legitimatorischen Rahmens, die Entstehung des Verwaltungsapparats und die ersten veräußerlichten Gewaltformen. Ähnliches gilt auch für das Ende: denn Genozide haben generationenübergreifende Nachfolgen – dies nicht allein für die Opfer, sondern auch in bezug auf die Strukturen der Tätergesellschaft.

Es bedeutet ferner (b), dass die Einzelprozesse moderner Genozide nicht aus den Strukturen und Charakteristika moderner Gesellschaften herauszulösen sind. Zwar sind Planung und Durchführung der unterschiedlichen Prozesse, auf denen ein Völkermord aufbaut, nur als national spezifische Prozesse zu verstehen. Doch werden Verfolgungen und Gewalt mit Argumenten legitimiert, die zu allgemeinen Normen der modernen Wirklichkeit gehören: Stabilität, Gleichgewicht, die Wiederherstellung oder der Schutz von Identität, die Rede vom inneren Feind. Die Erwägung eines Genozids wird dabei insbesondere eingebunden in die gestaltende Planung der Zukunft der eigenen Gesellschaft – legitimiert als »Sicherung« oder »Rettung«, legitimiert mit allgemeinen Mustern von Fortschritt und Zivilisation.

Es bedeutet schließlich (c), dass Genozide nicht allein Ergebnis multifaktorieller Ursachen sind, sondern auch von multifaktorieller Gewalt bestimmt werden. Wir können Genozide nicht auf eine – letzte – Form der Ermordung, etwa in der Form eines Vernichtungsmassakers oder des Vernichtungslagers reduzieren. Genozid wird über Stufen verwirklicht: Stufen der Ausgrenzung, Stigmatisierung, Entrechtung; Stufen unterschiedlicher Gewalt. Aus diesen drei Charakteristika folgt ein weiteres Kennzeichen der Genozidforschung: Sie muss davon ausgehen, dass kein generell gültiges, allgemeines Verlaufsmodell von Genozid definiert werden kann.

2.

Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel der Genozidforschung nicht darin, auf die zahlreichen Fälle staatlicher Gewalt aufmerksam zu machen, sondern auf die Vielfalt der Gewaltpolitiken zu verweisen, auf ihre Strategien und Mechanismen. Genozidforschung zeigt, dass Differenzierungen notwendig sind; Differenzierungen, die verweigern, so unterschiedliche Gewaltformen wie Bürgerkrieg und Krieg, Folter, Diskriminierung, Vertreibung oder Genozid unter einer einzigen geschichtlichen oder anthropologischen Ursache von Gewalt zu vereinheitlichen. Ansätze strukturvergleichender Untersuchungen widmen sich daher zunächst der definitorischen Unterscheidung des Genozids von anderen Formen kollektiver Gewalt: Massaker und »ethnischer Säuberung« im besonderen.1

So könnte man zunächst das Massaker als jene Gewalt eingrenzen, die einem kurzfristigen Ausbruch gleichkommt. Die Gruppe der Mordenden im Massaker weist nicht notwendig eine systematische Struktur der Schulung und Disziplinierung auf, es handelt sich zudem meist um eine einzelne und geschlossene Gruppe, in der nicht notwendig eine deutliche Funktionstrennung zwischen planenden und ausführenden Personen besteht. Die Verwirklichung und die angewendeten Mittel werden dabei häufig den Ausführenden selbst überlassen. Die Gruppe der Mordenden hegt darüber hinaus zunächst keinen längerfristigen, das heißt generationenübergreifenden Exterminationsplan, es geht vorrangig um eine situationale Eliminierung, eine »Bestrafungs-« oder »Racheaktion«. Die ideologischen ebenso wie die technischen Bedingungen des Massakers sind als gering einzuschätzen. Die Opfer des Massakers sind Angehörige einer als solcher klar erkennbaren Gruppe. Die Gruppe selbst ist, trotz des Massakers, in ihrer Existenz nicht gefährdet: das Massaker löscht Einzelpersonen oder auch Familien aus, nicht Generationen. Ein Massaker unterbricht somit nicht die Generationenfolge der Opfergruppe.

»Ethnische Säuberung« wäre der Versuch einer dominanten ethnischen Gruppe die Mitglieder einer anderen, nicht-dominanten ethnischen Gruppe, die innerhalb eines Staates oder eines Staatenbundes leben, aus einer bestimmten Region zu vertreiben oder zu ermorden (Massaker), mit der Absicht, durch die ethnische Homogenisierung der Bevölkerung die Herrschaft über diese Region zu erlangen oder zu sichern. Ethnische Gewalt wird demnach im Kontext eines Konfliktes bezüglich der Herrschaft über eine bestimmte geographische Region ausgeübt und richtet sich zunächst nicht gegen die Mitglieder einer ethnischen Gruppe im gesamten Staatsgebiet, sondern ausschließlich gegen jene, die innerhalb der beanspruchten Region leben. Ethnische Gewalt setzt nicht notwendig eine ideologische Legitimierung voraus.

Genozid schließlich wäre die mit dem ausgesprochenen Ziel der Extermination geplante, ideologisch begründete und systematisch durchgeführte Auslöschung einer spezifischen Bevölkerungsgruppe als solcher aus der Mitte einer Gesellschaft mit der Absicht den visionären Selbstentwurf einer homogenen Gesellschaft in Identität von Volk, Kultur, Territorium und Herrschaft durch die Vernichtung des als nicht-integrierbar definierten »Anderen« in kürzester Frist zu verwirklichen. Genozid ist somit ein nationales, gesamtgesellschaftliches, jeweils singulares Verbrechen, das sich in national spezifischen Transformationsprozessen vollzieht.

Diese Differenzierung entlang von Strukturaspekten ist der Beobachtung gezollt, dass sich eine Unterscheidung zwischen Genozid und anderen Gewaltpolitiken nicht anhand der jeweils ausgeübten Gewalt vornehmen lässt. So können Massaker oder Deportationen – als Todesmärsche – Methoden eines Genozids sein, ebenso wie die logistisch durchdachte, industrielle Vernichtung. Krieg und Bürgerkrieg können mit Massakern einhergehen, ebenso wie mit »ethnischen Säuberungen«. Festzustellen bleibt, dass es die eine, für einen Genozid typische Gewalt nicht gibt. So war die Gewalt der nationalsozialistischen Täter nicht nur modern, technisiert und entfremdet, sie war zugleich auch direkt, hasserfüllt, traditionell und »barbarisch«.

Und auch die ausgeübte Gewalt während des Genozids in Rwanda war nicht nur unmittelbar, wild, rauschhaft und somit gewissermaßen vormodern – wie es die zur Metapher für diesen Genozid avancierten Bilder der Macheten suggerieren -, sondern sie war zugleich geplant, in gesellschaftlichen Diskursen vorbereitet, medial propagiert und institutionell organisiert. Signifikanter als die ausgeübte Gewalt sind für eine Charakterisierung von Genoziden – wie bereits in der Genozidkonvention aus dem Jahr 1948 festgestellt wurde – die Intention der Täter, das Ziel der Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe als solcher sowie, dies möchte ich erweiternd hinzufügen, die gesamtgesellschaftliche Verwirklichung der Vernichtungspolitik.

3.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Gefahren hinweisen: Die eine wäre der Versuch, Parameter aus den Struktureigenschaften der Shoah zu abstrahieren, um sie als generalisierte Muster über andere Formen kollektiver Gewalt zu stülpen – dies im übrigen nicht selten mit relativistischen Motiven.

Die andere wäre die Konzentration auf eine Fallsammlung, auf ein additive Reihung von verschiedenen kollektiven Gewaltverbrechen. Denn solche additiven Verfahren gehen doch häufig mit dem Versuch einher, über wilde und inflationäre Begriffsbildungen und ihre Hierarchisierungen eine Ordnung zu suchen. Hier denke ich an Begriffe wie »genozidales Massaker«, »Ethnozid«, »Politizid«, »Demozid«, »Ökozid« oder an den Begriff »Gendercide«.

Die Entstehung solcher Begrifflichkeiten sowie die Herleitung des Genozidbegriffs aus dem Völkerrecht2 hat in jüngerer Zeit dazu geführt, dass seine Tauglichkeit im Kontext insbesondere historischer Forschung problematisiert worden ist, da die Überführung einer politisch aufgeladenen juristischen Kategorie in die historische Analyse in eine Sackgasse von Typologien und Kategorien zu führen drohe, in ein Ranking von Gewalterfahrungen, in eine Hierarchisierung von Leid. Aus diesen Gründen ist wiederholt angemahnt worden, den Begriff als wissenschaftliche Kategorie aufzugeben. Alternativ wurden Begriffe wie »Massenmord« oder »Massaker« vorgeschlagen.3

Genozid aber ist kein solcher Begriff, der die besondere Schrecklichkeit einer Gewalt benennt, fast könnte man sagen: auszeichnet. Folglich besteht das Ziel der Genozidforschung auch nicht darin, Opferzahlen zu quantifizieren und über historische Analysen die Schwere einer Tat festzustellen, um dies schließlich mit dem Begriff »Genozid« zu etikettieren. Im Gegenteil wurde der Begriff geschaffen, um die Struktur einer Gewaltpolitik zu charakterisieren, wobei im Zentrum des Interesses eben das Politische der Gewalt steht. Anliegen der Genozidforschung ist es einerseits auf die differenten Strukturen von Gewaltpolitiken aufmerksam zu machen sowie Genozidpolitik in einem erweiterten gesellschaftlichen Rahmen zu betrachten und andererseits detaillierte Einzelstudien zu weniger erforschten Akten kollektiver Gewalt durchzuführen.

So umfasst das Arbeitsgebiet der Genozidforschung heute drei Aufgabenbereiche: 1. die historische Einzelfallanalyse; 2. interdisziplinäre, komparative Untersuchungen zu einzelnen Strukturen, Institutionen, Prozessen, Ideologemen oder Motivationen im Genozid und 3. Analysen zu den Wissensmustern, Identitätsbildern und Identitätsentwürfen moderner Gesellschaften. Gerade mit den beiden zuletzt genannten Aspekten erweitert die Perspektive der Genozidforschung die bisherigen historischen Analysen über Gewaltprozesse um ein komplexes Analysefeld. Es sind die sozialpsychologischen Aspekte der Intention der Täter, ferner die Verwicklung des Einzelnen in die Gewaltpolitik, die Rückbindung der Gewaltpolitik an verbindliches Wissen und gültige Diskurse, sowie die verursachten Nachfolgen, die – in Einzelaspekten – sowohl für die Einzelfallforschung, als auch für komparative Analysen zugänglich gemacht werden.

4.

Im Zeitalter der immer noch von kollektiver Gewalt gezeichneten globalisierten Weltgesellschaft, die allerdings weitgehend (national)staatlich verfasst und deren Ringen um regionale Stabilität weiterhin am Gedanken homogener Staatlichkeit orientiert ist, sind wir dabei besonders davon herausgefordert, dass wir zwar von einer historischen Verpflichtung an ein »Nie wieder« gesprochen haben, doch zugleich keine Regungen erkennen lassen, den Genozid in Darfur als Problem wahrzunehmen. Zu leicht willigen wir ein in eine allgemeine Rede über Weltrisiken, Konfliktrisiken, Politikrisiken, Gewaltrisiken, Umweltrisiken; zu leicht akzeptieren wir auch heute noch, unter dem hohen Ziel regionaler Stabilität und der Verlässlichkeit politischer Ansprechpartner und Absprachen, homogenisierende, ja gewaltvoll homogenisierende Staatenbildungen. Es ist daher auch eine Forschungsaufgabe der strukturvergleichenden Genozidforschung, die aktuelle Konzentration auf eher enthistorisierte Konfliktbetrachtungen zu prüfen und die Problematik einer Fokussierung von Dynamiken der Gewalt selbst zu erörtern und darauf aufmerksam zu machen, eben nicht nur das Risikopotential zu analysieren, das letztlich die Opfergruppen als Minderheiten womöglich in sich tragen, sondern die Motivationen der Täter wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Nicht zuletzt macht die Genozidforschung somit auch auf Fehlstellen in öffentlichen und politischen Diskursen aufmerksam.

Ihr hier nur kurz skizziertes Forschungsfeld ist ebenso transdisziplinär wie spezifisch. Es wirft aber auch sehr grundsätzliche Fragen für die Grundlagenforschung der einzelnen Disziplinen auf, um sich dem komplexen Geflecht von Wissen, Diskurs und politischem Handeln anzunähern, die Ursachen kollektiver und staatlicher Gewalt nicht zu schnell in zwangsläufigen Kausalzusammenhängen von Ethnizität und Konflikt, Ausgrenzung und Gewalt zu typisieren, sondern auch Absichten und Strategien zu berücksichtigen – und damit auch zu sehen, dass wir uns mit den Wissensgrundlagen moderner Gesellschaften beschäftigen müssen. Nicht zuletzt – und dies ist eine besonders schwer zu akzeptierende Herausforderung – weist die Genozidforschung darauf hin, dass viele der Wissensgrundlagen in den Legitimationen von Genozid auch heute noch gültig sind. Die Aktualität der Genozidforschung ist darin begründet, dass es auch heute noch möglich ist, Völkermord zu denken.

Anmerkungen

1) Vgl. zu den folgenden definitorischen Eingrenzungen ausf.: Dabag, Mihran (2005): Modern Societies and Collective Violence: The Framework of Interdisciplinary Genocide Studies, in: Graham C. Kinloch/Raj P. Mohan (Hrsg.): Genocide: Approaches, Case Studies and Responses. New York, S.37-62, hier S.41ff. Dort finden sich auch weitere, sicherlich notwendige definitorische Eingrenzungen, etwa gegenüber Krieg und Bürgerkrieg.

2) Geprägt wurde der Neologismus »Genozid« von dem Völkerrechtler Raphael Lemkin in seinem 1944 veröffentlichten Bericht Axis Rule in Occupied Europe (Washington D.C. 1944) über die nationalsozialistische Besatzungspolitik im Osten Europas. Lemkin war dann auch zentral an der Formulierung der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord« beteiligt, die am 9. Dezember 1948 verabschiedet wurde. In der Konvention wird »Genozid« explizit als strafrechtlicher Tatbestand definiert, nämlich als eine Handlung, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.«

3) Vgl. etwa Sémelin, Jacques (2007): Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg.

Prof. Dr. Mihran Dabag ist Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum

Den Krieg von außerhalb führen

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Die Rolle der Diaspora im Krieg in Sri Lanka

von Camilla Orjuela

Es war beeindruckend, die Menge von wohl zehntausend Tamilen in einer Veranstaltungshalle in London im vergangenen November zu sehen. Sie hatten sich versammelt, um der Märtyrer des Kampfes um die Befreiung des tamilischen Heimatlandes aus der Gewalt des Staates Sri Lanka zu gedenken. Die Tamilen, die sich aufgestellt hatten, um ihre gefallenen Helden mit Blumen zu ehren, waren noch relativ neu in London, nachdem sie der Not des kriegs-zerrütteten Sri Lanka entkommen waren. Das mindeste, was sie tun konnten, so dachten viele von ihnen, war die ökonomische Unterstützung des tamilischen Freiheitskampfes aus der Distanz und die Bezeugung von Respekt gegenüber den Freiheitskämpfern.

Der Fall Sri Lanka hat oft als Beispiel dafür gedient wie Gemeinschaften in der Diaspora bewaffnete Konflikte anheizen. Dies bezieht sich auf die beträchtlichen Summen, die von im Ausland lebenden Tamilen für die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) gesammelt werden, die als Guerillaorganisation seit mehr als einem Viertel Jahrhundert Krieg gegen die Regierung Sri Lankas für die Selbstbestimmung im Nordosten der Insel führt. Gleichzeitig gibt es innerhalb der aktuellen Forschung und Politik eine Gegenbewegung, die nach den positiven Beiträgen fragt, die die Diaspora für den Frieden in ihrer früheren Heimat leisten können, so beispielsweise durch die Förderung der Aussöhnung und des Dialogs über konflikt-induzierte Grenzziehungen hinweg, durch die Einflussnahme auch zentraler Akteure im Heimatland oder – auf internationaler Ebene – durch die Übernahme aktiver Friedensarbeit und durch die Finanzierung von Entwicklung und Wiederaufbau. Dieser Beitrag hebt die Komplexität hervor, die die Beziehungen zwischen Gewaltkonflikten, Friedensstiftung und dem Engagement der Diaspora charakterisieren, indem er die vielfältigen und gelegentlich widersprüchlichen Rollen untersucht, die MigrantInnen aus den beiden bedeutendsten ethnischen Gruppen – Singhalesen und Tamilen – im fortdauernden Krieg in Sri Lanka spielen.

Der Krieg und die Diaspora aus Sri Lanka

Der Krieg in Sri Lanka wird seit 1983 geführt und hat über 70.000 Leben gefordert. Seitdem die Gewalt im Jahr 2006 dramatisch eskaliert ist, sind über 5.000 Menschen umgekommen, während die Zahl der Entführungen, Fälle von Rekrutierung von Kindern und Angriffe auf Zivilisten anwächst. Während all der Jahre hat es zahlreiche Versuche gegeben, einen Frieden auszuhandeln. Der Friedensprozess, der im Jahr 2002 zwischen der Regierung Sri Lankas und der LTTE mit Unterstützung Norwegens begonnen wurde, hatte nach dem bis dahin vielversprechendsten ausgesehen und zum längsten Waffenstillstand seit Beginn des Krieges geführt. Dennoch brachen die Friedensinitiative und der Waffenstillstand aus einer Reihe von Gründen allmählich zusammen, die mit der Machtbalance zwischen und in den wichtigsten Konfliktparteien, einem Regierungswechsel, singhalesischer nationalistischer Kritik, einer Spaltung bei den LTTE, wiederholten Verstößen gegen den Waffenstillstand und wachsendem Misstrauen zusammenhingen.

In Sri Lanka machen die Singhalesen drei Viertel der Bevölkerung und die Tamilen etwa 18% aus – die sogenannten Indien-Tamilen eingeschlossen, die in den Teeanbaugebieten leben. In der Diaspora in den westlichen Ländern sind die Tamilen jedoch weitaus zahlreicher als die Singhalesen. Die Tamilen können als ein aus dem Konflikt entstandene Diaspora gelten, da ein großer Teil der Migration mit dem Krieg zusammenhängt, der die Tamilen überproportional getroffen hat. Allerdings war der Krieg nicht die einzige Motivation zur Migration. Frühere Generationen sind nach Europa, Nordamerika und Australien ausgewandert, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Seitdem hat es im Zusammenhang mit der tamilischen Migration eine Kombination von ökonomischen und politischen Gründen sowie den Aspekt der Familienzusammenführung gegeben (Fuglerud 1999; Valentine 1996). Tamilen finden sich heute insbesondere in Kanada, Indien, der Schweiz, Norwegen, Großbritannien, den USA und in Australien.

Die Tamilen in der Diaspora pflegen einen »Fern-Nationalismus«. In einigen tamilischen Gebieten wie etwa Scarborough, Toronto, sind Tamilen so zahlreich, dass sie sich in ihrem neuen Wohnort eher als Mehrheit denn als Minderheit fühlen mögen. In diesen Gegenden, aber auch in Gebieten mit weniger Tamilen wird die tamilische Gemeinschaft durch enge Netzwerke und Kommunikationkanäle aufrecht erhalten. Die Bewahrung tamilischer Kultur wird von vielen als wichtig angesehen; Kinder lernen die tamilische Sprache und traditionelle Tänze und es gibt eine Vielzahl tamilischer Geschäfte, Restaurants sowie Fernseh- und Radiostationen. Die LTTE bzw. ihnen nahestehende Gruppen sind zweifellos in der Diaspora vertreten und die Sammlung von finanziellen Ressourcen für die Unterstützung des bewaffneten Kampfes wird durch ein sehr effizientes Netzwerk geleistet (vgl. Human Rights Watch 2006). Tamilen leisten zudem erhebliche ökonomische Beiträge an das Heimatland durch ihre Überweisungen an Familienangehörige und ihr Engagement in humanitären und Entwicklungsorganisationen (vgl. van Hear 2002; Bivand Erdal 2006).

Die Singhalesen sind keine aus einem Konflikt entstandene Diaspora, obwohl einige Sri Lanka aus politischen Gründen verlassen haben. Die meisten im Ausland lebenden Singhalesen sind Arbeitsmigranten im Nahen Osten mit häufig befristeten Verträgen. Diejenigen in Nordamerika, Europas und Australien sind meist ausgewandert, um dort zu studieren oder zu arbeiten. Die meisten Singhalesen halten sich – abgesehen vom Nahen Osten – in Kanada, Italien, Großbritannien und Australien auf. Einige von ihnen sind in die Politik ihres Heimatlandes engagiert und betrachten den Kampf der Tamilen als Bedrohung für die singhalesische Identität und die Einheit der heiligen buddhistischen Insel Sri Lanka. Es existieren Organisationen, die die Singhala-Kultur bewahren sollen, sich für »Frieden« engagieren und »das Mutterland schützen« wollen. Von Seiten der Diaspora werden in gewissem Umfang auch nationalistische singhalesische Organisationen und politische Parteien in Sri Lanka finanziert.

Krieg führen in internationalem Rahmen

Während es beim Krieg in Sri Lanka sicherlich auch um einen Kampf zur Kontrolle von Territorium geht – die LTTE kontrollieren gegenwärtig einen erheblichen Teil des Landes im Norden Sri Lankas -, ist der Konflikt zwischen den LTTE und der Regierung Sri Lankas auch ein Kampf um internationale Unterstützung. Die beiden Kriegsparteien streben für ihre jeweilige Sichtweise der Konfliktursache und der angestrebten Konfliktlösung nach internationaler Anerkennung. Die Regierung Sri Lankas begründet ihren Kampf mit der Notwendigkeit, die Souveränität des Staates zu sichern und sucht internationale Unterstützung für ihren Kampf gegen den von ihr als LTTE-Terrorismus bezeichneten Gegner. Die LTTE wiederum bezeichnet ihr Handeln als Befreiungskampf und bezieht sich dabei auf das Recht aller Völker auf Selbstbestimmung. Die Bezeichnung der LTTE im internationalen Kontext als »Freiheitskämpfer« oder als »Terroristen« hat weit reichende Auswirkungen auf die Finanzierung und damit auf die militärische Stärke und die Machtbalance zwischen den kriegführenden Parteien sowie für die Möglichkeiten einer zukünftigen Konfliktlösung.

Gruppen und Individuen in der Diaspora spielen durch ihre Fürsprache, die Verbreitung von Informationen – viele der Internetseiten mit Informationen über Sri Lanka werden von der Diaspora betrieben -, die unmittelbare Beteiligung an Politik (z.B. als Kandidaten oder Unterstützer von Politikern in den Aufnahmeländern, insbesondere wo Tamilen einen beträchtlichen Teil der Wählerschaft stellen) und durch öffentliche Demonstrationen eine wichtige Rolle in diesem »Krieg« um Legitimation. Auf diese Weise lenken Gruppen in der Diaspora die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka und tragen dazu bei, den Krieg in Sri Lanka auf die Agenda westlicher Regierungen, internationaler Organisationen und der allgemeinen Öffentlichkeit in den Ländern, in denen sie eine neue Heimat gefunden haben, zu heben oder dort zu halten. Dadurch beeinflussen und gestalten sie die Diskussion um den Konflikt mit. Die Polarisierung zwischen den verschiedenen Konfliktpositionen – insbesondere zwischen denen, die die LTTE als Freiheitskämpfer sehen, und denen, für die sie Terroristen sind – spiegelt sich in den Aktivitäten der Diaspora und den (selektiven) Informationen, die verbreitet werden. Tatsächlich hat es eine Politisierung der Menschenrechte und der humanitären Katastrophe in Sri Lanka gegeben, da beide Kriegsparteien und ihre UnterstützerInnen systematisch nur auf die jeweils von der gegnerischen Seite begangenen Menschenrechtsvergehen verweisen, um den eigenen Kampf zu rechtfertigen und den Gegenüber zu diskreditieren.

Die zahlenmäßige Stärke der Tamilen, ihre häufig stark nationalistische Überzeugung und das gut entwickelte Netzwerk der LTTE (und der sie unterstützenden Organisationen) hat die Tamilen in die Lage versetzt, ihre Perspektiven international wirksamer vorzubringen als die Singhalesen. Allerdings nutzt die Regierung Sri Lankas die Botschaften zu Propaganda- und Lobbyzwecken – gelegentlich in Kooperation mit Gruppen der Singhalesischen Diaspora. Im Jahr 2006 stufte die EU die LTTE als terroristische Organisation ein; in den USA, Kanada und Indien ist die LTTE ebenfalls verboten. Die Entscheidungen zum Verbot der LTTE sind in gewissem Umfang wahrscheinlich durch die Fürsprache singhalesischer und tamilischer Anti-LTTE-Gruppen in der Diaspora beeinflusst worden. Als das EU-Verbot in Kraft trat, forderte die LTTE alle Mitglieder der skandinavischen Gesandtschaft, die den Waffenstillstand überwachten, zum Verlassen des Landes auf, da sie nicht neutral seien und ein Hindernis für den ohnehin schwachen Friedensprozess darstellten. Folglich war aus der Perspektive der LTTE das Verbot der EU der letzte Nagel im Sarg des Friedensprozesses. Aus Sicht der Regierung Sri Lankas andererseits waren die Razzien gegen vermutete LTTE-Aktivisten in den USA, Frankreich und Großbritannien im Verlaufe des Jahres 2007 ein Schritt in Richtung Frieden, weil sie die LTTE schwächten.

Zusätzlich zu dem hoch polarisierten nationalistischen Aktivismus beider Seiten in der Diaspora gibt es auch Gruppen in der Diaspora, die für eine gewaltlose, politische Lösung des Konflikts eintreten und die die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsverletzungen beider Seiten lenken (vgl. etwa www.lankademocracy.org). Allerdings sind diese Anstrengungen klein im Vergleich zu der polarisierten Propaganda anderer, lautstarker Diaspora-Gruppen und sie werden von beiden Seiten als Verrat angesehen.

Die LTTE beanspruchen, alleinige Vertreter des tamilischen Volkes zu sein; es gibt ein starkes Gefühl, dass die Einheit der Tamilen für einen wirksamen Freiheitskampf notwendig ist. Dies hat freilich zu einer Situation geführt, in der es nicht möglich ist, die LTTE oder deren Methoden zu kritisieren. Die Kontrolle der LTTE über die Tamilen reicht bis in die Diaspora. Allerdings ermöglichen die Redefreiheit und die größere Sicherheit in den westlichen Ländern Raum für abweichende Meinungen gegen die LTTE sowie für Versuche, einen mittleren Weg zwischen den polarisierten Pro- und Anti-LTTE-Positionen zu finden. So wurde die Ansicht vertreten, dass das Erleben von Demokratie durch im Westen ansässige Tamilen dazu genutzt werden könne, die LTTE zu einer Demokratisierung des nord-östlichen Sri Lanka zu bewegen. Mit seiner stark hierarchisierten Führungsstruktur im Norden Sri Lankas übt die LTTE mehr Einfluss auf die Diaspora aus als andersherum. Allerdings lässt die starke Präsenz von Tamilen aus der Diaspora bei den jüngsten Friedensverhandlungen und beim Prozess der Formulierung eines LTTE-Entwurfs für eine Übergangsregierung vermuten, dass Tamilen aus der Diaspora an hochrangigen Diskussionen über die Ziele und Strategien der LTTE mitwirken – zumindest während Waffenstillständen.

Wiederaufbau und Entwicklung im Heimatland

Beiträge aus der Diaspora zur Entwicklung und zum Wiederaufbau von Gebieten in den Heimatländern, die vom Krieg zerstört wurden, sind häufig als »Friedensstiftung« bezeichnet worden. Allerdings sind Entwicklung und Wiederaufbau hoch politisch, insbesondere im Krieg oder in einer Nachkriegssituation. Und es kann nicht angenommen werden, dass Geldüberweisungen oder Initiativen aus der Diaspora zum Wiederaufbau von Häusern und Schulen usw. notwendig einen konfliktpräventiven und/oder konfliktlösenden Effekt haben. Wie bei allen Entwicklungsinitiativen hat auch die aus der Diaspora unterstützte ökonomische Entwicklung das Potenzial zum Abbau von Konflikten und zur Unterstützung friedlicher Kooperation – oder zur negativen Beeinflussung der Konfliktsituation, indem militante Akteure und Strukturen oder zunehmende Konkurrenz und Frustration gestärkt werden, die Gewaltanwendung motivieren können.

Aus der Diaspora initiierte Geldtransfers und Entwicklungsprojekte kompensieren bis zu einem gewissen Grade ungleiche Entwicklungsmuster in Sri Lanka, indem marginalisierten Gruppen in armen Regionen (im Süden und im Nordosten) Ressourcen und Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Die verzeichneten Finanzüberweisungen nach Sri Lanka beliefen sich im Jahr 2004 auf $ 1,3 Milliarden, pro Kopf die höchsten in Südasien. Sie machten mehr als das Doppelte der Direktinvestitionsströme aus und kamen nach der Textilindustrie an zweiter Stelle der Ausfuhrgewinne (Lasagabaster, Maimbo, & Hulugalle 2005: 3). Viele dieser Überweisungen stammen von Arbeitsmigranten im Nahen Osten, stellen Einkommen für arme bäuerliche Familien dar und werden vor allem für das tägliche Überleben benötigt (Van Hear 2002).

Solche Geldüberweisungen und die Tätigkeit der aus der tamilischen Diaspora unterstützten humanitären und Entwicklungsorganisationen gleichen zum Teil das Fehlen privater oder öffentlicher Investitionen in den tamilischen Gebieten Sri Lankas aus. Dies kann Frustrationen verringern, die das Risiko in sich tragen, politisiert und zur Unterstützung des Kriegszwecks mobilisiert zu werden.

Freilich scheinen die Möglichkeiten der Diaspora, Geld für Alternativen zu einer kriegerischen Beschäftigung und zur Abhängigkeit von den kämpfenden Parteien zur Verfügung zu stellen, bisher nur in begrenztem Umfang realisiert zu sein. Während Entwicklungsorganisationen in gewissem Umfang neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen, geht der Großteil des Geldes aus der Diaspora aufgrund der unsicheren Situation in privaten Konsum und Unterstützungsleistungen statt in langfristig angelegte Entwicklung und Beschäftigung. Geldüberweisungen und andere Einkommen der Diaspora sind wesentliche Ziele für bewaffnete Gruppen, die Zivilisten in den Kriegsgebieten erpressen bzw. besteuern. Das Ausmaß, in dem mit Überweisungen der Diaspora bewaffnete Gruppen direkt oder indirekt unterstützt werden, bedarf weiterer Untersuchungen.

In vielen Dörfern in dem vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Norden ist die Unterstützung aus der Diaspora eine wichtige Quelle für die Entwicklung und die Wohlfahrt. Aber die Einkommen aus der Diaspora können auch neue Ungleichheiten hervorrufen, wenn die Trennungslinie zwischen den Armen und den relativ Vermögenden zwischen denen gezogen wird, die Verwandte im Ausland haben, und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist. Ein weiteres Beispiel für eine durch die Diaspora beeinflusste ungleiche Entwicklung ist das Verhältnis zwischen dem Norden und dem Osten. Da es in der Diaspora eine Dominanz von Personen aus dem Norden gibt, fließen auch deutlich mehr Finanzmittel in diese Gebiete, während der ohnehin vernachlässigte Osten weiter zurückfällt. Die Vernachlässigung des Ostens durch die LTTE-Führung war ein Grund für die Spaltung der LTTE im Jahr 2004.

Ein weiteres Beispiel, wie die Handhabung von Entwicklung und Fürsorge Konflikte verschlimmern kann, zeigen die Nachwehen des Tsunami. Die spontanen Formen der über die ethnische Zugehörigkeit hinausgehenden Solidarität auf lokaler Ebene unmittelbar nach der Katastrophe wurden nicht durch freundliche Beziehungen und Kooperation auf der Makro-Ebene ergänzt. Im Gegenteil: Die Politik des Wiederaufbaus hat die nationalistischen Diskurse auf beiden Seiten gestärkt, was in der Folge wiederum Misstrauen und ein Gefühl ethnischer Diskriminierung an der Basis förderte (vgl. Sirisena 2005). Die LTTE beschuldigten die Regierung, die vom Tsunami betroffenen tamilischen Gebiete zu vernachlässigen und mobilisierten die Unterstützung der Diaspora, indem sie argumentierten, dass die LTTE und die tamilische Diaspora die einzigen Erlöser der notleidenden Tamilen seien. Das Versagen, einen gemeinsamen Mechanismus zur Verteilung der Spendengelder im Nordosten zu finden, gab den LTTE eine Rechtfertigung für diese Anklage. Die LTTE wurden im Gegenzug des Versuches beschuldigt, die in der Diaspora gesammelten Tsunami-Gelder zu monopolisieren, indem Unterstützung in Misskredit gebracht wurde, die nicht durch von den LTTE gebilligte oder kontrollierte Kanäle ging (vgl. UTHR-J 2005). Bei beiden Parteien ist es wahrscheinlich, dass sie den Zufluss an Finanzmitteln zum Wiederaufbau ihrer militärischen Stärke verwandt haben.

Schlussfolgerung: Beiträge der Diaspora zum Frieden?

Die verschiedenen Arten, in denen sich Tamilen und Singhalesen, die aus Sri Lanka ausgewandert sind, in der Politik ihrer Heimat engagieren legt die Vermutung nahe, dass es keine klare Antwort auf die Frage gibt, ob Gruppen in der Diaspora einen Beitrag zum Krieg oder zum Frieden leisten. Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen, dass eine Diaspora kein einheitlicher Akteur ist, der sich in den Konflikten in Sri Lanka auf nur eine Weise betätigt. Vielmehr gibt es zahlreiche verschiedene Auseinandersetzungen und politische Projekte in »einer Diaspora« und wir müssen aufmerksam gegenüber der Art und Weise sein, in denen Aspekte wie Geschlecht, Generationenzugehörigkeit, Aufenthaltsland usw. die Arten beeinflussen, in denen sich Menschen in und in Beziehung zu ihren Heimatländern engagieren.

Um die Rolle der Diaspora bei der Friedensstiftung zu ermessen, müssen wir auch klar bestimmen, was mit einem »Beitrag zum Frieden« gemeint ist. In Sri Lanka argumentieren die meisten Akteure, dass sie danach streben, einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Die LTTE behaupten, dass sie Freiheitskämpfer sind und wahrer Frieden eintreten wird, wenn die tamilische Minderheit im Nordosten des Landes ihre Selbstbestimmung erhält – möglicherweise in Gestalt eines eigenen Staates. Die Regierung Sri Lankas und singhalesische Nationalisten argumentieren andererseits, dass der Konflikt ein terroristisches Problem ist und dass Frieden am besten durch die Vernichtung der Terroristen – d.h. der LTTE – zu erreichen ist. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine große Bandbreite von Ideen, was Frieden ist und wie er erreicht werden sollte.

Eine beunruhigende Verzerrung in der beginnenden Diskussion um den Beitrag der Diaspora zu Friedensprozessen ist die Tendenz, Frieden als »Stabilität« und »Ende der Gewalt« zu bezeichnen statt als »soziale Gerechtigkeit« und »Respekt vor den Menschenrechten«. Es gibt eine starke Voreingenommenheit gegenüber der Finanzierung von bewaffneten Konflikten (oder »Terrorismus«) aus der Diaspora und ein – zuweilen naives – Verlangen der Ermunterung von »Dialog« und »Verständigung«. Wenn Politiker sich bemühen, die Finanzierung bewaffneter Akteure durch die Diaspora zu unterbinden, während sie für Dialogaktivitäten eintreten, gehen sie das Risiko ein, die den Konflikten zugrundeliegenden Ursachen zu übersehen. Häufig wird eine implizite Trennung zwischen den »schlechten« Gruppen in der Diaspora, die terroristische Gruppen unterstützen, und den »guten« gemacht, die den inter-ethnischen Dialog fördern oder die politische Opposition in undemokratischen Staaten unterstützen. Was ein legitimer Kampf ist, wird tendenziell auf dem Wege unüberwindlicher Abneigung durch die internationale Gemeinschaft definiert. Daher müsste eine ernsthafte Diskussion über Beiträge, die die Diaspora für den Frieden leisten kann, ihren Ausgangspunkt in einer expliziten und kritischen Diskussion darüber haben, welche Art von »Frieden« gewünscht und machbar ist. Eine vereinfachende Kategorisierung von Gruppen in der Diaspora in »gut« und »böse« ist irreführend. Stattdessen müssen wir die Politik der Diaspora als komplexen Prozess betrachten, der schließlich zur Deeskalation von Krieg und zu gerechten und dauerhaften Lösungen von politischen Konflikten beiträgt oder auch nicht.

Literatur

Bivand Erdal, M. (2006): Contributing to development? Transnational activities among members of the Tamil diaspora in Norway. Masterarbeit in Human Geography, Universität Oslo.

Fuglerud, Ø. (1999): Life on the outside: The Tamil Diaspora and Long Distance Nationalism. London.

Human Rights Watch (2006): Funding the »Final War«. LTTE Intimidation and Extortion in the Tamil Diaspora, 18 (1).

Lasagabaster, E./Maimbo, S.M./Hulugalle, S. (2005): Sri Lanka's Migrant Labor Remittances: Enhancing the Quality and Outreach of the Rural Remittance Infrastructure, World Bank Policy Research Working Paper 3789. Washington, D.C.

Sirisena, M. (2005): Old Habits Die Hard: Nationhood in the Aftermath of Tsunami, in Polity, 2 (4), S.11-12.

UTHR-J (2005): A Tale of two Disasters and the Fickleness of Terror Politics. Information Bulletin no. 37. Colombo: University Teachers for Human Rights – Jaffna.

Valentine, D. (1996): Charred Lullabies: Chapters in an Anthropography of Violence. Ewing, NJ.

Van Hear, N. (2002): Sustaining societies under strain: Remittances as a form of transnational exchange in Sri Lanka and Ghana, in: Al-Ali, N./Koser, K. (Hrsg.): New Approaches to Migration? Transnational Communities and the Transformation of Home. London/New York.

Anmerkung

Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Sri Lanka, Kanada, Großbritannien und Norwegen, die vom Schwedischen Forschungsrat finanziell gefördert wurden.

Dr. Camilla Orjuela forscht und lehrt an der School of Global Studies der Universität von Göteborg, Schweden
Übersetzung: Fabian Virchow

Flüchtlinge und das Studium von Bürgerkrieg

Flüchtlinge und das Studium von Bürgerkrieg

von Idean Salehyan

Staatliche Repression, Aufstände und Bürgerkriege haben häufig verheerende Konsequenzen für Gesellschaften, die durch Gewalt geschädigt werden. Solche Phasen sozialer Umbrüche rufen häufig massive Bevölkerungsverschiebungen hervor, da die Individuen gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen und anderswo physische Sicherheit zu suchen. Massenhafte Bevölkerungsverschiebungen haben häufig dauerhafte Auswirkungen auf die Ökonomie, die öffentliche Gesundheitspflege und die sozialen Beziehungen – nicht nur bei den Flüchtlingen selbst, sondern auch in den Herkunfts- und Aufnahmegemeinschaften. Da sich etliche Konflikte zudem einer dauerhaften Lösung entziehen, ziehen sich viele dieser Flüchtlingskrisen über Jahrzehnte hin, in denen die Menschen ohne beständige Bleibe sind.1

Bis vor kurzem haben diejenigen, die zu Bürgerkriegen forschen, erzwungene Migration als einen wichtigen Konfliktfaktor übersehen. Füchtlingsbewegungen über Grenzen und inländische Vertreibungen wurden üblicherweise als unglückliche Auswirkungen der Gewalt und als humanitäre Zwangslage betrachtet und nicht so sehr als Teil der Konfliktdynamik selbst. Theoretische Modelle von Bürgerkriegen berücksichtigen gewöhnlich die Interaktionen zwischen Regierung und Aufständischen2 und ignorieren die Entscheidungen, die von der zivilen Bevölkerung getroffen werden, darunter auch jene zur Flucht. Selbst der Begriff »erzwungene« Migration beinhaltet, dass solche Menschen nur Opfer der Gewalt sind, die nicht über die Handlungsoption zu Entscheidungen verfügen, die ihr Leben beeinträchtigen, statt in ihnen Akteure zu sehen, die strategische, wenn auch schwierige Entscheidungen treffen. Zudem ist der Frage wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, wie Flüchtlingsbewegungen Konfliktprozesse in den Herkunftsländern oder die räumliche Ausbreitung des Konflikts beeinflussen.

Dieser Beitrag behandelt die zunehmende Forschung zu Flüchtlingen und Konflikten. Diese Forschung platziert das Studium erzwungener Migration unmittelbar im Feld der Erforschung politischer Gewalt, indem die komplexe Beziehung von Migration und Konflikten untersucht wird. Flüchtlinge werden dabei als Akteure und nicht einfach nur als Opfer angesehen. Drei grundlegende Aspekte werden im Folgenden behandelt. Erstens werden die Ursachen erzwungener Migration sondiert; zweitens werden die Auswirkungen erzwungener Migration betrachtet und schließlich werden die Antworten der Politik auf erzwungene Migration untersucht.

Politische Gewalt und die Ursachen von Flüchtlingsbewegungen

Die Forschung zu Bürgerkriegen ist in den letzten Jahren aufgeblüht, weil Wissenschaftler anspruchsvolle theoretische und empirische Analysen zu den Anfängen, der Fortdauer und der Lösung von Kriegen durchgeführt haben.3 Eine vielversprechende Forschungslinie strebt danach, die Mikro-Grundlagen individueller Beteiligung an gegen den Staat gerichteter politischer Gewalt aufzudecken.4 Allerdings beschreiben die meisten Untersuchungen die Wahlmöglichkeiten, die Menschen in Zeiten von Bürgerkriegen haben, unvollständig. Wie Albert O. Hirshman in aller Deutlichkeit herausgestellt hat, haben Menschen, die mit dem Status quo unzufrieden sind, die Wahl zwischen Artikulation (Rebellion) und Enthaltung (Emigration).5 Diese Optionen schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus: Viele Flüchtlinge und Diaspora-Gemeinschaften artikulieren sich nach ihrer Flucht durch die Teilnahme an regimekritischen Aktivitäten.

An dieser Stelle sind einige Definitionen notwendig. Die Konvention der UNO zum Status von Flüchtlingen definiert einen Flüchtling als eine Person, die „sich aufgrund wohl begründeter Angst, aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Meinung verfolgt zu werden, außerhalb des Landes seiner Nationalität aufhält und nicht in der Lage – oder aufgrund einer solchen Angst – nicht willens ist, vom Schutz dieses Landes Gebrauch zu machen.“6 Während diese internationale juristische Definition die regierungsseitige Verfolgung gegen Individuen hervorhebt7, ist weitgehend anerkannt, dass auch diejenigen, die allgemeinen Gewaltkonstellationen wie Bürgerkrieg oder Staatsversagen entkommen sind, als Flüchtlinge gelten.8 Zusätzlich zu Personen, die über Staatsgrenzen geflohen sind, fliehen viele Menschen in andere Regionen des Staates. Diese werden als »internally displaced persons« (IDPs) bezeichnet und entbehren des internationalen gesetzlichen Schutzes, welcher internationalen Flüchtlingen geboten wird.

Die allgemeine Vorstellung über Flüchtlingsströme besagt, dass politische Gewalt die Flucht von Menschen verursacht. Allerdings haben Wissenschaftler anspruchsvollere theoretische Betrachtungen erzwungener Migration vorgelegt, die weitere Aspekte wie den Einfluss unterschiedlicher Formen politischer Gewalt auf das Ausmaß der Migration und deren Charakter berücksichtigen. Myron Weiner beispielsweise ordnet Flüchtlingsbewegungen zwischenstaatlichem Krieg, anti-kolonialem Kampf, ethnischem Konflikt, nicht-ethnischem Bürgerkrieg und staatlicher Verfolgung zu und betrachtet die jeweiligen Implikationen.9 Andere haben sich damit befasst, wie ökonomische und politische Bedingungen bei der Produktion von Massenmigration interagieren. Strukturelle Analysen verweisen auf grundlegende Ursachen und ökonomische Faktoren wie Armut, Ungleichheit und Entwicklungsprobleme, die zu politischer Instabilität und Emigration beitragen.10 In diesem Sinne sind ökonomische und politische Gründe für eine Flucht nicht einfach zu trennen.11

In einer wegweisenden statistischen Untersuchung hat Susanne Schmeidl die Gründe für grenzüberschreitende erzwungene Migration länderübergreifend in einer Zeitreihenanalyse betrachtet, die die Jahre 1971-1990 abdeckt.12 Sie berücksichtigt Variablen für Kontextbedingungen, darunter den Grad ökonomischer Entwicklung und Bevölkerungsdruck sowie unmittelbare Gründe wie Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkrieg und ethnischen Konflikt sowie zwischenstaatlichen Krieg. Sie zeigt, dass Genozid, ethnische Kriege und Bürgerkriege – insbesondere im Falle auswärtiger Intervention – signifikant korrelieren mit Fluchtbewegungen. Zudem hat Schmeidl interessante Interaktionseffekte gefunden, die zeigen, dass Armut Flucht verschlimmert, wenn Konflikte gegenwärtig sind.

Davenport, Moore und Poe13 haben darauf aufgebaut, indem sie den zeitlichen Bereich ausgedehnt (1964-1989) und die operativen Indikatoren für Gewalt und Migration verfeinert haben. Die Autoren rücken vom theoretischen Fokus auf strukturelle Gewalt ab, demzufolge das Verhalten von Flüchtlingen als Antwort auf makro-soziale Bedingungen anzusehen ist, und betrachten die Beweggründe von Individuen in Zeiten des Aufruhrs.14 Danach taxieren Menschen ihr Leben, die Freiheit, Besitz, Freunde und Familie und entscheiden sich ihre Heimat zu verlassen, wenn die Bedingungen andernorts ihrer aktuellen Situation vorzuziehen sind. Dieser Fokus auf den Entscheidungsprozess steht in Kontrast zu einer engen Definition dessen, was »erzwungene« Migration impliziert – nämlich, dass Flüchtlinge nicht über Handlungsfähigkeit verfügen -, gleichwohl berücksichtigend, dass die Auswahl unter außergewöhnlich schwierigen Umständen vonstatten geht. Davenport, Moore und Poe haben festgestellt, dass gewaltförmiger Konflikt, Genozid und die Krisenanfälligkeit von Regimen die stärksten Wirkungsvariablen für Flucht sind, während das Bruttosozialprodukt pro Kopf unwesentlich ist.15

Während politische Gewalt als push-Faktor fungiert, der Menschen zur Ausreise veranlasst, müssen die pull-Faktoren in den Zielgebieten ebenfalls berücksichtigt werden. Moore and Shellman analysieren die Wahl zwischen der Flucht über internationale Grenzen oder eine IDP zu werden. Ihre wesentliche Schlussfolgerung ist, dass Regierungen, die mit ihren Maßnahmen auf Zivilisten zielen in größerem Umfang Flüchtlinge als IDPs produzieren als dies bei Bürgerkriegen zwischen Aufständischen und dem Staat der Fall ist. Das ist theoretisch schlüssig, wenn unterstellt wird, dass die wesentliche Aufgabe des Staates darin besteht, physische Sicherheit für seine Bürger bereitzustellen und repressive Regime wenige inländische Zufluchtsorte für diejenigen anbieten, die vor Unheil fliehen. Zudem sind die Umgebungsbedingungen wichtige Wirkungsvariablen für die Flucht über eine Staatsgrenze; insbesondere große Diasporas, hohe Löhne und politische Stabilität in den Zielgegenden erhöhen das Ausströmen von Flüchtlingen.16 In einer anderen Studie von Moore und Shellman betrachten sie die Auswahl internationaler Flüchtlingszielorte unter vollständig dyadischen Rahmenbedingungen, indem sie sowohl die Situation in potenziellen Asylzielorten als auch diejenige in den Herkunftsländern berücksichtigen. Ihre wesentlichen Ergebnisse besagen, dass Flüchtlinge dazu neigen, bereits bestehenden Migrationswellen zu folgen, in die früheren Kolonialmächte zu migrieren und dass Nähe ein wichtiger Einflussfaktor bei der Wahl des Ziels ist.17

Eric Neumayer fokussiert auf die Asylmigration nach Westeuropa und betrachtet die jährliche Zahl von Asylsuchenden nach Herkunftsland. Das Ausmaß politischer Gewalt geht mit einer höheren Zahl von Asylanträgen einher, während ökonomische Faktoren im Herkunftsland, einschließlich höherer Einkommen und Wachstum, die Zahl der Asylsuchenden reduzieren. Neumayer schlussfolgert, dass die Entscheidung zur Migration nach Europa neben politischer Gewalt auch durch die wirtschaftlichen Bedingungen im Herkunftsland beeinflusst wird. Durch die Berücksichtigung der Zielwahl – in diesem Fall Europa – kann Neumayer eine große Wirkung ökonomischer Faktoren zeigen, auf die andere nicht hingewiesen haben.18

Auswirkungen von Flüchtlingsströmen auf bewaffnete Konflikte

Neben den Ursachen für Fluchtbewegungen haben Forscher ihre Aufmerksamkeit auch den Konsequenzen der Migration für die Entsenderegionen, für die Gastgeber und die Beziehungen zwischen beiden zugewandt. Myron Weiner war einer der ersten, der internationale Migration – sowohl Arbeitsmigration als auch Flüchtlingsströme – in einem Sicherheitsbezugssystem diskutierte. Er argumentiert, dass Migration in den Fällen „Konflikte mit und zwischen Ländern generiert“19, bei denen Migranten gegen ihr Heimatland mobil machen, sich an Gewalt gegen ihr Gastland beteiligen und wenn sie als kulturelle oder ökonomische »Bedrohung« angesehen werden. Zahlreiche weitere Wissenschaftler haben einen besonders großen Einfluss von Flüchtlingen auf die Sicherheitslage beobachtet.20 Während humanitäre Angelegenheiten von primärer Bedeutung sein sollten, müssten sich Forscher und politische Entscheidungsträger auch auf die möglichen Sicherheitsrisiken einstellen, die von erzwungener Migration ausgehen.

Zahlreiche Untersuchungen befassen sich mit der Verstrickung von Flüchtlingen in Kombattantengruppen, mit den sogenannten »Flüchtlingskriegern«. Zolberg, Suhrke und Aguayo gehörten zu den ersten, die darauf hingewiesen haben, dass Flüchtlingsgemeinschaften häufig vorzügliche Rekrutierungsgebiete für Kämpfer gewesen sind.21 Flüchtlinge klagen häufig über den Staat, aus dem sie geflohen sind, aufgrund der erlittenen Einbußen; sie haben geringe Opportunitätskosten, wenn sie sich einer Rebellenbewegung anschließen. Zahlreiche Fälle von Gemeinschaften von »Flüchtlingskriegern« illustrieren dieses Phänomen: Afghanen in Pakistan, ruandische Hutus im Congo, Kambodschaner in Thailand und Sudanesen im Tschad, um nur einige zu nennen.

Sarah Lischer hat einen bedeutenden Beitrag zum Studium erzwungener Migration geleistet, indem sie nach den Umständen gefragt hat, bei denen Flüchtlinge am ehesten militarisiert werden.22 Sie argumentiert, dass die Umstände, die zur Flucht geführt haben, ein bedeutender Faktor für nachfolgende Gewaltanwendung sind. Zu den exiliierten Flüchtlingen gehört früheres militärisches oder politisches Leitungspersonal – wie etwa ehemalige ruandische Militärs in der DR Congo; diese sind am ehesten gewaltgeneigt, weil sie über die Organisation verfügen, die für eine Rebellion notwendig ist. Lischer argumentiert zudem, dass das Gastland des Flüchtlings und die internationalen Hilfsorganisationen kritische Faktoren zur Entschärfung eines Konfliktes sind; denn Staaten, die dazu bereit und in der Lage sind, können putschistische Mobilisierungen verhindern und Hilfsorganisationen sollten die Verteilung von Ressourcen an Kämpfer unterbinden.23

In einer früheren Arbeit habe ich zahlreiche dieser Argumente quantitativ überprüft.24 Aufständische sind häufig in der Lage, über die Staatsgrenzen hinweg zu mobilisieren, wo die Sicherheitskräfte sie nicht so einfach bändigen können. Flüchtlingsgemeinschaften stellen besonders attraktive Gebiete für die Mobilisierung von Aufständischen dar, da sich diese politischen Akteure jenseits des Wirkungsbereichs staatlicher Gewaltmittel befinden. Die Ergebnisse zeigen, dass Flüchtlinge in Nachbarstaaten signifikant zur Verlängerung von Bürgerkriegen beitragen, insbesondere dann, wenn sie sich in Staaten aufhalten, die politisch oder militärisch mit dem Herkunftsstaat konkurrieren. Dies legt zudem nahe, dass die Politik von Gastländern die Aktivitäten von »Flüchtlingskriegern« schüren kann, je nachdem wie sich die bilateralen Beziehungen darstellen.

Während diese Untersuchungen sich mit der Beziehung von erzwungener Migration und Konflikt in den Entsendestaaten befassen, haben Flüchtlinge auch bedeutende Auswirkungen auf die Aufnahmegebiete. Vertriebene Personen können eine ökonomische Belastung für die Aufnahmeregionen sein, indem sie knappe Ressourcen in Anspruch nehmen und darüber mit Ortsansässigen in Konkurrenz treten. Adrian Martin hat in Äthiopien den Nachweis gefunden, dass die einheimischen Gemeinschaften häufig besorgt über die ökonomischen Auswirkungen sind, die die aufgenommenen Flüchtlingsgemeinschaften mit sich bringen.25 Ein Bericht der Weltbank hat zudem angemerkt, dass es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und der Ausbreitung von infektiösen Krankheiten wie etwa Malaria und HIV/AIDS gibt.26 Kriegsflüchtlinge können zusätzliche Bürden für Gesundheitsinfrastruktur und Hospitäler darstellen, die oft nicht darauf eingerichtet sind, mit großen Bevölkerungszuwächsen umzugehen – und ganz besonders nicht mit den besonderen Anforderungen, die sich aus erzwungener Migration ergeben.

Salehyan und Gleditsch zeigen einen direkteren Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und politischer Gewalt in den Gastländern.27 Wir argumentieren, dass Flüchtlinge durch ihre eigene geographische Mobilität und durch die Etablierung von Verbindungen mit potenziellen einheimischen Aufständischen verwandter ethnischer Gruppen oder politischer Fraktionen zur Ausbreitung von sozialen Netzwerken von Aufständischen in die Gastgesellschaften beitragen.

Zudem können negative externe Effekte von Flüchtlingen auf die Ökonomie und die demographische bzw. ethnische Balance in den Gastgebieten zu örtlicher Unzufriedenheit führen. In einer quantitativen Analyse für den Zeitraum 1951-2001 haben wir festgestellt, dass die Aufnahme von Flüchtlingen aus benachbarten Staaten das Risiko von inländischen Konflikten signifikant erhöht.

Reaktionen auf Flüchtlinge

Flüchtlingsströme führen auch zu politischen Reaktionen auf Seiten der asylgewährenden Staaten, multilateraler Organisationen und der internationalen Gemeinschaft im Besonderen. Während zahlreiche Autoren die Bedeutung von Menschenrechtsdiskursen für den Schutz verletzbarer Personen einschließlich von Flüchtlingen betont haben28, verwiesen andere darauf, dass die Akzeptanz von Flüchtlingen und Asylsuchenden mehr ist als eine humanitäre Aktion29. Unerwartete Massenmigration kann erhebliche ökonomische und wirtschaftliche Lasten für die Gastregionen bedeuten. Sie kann ebenfalls die Beziehungen zwischen Staaten aufs Spiel setzen, wenn die Aufnahme von Flüchtlingen bedeutet, Menschenrechtsverletzungen im Herkunftsland anzuerkennen und Dissidenten Schutz zu gewähren. Daher müssen Staaten die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes gegen die potentiellen Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen abwägen.

Karen Jacobsen liefert eine umfassende Übersicht über die Bestimmungsgrößen einer liberalen gegenüber einer restriktiven Asylpolitik.30 Sie befasst sich mit mehreren Faktoren, darunter den Beziehungen zwischen Entsende- und Aufnahmestaat, dem Einfluss internationaler Flüchtlingsschutzregime, der örtlichen Aufnahmekapazität des Gastlandes, dem Potenzial von Sicherheitsgefährdungen und den ethnischen Verbindungen zur Flüchtlingsgemeinschaft. Diese Erörterung führt zu einem Set plausibler Hypothesen über Flüchtlingspolitik und Wege zukünftiger Forschung. Kevin Hartigan untersucht die Flüchtlingspolitik von Mexiko und Honduras während der mittelamerikanischen Bürgerkriege und betrachtet, wie strategische außenpolitische Interessen dieser Staaten Gegenstand von Abmachungen mit internationalen Hilfsorganisationen, insbesondere dem UN Hochkommissar für Flüchtlinge, wurden.31 In jüngster Zeit haben Wissenschaftler damit begonnen, die Asylanerkennungspolitik durch quantitative Analysen zu untersuchen. Eric Neumayer geht den Determinanten der Asylanerkennungsquoten in Europa nach.32 Wie erwartet stellt er fest, dass sich Menschenrechtsverletzungen in den Herkunftsstaaten positiv auf die Anerkennungsquoten auswirken. Allerdings drückt hohe Arbeitslosigkeit in den Zielländern die Anerkennungsrate. In ihrer Analyse der Anerkennungsraten in den USA haben Rosenblum und Salehyan die relative Bedeutung von humanitären und interessen-geleiteten Faktoren bei Asylerlaubnissen verfolgt.33 Während des Kalten Krieges gewährten die USA bevorzugt Flüchtlingen Asyl, die dem Kommunismus entkommen waren, während Asylsuchende aus militärisch verbündeten Ländern zurückgewiesen wurden. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges haben die außenpolitischen Beziehungen zu den Entsendestaaten ihre Bedeutung behalten, aber auch die ökonomischen Verbindungen sind bedeutsam geworden. In diesem Zeitraum hat das Anliegen, den »Asylbetrug« und »simulierte« Anträge zu begrenzen, die Anerkennungsquoten reduziert. Den Schutz von Flüchtlingen als internationales öffentliches Gut charakterisierend argumentieren Suhrke34 und Thielemann35, dass internationale Reaktionen auf erzwungene Migration kollektive Handlungsprobleme generieren. Obwohl Teilnehmer des internationalen Systems davon profitieren können, dass die Verantwortung für die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Flüchtlinge – einschließlich Möglichkeiten der Umsiedlung – geteilt wird, würde jedes Land eher als Trittbrettfahrer von den Aktivitäten anderer profitieren. Diese Autoren schlagen eine Reihe von Mechanismen vor, um den »free rider«-Anreiz zu überwinden, darunter geteilte Normen und Werte und die Führerschaft durch einflussreiche Staaten, um andere unter Druck zu setzen, größere Verantwortung zu akzeptieren.

Schlussfolgerung

Die Dynamiken erzwungener Migration sind zentral für das Studium von Bürgerkriegen, Menschenrechten und Einwanderungspolitiken. Insbesondere dieser Themenbereich verspricht einen fruchtbaren Austausch zwischen politischen Entscheidungsträgern und der akademischen Gemeinde. Der Ausgleich zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der Flüchtlinge und den potenziellen Problemen in den Aufnahmeländern – einschließlich der Schwierigkeiten bei Integration und Aufnahme – wird voraussichtlich noch viele Jahre auf der politischen Agenda stehen. Praktische Lösungen für diese Spannungen zu finden – ohne unnötige Phrasen -, ist nicht nur eine humanitäre Aufgabe, sondern auch weise Politik.

Anmerkungen

1) Jeff Crisp (2003): No Solutions in Sight: the Problem of Protracted Refugee Situations in Africa. New Issues in Refugee Research UNHCR Working Paper 75.

2) Vgl. James D. Fearon/David D. Laitin (2003): Ethnicity, Insurgency, and Civil War. American Political Science Review 97/1. S.75-90; Håvard Hegre/Tanja Ellingsen/Scott Gates/Nils Petter Gleditsch (2001): Toward a Democratic Civil Peace? Democracy, Political Change, and Civil War, 1816-1992. American Political Science Review 95/1, S.33-48; Mark I. Lichbach (1987): Deterrence or Escalation? The Puzzle of Aggregate Studies of Repression and Dissent. Journal of Conflict Resolution 31/2, S.266-97.

3) Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffler (2004): Greed and Grievance in Civil War. Oxford Economic Papers 56/4, S.563-595; Karl DeRouen/David Sobek (2004): The Dynamics of Civil War Duration and Outcome. Journal of Peace Research 41/3, S.303-320; James Fearon (2004): Why Do Some Civil Wars Last So Much Longer Than Others? Journal of Peace Research 41/3, S.275-301; T. David Mason/Joseph Weingarten/Patrick Fett (1999): Win, Lose, or Draw: Predicting the Outcome of Civil Wars. Political Research Quarterly 52/2, S.239-268; Barbara F. Walter (1997): The Critical Barrier to Civil War Settlement. International Organization 51/3, S.335-364.

4) Scott Gates (2002): Recruitment and Allegiance: the Microfoundations of Rebellion. Journal of Conflict Resolution 46/1, S.111-130; Jeremy Weinstein (2005): Resources and the Information Problem in Rebel Recruitment. Journal of Conflict Resolution 49/4, S.598-624.

5) Albert O. Hirschman (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge.

6) United Nations Convention Relating to the Status of Refugees, 1951, Article 1. Full text available online at: http://www.unhchr.ch/html/menu3/b/o_c_ref.htm (accessed 25 April, 2006).

7) Leon Gordenker (1987): Refugees in International Politics. New York.

8) BS Chimni (2000): International Refugee Law: A Reader. New Delhi; Aristide Zolberg/Astrid Suhrke/Sergio Aguayo (1989): Escape from Violence: Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World. New York.

9) Myron Weiner (1996): Bad Neighbors, Bad Neighborhoods: and Inquiry into the Causes of Refugee Flows. International Security 21/1, S.5-42.

10) Nora Hamilton/Norma Stoltz Chinchilla (1991): Central American Migration: A Framework for Analysis. Latin American Research Review 26/1, S.75-110.

11) Zolberg et al. (Fußnote 8).

12) Susanne Schmeidl (1997): Exploring the Causes of Forced Migration: A Pooled Time-Series Analysis, 1971-1990. Social Science Quarterly 78/2, S.284-308.

13) Christian Davenport/Will Moore/Steven Poe (2003): Sometimes you Just Have to Leave: Domestic Threats and Refugee Movements, 1964-1989. International Interactions 29/1, S.27-55.

14) Während zahlreiche neuere Arbeiten auf diese Mikro-Motivation fokussieren, um ihre theoretische Argumentation zu entfalten, nutzen die meisten statistischen Analysen zur erzwungenen Migration aufgrund von Beschränkungen im Datenmaterial weiterhin breite, länderbezogene Indikatoren.

15) Vgl. auch Clair Apodaca (1998): Human Rights Abuses: Precursor to Refugee Flight? Journal of Refugee Studies 11/1, S.80-93; Jean-Paul Azam/Anke Hoeffler (2002): Violence Against Civilians in Civil Wars: Looting or Terror? Journal of Peace Research 39/4, S.461-485.

16) Will Moore/Stephen Shellman (2006): Refugee or Internally Displaced Person: To Where Should One Flee? Comparative Political Studies 39/5, S.599-622.

17) Will Moore/Stephen Shellman (2007): Whither Will They Go? A Global Analysis of Refugee's Destinations, 1965-1995. International Studies Quarterly 51/4, S.811-834.

18) Eric Neumayer (2005): Bogus Refugees? The Determinants of Asylum Migration to Western Europe. International Studies Quarterly 49/3, S.389-409.

19) Myron Weiner (1992/1993): Security, Stability, and International Migration. International Security 17/3, S.91-126 (S.91).

20) Alan Dowty/Gil Loescher (1996): Refugee Flows as Grounds for International Action. International Security 21/1, S.43-71; Gil Loescher (1993): Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford; Michael Teitelbaum (1984): Immigration, Refugees, and Foreign Policy. International Organization 38/3, S.429-450; Michael Teitelbaum/Myron Weiner (1995): Threatened Peoples, Threatened Borders: World Migration and US Policy. New York; Zolberg et al. (Fußnote 8).

21) Zolberg et al. (Fußnote 8).

22) Sarah Kenyon Lischer (2005): Dangerous Sanctuaries: Refugee Camps, Civil War, and the Dilemmas of Humanitarian Aid. Ithaca, NY.

23) Vgl. auch: John Stedman/Fred Tanner (2003): Refugee Manipulation: War, Politics, and the Abuse of Human Suffering. Washington, DC.

24) Idean Salehyan (2007): Transnational Rebels: Neighboring States as Sanctuary for Rebel Groups. World Politics 59/2, S.217-242.

25) Adrian Martin (2005): Environmental Conflict Between Refugee and Host Communities. Journal of Peace Research 42/3, S.329-346.

26) Paul Collier/VL Elliot/Haavard Hegre/Anke Hoeffler/Marta Reynal-Querol/Nicholas Sambanis (2003): Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy. Washington, DC.

27) Idean Salehyan/Kristian S. Gleditsch (2006): Refugees and the Spread of Civil War. International Organization 60/2, S.335-366.

28) Martha Finnemore/Kathryn Sikkink (1998): International Norm Dynamics and Political Change. International Organization 52/2, S.887-917; Christian Joppke (ed.) (1998): Challenge to the Nation-State: Immigration in Western Europe and the United States. New York; Yasemin Soysal (1994): Limits of Citizenship. Chicago.

29) Gil Loescher (1993): Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford; Astrid Suhrke (1998): Burden-Sharing During Refugee Emergencies: the Logic of Collective versus National Action. Journal of Refugee Studies 11/4, S.396-415; Teitelbaum (Fußnote 21).

30) Karen Jacobsen (1996): Factors Influencing the Policy Responses of Host Governments to Mass Refugee Influxes. International Migration Review 30/3, S.655-678.

31) Kevin Hartigan (1992): Matching Humanitarian Norms with Cold, Hard Interests: the Making of Refugee Policies in Mexico and Honduras, 1980-1989. International Organization 46/3, S.709-730.

32) Eric Neumayer (2005): Asylum Recognition Rates in Western Europe: the Determinants, Variation, and Lack of Convergence. Journal of Conflict Resolution 49/1, S.43-66.

33) Marc R Rosenblum/Idean Salehyan (2004): Norms and Interests in US Asylum Enforcement. Journal of Peace Research 41/6, S.677-697.

34) Astrid Suhrke (1998): Burden-Sharing During Refugee Emergencies: the Logic of Collective versus National Action. Journal of Refugee Studies 11/4, S.396-415.

35) Eiko Thielemann (2003): Between Interests and Norms: Explaining Burden-Sharing in the European Union. Journal of Refugee Studies 16/3, S.253-273.

Dr. Idean Salehyan lehrt am Department of Political Science der University of North Texas
Übersetzung: Fabian Virchow

Konfliktstoff Wasser

Konfliktstoff Wasser

Ein Bewässerungsprojekt und seine Folgen

von Rainer Stoodt

»Ne mutlu türküm Diyene« – Glücklich ist, wer sich Türke nennen darf. Die riesigen Lettern auf dem Staudamm des Atatürk-Stausees sind Programm. Hier manifestiert sich der Stolz der türkischen Nation, ein »Jahrhundertprojekt« zu realisieren, hier soll der Sprung in die Neuzeit stattfinden. Mehr als zehn Jahre baute die türkische Republik im Südosten der Türkei zwischen den Städten Adiyaman und Urfa einen der größten Staudämme der Welt, die Stauhöhe beträgt 160 m. Mit seinen 800 Quadratkilometern Fläche ist der Stausee etwa anderthalb Mal so groß wie der Bodensee. Der Atatürk-Damm ist Teil des aufwendigen, integrierten Entwicklungsprogramms »Güneydogu Anadolu Projesi« (Südostanatolien-Projekt), das im Endzustand 22 Staudämme aufweisen soll und mit 19 Energiegewinnungsanlagen bis zu 8.000 kWh vor allem in den westtürkischen Energiesektor liefern soll. Daneben verspricht sich die Türkei durch Bewässerungsanlagen die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion (besonders in der Harran-Ebene auf einer Fläche von 1,6 Mio. ha).
Nicht zuletzt kann die Türkische Republik mit Hilfe der Staudämme die Wassermengen bestimmen, die von Euphrat und Tigris nach Syrien und in den Irak fließen, die Türkei wird zur regionalen Wassersupermacht; Konflikte mit den Nachbarn sind vorprogrammiert.

Sechs landwirtschaftlich geprägte kurdische Provinzen – Gaziantep, Adiyaman, Urfa, Diyabarkir, Mardin und Siirt – umfaßt das Projektgebiet. Gestaut werden die beiden Flüsse Euphrat und Tigris sowie deren Nebenflüsse. Neben den drei großen Staudämmen Keban, Karakaya und Atatürk am Euphrat umfaßt das in 13 Teilprojekte gegliederte Vorhaben noch 18 weitere Dämme und 17 hydroelektrische Kraftwerke. Die Gesamtfläche umfaßt etwa 73.000 Quadratkilometer, was einer Fläche der Benelux-Staaten entspricht und fast 10% des türkischen Staatsgebietes umfaßt. 1985 lebten dort etwa 4,3 Millionen Menschen in 4.100 Dörfern und 5.150 kleineren Siedlungen.

Ein ausgedehntes Bewässerungssystem mit Pump- und Tunnelanlagen, wie z.B. die beiden parallelen Urfa-Tunnel – vom Atatürk-Stausee zur Haranebene – mit einer Länge von 27 Kilometern und einem Durchmesser von 7,62 Metern, soll bis zum Jahr 2010 eine Fläche von 1,6 Mio. Hektar bewässern. Zur Zeit werden etwa 100.000 ha Ackerland künstlich bewässert.

Neben dem Ziel der großflächigen Bewässerung steht das GAP-Projekt im Kontext der allgemeinen Energieproduktions-Planung der Türkei mit mehreren hundert Dämmen verschiedener Größenordnung. Die Türkei will zu einem Agrar- und Stromexportland aufsteigen.

Planungsziele in dem bereits 1988 vorgelegten Masterplan sind:

  • eine exportorientierte Agrarproduktion, vornehmlich in die nahöstlichen Nachbarstaaten;
  • die Ansiedlung verarbeitender Industriezweige, von Lebensmittelfabriken bis hin zur Konsumgüterproduktion;
  • der Aufbau einer Schwerindustrie und die Steigerung der Energieproduktion durch die hydroelektrischen Großanlagen.

Südostanatolien – Nordwest-Kurdistan soll so zur Kornkammer für den Nahen Osten und zum wirtschaftlichen Brückenkopf zwischen Europa und Nahost werden.

Die Investitionssumme beläuft sich bisher auf etwa 55 Milliarden DM. Da sich die Weltbank weigerte, das Projekt mitzufinanzieren, wurde es bisher zu 90% durch den innertürkischen Kreditmarkt finanziert, lediglich die Turbinenanlagen konnten durch internationale Kredite einer Schweizer Holding bezahlt werden. Zwar bemühte sich die türkische Regierung um weitere internationale Kredite, aufgrund der Brisanz der Wasserfrage jedoch ohne Erfolg. So weigerte sich die japanische Regierung nach einer Intervention Syriens, einen Kredit über 348 Mio. US-Dollar auszuzahlen (NZZ 10.10.91). Das GAP-Projekt kostet den türkischen Staat jeden Tag 2 Mio. US- Dollar und verursacht, wie westliche Finanzexperten der Weltbank kritisieren, ein Drittel der türkischen Inflationsrate (Financal Times 24.7.92).

Entwicklung oder Befriedung

Der bereits oben genannte Masterplan beinhaltet neben einer reichhaltigen Datenerhebung Vorschläge für Stadtplanung, für die Entwicklung der ländlichen Räume sowie für Ausbildung und Qualifikation.

Während die Bereiche Ausbildung und Qualifikation genauso wie die Information der Bevölkerung weitgehend vernachlässigt wurden, haben die erhobenen Daten nicht nur ökonomische Folgen. Zum ersten Mal seit Gründung der türkischen Republik 1923 wurden genaue Daten über die ökonomischen, sozialen, politischen und religiösen Strukturen der bis dahin bewußt vernachlässigten kurdischen Region zusammengetragen. „Sehr stark religiöse Bevölkerung, steht unter dem Einfluß der folgenden Scheichs (…), eigentlich rückständige Bevölkerung, ist aber dem Einfluß des sozialdemokratischen Politikers XY erlegen„, heißt es dort zum Beispiel. Erfaßt wird, ob Anschläge der PKK in der Nähe eines Dorfes zu verzeichnen sind, ob die Bevölkerung staatsloyal, neutral oder seperatistisch einzustufen ist und vieles mehr (Medico Report 7,1991, S. 10.).

Diese Daten, ergänzt durch Bevölkerungsstatistiken, bilden eine Grundlage für den Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung. Besonders im östlichen Teil des GAP-Gebietes werden fast täglich Dörfer zerstört, deren Bevölkerung vom Militär eine Zusammenarbeit mit der PKK unterstellt wird.

So dienen die erhoben Daten nicht allein der regionalen Entwicklung sondern auch der Selektion. Selektiert werden die »Guten« und die »Bösen«, das zu integrierende Potential, das an der zukünftigen Entwicklung teilhaben soll, und die nicht mehr zu integrierenden Bevölkerungsteile, die aus dem Gebiet vertrieben werden sollen.

Die veröffentliche Ausgabe des Masterplans verschweigt auch ganz bewußt, daß in der betroffenen Region Kurdinnen und Kurden leben. In dem ursprünglichen, von den Japanern vorgelegten Entwurf war noch die Rede von den ethnischen Unterschieden der regionalen Bevölkerung, die für die wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden sollten. Dieser Passus wurde ersatzlos gestrichen.

Landwirtschaft

Bestimmender Wirtschaftszweig im Projektgebiet ist die Landwirtschaft. 80% der Bevölkerung leben direkt von der Landwirtschaft, davon 53 % in Subsistenzwirtschaft. Diese Familien bewirtschaften weniger als 2,5 ha Land, das ihnen meistens gehört oder das sie vom Staat bzw. von Großgrundbesitzern gepachtet haben. Der Gesamtanteil dieses Besitzes beträgt lediglich 8% der Gesamtanbaufläche. Diesen kleinen Wirtschaftsbetrieben stehen jene 7% der Familien gegenüber, denen 51% der wirtschaftlich nutzbaren Fläche gehören. Dazu kommen etwa 30% landlose Familien, die sich größtenteils als Wanderarbeiter während der dreimonatigen Baumwollernte im Westen des Landes verdingen. Eine 1973 begonnene Landreform wurde nie zum Abschluß gebracht, im Gegenteil – in der 80er Jahren erhielten fast alle Großgrundbesitzer ihr »verlorenes« Land zurück. Die noch bestehende Landreformbehörde führt heute die Flurbereinigungen durch, da eine allgemeine Zersplitterung der Besitzverhältnisse durch das Realerbrecht (alle Kinder erhalten Land zu gleichen Teilen) verbunden mit dem islamischen Erbrecht (Söhne erben doppelt so viel wie Töchter) weiter zunimmt.

Auf der Harran-Ebene, dem zentralen Projektgebiet, im dem teilweise mit der Bewässerung begonnen wurde, wird bisher in erster Linie – da fast 6 Monate des Jahres kein oder nur geringer Niederschlag fällt – Trockenfeldbau betrieben. Dazu kommen Gerste und Weizen, in geringem Maße Kichererbsen, Pistazien und Linsen und in den Randgebieten, ermöglicht durch höhere Niederschläge oder künstliche Bewässerung, auch Wein und Gemüse. Durch den Wassermangel kann derzeit nur eine Ernte pro Jahr eingebracht werden. Ein Teil der Ebene wird von Nomaden als Sommerweide genutzt.

Mit der angestrebten Bewässerung des Gebietes sollen mindestens zwei Ernten pro Jahr möglich werden. Mit den steigenden Erträgen werden auch die Einkommen der Bauern steigen, allerdings auch die Kosten. Die Einführung der Bewässerungswirtschaft wird die Bauern zwingen, Kredite für Saatgut, Teile des Bewässerungssystems, Maschinen und Pestizide aufzunehmen. Man muß davon ausgehen, daß es in erster Linie die Großgrundbesitzer und Investoren aus der Westtürkei sein werden, die das größte Stück vom Kuchen abbekommen werden.

In einem ausgewogenen Verhältnis könnten Baumwolle, Mais, Soja, Sesam und Obst angebaut werden. Vergleiche mit anderen Entwicklungsprojekten in der Türkei deuten allerdings daraufhin, daß in erster Linie Baumwolle, deren Preis staatlich garantiert wird, und Getreide als Monokulturen angebaut werden (Tekinel, S. 29). Die Anbieter der leistungssteigernden Agroindustrie stehen zwar schon »Gewehr bei Fuß«, bis heute gilt die Infrastruktur jedoch als mangelhaft. Ungeklärt sind auch die Absatzmöglichkeiten für die Produkte (Financal Times v. 24.7.1992).

Agrosoziale Verhältnisse

Nicht abzusehen sind auch die sozioökonomischen Folgen, die die Entwicklung zur Agroindustrie mit sich bringen wird. In der GAP-Region leben z.Z. etwa 4,5 Mio. Menschen. Nach Beendigung des Projekts sollen es über 12 Mio. sein. Mit der Zwangsumsiedlung tausender kurdischer Familien in die Westtürkei soll die Ansiedlung türkischer Familien aus der dicht besiedelten Schwarzmeeregion einhergehen. Eine beträchtliche Anzahl landloser Bauern sieht sich aufgrund der Zerstörung ihres traditionellen Lebens- und Arbeitsraumes, der Subsistenzwirtschaft, gezwungen, die Heimat zu verlassen, um in den rapide wachsenden Gecekondu-Vierteln der türkischen Großstädte und der kurdischen Städte wie Diyarbakir, Adiyaman, Mardin oder Siverek ein karges Dasein zu fristen und mit Tagesjobs den Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits die Umsiedlung der überfluteten Dörfer bereitete der Türkei massive Probleme. Zahlreiche DorfbewohnerInnen, die seit 1985 durch das Ansteigen des Atatürk-Sees evakuiert werden mußten, haben bis heute noch nicht die vereinbarte Entschädigungssumme erhalten, die landlose Bevölkerung ging sowieso leer aus.

Katastrophal sind die Aussichten im östlichen Teil des GAP-Gebietes. Die Provinzen Diyarbakir, Batman, Mardin und Cizre sind z.Z. Schauplatz einer ethnischen Säuberung, in dessen Folge bisher, so der Menschenrechtsverein von Diyarbakir, weit über 2.000 Dörfer entvölkert wurden. Das Militär vertreibt die Menschen, vernichtet deren Häuser und brennt die Felder und Olivenhaine ab, die Militärverwaltung verweigert den Vertriebenen regelmäßig die Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Dörfer. Hier entsteht eine völlig neue Situation in Bezug auf Landbesitz und die zukünftige Nutzung der Böden, besonders da es in dieser Region keine Boden-Kataster gibt. Das Gebiet gilt als Hochburg der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) .

Mit den Umsiedlungsaktionen und den ethnischen Säuberungen schafft die türkische Regierung Fakten, die die Entwicklung einer Agroindustrie mit großen Feldern und modernem Landbau forcieren kann. Das Bewässerungsprojekt wird nur einer kleinen Schicht von Großgrundbesitzern und kapitalkräftigen Anlegern zugute kommen, die Masse der Bevölkerung wird noch mehr verelenden.

Zahlreiche Dörfer, die seit 1985 im Rahmen der Überflutungen an Euphrat und Tigris evakuiert wurden, haben bis heute noch nicht die vereinbarte Entschädigungssumme erhalten, die landlose Bevölkerung ging sowieso leer aus. Das Dorf Sylemanbey am Euphrat wurde 1985 evakuiert, bis heute streiten sich die 3.000 Bewohnerinnen und Bewohner mit dem türkischen Staat um mindestens 1,5 Millionen türkische Lira, die ihnen bereits 1985 zugesagt, bis heute aber nicht ausgezahlt wurden. Die meisten der Vertriebenen hausen heute in den Slums von Diyabarkir, Urfa oder Mardin.

Nach Aussage von DorfbewohnerInnen erhielten die Großgrundbesitzer aufgrund ihres Einflusses bei den Behörden umgehend Entschädigungszahlungen. Dazu kam, daß sie, im Wissen um Entschädigung, Land in den zu überflutenden Gebieten aufkauften. Die Gleichen kaufen nun in dem ausgewiesen Tourismusbereich am Atatürk-See wiederum Land, das später an internationale Hotelketten weiterverkauft werden soll. So werden die Reichen immer reicher, während ein Großteil der vertriebenen kurdischen Bevölkerung weiter verarmt.

Ökologische Auswirkungen

Zu den politischen Problemen in der Region kommen ökologische. Umweltschützer werfen den Planern vor, die ökologischen Folgen des riesigen Stausees nicht bedacht zu haben. Probleme wie Versalzung oder die Änderung des Regionalklimas tauchen in den Planungsvorgaben des Masterplans überhaupt nicht auf, eine Umweltverträglichkeitsstudie wurde bisher nicht erstellt, sie soll erst nach (!) Abschluß der Bestandsaufnahme erarbeitet werden, wenn wesentliche Teile des Projektes bereits fertiggestellt oder im Bau sind.

Umweltrelevante Aspekte finden sich in den bisher erschienen Ausgaben nur insoweit, wie sie die ökonomischen Zielsetzungen unterstützen.

Besonders gravierend könnten sich auch die Maßnahmen der türkischen Armee erweisen. Seit über fünf Jahren werden besonders im Tigris-Projektgebiet zur Guerillabekämfung systematisch die vorhandenen Wälder abgebrannt.

Kulturdenkmäler

Bei jedem Staudammbau werden kleinere oder größere Ortschaften überflutet, deren BewohnerInnen müssen das Gebiet verlassen. Hier – wie auch in vielen anderen Ländern, die solche Projekte als Entwicklung verstehen – oftmals ohne Entschädigung und ohne den Menschen eine Perspektive zu geben. Im Fall des GAP-Projekt kommt noch dazu, daß durch das Aufstauen und die Bauarbeiten in großer Zahl Kulturdenkmäler zerstört werden. Das empört besonders kurdische Intellektuelle und Nationalisten, die den Umgang des türkischen Staates mit seinen Kulturschätzen scharf kritisieren. Das GAP-Gebiet war seit Tausenden von Jahren besiedelt, dem Atatürk-Stausee fielen u.a. die Hauptstadt des Komagene- Königreichs Samsat und die 9.000 Jahre alte Siedlung Nevali Çori zum Opfer.

Ein ähnliches Schicksal wird bei Aufstauung des Tigris die römische Stadt Hasankeyf treffen. Verhindert wird der Bau des Itisu-Dammes möglicherweise durch den Guerillakampf der Arbeiterpartei Kurdistans. Deren Vorsitzender, Abdullah Öcalan, erklärte bereits im Juni 1993 in einem Interview mit dem britischen Radiosender BBC, seine Organisation werde den Bau dieses Dammes nicht zulassen, da er ein kolonialistisches Projekt sei und nicht den Interessen der Bevölkerung diene. Zudem sei die kulturelle Zerstörung einer so bedeutenden Stadt wie Hasankeyf nicht zu akzeptieren. Dies ist im Übrigen eine der wenigen Aussagen der PKK zum GAP-Projekt. Es scheint aber, daß kurdische Nationalisten dem Projekt als integriertes Entwicklungsvorhaben insgesamt positiv gegenüberstehen.

Der Streit ums Wasser

Wasser ist in der Region des Nahen Osten Mangelware. Durch fehlende Niederschläge sind die Türkei, Syrien und der Irak auf eine ständige Bewässerung ihrer landwirtschaftlichen Nutzflächen angewiesen. Somit wird der Zugang zu Wasser zu einer existenziellen Frage.

In einem Abkommen konnte Syrien 1987 die Türkei verpflichten, mindestens 500 m³/s Euphratwasser zu garantieren. Während Syrien sich immer wieder beklagt, daß diese Menge nicht erreicht wird, fordert der Irak 700 m³/s. Da es bisher noch keine völkerrechtlich verbindliche Regelung zur Nutzung von Flußanliegern gibt, kann die Türkei mit den Durchflußgeschwindigkeiten Druck auf die am Unterlauf der beiden Flüsse liegenden Staaten ausüben. Letztendlich sitzt das Land am Oberlauf immer am längeren Hebel, wobei erst mit dem vollständigen Ausbau aller Staudämme die Türkei die Wassermengen fein regulieren kann.

Der ehemalige UN-Generalsekretär Butros-Ghali erklärte, daß das Wasser eines Tages zu einem neuen Zündstoff in der Region werden kann: „Wenn es zu einem weiteren Krieg in dieser Weltgegend kommen wird, dann wird er ums Wasser geführt werden.“ Denn die Türkei macht schon jetzt mit ihrem Wasser Politik: Während des zweiten Golfkrieges wurde – mit Zustimmung der Syrer – dem Irak buchstäblich das Wasser abgedreht. Die vertragsgemäße Belieferung Syriens mit dem lebenswichtigen Euphratwasser wird immer wieder von einem Ende der Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans abhängig gemacht.

Ausblick

Ob das gesamte Projekt bis zum Jahre 2005 steht, ist noch längst nicht klar. Zum einen gibt es massive Proteste der Anrainerstaaten, allen voran Syrien. Es wird deutlich, daß dringend ein internationales Abkommen über die Zukunft des Wassers notwendig ist. Dabei werden sich auch multinationale Gremien einmischen, und es ist davon auszugehen, daß die Türkei nicht allein über die Wassermengen von Euphrat und Tigris entscheiden kann.

Zweitens kann schon jetzt der Zeitplan nicht mehr eingehalten werden: An den Baustellen im östlichen GAP-Gebiet wird nicht mehr gearbeitet, da die Guerilla der Nationalen Volksbefreiungsarmee ARGK in der Vergangenheit mehrmals Materiallager und Fahrzeugpools angegriffen hat.

Drittens muß die allgemeine wirtschaftliche Lage der Türkei berücksichtigt werden. Wirtschaftskrise und der Krieg in Kurdistan haben dafür gesorgt, daß die Kassen leerer wurden und dringend benötige Gelder zum Weiterbau bzw. Ankauf von Importprodukten nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Arbeiten an den begonnen Dämmen am Tigris sind daher weitgehend eingestellt worden, der Bau von Bewässerungsanlagen am Euphrat ist ins Stocken geraten. Bei der allgemeinen ökonomischen und wirtschaftlichen Krise der Türkei ist nur aus Prestigegründen ein weiterer Fluß der Kapitalmittel in Richtung GAP-Projekt zu erwarten.

Literatur

Hauptmann, Gerhard (1988): Nevali Çori: Architektur, in: Anatolica XV, S. 99-110.

Hinz-Karadeniz, Heidi u. Stoodt, Rainer (Hrsg.) (1993): Die Wasserfalle. Vom Krieg um Öl zum Krieg um Wasser: Aufstieg und Fall eines Großprojektes in Kurdistan, Gießen.

Hinz-Karadeniz, Heidi (1994): Vom Krieg um Öl zum Krieg um Wasser. In: Hinz-Karadeniz /Stoodt (Hrsg.) Kurdistan: Politische Perspektiven in einem geteilten Land, Gießen, S. 203-229.

Jungfer, Eckhardt (1998): Wasserressourcen im Vorderen Orient. Geographische Rundschau 50, H. 7-8, S. 400-405.

Kolars, J.F. / Mitchell, W.A. (1991): The Euphrates River and the Southeast Anatolia Project, Carbondale and Edwardsville.

Riemer, Andrea (1998): Die Türkei an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die Schöne oder der kranke Mann am Bosporus, Frankfurt.

Struck, Ernst (1994): Das Südostanatolien-Projekt. Geographische Rundschau 46, H. 2, S. 88-95.

Tekinel, O. et. al. (1992): »Southeastern Anatolian Projekt« and its possible effects on development of the GAP-Region and Turkish agriculture, in: Deutsch-Türkische Agrarforschungen, hg. vom Verband deutsch-türkischer Agrar- und Naturwissenschaftler e.V., Hohenheim.

Rainer Stoodt, M.A., Autor mehrerer Bücher zum Thema Türkei – Kurdistan.

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Der Krieg ist ein »Kulturprodukt«

Erklärung von Sevilla zur Gewaltfrage

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Immer wieder erscheinen in deutschen Magazinen Beiträge, in denen die Spekulationen von Philosophen und von Begründern moderner wissenschaftlicher Disziplinen zum Ursprung der menschlichen Aggressivität und Gewalttätigkeit aufgewärmt werden – als wäre diesbezüglich in den involvierten Disziplinen bisher keinerlei Fortschritt zu verzeichnen. So entsteht bestenfalls der Eindruck eines Unentschieden zwischen »Pesssimisten« und »Optimisten«, zwischen »Anlage-« und »Umwelttheoretikern«, oder wie immer man die grundlegenden Ansätze kennzeichnen mag; wahrscheinlich aber liefert man damit autoritären Ordnungsvorstellungen und -bestrebungen eine quasi-biologische Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, die am 16. Mai 1986 von einer internationalen Kommission von zwanzig Wissenschaftlern im Rahmen eines Kolloquiums an der Universität von Sevilla als Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 erarbeitete Erklärung zur Gewaltfrage in Erinnerung zu bringen. Diese »Erklärung von Sevilla« richtet sich ausdrücklich gegen den weitverbreiteten Glauben, der Mensch sei infolge angeborener biologischer Faktoren zu Gewalt und Krieg prädisponiert. Sie wurde im November 1989 von der 25. Konferenz der UNESCO zwecks weltweiter Verbreitung und als Grundlage eigener Expertentagungen übernommen. Durch Dokumentation dieser wichtigen Erklärung in dem vorliegenden Heft von W&F wollen wir zu ihrer Verbreitung beitragen. Die Übersetzung besorgte A. Fuchs auf der Grundlage des als Anhang zu dem von Silverberg & Gray (1992) herausgegebenen Sammelband abgedruckten englischen Textes1 und unter Berücksichtigung der von der deutschen UNESCO-Kommission freundlicherweise zur Verfügung gestellten Übersetzung.2 Die Zwischenüberschriften und die Numerierung der Hauptthesen i.V.m. der Phrase »Aus der Sicht der . . .« wurden redaktionell eingefügt.

In der Überzeugung, daß es unsere Pflicht ist, uns aus der Sicht unserer unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen mit der gefährlichsten und zerstörerischsten Aktivität des Menschen zu befassen, mit Krieg und Gewalt; im Bewußtsein, daß die Wissenschaft ein Produkt der menschlichen Kultur darstellt und deswegen weder letztgültige noch umfassende Wahrheiten zu bieten hat; und in dankbarer Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Sevilla und der spanischen UNESCO-Kommission, haben wir, die unterzeichneten Wissenschaftler aus aller Welt, die sich aus der Perspektive ihre jeweiligen Disziplin mit dem Thema Krieg und Gewalt befassen, die nachstehende »Erklärung zur Gewaltfrage« formuliert.

Darin stellen wir einige vermeintliche Ergebnisse biologischer Forschung in Frage, die dazu verwendet werden – zum Teil aus unseren eigenen Reihen –, Krieg und Gewalt zu rechtfertigen. Diese vermeintlichen Forschungsergebnisse haben zu einer pessimistischen Grundstimmung in der öffentlichen Meinung beigesteuert. Daher glauben wir, daß eine öffentliche und gut begründete Zurückweisung der Fehlinterpretation wissenschaftlicher Befunde einen wirksamen Beitrag zum Internationalen Jahr des Friedens 1986 und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.

Der Mißbrauch wissenschaftlicher Theorien und Befunde zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg ist nicht neu, sondern begleitet die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften. So wurde beispielsweise die Evolutionstheorie dazu benutzt, nicht nur den Krieg zu rechtfertigen, sondern auch Völkermord, Kolonialismus und die Unterdrückung der Schwächeren.

Wir legen unsere Position in fünf Thesen dar. Wir sind uns dessen bewußt, daß noch weit mehr zu Gewalt und Krieg vom Standpunkt unserer Disziplinen zu sagen wäre; wir beschränken uns hier jedoch auf diese Kernaussagen als besonders wichtigen ersten Schritt.

1. Ethologie

Aus der Sicht der Ethologie (Verhaltensforschung) ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, der Mensch habe von seinen tierischen Vorfahren eine Tendenz Krieg zu führen geerbt. Zwar ist Kämpfen nahezu im gesamten Tierreich verbreitet; doch nur über wenige Fälle destruktiver, innerartlicher Kämpfe zwischen organisierten Gruppen in ihrer natürlichen Umwelt lebender Arten findet man Berichte, und in keinem Fall haben wir es mit Waffengebrauch zu tun. Das raubtiertypische Sich-Ernähren von anderen Arten hat nichts zu tun mit innerartlicher Gewalt. Kriegführen ist ein spezifisch menschliches Phänomen und kommt bei anderen Lebewesen nicht vor.

Die Tatsache, daß sich die Kriegführung im Laufe der Geschichte radikal verändert hat, zeigt, daß sie ein Produkt der kulturellen Entwicklung ist. Biologisch ist Krieg vor allem in unserem Sprachvermögen verankert; Sprache macht es möglich, soziale Gruppen zu koordinieren, Technologien weiterzugeben und Werkzeuge zu verwenden. Aus biologischer Sicht ist Krieg möglich, aber nicht unvermeidbar wie auch die Unterschiede in der Art und der Häufigkeit des Kriegführens in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt sowohl Kulturen, in denen über Jahrhunderte kein Krieg geführt wurde, als auch Kulturen, die zu bestimmten Zeiten regelmäßig Krieg geführt haben, zu anderen wiederum nicht.

2. Biogenetik

Aus der Sicht der Biogenetik ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Kriegführen oder andere gewaltförmige Verhaltensweisen des Menschen seien genetisch vorprogrammiert. Gene spielen auf allen Funktionsebenen unseres Nervensystems eine Rolle; sie stellen aber ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit der ökologischen und sozialen Umwelt aktualisiert werden kann. Individuen variieren zwar anlagebedingt bezüglich ihrer Beeinflußbarkeit durch Erfahrung; letztlich jedoch bestimmt die Wechselwirkung zwischen ihrer genetischen Ausstattung und den Umständen, unter denen sie aufwachsen, ihre Persönlichkeit. Von seltenen krankhaften Fällen abgesehen, prädisponieren die Gene kein Idividuum zur zwanghaften Ausübung von Gewalt; das gleiche gilt für das Gegenteil. Die Gene sind an der Entwicklung unserer Verhaltensmöglichkeiten mit beteiligt, bestimmen das Ergebnis aber nicht allein.

3. Evolutionsforschung

Aus der Sicht der Evolutionsforschung ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, im Laufe der menschlichen Evolution habe sich durch Selektion die Tendenz zu aggressivem Verhalten stärker durchgesetzt als andere Verhaltenstendenzen. Bei allen hinreichend gut erforschten Arten wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation und zur Ausübung sozialer Funktionen, die für die Struktur dieser Gruppe von Bedeutung sind, erworben. »Dominanz« beinhaltet Anschluß an andere und soziale Bindungen. Obwohl aggressives Verhalten eine Rolle spielt, sind der Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft nicht entscheidend. Wo bei Tieren die Selektion aggressiven Verhaltens künstlich gefördert wurde, führte das schnell zur Entwicklung hyper-aggressiver Individuen. Das bedeutet, daß der Selektionsmechanismus unter natürlichen Bedingungen die Aggression nicht besonders begünstigte. Wenn man experimentell entwickelte hyperaggressive Individuen in eine soziale Gruppe einführt, zerstören sie entweder deren Struktur, oder sie werden verjagt. Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.

4. Neurophysiologie

Aus der Sicht der Neurophysiologie ist die Behauptung wissenschaftliche unhaltbar, die Menschen besäßen ein »gewalttätiges Gehirn«. Zwar ist unser neuraler Apparat mit allen Voraussetzungen gewaltförmigen Verhaltens ausgestattet, aber er wird weder durch innere noch durch äußere Reize automatisch dazu aktiviert. Ähnlich wie bei den höheren Primaten und anders als bei den anderen Lebewesen filtern unsere höheren Gehirnprozesse entsprechende Reize, bevor wir auf sie reagieren. Wie wir reagieren, hängt davon ab, wie wir konditioniert und sozialisiert wurden. Nichts von unserer neurophysiologischen Ausstattung zwingt uns zu gewalttätigen Reaktionen.

5. Psychologie

Aus der Sicht der Psychologie ist die Behauptung wissenschaftlich unhaltbar, Krieg werde verursacht durch einen »Instinkt« oder »Trieb« oder irgendein anderes einzelnes Motiv. Die Geschichte der modernen Kriegsführung ist eine Geschichte der Entwicklung vom Übergewicht emotionaler und motivationaler Faktoren, die manche »Instinkte« oder »Triebe« nennen, zum Übergewicht kognitiver Faktoren. Krieg beinhaltet heute die institutionalisierte Nutzung von Persönlichkeitseigenschaften wie Gehorsamsbereitschaft, Suggestibilität oder auch Idealismus; soziale Fertigkeiten wie Kommunikation und Sprache; kognitive Prozesse wie Kosten-Nutzen-Kalkulation, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegsführung verstärkt in besonderer Weise gewaltaffine Persönlichkeitszüge, und zwar sowohl bei der Ausbildung des Kampfpersonals wie bei der Mobilisierung von Unterstützung für den Krieg seitens der Gesamtbevölkerung. Infolgedessen werden solche Züge oft fälschlicherweise als Ursachen statt als Folgen des ganzen Prozesses angesehen.

Schlußfolgerung

Aus all dem schließen wir: Biologisch ges<-2>ehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann sich aus der Knechtschaft eines auf biologische Argumente gestützten Pessimismus befreien und sich zu Selbstvertrauen und Zuversicht ermächtigen, um die in diesem Internationalen Friedensjahr und in den kommenden Jahren fälligen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Zwar müssen diese Umgestaltungsaufgaben primär von Institutionen und von größeren sozialen Einheiten bewältigt werden, ihre Bewältigung hängt aber auch vom Bewußtsein des einzelnen ab, das entscheidend von einer pessimistischen oder einer optim<0>istischen Perspektive geprägt ist.

Wie Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, so entsteht auch der Friede in unseren Köpfen. Ein und dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür verantwortlich.

Sevilla, 16. Mai 1986

Erstunterzeichner

David Adams, Psychologie, USA – S.A. Barnett, Ethologie, Australien – N.P. Bechtereva, Neurophysiologie, UdSSR – Bonnie Frank Carter, Psychologie, USA – José M. Rodríguez Delgado, Neurophysiologie, Spanien – José Luis Díaz, Ethologie, Mexiko – Andrzej Eliasz, Differentielle Psychologie, Polen – Santiago Genovés, Biologische Anthropologie, Mexico – Benson E. Ginsburg, Verhaltensgenetik, USA – Jo Groebel, Sozialpsychologie, BRD – Samir-Kuma Ghosh, Soziologie, Indien – Robert Hinde, Verhaltensforschung, England – Richard E. Leaky, Physikalische Anthropologie, Kenia – Taha M. Malasi, Psychiatrie, Kuwait – J. Martin Ramírez, Psychobiologie, Spanien – Frederico Mayor Zaragoza, Biochemie, Spanien – Diana L. Mendoza, Ethologie, Spanien – Ashis Nandy, Politische Psychologie, Indien – John Paul Scott, Verhaltensforschung, USA – Riitta Wahlström, Psychologie, Finnland.

Anmerkungen

1 Silverberg, J. & Gray, J.P. (Eds.) (1992): Aggression and peacefulness in humans and other primates (pp. 295-297), Oxford, Oxford University Press. Zurück

2 Von einer unbesehenen Übernahme dieser deutschen Version wurde abgesehen, weil sie den Sinn des Originaltextes vielfach nur ungenau wiedergibt oder entstellt und ihn an einer zentralen Stelle sogar in sein Gegenteil verkehrt. Zurück

Editorial

Editorial

von Christiane Lammers

In den letzten Monaten gingen viele spektakuläre Nachrichten durch die Presse, die ein Gefühl vermittelten, daß wir uns »mit Recht« vor unseren Kindern zu schützen hätten: Kinder als brutale Täter, die mit Lust quälen, verletzen, schießen, töten, alle Grenzen des menschlichen Zusammenlebens überschreiten.

Schon werden die Konsequenzen aus der Angst gezogen: Kinderknäste werden eingerichtet, die altersmäßigen Begrenzungen der Strafgerichtsbarkeit herabgesetzt, Visumspflicht für ausländische Kinder eingeführt usw. usw. Der gesellschaftliche und staatliche Mechanismus ist immer derselbe: Härte und Ausgrenzung regieren die Politik.

Nicht nur in Hinblick auf die betroffenen Kinder ist dies fatal; die Reaktion verweist auf grundsätzliche Entwicklungen, die schon seit mehreren Jahren zu beobachten sind:

  • Unsere Gesellschaft wird zunehmend unfähig, Fragen nach dem Ursprung von Gewalt zu stellen. Es wird nicht mehr reflektiert, wo gesellschaftliche Ursachen zu suchen und zu verändern sind; sozialwissenschaftliche Analyse ist »out«. Die Ursachen werden individualisiert, konsequenterweise auch deren Bearbeitung.
  • Es fehlt an gesellschaftlichen Entwicklungsperspektiven und dies wird für Kinder zweifach spürbar: Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der ihnen weder eine zukunftsfähige Lebenswelt zur Verfügung gestellt wird, noch wird ihnen vermittelt, wohin »ihre Reise« gehen kann und wird. Begrenzung, Kurzfristigkeit und Kurzsichtigkeit prägen das Handeln. Nur auf einen von zahlreichen Fakten sei hier hingewiesen: Jedes 11. Kind lebt heute in der Bundesrepublik ganz oder teilweise von Sozialhilfe. Sozialhilfeempfänger werden aber nicht selten öffentlich diskriminiert und verunglimpft. Welche Konsequenzen mag das für die betroffenen Kinder haben?
  • Kinder und Jugendliche werden nicht mehr als wertvoller und unbedingt zu schützender Bestandteil unserer Gesellschaft wahrgenommen. Wäre es anders, so müßte eine aktive, präferierende Kinder- und Jugendpolitik betrieben werden, mit ähnlichen Ansprüchen wie sie entsprechende Organisationen für Frauen und Umwelt als Querschnittsaufgaben der Politik fordern. Gegenteiliges ist der Fall: An Bildung und Ausbildung wird gespart, die Familieneinkommen sind relativ noch stärker gesunken als die übrigen Einkommen, Zuschüsse zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihnen zur Verfügung stehende Einrichtungen werden gekürzt, Kinder mit anderer Kultur, Hautfarbe und/oder Religion werden diskriminiert, behinderte Kinder schlechter gefördert. Dieses Vorgehen ist nicht zu legitimieren mit den allgemeinen Kürzungen im Staatshaushalt, hier werden Investitionen in die Zukunft verweigert.

Statt Kinderinteressen vorrangig zu berücksichtigen, werden diese – bei knappen Kassen – immer weiter weg- und abgeschoben. Noch vor knapp 10 Jahren, am 29. November 1989, wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Verabschiedung der »Erklärung der Rechte des Kindes« durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« verabschiedet. Dieses regelt relativ detailliert aber kaum einklagbar die Verpflichtungen der Vertragsstaaten gegenüber den Kindern. Nur einige Passagen aus dem Vertragswerk, das die Bundesrepublik am 26. Januar 1990 unterzeichnet hat, seien hier erwähnt: „… Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, daß das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern (…) geschützt wird (Art 2.2). (…)Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist (Art.3.1).(…) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an (Art.27.1). (…) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, daß die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muß, a) die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen; b) dem Kind Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten und den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätzen zu vermitteln; c) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln (…) (Art 29.1).“

Angesichts heutiger Kinder- und Jugendpolitik, praktizierter Bildungs- und Familienpolitik, einer den Wachstumsmechanismen unterworfenen Wirtschafts- und Umweltpolitik, aber auch angesichts des gesellschaftlichen Klimas muß leider konstatiert werden, daß auch die Bundesrepublik noch weit davon entfernt ist, diese Rechte der Kinder tatsächlich realisiert zu haben.

Ihre Christiane Lammers